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Archiv für die 'Kriegspolitik' Kategorie

Krise, welche Krise ?

Erstellt von DL-Redaktion am 21. März 2023

Die Situation ähnelt der „Flüchtlingskrise“ von 2015.

Die EU erschwert es zwischen Verbrecher und Politikrt-innen zu Unterscheiden

Ein Debattenbeitrag von Daniel Bax

Doch die Debatte über ukrainische Geflüchtete verläuft völlig anders. Der Grund dafür ist Rassismus. Ein Zwei-Klassen-Asyl widerspricht den Werten, für die Europa sich sonst so gerne rühmt.

Was für einen Unterschied die Herkunft geflüchteter Menschen doch macht! Deutschland sieht sich zum zweiten Mal in kurzer Zeit mit einer großen Fluchtbewegung konfrontiert. Doch es geht damit völlig anders um als beim letzten Mal. Bis vor einem Jahr lautete das Mantra noch, „2015“ dürfe sich nicht wiederholen. Nun erleben wir mit der Massenflucht aus der Ukraine eine vergleichbare Krise wie zwischen 2014 und 2016, als Hunderttausende vor den Kriegen in Syrien, Irak und Afghanistan nach Europa flohen. Aber niemand kritisiert, Scholz habe „die Grenzen geöffnet“, oder zieht in Zweifel, dass ihre Aufnahme grundsätzlich „zu schaffen“ ist. Niemand fordert eine „Obergrenze“ für Geflüchtete aus der Ukraine. Nicht einmal von einer „Flüchtlingskrise“ ist die Rede – und das, obwohl allein aus der Ukraine schon jetzt mehr neue Flüchtlinge in Deutschland gezählt wurden als zwischen 2014 und 2016 zusammen.

Gewiss: Auch jetzt ächzen Städte und Kommunen unter dem Andrang so vieler Menschen, die Schutz und ein Dach über den Kopf brauchen. Auch jetzt lud die Regierung deshalb wieder zu einem „Flüchtlingsgipfel“, wo um Geld und die gerechte Verteilung von Geflüchteten gestritten wurde. Und auch jetzt regt sich mancherorts Unmut und rechter Protest. Aber im Vergleich zu 2015 verläuft die Debatte vernünftig, rational und gesittet – ganz anders als zwischen 2014 und 2016, als Gewalt und Untergangsstimmung herrschten. Damals hetzte die rechtsradikale Pegida-Bewegung auf den Straßen gegen „Bahnhofsklatscher“ und „Invasoren“. Mehr als Tausend Angriffe auf Flüchtlingsheime registrierten die Behörden 2015, im Jahr darauf nochmals genauso viele.

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Ich bin der Gauck – ich verspritze meine eigene Jauche

Namhafte Publizisten wie Rüdiger Safranski warfen der Regierung vor, Deutschland mit Flüchtlingen zu „fluten“. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck salbaderte, unsere Herzen seien zwar weit, doch unsere Möglichkeiten begrenzt. Und Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo entschuldigte sich quasi dafür, dass die Medien anfangs zu viel Mitgefühl gezeigt hätten.

Jetzt, wo noch mehr Flüchtlinge als damals in Deutschland Zuflucht suchen, nur diesmal aus der Ukraine, sind diese Stimmen verstummt. Selbst der spärliche Rest der Pegida-Bewegung demonstrierte zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine nur noch für „Frieden“ und hetzte nicht gegen die Menschen, die von dort flüchten.

Es ist nun nicht so, dass Menschen aus der Ukrai­ne keinen Rassismus kennen würden. Vorbehalte gegen Ost­eu­ro­päe­r*in­nen haben in Deutschland eine lange Tradition. Noch im Jahr 2004 musste sich die damalige rot-grüne Bundesregierung von der CSU vorwerfen lassen, „Schwarzarbeit, Prostitution und Menschenhandel“ begünstigt zu haben, weil sie die Visa-Vergabe für Ukrai­ne­r*in­nen erleichtert hatte. Seit 2017 dürfen ukrainische Bür­ge­r*in­nen sogar visumsfrei nach Europa reisen.

Die geopolitische Lage ist der Grund dafür, dass sich der Wind gedreht hat. Seit dem 24. Februar vergangenen Jahres gehört die Ukraine zu Europa, wenn man der offiziellen Rhetorik glauben mag. Auf Grundlage der „Massenzustrom-Richtlinie“ der EU dürfen Flüchtlinge von dort seit dem 3. März 2022 frei nach Europa reisen. Dieser humanitären Willkommenskultur möchten sich nur wenige verschließen. Und anders als 2015, als die Hilfsbereitschaft in breiten Teilen der Bevölkerung nur anfangs sehr groß war, ist die positive Stimmung gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine auch nach einem Jahr noch fast immer ungetrübt.

Natürlich spielt es eine Rolle, dass vor allem Frauen und Kinder nach Deutschland kommen und sie vor einem Krieg in der Nähe fliehen. Aber der Hauptgrund, warum sie anders aufgenommen werden als viele Flüchtlinge vor ihnen, ist schlicht: Rassismus. Nirgendwo zeigt sich das so krass wie im Nachbarland Polen. 2015 wehrte sich Polen strikt dagegen, nur ein paar Tausend Flüchtlinge aufzunehmen, und wollte höchstens Christen Asyl gewähren. Noch im Herbst 2021 verhängte die Regierung an ihrer Ost-Grenze den Ausnahmezustand, weil dort ein paar Tausend Menschen aus dem Irak und Afghanistan campierten, die aus Belarus nach Europa gelangen wollten. Nun hat Polen in kurzer Zeit über 1,5 Millionen Menschen aus der Ukraine aufgenommen, so viel wie kein anderes Land in Europa. Polen kann also, wenn es will. Plötzlich ist es auch okay, dass Flüchtlinge einfach von dort aus weiterziehen, wohin sie wollen. Ukrainische Staats­bür­ge­r*in­nen dürfen sich frei in Europa bewegen und niederlassen. Selbst Ungarn, Tschechien oder Dänemark, die Flüchtlinge bisher mit Schikanen oder gar Stacheldraht abschreckten, nehmen jetzt Ukrai­ne­r*in­nen auf.

Quelle        —          TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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« Jetzt ist die Zeit ! »

Erstellt von DL-Redaktion am 21. März 2023

Der Deutsche Evangelische Kirchentag übt Zensur aus

Auf schwarze Seelen fällt kein Segen

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von        :        Andreas Zumach /   

Die Vertreibung und Flucht von 750’000 Palästinenserinnen und Palästinensern 1948 darf man am Kirchentag nicht thematisieren.

«Jetzt ist die Zeit!» – unter diesem biblischen Motto aus dem Markus-Evangelium findet vom 7. bis 11. Juni in Nürnberg der Deutsche Evangelische Kirchentag (DEKT) statt. Erwartet werden bis zu 100’000 TeilnehmerInnen.  «Wichtige Themen der Zeit werden diskutiert, Fragen nach Frieden und Gerechtigkeit… und der Würde des Menschen gestellt», kündigt der DEKT in seinen Einladungen und Werbematerialien für die Grossveranstaltung an.

Der Präsident des Kirchentages, Bundesminister a.D. (Verteidigung und Innen) Thomas de Maizière (CDU) betont: «Wir brauchen einen offenen, ehrlichen Austausch untereinander, um der Zeit gerecht zu werden und gemeinsame Schritte zu gehen.»

Die Ausstellung wurde schon in über 150 Städten gezeigt

Diese wohlklingenden Ankündigungen gelten allerdings nicht für das Konfliktthema Israel/Palästina. Die Wanderausstellung «Die Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948» thematisiert die Vertreibung und Flucht von rund 750’000 PalästinenserInnen im Jahr 1948 – zunächst durch jüdisch-zionistische Milizen und nach der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948 durch die Streitkräfte des Landes – darf ausgerechnet zum 75. Jahrestag dieses Geschehens auf dem Kirchentag DEKT in Nürnberg nicht gezeigt werden.

Nur mit dieser Verbotsauflage erhielt der Verein «Flüchtlingskinder im Libanon» (FiL) e.V., der die Nakba-Ausstellung im Jahr 2008 aus Quellen israelischer Historiker konzipiert hatte, von der DEKT-Geschäftsstelle in Fulda die Zulassung für einen Stand auf dem Markt der Möglichkeiten beim Nürnberger DEKT.

Dieses von DEKT-Generalsekretärin Kristin Jahn und der für das Kirchentagsprogramm verantwortlichen Studienleiterin Stefanie Rentsch im November letzten Jahres übermittelte Verbot kam sehr überraschend. Denn auf vergangenen Kirchentagen seit 2010 wurde die Nakba-Ausstellung ohne Probleme gezeigt. Ebenfalls seit 2008 in über 150 Städten im In-und Ausland, auch in Basel, Bern, Biel, St. Gallen, Zürich und Bülach sowie bei der EU in Brüssel und der UNO in Genf.

Die Verantwortlichen drücken sich um eine Begründung

Für die Verbotsentscheidung gaben Jahn und Rentsch auch auf mehrfache Nachfragen hin keine Begründung. Die Entscheidung habe das für «das Programm des Kirchentages gesamtverantwortliche DEKT-Präsidium» getroffen «nach vorheriger Durchsicht und Prüfung» der Bewerbung des Vereins Flüchtlingskinder im Libanon «durch ein vom Präsidium eingesetztes Expertengremium».

Auch zahlreiche schriftliche Nachfragen bei dem «gesamtverantwortlichen» Präsidium nach den Gründen für das Verbot seit November letzten Jahres wurden bis Ende Februar nicht beantwortet. Selbst langjährige ehemalige Mitglieder des Präsidiums wie die frühere Kirchentagspräsidentin Elisabeth Raiser und ihr Mann, der ehemalige Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Konrad Raiser, erhielten keine Antwort.

Photo of the village or town

Der aktuelle Kirchentagspräsident Thomas de Maizière reagiert auf Briefpost an seine Dresdner Anschrift bisher nicht. Anfragen per E-Mail-Schreiben an sein Büro lässt der Kirchentagspräsident durch seine Mitarbeiterin, die Flensburger CDU-Landtagsabgeordnete Uta Wentzel mit diesen Worten abwimmeln: «Das Schreiben wurde gar nicht gelesen und daran besteht auch überhaupt kein Interesse. Wenn Sie vom DEKT keine Antwort auf Ihre Frage erhalten, müssen Sie sich halt damit abfinden.»

Von den übrigen 30 Mitgliedern des Präsidums (darunter Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, BWI-Staatssekretär und ATTAC-Mitbegründer Sven Gigold sowie BGH-Präsidentin Bettina Limperg) und den acht «ständigen Gästen» des Präsidiums aus der für den DEKT in Nürnberg gastgebenden Bayerischen Landeskirche, darunter Bischof Heinrich Bedford Strohm, antworteten nur wenige, die an die DEKT-Geschäftsstelle in Fulda verwiesen.

Auffällig viele der Angefragten erklärten zudem, sie seien gar nicht auskunftsfähig. Denn sie hätten an der Präsidiumssitzung, auf der das Verbot der Nakba-Ausstellung beschlossen wurde, gar nicht teilgenommen. Das wirft Fragen auf: Gab es überhaupt eine solche Sitzung? Und wenn ja: Existiert ein ordentliches Sitzungsprotokoll, aus dem Beschlüsse und ihre Begründungen hervorgehen? Wenn nicht: Von welchem Personenkreis wurde das Verbot tatsächlich beschlossen?

Wer die Mitglieder des «Expertengremiums» waren, das zum Verbot der Nakba-Ausstellung geraten hat, hält der DEKT bislang ebenfalls geheim. Nach informellen Informationen aus Kirchentagskreisen soll ein Experte (möglicherweise der einzige?) Christian Staffa gewesen sein, der Antisemitismusbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Staffa ist auch im Vorstand der seit 1961 bestehenden «AG Juden und Christen» beim DEKT.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag ist auskunftspflichtig

Das Verbot der Nakba-Ausstellung auf dem Nürnberger Kirchentag ist ein unakzeptabler Akt der Zensur und des Eingriffs in die Meinungsfreiheit. Der DEKT verhindert damit den demokratischen Dialog. Der bisherige Umgang des DEKT mit Fragen nach einer Begündung des Verbots ist willkürlich und selbstherrlich. Und das DEKT-interne Verfahren, das zu dem Verbot geführt hat, ist offensichtlich nicht einmal für Mitglieder des «gesamtverantwortlichen» Präsidiums transparent.

Der DEKT ist zwar ein Verein. Aber die Grossveranstaltung in Nürnberg ist keine Privatveranstaltung. Sie wird ausser durch Ticketverkäufe, Spenden und Sponsoring ganz wesentlich mit öffentlichen Geldern (Kirchensteuern und anderen Zuschüssen) finanziert. Aus diesem Grund ist der DEKT auskunftspflichtig.

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Zwischen Kriege und Krisen

Erstellt von DL-Redaktion am 21. März 2023

Krisenkeynesianismus der blinden Tat

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von       :     Tomasz Konicz

Während im Krisenalltag viele Elemente keynesianischer Wirtschaftspolitik zum Einsatz kommen, verwildert der Postkeynesianismus in der deutschen Linken zur Ideologie.

Ob stockkonservative Marktjünger1 oder bieder-sozialdemokratische Gewerkschaftler2: In Krisenzeiten sind sie alle Keynesianer. Bei jedem Krisenschub der letzten Jahre, als es mal wieder galt, den dahinsiechenden Spätkapitalismus mittels billionenschwerer Konjunkturprogramme und gigantischer Gelddruckerei vor dem Kollaps zu bewahren, erlebte der britische Ökonom, dessen nachfrageorientierte Konjunkturpolitik bis zur Ablösung durch den Neoliberalismus in den 1980er Jahren dominant war, eine flüchtige öffentliche Konjunktur. Nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase 2008 oder dem pandemiebedingten Einbruch 2020 sprachen plötzlich alle über John Maynard Keynes, der als Hofökonom der alten staatsgläubigen Sozialdemokratie eine aktive Rolle des Staates bei Investitionsprogrammen und Geldpolitik propagierte. Bis es, nach den üblichen Abnutzungserscheinungen im Medienzirkus, keiner mehr tat und der Kapitalismus nach der „keynesianischen“ Stabilisierungsphase wieder zum „Business as usual“ überzugehen schien.

Übrig blieben nur die im neoliberalen Zeitalter aus dem politischen und akademischen Mainstream verdrängten, beständig jammernden Keynesianer, mit denen sich nun die Linke jenseits der Sozialdemokratie herumplagen darf. Doch die beständige Klage aus dem Spektrum der Neokeynesianer und der Modernen Monetären „Theorie“ (MMT), wonach es mehr Keynesianismus brauche, damit alles wieder besser werde und der Spätkapitalismus an die Ära des Wirtschaftswunders anknüpfe, ist angesichts der politischen Realitäten – gelinde gesagt – deplatziert. Viele Instrumente des Keynesianismus kommen bei der Krisenverwaltung weiterhin zu Einsatz, sie werden nur nicht als solche thematisiert und wahrgenommen. Keynes ist längst pragmatischer Krisenalltag, etliche der Krisenmaßnahmen und -Programme, die das System seit 2008 stabilisieren, tragen seine Handschrift.

Und dies ist nur logisch vor dem Hintergrund der historischen Genese dieser Ökonomieschule: Der Keynesianismus erfuhr seinen Durchmarsch zum kapitalistischen Mainstream nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gerade als große „Lehre“ aus der 1929 einsetzenden Krisenphase – und die kapitalistischen Funktionseliten greifen in Krisenzeiten quasi reflexartig zu dessen Instrumentarium. Konsequente Regulierung der Währungs- und Finanzmärkte, der Staat als wirtschaftlicher Ordnungs- und Leitfaktor, der eine aktive Investitionspolitik betreibt, die nachfrageorientierte Lohn- und Sozialpolitik, bei der die Lohnabhängigen der Wirtschaftswunderzeit auch als Konsument*innen begriffen wurden und eine kontrazyklische Konjunkturpolitik, die mittels schuldenfinanzierter Konjunkturprogramme Rezessionen verhindern sollte, um in Boomphasen diese Schulden dann abzutragen – dies waren die inzwischen idealisierten Grundzüge der keynesianischen Wirtschaftsordnung bis zum Durchmarsch des Neoliberalismus unter Thatcher und Reagan, zu der die Neokeynesianer zurückkehren wollen.

Billiger geht’s nicht

Der pragmatische Rückgriff auf das Instrumentarium des Keynesianismus findet seinen klarsten Ausdruck in all den Konjunkturprogrammen, die im Gefolge der an Intensität gewinnenden Krisenschübe aufgelegt wurden. Folglich gewannen auch diese staatlichen Subventions- und Investitionspakete bei jedem Krisenschub an Umfang,3 wie die berüchtigte Unternehmensberatung McKinsey anhand der Weltfinanzkrise 2008/09 und des Pandemieeinbruchs 2020 darlegte.4 Schon Mitte 2020 summierten sich die globalen staatlichen Krisenaufwendungen, mit denen die Folgen des durch die Pandemie getriggerten Krisenschubs minimiert werden sollten, auf rund zehn Billionen Dollar – das Dreifache der Krisenprogramme von 2008/09.

Und es war gerade die 2008 konjunkturpolitisch zurückhaltende Bundesregierung, die damals nur mit der berüchtigten, klimapolitisch verheerenden Abwrackprämie für PKWs Negativschlagzeilen machte, die 2020 besonders weitreichende Krisenprogramme auflegte. In Relation zum deutschen Bruttoinlandsprodukt hat Berlin sogar das größte Konjunkturpaket aller westlichen Industrieländer aufgelegt: es umfasste 33 Prozent des BIP. Zudem leitete die Regierung Merkel auch in der „deutschen“ Eurozone eine graduelle Abkehr vom schäublerischen Austeritätsregime ein, indem sie Mitte 2020 einem europäischen Konjunkturprogramm im Rahmen des europäischen Haushalts zustimmte, das bei einem Volumen von 750 Milliarden immerhin Hilfszahlungen an die Peripherie von 380 Milliarden Euro beinhaltet.5

Und auch bei der Geldpolitik galt bis vor Kurzem bei Europäischer Zentralbank (EZB) wie Federal Reserve (Fed) die Devise, dass es billiger kaum noch gehen könne. Die Leitzinsen aller westlichen Währungsräume sind im 21. Jahrhundert in der Tendenz immer weiter gefallen. Zwischen 2009 und 2021 herrschte – mit kurzem Unterbrechungen – eine Nullzinspolitik, mit der Konjunktur und Finanzsphäre gestützt wurden. Zudem gingen die Notenbanken nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase zur schlichten Gelddruckerei über, indem sie zuerst Hypothekenpapiere und später zunehmend Staatsanleihen aufkauften – und so der Finanzsphäre zusätzliche Liquidität zuführten, die zur Inflation der Wertpapierpreise im Rahmen der großen, 2020 platzenden Liquiditätsblase führten. Im Laufe des 21. Jahrhunderts haben Fed und EZB ihre Bilanzsummen nahezu verzehnfacht, sie sind zu Mülldeponien des zum Dauerboom verurteilten spätkapitalistischen Finanzsystems und den größten Eigentümern von Schuldtiteln ihrer Staaten geworden.

Hyperaktiver Zentralbankkapitalismus

Die Notenbanken sind somit im Verlauf des Krisenprozesses zu zentralen ökonomischen Akteuren aufgestiegen, da ohne deren Intervention sowohl die Finanzsphäre wie die Staatsfinanzierung kollabiert wären. Es ließe sich von einem Zentralbankkapitalismus sprechen, wie es der Politökonom Joscha Wullweber in einem Buch mit diesem Titel tut, in dem die Abhängigkeit eines Teils der Finanzsphäre, des weitgehend unregulierten Marktes für Rückkaufversicherungen (Repos), von der Gelddruckerei der Notenbanken beleuchtet wird.6 Der derzeit aufgrund zweistelliger Inflationsraten unternommene Versuch von EZB und Fed (Einzig die Bank of Japan stemmt sich verzweifelt gegen den Trend),7 mit der Wende zu einer restriktiven Geldpolitik die auf mehrere Ursachen zurückzuführende Inflation (Pandemie, Krieg, geplatzte Liquiditätsblase, Klimakrise)8 einzudämmen, geht aber nicht zwangsläufig mit einem Ende der Aufkäufe von Staatsanleihen einher.

In der Eurozone wurde mit PEPP (Pandemic emergency purchase programme) eigens ein Krisenprogramm in Umfang von 1.850 Milliarden Euro geschaffen, mit dem zwecks Stabilisierung der Eurozone Staatsanleihen bei gleichzeitigen Leitzinsanhebungen aufgekauft werden (Nettozukäufe sollen im kommenden März ausgesetzt werden)9, wodurch die Inflationsbekämpfung faktisch unterminiert wird – und was wiederum die ökonomische Rolle des Staates stärkt, da dieser weiterhin im Rahmen von PEPP sein Haushaltsdefizit finanzieren kann. Zudem sind auch Schritte zu einer aktiven Wirtschaftspolitik des Staates erkennbar, vor allem hinsichtlich des Green New Deals. Neoliberale Hardliner10 klagen im Handelsblatt inzwischen laut über die staatlichen Bestrebungen zur ökologischen „Kreditlenkung“, die vor allem in der Einführung der EU-Taxonomieverordnung zur Definition nachhaltiger Investitionen zum Ausdruck kämen (Ironischerweise gelten dabei auch Investitionen in Erdgas und Atomkraft als „nachhaltig“). Überdies sprach sich Habecks Staatssekretär Sven Giegold – ein Attac-Aktivist der ersten Stunde – schon vor einem Jahr gegenüber der Financial Times (FT) für eine „aktive Industriepolitik“ Berlins aus, die „Innovationen unterstützen“ solle, um aus der BRD eine „ökologische und soziale Marktökonomie“ zu machen.11

Diese von zunehmender Staatstätigkeit geprägte Struktur des Krisenkapitalismus ist aber nicht Folge einer kohärenten Strategie, sondern Ausdruck der jeweiligen Bemühungen, während der akuten Krisenschübe einen Kollaps der Weltwirtschaft zu verhindern. Es ist ein Keynesianismus der blinden Tat, bei dem Funktionseliten quasi reflexartig agierten. Die oftmals als Provisorium eingeführten Notprogramme und Politikwechsel verstetigen sich dann im Krisenverlauf, sie gerinnen zu neuen Strukturen und Dynamiken in latenten Krisenphasen. Man „fährt auf Sicht“, so der damalige Finanzminister Schäuble über das Agieren der Bundesregierung während der Weltfinanzkrise 2009.12 Die Maßnahmepakete bauen schlicht aufeinander auf. Habecks aktive Industriepolitik etwa, für die Giegold in der FT die Werbetrommel rührte, hat ihren Vorläufer in der staatlichen Förderung „nationaler Champions“ unter seinem Vorgänger Peter Altmaier, der angesichts zunehmender Krisenkonkurrenz und informeller Staatssubventionen in China und den USA auch Deutschlands Exportindustrie gezielt fördern wollte.13

Dieses „Fahren auf Sicht“ der Funktionseliten in manifesten Krisenzeiten, bei dem in Reaktion auf Krisenschübe immer neue Elemente staatskapitalistischer Krisenverwaltung zur Anwendung gelangen, verleiht dieser Formation alle Züge eines Übergangsstadiums innerhalb der spätkapitalistischen Krisenentfaltung. Die ökonomischen und ökologischen Krisen, die die Politik zum Krisenkeynesianismus nötigen, sind ja nicht Ausdruck einer „falschen“ Wirtschaftspolitik, sondern der eskalierenden inneren und äußeren Widersprüche des Kapitalverhältnisses, die sich ganz konkret in beständig schneller steigenden Schulden (als die Weltwirtschaftsleistung) und einer unablässig ansteigenden CO2-Konzentration manifestieren.

Aufgrund eines fortwährend steigenden globalen Produktivitätsniveaus unfähig, einen neuen industriellen Leitsektor, ein neues Akkumulationsregime zu erschließen, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet würde, läuft das Weltsystem faktisch immer mehr auf Pump. Der Staat fungiert hierbei durch Gelddruckerei und Deficit Spending zunehmend als letzte Instanz der Krisenverschleppung, nachdem die Defizitbildung im Rahmen der neoliberalen Finanzblasenökonomie (Dot-Com-Blase, Immobilienblase, Liquiditätsblase) auf den heiß gelaufenen Finanzmärkten sich weitgehend erschöpft hat. So ist etwa der breit angelegte US-Aktienindex S&P 500 nach seinem historischen Höchststand von mehr als 4700 Punkten Ende 2021 inzwischen um rund Tausend Punkte eingebrochen.

Moderne Monetäre Ideologie

Die Spätphase des globalisierten Finanzblasenkapitalismus, in der die expansive Geldpolitik der Notenbanken zur Inflation der Wertpapierpreise in der Finanzsphäre beitrug – bis hin zum Schwarminvestmet und den flüchtigen Boom von Meme-Aktien wie GameStop14 – ließ auch eine extreme Form spät- und postkeynesianischer Wirtschaftsideologie aufkommen, die unter Ausblendung jeglicher systemischen Krisenanalyse – insbesondere des Zusammenhangs zwischen Blasenbildung und den offenen Geldschleusen der Notenbanken – behaupten konnte, dass alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Spätkapitalismus durch Gelddruckerei gelöst werden konnten. Die Zinsen und die Inflation blieben ja zwischen 2008 und 2020 niedrig.

Der Modern Monetary Theory (MMT) schien die Quadratur des kapitalistischen Kreises geglückt. Vollbeschäftigung, Sozialstaat, Wirtschaftswachstum und die ökologische Wende – all dies sei nur eine Frage der expansiven Geldpolitik, so die zentrale These der MMT. Dieser neokeynesianischen, in der sozialistischen Linken der Vereinigten Staaten sehr populären Geldtheorie zufolge können Regierungen, die ihre Währung kontrollieren, die Staatsausgaben frei erhöhen, ohne sich um Defizite sorgen zu müssen. Denn sie können jederzeit genug Geld drucken, um ihre Staatsschulden in ihrer Währung abzuzahlen. Inflation sei dieser Theorie zufolge so lange kein Problem, wie die Ökonomie nicht an natürliche Wachstumsgrenzen stoße oder es ungenutzte ökonomische Kapazitäten gebe, wie etwa Arbeitslosigkeit.

Gelddrucken bis zur Vollbeschäftigung – darauf zielt diese spätkeynesianische nachfrageorientierte Wirtschaftsideologie ab, die sich im Windschaden der von ihr unverstandenen, heißlaufenden Finanzialisierung des Kapitalismus ausbildete. Zumeist verweisen Befürworter der MMT auf die expansive Geldpolitik der US-Notenbank Fed, die von 2007 bis 2009 und ab 2020 mit Billionenbeträgen die strauchelnden Finanzmärkte stützte. Da die als „Quantitative Lockerungen“ bezeichnete Gelddruckerei anscheinend keine Inflationsschübe nach sich zog, will die MMT diese Krisenmaßnahmen gewissermaßen zur Leitlinie neo-sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik erheben. Durch expansive Geldpolitik soll das Angebot der Ware Geld so lange erhöht werden, bis eben die Nachfrage gedeckt sei, die Arbeitslosigkeit verschwunden und die Wirtschaft ordentlich brumme. Die historisch beispiellosen Aufkaufprogramme der Notenbanken, mit denen ein auf Pump laufender Spätkapitalismus mühsam stabilisiert wird, will die MMT letztlich zur neuen Normalität erklären – und somit in Ideologie, in die Rechtfertigung des Bestehenden übergehen.

Es ist auch kein Zufall, dass die MMT ihre politische Heimat in den USA hat, die mit dem US-Dollar die Weltleitwährung kontrolliert. Damit kann sich Washington im globalen Wertmaß aller Warendinge verschulden. Wie es aussieht, wenn Staaten der Peripherie dazu übergehen, ihre eigene Währung nach Gutdünken zu drucken, die im US-Dollar ihren globalen Wertmaßstab finden, kann aktuell etwa an der Türkei des „Zinskritikers“ Erdogen studiert werden, wo die Inflationsrate in den dreistelligen Bereich zu beschleunigen droht.15 Die MMT stellt somit nicht nur eine sehr exklusive Ideologie dar, die eventuell noch in der Eurozone Anhänger finden kann, sich aber anhand der Erfahrungen in der Peripherie und Semiperipherie schlicht blamiert.

Der Neokeynesianismus sieht also die Ursache der gegenwärtigen kapitalistischen Malaise hauptsächlich in mangelnder Geldversorgung. Deren tatsächliche Krisenursache bildet aber ein fehlender ökonomischer Leitsektor, ein fehlendes neues Akkumulationsregime, das massenhaft Lohnarbeit verwertete – und das aufgrund des hohen globalen Produktivitätsniveaus nie wieder errichtet werden wird. Irrationaler Selbstzweck des Kapital ist ja seine höchstmögliche Verwertung mittels der Ausbeutung von Lohnarbeit – der einzigen Ware, die als Substanz des Kapitals Mehrwert produzieren kann – in der Warenproduktion. Die keynesianische Nachfragepolitik tut hingegen so, als ob der Kapitalismus schon überwunden wäre, als ob die Bedürfnisbefriedigung – und nicht uferlose Kapitalverwertung – den Zweck der kapitalistischen Wirtschaft bildete. Es ist der übliche keynesianische Taschenspielertrick, der die Irrationalität kapitalistischer Vergesellschaftung einfach ausblendet.

Es ist eine einfache, seit den 1980er Jahren zu beobachtende Krisenregel: Wenn die Akkumulation des Kapitals der realen Wirtschaft stottert, dann setzt ein spekulatives Wachstum der Finanzsphäre ein. Ignoriert wird von der MMT hierbei der Zusammenhang zwischen den quantitativen Lockerungen und dem Wachstum des aufgeblähten spätkapitalistischen Finanzsektors. Die Gelddruckerei der Fed (wie die der Europäischen Zentralbank) führte sehr wohl zu einer Inflation – zur Inflation der Wertpapierpreise auf den Finanzmärkten. Ausgerechnet der von den Keynesianern verteufelte, aufgeblähte Finanzsektor – Fundament der als Konjunkturmotor fungierenden globalen Verschuldungsdynamik – bildete somit den entscheidenden Faktor, der eine Stagflationsperiode verhindere, wie sie in den 1970ern dem Keynesianismus das Rückgrat brach und den Weg für den Neoliberalismus öffnete. Der Neoliberalismus entfesselte die Finanzsphäre gerade in Reaktion auf die Krisenphase der Stagflation, was als Form der Krisenverzögerung zur Ausbildung des auf Pump laufenden, von Blase zur Blase taumelnden Zombie-Kapitalismus16 führte.

Die Rückkehr der deflationären Vergangenheit

Das Kapital geht somit in der Warenproduktion seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit, verlustig, was die mit immer größeren Schuldenbergen konfrontierte Politik in eine Sackgasse treibt: Inflation oder Deflation? Konkret wird die aus der inneren Schranke des Kapitals resultierende Aporie der kapitalistischen Krisenpolitik anhand des öden, seit Jahren gepflegten Streits17 über die Prioritäten der Wirtschaftspolitik zwischen angebotsorientierten Neoliberalen und nachfrageorientierten Keynesianern sichtbar. Der Twitter-Keynesianer Maurice Höfgen praktiziert gerne dieses stupide Schattenboxen.18 Es ist immer dieselbe Leier, abgespult in tausend Variationen: Der neoliberalen Warnung vor Überschuldung und Inflation bei Konjunkturprogrammen wird von den Keynesianern die Mahnung vor der deflationären Abwärtsspirale, ausgelöst durch Sparprogramme, entgegengehalten. Beide Streitparteien haben dabei mit ihren Diagnosen recht, was nur durch die Finanzblasenökonomie des neoliberalen Zeitalters überdeckt wurde. Nun, in der Ära der Stagflation wird es offensichtlich, dass gerade die Geldpolitik der Notenbanken sich in einer Krisenfalle befindet.19 Die Notenbanken müssten der Inflation wegen die Zinsen anheben, und zugleich die Zinsen senken, um eine Rezession zu verhindern.

Übrigens: an eben der oben skizzierten, historischen Stagflationsperiode der 1970er Jahre – zu der das spätkapitalistische Weltsystem auf einem viel höheren Krisenniveau derzeit quasi zurückkehrt20 – ist der Keynesianismus tatsächlich fulminant gescheitert. Nach dem Auslaufen des großen Nachkriegsbooms, der von dem fordistischen Akkumulationsregime getragen wurde, versagten alle Politikrezepte der Keynesianer. Der Neoliberalismus konnte ich also in den 1980ern nur deswegen durchsetzen, weil der Keynesianismus krachend – mit zweistelligen Inflationsquoten, häufigen Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit – gescheitert ist. Wenn ein abgehalfterter Keynesianer wie Heiner Flassbeck – stilecht im Querfrontmagazin Telepolis21 – behauptet, dass es nur die Energie- und Ölpreiskrise war, die damals wie heute den Krisen- und Inflationsschub auslöste, dann lügt er sich selbst in die Tasche. Der Keynesianismus konnte trotz aller Konjunkturprogramme kein neues Akkumulationsregime aus dem Boden stampfen – und er wird es auch jetzt nicht schaffen, neue Märkte hervorzuzaubern, bei deren Erschließung massenhaft Lohnarbeit auf dem globalen Produktivitätsniveau verwertet werden könnte.

Der Neoliberalismus „löste“ das Problem durch das spekulative Abheben der Finanzsphäre, der Finanzialisierung des Kapitalismus, also durch Krisenverschleppung im Rahmen einer regelrechten Finanzblasenökonomie, die durch drei Dekaden hindurch dem Kapital eine Art Zombieleben auf Pump ermöglichte. Dies ist auch der fundamentale Unterschied zwischen der Stagflation der 1970er und der jetzigen Stagflationsphase. Das Krisenniveau ist viel höher – und es läßt sich ganz einfach anhand der Relation zwischen Gesamtverschuldung und Wirtschaftsleistung ablesen, die von rund 110 Prozent zu Beginn des neoliberalen Zeitalters 1980, auf inzwischen 256 Prozent kletterte (ohne Finanzsektor).22

Und ein nachhaltiger Abbau dieses Schuldenbergs ist nur um den Preis einer Rezession möglich – also längerfristig eigentlich gar nicht. Ganz abgesehen davon, dass es ökologischer Wahnsinn ist, auf Rezessionen mit keynesianischen Konjunkturprogrammen zu reagieren. Die Rezessionen von 2009 und 2020, die im Gefolge der damaligen Krisenschübe ausbrachen, hatten die einzigen Jahre im 21. Jahrhundert zur Folge, in denen die CO2-Emissionen zurückgingen. Doch die oben geschilderten Konjunkturpakete führten in den Folgejahren zu den höchsten Emissionsanstiegen dieses Jahrhunderts. 2009 fiel der Ausstoß von Treibhausgasen um 1,4 Prozent,23 um 2010 dank keynesianischer Konjunkturprogramme um 5,9 Prozent24 zuzulegen! 2020 sanken die Emissionen pandemiebedingt wiederum um 4,4 Prozent, während sie 2021 aufgrund vielfacher Konjunkturmaßnahmen um 5,3 Prozent zulegten.25 Verelendung in der Rezession oder Klimatod? Hierin äußert sich die ökologische Aporie kapitalistischer Krisenpolitik.

Ideologisches Material für linken Krisenopportunismus

Verstockte Altkeynesianer wie Flassbeck, wie auch der vollkommen abgedrehte Nachwuchs rund um die MMT ignorieren diese simplen Zusammenhänge verbissen, die schlicht auf die Notwendigkeit der Systemtransformation verweisen. Immer noch wird das Märchen verbreitet, wonach eine falsche Politik zur Finanzialisierung, zum Abheben der Finanzmärkte in der neoliberalen Ära führte – und es nur darum gehen müsse, diese „einzuhegen“. Und selbstverständlich spulen sie routiniert ihr dumpfes Programm ab, um trotz zweistelliger Inflation vor einer restriktiven Geldpolitik zu warnen. Auch wenn es langsam schlicht peinlich wird, mit welcher Akrobatik die Evidenz der Krisenfalle bürgerlicher Politik geleugnet wird, um immer wieder die Inflation als eine „Anomalie“ abzutun, die mit „wahrer“ keynesianischer Politik bekämpft werden solle. Es gibt im rasch in Regression übergehenden Keynesianismus schlicht kein Schamgefühl, selbst wenn die eigenen Vorhersagen sich an der Krisenrealität dermaßen deutlich blamieren wie in der derzeitigen Stagflationsphase.

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Bei Flassbeck, dem notorischen Höfgen, wie bei vielen anderen Keyensianern, die absolut blind gegenüber der Weltkrise des Kapitals sind, gibt es einen Reflex, um alle Evidenz der ideologischen Sackgasse, in der sie sich befinden, abzustreiten. So wie die Inflation keine „echte“ Inflation sei, fordern sie bei der Krisenpolitik den „wahren“ Keynes, da alles, was bislang an Methoden zum Einsatz komme, dem Idealbild nicht entspreche. In aller deprimierenden Offenheit wird dies beim Autor des oben erwähnten Buches über den Zentralbankkapitalismus evident, der ellenlang beschreibt, wie die Notenbanken das aufgeblähte Finanzsystem stützen müssen, um dann zu behaupten, dies sei kein Keynesianismus, da Finanzmärkte nicht an die Kandarre genommen würden:26 „Das derzeitige starke Eingreifen der Zentralbanken in das Finanzsystem und selbst die Unterstützungsmaßnahmen der Regierungen während der Corona-Pandemie sind also kein Zurück zum starken Staat oder ein neuer Keynesianismus. Trotz der Schwere der Krisen ist es zu keinen weitreichenden wirtschafts- und finanzpolitischen Kursänderungen gekommen. Es ist eine Regierungsweise, die sich innerhalb der weiterhin vorherrschenden marktliberalen Wirtschaftsordnung vollzieht. Weder die Funktionsweise des Finanzsystems im Allgemeinen noch die des Schattenbankensystems im Speziellen werden infrage gestellt. Genau das müsste aber passieren, um die Krisenhaftigkeit des Systems zu überwinden.“

Tatsächlich kann der heutige Krisenkeynesianismus nicht dem alten Idealbild entsprechen, da er als Form prekärer Krisenverwaltung mit den Folgen der dekadenlangen Finanzialisierung des Kapitalismus konfrontiert ist. Es ist deprimierend: Joscha Wullweber beschreibt die Folgen dieser Finanzialisierung anhand der von ihm als „Schattenbanksystem“ bezeichnenden Repo-Geschäfte27 und beklagt die Folgen der raschen Expansion der Finanzsphäre, um dann im kapitalistischen Gedankengefängnis zu verbleiben und die strukturellen Dynamiken zur bloßen Frage einer falschen der Politik zu erklären. Und eben dieses Denken macht den Keynesianismus zu einem gern benutzten ideologischen Vehikel für linken Opportunismus.28 Keynesianer werden vor allem in der „Linkspartei“ hofiert, da sie die Systemkrise zu einer bloßen Politikfrage umlügen, was die intendierte Mitmacherei bei der Krisenverwaltung ganzer Linkspartei-Rackets von linksliberal bis rechtsnational legitimiert. Die verkürzte Kapitalismuskritik der Keyesianer ist längst zur Ideologie geronnen.

Postkeynesianische Kriegswirtschaft

Der Keynesianismus mit seinem drögen Deficit Spending und seiner Staatsgeilheit kann die sich zuspitzende innere und äußere Krise des Kapitals selbstverständlich nicht lösen, er kann aber als Übergang in eine neue Krisenqualität fungieren. Keynes kann aber – gerade bei Funktionseliten, die des Öfteren „auf Sicht“ agieren – einen brauchbaren Bootloader, ein Übergangsvehikel, zu einer qualitativ neuen Form autoritärer Krisenverwaltung abgeben. Das haben ideologisch avancierte Postkeynesianerinnen, wie die Taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, längst begriffen:29 In ihrem jüngsten Buch über das „Ende des Kapitalismus“, das eine weitgehend von der Wertkritik abgeschriebene Darstellung der äußeren Schranke des Kapitals mit einem Bekenntnis zur Kriegswirtschaft koppelt – inklusive Ukas (Erlass, russ.) und Rationierung. Dem auf dem rechten Auge blinden, von rechten Seilschaften durchsetzten deutschen Staat will die Taz-Redakteurin mit ungeheurer Machtfülle ausstatten und zur zentralen Instanz der gesellschaftlichen Reproduktion in der Krise machen. Frau Herrmann baut auch hier natürlich auf keynesianisch verkürzter Kapitalismuskritik auf, wo der Staat als großer Gegenspieler zum Kapital erscheint – und nicht als Teil des kapitalistischen Systems, das mit diesem untergeht, wie es reihenweise in den „Failed States“ der Peripherie bereits der Fall ist.

Darauf, auf autoritäre, postdemokratische Krisenverwaltung, exekutiert von erodierenden, mitunter offen verwildernden Staatsapparaten, läuft der Krisengang hinaus. Die Keynesianer spielen nur die – dummen oder perfiden – Jubelperser dieser objektiven Krisentendenz zum anomischen Autoritarismus. Der Keynesianismus, der nur aufgrund der absurden Rechtsverschiebung des gesamten politischen Spektrums als Teil der Linken links der Sozialdemokratie gilt, verkommt somit auch hier zur Ideologie in ihrem reinsten Sinn: Zur Rechtfertigung der drohenden autoritären staatskapitalistischen Krisenverwaltung, die das genaue Gegenteil der überlebensnotwendigen Emanzipation vom kollabierenden spätkapitalistischen Sachzwangregime wäre. Die Linke sollte folglich endlich dazu übergehen, die Keynesianer als das zu betrachten, was sie objektiv sind: als Ideologen.

Zuerst erschienen in: oekumenisches-netz.de, Netz-Telegramm Februar 2023.

Ich finanziere meine journalistische Tätigkeit größtenteils durch Spenden. Falls Ihnen meine Texte zusagen, dann können Sie sich gerne daran beteiligen – entweder über Patreon, über Substack, oder durch direkte Banküberweisung nach Absprache per Mail:

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https://konicz.substack.com/

1 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/der-volks-und-betriebswirt/volkswirtschaftslehre-sind-wir-jetzt-alle-keynesianer-1775435.html

2 https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/in-der-krise-sind-alle-keynesianer

3 https://www.konicz.info/2020/10/27/vergleich-der-krisen-2020-vs-2008/

4 https://www.mckinsey.com/featured-insights/coronavirus-leading-through-the-crisis/charting-the-path-to-the-next-normal/total-stimulus-for-the-covid-19-crisis-already-triple-that-for-the-entire-2008-09-recession

5 https://www.sueddeutsche.de/politik/eu-sondergipfel-haushalt-1.4973847

6 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/507732/zentralbankkapitalismus/

7 https://www.konicz.info/2022/12/30/japan-in-der-krise-mehr-alkoholismus-wagen/

8 https://www.konicz.info/2021/08/08/dreierlei-inflation/

9 https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/pepp/html/index.en.html

10 https://www.handelsblatt.com/meinung/homo-oeconomicus/gastkommentar-homo-oeconomicus-kreditlenkung-ist-kein-gutes-rezept-fuer-klimaschutz/27974940.html

11 https://www.ft.com/content/fa740376-da98-4067-92b4-85d315bbb6e2

12 https://wolfgang-schaeuble.de/wir-fahren-auf-sicht-dazu-muss-man-sich-offen-bekennen/

13 https://www.ifo.de/publikationen/2005/aufsatz-zeitschrift/nationale-industriepolitik-brauchen-wir-nationale-champions

14 https://www.konicz.info/2021/01/30/hedge-fonds-gamestop-und-reddit-kleinanleger-die-grosse-blackrock-bonanza/

15 https://www.konicz.info/2022/01/31/werteverfall/

16 https://www.streifzuege.org/2017/wir-sind-zombie/

17 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

18 https://twitter.com/MauriceHoefgen/status/1610588756754534400

19 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

20 https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/wirtschaft/theorie/stagflation-inflationsrate-6794.html

21 https://www.telepolis.de/features/Die-Welt-vor-der-Rezession-Diese-alten-Fehler-werden-die-Lage-verschaerfen-7286773.html?seite=all

22 https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2021/12/15/blog-global-debt-reaches-a-record-226-trillion

23 https://www.reuters.com/article/us-climate-emissions-idUSTRE6AK1OU20101121

24 https://www.reuters.com/article/us-iea-co2-idUSTRE74T4K220110530

25 https://joint-research-centre.ec.europa.eu/jrc-news/global-co2-emissions-rebound-2021-after-temporary-reduction-during-covid19-lockdown-2022-10-14_en#:~:text=In%202021%2C%20global%20anthropogenic%20fossil,the%20world’s%20largest%20CO2%20emitters.

26 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/507732/zentralbankkapitalismus/

27 Repurchase Agreements (Repos) sind Rückkaufvereinbarungen. Hierzu Wullweber (Quelle in Fußnote Nr. 26): „Repos sind Verträge, bei denen Wertpapiere zu einem bestimmten Preis verkauft werden, um diese nach einer definierten Zeit zu einem vorher festgesetzten Preis plus Zinsen wieder zurückzukaufen. … Im Prinzip ist ein Repo nichts anderes als eine Pfandleihe: Die eine Seite benötigt Geld und hinterlegt als Sicherheit ein Pfand in Form eines Wertpapiers. Die andere Seite besitzt Geld und verleiht dieses gegen diese Sicherheit. … Ganz allgemein gibt es im Schattenbankensystem einerseits Finanzakteure wie Hedgefonds und Geschäftsbanken, die Geldmittel benötigen, um durch Geschäfte mit unterschiedlichen Risikoprofilen kurzfristig Profit erzielen zu können oder auch, um eine Unterdeckung von Kapitalreserven aufzufangen. … Auf der anderen Seite finden sich Geldmarktfonds, Vermögensverwalter, Pensionsfonds und andere institutionelle Investoren oder auch Unternehmen, die ihr überschüssiges Kapital mit verhältnismäßig geringen Risiken und vergleichsweise hohen Renditen anlegen möchten.“

28 https://www.untergrund-blättle.ch/politik/deutschland/linkspartei-opportunismus-in-der-krise-7288.html

29 https://www.konicz.info/2022/12/14/rebranding-des-kapitalismus/

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Frag mal Clausewitz

Erstellt von DL-Redaktion am 18. März 2023

Der Militärtheoretiker ist heute so aktuell wie zu seiner Zeit

File:Ostfriedhof Burg Grab von Clausewitz.jpg

Ostfriedhof Burg bei Magdebirg – Grab von Clausewitz

Von Christian Th. Müller

Beim Streit über Wege zur Beendigung des Kriegs kann ein Blick auf die Lehren des Carl von Clausewitz hilfreich sein. Ohne den Krieg politisch zu denken und die politischen Zwecke festzulegen, ist die Entwicklung einer Strategie nicht möglich.

Der preußische General Carl von Clausewitz ist neben Sunzi aus dem alten China vermutlich der weltweit bekannteste Theoretiker des Kriegs. Seit Beginn der offenen russischen Aggression gegen die Ukraine wird Clausewitz, der von 1780 bis 1831 lebte, wieder häufiger zitiert, aber leider immer noch kaum gelesen und noch weniger verstanden. Fast jeder kennt zwar seine berühmte „Formel“ vom Krieg als der „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Manche haben auch noch von der für sein Theoriegebäude grundlegenden Zweck-Mittel-Relation gehört. Seine Überlegungen zur Komplexität und Wandlungsfähigkeit des Phänomens Krieg, das er treffend als „wahres Chamäleon“ charakterisiert hatte, sind hingegen selbst im Kreis der mit Sicherheitsfragen befassten Politiker, Journalisten und Wissenschaftler kaum näher bekannt oder werden von vornherein als obsolet abgetan und ignoriert.

Unsere sicherheitspolitische Debatte leidet an einem grundlegenden Strategiedefizit, das seinen deutlichsten Ausdruck in der Tendenz zur eindimensionalen Betrachtung des nicht nur militärisch, sondern auch politisch hochkomplexen Konflikts um die Ukraine findet. Das zeigt sich seit einem Jahr in den seriellen Diskussionen zum Thema Waffenlieferungen. Egal ob es um westliche Artilleriesysteme, Schützenpanzer, Kampfpanzer oder derzeit Kampfflugzeuge geht, stets wird von den vehementen Lieferungsbefürwortern die große, wenn nicht gar entscheidende Bedeutung des jeweiligen Waffensystems betont. Immer wieder wird dann auch der Begriff des Gamechangers ins Feld geführt, der der Ukraine zum erhofften Sieg über die russischen Invasoren verhelfen könne. Hat sich die Bundesregierung dann in Abstimmung mit den Nato-Partnern zur Lieferung entschlossen, wird erstaunlicherweise sofort der nächste Gamechanger in die Diskussion gebracht.

Bei einer solchen Argumentation wird geflissentlich übersehen, dass noch kein Krieg in der Geschichte durch einen einzigen Waffentyp entschieden wurde. Das gilt umso mehr, wenn dieser nur in eher homöopathischer Dosis zur Verfügung steht und überdies nicht auch die für einen nachhaltigen Einsatz erforderlichen Munitions- und Reparaturkapazitäten bereitgestellt werden. Umso fragwürdiger sind die diskursiven Leerstellen dahingehend, welchen Effekt die westliche Militärhilfe im Hinblick auf die zeitnahe Beendigung des Kriegs und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine realistischerweise haben kann.

Die Probleme des sicherheitspolitischen Diskurses in Deutschland ebenso wie im westlichen Bündnis insgesamt sind jedoch viel grundsätzlicherer Natur und haben inzwischen gewissermaßen jahrzehntelange Tradition. In den von den USA und ihren Verbündeten geführten Militäreinsätzen und Kriegen begegnet man von Vietnam bis Afghanistan immer wieder einem Syndrom aus drei Elementen.

Erstens sind die mit dem Einsatz verfolgten politischen Zwecke häufig unklar oder unter den Bündnispartnern umstritten, was dann wiederum mit Kompromissformeln kaschiert wird, die Interpretationsspielraum lassen. Wenn jedoch der politische Zweck des Kriegs nicht klar ist, gestaltet sich die Formulierung des strategischen Ziels im Krieg und die Entwicklung einer stringenten militärischen Strategie und ihre erfolgreiche Umsetzung als einigermaßen schwierig. Mit Blick auf die Afghanistan-Mission der Bundeswehr sprach der Historiker Klaus Naumann in diesem Zusammenhang treffend von einem „Einsatz ohne Ziel“.

Tatsächlich beschäftigen sich Politiker und Spitzenmilitärs zweitens kaum noch mit Strategie, sondern vor allem mit Ressourcenallokation. Statt darüber nachzudenken, was man auf welchem Weg und mit welchen Mitteln erreichen will, geht es dann vorzugsweise darum, wer wie viel Geld, Waffen und Truppen bereitstellt.

Hinzu kommt schließlich drittens das Ressortdenken der beteiligten militärischen und politischen Institutionen, die nicht selten geradezu eifersüchtig über ihre Kompetenzbereiche wachen. In der Folge fehlt dann zwischen der operativ-taktischen und der politischen Handlungsebene die Strategie als verbindendes Element.

Staatliche Uniformträger : Keine Zähne mehr im Maul – aber La-Paloma pfeifen !

Der französische Philosoph Raymond Aron hatte bereits in den 1970er Jahren – mit Blick auf den von den USA in Vietnam massiv geführten Luftkrieg – die verbreitete Tendenz kritisiert, Krieg vom Mittel und nicht vom verfolgten Zweck her zu denken. In den Jahren seit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich dieser letztlich auch apolitische Blick auf das Phänomen Krieg eher noch verstärkt. Daran haben auch so einflussreiche Militärhistoriker wie John Keegan und Martin van Creveld einen großen Anteil. Beide setzten dem clausewitzschen Primat der Politik ein Primat des Kampfs entgegen. Creveld ging sogar so weit, dass er einen Großteil des Kriegsgeschehens jenseits der zwischenstaatlichen Kriege als „nichtpolitisch“ betrachtete. Dieses auf staatliche Akteure und Regierungen verengte Politikverständnis trug wesentlich dazu bei, dass die Rolle des politischen Faktors in den Kriegen gegen nichtstaatliche und irreguläre Akteure verkannt wurde und man sich stattdessen darauf konzentrierte, den Gegner auf dem Gefechtsfeld – auf der taktischen Ebene – zu besiegen. Von Vietnam über den Irak bis Afghanistan machten die USA und ihre Verbündeten dabei immer wieder die gleichen Erfahrungen. Zwar hatten ihre Truppen in allen größeren Gefechten gesiegt, doch am Ende des Kriegs war man auf der strategischen und der politischen Handlungsebene gescheitert.

Clausewitz hingegen erkennt die Komplexität, die Mehrdimensionalität ebenso wie die dem Phänomen Krieg eigene, unberechenbare Dynamik. Gleichzeitig bietet er mit klar gehaltenen Begriffen und einer, seine Theorie von der taktischen bis zur politischen Handlungsebene durchziehenden Hierarchie von Zwecken und Mitteln ein effektives Instrumentarium, um sich in diesem vordergründigen Wirrwarr widerstreitender Elemente zurechtfinden zu können. Ein wesentliches Plus seiner Theorie besteht außerdem darin, dass er die moralischen Kräfte, die Friktion und die umfassende politische Bedingtheit des Kriegs in seinen Überlegungen berücksichtigt.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Es gibt die Wahrheit.

Erstellt von DL-Redaktion am 16. März 2023

Es gibt Stolz. Es gibt Mut. – Kontertext:

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Nika Parkhomowskaia und Inna Rozowa /

Wo bleibt die russische Opposition gegen Krieg und Putin?

Am 10. März 2023 veröffentlichte die berühmte russische Rocksängerin Zemfira, die sich derzeit im französischen Exil befindet und ein modernes, europäisch geprägtes Russland verkörpert, ihren neuen Song «Motherland». Der Hauptgedanke dieses Liedes ist, dass niemand gezwungen werden kann, sein/ihr Heimatland zu lieben. Unmittelbar danach wurde sie von «Patrioten», die eine totale russische Invasion der Ukraine unterstützen, als Verräterin beschimpft, und Parlamentsmitglieder forderten die Beschlagnahmung ihrer Moskauer Wohnung und ihrer zwei Autos.

Nun ist die Forderung, denen, die den Krieg kritisiert und das Land verlassen haben, ihre Immobilien zu entziehen, keineswegs neu, und die schärfsten Propagandisten drohen auch damit, den Exilierten, die sich dem Regime weiterhin widersetzen, die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Der besonders grimmige Ex-Präsident Medwedew versucht sogar, sie mit physischer Gewalt einzuschüchtern.

Doch die russischen Journalisten, Künstler und Politiker, die sich inzwischen in der ganzen Welt niedergelassen haben, vertreten weiterhin ihre Positionen. Viele von ihnen wurden als «ausländische Agenten» bezeichnet, was bedeutet, dass sie automatisch in ihren sozialen und menschlichen Rechten eingeschränkt werden. Jegliche Zusammenarbeit mit russischen Institutionen oder etwa die Unterrichtung russischer Kinder via Zoom ist ihnen verunmöglicht. Viele von ihnen werden auch immer wieder in absentia mit Geldstrafen belegt oder wegen Diskreditierung der russischen Armee verurteilt. Das heisst: sie werden verurteilt, weil sie die Wahrheit sagen und nicht der offiziellen Linie des Kremls folgen.

Nicht erst seit gestern

Diejenigen, die in Russland bleiben, befinden sich jedoch in einer viel gefährlicheren Lage. Jede Äusserung gegen den Krieg kann zur Verhaftung und zu Prozessen führen. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass die Verfolgung wegen der Teilnahme an Versammlungen und Mahnwachen nicht erst heute begonnen hat, sondern bereits seit mehr als zehn Jahren stattfindet. Es gab in den letzten Jahren nicht nur die riesigen Protestkundgebungen gegen die gefälschten Parlamentswahlen im Jahre 2011, sondern auch Hunderte von anderen Demonstrationen, von denen am ehesten noch die Proteste gegen die neue Amtszeit von Präsident Putin anno 2012 in Erinnerung geblieben sind.

Diese Demonstrationen führten zu Verhaftungen und langjährigen Haftstrafen. Die Situation wird dadurch verschärft, dass die Justiz in Russland bekanntlich abhängig und ungerecht ist: Man kann leicht für etwas verurteilt werden, das man gar nicht begangen hat, und kein Anwalt kann einen in diesem Fall schützen. Die meisten Menschen in Russland haben wirklich Angst davor, verhaftet zu werden, denn die Polizei verhält sich sehr aggressiv, und jeder weiss, dass in russischen Gefängnissen Folterungen vorkommen, die zwar offiziell verboten, aber in der Realität weit verbreitet sind. Verhaftet zu werden ist gefährlich für Leib und – manchmal – Leben. Es bedeutet zumeist, unter sehr schlechten Bedingungen existieren zu müssen.

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Es gibt andere Gründe Menschen umzubringen !

In letzter Zeit haben die russischen Behörden begonnen, Kinder von ihren Eltern zu trennen: So haben die Medien viel über den Fall Alexey Moskalev berichtet. Der Arbeitslose aus einer Kleinstadt unweit von Moskau schrieb in den sozialen Medien gegen den Krieg, und seine 13-jährige Tochter malte ein Bild mit der Aufschrift «Kein Krieg». Die Lehrerin zeigte sie an, und nun befindet sich das Mädchen in einem Waisenhaus, während ihr Vater in Haft ist.

Geld und Propaganda

Der Staat bestraft seine Bürger nicht nur, er provoziert sie auch. Und er erkauft sich Loyalität, indem er denjenigen, die am Krieg teilnehmen, hohe Gehälter zahlt – viele Menschen in Russland hatten nie die Möglichkeit, mit ehrlicher Arbeit so viel Geld zu verdienen wie nun mit Krieg. Die traurige Wahrheit ist, dass das Land in Arm und Reich gespalten ist, und einige Menschen ziehen aus Armut in den Krieg und nicht weil sie kriegsbegeistert sind oder etwas gegen die Ukraine haben. Um ihre Moral zu heben, setzen die Behörden massive Propaganda ein, auch in den nationalen Fernsehkanälen. Die Vorstellung, dass Russland ein altes, spirituelles Land sei, das die «wahren» Werte bewahre und gefährliche Feinde bekämpfen müsse, wird den Menschen erfolgreich eingepflanzt. Diese verrückten Ideen sind beliebt, denn leider ist Russland in seinem Kern immer noch sehr patriarchalisch. Während fast alle unabhängigen Medien geschlossen sind und Youtube als alternative Informationsquelle ständig Gefahr läuft, komplett verboten zu werden, sind die Menschen – vor allem diejenigen, die nicht in der Lage sind, selbst zu denken – bereit, jeden Unsinn zu glauben.

Die Macht des Faktischen

Alle Soziologen erklären jedoch, dass von denjenigen, die im Lande bleiben, mindestens 20 Prozent den Krieg nicht unterstützen. Wenn man bedenkt, wie gross Russland ist, bedeutet das, dass nicht weniger als 20 Millionen Menschen gegen den Krieg sind. Sie protestieren nicht unbedingt offen – sowohl aus Angst als auch aus dem Gefühl heraus, dass es absolut nutzlos ist –, schliesslich war in den Jahren der Putin-Regierung keine der Demonstrationen erfolgreich.

Wer politische Situationen, wie sie heute in Russland herrschen, aus Erfahrung kennt, kann das verstehen. Der litauische Ex-Premierminister Andrius Kubilius beispielsweise, der fest an die demokratische Zukunft Russlands glaubt, sagt, dass selbst das freiheitsliebende Litauen sich nicht gegen das Sowjetregime stellen konnte, weil das System zu stark war. Dennoch finden die Menschen Mittel und Wege, um ihre Haltung zu aktuellen Ereignissen zum Ausdruck zu bringen. So begannen die Russen nach dem Bombenanschlag auf ein Gebäude voller Menschen im ukrainischen Dnipro, Blumen niederzulegen – zunächst an den Denkmälern, die mit der Ukraine in Verbindung stehen, und dann an Gedenkstätten, die mit politischen Repressionen im ganzen Land in Verbindung gebracht werden. Die Behörden versuchten, diese unschuldigen Aktionen zu verbieten und leiteten einige Verwaltungsverfahren ein, aber es entstanden immer wieder spontane Gedenkstätten. Mit Grund singt Zemfira in ihrem neuen Lied: «Es gibt die Wahrheit. Es gibt Stolz. Es gibt Mut.»

Aus dem Englischen übersetzt von Felix Schneider 

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Grafikquellen        :

Oben      —     ‚Chain of Protest‘ in Moscow by Fair Elections Movement / White Ribbons

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Hungary-Serbia border barrier

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Die Grünen in Deutschland

Erstellt von DL-Redaktion am 14. März 2023

Mehr Krieg, um den Krieg zu beenden?

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :    Rositsa Kratunkova  –  berlinergazette.de

Europas grüne Parteien auf bellizistischen Irrwegen. Angesichts Russlands Ukraine-Invasion werden wir daran erinnert, dass es dem grünen Kapitalismus gelungen ist, den technologischen Solutionismus in die Matrix des Krieges zu integrieren, wie das Drängen auf die Lieferung und Entwicklung von Waffen zeigt.

Es handele sich um “pragmatische” Lösungen, wie die grünen Parteien in Frankreich, Deutschland und Bulgarien behaupten. Doch stellt diese Abkehr vom “Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit” nicht zuletzt ein Ende der Welt in Aussicht, das sogar früher einsetzen könnte als es die Gewalt der Klimakatastrophe vorsieht, wie die Klimagerechtigkeitsaktivistin und Journalistin Rositsa Kratunkova in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” argumentiert.Einen Monat nach Kriegsbeginn hat der IPCC, eine internationale Expert*innenengruppe der UNO, die sich mit dem Klimawandel befasst, den dritten Teil seines sechsten Berichts veröffentlicht, der sich mit den möglichen Lösungen zur Vermeidung einer planetarischen Katastrophe befasst. Doch nur wenige Politiker*innen in Europa haben den Bericht zur Kenntnis genommen und sich mit der Dringlichkeit der Situation auseinandergesetzt, die nach Ansicht der Expert*innen nur drei Jahre Zeit zum Handeln lässt.

Während ihrer fast dreistündigen Debatte widmeten die beiden Anwärter*innen auf die französische Präsidentschaft, Marine Le Pen und Emmanuel Macron, der Klimafrage nur 18 Minuten. Das zeigt, dass sie eindeutig keine Priorität hat. Man könnte argumentieren, dass dies auf die Invasion in der Ukraine zurückzuführen ist und ihre weitreichenden Folgen. Andere wichtige Themen wurden in den Hintergrund gedrängt und die politische Agenda auf dem gesamten Kontinent veränderte sich.

Ein bisher eher unerwarteter Effekt ist, dass die grünen Parteien die Aufrüstung befürworten und ihr Bekenntnis zum Pazifismus aufgeben, wobei sie vergessen, dass Kriege grosse Mengen an Treibhausgasen produzieren und katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt haben. Dieser Artikel zeichnet die Entwicklung der Grünen in Frankreich, Deutschland und Bulgarien seit dem Beginn des Konflikts nach und untersucht die Veränderungen ihrer Positionen zum Krieg.

Die Grünen in Frankreich: Der müde Rahmen der “humanitären Intervention”

Seit ihrer Gründung in den 1980er Jahren stehen die französischen Grünen in der Aussenpolitik in der Tradition des Pazifismus und vertreten gewaltfreie, antinukleare und antimilitärische Positionen. Einer ihrer wichtigsten Werte ist die Überzeugung, dass Konflikte durch Diskussion und Transparenz friedlich gelöst werden können. In diesem Sinne stimmte die Partei 1990 fast einstimmig gegen den Einmarsch des Irak in Kuwait. Einige Jahre später wurde der Pazifismus der Grünen jedoch von einigen Ausnahmen unterbrochen. Im Jahr 1999 unterstützte die Partei die NATO-Militärintervention im Kosovo, 2011 stimmten zwei Abgeordnete für die Fortsetzung der Militäroperationen in Libyen und zwei Jahre später unterstützte die Parteiführung den Angriff auf Syrien. Heute rechtfertigt die Partei die Anwendung von Gewalt mit dem abgedroschenen Begriff der “humanitären Intervention”.

Auch der Parteivorsitzende und Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot rief unmittelbar nach Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar dazu auf, Waffen zu schicken und Sanktionen gegen Russland zu verhängen, eine Entscheidung, die von den Parteimitgliedern nicht einstimmig unterstützt wurde. Die Abgeordnete Bénédicte Monville argumentierte, dass man zunächst einen Waffenstillstand fordern und die Positionen der Gewaltlosigkeit aufrechterhalten müsse, bevor man Waffen schicke, und sah in Jadots Aktion eine populistische Strategie, um die eher hawkistischen Wähler zu gewinnen. Andere forderten, zuerst den russischen Pazifist*innen zu helfen. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu der 2014 von der Partei nach den Maidan-Ereignissen verabschiedeten Resolution zum Frieden in der Ukraine, in der sie erklärte, dass der Druck der EU auf Russland nur diplomatisch, politisch und wirtschaftlich und niemals militärisch sein kann, und darauf bestand, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO ausdrücklich ausgeschlossen werden muss.

Zusätzlich zu den Waffenlieferungen forderte Jadot massive Sanktionen gegen die Staatsoligarchie des Putin-Regimes und bekräftigte, dass ein Friedensprojekt notwendigerweise ein Gleichgewicht der Kräfte vis-à-vis Putin voraussetzt. Dazu gehöre eindeutig ein Embargo für russisches Öl und Gas, das sich unweigerlich auf die Energiebeschaffungsmöglichkeiten Frankreichs und Europas auswirken würde. Um jeglichen Wettbewerb zwischen den Ländern zu vermeiden, schlug der Parteivorsitzende der Grünen vor, einen einzigen Staat in Europa als Abnehmer des in Russland geförderten Gases zu benennen, um so die EU-Richtlinien zur Liberalisierung der Energiepreise auszusetzen und eine Preisregulierung einzuführen. Ausserdem schlug Jadot vor, auf Supermärkten, Schulen und anderen Flachdächern Fotovoltaikanlagen zu installieren, denn Ökologie bedeute “Frieden, Klima und Kaufkraft zugleich”. Den IPCC-Bericht erwähnte er allerdings nur flüchtig in einem einzigen Tweet.

Inmitten des Kampfes mit den russischen Oligarchen ist Jadot der Meinung, dass das Öl- und Gasembargo auf die französischen Ölgesellschaften ausgedehnt werden muss, und kritisiert sie dafür, dass sie Russland nicht verlassen haben, wie Shell, Exxon Mobil und BP, was impliziert, dass sie an Kriegsverbrechen in der Ukraine beteiligt sind. Es ist ziemlich offensichtlich: not all of them left. Auf dem Höhepunkt des Präsidentschaftswahlkampfes forderte Jadot, Macron solle französische Ölfirmen zwingen, Russland zu verlassen.

In diesem Debakel bezeichnete der andere grün-linke Präsidentschaftskandidat der Union populaire Jean-Luc Melenchon den Vorschlag, Waffen in die Ukraine zu schicken, als “Dummheit” und fügte hinzu, dass die Lage in Europa derzeit unglaublich angespannt sei und man vorsichtig handeln müsse. Für diese Position wurde der Vorsitzende der Linkspartei sofort von den Grünen beschuldigt, sich auf die Seite Putins zu stellen. Im Gegensatz zu Jadot lehnt Melenchon ein Embargo für russische Kohlenwasserstoffe ab, da dies schädliche Auswirkungen auf Europa hätte und dessen Abhängigkeit vom teureren Schiefergas aus den USA verstärken würde. Stattdessen schlug er Preiskontrollen und einen einheitlichen Preis für ganz Europa vor. Während er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj verteidigte, erklärte er ausserdem, dass Frankreich in seinen internationalen Beziehungen bündnisfrei sein und die Möglichkeit haben sollte, seine eigenen Verhandlungen zu führen, und erinnerte an die vergessene Idee, alter-globalistische Allianzen zu schmieden, um Konflikte zu verhindern und gemeinsam gegen den Klimawandel vorzugehen – eine Position, die Jadot als Kapitulation gegenüber Putin bezeichnete.

Am 12. März erreichte der Parteivorsitzende der Grünen in den Umfragen 6,5 Prozent, Melenchon 12 Prozent. Die Kluft vergrösserte sich bis zum ersten Wahlgang am 10. April erheblich, als der erste 4,65 Prozent und der zweite 21,95 Prozent der Stimmen erhielt.

Die Grünen in Deutschland: Praktisch ein Aufruf zum Dritten Weltkrieg

Im Wahlkampf des vergangenen Jahres propagierten die Grünen in Deutschland Abrüstung und eine “wertebasierte Aussenpolitik”. Begleitet von einem werbewirksamen Auftritt ihres Co-Vorsitzenden Robert Habeck in der Ukraine, wo er für Waffenlieferungen plädierte und in militärischer Ausrüstung für vielbeachtete Fotos nahe der russisch-ukrainischen Grenze posierte, zeigte dieses Kampagnenelement dem kritischen Auge deutlich, was “wertebasierte Aussenpolitik” für die Grünen bedeutet: Sie würden “notfalls für Werte in den Krieg ziehen”, wie sie es schon bei ihrer ersten Regierungsbeteiligung vom 27. Oktober 1998 bis zum 22. Oktober 2002 im ersten Kabinett Schröder taten.

Die Grüne Partei wurde 1980 gegründet und ging aus verschiedenen demokratischen Bewegungen wie Anti-Atomkraft-, Umweltschutz-, Frauenrechts-, Friedensbewegung und Dritte-Welt-Gruppen hervor. Die Partei strebt eine gewaltfreie Gesellschaft an und vertritt die Auffassung, dass kein humanes Ziel mit unmenschlichen Mitteln erreicht werden kann. Eine zentrale Position war die Auflösung der Militärblöcke, vor allem der NATO und des Warschauer Paktes, einschliesslich der deutschen Streitkräfte.

Diese Position wurde erstmals 1999 verraten, als der damalige grüne Aussenminister Joschka Fischer eine Kehrtwende vollzog und – während er völkerrechtswidrige Aktionen vorbereitete – erklärte, es sei die “moralische Verpflichtung” Deutschlands als eines der grössten NATO-Mitgliedsländer, sich an der US-geführten Militärintervention im Kosovo zu beteiligen. Es war der erste Krieg, an dem sich Deutschland seit 1945 aktiv beteiligte, und er verlief nicht ohne innere Unruhen. Die österreichische Schwesterpartei der Grünen verurteilte die französischen und deutschen grünen Kriegstreiber, was jedoch nicht zu einer Spaltung auf europäischer Ebene führte.

Im Rahmen ihres Wahlprogramms 2021 propagierten die Grünen in Deutschland Abrüstung und Rüstungsexportkontrolle, die sie für zu lax hielten. Obwohl sie die NATO für einen unverzichtbaren Akteur für die gemeinsame Sicherheit Europas hielten, kritisierten sie die NATO-Richtlinien, zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, als “willkürlich” und lehnten den Transport amerikanischer Atomwaffen mit Jets aus Deutschland ab. Andererseits sprachen sie sich dafür aus, mit Russland in Kontakt zu bleiben und den Handel mit der EU zu fördern, ohne jedoch Waffen aus Deutschland in Kriegsgebiete und Diktaturen zu exportieren. Paradoxerweise ergab eine kürzlich durchgeführte Untersuchung, dass Deutschland nach dem Embargo von 2014 mit Ausfuhren im Wert von 122 Millionen Euro der zweitgrösste Waffenexporteur nach Russland war.

Heute jedoch scheinen die Grünen eine Kehrtwende vollzogen und eine kriegerischere Position eingenommen zu haben. Sie glauben, dass eine massive Bewaffnung der Ukraine die einzige Option ist, während sie gleichzeitig nach Wegen suchen, um schnell von Russland energieunabhängig zu werden. Wenige Wochen vor Beginn des Krieges verkündete die derzeitige grüne Aussenministerin Annalena Baerbock, dass Deutschland aufgrund seiner “historischen Verantwortung” keine Waffen an die Ukraine liefern könne und betonte, dass Diplomatie der einzig gangbare Weg sei. Ein paar Wochen später schlug Baerbock vor, schwere Artillerie in die Ukraine zu schicken und die Position “nichts, was schiesst” durch “alles, was schiesst” zu ersetzen, während sie gleichzeitig zusätzliche 100 Milliarden Euro für die deutschen Streitkräfte befürwortete.

Sogenannter “Pragmatismus” und “Realismus” haben den traditionellen “grünen Pazifismus” abgelöst. Oder man könnte auch sagen: Die “wertebasierte Aussenpolitik” hat wieder ihr wahres Gesicht gezeigt. So betonte der grüne Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter, dass man keine andere Wahl habe, als Waffen zu schicken, und dass man, wenn man jetzt nicht handle, den Krieg in die Länge ziehe. Eine weitere Grünen-Politikerin, Marieluise Beck, die vielleicht profilierteste Kritikerin des Putin-Regimes in der Partei, ging sogar noch weiter als Hofreiter, indem sie dazu riet, dass Deutschland trotz seiner Energieabhängigkeit kurzfristig schwere Sanktionen gegen Russland verhängen sollte. Darüber hinaus schlug sie vor, dass Deutschland und Frankreich den Luftraum für russische Flugzeuge sperren sollten, womit sie praktisch einen Dritten Weltkrieg forderte.

Dieser Wandel “traditioneller grüner Positionen” zum Krieg, der sich für kritische Beobachter*innen seit Jahrzehnten abzeichnet, ist nicht ohne interne Konflikte verlaufen. Timon Dzienus, Bundessprecher der Grünen Jugend, nannte die Aufstockung der Mittel für die Bundeswehr “einen sehr fatalen Schritt”. Die Unabhängige Grüne Linke, eine Basisgruppe innerhalb der Grünen, wandte sich in einem offenen Brief an die Parteispitze gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und forderte, sich bei der russischen Regierung für eine sofortige Einstellung aller militärischen Aktivitäten und eine Rückkehr zu Verhandlungen einzusetzen. Die Gruppe erklärte, dass Waffenlieferungen den Menschen in der Ukraine den falschen Glauben vermitteln, dass sie eine militärische Chance gegen Russland haben, und die unverständliche, aber berechtigte Frage aufwerfen, ob sie eine weitere Eskalation und sogar einen Atomkrieg provozieren.

Inmitten des internen Konflikts navigieren die Parteivorsitzenden weiterhin durch die stürmischen Gewässer der Überschreitung anderer ehemaliger “roter Linien”. Obwohl Olaf Scholz und sein Kabinett versprachen, ein Gesetz einzuführen, das bis 2035 einen Anteil von nahezu 100 Prozent erneuerbarer Energien vorschreibt, wird zunächst mehr CO2 ausgestossen. Während der Atomausstieg wie geplant fortgesetzt wird, könnten die deutschen Kohlekraftwerke eine Verlängerung um einige Jahre über die von den Grünen ausgehandelte Frist bis 2030 hinaus erhalten. Waffenexporte an ein autoritäres Regime mögen verboten sein, aber der Handel mit Gasgeschäften mit einem anderen wird als akzeptabel angesehen.

Um sich neue Energiequellen zu sichern, reiste Robert Habeck – derzeit grüner Minister für Wirtschaft und Klimaschutz – im März nach Katar, dem Land der Fussballweltmeisterschaft 2022, das viele Grüne zu boykottieren versprachen und in dem Arbeits- und Menschenrechte kaum gelten. Ausserdem verhandelte Habeck über Flüssiggaslieferungen, die die Grünen als klimaschädlich brandmarkten und bis vor kurzem strikt ablehnten. Der Krieg zeigt, dass der Übergang zu erneuerbaren Energien von den Grünen ebenso als nationale Sicherheitspolitik wie als Klimapolitik betrachtet wird, wobei die ersteren Grundsätze “pragmatischen”, wenn auch widersprüchlichen Lösungen weichen.

Dieser Bruch mit früheren Prinzipien hat sich für die Grünen als lukrativ erwiesen und ihre beiden Minister Habeck und Baerbock zu den beliebtesten Politiker*innen in Deutschland gemacht. Dahinter steht Olaf Scholz, der sich lange weigerte, schwere Waffen in die Ukraine zu schicken, was Baerbock mit den Worten kritisiert: “Jetzt ist nicht die Zeit für Ausreden”. Der Co-Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, betonte, dass die derzeitigen Lieferungen ins Schlachtfeld unzureichend seien und schloss eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland ohne einen Wechsel in der Führung des Landes aus.

Gleichzeitig argumentierte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, dass Deutschland keine Panzer aus seinen eigenen Beständen an die Ukraine liefern könne, da es diese sowohl für seine eigene Verteidigung als auch für NATO-Aufgaben benötige. Diese Pattsituation wurde von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin während seines Besuchs im April “gelöst”, als die Entscheidung über die Lieferung von Panzern an die Ukraine hinter verschlossenen Türen mit Regierungsvertreter*innen in Deutschland getroffen wurde, was zeigt, dass nichts, auch nicht die mächtigste Wirtschaft Europas, den aussenpolitischen Interessen der USA im Wege stehen darf.

Die Grünen in Bulgarien: “Alle notwendigen wirksamen Massnahmen” ergreifen

Die Grüne Partei in Bulgarien wurde 2008 gegründet, nachdem sich zahlreiche ökologische Nichtregierungsorganisationen zusammengeschlossen hatten, und hat eine eher kurze Geschichte. Mit einer liberalen, antikommunistischen politischen Plattform erzielten sie viele Jahre lang kaum nennenswerte Wahlergebnisse, aber 2021 schlossen sie sich einer Koalition aus zwei rechtsliberalen Parteien namens Demokratisches Bulgarien an. Gemeinsam schafften sie es, in die Regierung einzutreten und haben nun sogar das Ministerium für Umwelt und Wasser inne – ihr bisher wichtigster politischer Erfolg. Obwohl ihr Wahlprogramm den Frieden hochhält, ist ihre Position heute alles andere als friedlich und setzt die militärische Unterstützung der Ukraine mit dem Schutz der Demokratie gleich, ähnlich wie ihre Pendants in Frankreich und Deutschland, jedoch mit einer ausgeprägteren antirussischen ideologischen Ausrichtung.

Seit dem Ausbruch des Krieges wird darüber debattiert, ob Waffen in die Ukraine geliefert werden sollen, um das Land bei der Verteidigung gegen den Aggressor zu unterstützen oder nicht. Die regierende Koalition aus vier politischen Parteien hat Schwierigkeiten, zu einer einstimmigen Entscheidung zu gelangen, wobei die bulgarische sozialistische Partei entschieden dagegen ist und sogar die Stabilität der Regierung bedroht. Die gleiche Position – allerdings auf der anderen Seite des politischen Spektrums – vertritt das Demokratische Bulgarien, das versucht, einen Weg zu finden, die Sackgasse zu umgehen und den “moralischen” Krieg zu gewinnen. Am 19. März beschloss die Grüne Partei, der Nationalversammlung eine Anhörung des ukrainischen Präsidenten vorzuschlagen. Am 30. März gab das Demokratische Bulgarien eine Erklärung zur Aufnahme von Konsultationen im Parlament zur militärischen Unterstützung der Ukraine und zur Verteidigung der “Freiheit, Solidarität und Sicherheit in Europa” ab.

Die Grünen zeigten ihre Solidarität auch auf andere Weise, als eines ihrer Parteimitglieder und ehemaliger Kandidat für die Nationalversammlung kurz nach Ausbruch des Krieges dem Bataillon der ausländischen Kämpfer beitrat. Die Partei unterstützte auch lautstark den Friedensmarsch “Wir sind nicht neutral”, der eine Verschärfung des Krieges durch Waffenlieferungen forderte. Paradoxerweise sind die Grünen der Ansicht, dass die Ergreifung “aller notwendigen wirksamen Massnahmen”, zu denen Friedensverhandlungen offenbar nie gehören, die Zahl der Opfer begrenzen, die Zerstörung von Städten in der Ukraine verhindern, den Aggressor abwehren und letztlich den Krieg beenden wird.

In einem kürzlich geführten Interview sagte der grüne Umweltminister Borislav Sandov sogar, dass ein Verzicht auf militärische Unterstützung für die Ukraine die Selbstisolierung Bulgariens und seine Loslösung von seiner “zivilisatorischen Wahl” – der EU und der NATO – bedeuten würde. Er ging sogar so weit, anzudeuten, dass dies die Position Bulgariens gegenüber Nordmazedonien untergraben würde, gegen das Bulgarien 2019 ein Veto einlegte, als es versuchte den Status eines EU-Kandidatenlandes zu erhalten. Alles, was nicht zu mehr Aufrüstung führt, wird schnell als Abweichen vom “gerechten” Weg der EU-Entwicklung abgetan, ohne eine solche Entwicklung in Frage zu stellen. Ironischerweise erwähnte die grüne Bewegung den neuesten IPCC-Bericht in einem einzigen Facebook-Posting – inmitten all des Waffengefechts.

Es ist keine Überraschung, dass Bulgarien als grosser Waffenproduzent seit Kriegsbeginn massiv über Stellvertreter in die Ukraine exportiert hat. Als dies aufgedeckt wurde, folgten Vergeltungsmassnahmen seitens Russlands. Unter dem Vorwand, Bulgarien weigere sich, für russisches Gas in Rubel zu zahlen, kündigte Gazprom am 26. April an, die Gaslieferungen an Bulgarien mit sofortiger Wirkung einzustellen. In Vorbereitung auf eine solche Wende schlug der Co-Vorsitzende der Grünen Partei, Vladislav Panev, vor, den Markt noch stärker zu liberalisieren, um den Verbraucher*innen die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Energie zu produzieren. Eine Position, die in krassem Widerspruch zu der ihrer Genoss*innen in Frankreich steht.

Unter dem Strich sind die weitreichenden Folgen des Krieges auch an den grünen Parteien in ganz Europa nicht vorbeigegangen, die sich für mehr Krieg einsetzen, um den Krieg zu beenden. Ihre Vision einer “pragmatischen” Lösung, die sich auf die Entsendung von Waffen und die Verhängung von Sanktionen beschränkt, hat ihren Anspruch auf Gewaltlosigkeit aufgegeben und gezeigt, dass sie sich der Doktrin der “gerechten Gewalt für humanitäre Zwecke” verschrieben haben. In wirtschaftlicher Hinsicht hat ihre Reaktion die ideologischen Unterschiede innerhalb der grünen Parteien offengelegt. Auf der anderen Seite haben sich die linken und nominell linken Parteien in Frankreich, Deutschland und Bulgarien alle gegen die Lieferung von Waffen in die Ukraine gewehrt. Die Begrenzung der öffentlichen Debatte seit Beginn des Krieges auf die Frage, ob die Ukraine militärisch unterstützt werden soll oder nicht, hat sich nachteilig darauf ausgewirkt, die Dringlichkeit des Klimawandels und die Notwendigkeit von Massnahmen zu verdeutlichen und in Erinnerung zu rufen. Stattdessen hat sie es ermöglicht, sich ein noch früheres Ende der Welt vorzustellen, als es die langsame Gewalt der Klimakatastrophe mit sich bringen würde.

Rositsa Kratunkova
berlinergazette.de

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Oben        —      Français : Forum Européen de l’eau, La Rochelle, Forum des Pertuis, le 25 janvier 2022, organisé par Benoit Biteau, député européen. la dernière plénière réunissait : Yannick Jadot, Député européen, Mathilde Panot, député et Boubakar soumahoro, syndicaliste.

Author Greenbox         /       Source    :     Own work       /          Date    :      25 January 2022, 18:49:06

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Unten       —           Bündnis 90/Die Grünen auf der Datenschutzdemonstration „Freiheit statt Angst“

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Opfer suchen Wahrheiten

Erstellt von DL-Redaktion am 13. März 2023

Die Wahrheit ist stets das erste Kriegsopfer

File:Wallendorf (Luppe) Kriegsopfer 1939-1945.JPG

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Wir mögen es micht wahrhaben, aber wir leben in Kriegszeiten, mit einem Krieg vor der Haustüre, vorgeführt wie in einem Theater. Nur die heute Über-Achtzigjährigen haben noch eigene Kriegserfahrung und die Erinnerung, dass auch der Zweite Weltkrieg herbeigeredet worden ist, mit Lügen, falschen Versprechen, Illusionen.

Während Hitler sich der Verantwortung durch Selbstmord entzog, wollen z.B. US-Politiker ihre Hände seit dem Vietnam-Krieg in Unschuld waschen. So erklärte der seinerzeitige US-Verteidigungsminister McNamare noch 1995, dass er bis heute nicht wisse, was am 2. und 4. August 1964 im Golf von Tonkin geschah. Damals wurde von den USA wahrheitswiedrig behauptet, dass der US-amerikanische Zerstörer Maddox im Golf von Tonkin von nordvietnamesischen Torpedobooten angegriffen worden sei. Und das war genug, einen verheerenden Krieg in Vietnam auszulösen. Ein amerikanischer Freund, der deswegen eingezogen wurde, wusste nicht einmal, wo Vietnam lag und was er dort sollte. Seine Erfahrung war dann ein zerschossenes Bein und lebenslanges Humpeln. Und McNamara kann sich an den Grund für den grausamen Vietnamkrieg mit drei Millionen Toten nicht erinnern!

Seit Vietnam haben die USA mit Lügen, Unterstellungen und machtgeil Kriege im Irak bis hin in Afghanistan geführt und allesamt verloren. Und im Stellvertreterkrieg in der Ukraine geht es konsequent weiter. Die USA wissen immer ein paar Tage voraus genau, was Russland macht, halten sich zwar militärisch bedeckt im Hintergrund, stacheln aber die NATO und die Ukraine auf und heizen ihre Militärindustrie kräftig an. Russland verhält sich ebenso. So wiegeln sich die beiden Supermächte gegenseitig auf, bis irgendwann die Sicherung durchknallt und tausende unschuldiger Menschen ihr Leben lassen müssen.

Der Auslöser der heutigen Kriegssituation ist der Einfall von Russland. Der Grund dafür liegt jedoch Jahre zurück mit dem Vorrücken der NATO direkt an die russische Grenze und weltweit. Stets auf Druck und mit Machtphantasien der USA. Was, bitte, hat ein deutsches Kriegsschiff im Chinesischen Meer zu suchen? Und warum wird heute so infam gegen China als Feind Nr.1 gestänkert, obwohl China noch nie in seiner Geschichte kriegerisch gegen ein Land außerhalb seiner Grenzen vorgegangen ist?

Es sind wohl Bequemlichkeit und Bildungslücken, die uns immer wieder den kriegstreibenden Lügenmärchen insbesondere der USA Glauben schenken lassen. Bis wir uns dann verdutzt die Augen darüber reiben, dass wir unmittelbar selbst betroffen sind. Aber dann ist es zu spät! Es darf uns nicht kalt lassen, dass wir nach der anfänglichen Zusage der Bereitstellung von Kriegshelmen heute bei der Lieferung schwerster Waffen an die Ukraine angekommen sind. Dauernde Eskalation und immer kompliziertere Lügenmärchen haben uns an den Rand eines Krieges direkt bei uns manövriert.

Aber hinterher will es keiner gewesen sein. Pathetisch verkündet unser Bundespräsident, dass die Friedensdividende aufgezehrt sei. Mitnichten! Frieden ist eines der höchsten Güter und ohne wenn und aber anzustreben. Diese Wahrheit dürfen wir nicht von machtgeilen Politikern durch Kriegstreiberei oder gar Kriege massakrieren lassen. Und immer wieder fragen: Was ist Wahrheit und was ist Lüge?

Urheberrecht
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Oben       —      Wallendorf (Luppe) Kriegsopferdenkmal 1939-1945

Author Wikswat        :      Own work    /      Date    :   21 October 2018

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Unten     ––       We kill for FUN! (by Latuff).

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Daten als neue Munition

Erstellt von DL-Redaktion am 10. März 2023

Ukraine nutzt KI von Palantir

Von Adrian Lobe

Die US-Datenfirma Palantir liefert Software an die Ukraine, um feindliche Truppenbewegungen zu verfolgen. Ist das rechtlich und moralisch vertretbar?

Zu den Eigentümlichkeiten des Ukraine-Kriegs gehört, dass er mit den militärischen Mitteln und Taktiken des 20. Jahrhunderts geführt, aber mit Instrumenten des 21. Jahrhunderts organisiert wird. Brutale Abnutzungskämpfe in Schützengräben wie im Ersten Weltkrieg stehen satellitengestütztem Internet und Kryptofinanzierung gegenüber. Vor Kurzem wurde bekannt, dass die Ukraine bei der militärischen Zielerkennung, dem sogenannten „Targeting“, eine Künstliche Intelligenz der US-Firma Palantir nutzt.

Die Software namens MetaConstellation, die Palantir der Ukraine kostenlos zur Verfügung stellt, verarbeitet massenhaft Daten von Satelliten, Flugzeugsensoren und Drohnen, um in Echtzeit feindliche Truppenbewegungen zu verfolgen. Palantir-Chef Alex Karp jubilierte, die „Macht ausgefeilter algorithmischer Waffensysteme“ sei mittlerweile vergleichbar mit dem Besitz einer taktischen Atomwaffe.

Die verbale Offensive überrascht, heißt es doch immer, man müsse in dem Konflikt „rhetorisch abrüsten“. Doch Karp kann sich solche forschen Töne erlauben. Palantir ist einer der größten Player im globalen Überwachungskapitalismus. Die vom rechts-libertären Investor Peter Thiel gegründete Firma, die in der Anfangsphase vom Wagniskapitalarm der CIA mitfinanziert wurde, liefert Analysesoftware an Behörden auf der ganzen Welt.

Durch die Hintertür zur Kriegspartei

Es ist ein lukratives, aber gleichsam verschwiegenes Geschäft. Zu den Kunden von Palantir gehören neben US-Geheimdiensten und -konzernen unter anderem auch die Polizei in Hessen, deren eingesetzte Fahndungssoftware HessenData jüngst vom Bundesverfassungsgericht für teilweise verfassungswidrig erklärt wurde. Das Überwachungsnetz, das die umstrittene Analysefirma über die Welt geworfen hat, ist so engmaschig, dass sich darin nicht nur Terroristen und Drogendealer, sondern auch Betrüger wie der mittlerweile verstorbene Börsenmakler Bernie Madoff verfangen haben. Und möglicherweise auch russische Kriegsverbrecher. Palantir-Chef Karp erklärte in kühl-technischem Militärjargon, die Software seines Unternehmens sei für den größten Teil des „Targetings“ in der Ukraine verantwortlich.

Dabei stellt sich aus völkerrechtlicher Perspektive eine wichtige Frage: Wenn Teile der Befehlskette, nämlich die datengestützte Zielverfolgung, an ein US-Unternehmen delegiert werden, werden dann die USA durch die Hintertür zur Kriegspartei? Es ist schon erstaunlich: Über die Lieferung von Panzern wird hitzig diskutiert, über die Lieferung von Software und Daten jedoch kaum. Dabei sind Daten im Krieg mindestens so wichtig wie Munition.

Das weiß auch Palantir-Chef Karp, der sich als Teil einer Guerilla-Truppe sieht, die nicht nur für den Westen, sondern auch für ihre Anteilseigner kämpft. Viele Anleger, die in das börsennotierte Unternehmen investierten, spekulierten auf eine steigende Nachfrage an Überwachungssoftware im „Global War on Terror“.

„Mehr Google als Lockheed“, so beschrieb das Tech-Magazin „Wired“ einmal die Unternehmenskultur von Palantir – mehr Suchmaschine als Rüstungskonzern. Die Webseite des Konzerns wirkt wie die eines Biolabors. In einem Imagefilm blicken Menschen in medizinischer Kleidung in Mikroskope und füllen Reagenzgläser ab, laufen Impfampullen und Einwegmasken vom Band; in einer fast schon rührenden Szene hält eine Pflegerin am Krankenbett die Hand einer Seniorin. Der Hintergrund: Palantir hat einen millionenschweren Deal mit dem britischen Gesundheitsdienst NHS geschlossen – die Bilder von fürsorgendem Pflegepersonal lassen sich besser vermarkten als die bewaffneter Soldaten. Doch vieles von dem, was die T-Shirt-tragenden Softwareentwickler in ihren hippen Start-up-Räumen zu Code verschrauben, landet am Ende bei der Polizei oder dem Militär.

Waffenfähige Daten

So konnte die US-Armee mit einer Mustererkennungssoftware von Palantir herausfinden, dass Terroristen im Irak Garagentüröffner als ferngesteuerte Detonatoren benutzen. Auch bei der Aufspürung des Verstecks von Osama bin Laden soll die dubiose Datenfirma eine Rolle gespielt haben. Wenn die Ukraine nun bei der militärischen Zielauswahl auf die Software von Palantir zurückgreift, ist das, zumindest instrumentell, eine Fortsetzung des Krieges gegen den Terror. Nur: Wo und von wem werden die Entscheidungen getroffen? Wie hoch ist die Trefferrate? Was, wenn die Künstliche Intelligenz sich irrt?

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil zu US-Drohneneinsätzen entschieden, dass die bloße Durchleitung von Datenströmen über eine Satelliten-Relaisstation an der Air Base Ramstein keine grundrechtlichen Schutzpflichten des deutschen Staates auslöst. Diese seien nur für „Handlungen oder technische Abläufe auf deutschem Staatsgebiet“ zu bejahen, „die einen relevanten Entscheidungscharakter aufweisen“. Das wäre zum Beispiel die Erstellung von Ziellisten oder Auswertung von Informationen.

Quelle         :         TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       World Economic Forum 2022, Dev, panel discussion

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Die Diktatur des Verzichts

Erstellt von DL-Redaktion am 9. März 2023

Die ideologische Mobilisierung der Massen zu Verzicht

Sitz in Hannover

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Iwan Nikolajew

Zur Kriegswirtschaft und Krieg, exemplarisch dargestellt an Ulrike Herrmann.

  1. Prolog

Mit dem Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes flüchtet die Bourgeoisie in Krieg, Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft. Der naturwüchsig entstehende multipolare Weltmarkt, vor allem in seiner ersten Phase, ist tief geprägt von Krieg und Kriegswirtschaft und damit von schweren Angriffen auf das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse. Der zentrale Krieg des Kapitals ist immer der Klassenkrieg gegen die Arbeiterklasse, d.h. der Klassenkrieg, bzw. der Klassenkampf, ist die zentrale Achse des Kapitalismus. Und jeder Krieg ist ein Krieg gegen die Arbeiterklasse, jede Kriegswirtschaft ist ein Krieg gegen die Arbeiterklasse, jeder Wirtschaftskrieg ist ein Krieg gegen die Arbeiterklasse. Die bürgerlichen Ideologen mobilisieren für Krieg und Kriegswirtschaft, beides ist voneinander nicht zu trennen. Ulrike Herrmann steht exemplarisch für die bürgerliche Mobilisierung zu Krieg, Wirtschaftskrieg, Kriegswirtschaft.

  1. Diktatur des Verzichts

Mit dem neuen Krisenschub der Großen Krise steht der Verzicht der Arbeiterklasse wieder im Mittelpunkt der Klassenauseinandersetzung. Die Forderungen nach Opfer, die gebracht werden müssen, werden lauter und beziehen auch Menschenopfer, ob durch Unterversorgung oder auf dem Schlachtfeld, mit ein. Verzicht ist ein Opfer zugunsten höherer Ziele. Diese Opfer, dieser Verzicht, darf vom bürgerlichen Staat eingefordert, erzwungen, werden. Der bürgerliche Staat übt die Zwangsgewalt über die Arbeiterklasse aus. Wer nicht „freiwillig“ verzichtet, wird zum Verzicht gezwungen.

Das Kapital flüchtet in Krisenzeiten in die „Nation“. Die “Nation“ ist eine Zwangs- Opfergemeinschaft der Arbeiterklasse, wo die Arbeiterklasse auf dem Altar der Akkumulation ihr gesellschaftlich notwendiges Reproduktionsniveau opfern soll, während das Kapital nichts opfert als die Arbeiterklasse. In der „Nation“ wird die Arbeiterklasse zum Opfer konditioniert; Opfer für die „Nation“ sind notwendig und alternativlos. Die „Nation“ selektiert die Opfer. Widerstand gegen diese Politik ist ein „Angriff auf die nationale Sicherheit“. Der bürgerliche Staat als ideeller Gesamtkapitalist erklärt die „nationale Sicherheit“ zum zentralen Paradigma seiner Politik und unterscheidet so nur noch über „Freund“ und „Feind“, denn die „nationale Sicherheit“ kennt nur „Freund“ oder „Feind“, aber keine andere Kategorie wie „Opposition“ oder „Neutralität“. Der „Feind“ kann nicht geduldet, er muß vernichtet werden. Eine „neutrale“ Position zur „nationalen Sicherheit“ bzw. „Staatssicherheit“ kann es nicht geben. Entweder man dient zum Wohle der „nationalen Sicherheit“ oder aber man steht gegen die „nationale Sicherheit“. Ein Drittes gibt es nicht. Wer für die „nationale Sicherheit“ steht ist ein „Freund“ und darf am Leben bleiben; wer gegen die „nationale Sicherheit“ steht, ist ein „Feind“ und darf nicht am Leben bleiben. In letzter Instanz bedeutet unter einem Regime der „nationalen Sicherheit“ „Freund“ nichts Geringeres als Leben und „Feind“ ist ein synonym für Tod. Opfer ist Verzicht. –für die Arbeiterklasse: Verzicht auf Momente gesellschaftlich notwendiger Reproduktion und damit indirekt auch ein Verzicht auf Leben. Die Arbeiterklasse hat nichts Überflüssiges, auf das sie verzichten könnte. Im Durchschnitt ermöglicht ihr gesellschaftlich notwendiges Reproduktionsniveau nur die Existenz als Lohnarbeiter. Jeder Verzicht senkt das Reproduktionsniveau der Ware Arbeitskraft unter das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau und gefährdet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft als Ware Arbeitskraft, gefährdet die soziale und physische Existenz der Arbeiterklasse, ist somit ein Angriff auf das Leben des Lohnarbeiters. Die „soziale Sicherheit“ der Arbeiterklasse steht im Widerspruch zur „nationalen Sicherheit“ des Kapitals, die immer nur „Sicherheit der Akkumulation von Kapital“ und damit nur „Sicherheit von Ausbeutung“ sein kann. Das Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse garantiert nur das gesellschaftliche Überleben als Arbeiterklasse. Dieses gesellschaftliche Überleben ist nicht mit dem physischen Überleben zu verwechseln, denn das gesellschaftliche Überleben ist gesellschaftlich-historisch und nicht physisch bestimmt. Das gesellschaftliche Überleben bzw. die Reproduktion der Arbeiterklasse ist eine historische Entwicklung und Produkt von Klassenkämpfen. Das physische Minimum reicht zum Überleben der Ware Arbeitskraft nicht aus

Die gesellschaftlich notwendige Reproduktion der Ware Arbeitskraft realisiert sich unter der politischen Form der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie, denn nur dort kann die Arbeiterklasse Eroberungen im Kapitalismus machen und verteidigen, nur dort kann sie über ihre proletarischen Massenorganisationen eine relative proletarische Gegenmacht entwickeln und im Durchschnitt sogar langsam ein wenig das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Ware Arbeitskraft erhöhen, damit die Abnutzung der Ware Arbeitskraft im Ausbeutungsprozeß tendenziell kompensiert wird. Hingegen verlangt eine „Politik der nationalen Sicherheit“ nach einer Form des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus), denn diese läßt keinen Raum für proletarische Eroberungen im Kapitalismus, zerstört offen oder verdeckt die reformistischen proletarischen Massenorganisationen. Eine Verzichtspolitik in Form einer Deflationspolitik kann nur realisiert werden, wenn eine Form des bürgerlichen Ausnahmestaates diese Politik absichert. Einen „demokratischen Verzicht“ gibt es nicht, nur ein autoritärer antidemokratischer Verzicht ist möglich und wird notfalls erzwungen, wenn sich die Arbeiterklasse nicht „freiwillig“ unterwirft.

Deshalb die verstärkten Notstandsdiskussionen seit 2019, tendenziell parallel mit dem neuen Krisenschub der Großen Krise seit Herbst 2019. Notstand heißt Verzicht. Mit der „Corona-Krise“ realisiert sich die erste Phase des Notstands. Die „Corona-Krise“ ist nur die erste Phase der notwendigen Entwertung des Kapitals im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate als durchschnittliche Bewegungsform des Kapitals und fällt mit der Corona-Pandemie zusammen, welche nur ein zufälliger Auslöser der notwendigen Entwertung des Kapitals ist. Wäre es nicht die Corona-Pandemie, wäre es ein anderer Auslöser. Das Kapital reagiert mit dem Notstand, weil deutlich ist, daß hinter dem Schleier der Corona-Krise tiefergehende Krisenprozesse, Entwertungsprozesse, ablaufen, welche durch die Corona-Pandemie zufällig aktiviert wurden und versucht vermittels Notstand die Entwertungsprozesse unter Kontrolle zu halten. Die zweite Phase der Entwertungsprozesse wird durch den Ukraine-Krieg eingeleitet, der zu einem tendenziellen Energienotstand führt, da der transatlantische antirussische Wirtschaftskrieg, vor allem die EU, von ihrer Energieversorgung abschneidet. Die Entwertungsprozesse des Kapitals haben eine Größenordnung erreicht, daß sie eine Neuzusammensetzung des Kapitals- Neuzusammensetzung des Kapitals erzwingen und dies erfordert auch eine Neuzusammensetzung des bürgerlichen Staates in der Form des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus). Diese Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse realisiert sich auf internationaler Ebene, in Form einer neuen Weltmarktstruktur und einer neuen internationalen Ordnung, d.h. in einer Neuzusammensetzung der imperialistischen Kette. Hier geht es konkret um die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette, denn nur ein Hegemon kann diese ordnen und konkret ausrichten, dieser imperialistischen Kette eine gewisse Stabilität geben und damit auch der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Nur ein Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette kann die Akkumulation des Kapitals weltweit tendenziell stabilisieren und die bürgerliche Klassenherrschaft festigen. Eine stabile Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse verlangt nach einem Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette, welcher dort als Schiedsrichter fungiert und die innerimperialistischen Konflikte regelt und vor allem entscheidet. Der bisherige US-Hegemon hat seine herausragende Position innerhalb der imperialistischen Kette durch die Große Krise seit 2007/2008 verloren. Das mehrwertheckende US-Kapital ist zu schwach, um den Überbau des fiktiven Kapitals zu tragen; der US-Imperialismus muß sich erst wieder Re-Industrialisieren. Die Schwäche der US-Mehrwertproduktion versuchte der US-Imperialismus schon präventiv vor dem Ausbruch der Großen Krise mit politischen Aktionen zu überspielen und zu kompensieren. Der US-Dollar war Weltgeld und damit hatte der US-Imperialismus das Privileg sich in seiner eigenen Währung zu verschulden. Die hohen Doppeldefizite konnte nur auf diese Weise der US-Imperialismus finanzieren und damit hängt der US-Imperialismus am US-Dollar. Jedoch konnte der US-Dollar nur solange Weltgeld bleiben, wie es gelingt, den US-Dollar bzw. das US-Kapital insgesamt, mit Wert zu unterfüttern. Eine Bedrohung des US-Dollar ist damit eine Bedrohung der „nationalen Sicherheit“ der USA. Der Ausgriff des US-Imperialismus auf die strategischen Rohstoffe, vor allem Öl und Gas, des Mittleren Ostens in der Operation Syriana zur „Neuordnung“ des Mittleren Ostens diente zur Unterfütterung des US-Dollar mit Wert. Legitimiert wurde diese Operation Syrien durch die vom US-Imperialismus inszenierten Terroranschläge des 11. September 2001. Diese US-Kolonialkriege richteten sich indirekt gegen die schärfsten Weltmarktkonkurrenten des US-Imperialismus, gegen den russischen Imperialismus und gegen China. China sollte von seiner Mineralölversorgung aus dem Mittleren Osten abgeschnitten werden und Rußland sollte sein Einflußfeld in Eurasien verlieren. Mit der Niederlage der US-Kolonialkriege im Mittleren Osten ist dann auch die indirekte imperialistische Konfrontation mit dem russischen Imperialismus zu Ende und transformiert sich tendenziell immer näher einer offenen imperialistischen Auseinandersetzung, wie jetzt in der Ukraine. Die Zeit der Kolonialkriege ist vorbei. Es beginnt die Zeit der imperialistischen Großkonflikte. Und auch der US-chinesische Konflikt wird immer unmittelbarer. Auch hier steht eine unmittelbare Auseinandersetzung kurz bevor. Mit dem Scheitern der US-Kolonialkriege im Mittleren Osten verliert der US-Imperialismus auch seine Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette. Die nun folgende notwendige Großauseinandersetzung mit dem russischen Imperialismus und China ist schon eine Auseinandersetzung über die nachhegemoniale Rolle des US-Imperialismus innerhalb der imperialistischen Kette. Über die US-Kolonialkriege als indirekte US-Auseinandersetzung mit China und Rußland sollten China und Rußland weiterhin im US-garantierten neoliberalen Weltmarkt gefangen gehalten werden. Mit dem Scheitern dieser US-Politik brach der neoliberale Weltmarkt zusammen und transformierte sich naturwüchsig in den multipolaren Weltmarkt. Die Flucht nach vorn des US-Imperialismus in eine extrem expansionistische Politik als Kompensation für die sozioökonomische Schwäche führte notwendig in den Abgrund und an den Rand des Dritten Weltkrieges. Nur eine Revitalisierung der US-Mehrwertproduktion Anfang des 21. Jahrhunderts hätte die US-Hegemonie gesichert. Stattdessen expansionierte der US-Imperialismus in eine Sackgasse. Als erste Reaktion auf den Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes und der realen Existenz des multipolaren Weltmarktes griff das Kapital weltweit tendenziell auf die Kriegsökonomie zurück. Diese autoritären Tendenzen manifestieren sich seit dem Jahr 2020 in der „Corona-Krise.“ Die „Corona-Krise“ ist nur der oberflächliche Ausdruck für den letzten Krisenschub der Großen Krise, welcher im Jahr 2020 den neoliberalen Weltmarkt zusammenbrechen ließ. Seitdem ist der Weltmarkt durch tendenziellen Kriegsökonomien geprägt und damit auch durch Wirtschaftskriege. Über die Wirtschaftskriege wird zentral die multipolare Weltmarktkonkurrenz ausgetragen, sie sind keine Ausnahme, sondern die Norm. Der Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes produziert notwendig „Feinde“. Konkurrenten werden zu „Feinden“. Ein Notstandsstaat wird notwendig, um in der multipolaren Weltmarktkonkurrenz bestehen zu können, denn die Not der Akkumulation verlangt nach einem Notstandsstaat und somit nach einer Not der Arbeiterklasse, denn nur die Not der Arbeiterklasse kann die Not der Akkumulation verhindern. Der Notstand wird zur „neuen Normalität“ und reflektiert konkret-spezifisch die Herausbildung des multipolaren Weltmarktes und der multipolaren Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Die imperialistische Kette spaltet sich in imperialistische Blöcke auf. Multipolare Weltmarktkonkurrenz ist eine imperialistische Blockkonkurrenz. Es kommt zu einer internen Vereinheitlichung eines jeden imperialistischen Blocks bei gleichzeitiger Desintegration im Verhältnis zu anderen imperialistischen Blöcken, welche somit zu „Feinden“ werden. Zwischen den verschiedenen imperialistischen Blöcken gibt es nur noch eine geringe ökonomische Verflechtung und damit nur noch geringe gemeinsame Interessen. Dann steigert sich die Konkurrenz zur Feindschaft. Mit der Ukraine-Krise kappt der deutsche Imperialismus erst einmal alle seine ökonomischen Verbindungen mit dem russischen Imperialismus und läßt nur noch einen geringen ökonomischen Austausch zu. Der Wirtschaftskrieg zerstört die ökonomischen und politischen Bindungen zwischen Rußland und Deutschland und beschädigt sogar die kulturellen Beziehungen. Der Ukraine-Krieg setzt eine Feindschaft zwischen dem deutschen und russischen Imperialismus und damit potentiell den Krieg, konkret, den Dritten Weltkrieg. Mit der aufziehenden imperialistischen Kriegsgefahr zieht auch der Notstand auf, konkret in der Form des Energienotsandes, da der deutsch-transatlantische Wirtschaftskrieg die deutsche Energieversorgung stark beschädigt. Handel zwischen den imperialistischen Blöcken wird im Prinzip als „Gefahr für die nationale Sicherheit“ eingestuft.

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Pressekonferenz von „Totalverweigerern des Wehrdienstes“ aus Ost- und Westdeutschland mit Renate Künast (AL), Januar 1990

Ideologisch wird der Energienotstand auch versucht als Klimanotstand zu rechtfertigen, als die „Neue Normalität“. Damit wird dann ideologisch der transatlantische antirussische Wirtschaftskrieg und auch der Ukraine-Krieg gegen Rußland zum Klimakrieg bzw. Klimanotstandskrieg, zu einem „guten Wirtschaftskrieg“ bzw. „guten Krieg“. Rußland wird zum „äußeren Feind“ ideologisch aufgerüstet. Nicht nur wegen dem Ukraine-Krieg, welcher die transatlantische Hegemonie beseitigt, bzw. die „Werte des Westens“, sondern auch, weil Rußland fossile Energieträger im großen Maßstab exportiert. Diese beiden Momente fallen im antirussischen Feindbild zusammen, „Klimazerstörer“ und gleichzeitig „Aggressor“. Deshalb unterzeichnet Ulrike Herrmann auch Aufrufe, die „Waffen für die Ukraine“ fordern und gleichzeitig fordert sie den „Klimanotsand.“ Es ist das unheilige Band von „Corona-Notstand“, „Klimanotstand“, „Energienotstand“ und imperialistischen Ukraine-Krieg, welches die Arbeiterklasse fesseln und zum Verzicht zwingen soll und repräsentiert an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse den Krisenschub der Großen Krise. Es entsteht ein Notstandskapitalismus, der ideologisch nicht mehr als Kapitalismus bezeichnet werden darf, sondern als „Überlebenswirtschaft“ in die ideologische Sprachregelung der Bourgeoisie eingeführt wird. So wird der Notstandskapitalismus zur „Überlebenswirtschaft“, welche den Kapitalismus ersetzten soll. Welche die Gesetzmäßigkeiten sind, welche die „Überlebenswirtschaft“ zur eigenständigen Produktionsweise machen, bleibt offen. Da der „ökologische Fußabdruck“ des Kapitalismus zu groß ist, droht er automatisch zusammenzubrechen und kann nur durch eine „Überlebenswirtschaft“, durch eine Notstandsökonomie, ersetzt werden.

„Die nächste Epoche wird daher eine „Überlebenswirtschaft“ sein müssen, die den Kapitalismus überwindet“ (Ulrike Herrmann: Raus aus der Wachstumsfalle, in Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2022, S. 57 ff, im fortfolgend abgekürzt mit Ulrike Herrmann)

Real ist die „Überlebenswirtschaft“ nur eine kapitalistische Notstandsökonomie, eine „Rationierungsökonomie“ im Sinne einer kapitalistischen Kriegswirtschaft. Auch eine Notstandsökonomie bricht nicht mit dem Wertgesetz, daß Wertgesetz wird nur modifiziert, indem es bürokratisch überformt wird. Doch das Privateigentum an Produktionsmitteln, die unabhängig voneinander existierenden Privatarbeiten für einen anonymen Markt, wird nur modifiziert, nicht aber angetastet. Neben die Rationierung durch das Wertgesetz tritt die bürokratische Rationierung des bürgerlichen Staates als ideellen Gesamtkapitalisten. Über eine Rationierung durch den bürgerlichen Staat wird dann die gesellschaftlich notwendige Reproduktion der Ware Arbeitskraft drastisch abgesenkt, entwertet. Das Ziel soll sein, daß nur so viel produziert wird, wie recycelt werden kann.

„Auch mangelt es nicht an Visionen, wie eine ökologische Kreislaufwirtschaft aussehen könnte, in der nur noch so viel verbraucht wird, wie sich recyceln lässt, Stichworte sind unter anderem Tauschwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, Konsumverzicht, Arbeitszeitverkürzung oder bedingungsloses Grundeinkommen“ (Ulrike Herrmann: a.a.O)

Politisch geht es um den Konsumverzicht der Arbeiterklasse und damit um die qualitative Absenkung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus der Arbeiterklasse. Auffällig ist, daß hier sehr detailliert sich über den Sektor II der Volkswirtschaft, dem Sektor der privaten Konsumtion, ausgelassen wird, nicht aber über den Sektor I, dem Sektor, wo Produktionsmittel produziert werden und welcher das Akkumulationszentrum des Kapitalismus ist. Es geht also zentral um die Rationierung des Konsumwaren produzierenden Sektors, nicht aber um die Rationierung des Produktionsmittel produzierenden Sektors. Im Resultat: Es geht damit also um die Rationierung der Arbeiterklasse, nicht aber um die Rationierung des Kapitals. Natürlich kann man nicht dauerhaft die Akkumulation der beiden Sektoren voneinander entkoppeln, doch zeitweise und tendenziell ist dies über eine Kriegswirtschaft möglich und wird im Falle kapitalistischer Kriege auch so realisiert. Es geht also nicht um eine langfristige und systematische ökologisch-soziale Reformpolitik, sondern um einen Notstand gegen die Arbeiterklasse, wobei die ökologische Dimension nur die Funktion hat, den Notstand zu legitimieren.

„Um sich das „grüne Schrumpfen“ vorzustellen, hilft es, vom Ende her zu denken. Wenn Ökostrom knapp bleibt sind Flugreisen und private Autos nicht mehr möglich. Banken werden ebenfalls überflüssig, denn Kredite lassen sich nur zurückzahlen, wenn die Wirtschaft wächst. In einer klimaneutralen Wirtschaft würde niemand hungern- aber Millionen von Arbeitnehmern müssten sich umorientieren. Zum Beispiel würden sehr viel mehr Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern“ (Ulrike Herrmann: a.a. O.)

Bei Ulrike Herrmann zielt der Notstandskapitalismus auf eine Schockpolitik und verlangt damit eine Notstandsdiktatur. Ihre ideologische Position wird das Kapital nicht teilen, denn es ist äußerst wirr und konfus. Ein Zurück in den Feudalismus wird es nicht geben, keine De-Industrialisierung und keine Politik a la Pol Pot in Kambodscha, sondern unter dem Schild eines „ökologischen Notstandes“ wird ein klassisch kapitalistischer Notstand exekutiert. Es geht dem Kapital nur um die Propaganda einer Schockpolitik, zumindest als Drohung. Dies ist der reale Kern in den bizarren Ausführungen einer Ulrike Herrmann, die reale Drohung des Kapitals, welches Ulrike Herrmann benutzt, um die Notwendigkeit des „progressiven Verzichts“ in den Massen, vor allem im Kleinbürgertum, zu verankern. Eine Politik a la Ulrike Herrmann würde eine enorme Massenarbeitslosigkeit und Massenverelendung bedeuten und den Tod von Millionen Menschen. Eine feudale Landwirtschaft wird nicht achtzig Millionen Einwohner Deutschland ernähren können. Es ist ein Programm für einen Völkermord, denn unter der Bedingung, daß nur so viel produziert werden darf, wie recycelt werden kann, reicht die Produktion nicht für die ganze Bevölkerung aus. Damit wäre dann der ökologische Fußabdruck reduziert, in dem die Bevölkerung reduziert wird. Bevölkerungsreduktion= Reduktion des ökologischen Fußabdrucks. Nicht ganz so radikal, aber auch noch radikal genug, wird die herrschende Klasse in diese Richtung marschieren, indem sie mit einer Schockpolitik droht. Um das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse drastisch zu senken, reicht schon die Drohung mit einer Schockpolitik aus. Die Arbeiterbürokratie wird alles versuchen dies zu verhindern und dem Kapital Angebote unterbreiten, „freiwillig“ das gesellschaftliche Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse abzusenken, um so gesellschaftliche Verwerfungen durch eine offene Klassenkonfrontation zu vermeiden und kleine Zugeständnisse auszuhandeln. Eine „Politik auf Grundlage eines „ökologischen Fußabdrucks“ ist der ideologische, verzerrte Ausdruck für eine reale Schockpolitik des Kapitals. Als Exempel dient die Zerstörung des bürokratisch entarteten Arbeiterstaates Sowjetunion, welcher über eine Schockpolitik zerstört wurde. Nur durch den Rückgriff auf die Subsistenzwirtschaft vermittels einer Datschenökonomie konnte unter großen Schwierigkeiten die nachsowjetischen Bevölkerungen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion überleben. Es gab eine hohe Sterblichkeit und ein tiefer Einbruch in die Bevölkerungsstruktur. Auch die medizinische Versorgung brach weitgehend zusammen, ebenfalls die gesamten Transferleistungen. Ohne weiteres ist die nachsowjetische Schockpolitik das objektive Muster für Ulrike Herrmann und ebenso für das deutsche Kapital.

Das Jahr 2022 ist auch in Deutschland ein Jahr der Schockpolitik. Noch nie seit dem Bestehen der BRD gab es einen derartigen hohen Reallohnverlust, einen inflationären Kaufkraftverlust, der noch höher bei den Beziehern sozialer Transfereinkommen ist, exemplarisch bei Hartz IV. Im Hartz IV-System droht nun der „Überlebenskampf“ noch härter zu werden, er wird immer mehr zum Kampf auf Leben und Tod. Das „Überleben“ in Hartz IV-Bezug wird immer unmöglicher gemacht, es droht der Tod. Das System der privaten Armenspeisungen („Tafel“-System) reicht nicht mehr aus, Hartz IV zu ergänzen. Armut, Energiearmut dehnen sich immer weiter aus. Auch ist die medizinische Versorgung nicht mehr gewährleistet, da viele Medikamente nicht mehr ohne weiteres erhältlich sind. Alles Tendenzen einer Schockpolitik. Und alle diese Tendenzen einer Schockpolitik werden von der Arbeiterbürokratie akzeptiert. Es wird kein Widerstand organisiert, im Gegenteil, wo es proletarischen Widerstand gegen eine Schockpolitik gibt, wird versucht, diesen zu zerstören. Die Gewerkschaftsbürokratie schloß bewußt Tarifverträge ab, die weit unter den inflationären Tendenzen liegen und konnte den Widerstand gegen eine solche reaktionäre Gewerkschaftspolitik verhindern. Statt das Kapital für die inflationären Tendenzen verantwortlich zu machen, macht die Gewerkschaftsbürokratie die „Politik“, also die Politik des bürgerlichen Staates, der ideeller Gesamtkapitalist ist, verantwortlich und verweigert sich einer Konfrontation mit dem bürgerlichen Staat. Jedoch ist die Gewerkschaftspolitik nicht auf das Kapital beschränkt, sondern es gibt auch Tarifverhandlungen für die Lohnarbeiter des bürgerlichen Staates. Gewerkschaften haben immer ein „politisches Mandat“. Aber die Gewerkschaftsbürokratie weigert sich, dieses „politische Mandat“ wahrzunehmen, da sie die Schockpolitik des Kapitals unterstützt, denn sie fürchtet die gewaltsame Zerschlagung der Gewerkschaften und kapituliert. Die Schockpolitik kommt nicht erst, sie wird schon seit Anfang 2022 exekutiert und ist seitdem Gegenwart. Eine Gegenwart, die jedoch nicht thematisiert werden soll. Die Frage ist nur, ob das Kapital die Schockpolitik radikalisieren wird oder diese zurücknimmt. Bis jetzt ist es der Bourgeoisie gelungen, die Exekution der ersten Tendenzen der Schockpolitik zu de-thematisieren. Es gibt keine veröffentlichte Diskussion zum gegenwärtigen Stand der deutschen Entwicklung. Die Bourgeoisie gibt ihre Schockpolitik als „alternativlos“ aus. Nun ist Krieg, nun ist Wirtschaftskrieg, die „Werte“ wurden durch den „äußeren Feind“ Rußland angegriffen. „Wir“ müssen uns verteidigen und deshalb hat jeder jedes Opfer zu akzeptieren. Wer sich weigert zu opfern, wird zum Opfern gezwungen, indem er selbst zum Opfer wird. Wer diesen transatlantischen antirussischen Wirtschaftskrieg nicht als „alternativlos“ sieht, wird von der Bourgeoisie als „innerer Feind“ betrachtet und auch so behandelt. Nur der „innere Feind“ kennt „Alternativen“. Daran kann man den „Feind“ erkennen. Der „Freund“ hingegen erkennt die „Alternativlosigkeit“ an. Diese „Alternativlosigkeit“ zur Feindschaft gegen den „inneren und äußeren Feind“, die „Alternativlosigkeit“ zum Krieg, die „Alternativlosigkeit“ zum Wirtschaftskrieg, die „Alternativlosigkeit“ zu Verzicht und zum Opfer im Namen der „Nation“ und/oder der „Werte“. Die Bourgeoisie schwört die Arbeiterklasse auf eine „Politik der Opfer“ ein. Das Opfer soll „alternativlos“ sein.

Auch bei Ulrike Herrmann ist die Entwicklung zu Verzicht und zum Opfer „alternativlos.“

„Diese Sicht (das grüne „Schrumpfen“, I.N) auf die Zukunft mag radikal erscheinen, aber sie ist wahrsten Sinn des Wortes „alternativlos“. Wenn wir die emittierten Treibhausgase nicht auf netto null reduzieren, geraten wir in eine „Heißzeit“, die ganz von selbst dafür sorgt, dass die Wirtschaft schrumpft. In diesem Klimachaos käme es wahrscheinlich zu einem Kampf aller gegen alle, den unsere Demokratie nicht überleben würde“ (Ulrike Herrmann: a.a.O)

Aus Angst vor dem Tod Selbstmord begehen. Denn auch das „grüne Schrumpfen“ beseitigt die „Demokratie“, denn ein solches Programm führt zur Massenverelendung und Massentod und kann nur antidemokratisch-diktatorisch umgesetzt werden. Gerade bei dem „grünen Schrumpfen“ bricht der Kampf aller gegen alle aus und zerstört die „Demokratie“, kann nur in einer Form des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) unter Kontrolle gehalten werden. Wenn das „grüne Schrumpfen“ willkürlich als „alternativlos“ gesetzt wird, wird auch der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) notwendig alternativlos. Wer alternative Positionen zur Alternativlosigkeit bezieht, wird zum „Feind“ erklärt. Alternativlos ist nur der Befehl. Wer den Befehl mißachtet, ist ein „Feind“ und muß vernichtet werden. Der Notstandsstaat ist dann die „Regierung der nationalen Einheit“ bzw. die „Regierung der Solidarität“ gegen die Arbeiterklasse. Solidarität ist für das Kapital ein anderes Wort für Verzicht und Opfer der Arbeiterklasse und zeichnet den „Freund“ aus, bzw. „Solidarität“ ist für die Bourgeoisie Solidarität mit dem Kapital. Wer gegen das Kapital Front macht, ist dann „unsolidarisch“ und damit der „Feind“.

„Schrumpfen ohne Chaos zu erzeugen… Zum Glück bietet die Geschichte dafür ein Vorbild. Ausgerechnet die britische Kriegswirtschaft taugt als Anregung, wie sich eine klimaneutrale Welt geordnet anstreben ließe“ (Ulrike Herrmann: a.a.O.)

Offen propagiert Ulrike Herrmann die stumm ablaufenden Tendenzen zur Kriegsökonomie. Eine Kriegsökonomie ist eine Kriegserklärung an die Arbeiterklasse, ein Großangriff auf die notwendige gesellschaftliche Reproduktion der Arbeiterklasse, ein Großangriff auf die Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus. Konkret heißt Kriegsökonomie für die Arbeiterklasse Rationierung ihrer gesellschaftlich notwendigen Reproduktion. Die Rationen liegen unterhalb der gesellschaftlich notwendigen Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Damit sind die Waren nicht frei verkäuflich, Qualität und Quantität ist limitiert. Es werden nur geringe Quantitäten produziert. Rücksicht auf individuelle Fälle wird nicht genommen. Die Rationierung einer Kriegswirtschaft bezieht sich auf die gesamte gesellschaftliche Reproduktion, Nahrungsmittel, Wohnen, Mobilität, Kultur und Freizeit, Bildung, medizinische Versorgung etc. Rationierung heißt immer auch Selektion. Es wird nur eine Grundversorgung garantiert und die Grundversorgung garantiert nicht die individuelle Reproduktion der Ware Arbeitskraft. So bietet die Rationierung auch in der medizinischen Versorgung nur eine Grundversorgung, nicht mehr. Es gibt kein Recht mehr auf eine der Krankheit angemessene medizinische Behandlung, sondern nur noch den Anspruch auf eine medizinische Grundversorgung. Wer mit der medizinischen Grundversorgung nicht auskommt, hat Pech und muß sich seinem Schicksal fügen, wird in letzter Konsequenz dem Tod überantwortet. Auch das ist die Rationierung einer Kriegswirtschaft. Es wird das Leben überhaupt rationiert, bzw. „lebenswertes Leben“ vom „lebensunwerten Leben“ selektiert. Eine Ration ist ein qualitatives und quantitatives durchschnittliches Mindestniveau, ist somit eine Selektion aus einem großen bisher vorhandenen Kreis von Lebensmitteln zur gesellschaftlich notwendigen Reproduktion, selektiert zwischen zentralen und peripheren Lebensmitteln zur gesellschaftlich notwendigen Reproduktion. Eine Durchschnittsration für einen Durchschnittslohnarbeiter, je nach Branche, jedoch nur dann, wenn der Durchschnittslohnarbeiter je nach Branche eine bestimmte Durchschnittsproduktivität für das Kapital erzielt. In einem Krieg wird die Lohnarbeiterschaft an die Front oder Heimatfront mobilisiert; die Arbeitslosigkeit wird mit militärischen Mitteln gegen die Arbeiterklasse abgebaut. Wer dennoch arbeitslos ist, bzw. nirgendwo eingesetzt werden kann, ist als überflüssig selektiert und dem wird dann die Ration vorenthalten. Wer „überflüssig“ ist, ist ein „Feind“.

In einer Kriegswirtschaft werden die Arbeiter zu Arbeitssoldaten, das Arbeitsverhältnis wird real zum Arbeitsdienst, die Arbeiterklasse wird dienstverpflichtet. Lohnarbeit ist dann Dienst, Arbeitsdienst, Wehrdienst und real auch damit ein Teil der Wehrpflicht. Und nur derjenige Lohnarbeiter erhält die ihm zustehende Ration, wenn er als Arbeitssoldat fungiert, seine Pflicht als Arbeitssoldat erfüllt. Die Rationierung ist immer an die militärische oder paramilitärische Pflichterfüllung gebunden. Wer seine Pflicht nicht erfüllt, erhält keine Ration und wird auf diese Weise sanktioniert, in letzter Konsequenz bis in den Tod. Rationierung ist ein Moment der inneren Militarisierung.

Eine Kriegswirtschaft ist ein Moment des Ausnahmezustandes, des Notstandes, bzw. setzt den Notstand-Ausnahmezustand voraus und damit den Kriegszustand. Der normale zivile Zustand der Gesellschaft wird beseitigt und damit auch die Verfassung außer Kraft gesetzt. Die individuellen und kollektiven Grundrechte gelten nicht mehr. Eine Kriegswirtschaft ohne den Ausnahmezustand gibt es nicht. Wenn Ulrike Herrmann für eine Kriegswirtschaft eintritt, dann tritt sie auch für den Notstand, für den Ausnahmezustand, ein und damit für die Beseitigung aller individuellen und kollektiven Grundrechte, die von der Arbeiterklasse erkämpft worden sind, dann tritt sie für die innere Militarisierung der bürgerlichen Gesellschaft ein. Mit dem „Corona-Notstand“ begann sich dieses autoritäre Programm tendenziell in die Wirklichkeit zu übersetzten. Der Energienotstand führt dies fort. Ulrike Herrmann war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. In einer Kriegswirtschaft wird nicht nur unmittelbar das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse rationiert, sondern auch die Mehrwertproduktion und damit vermittelt dann ebenfalls das Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse.

Eine Kriegswirtschaft zerstört die relative Tarifautonomie der Gewerkschaften. Der bürgerliche Staat alleine entscheidet über die Höhe der Rationen und ihre Bedingungen und es gibt keine Verhandlungen zwischen Kapital und Gewerkschaften über die Lohnhöhe etc. Die Gewerkschaften sind für das Kapital kein Verhandlungspartner und auch nicht für den bürgerlichen Staat. In einer Kriegswirtschaft diktiert das Kapital vermittelt über den bürgerlichen Staat der Arbeiterklasse die Ausbeutungsbedingungen. Das Diktat ersetzt Tarifverhandlungen und Tarifverträge. Entweder die Gewerkschaften vertreten weiterhin die Interessen ihrer Mitglieder, d.h. die allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse, dann werden sie für die Bourgeoisie und damit auch für den bürgerlichen Staat in Notstandsform zum Feind und werden vom bürgerlichen Staat offen terroristisch zerschlagen, oder aber die Gewerkschaften lassen sich in den bürgerlichen Staat als Arbeitsfront einbauen. Unabhängige Gewerkschaften gibt es in einer Kriegswirtschaft nicht. Die Gewerkschaftsbürokratie, welche die Gewerkschaften kontrolliert, wird sich in dieser Frage immer für die Unterwerfung unter die Bourgeoisie entscheiden und sich in den bürgerlichen Staat einbauen lassen. Es hängt von der Gewerkschaftsbasis ab, ob sie den Kurs der Gewerkschaftsbürokratie in Richtung Integration in den bürgerlichen Staat passiv mitträgt und wie sich die Gewerkschaft gegen den bürgerlichen Staat verteidigt. Somit hängt es vom Zustand der Zersetzung innerhalb der Gewerkschaft ab, welchen Weg die Gewerkschaft in einer Kriegswirtschaft einschlägt. Für die Arbeiterklasse ist die Kriegswirtschaft der Feind. Die Gewerkschaft, wie die Arbeiterklasse insgesamt, benötigt mindestens einen bürgerlichen Staat in parlamentarisch-demokratischer Form um sich gesellschaftlich notwendig reproduzieren zu können und verteidigt deshalb diese Form des bürgerlichen Staates gegen den bürgerlichen Ausnahmestaat.

Unter dem Deckmantel eines „Energienotstandes-Klimanotstandes“ versucht das Kapital eine Form des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) gegen die Arbeiterklasse zu aktivieren. Die Bourgeoisie schürt deshalb im Kleinbürgertum Ängste nach einer „Klimakatastrophe“. Der Begriff „Klimakatstrophe“ bereitet den Begriff „Klimanotstand“ vor. Mit dem „Klimanotstand“ gegen die „Klimakatastrophe“ ist die Parole der Bourgeoise. Hingegen die Arbeiterklasse: Mit „Klimademokratie“ bzw. „ökologischer Demokratie“ gegen die ökologische Krise. Dies wäre der „Weg von unten“ und dies wäre der rationale Weg politische Probleme und dazugehören auch ökologische Probleme, zu lösen. Doch genau dies versucht die Bourgeoisie präventiv zu verhindern. Ökologische Krisen dürfen nur, wie alle anderen Krisen auch, von „oben“ „gelöst“ werden, denn sonst wäre die bürgerliche Klassenherrschaft gefährdet. In dieses Muster fällt auch der „Corona-Notstand“, welcher den „Klimanotstand“ bzw. den Energienotstand und damit den Ukraine-Krieg politisch vorbereitet. Mit dem „Corona-Notstand“ begann die Kriegsökonomie, der „Lockdown“ der Volkswirtschaften führte auch zu einem massiven sinkenden Energieverbrauch und zu einer beispiellosen Verelendung der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums. Es gelang der Bourgeoisie den „Corona-Notstand“ gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen. Der „Corona-Notstand“ war das Exempel für den Krieg gegen den russischen Imperialismus, der ideologisch sich als „Krieg für das Klima“ tendenziell und konkret-spezifisch widerspiegelt, denn er ist ein Krieg gegen die „fossilen Energien“ und der Energienotstand dann der erste Schritt in eine „nicht-fossile“, angeblich ökologisch „saubere“ Energieproduktion. Der „Feind“ ist dann nicht der Kapitalismus, nicht der Imperialismus, sondern lediglich der „fossile Kapitalismus“, der „fossile Imperialismus“. Rußland würde in diesem Blickwinkel dann den „fossilen Kapitalismus“, den „fossilen Imperialismus“ repräsentieren, der das „Klima“ zerstört, also in moralischen Kategorien „böse“ ist, während der transatlantische Kapitalismus, der transatlantische Imperialismus, als „gut“ gewertet wird, da er ja angeblich auf alternative Energiegewinnung, die klimaschonend sein soll, setzt. Ideologisch kurzgefasst: Rußland zerstört das Klima und der transatlantische Imperialismus, besonders Deutschland, schützt das Klima. Dann erscheint der Ukraine-Krieg als „Klimakrieg“, statt als das was er ist, als imperialistischen Krieg zur Neuaufteilung der Welt. Dann geht der „Klimanotstand“ ohne weiteres in den „Kriegsnotstand“ über. Der „Corona-Notstand“ diente zur Akzeptanz des Notstands überhaupt, führte zur „Politik der nationalen Sicherheit“. Und „Klimafragen“ sind nun „Fragen der nationalen Sicherheit“ und der „Klima-Krieg“ in der Ukraine ist eine „Frage für die nationale Sicherheit“ auch für den deutschen Imperialismus.

Mit dem „Corona-Notstand“ zog auch eine ideologische Mobilisierung für die Interessen des deutschen Imperialismus ein. Die Meinungsfreiheit wurde drastisch eingeengt. Nun wurde die Staatsmeinung alternativlos. Wer die Staatsmeinung anzweifelte, zweifelte angeblich die „Wissenschaft“ an und wurde zum „Feind“. Die „Wissenschaft“ als Institution wurde von alternativen Positionen zur Staatsmeinung gesäubert und so konnte sich dann der bürgerliche Staat auf die vorab gesäuberte „Wissenschaft“ berufen. Es wurde nicht nur die Institution Wissenschaft als Moment der ideologischen Staatsapparate des bürgerlichen Staates von alternativen Positionen gesäubert, sondern die gesamte bürgerliche Gesellschaft. Im Ergebnis kam es zu einer deutlichen Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft. Wer Positionen bezog, welche im Gegensatz zur gerade herrschenden Staatsmeinung lagen, mußte mit Repression rechnen, mußte mit beruflichen Nachteilen rechnen. Das Ziel des „Corona-Notstandes“, die Entpolitisierung der Massen, wurde weitgehend erreicht und eröffnet dann den Weg in den Energienotstand, welcher verbunden ist mit einem Machtkampf mit dem russischen Imperialismus zur Aufteilung Eurasiens, was direkt in den Dritten Weltkrieg führen kann. Mit den gleichen Methoden des „Corona-Notstandes“ steuert die Exekutive die ideologische Mobilisierung in den Energienotstand und damit auf den „äußeren Feind“ Rußland, wie auf den „inneren Feind“ der angeblichen „Rußlandversteher“. Zum „inneren Feind“ des „Rußlandsverstehers“ zählt jeder, der sich dem Verzicht verweigert. Während sich der bürgerliche Staat seit der „Corona-Krise“ immer weiter politisiert, zwingt er dadurch der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum die „Entpolitisierung“ auf. Der bürgerliche Staat in Notstandsform beansprucht ein Politikmonopol und enteignet die bürgerliche Gesellschaft in der politischen Diskussion- und Entscheidungsfindung. Ein „Feind“ ist der, welcher nicht die Staatsmeinung teilt. Die „richtige“ Meinung oder auch die Wahrheit, spricht angeblich durch den bürgerlichen Staat in Notstandsform bzw. allgemein durch die Instanzen und Institutionen der bürgerlichen Klassengesellschaft und damit auch durch das individuelle Kapitalkommando. Auf diesem Wege wird die „korrekte“ Meinung oder die Wahrheit zum Befehl. Wer sich der Staatsmeinung verschließt, schließt sich dann selbst aus der bürgerlichen Gesellschaft aus, erklärt sich selbst zum „inneren Feind“. Die „Alternativlosigkeit“ des Notstandsstaates, die „Alternativlosigkeit“ der Kriegswirtschaft wird notfalls immer repressiv hergestellt. Wer sich den Befehlen des Notstandsstaates widersetzt ist ein „Feind“ und wird auch als „Feind“ vernichtet. Politisierung der Massen ist dann ein Verbrechen, ein Meinungsverbrechen und wird repressiv bekämpft. Die Staatsmeinung ist die „nationale Sicherheit“. Eine Verweigerung der Staatsmeinung ist ein Angriff auf die „nationale Sicherheit“.

Eine Kriegswirtschaft erscheint immer in einer Form des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) und produziert automatisch einen „inneren Feind“, wie auch einen „äußeren Feind“, d.h. Kriegswirtschaft produziert Wirtschaftskrieg und Krieg, ist ein Moment des Wirtschaftskrieges bzw. des Krieges, setzt den Krieg und/oder Wirtschaftskrieg als Lösung politischer Probleme ein. Mit der Waffe Kriegswirtschaft wird die gesellschaftlich notwendige Reproduktion der Arbeiterklasse angegriffen. Bezüglich des zweiten imperialistischen Weltkrieg wird dies von Ulrike Herrmann ausdrücklich bestätigt.

„Der Konsum fiel damals um ein Drittel- und zwar in kürzester Zeit. Dieser enorme Rück- und Umbau macht die britische Kriegswirtschaft zu einem faszinierenden Modell für heute: Der deutsche Verbrauch muss nämlich ähnlich drastisch sinken, wenn das Klima gerettet werden soll“. (Ulrike Herrmann: a.a. O)

Eine Schockpolitik im Namen der „nationalen Sicherheit“ und die Zerschlagung der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung, wenn diese sich widersetzen. Auf jeden Fall eine autoritäre Krisenlösung, statt einer demokratischen Krisenlösung. Für Ulrike Herrmann ist Krieg und Wirtschaftskrieg eine Lösung der Probleme, während die Arbeiterklasse Krieg und Wirtschaftskrieg ablehnt, denn die Probleme werden dann nicht kleiner, sondern größer. Nach dem Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten Osteuropas 1989 fielen auch dort die Löhne um ungefähr den gleichen Wert und leiteten eine beispiellose Verelendung ein und führte zum vorzeitigen Tod. Die Lebenserwartung fiel drastisch. Nur über einen kurzen Zeitraum läßt sich so ein Einbruch aushalten, mittelfristig geht er an die Substanz. Statt einer Lebensstandardabsicherung gibt es nur eine Mindestsicherung und auch die nur, wenn Gehorsam geleistet wird. Es kommt zum „Teilen innerhalb der Klasse“, zum „Sozialismus in einer Klasse“. Die Kernbelegschaften verzichten zu Gunsten der Randbelegschaften. Dabei bleibt der Profit außen vor. Innerhalb der Arbeiterklasse wird der soziale Ausgleich zwischen den Kern- und Randbelegschaften finanziert, wobei die Lohnquote als Ganzes sinkt. Sinkende Lohnquote und Umverteilung von den Kernbelegschaften zu den Randbelegschaften gehen gleichzeitig vonstatten. Als Ganzes verschlechtert sich die gesellschaftlich notwendige Reproduktion der Arbeiterklasse drastisch und kann nur eine bestimmte Zeit konstant gehalten werden. Das Kapital sieht die Kriegswirtschaft natürlich als eine Wohltat an.

„Die staatlich verordnete Gleichmacherei erwies sich als ein Segen: Ausgerechnet im Krieg waren die unteren Schichten besser versorgt als je zuvor. In Friedenszeiten hatte in Drittel der Briten nicht genug Kalorien erhalten, weitere 20 Prozent waren zumindest teilweise unterernährt. Nun, mitten im Krieg, war die Bevölkerung gesund wie nie, wobei die „Fitness der Babys und Schulkinder besonders hervorstach“ (Ulrike Herrmann: a.a.O.)

Es waren vor allem die Kolonien des britischen Imperialismus, welche die Last des Krieges und der Kriegswirtschaft trugen. Und es war eine bewußte politische Entscheidung des britischen Imperialismus ca. vier Millionen Menschen in Indien verhungern zu lassen (Hungersnot von Bengalen), eine Hungersnot zu organisieren, weil man die Nahrungsmittel nach Britannien ausführte. Auf Kosten Indiens, auf Kosten von vier Millionen Inder, welche durch Hunger ermordet wurden, konnte die britische Kriegswirtschaft der britischen Arbeiterklasse Rationen zukommen lassen, welche die Heimatfront politisch stabilisierte. Die „Fitness“ der britischen Schulkinder und Babys während des zweiten imperialistischen Weltkrieges, die Ulrike Herrmann aufführt, kontrastiert mit dem Hungertod der indischen Schulkinder und Babys. Diese toten indischen Babys und Schulkinder sind der Preis für die „fitten“ britischen Schulkinder und Babys. Die britische Kriegswirtschaft organisierte einen Völkermord in Indien, um den deutschen Hitler-Imperialismus niederzuschlagen, den Angriff des deutschen Imperialismus nach einer Neuverteilung der Welt abzuwehren. Auch die britische Kriegswirtschaft ist ein Produkt eines britischen Rassismus und Sozialdarwinismus und keine „zivile Kriegswirtschaft“, keine „Kriegswirtschaft mit humanen Antlitz“, sondern eine normale Kriegswirtschaft mit all ihren mörderischen Konsequenzen für die Arbeiterklasse. Ulrike Herrmann teilt ohne weiteres die sozialdarwinistischen und rassistischen Positionen der britischen Kriegswirtschaft des zweiten imperialistischen Weltkrieges und stellt sie als Modell für die heutigen Krisen dar. „Die Schrumpf-Wirtschaft“ einer Ulrike Herrmann impliziert einen Völkermord durch eine Hungerpolitik. Auch eine Kriegswirtschaft hebt das Wertgesetz nicht auf, sondern modifiziert es nur, indem das Wertgesetz sich verstärkt konkret-spezifisch im bürgerlichen Staatsapparat reproduziert. Diese kapitalistische Kriegswirtschaft ist keine Planwirtschaft, sondern bleibt eine kapitalistische Ökonomie, welche nur im Kriegsfall vom bürgerlichen Staat in Notstandsform überwölbt wird. Das Kapital fällt die zentralen Entscheidungen nach der Profitlogik und der bürgerliche Staat vermittelt abstrakt die gefällten Entscheidungen des atomisierten Kapitals. Ebenso die britische Kriegswirtschaft des zweiten imperialistischen Weltkrieges. Gerade im Krieg durch die Kriegswirtschaft kann das Kapital Extraprofite realisieren, die in Friedenszeiten nicht möglich sind. Konsequent verkennt Ulrike Herrmann den Klassencharakter der britischen Kriegswirtschaft, wie den Klassencharakter des Kapitalismus überhaupt, wenn sie schreibt:

„Die britische Kriegswirtschaft könnte ein solches Modell liefern: Sie zeigt, wie eine private Planwirtschaft die zivile Produktion geordnet schrumpfen kann- und wie sich dann knappe Güter rationieren lassen, damit der soziale Frieden erhalten bleibt.“ (Ulrike Herrmann: a.a.O.)

Die britische Kriegswirtschaft hat den „sozialen“ Frieden nicht erhalten, sondern repressiv erzwungen und vor allem auf Kosten des Völkermordes in Indien. Für Indien bedeutete die britische Kriegswirtschaft keinen „sozialen Frieden“, sondern „sozialen Vernichtungskrieg“. Es ist imperialistischer Zynismus, dies zu „übersehen“. Ebenso zynisch ist es, vom „sozialen Frieden“ im zweiten imperialistischen Weltkrieg zu sprechen. Auch da ist der „soziale Friede“ nichts anderes als der Klassenkrieg der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse; die Ruhe an der Heimatfront ermöglich erst den imperialistischen Krieg. Und die Ruhe an der Heimatfront wird repressiv erzwungen. Wer sich gegen die britische Kriegswirtschaft auflehnte, wurde mit Repression überzogen, Gefängnis oder Todesstrafe waren auch da die letzten Mittel. Aber das paßt gut ins Bild für die Gegenwart. Ebenso die „geordnete Schrumpfung“ der zivilen Produktion damals wie heute. Auch heute wird wieder daran gedacht die zivile Produktion zu „schrumpfen“, aber nicht als Selbstzweck, um das „Klima“ zu retten, sondern um die Produktionskapazitäten für die Aufrüstung zu nutzen. Kanonen statt Butter. Aber das übersieht Ulrike Herrmann. Oder vielleicht doch nicht? Wenn sie Waffen für die Ukraine fordert, müssen diese auf Kosten der zivilen Produktion produziert werden. Dann machen ihre Ausführungen zu britischen Kriegswirtschaft Sinn. Ebenso auch das „geordnete Schrumpfen“ der britischen Kriegswirtschaft, welches in Indien die „Schrumpfung“ der Bevölkerung über eine Politik des geordneten Hungertodes einschloss. Auch wenn sich Ulrike Herrmann nicht bewußt ist, sie bewegt sich auf einer Grenzlinie zum Faschismus und zum imperialistischen Krieg, der schnell in einen Dritten Weltkrieg abgleiten kann. Die Kriegswirtschaft im allgemeinen und die britische Kriegswirtschaft im Besonderen ist keine Überwindung des Kapitalismus, sondern die extremste und aggressivste Form des Kapitalismus, die sich herausbilden kann. Es ist bizarr, mit dem Modell einer Kriegswirtschaft den „sozialen Frieden“ bewahren zu wollen, gar mit einer Kriegswirtschaft emanzipatorische Ziele anzustreben, die Ökologie und das Klima schützen zu wollen. Eine Kriegswirtschaft ist in ihrem Wesen nach eine Ökonomie der Zerstörung und Vernichtung, von Material, Menschen und Ökologie und kann nicht emanzipativ umgestaltet werden. Kriegswirtschaft bedeutet Krieg und kein Frieden. Nur eine zivile Friedenswirtschaft steht für den Frieden.

Mit dem Umweg über die „Klimafrage“ propagiert objektiv Ulrike Herrmann den Klassenkrieg der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterklasse, den imperialistischen Krieg, und trägt zur ideologischen Mobilisierung in den Dritten Weltkrieg bei.

Die multipolare Weltmarktkonkurrenz, welche auch vermittels Wirtschaftskriegen und imperialistischen Kriegen ausgetragen wird, verlangt dann auch Autarkiepolitik und Aufrüstung und so dehnt sich der militärisch-industrielle Komplex weiter aus. Bisher wird der Aufrüstungspolitik ein ziviler Mantel umgehängt. Ulrike Herrmann ist ein Beispiel dafür. Aber mit der Zeit wird die Arbeiterklasse an die Kriegswirtschaft gewöhnt und dann zieht die Bourgeoisie ihren zivilen Mantel aus und die Uniform kommt zum Vorschein. Statt „Klimaschutz“ marschiert dann die „nationale Sicherheit“.

Das Diktat des Verzichts über Rationierung und Notstand kommt nicht aus dem Nichts. Es gibt eine Vorgeschichte und diese Vorgeschichte beginnt mit Hartz IV. Mit der Implantation von Hartz IV vollzog sich seit den Jahren 2003/2004 ein qualitativer Bruch in der deutschen Klassengeschichte seit dem Ende des zweiten imperialistischen Weltkrieges. Über Hartz IV wurden bestimmte Teile der industriellen Reservearmee rationiert, ihre gesellschaftliche Reproduktion wurde vom Rest der industriellen Reservearmee und erst Recht von der aktiven Arbeiterarmee abgespalten. Die Bewegung der Lohnhöhe der aktiven Arbeiterarmee bestimmt auch die Höhe der sozialen Transferleistungen und damit auch die Höhe der sozialen Transferleistungen der industriellen Reservearmee. Hier setzt der historische Bruch vermittels Hartz IV ein. Im Hartz IV-Sektor bestimmt nun nicht mehr die Bewegung der Lohnhöhe die Höhe der sozialen Transferleistung Arbeitslosengeld II, sondern Hartz IV als soziale Transferleistung wird von der Bewegung der Lohnhöhe entkoppelt und damit einer Rationierung unterzogen. Mit Hartz IV steigt langsam das deutsche Kapital in die Rationierung von sozialen Transferleistungen ein. Das Hartz IV-System ist das gesellschaftliche Laboratorium der deutschen Bourgeoisie für eine Politik der Rationierung, für eine Politik des Verzichts. Auf diese Weise gewinnt die deutsche Bourgeoisie einen ungefähren Überblick, wie die Arbeiterklasse auf eine aufgezwungene Verzichtspolitik reagiert. Erst die aus diesen Erfahrungen von Hartz IV gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen eine umfassende Rationierungspolitik und stellen auch damit die materielle Grundlage für eine Kriegswirtschaft dar. Ulrike Herrmann greift nicht so sehr auf die britische Kriegswirtschaft des zweiten imperialistischen Weltkrieges zurück, sondern auf Hartz IV und fordert die Ausweitung von Hartz IV auf die gesamte Gesellschaft. Über Hartz IV wird der Konsum drastisch gesenkt und automatisch wird der Energieverbrauch radikal gesenkt. Stormsperren, Dunkelheit und Kälte sind schon immer im Hartz IV-System heimisch. Auf diese Weise ist der „ökologische Fußabdruck“ eines Hartz IV-Empfängers sehr klein, gefährlich klein, denn es findet keine gesellschaftlich notwendige Reproduktion der Ware Arbeitskraft mehr statt, denn die durchschnittliche Lebenserwartung eines Hartz IV-Empfängers liegt unter der durchschnittlichen Lebenserwartung der Gesellschaft. Hartz IV ist die Reduktion des „ökologischen Fußabdrucks“ in Richtung Nirgendwo, in Richtung 0, durch die Absenkung der durchschnittlichen gesellschaftlichen Lebenserwartung in Richtung 0, bzw. in Richtung Nirgendwo. Über die Absenkung der durchschnittlichen gesellschaftlichen Lebenserwartung in Hartz IV-Bezug wird auch der „ökologische Fußabdruck“ abgesenkt. Dabei fällt der Tod mit dem Wert 0 zusammen, d.h. kein „ökologischer Fußabdruck“ findet statt und „Überleben“ hat den Wert 1 mit einem mindest „ökologischen Fußabdruck“. Die Frage nach dem „ökologischen Fußabdruck“ ist somit eine Frage über Leben und Tod. Der „ökologische Fußabdruck“ als Ausdruck der „Natur“ steht dann gegen „Gesellschaft“, denn „Gesellschaft“ steht für Zivilisation, Geschichte und Entfaltung des Individuums und seiner Bedürfnisse in der historischen Entwicklung der Gesellschaft. Wenn der „ökologische Fußabdruck“ bzw. die „Natur“ als zentral gesetzt wird, muß die „Gesellschaft“ verzichten, muß die „Gesellschaft“ reduziert werden, muß die Bevölkerung reduziert werden, denn eine entwickelte Gesellschaft, welche auch eine quantitative und qualitative entwickelte Bevölkerung voraussetzt hat immer einen hohen „gesellschaftlichen Fußabdruck“. Das „geordnete“ Schrumpfen, von dem Ulrike Herrmann positiv spricht, beginnt bei Hartz IV, aber endet nicht da. Es gibt noch viel Raum für eine Radikalisierung von Hartz IV, hat aber real nichts mit der britischen Kriegswirtschaft des zweiten imperialistischen Weltkrieges zu tun, sondern mit dem Klassenkampf heute. Damit geht es zentral um die Absenkung der gesellschaftlich notwendigen Reproduktion der Arbeiterklasse oder anders ausgedrückt, es geht um die Absenkung des „gesellschaftlichen Fußabdrucks“, denn der „ökologische Fußabdruck“ ist nur ein anderer Ausdruck für den „gesellschaftlichen Fußabdruck“.

Natur ist nicht außerhalb der Geschichte, sondern ein Moment der Geschichte, die Naturgeschichte wird überwölbt von der Menschheitsgeschichte. Somit trägt die Natur immer den gesellschaftlichen Stempel der jeweiligen Produktionsweise, hat einen jeweiligen Klassencharakter. Natur ist keine Negation von Geschichte bzw. Gesellschaft, sondern mit Geschichte und Gesellschaft vermittelt. Es gibt keine „natürliche“ Grenze des Kapitalismus, sondern der Kapitalismus ist selbst seine „natürliche“ Grenze. Der Kapitalismus wird nicht aus ökologischen Gründen zusammenbrechen, sondern nur durch den Klassenkampf. Nicht die „Natur“ begrenzt den Kapitalismus, sondern der Kapitalismus begrenzt nicht nur die Natur, sondern produziert sie auch konkret als Mittel der Akkumulation von Kapital. Im Kapitalismus gibt es keine „Natürlichkeit“, gibt es nur die Bewegung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und nur diese produzieren den Mangel in der Arbeiterklasse und nicht die „Grenzen der Natur“. Die „Grenzen der Natur“ bzw. der „ökologische Fußabdruck“ ist der mystifizierende Ausdruck der Selbstbewegung des Werts und verweist real auf die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Akkumulation. Der Wert ist die Natur des Kapitalismus und damit der Klassenkampf, „Natur“ ist Wert und Wert ist „Natur“. Wenn das Kapital von den „Grenzen der Natur“, vom „ökologischen Fußabdruck“ spricht, spricht es von einer tiefen Krise des Kapitalismus und vom Klassenkampf. Nur in diesen ideologischen Formen kann das Kapital seine Krise aussprechen.

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Und Hartz IV ist ein Produkt des Klassenkampfes, den das Kapital für sich entschieden hat. Erst vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Krisenschubs der Großen Krise läßt sich die Bedeutung von Hartz IV ablesen. Hartz IV war immer ein Sonderrechtssystem im parlamentarisch-demokratischen bürgerlichen Staat. Das Hartz IV-System war immer ein tendenzielles Notstandssystem für bestimmte Segmente der industriellen Reservearmee, wo die parlamentarisch-demokratische Klassenjustiz durch ein Sonderrecht ersetzt wurde. Es gibt nur eine schwach ausgeprägte parlamentarisch-demokratisch juristische Kontrolle über das Hartz IV-System. Die Bedürftigkeitsprüfung ist das Tor zum Hartz IV-Reich. Bevor jemand Hartz IV beziehen kann, muß die „Bedürftigkeit“ nachgewiesen werden und dies bezieht sich dann auf die „Bedarfsgemeinschaft“. Ist das Vermögen und/oder Einkommen der Bedarfsgemeinschaft zu hoch für den Bezug von Hartz IV, wird diese soziale Transferleistung solange verweigert, bis das Vermögen aufgebraucht oder das restliche Einkommen der „Bedarsfsgemeinschaft“ den Hartz IV-Regelungen entspricht. Nicht das mittellose Individuum steht im Mittelpunkt des Hartz IV-Systems, sondern die „Bedarfsgemeinschaft“. Auf diesem Wege wird die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II niedrig gehalten. Erst einmal soll die Arbeiterklasse, konkret in der Bedarfsgemeinschaft, ihre Umverteilung untereinander organisieren (Sozialismus in einer Klasse), bevor der bürgerliche Staat soziale Transferleistungen zustimmt.

Über die Arbeitspflicht wurde auch gleichzeitig eine Beweislastumkehr eingeführt. Damit ist ein zentraler Pfeiler der parlamentarisch-demokratischen Klassenjustiz zerstört. Bisher mußte der bürgerliche Staat nachweisen, daß eine angebotene Arbeit zumutbar war. Nun muß der Hartz IV-Empfänger beweisen, daß die ihm angebotene Arbeit unzumutbar ist. Dies ist in der Klassenrealität jedoch nicht möglich. Nun muß der isolierte erwerblose Lohnarbeiter gegenüber dem bürgerlichen Staat nachweisen, daß die ihm vom Arbeitsamt angebotene Arbeit unzumutbar ist. Ein Scheitern ist unausweichlich. Wer eine angebotene Arbeit ablehnt, erhält Sanktionen, die das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau noch weiter absenken, als es ohnehin schon ist. Die Beweislastumkehr gilt nur im Harz IV-System, nicht jedoch im restlichen Rechtssystem. Noch. Über das Dogma der „nationalen Sicherheit“, der „Staatssicherheit,“ droht dieses Sonderrecht in alle Sektoren des bürgerlichen Staates Fuß zu fassen. Die Existenz eines Sonderrechtssystems innerhalb der parlamentarisch-demokratischen Klassenjustiz ist immer gefährlich für die Arbeiterklasse. Entweder dieses Sonderrechtssystem wird zurückgedrängt oder es dehnt sich aus, nicht sofort, aber in historischer Perspektive. So ist es mit dem Hartz IV-System. Der aktuelle Krisenschub der Großen Krise läßt das Kapital wieder auf das Hartz IV-System blicken und das Interesse des Kapitals an Hartz IV nimmt wieder zu, läßt das Hartz IV-System als Modell für eine neue Phase der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse zu. Während das Hartz IV-System der Notstand für bestimmte Sektoren der industriellen Reservearmee war, wird über den „Corona-Notstand“ und den Energienotstand das repressive Netzt über die gesamte bürgerliche Gesellschaft geworfen.

Das Hartz IV-System beinhaltet nicht nur den Arbeitszwang, d.h. den Zwang jede angebotene Arbeit ohne Qualifikationsschutz und Tarifschutz anzunehmen und Beweislastumkehr in der Frage der Zumutbarkeit der angebotenen Arbeit, sondern dieser Zwang wird vermittels der Sanktionsrepression auch realisiert. Wird eine angebotene Arbeit verweigert, wird die Regelleistung um einen bestimmten Prozentwert gekürzt, solange, bis das „Existenzminimum“ formal erreicht, bzw. real und teilweise auch formal unterschritten wird. Es gab viele Klagen gegen das System der Sanktionen, die Gerichtsinstanzen leiteten die Klagen an das Bundesverfassungsgericht weiter, dieses leitete die Klagen wieder zurück und dies gute fünfzehn Jahre lang, bis das Bundesverfassungsgericht sich herabließ, eine „Grundsatzentscheidung“ in Sachen Sanktionspraxis zu fällen. Aber diese „Grundsatzentscheidung“ ist keine, denn sie blieb offen. Auf der einen Seite wurde die Sanktionshöhe eingeschränkt, nur bis auf das „Existenzminimum“, auf der anderen Seite ist es erlaubt, daß „Existenzminimum“ auch zu unterschreiten. Das Bundesverfassungsgericht verweigerte also eine Grundsatzentscheidung, so daß das Hartz IV-System nicht angetastet wurde. Die Willkür bei der Sanktionspraxis blieb erhalten. Es wurde lediglich das Hartz IV-System modifiziert, aber nicht angetastet. So kann man bis heute weiterhin in die Obdachlosigkeit hinein sanktioniert werden, wenn man sich beharrlich weigert, die angebotene Arbeit anzunehmen. Vorher kann man der „gemeinnützigen Arbeit“ als „Arbeitserprobung“ zugeführt werden. Die Kommunen haben dafür einen eigenen Arbeitsdienst eingerichtet. Wer sich dann der „Arbeitserprobung“ im Arbeitsdienst verweigert, fällt ebenfalls den Sanktionen zum Opfer. Der kommunale Arbeitsdienst ist die „demokratische Zwangsarbeit“. Es besteht kein Arbeitsverhältnis, sondern nur ein Sozialrechtsverhältnis, d.h. es gibt nur eine „Aufwandsentschädigung“ statt Lohn und nur die wenigsten Arbeitsgesetze gelten. Außerdem darf kein Betriebsrat gewählt werden und die Gewerkschaft darf zwar organisieren, nicht aber zum Arbeitskampf aufrufen, darf dort ihre historische Funktion nicht erfüllen. Im kommunalen Arbeitsdienst ist die Entrechtung der Arbeiterklasse am höchsten ausgebildet. Das Ziel des Hartz IV-Systems ist es, durch die Repression die industrielle Reservearmee in den zweiten prekären Arbeitsmarkt (Verschränkung von Niedriglohn und Niedrigsozialleistungen) zu transformieren, in die aktive Arbeiterarmee einzureihen. Damit wird der Druck innerhalb der Kernbelegschaften der aktiven Arbeiterarmee drastisch erhöht, die Absenkung der gesellschaftlichen Reproduktion der Arbeiterklasse im ersten Arbeitsmarkt zu akzeptieren. Es wird so zu weiten Teilen die relative Tarifautonomie der Gewerkschaften ausgehebelt und die Reallöhne beginnen zu sinken. Erst mit der Zerstörung von Hartz IV erhalten die Gewerkschaften ihre relative Tarifautonomie wieder und damit ihre Handlungsfreiheit, welche in Erhöhung der Reallöhne umgesetzt werden würde. Hartz IV fesselt die Gewerkschaften und dies schlägt sich in einem sinkenden Reallohn wieder. Eine erfolgreiche Tarifpolitik baut auf den Trümmern des Hartz IV-Systems auf; eine erfolgreiche Tarifpolitik muß auf die Zerstörung des Hartz IV-Systems setzten.

Doch die Repression des Hartz IV-Systems bezieht sich nicht nur auf die Arbeit, sondern bezieht alle Reproduktionssphären der Hartz IV-Bezieher mit ein. Es findet eine engmaschige Kontrolle der Wohnungen der „Bedarfsgemeinschaft“ über Hausdurchsuchungen und Razzien statt, um sicherzustellen, daß nur minimale Transferleistungen gewährt werden. Dazu wurden eigenständige Ermittlungsdienste gegründet, welche auch auf Denunziation hin tätig werden. Jede „Bedarfsgemeinschaft“ ist gezwungen, den Hilfebezug so schnell wie möglich zu beenden. Es ergibt sich daraus eine „soziale Sippenhaft“. Alle Mitglieder der „Bedarfsgemeinschaft“ müssen Arbeit aufnehmen, nicht nur der Antragsteller auf Arbeitslosengeld II. Dies erhöht noch einmal mehr den Druck auf die aktive Arbeiterarmee, da das Arbeitsangebot weiter erhöht wird und dadurch der Lohn der aktiven Arbeiterarmee weiter herabsinkt. Da die gesellschaftlich notwendige Reproduktion über Hartz IV nicht ausreicht, müssen die Hartz IV-Bezieher auch auf die freiwillige Unterstützung der „Tafeln“ ausweichen, um ihr „Überleben“ sicherzustellen. Ebenso findet ein „Profiling“ statt, bzw. ein Verhör um die Person psychologisch auszuleuchten und nach dem Persönlichkeitsprofil zu selektieren.

Hartz IV ist die „friedensähnliche“ Kriegswirtschaft in Friedenszeiten für Segmente der industriellen Reservearmee. Es wundert dann auch nicht, wenn das Kapital in einem tiefen Krisenschub auf diese Waffe Hartz IV zurückgreift, um diese Waffe zu verallgemeinern und über die gesamte bürgerliche Gesellschaft ausdehnen will. Der Rückgriff von Ulrike Herrmann auf die britische Kriegswirtschaft im zweiten imperialistischen Weltkrieg ist überflüssig, ist nur ein rhetorischer Rückgriff, real greift Ulrike Herrmann auf die Rationierung des Hartz IV-Systems zu. Die zentrale Losung von Ulrike Herrmann lautet real: Hartz IV für alle als Lösung der „Klimakrise“. Dies ist dann auch ein Gebot der „nationalen Sicherheit“. Widerstand gegen Hartz IV ist dann Widerstand gegen die „nationale Sicherheit“, Anschlag auf die „nationale Sicherheit“, denn die „Klimakrise“ wird nicht nur von Ulrike Herrmann in den Rang einer „Gefahr für die nationale Sicherheit“ erhoben und Rationierung ist dann eine notwendige Maßnahme, um die „Gefahr für die nationale Sicherheit“ abzuwenden. Auf diese Weise wird auch das Hartz IV-System objektiv als „klimaschonend“ geadelt. Das Klima über Hartz IV wird „geschont“ auf Kosten der untersten Schichten der Arbeiterklasse. Die untersten Schichten der Arbeiterklasse werden nicht geschont im Gegenteil, sie werden geopfert. Das Kapital wird nicht vom Hartz IV-System lassen. Die formale Auflösung von Hartz IV in das „Bürgergeld“ ist nur eine Modifikation von Hartz IV. Das Hartz IV-System wird auf den multipolaren Weltmarkt ausgerichtet, dadurch, daß die Höhe des Schonvermögens steigt, denn der gegenwärtige Krisenschub mit dem antirussischen Wirtschaftskrieg wird auch zu Massenentlassungen der Kernbelegschaften führen. Um Widerstand präventiv zu verhindern, wird das Hartz IV-System tendenziell mehr auf die Kernbelegschaften ausgerichtet, soll den sozialen Absturz ins soziale Nichts zumindest zeitweise abfedern. Mit Zuckerbrot und Peitsche verallgemeinert sich die Rationierung der Arbeiterklasse.

Hartz IV konnte nur mit Hilfe der Gewerkschaftsbürokratie durchgesetzt werden. Die damalige rotgrüne Regierung unter Bundeskanzler Schröder stellte den Gewerkschaften ein Ultimatum: Entweder akzeptieren die Gewerkschaften Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen und dies bedeutet die weitgehende Zerstörung des Flächentarifvertrages, oder der bürgerliche Staat setzt gesetzliche Öffnungsklauseln durch. Die Frage der Öffnungsklauseln existiert nicht in einem Vakuum, sondern ist gleichzeitig mit der Implantation von Hartz IV vermittelt. Eine Kapitulation in der Frage der Öffnungsklauseln bezieht sich nicht nur auf die Öffnungsklauseln, sondern ebenfalls auf das zentrale Moment Hartz IV. Wenn schon in der Frage der Öffnungsklauseln der bürgerliche Staat einen Generalangriff auf die Gewerkschaften startet, dann erst Recht dann, wenn die Gewerkschaften sich weigern, Hartz IV zu akzeptieren. Hinter der Frage der Öffnungsklauseln verbirgt sich die Frage nach Hartz IV. Ohne Frage ist das Ultimatum des bürgerlichen Staates an die Gewerkschaften ein Angriff auf das verfassungsmäßige Recht der Koalitionsfreiheit, auf die relative Tarifautonomie der Gewerkschaften und kann nur mit Massenaktionen der Mitgliedschaft und der Arbeiterklasse beantwortet werden, bis hin zum Generalstreik. Doch die Gewerkschaftsbürokratie kapitulierte in beiden Fragen und arbeitete zusammen mit dem Kapital (hier besonders die Bertelsmann-Stiftung) und dem bürgerlichen Staat das Hartz IV-System aus und damit wurden tendenziell die Gewerkschaften zu einer Arbeitsfront. Es gab viele und auch große Massendemonstrationen gegen Hartz IV, doch es gelang nicht, eine autonome Massenmobilisierung auch gegen die repressive Politik der Gewerkschaftsbürokratie zu organisieren. Letztlich konnte die Gewerkschaftsbürokratie die Kontrolle über die Anti-Hartz IV-Proteste behaupten und diese dann ins Leere laufen lassen. Es gab keine Gegenkraft, welche die Massenproteste gegen Hartz IV organisieren konnte. Die Gewerkschaftsopposition innerhalb der Gewerkschaften war zu schwach, um die Gewerkschaftsbasis zu mobilisieren. Nur aus diesen Gründen war die Unterwerfung der Gewerkschaftsbürokratie unter das Diktat des Kapitals erfolgreich. Die repressive Integration der Gewerkschaften in festere Bahnen innerhalb des korporatistischen Blocks aus Kapital, bürgerlicher Staat und Gewerkschaftsbürokratie hatte Erfolg; die Gewerkschaften wurden deutlich diszipliniert, was sich dann auch zukünftig auswirkte. Ohne auch nur formalen Widerspruch trug die Gewerkschaftsbürokratie nach Hartz IV alle Projekte des deutschen Imperialismus mit und so ist es auch nicht verwunderlich, daß die DGB-Bürokratie auch aktiv den „Corona-Notstand“ mittrug. Hartz IV war nur der Anfang.

Die großflächige und tiefe Rationierung in Deutschland wurde erstmals nach dem Ende des zweiten imperialistischen Weltkrieges ab dem 13. und 17.März 2020 eingeleitet. Objektiv bezieht sich Ulrike Herrmann auf den „Corona-Notstand“, auch wenn sie sich subjektiv auf die britische Kriegswirtschaft des zweiten imperialistischen Weltkrieges bezieht. Der „Corona-Notstand“ griff tief in den proletarischen Klassenalltag ein; die individuellen und kollektiven Grundrechte wurden auf unbestimmte Zeit aufgehoben oder eingeschränkt und gleichzeitig eine Deflationspolitik betrieben. Die Kurzarbeit bedrohte die gesellschaftliche Reproduktion der Arbeiterklasse. Der „Corona-Notstand“ führte zu einem Schub proletarischer Massenverarmung. Noch negativer vom „Corona-Notstand“ war das traditionelle Kleinbürgertum betroffen. Hier gab es kaum eine finanzielle Kompensation durch den bürgerlichen Staat, so daß die Verelendung voll durchschlug. Vor allem dem traditionellen Kleinbürgertum im Dienstleistungssektor wurde durch die Notstandsregelungen die soziale Existenz entzogen. Der soziale Zusammenbruch des traditionellen Kleinbürgertums war die materielle Basis für die Anti-Corona-Proteste. Das Kleinbürgertum begann wild um sich zu schlagen, forderte seine sozialen Rechte zurück, forderte seinen Neoliberalismus zurück. Aber nicht mehr. Es gab keine egalitäre Forderung, keine antikapitalistische Forderung. Das traditionelle Kleinbürgertum wollte seine alte Position zurück, alles andere war ihm egal. Über den „Corona-Notstand“ gelang es dem Kapital zwischen Arbeiterklasse und Kleinbürgertum vertieft zu spalten, diese gegeneinander auszuspielen. Nur mit egalitären und antikapitalistischen Forderungen wären die Anti-Corona-Proteste erfolgreich gewesen, hätten die Arbeiterklasse aktivieren können. Jedoch mit elitären Forderungen nach alten sozialen Positionen im neoliberalen Kapitalismus wird ein Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Kleinbürgertum verhindert. Die Last des „Corona-Notstandes“ trug zu großem Teilen das „traditionelle Kleinbürgertum“.

Über den „Corona-Notstand“ wurde die Arbeiterklasse auf den Krieg, auf die Kriegswirtschaft, vorbereitet. Die individuellen und kollektiven Rechte der Verfassung wurden von der Arbeiterklasse erkämpft und nicht vom der Bourgeoisie gewährt. Diese individuellen und kollektiven Rechte im Kapitalismus sind die proletarischen Eroberungen im Kapitalismus und müssen vom Proletariat verteidigt werden, wenn es seine gesellschaftlich notwendige Reproduktion verteidigen will. Es ist die Aufgabe der proletarischen Massenorganisationen, allen voran der Gewerkschaften, diese proletarischen Eroberungen im Kapitalismus zu verteidigen. Doch auch hier kapitulierte die DGB-Gewerkschaftsbürokratie und unterstützte die Bourgeoisie bei ihrem „Corona-Notstand“ gegen die Arbeiterklasse und fiel der Arbeiterklasse abermals nach Hartz IV bei einer zentralen Frage in den Rücken.

Unter dem „Corona-Notstand“ wurde die Rationierung einer „friedensähnlichen“ Kriegswirtschaft verwirklicht. Ganze Branchen wurden zwangsweise heruntergefahren, die Lohnarbeiter in Kurzarbeit abkommandiert. Der Einzelhandel wurde ganz geschlossen bzw. konnte nur minimal geöffnet werden, in dem vor allem die Kundenfrequenz rationiert wurde, wie auch das Sortiment in Quantität und Qualität. Auch die Armutsversorgung der „Tafeln“ wie die Schulspeisungen wurden eingestellt. Schulen, Universitäten und Bibliotheken wurden geschlossen und es gab nur noch „Digital- Unterricht. Damit brach der Ausbildungsbetrieb zusammen und die Leistungsdefizite an den Schulen werden noch Jahre zu spüren sein, treiben ganze Jahrgänge in eine prekäre Zukunft. Auch dies ist eine Rationierung. Kultureinrichtungen wurden einfach geschlossen. Auf den Straßen durfte man nur alleine oder zu zweit, oder im engen Familienkreis aufhalten. Mehr als drei Personen führte zu einem Polizeieinsatz. Damit war es auch gleichzeitig möglich, jede Demonstration zu verbieten, wie auch Streikposten, sollte ein Streik möglich werden. Auch das Verhalten in den Häusern und Wohnungen wurde rationiert. Es durfte nur eine bestimmte Personenanzahl, meist die Kernfamilie, sich in den Wohnungen aufhalten. Besuche, auch in der weiteren Familie, wurden verboten. Denunziationsstellen zur Überwachung dieser Notstandsmaßnahmen wurden in den Staatsapparaten eingerichtet. Ganz allgemein gab es eine Ausgangssperre, wo niemand mehr ohne Ausnahmegenehmigung auf der Straße sein durfte. Es wurden auch Verordnungen erlassen, daß niemand ohne Genehmigung seine Heimatgemeinde verlassen darf, bzw. diese nur zur Arbeit verlassen darf, aber nicht zu privaten Zwecken. Als Illustration des „Corona-Notstands“ ist es genug. Es ist evident, daß dies eine „friedensähnliche“ Kriegswirtschaft darstellt und damit das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse drastisch abgesenkt wurde. Die Kriegswirtschaft ist also keine Drohung für die Zukunft, sondern sie hat sich bereits im „Corona-Notstand“ 2020 bis 2022 realisiert und dies mit Unterstützung der DGB-Bürokratie, welche den „Corona-Notstand“ gegen die Arbeiterklasse verteidigt hat. Die weitere Verelendung der Arbeiterklasse wurde von der DGB-Bürokratie vollumfänglich akzeptiert, statt das Niveau der gesellschaftlichen Reproduktion der Arbeiterklasse zu verteidigen.

Über den „Corona-Notstand“ wurde die Arbeiterklasse auf den gegenwärtigen imperialistischen Konflikt mit Rußland vorbereitet. Die „friedensähnliche“ ideologische Mobilisierung auf den „Feind“ wurde mit dem „Krieg gegen Corona“ eingeleitet. Das SARS-Corona-Virus wurde zum Feind erklärt und gleichzeitig jegliche Kritik an dem „Corona-Notstand“ galt von da an als „Feindhandlung“. Es wurde ein „Freund-Feind“-Denken in die bürgerliche Gesellschaft implantiert und über den „Corona-Notstand“ fanden erste Schritte der inneren Militarisierung statt. Befehl und Gehorsam, statt Diskussion und Meinungsfreiheit. Eine Kultur der Zensur setzt sich seit dem „Corona-Notstand“ durch; es wird die Anzahl der „Tabu-Themen“ ausgeweitet, neben der Israel-Palästina-Problematik sind es jetzt auch noch der „Corona-Komplex“ und der Ukraine-Krieg und damit auch der deutsche transatlantische Wirtschaftskrieg gegen Rußland. Wenn man bei diesen Themen, die sehr weitgefaßt werden, nicht die Staatsmeinung vertritt, kann Repression drohen. Hier wird keine Abweichung von der Staatsmeinung geduldet. Wer von der Staatsmeinung abweicht, begeht ein Verbrechen, ist ein „Extremist“ und damit ein potentieller Terrorist. Eine Diskussion ist nicht erwünscht. Nicht über diese Themen. Über andere Themen darf diskutiert werden, doch nicht über die „Tabu-Themen“, denn dies wäre eine Gefahr für die „nationale Sicherheit“.

Nicht umsonst wird wieder eine Politik der Berufsverbote aktiviert. Unter dem Vorwand die „rechte Gefahr“ im bürgerlichen Staatsapparate zu bekämpfen, werden die Berufsverbote wieder aktiviert und letztlich gegen die Arbeiterklasse eingesetzt. Mit der Neuauflage der Berufsverbote sollen „Extremisten“ bekämpft werden. Was ein „Extremist“ ist, ist unbestimmt und so kann jeder als „Extremist“ erfaßt werden, wer von der Staatsmeinung abweicht und damit eine potentielle „Gefahr für die nationale Sicherheit“ darstellt. Es wird ausdrücklich darauf abgestellt, daß auch Verhalten unterhalb eines Straftatbestandes erfaßt wird. Hier geht es damit explizit um die Disziplinierung der staatlichen Lohnarbeiter im bürgerlichen Staatsapparat. Wer nicht aus dem bürgerlichen Staatsapparat gesäubert werden will, gehorcht den Befehlen und unterwirft sich. Die Zensur der Meinungsbildung zielt vor allem auf die Selbstzensur, auf die Schere im Kopf. Zensur ist nicht nur Zensur der Meinung, sondern auch immer Zensur des konkreten Verhaltens. Jedoch sind die Berufsverbote nicht auf den bürgerlichen Staatsapparat beschränkt, sondern greifen auch organisch auf die Akkumulationssphäre über. Der bürgerliche Staat ist lediglich der Eisbrecher in der Frage der Berufsverbote. Vor allem im Sektor der „kritischen Infrastruktur“ sind diese Berufsverbote leicht durchzusetzen, denn dort wird konkret die „nationale Sicherheit“ exekutiert und erst Recht im militärisch-industriellen Komplex. Wenn die Bedeutung der „nationalen Sicherheit“ weiter zunimmt und damit der Notstandsstaat sich verwirklicht, werden die Berufsverbote auch in dem Sektor des Kapitals aktiviert, welches nicht zum militärisch-industriellen Komplex oder der „kritischen Infrastruktur“ gehört, denn dann wird auch dort die demokratisch-parlamentarische bürgerliche Klassenjustiz durch das Sonderrecht ersetzt. Wenn die Loyalität, die Treue zum „Staat,“ die erste Bedingung eines Arbeitsverhältnisses und des Zugangs zu sozialen Transferleistungen wird, eine positive Gesinnung zu Staat und Gesellschaft verlangt wird, kann jeder vermeintliche Bruch der Loyalität“ als Verrat, als Verbrechen, Gesinnungsverbrechen geahndet werden. In einer Kriegswirtschaft gibt es nur Befehl und Gehorsam, wird der „äußere Feind“ und „innere Feind“ bekämpft, die Kriegswirtschaft selbst ist nur Mittel zum Zweck und damit eine Waffe, eine Waffe gegen die Arbeiterklasse, sie ist damit nicht die Lösung des Problems, sondern ein Teil des Problems. Seit dem „Corona-Notstand“ wird die Arbeiterklasse vermehrt auf Befehl und Gehorsam ausgerichtet. Der Befehl „Maske auf“ bezieht sich nur oberflächlich auf Abwehrmaßnahmen gegen die SARS-Corona-Pandemie, real jedoch geht es um „Gasmaske“ auf. Die Aufforderung die „richtige Haltung“ einzunehmen bereitet den Befehl: „Achtung“ (Stramm stehen) vor, aber auch „Rührt Euch“ (eine gelöste Haltung einnehmen). Auf diesem eindeutig zweideutigen Weg breitet sich niedrigschwellig die innere Militarisierung aus. Die bürgerliche Propaganda arbeitet spielerisch. Sie versucht das antimilitaristische Massenbewußtsein mit Ironie zu überwinden, indem an militaristische Erzählungen des zweiten Weltkrieges ironisch angeknüpft wird und mit der SARS-Corona-Pandemie ins Verhältnis gesetzt werden. Über diese Karikatur der „alten“ militaristischen Erzählungen im Verhältnis zur SARS-Corona-Pandemie werden neue Durchhalteparolen in oberflächlicher unernster Form kreiert, jedoch verdeckt unter dieser Hülle der Komik entfalten sie ihre Kraft uns greifen so ins Unbewußte oder Halbbewußte ein. Der „Corona-Notstand“ war die langsame Gewöhnung an den Notstand überhaupt, d.h. an die „Neue Normalität“ des Kapitalismus. Mit dem Ukraine-Krieg verschwindet der Unernst des „Corona-Notstandes“ und im Ernstfall des Energienotstandes und der Rezession, verbunden mit den Kriegsgefahren des Dritten Weltkrieges, wird der Notstand fordernder und auch die Propaganda. Nun wird offen der „Krieg gegen das Böse“ eingefordert, auch Verluste und Verzicht. Wer sich dem widersetzt wird mehr oder minder offen zum „Feind“ erklärt, auch wer eine Entspannungspolitik mit Rußland befürwortet, wird „zum inneren Feind“ und steht mit dem „äußeren Feind“ Rußland im Bunde. Die Atomisierung der Arbeiterklasse und des gesellschaftlichen Widerstands im „Corona-Notstand“ führt zu dem gegenwärtigen niedrigen Niveau des Widerstands gegen imperialistische Kriegsgefahr und Schockpolitik, denn durch den „Corona-Notstand“ wurden die widerständigen gesellschaftlichen Strukturen zerschlagen und verstaatlicht, d.h. die vielfältigen widerständigen politischen Strukturen, die bis 2019 bestanden, haben sich weitgehend im „Corona-Notstand“ aufgelöst. Weitgehend verstaatlicht und militarisiert wurde die „Zivilgesellschaft“ und gegen jeden proletarischen Widerstand ausgerichtet. Die zentralen NGO´s („Nichtregierungsorganisationen) sind unter staatlicher politischer und finanzieller Kontrolle, sowie unter finanzieller und politischer Kontrolle des Monopolkapitals. Widerständige „NGO`s“ werden mit Repression überzogen. Es gab also im Rahmen des „Corona-Notstandes“ eine Gleichschaltung bzw. Selbstgleichschaltung des sogenannten „NGO-Sektors“, welcher nicht mit dem „Corona-Notstand“ endet, sondern im Energienotstand fortgesetzt wird. Es ist die Aufgabe der sogenannten „NGO´s“ den Notstandsstaat über den Ruf nach einem „Klimanotstand“ zu legitimieren.

Der Energienotstand ist die Fortsetzung des „Corona-Notstands“ auf höherer Stufenleiter mit dem Ziel einer Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse (Oberflächenausdruck dieser Tendenz im Fraktionskampf des Kapitals zwischen „ fossilem“ und „nicht fossilen“ Kapital) in Form der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft und findet erst in einer hochentwickelten Kriegswirtschaft zu sich selbst. Im Notstand und damit in der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft werden die atomisierten Massen durch den Notstandsstaat von oben zusammengefaßt und konzentriert. Jede proletarische Selbstorganisierung ist vom Standpunkt der Bourgeoisie dann Feindhandeln, ebenso wie jede passive Verweigerung der Befehle. Im bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) geht es nur um das Überleben, das nackte Überleben und dies nur für die, welche für das Kapital als Ausbeutungsmaterial herhalten können.

Wer nicht als Ausbeutungsmaterial dienen kann, im Ausbeutungsprozeß vorzeitig verschlissen wurde, oder niemals von Beginn des Lebens an als Ausbeutungsmaterial fungieren kann, ist für das Kapital ein „sozialer Feind“, denn diese relative Übervölkerung steht außerhalb der Wertproduktion und ist damit ein Abzug vom gesellschaftlichen Mehrwert. Die Bourgeoisie behält sich für den „sozialen Feind“ die Euthanasie vor. Nicht nur wer sich aktiv und damit subjektiv der Ausbeutung verweigert ist ein Feind“, sondern auch jemand, wer objektiv nicht in der Lage ist, ausgebeutet zu werden. Kanada geht in dieser Frage voran. Dort wurde eine „freiwillige“ Euthanasie organisiert. Zuerst galt diese für Menschen mit unheilbaren Krankheiten, wurde dann aber auch schnell ausgedehnt, auf psychische Krankheiten und dann Langzeiterkrankungen und damit auch auf Behinderte und auch auf nicht Volljährige. Wer sich für den Tod entscheidet, wird bei seinem Selbstmord assistiert. Der „freiwillige“ Selbstmord ist ein Produkt des strukturellen und stummen Zwangs der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die sich an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als sozialer Zwang übersetzten. Kanada ist unter den Metropolen das Land mit den niedrigsten Sozialleistungen und will seine Sozialleistungen noch weiter absenken. Über die Politik der „freiwilligen“ Euthanasie können die Sozialleistungen noch weiter reduziert werden. Es werden sogar gezielt Behinderte zum „assistierten Selbstmord“ aufgefordert, wenn sie Sozialleistungen beantragen. Dies trifft auch ehemalige Militärangehörige mit einer Behinderung. Eine Kriegswirtschaft führt gerade einen Krieg gegen die „Überflüssigen,“ gegen den „sozialen Feind“. Kanada marschiert in dieser Frage voran. Von da aus ist es auch nicht weit, von der „freiwilligen“ Euthanasie zur „Zwangs-Euthanasie“ überzugehen, denn die „freiwillige“ Euthanasie ist nur ein Zwischenschritt zur „Zwangs-Euthanasie“ und bereitet sie vor. Der „assistierte Selbstmord“ bereitet den Massenmord vor. Ganz im Sinne einer Kriegswirtschaft, denn diese setzt auf „Bevölkerungsreduktion“. Krieg ist Bevölkerungsreduktion, der eigenen Bevölkerung, wie der Bevölkerung des Feindes und die Kriegswirtschaft stellt die Infrastruktur für diese Art der „Bevölkerungsreduktion“ dar. Der Krieg erhöht kurzzeitig den ökologischen Fußabdruck um langfristig durch die „Bevölkerungsreduktion“ diesen abzusenken. Krieg, Kriegswirtschaft und „Bevölkerungsreduktion“ gehören zusammen. Der „Feind“ wird reduziert, wird vernichtet. Dem „sozialen“ Feind wird auch nicht das „nackte Überleben“ gesichert, ihm wird das Recht auf Leben abgesprochen. Der „soziale Feind“ kann auch kapitalistisch produziert werden, indem eine systematische Hungerpolitik, wie es der britische Imperialismus in Indien während des zweiten imperialistischen Weltkrieges exekutierte, realisiert werden kann. Eine ganze Bevölkerungsgruppe kann als Opfer bürokratisch erfaßt, vom Rest der Bevölkerung selektiert und vernichtet werden, wenn der politische Widerstand der Arbeiterklasse dies nicht verhindert.

Um den „sozialen Feind“ zu vernichten, ist es vorher notwendig den „politischen Feind“ zu vernichten, denn der „politische Feind“ verhindert die Vernichtung des „sozialen Feindes“. Die Kriegswirtschaft stellt dann die Waffen dafür bereit, um den „politischen Feind“ zu bekämpfen und zu vernichten; die Kriegswirtschaft selbst ist eine Waffe, um den „politischen Feind“ der Vernichtung zuzuführen. Eine Kriegswirtschaft verlangt nach einer „Säuberung“ der Betriebe von „potentiellen Sicherheitsrisiken“ und „potentiellen Risikopersonen“ über die Waffe Berufsverbot. Der potentielle „politische Feind“ muß auch gleichzeitig in die soziale Figur des „sozialen Feindes“ transformiert werden, dann ist er der gedoppelte Feind, zieht die konzentrierte Repression des bürgerlichen Notstandsstaates auf sich. Eine „Säuberung“ der Betriebe von „politisch unzuverlässigen Lohnarbeitern“ kann auch in einer Säuberung der sozialen Transfersysteme von diesem Personenkreis ausarten. Der Krieg, die Kriegswirtschaft, duldet keinen Widerspruch. Die ideologische, fiktive ökologische Kriegswirtschaft der Ulrike Herrmann ist in Wirklichkeit die ganz normale kapitalistisch-imperialistische Kriegswirtschaft und dient nicht der „Klimarettung“ oder der „Menschheitsrettung“, sondern im Gegenteil der „Menschheitsreduzierung“ oder „Menschheitsvernichtung“, konkret der Vorbereitung des Dritten Weltkrieges an Hand des Ukraine-Krieges. Ulrike Herrmann befürwortet den Ukraine-Krieg durch Waffenlieferungen an die NATO-Ukraine gegen Rußland und dies geht nicht ohne Kriegswirtschaft. Ideologisch wird diese aggressive imperialistische Politik mit dem „Klimaschutz“ legitimiert. Mit dem „Klimaschutz“ in den Dritten Weltkrieg. Mit dem „Klimaschutz“ in den Notstandsstaat, mit dem „Klimaschutz“ in die Schockpolitik und Aufrüstung, mit dem „Klimaschutz“ in die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft. Die „guten“ Werte und die „gute Absicht“ rechtfertigen Verarmung, Repression und Krieg, auch den Dritten Weltkrieg- zumindest in den Augen der deutschen Bourgeoisie und in den Augen von Ulrike Herrmann. Der „Klimaschutz“ ist dafür die Generalklausel. Es geht Ulrike Herrmann nicht um den „Klimaschutz“, der ist nur Vorwand, es geht ihr um den Ausbau der nationalen und internationalen Machtstellung des deutschen Imperialismus. Ulrike Herrmann ist eine gewöhnliche Propagandistin des deutschen Imperialismus, ideologische Steigbügelhalterin eines dritten Griffs zur Weltmacht durch den deutschen Imperialismus mit dem Ziel, dem deutschen Imperialismus eine politische und soziale Massenbasis zu organisieren. Der Rekurs von Ulrike Herrmann auf die britische Kriegswirtschaft des zweiten imperialistischen Weltkrieges zeigt offen das reaktionäre und rassistische Gesicht des imperialistischen „Klimaschutzes“. „Klimaschutz“, „Umweltschutz“ gibt es nicht im Kapitalismus. Es bedarf schon der proletarischen Weltrevolution und der Diktatur des Proletariats. Ulrike Herrmann gehört zur Siegfrieden/Endsiegs-Fraktion der deutschen Bourgeoisie. Sie steht sogar einem Verständigungsfrieden, wie er von dem Wagenknecht/Schwarzer Aufruf gefordert wird, welcher mit fast 600.000 Unterschriften unterstützt wird und sich in einer Großdemonstration in Berlin am 25. Februar mit über 50.000 Teilnehmern materialisierte, ab. Dieser Aufruf soll die große Massenunzufriedenheit kanalisieren und die Massenlegitimation für Verhandlungen mit dem russischen Imperialismus stellen, denn umso länger der Krieg dauert, desto vorteilhafter ist es für den russischen Imperialismus. Mit der längeren Dauer des Ukraine-Krieges wird der russische Imperialismus militärisch, ökonomisch und politisch stärker als der der deutsche Imperialismus, bzw. als der transatlantische imperialistische Block. Ein Siegfrieden/Endsieg führt in den Zusammenbruch oder in den Dritten Weltkrieg. Der Verständigungsfrieden soll das schlimmste für den deutschen Imperialismus verhindern, denn die Orientierung auf den Siegfrieden/Endsieg über den russischen Imperialismus schwächt den deutschen Imperialismus, statt ihn zu stärken. Eine Verständigung mit Rußland stabilisiert den deutschen Imperialismus, eine Entscheidung für die Endsiegs/Siegfrieden Option mit Kriegswirtschaft, gefährdet das Gleichgewicht des deutschen Imperialismus.

  1. Der proletarische Weg

-Der Hauptfeind steht im eigenen Land: Generalstreik gegen Krieg und Krise

-Radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, ansetzend an der alltäglichen Sabotage der Ausbeutung, ebenfalls in der „Kritischen Infrastruktur“ und international organisiert

-Gleitende Lohnskala gegen die Inflation

-Arbeiterkontrolle über die Betriebe

-Aufbau proletarischer Hundertschaften gegen die Repression des bürgerlichen Staates und seiner neofaschistischen Organisationen

Iwan Nikolajew Hamburg im März 2023 Maulwurf/RS

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Am Kipppunkt

Erstellt von DL-Redaktion am 8. März 2023

Zuspitzung im Nahost-Konflikt

Von   :   Judith Poppe

Es brennt in den besetzten Gebieten. Ein Besuch in der jüdischen Siedlung Yitzhar und dem Dorf Huwara, in dem es gerade heftige Ausschreitungen gab.

auchwolken hängen am Nachthimmel über dem palästinensischen Dorf Huwara, Dutzende Häuser und Autos stehen in Flammen. So ist es kurz darauf auf Fotos in den sozialen Medien zu sehen. Geschäfte brennen, Steine fliegen in dieser Nacht. Ein Palästinenser wird getötet, Hunderte werden verletzt.

Am vergangenen Sonntag hatte zunächst ein Palästinenser zwei Israelis in Huwara getötet, Siedler aus einer nahe gelegenen Siedlung, die im Auto die Hauptstraße entlangfuhren. Wenige Stunden später dringt eine Gruppe israelischer Sied­le­r*in­nen in das Dorf ein, um Rache zu nehmen. Die Armee greift erst spät in der Nacht ein.

„Ich habe solche Angst um meine Familie“, schreibt per Whatsapp Shadeen Saleem, die wir zwei Wochen zuvor in Huwara getroffen haben: „Meine Brüder und meine Eltern sind in unserem Haus, Siedler greifen sie an.“ Saleem ist während des Angriffs nicht zu Hause, sie studiert im nahe gelegenen Nablus, doch die Stadt ist vom israelischen Militär abgeriegelt. Saleem hat keine Chance, zu ihrer Familie durchzukommen.

Während Huwara brennt, tanzen nicht weit entfernt auf einem Hügel ein Dutzend Siedler*innen, Schulter an Schulter. In dieser Nacht haben sie einen neuen Außenposten besetzt. Der Knessetabgeordnete Zvi Sukkot ist einer von ihnen. „Tänze der Liebe zum Land. Tränen des Schmerzes und der Hoffnung vermischen sich“, schreibt er zu dem Video auf Twitter.

Zwei Wochen zuvor liegen diese Ereignisse noch in der Zukunft – doch im Rückblick kann man sagen, sie standen schon wie Zeichen an der Wand.

„Schade, dass es bewölkt ist“, sagt Zvi Sukkot und blickt Richtung Westen zum Mittelmeer: „Normalerweise kann man bis Netanja sehen.“ Er steht vor seinem Büro auf dem höchsten Punkt der Siedlung Yitzhar, auf der Spitze des Hügels. Von dem weißen Container aus hat er eine Rundumsicht auf das, was er „unser Land“ nennt.

Er zeigt auf das Mittelmeer und Tel Aviv, dann dreht er sich im Halbkreis. Seine Hand gleitet über das Westjordanland hinweg, über arabische Dörfer, auch über Huwara. Über weitere jüdische Siedlungen, bis sein Zeigefinger auf der Grenze nach Jordanien ruht. Eine imperiale Geste, könnte man meinen, doch dafür ist sein Blick zu kritisch, seine Bewegung zu vorsichtig. Er gleicht eher einem Wächter, der sich in Abwesenheit des Besitzers um dessen Land sorgt.

Sukkot trägt Schläfenlocken und Tzitziot, weiße Fäden, die religiöse Juden an den Oberteilen befestigen und an den Seiten der Hosen entlangfallen lassen. Auf dem Kopf hat er eine gehäkelte Kippa, Markenzeichen der Siedler.

Steile Karriere in der Politik

Er ist erst 32 Jahre alt und hat eine steile Karriere hingelegt: Zwei Tage nach dem Interview wird er für die rechtsextreme Partei Religiöser Zionismus als Nachrücker in die Knesset einziehen. Ihr Programm sieht unter anderem die Annexion von Land für Siedlungen im Westjordanland, die Ausweisung von Geflüchteten und eine Entmachtung des Obersten Gerichtshofs vor.

In Sitzungszeiten wird er von nun an in der Knesset sein, den Rest der Zeit in seinem Büro in Yitzhar arbeiten – einem Büro, das sich nach internationalem Recht illegal dort auf der Hügelspitze befindet: Es liegt in den besetzten palästinensischen Gebieten.

Im Westjordanland war das vergangene Jahr das blutigste seit dem Ende der Zweiten Intifada. 2022 starben mehr als 150 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen durch israelische Sicherheitskräfte und Zivilist*innen. Siebzehn Israelis wurden bei Anschlägen von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen getötet. Im Jahr 2023 sind allein in den ersten zwei Monaten bereits 61 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen von israelischen Sicherheitskräften getötet worden.

Der CIA und israelische Sicherheitsapparate warnen, dass eine dritte Intifada bevorstehen könnte. Noch gibt es keinen Aufruf der großen palästinensischen Fraktionen dazu. Doch viele sorgen sich, dass die neue rechtsextrem-religiöse Regierung Israels den Konflikt zwischen Sied­le­r*in­nen und Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen weiter anheizt.

Zvi Sukkot schließt die Tür zu seinem Containerbüro auf. Seine Zusage zu dem Interview kam prompt – anders als die meisten radikalen Sied­le­r*in­nen ist er bereit, mit den Medien zu sprechen. Die Welt sei gegen die Siedler*innen, sagt er, er will das Image verbessern.

Jüdische Israelis haben unterschiedliche Gründe, in eine Siedlung zu ziehen. Die meisten Sied­le­r*in­nen leben in Pendlerstädten in der Nähe zum Kernland Israel oder in Ostjerusalem. Viele ziehen wegen der günstigen Mieten und der Lebensqualität dorthin. Aber wer nach Yitzhar zieht, macht das, um das Versprechen Gottes einzulösen: Dieses Land wurde den Jü­d*in­nen von Gott versprochen, komplett, inklusive des Westjordanlandes – davon sind die Be­woh­ne­r*in­nen Yitzhars überzeugt. Etwa 2.000 radikale Sied­le­r*in­nen leben hier.

Bezalel Smotrich, Chef der Partei Religiöser Zionismus und neuer Finanzminister, war einmal in seinem Büro, erzählt Sukkot. Beide waren in der Hilltop-Jugend aktiv – hier sammeln sich junge extremistische Siedler*innen, die Gewalt für ein legitimes Mittel halten, und die sogenannte Außenposten im Westjordanland errichten, die auch nach israelischem Recht illegal sind. Die Hilltop-Jugend ist überzeugt davon, dass die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen aus den palästinensischen Gebieten vertrieben werden müssen.

Für Sukkot ist die Hilltop-Jugend eine Gruppe junger Menschen, die sich zum Ziel gesetzt haben, Gottes Versprechen einzulösen: die Besiedlung von Eretz Israel, dem gelobten Land. Dazu gibt es Lagerfeuer auf den Hügeln des Westjordanlandes, Zusammengehörigkeitsgefühl und Pioniergeist.

Bis vor Kurzem waren die extremistischen Sied­le­r*in­nen die Outlaws der israelischen Gesellschaft, die Troublemaker unter den 500.000 Siedler*innen, die mittlerweile im besetzten Westjordanland leben. Nun lenken sie die Geschicke des Landes mit.

Judäa und Samaria

Benjamin Netanjahu hat die radikalen Siedlerparteien hoffähig gemacht und ihnen in den Koalitionsvereinbarungen weitreichende Zugeständnisse eingeräumt. Er, der derzeit in drei Korruptionsfällen vor Gericht steht, will vor allem eins: nicht ins Gefängnis. Immunität versprechen ihm seine Bündnispartner. Und die wissen, wie erpressbar Netanjahu ist. Zum ersten Mal in der Geschichte Israels steht das „exklusive und unbestreitbare Recht auf alle Teile des Landes“ in der Koalitionsvereinbarung, auch auf „Judäa und Samaria“ – die biblischen Namen für das besetzte Westjordanland.

Aus einem Haufen grüner T-Shirts, die in einer Ecke seines Büros liegen, zieht Sukkot eines hervor. „Mein Herz brennt für Josef“, steht darauf. Zurückkehren zu können an das Grab des jüdischen Stammvaters Josef – auch das ist eines der Ziele von Sukkot. Derzeit dürfen jüdische Israelis nur mit Spezialgenehmigung dorthin, an den Stadtrand von Nablus: Für Israelis gilt die palästinensische Stadt als Terrornest, für Palästinenser als eine Zentrale des Widerstands. „Manchmal lassen sie uns dorthin“, sagt Sukkot. Dann werden sie vom Militär eskortiert, es kommt dabei regelmäßig zu heftigen Zusammenstößen.

„Es kann doch nicht sein, dass wir uns nicht überall in unserem Land bewegen dürfen“, sagt Sukkot. Der Ort ist für ihn nicht nur in religiöser und politischer Hinsicht wichtig, auch privat. Im Oktober 2000, kurz nach dem Beginn der Zweiten Intifada, wurde der Vater seiner heutigen Frau am Josefsgrab von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen getötet. Man fand ihn erschossen am Stadtrand von Nablus. Sukkots Frau war damals acht Jahre alt. Im Wohnzimmer über einem Bücherregal hängt ein Bild von ihrem Vater. Ein Mann mit spitzem Bart und Nickelbrille liest in der Bibel. Er war Rabbiner und 36 Jahre alt, als er starb. Mehr erzählt Sukkot dazu nicht.

Bis Juden im ganzen biblischen Israel ohne Einschrän­kungen leben können, werde er kämpfen, sagt Zvi Sukkot. Seine Partei ist nun Teil der israelischen Regierung.

Fragen nach Gefühlen scheinen ihm nicht zu behagen. Überhaupt private Fragen. „Mh?“, antwortet er, scheinbar abgelenkt, und kaut seinen Kaugummi fester. Über seine Eltern ist wenig aus ihm herauszukriegen: Er ist in einem ultraorthodoxen Elternhaus aufgewachsen. Damit ist das Thema erledigt.

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Politische Fragen beantwortet er geduldig, mehr oder weniger freundlich. „Als Knessetabgeordneter will ich dafür sorgen, dass alle Terroristen entweder im Knast oder tot sind“, sagt Sukkot. Die Palästinensische Autonomiebehörde ist für ihn eine Terrororganisation. In anliegende palästinensische Städte und Dörfer fahre er nicht. „Die wollen uns umbringen.“

Zvi Sukkot sorgt sich um seine fünf Töchter. Seine Waffe liegt auf dem Nachttisch in seinem Schlafzimmer. Wenn er die Siedlung verlässt, trägt er sie am Gürtel. Doch die besetzten Gebiete zu verlassen und seine Kinder in einer weniger konfliktgeladenen Gegend aufzuziehen, kommt für ihn nicht infrage.

Für ihn wäre das Verrat, und Verrat – oder das, was er dafür hält – hat ihn nach Yitzhar gebracht. Sukkot war 15, als die israelische Armee nach dem Abkoppelungsplan des damaligen Ministerpräsidenten Ariel Scharon die Sied­le­r*in­nen aus den Siedlungen im Gazastreifen evakuierte. Sukkot konnte nicht fassen, was er im Fernsehen sah: Soldaten, die ihre Landsleute aus ihren Häusern trugen und in Tränen ausbrachen. Bulldozer, die Häuser zerstörten, Männer, die ihre Haare rauften und zum Himmel beteten, Frauen, die mit ihren Babys im Arm von Soldaten aus den Häusern eskortiert wurden – für sie viel mehr als eine Bleibe. Der Inbegriff dessen, woran sie glaubten und wofür sie kämpften: Gott zu gehorchen, sein Erbe anzunehmen.

„Sie haben unser Land einfach der Hamas überlassen“, sagt Sukkot. Noch heute spürt man die Wut darüber in ihm. Nach diesem Ereignis beschloss er, seinen Weg zu ändern: Aus dem ultraorthodoxen Studenten wurde ein nationalreligiöser Zionist. Er schloss sich der Hilltop-Jugend an und zog nach Yitzhar.

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>>          weiterlesen        

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Oben       —    Demonstrating against Bibi’s and Yariv Levin’s plans to suppress the Supreme Court.

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KOLIMNE – GRAUZONE

Erstellt von DL-Redaktion am 5. März 2023

Falsche Friedenstauben für den Müll

Eine politische Grauzone  der Vergangenheit ?

Von Erica Zingher

Zum Jahrestag des Angriffskriegs auf die Ukraine verbreitete Russland Desinformation. Die angebliche geplante Provokation in Transnistrien fiel aus.

Die Angst ging rum zum Jahrestag des russischen Angriffskriegs in der Ukraine: Droht eine nächste Front, drüben in Transnistrien, in Moldau? Jedenfalls hatte dies das russische Verteidigungsministerium behauptet. Kyjiw plane eine bewaffnete Provokation in Transnistrien, eine False Flag Operation, die man als russischen Angriff inszenieren wolle. Ukraines Präsident Selens­ki gab direkt Entwarnung. Die Ukraine greife keine souveränen Staaten an, sagte er. „Wir respektieren die Unabhängigkeit anderer Staaten. Transnistrien ist Moldau.“ Die moldauischen Behörden riefen dazu auf, ruhig zu bleiben. Und der transnistrische „Präsident“ Wadim Krasnoselski verkündete, man wisse von keinem geplanten Angriff – sobald sich das ändere, werde Krasnoselski höchstpersönlich die Menschen im Land informieren. Nicht mal der belarussische Machthaber Lukaschenko glaubte den Mist: Dass „die Ukrainer durchdrehen“ und eine weitere Front eröffnen, halte er für unwahrscheinlich. Schließlich sei das zu ihrem Nachteil.

Ich saß mit Corona in meiner Wohnung und beobachtete fiebrig, wie deutsche Medien auf diese Nachricht angesprungen waren. Klickt sich halt gut. Was auffiel: wenige fundierte Einordnungen oder Wissen über die tatsächlichen Verhältnisse in Transnistrien, geschweige denn die Lage in Moldau.

Russlands Strategie war also aufgegangen. Während Transnistrien die Aufmerksamkeit hat, ist in der Hauptstadt Chișinău die Destabilisierung des Landes, ein Baustein russischer hybrider Kriegsführung, in vollem Gange. In Moldau ist diese Form der Einflussnahme ein alter Bekannter. Dabei nutzt Russland die sowieso vorhandenen innenpolitischen Kämpfe und Probleme Moldaus aus, da muss es gar nicht viel mehr tun als sich zurücklehnen und zusehen.

Die Interessen pro-russischer politischer Kräfte in Moldau überschneiden sich praktischerweise mit denen Russlands. Erstere, allen voran die Șor-Partei, deren Anführer Ilan Șor zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, weil er beim größten Korruptionsskandal des Landes 2014 rund eine Milliarde US-Dollar aus den drei größten moldauischen Banken verschwinden ließ, ein Oligarch auf der Flucht, der sich in Israel versteckt, will die Macht zurückerlangen – oder einfach nur dem Gefängnis entgehen. Die Șor-Partei versucht mit aller Kraft, die Bemühungen der pro-westlichen Regierung gegen Korruption im Land zu torpedieren. Tja, und Russland will genau diese Regierung geschwächt sehen. Da haben sich also zwei gefunden.

Es gibt Faktoren, die sind viel gefährlicher als 1.500 verarmte und unmotivierte russisch-transnistrische Soldaten. Moldau hat mit zahlreichen Krisen gleichzeitig zu kämpfen: energiepolitisch (weil lange Zeit abhängig von russischem Gas), wirtschaftlich (hohe Inflation), gesellschaftlich (Proteste).

Seit Monaten ruft die Șor-Partei zu Protesten auf, lässt Demonstranten bezahlen, aus dem ganzen Land in Bussen ankarren und nutzt die Armut dieser Menschen für ihre politischen Zwecke aus. Erst diese Woche fanden die größten Proteste seit Langem statt. Die Demonstranten riefen „Nein zum Krieg“ und „Nieder mit Maia Sandu“. Sie trugen Friedenstauben aus Papier, die später im Müll landeten.

Quelle       :          TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —    Leichen werden vom Sonder­kommando verbrannt, fotografiert von Alberto Errera, August 1944

Häftlinge des Sonderkommandos in Auschwitz beim Verbrennen von Leichen. Heimlich aufgenommenes Foto des Widerstandes – wahrscheinlich von „Alex“, einem jüdisch-griechischen Häftling des Sonderkommandos.

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Unten        —         Peace dove, Conversion of Dove peace.png

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Eine Kriegs-Erklärung

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Februar 2023

Abweichende Bemerkungen zur Weltlage

Kriegserklärung Erster Weltkrieg.jpg

So –  wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      : Renate Dillmann

Seit dem 24.2.2022 führt Russland Krieg in der Ukraine. Seitdem sind viele Menschen ums Leben gekommen – Menschen mit russischer oder mit ukrainischer Staatsangehörigkeit, Zivilisten und vor allem Soldaten. Warum gibt es diesen Krieg? Wofür sind diese Menschen gestorben?

Vermutlich wird am Jahrestag des Kriegsbeginns in den Mainstream-Medien erneut mit ausgestrecktem Zeigefinger auf „Putin“ als den alleinigen Verantwortlichen gedeutet. Einen Schuldigen zu benennen ist allerdings alles andere als eine Erklärung zu liefern.Das soll im Folgenden versucht werden. Dazu sind einige grundsätzliche Überlegungen zur modernen Staatenkonkurrenz nötig – ebenso wie eine Betrachtung des konkreten Falls.

Kapitalismus, Staatenkonkurrenz und Krieg

Moderne Staaten leben nicht davon, fremde Territorien zu erobern, sondern davon, ein möglichst grosses Wirtschaftswachstum zustande zu bringen. Ihre Aussen- und Geopolitik bezieht sich deshalb im Prinzip gleich auf die gesamte Welt. Insbesondere für die erfolgreichen und wichtigen Staaten gilt: Kein Stückchen Erde ist für sie uninteressant, keine Insel, keine Schifffahrtspassage, kein Punkt im erdnahen Weltraum wird ausser Acht gelassen – einen Standpunkt des „Geht uns nichts an“ gibt es in ihrer Aussenpolitik einfach nicht.

Seit 1990 kann man von einer weltweit gültigen Geschäftsordnung sprechen: Im Prinzip herrscht freier Austausch von Waren und Kapital auf dem gesamten Globus und in ihrer Souveränität anerkannte Nationalstaaten konkurrieren untereinander um den Nutzen aus diesem globalen Geschäft. Im Völkerrecht haben sie sich dazu verpflichtet, ihre „internationalen Streitigkeiten“ (von deren Fortexistenz also ausgegangen wird) nach Möglichkeit friedlich auszutragen bzw. die Vereinten Nationen über die erforderlichen Massnahmen entscheiden zu lassen. Diese „Ordnung“ der Welt im Geist weltweit freier kapitalistischer Konkurrenz ist einerseits das Resultat der Entkolonialisierung, die die USA noch zusammen mit der Sowjetunion gegenüber den ehemaligen Kolonialstaaten, insbesondere England und Frankreich, durchgesetzt haben. Und sie ist das Resultat des Kalten Kriegs, an dessen Ende sich der „totgerüstete“ kommunistische Ostblock selbst aufgelöst hat.

Das Ende des Kalten Kriegs – den westlichen Bevölkerungen wurde stets die Existenz des kommunistischen Störenfrieds als Grund für den Unfrieden auf der Welt genannt – hat allerdings nicht für ein Ende des weltweiten Aufrüstens gesorgt, schon gar nicht bei den Nato-Staaten, die ihr Militärbündnis nach der Auflösung des Warschauer Pakts keineswegs ad acta gelegt haben. Das ist auch kein Wunder. Die nun „endlich“ weltweit geltende Geschäftsordnung, die ihrerseits Resultat gewaltsamer Auseinandersetzungen ist, bringt aus sich heraus permanent harte Gegensätze zwischen den Staaten zustande und ist kein Verhältnis wechselseitigen Vorteils, keine win-win-Situation, wie gerne behauptet wird. Handel und Kapitalverkehr zwischen kapitalistischen Nationen dienen schliesslich dazu, dass sich aneinander bereichert wird. Auch wenn es Phasen gibt, in denen davon geschwärmt wird, dass Handels- und Investitionsverträge allen Beteiligten von Nutzen sind und es für alle aufwärts geht – letztendlich werden die Erfolge eines Landes auf Kosten eines anderen errungen; das zeigt sich spätestens auf der Ebene der Konkurrenz der Währungen.

Die Klagen westlicher Politiker und Journalisten darüber, dass China einen ungeheuren Aufstieg als Wirtschaftsnation hinlegt, bieten übrigens ein gutes Beispiel. Während ja ansonsten gerne lauthals betont wird, dass die Entwicklungsländer sich durch Teilnahme am Weltmarkt aus ihrer Lage herausarbeiten sollen, um so Hunger und Unterentwicklung hinter sich zu lassen, ist de facto kein westliches Land froh darüber, dass China – früher einmal das „grösste Entwicklungsland der Welt“ – genau das geschafft hat und zu den führenden Staaten dieser Erde aufsteigt. Die Befürchtungen über die weiteren Konsequenzen von Chinas neuen Fähigkeiten, die jede Woche lauter werden, zeigen ziemlich deutlich: Deren Erfolg nimmt „uns“ (der BRD, den USA usw.) etwas weg, geht auf „unsere“ Kosten.

Geostrategische Konkurrenz: ohne absichernde Gewalt kein erfolgreiches Geschäft

Schon an den internationalen Absprachen, die dem Handeln der Unternehmer vorausgehen, ist ersichtlich, dass das länderübergreifende und weltumspannende Geschäft nicht ohne Gewalt auskommt. Staatliche Souveräne zwingen sich wechselweise zur Anerkennung ihrer Existenz und handeln – unter Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Erpressungsmittel – die Bedingungen des globalen Geldverdienens aus: Das ist die schöne „regelbasierte Weltordnung“, die nach Ansicht der USA unbedingt gegen Angriffe geschützt werden muss, so der US-Verteidigungsminister Esper auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020. Wenn auf dieser Basis „friedlich“ gehandelt wird, macht das das Schiessen natürlich keineswegs überflüssig. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hat diesen Zusammenhang im Mai 2010 in einem Interview mit dem Deutschlandradio ausgesprochen:

„Meine Einschätzung ist aber, dass wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Grösse mit dieser Aussenhandelsorientierung und damit auch Aussenhandelsabhängigkeit wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg. […] Es wird wieder Todesfälle geben. […] Man muss auch um diesen Preis am Ende seine Interessen wahren. […]“

Während Horst Köhler für seine Bemerkungen im Jahr 2010 als Bundespräsident noch zurücktreten musste, sind seine Gedanken inzwischen (wenn vielleicht auch noch nicht ganz in „der Breite der Gesellschaft“, so doch) an ihrer Spitze angekommen. Die Verantwortlichen für die deutsche Sicherheitspolitik sprachen die Verknüpfung von aussenwirtschaftlichen Interessen der Nation und militärischen Sicherheitsfragen schon lange vor der „Zeitenwende“ von Olaf Scholz offen aus. „Wohlstand und Volkseinkommen sind in Deutschland in hohem Masse abhängig von funktionierenden Rahmenbedingungen – in Europa und in der Welt. Deutschland ist eng in internationale Handels- und Investitionsströme eingebunden. Unser Land ist in besonderem Masse auf gesicherte Versorgungswege, stabile Märkte sowie funktionierende Informations- und Kommunikationssysteme angewiesen. Diese Abhängigkeit wird weiter zunehmen.“ („Weissbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ 2016)

Das deutsche Staatswesen und seine wirtschaftlichen Interessen brauchen eine Armee, die überall auf der Welt die „Verantwortung“ für funktionierende Rahmenbedingungen übernehmen muss. Dass das „Weissbuch“ Deutschlands weltweite Gewinninteressen dabei als „Abhängigkeiten“ fasst, mag logisch etwas zweifelhaft sein, ist aber die durchaus übliche Selbstdarstellung auf dem Feld der internationalen Politik. Die hat gleichzeitig den überaus schönen Effekt, dass die „Abhängigkeiten“ eines Landes und damit die Notwendigkeiten, zu intervenieren und zu „verteidigen“ umso mehr wachsen, je erfolgreicher seine Wirtschaftsunternehmen auf dieser Erde tätig sind und andere Nationen von sich abhängig gemacht. Kein Wunder also, dass sich die USA, die wirtschaftsmächtigste Nation der heutigen Welt, die mit Abstand teuerste Armee leisten, überall Stützpunkte (an die 1000 weltweit) unterhalten und meist mehrere Kriege gleichzeitig führen, während andere „Fälle“ schon (bzw. noch) mit Wirtschaftskriegen, in denen man sämtliche Wirtschaftsbeziehungen nun als Waffen nutzen kann, zur „Vernunft“ gebracht werden.

Die ganze Gewalttätigkeit und Aggressivität der heutigen Weltordnung ist eben nicht – wie es in der Presse oft dargestellt wird – Ausdruck egomanischer, durchgeknallter Politiker. Sie ist vielmehr Ausdruck dessen, in welchem Umfang unversöhnliche Gegensätze die Wirtschaftsinteressen kapitalistischer Staaten bestimmen – also von Akteuren, die alle dasselbe wollen, nämlich Geld aneinander verdienen und sich dabei mit ihren Interessen unvermeidlich in die Quere kommen.

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Die „regelbasierte Weltordnung“ und ihre Störenfriede Dass eine solche Welt ständig „geordnet“ werden muss, ist also kein Wunder. Und ebenso wenig, dass die ständige (Wieder-)Herstellung dieser Ordnung das Werk der Macht ist, die erstens von der weltweiten Konkurrenz ökonomisch am meisten profitiert, weil sie mit ihrem Dollar bei fast jedem Geschäft mit-verdient und die zweitens dank ihrer überlegenen Militärmacht in der Lage ist, die Durchsetzung der Gleichung von Recht und US-amerikanischem Nutzen zu erzwingen. Für die USA, die sich diese globale Geschäftsordnung in zwei Weltkriegen und einem Kalten Krieg erkämpft hat, stellen Störungen der für sie sinnreich eingerichteten Ordnung ein absolutes Ärgernis dar.

  • Ein solcher Störfall liegt vor, wenn ein Rohstoff-reiches Land seine Bodenschätze dem Zugriff us-amerikanischer kapitalkräftiger Konzerne entreisst und unter nationale Regie stellt, um mehr beim Verkauf zu verdienen und davon nationale Entwicklungsprojekte zu fördern. Die Liste der deshalb von Wirtschaftskriegen, Putschs oder regelrechten Kriegen betroffenen Länder ist lang (Iran 1953, Guatemala 1954, Chile 1973, Irak 2003, Libyen 2011); dazu kommen einige gescheiterte oder noch nicht beendete Versuche in Venezuela, Bolivien, schon wieder der Iran …
  • Dass Staaten der Konkurrenz auf dem Weltmarkt nicht gewachsen sind und darüber ruiniert werden, kann vom Standpunkt der Weltmacht weitere Eingriffe nötig machen. Negative, zerstörerische Resultate – das Verhungern des Volks, seine massenhafte Flucht, der Zusammenbruch von Währung und Staatsgewalt – sind vor Ort hinzunehmen, ohne dass sich dagegen gewehrt werden soll. Das zu erzwingen, gehört zur „Verantwortung“, die die führenden kapitalistischen Nationen für die Geschäftsordnung übernehmen, die ihnen nutzt.
  • In Afghanistan, einem für das weltweite Geschäft eher unbedeutenden Land, haben die USA mit ihrem „war on terror“ exemplarisch gezeigt, was passiert, wenn man Feinde der USA und ihrer Weltordnung unterstützt (Feinde, die sie übrigens selbst als Mittel im Kampf gegen die Sowjetunion ausgerüstet hatten).

Die wichtigste Art von Störfällen, zumindest aus us-amerikanischer Sicht, ist allerdings anderer Natur. Es sind selbstverständlich die Staaten, denen es als Teilnehmer in dieser Weltordnung gelungen ist, zu ernsthaften Konkurrenten der amerikanischen Hegemonie zu werden.

Deutscheuropa, Russland und China

Da ist erstens das EU-Projekt. Dessen ökonomische Führungsmacht Deutschland hat ihren wirtschaftlichen (Wieder-)Aufstieg nach dem 2. Weltkrieg zwar bisher im Bündnis mit und untergeordnet unter die USA vollzogen. Für die USA waren die europäischen Nato-Partner und die BRD als Frontstaat unverzichtbar beim Niederringen der UdSSR, von dem Deutschland mit dem Zugewinn an Volk, Territorium und Macht in besonderer Weise profitiert hat. Mit ihrem Binnenmarkt, einer Gemeinschaftswährung, die dem Dollar Konkurrenz macht, und ihrer Ausdehnung ist die EU allerdings inzwischen zu einem Staatenbündnis geworden, dessen Entwicklung in Washington mit wachsendem Misstrauen betrachtet wird. Die amerikanischen Think-tanks haben praktisch in den letzten Jahren einiges initiiert, um das Euro/EU-Projekt zu stören – von den US-hörigen Osteuropäern bis zur Förderung des englischen Brexits.

Da ist zweitens Russland, dessen aus westlicher Sicht wunderbarer ökonomischer Ausverkauf und staatlicher Zerfallsprozess unter Jelzin von seinem Nachfolger Putin gestoppt wurde. Unter dessen Präsidentschaft hat sich das Land ökonomisch und politisch konsolidiert – wenn es im Aussenhandel auch vor allem vom Verkauf seiner Rohstoffe und Waffen lebt. Auch wenn Russland damit kein ernsthafter ökonomischer Konkurrent der USA ist, betreibt es heute (erneut) eine aktive Aussenpolitik, die den westlichen Interessen an einigen Stellen der Welt in die Quere kommt – in Zentralasien (den Ex-Sowjetrepubliken), in Syrien, in Libyen, in Mali. Vor allem aber stösst den USA unangenehm auf, dass das Land aus Sowjetzeiten über eine Atomstreitmacht verfügt, die ihrer eigenen gewachsen ist, und das in diesem Sinne tatsächlich souverän (= militärisch nicht ohne weiteres erpressbar) ist.

Da ist drittens und vor allem das kapitalistisch gewendete China als neu aufsteigende ökonomische wie politische Grossmacht. Dieses Land wird aufgrund von Grösse und Bevölkerungszahl die USA in absehbarer Zeit als wichtigste kapitalistische Macht auf dem Globus ablösen. Und es bezieht mit seinen aussenwirtschaftlichen Initiativen in Asien, Afrika und Südamerika, inzwischen auch in Zentralasien und Südeuropa (Stichwort: Neue Seidenstrasse), viele Staaten mit Geschäfts- und Kreditangeboten auf sich und arbeitet damit aktiv an einer „multipolaren Weltordnung“. Das setzt allerdings voraus, dass seine Entwicklung zur kapitalistischen Grossmacht ungestört weiter verläuft, was die USA deshalb mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, ökonomisch wie politisch. Gegen diese Rivalen verteidigen die USA zurzeit ihre bisherige Sonderstellung als Welt- und Weltordnungsmacht: Eine zweite Macht auf Augenhöhe dulden sie in ihrer Weltordnung, die sie schliesslich zu ihrem Nutzen eingerichtet haben, erklärtermassen schlicht nicht. Nebenbemerkung: Man kann hier erneut sehen, ein wie anspruchsvolles (um nicht zu sagen „aggressives“) Ziel „Verteidigung“ ist… Die Mittel, die sie dafür einsetzen, reichen von ökonomischen bis zu politisch-militärischen. Sie greifen zentrale Momente an, aus denen diesen Staaten ihre Macht beziehen: den chinesischen Warenhandel, den russischen Rohstoffexport, die deutsch-russischen Energie- und sonstigen Geschäfte – und sie zögern nicht, dafür wesentliche Momente ihres „freien Welthandels“ zu instrumentalisieren oder ausser Kraft zu setzen (aggressive Schutzzollpolitik, Kampf gegen wichtige ausländische Unternehmen wie VW und Huawei). Sie bedrohen Russland und China mit ihren Allianzen (Nato, Aukus) und sie versuchen, sich das deutsche Europa dauerhaft unterzuordnen bzw. es durch die neuen Nato- und EU-Staaten Osteuropas zu spalten. Kein Wunder, dass sie dabei auf Widerstand treffen – auch ihre Konkurrenten „verteidigen“ sich dabei selbstverständlich nur: ihre besonderen ökonomischen Interessen wie ihren Willen zum Aufstieg nämlich.

Nicht nur Russland will den Ukraine-Krieg

Russland wehrt sich mit dem Krieg in der Ukraine, der übrigens ebenso völkerrechtswidrig ist wie der Nato-Krieg in Jugoslawien, der Afghanistan- und der Irak-Krieg, gegen eine weitere Ost-Ausdehnung der Nato. Putin hatte zuvor in unzähligen diplomatischen Initiativen Respekt für die russischen Sicherheitsinteressen verlangt, die ein weiteres Heranrücken westlicher Armeen und Raketenbasen und ein Infragestellung der russischen Schwarzmeer-Flotte nicht erlauben – ein Verlangen, dessen Berechtigung von einigen westlichen Militärs durchaus begriffen wird, wie die Stellungnahmen von Harald Kujat, Erich Vad und Jacques Baud belegen. Nachdem die westlichen Staaten darauf nicht eingegangen sind und eine Nato-Mitgliedschaft der seit 2014 massiv mit westlichen Waffen aufgerüsteten Ukraine kurz bevorstand, hat Putin den laufenden Krieg begonnen – als „militärische Spezialoperation“, d.h. mit angekündigt begrenzter Reichweite und Dauer. Heute besteht das unmittelbare russische Kriegsziel wohl in der Sicherung der Donbass-Republiken sowie der Krim und der dort stationierten Schwarzmeer-Flotte.

Wenn Russland sich damit durchsetzen könnte, wäre das allerdings – auf einer höheren Ebene – gleichzeitig ein Durchbrechen des Weltgewaltmonopols, wie es die USA für sich in Anspruch nehmen: Nur sie dürfen ungestraft Krieg führen auf der Welt und nur sie erlauben anderen Staaten, so etwas ungestraft zu tun. Nur sie dürfen Grenzen verschieben, Separatisten ins Recht setzen oder verbieten.

Insofern stellt dieser Krieg in der Tat einen Anschlag auf die geltende unipolare Weltordnung dar – ein Grund dafür, dass ihn viele Länder insbesondere aus dem globalen Süden keineswegs verurteilen und sich auch nicht an den geforderten Wirtschaftssanktionen beteiligen, die ihre miserable Lage in der Weltmarktkonkurrenz noch weiter verschlechtern würden.

Die USA nutzen diesen Krieg gleich mehrfach. Sie schädigen Russland durch einen Stellvertreterkrieg auf dem Territorium der Ukraine und „bis zum letzten Ukrainer“ militärisch massiv. Durch den parallel geführten (und ebenfalls völkerrechtswidrigen) Wirtschaftskrieg versuchen sie, die ökonomischen Grundlagen Russlands zu attackieren – den Handel mit Öl, Gas und Waffen.

Sie schlagen ihrem guten „Freund und Alliierten“ Deutschland seine bislang vorteilhafte Energie-Versorgung mittels russischem Öl und Gas aus der Hand, schrecken dabei auch vor staatsterroristischen Akten nicht zurück und verderben ihm – aus ihrer Sicht möglichst dauerhaft – sein Russland-Geschäft sowie seine (zeitweise) guten diplomatischen Beziehungen zu Moskau, die ihm auch eine gewisse Distanz zur verlangten Unterordnung unter die US-Politik erlaubt haben. Sie stellen ihren Hauptrivalen China vor die Gretchenfrage, ob es dem neuen „Paria“ der Weltordnung weiter die Stange halten will und dafür erneut ökonomische Boykott-Massnahmen riskiert. Das in den letzten Jahren zustande gekommene Bündnis zwischen China, dem wichtigsten ökonomischen Rivalen, und Russland, dem wichtigsten militärischen, war nämlich aus US-Sicht untragbar – ebenso übrigens, wie es ein „eurasischer Wirtschaftsraum“ gewesen wäre, in dem die EU und Russland friedlich-produktive Beziehungen entwickelt hätten.

Die einzige Einschränkung dieser Kriegspolitik, die zurzeit scheinbar ohne jede Furcht vor einer nuklearen Eskalation eine „rote Linie“ nach der anderen überschreitet, stellt bei US-Militärs und -Medien die Frage dar, ob die an und für sich nützliche Schädigung Russlands nicht zu viele Mittel bindet. Eigentlich werden die ja für Wichtigeres gebraucht und China soll nicht schon wieder Nutzniesser einer weiteren Krise sein.

Grossbritannien nimmt den Ukraine-Krieg als Chance, sich durch seine forsche militärische Unterstützung der Kiewer Regierung (die auch die Verhinderung eines „zu frühen“ Friedensschlusses mit den Russen durch Boris Johnson einschloss) als die wirkliche europäische Führungsmacht jenseits der EU in Szene zu setzen – so etwa nach dem Motto: Ein potentes Militär hat das alte Empire immer noch und kann durch diese Machtentfaltung das „deutsche Europa“, mit dem London seit dem Brexit in einer neuen Konkurrenz steht, möglicherweise im seinem Sinne neu ordnen. Kein Wunder, dass dabei erneut die alten Bündnislinien (mit Polen gegen Deutschland) zum Zug kommen.

Die aufstrebende Grossmacht EU und ihre deutsche Führungsmacht wollen nicht hinnehmen, dass Russland sich seiner weiteren Einkreisung entgegenstellt und sich herausnimmt, dafür Gewaltmittel einzusetzen. Das ist der Kern von Baerbocks Behauptung, man sei in einer „neuen Welt“ aufgewacht, in der wieder Krieg in Europa geführt werde. „Krieg in Europa“ gab es selbstverständlich auch schon vorher wieder – ob in Nordirland oder Jugoslawien, nur wurde er da von den „richtigen“ Mächten geführt. Russland dagegen soll das nicht erlaubt sein; ihm steht das Recht auf Kriegführen auf diesem Kontinent nicht zu. Deshalb „muss“ das Land in seine Schranken gewiesen werden.

Insofern will die EU, will Deutschland diesen Krieg – als erfolgreiche Verteidigung der Ukraine gegen Russland, an deren Ende ein russisches Staatswesen stehen soll, das nicht mehr in der Lage ist, Krieg zu führen und das dann idealiter in seine Einzelteile zerfällt. Zugleich ist das ein – weiterer – Versuch der EU wie Deutschlands, sich im Rahmen der Kriegsbeteiligung zu profilieren und von den USA zu emanzipieren.

Gleichzeitig wird innerhalb der EU die sowieso schon immer vorhandene Konkurrenz darum, wer in ihr das Sagen hat, an einem neuen Gegenstand ausgetragen: Wer macht Russland am entschiedensten, forschesten und rücksichtslosesten fertig? lautet der neue innereuropäische Wettbewerb. (Nebenbemerkung: Es ist doch aufschlussreich, was eine „Führungsmacht“ in der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten EU ausmacht!)

Das hat Folgen. Wie schon gesagt, schaden die Wirtschaftssanktionen Deutschland am meisten, weil es die profitabelsten Beziehungen zu Russland unterhielt (s.o.). Es musste im Zuge der westlichen Wirtschaftssanktionen den Zugriff auf die günstigen russischen Energielieferungen ebenso aufgeben wie einen Grossteil seines Russland-Geschäfts. Dass es sich die Sprengung der Nordstream-Pipeline durch seine Verbündeten bieten lassen muss, sorgt sicher nicht nur in Washington für Freude, sondern auch bei den EU-Partnern, vor allem in Warschau, das diese Pipeline immer aufs Schärfste bekämpft hatte. Militärisch liefert Deutschland massiv – und gleichzeitig steht die deutsche Regierung angesichts der stetigen Forderungen der osteuropäischen Staaten als ewiger „Zauderer“ da, der an „Führungskraft“ verliert. Aktuell versucht die deutsche Politik zwar, diesen Eindruck wieder umzudrehen angesichts dessen, dass nach dem vorherigen lauten Getöse inzwischen nur noch Deutschland Panzer zu liefern scheint. Es scheint allerdings fraglich, was damit aus der deutschen Kalkulation, sich keineswegs auf „gefährliche Alleingänge“ einzulassen, geworden ist.

Polen jedenfalls sieht sich, wie die Tagesschau bestürzt feststellt, inzwischen als das neue „Gravitationszentrum“ Europas, das gemeinsam mit den Balten die Eskalation gegen Russland vorantreibt. Und selbstverständlich ist sich auch Frankreich wieder schuldig, als stärkste Militärmacht der EU aufzutreten, an die eigene atomare Streitmacht zu erinnern und Selensky mit französischem Militärgerät zu beliefern…

Nicht zuletzt will die Ukraine selbst diesen Krieg. Zwar wird von diesem Land und seinen Bewohnern vermutlich nicht viel übrig bleiben, wenn es so weitergeht. Das hindert seine politische Führung allerdings überhaupt nicht, immer weitere „schwere Waffen“ zu fordern und Verhandlungen vor einem „Siegfrieden“ auszuschliessen, der, Stand heute, auch die Rückeroberung der Krim beinhalten soll (womit Russlands Schwarzmeerflotte und sein Zugang zum Mittelmeer attackiert wird).

Dieses Land führt hier eine Art verspäteten Staatsgründungskrieg gegen Russland – und dafür ist offenbar kein Opfer zu hoch. Das Leben der eigenen Bevölkerung ist jedenfalls nicht der Massstab, an dem Selensky seine Kriegsstrategie ausrichtet – und das russischer Soldaten und Bürger sowieso nicht, denn Russen hat „unser Held“ in Kiew längst zu einer Art von Untermenschen erklärt. Natürlich ist damit auch ein hartes Ausgrenzungs- oder Unterordnungsprogramm gegenüber den 30 Prozent ethnischer Russen in der ukrainischen Bevölkerung auf der Tagesordnung. Russische Sprache, russische Literatur und Musik wurden im letzten Jahr als kulturelle Waffen des Feindes ebenso verboten wie elf Oppositionsparteien (die Kommunistische Partei hatte es schon 2015 erwischt). Die Medien sind gleichgeschaltet; viele Kritiker der Regierung und des Maidan-Putsches von 2014 verhaftet. Dass fast die Hälfte der Bevölkerung die „ukrainische Heimat“ inzwischen verlassen hat, stört nicht, auch wenn nach der inzwischen siebten Mobilisierung (Männer bis 60 Jahre) das menschliche Material knapp wird. Denn die Mittel für diesen Krieg bezieht das ukrainische Militär aus der westlichen Waffenhilfe. Die eigene Bevölkerung und die eigene Wirtschaft sind als Basis der staatlichen Ansprüche wesentlich weniger ertragreich. Also muss sich die Ukraine mit ihrem Krieg vor allem weiterhin für die westlichen Staaten interessant machen: So viel Milliarden Dollar und so viel weltweite Aufmerksamkeit würde sie ohne den Gegner Russland jedenfalls nie bekommen.

Fazit

Der jetzt seit einem Jahr laufende Krieg in der Ukraine ist kein singulärer russischer Verstoss gegen das Völkerrecht, wie er von Seiten westlicher Regierungen und der Mainstream-Medien behauptet wird. Völkerrechtsverstösse dieser Art haben „westliche Staaten“ und ihre Verbündeten in den letzten dreissig Jahren in grosser Zahl begangen. Er ist auch kein Anschlag auf ein Prinzip namens Weltfrieden, das angeblich allen Staaten dieser Welt am Herzen liegt. Und er ist, wenn es noch zur Eskalation oder gar zum Nuklearkrieg kommt, auch kein tragischer Prozess, in den die Beteiligten wieder einmal „schlafgewandelt“ sind.

Nein, die Gründe für diesen Krieg, die beteiligten Staaten und die Strategien ihrer Regierungen liegen in der von den USA nach dem 2. Weltkrieg durchgesetzten „regelbasierten Weltordnung“ selbst.

Die Regel dieser Ordnung besteht darin, dass auf der ganzen Welt freier Handel und Kapitalverkehr zwischen souveränen Staaten stattfindet. Diese Konkurrenz um den Nutzen aus dem weltweit stattfindenden Geschäft enthält in sich notwendig die harten Gegensätze, die sämtliche Staaten dazu veranlassen, ihre ökonomische Konkurrenz bereits im Frieden (!) durch eine geostrategische zu ergänzen und dafür prophylaktisch nach Kräften aufzurüsten.

Im laufenden Krieg kämpfen Russland, die USA, Grossbritannien, das deutsche Europa mit all seinen inneren Widersprüchen und die Ukraine selbst um ihre Stellung in der internationalen Konkurrenz der Staaten – so etwas geht letzten Endes nicht anders als mit Krieg.

Dafür sterben die ukrainischen Soldaten, die russischen Soldaten und die betroffenen Zivilisten in der Ukraine. Und dafür werden die Menschen in allen beteiligten Kriegsparteien in Haftung genommen.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —   Erklärung des Kriegszustandes des Deutschen Kaiserreiches am 31 Juli 1914, der Beginn des Ersten Weltkrieges. Unterzeichnet von Kaiser Wilhelm II. im Neuen Palais in Potsdam. Gegengezeichnet vom Reichkanzler Bethmann-Hollweg.

Emblem of the Ministry of Defence of Ukraine.svg
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Unten        —      Авдеевка после обстрелов. Фото: ФБ Вячеслав Аброськин

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Krieg und Frieden im Land

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Februar 2023

„Alles ein bisschen schizo“

Von Josef-Otto Freudenreich

Es gibt Menschen, die nicht an Panzer als Friedensbringer glauben. Sie finden sich auf der Ostalb und in einem kleinen Ort bei Tübingen, in der SPD und sogar bei den Grünen.

Ein Oberstleutnant aus Hamburg spricht auf einer Friedensmatinee in Aalen, zu der Leni Breymaier, eine linke Sozialdemokratin, Markenzeichen rote Brille, in die Räume der IG Metall einlädt. Eine gewagte Kombination, weil, was soll ein Soldat sagen, über dessen Kasernentor stand: Si vis pacem para bellum. Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.

Falko Droßmann, 49, Drei-Tage-Bart, sauber gezogener Scheitel, sagt: „Schauen Sie sich doch mal die Sponsorenliste der Münchner Sicherheitskonferenz an.“ Anfänglich hieß sie „internationale Wehrkunde-Begegnung“, womit ihr Zweck klarer definiert war. Und tatsächlich, dort trifft sich die Creme der Rüstungsindustrie: Lockheed Martin, Airbus, Rheinmetall aus dem Wahlkreis von Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Krauss-Maffei, Hensoldt, dazu noch Datensammler wie Google und Palantir, aber auch Goldman Sachs und die EnBW. Alles Profiteure eines langen Krieges, betont der Offizier. Die Spannung im Saal steigt.

Kurzer Ortswechsel. Am selben Tag verkündet in München Ursula von der Leyen, CDU, die Präsidentin der EU-Kommission, sie dächten daran, der Rüstungsindustrie subventionsmäßig unter die Arme zu greifen. Ähnlich wie der Pharmaindustrie zu Coronazeiten, als die Impfstoffe knapp waren. Dem Militär mangelt es derzeit an Munition, weniger an Geld. Laut Friedensforschungsinstitut Sipri sind die Rüstungsausgaben 2022 auf einem Rekordhoch angekommen: Spitzenreiter sind die USA mit 801 Milliarden Dollar, gefolgt von China mit 293 Milliarden, auf Platz fünf rangiert Russland mit 66 Milliarden Dollar, Rang sieben belegt Deutschland mit 52 Milliarden Euro.

Ein Offizier warnt vor der „Banalisierung“ des Kriegs

In Aalen überrascht der Gast aus Hamburg das Publikum mit der Bemerkung, es werde nicht glauben, „wie viele Unternehmer schon bei mir angeklopft haben“. Wegen künftiger Bauaufträge in der Ukraine.

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass der Oberstleutnant seinen Beruf gewechselt hat. Er ist heute Politiker und sitzt seit 2021 für die SPD im Bundestag, dort im Verteidigungsausschuss. Und dennoch: Hier rührt keiner die Kriegstrommel, wie so viele in Medien und Politik, hier warnt einer vor der „Banalisierung“ des Krieges, vor einem leichtfertigen Umgang mit dessen Rhetorik, die Panzern Tiernamen gibt, den Tatbestand verschleiernd, dass sie Tötungsmaschinen sind. Der Oberstleutnant hat viele Auslandseinsätze hinter sich und wünschte sich, dass alle, die nach mehr Waffen riefen, einmal schauten, was sie anrichten. Außenministerin Annalena Baerbock, Grüne, gilt dabei sein besonderes Augenmerk.

Diese Überbietungsspirale, befeuert durch eine publizistische Begleitung, die Bellizisten für klug und Pazifisten für dumm hält, sei „schwer auszuhalten“, sagt Droßmann und verweist auf einen, der sich dieser Dichotomie zu entziehen versuche: Olaf Scholz. Der Kanzler sei noch der einzige, der mit Putin telefoniere, vielleicht noch Frankreichs Präsident Macron, betont er, auch im Hinblick auf die Zukunft. Deutschland müsse der „Motor einer Zusammenarbeit“ mit Russland sein – nach dem Krieg. Das hat die SPD einst Entspannungspolitik genannt.

Im Krieg geboren, im Krieg sterben? Nein!

Droßmann trifft den Nerv seines Publikums. Es will verhandeln, einen Waffenstillstand, den Krieg stoppen. Helmut Schmidt wird zitiert: „Lieber 100 Stunden verhandeln, als eine Sekunde schießen.“ Wie das heute geht, wer mit wem, zu welchem Preis, das weiß auch auf der Ostalb niemand genau, zumindest nicht hier unterm Dach der IG Metall, die den Frieden in ihrer Satzung hat, aber auch genau auf die Arbeitsplätze in den Waffenschmieden schaut. Die einstige Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ hat es nicht zur Produktionsreife gebracht.

Der Älteste im Saal drückt aus, worum es letztlich geht. „Ich bin im Krieg geboren und will im Krieg nicht sterben“, sagt Alfred Geisel, und je länger er redet, um so eindringlicher wird seine Stimme. Er habe die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg durchlitten, erzählt der 91-Jährige, erlebe heute, was er nicht für möglich gehalten habe, diesen „irrsinnigen Krieg“ in der Ukraine, der ihm wieder schlaflose Nächte bereite, und man rede nicht mehr über Diplomatie, nur noch über Panzer. Dieser „Wahnsinn“ müsse beendet werden, und zwar sofort. Was ist überzeugender? Sein persönliches Erleben oder die Analysen der Sofa-Strategen, die Putin zu Verhandlungen bomben wollen?

Brandt with Richard Nixon, 1971

Geisel war viele Jahre eine wichtige Figur in der Landespolitik. (Seine Tochter Sofie übrigens OB-Kandidatin in Tübingen anno 2022 gegen Boris Palmer.) Von 1972 bis 1996 saß er als SPD-Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag, 16 Jahre davon als Vizepräsident. Es war auch die Zeit der sozialliberalen Koalition und der Neuen Ostpolitik, die sich einen Wandel durch Annäherung auf die Fahnen geschrieben hatte, erkennend, dass Alles oder Nichts keine Option mehr war.

In Ellwangen war Willy Brandt ein Verräter

Auf der stockkonservativen Ostalb hat der Erkenntnisprozess länger gedauert. Im Juni 1973 stand Geisel vor dem Ellwanger Bahnhof, zusammen mit Willy Brandt, der das Kinderdorf „Marienpflege“ besuchen wollte. Statt einer Abordnung örtlicher Honoratioren und des Blasmusikvereins empfing sie ein Trupp junger Unionisten („Brandt an die Wand“), die den Kanzler als vaterlandslosen Gesellen und Verräter beschimpfte. Seitdem weiß Geisel, wie schwierig die Sache mit der Vernunft ist. (Ein weiteres Beispiel ist Stuttgart 21. Wegen des brutalen Wasserwerfereinsatzes am Schwarzen Donnerstag hat er 2010 seine Verdienstmedaille an der Pforte des Staatsministeriums von Stefan Mappus abgegeben.)

Quelle          :    KONTEXT: Wochenzeitung-online        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —     Ein Portrait von Leni Breymaier. Sie sitzt mit rotem Oberteil und roter Brille auf einer Bank.

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2.) von Oben     —       

Brandt with Richard Nixon, 1971

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Vom Trio der Kriegslügen

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Februar 2023

Verordnete Amnesie in Sachen neue Weltkriegslage

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Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Johannes Schillo

Die Kriegsmoral beherrscht das Feld – auch wenn es beim Patriotismus der deutschen Führungsnation kleinere Irritationen gibt.

Mit dem 24. Februar 2022, dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, soll sich die Welt komplett verändert haben. Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg soll eine ganz neue außenpolitische Lage geschaffen, ein brutaler Akt – eine Ausgeburt Putin’scher Bösartigkeit – aus heiterem Himmel die europäische Friedensordnung zerstört haben. Die deutsche Außenministerin teilte mit, dass sie an diesem Tag „in einer anderen Welt aufgewacht“ sei (tagesschau.de, 24.2.22). Auch aus der Opposition, von CSU-Weber, hieß es: „Es ist eine neue Welt, in der wir leben“ (bild.de, 24.2.22).

Der außenpolitische CDU-Experte Röttgen legte ein paar Wochen nach Kriegsbeginn unter dem Titel „Nie wieder hilflos!“ gleich sein „außen- und sicherheitspolitisches Manifest“ vor, das eingangs feststellte: „Das vor Kurzem Unvorstellbare ist geschehen: Der Krieg ist zurückgekehrt nach Europa.“ Natürlich ist dem Mann bewusst, dass es vorher schon „kriegerische Akte“ gegeben hat, auch in Europa. Aber das ändert für ihn nichts daran, dass jetzt der Grund für die „Zeitenwende“ gelegt wurde, die Kanzler Scholz wenige Tage nach Kriegsbeginn ausrief – einem Sachzwang folgend, der dem angeblich „völlig überraschten“ und „hilflosen“ Deutschland keine andere Wahl ließ.

Das Trio der Kriegslügen

Dass Kriege kein Novum für Europa sind, dass völkerrechtswidrige Kriege auch unter Führung der USA und Beteiligung von NATO-Staaten, inklusive Deutschland, stattfanden, wird dabei definitiv ausgeblendet. Und die ganze Vorgeschichte des Ukrainekriegs, zu der nicht nur die massive Aufrüstung des Westens, sondern auch ein rund achtjähriger Krieg der Kiewer Zentrale gegen abtrünnige Volksteile im Osten des Landes gehörte, darf nicht zur Sprache kommen.

Die drei zentrale Lügen – die Rückkehr des Krieges, der absolute Unrechtscharakter des Völkerrechtsverstoßes und die unmotivierte bzw. unprovozierte russische Invasion – haben dabei den Charakter einer offen angesagten Amnesie, die regelrecht gegen kritische Nachfragen und Bedenken in Stellung gebracht wird. Und die von den Medien in erstaunlicher Einmütigkeit geteilt, ja zu einem Auftrag gemacht wird, auf die so banalen wie naheliegenden skeptischen Nachfragen Acht zu geben und dabei staatstreu gegen abweichende Meinungen vorzugehen (vgl. „Was heutzutage wissenschaftlich untragbar ist“ https://overton-magazin.de/top-story/was-heutzutage-wissenschaftlich-untragbar-ist/). Die Medien können also nicht nur lügen, wie Renate Dillmann in ihrer Analyse der „Leo-Kampagne“ (https://overton-magazin.de/top-story/medien-kampagne-fuer-leos/) jüngst festhielt, sondern regelrecht als Aktivisten einer Kriegspropaganda auftreten, die den Druck einer Vierten Gewalt ins Spiel bringt und in gewisser Weise Politik macht. Merke: „Medien sind mächtiger als Bomben“ (https://www.telepolis.de/features/Wie-Krieg-in-der-Ukraine-alles-vergiftet-insbesondere-die-Wahrheit-7314062.html).

Aber die Unwahrheit zu verbreiten, bleibt in Kriegszeiten – wo bekanntlich die Wahrheit das erste Opfer der militärischen Handlungen darstellt – ihre vornehmste Aufgabe. Daher hier im Folgenden eine kurze Überprüfung der gängigen Kriegspropaganda des Westens, d.h. keine Analyse der Kriegsgründe, sondern ein Aufweis der Leichtigkeit, mit der die Volksverdummung Anno Domini 2022 neue Maßstäbe gesetzt hat.

1. Die Rückkehr des Krieges

Die Klage, dass der Krieg nach Europa zurückgekehrt sei, ist von einer derart dreisten Verlogenheit, dass selbst eifernde Aufrüstungspropagandisten wie Röttgen, sozusagen im Kleingedruckten, zugeben müssen, dass man sich, wenn man wollte, natürlich an einschlägige Militäraktionen in „unserer“ Welt erinnern könnte. Im Blick auf einen Aktivisten der ukrainische Kriegsbereitschaft wäre hier etwa die Rolle Großbritanniens im Nordirland-Konflikt zu erwähnen. Seit 100 Jahren und und in der Folge auch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die britische Armee in ihrer ehemaligen Kolonie Irland Unabängigkeitsbestrebungen brutal bekämpft, zahlreiche „Kollateralschäden“ an der Bevölkerung verursacht und Kriegsverbrechen begangen, die teilweise bis in die Gegenwart hinein einer Aufarbeitung harren. „Der Umgang mit mutmaßlichen Verbrechen durch britische Militärangehörige ist eines der heikelsten Themen des nordirischen Friedensprozesses“, schrieb vor gar nicht langer Zeit der Spiegel (spiegel.de, 11.5.21), als weitere Details zu Massakern an der Bevölkerung vor 50 Jahren – neben dem berüchtigten „Bloody Sunday“ in Derry – bekannt wurden. (Man stelle sich nur einmal vor, Putins Kriegsverbrechen würden auch erst ein halbes Jahrhundert später vor Gericht gebracht…)

Sachlich näher liegend ist natürlich der Kosovokrieg von 1999, an dem sich Deutschland beteiligte, nachdem es den Separatismus im jugoslawischen Gesamtstaat – gerade auch durch ein Vorpreschen gegenüber den (zeitweise verstimmten) europäischen Verbündeten – jahrelang befeuert und durch einen ersten Militäreinsatz in Bosnien seine Rolle als Aufsichtsmacht zur Neuordnung des Kontinents bekräftigt hatte (vgl. „Krieg in Europa“ – Ein Déjà-vu! https://www.telepolis.de/features/Krieg-in-Europa-und-ein-Deja-vu-7449344.html). Durch den Wegfall des Ostblocks hatten sich sich hier ja neue Eingriffsmöglichkeiten eröffnet, die mit diplomatischen, im Notfall aber auch militärischen Mitteln zum Erfolg geführt werden sollten. Diese von Deutscheuropa aus vorgenommene Neuordnung von Grenzen, Einflusszonen und Statuszuweisungen bildete ja auch den Ausgangspunkt für den Konflikt, den die Welt derzeit in der Ukraine erlebt. Adressiert (und mit massiver Aufrüstung wie NATO-Erweiterung fundamentiert) war dies an den postsowjetischen Staat, dem seine Zurückstufung zur „Regionalmacht“ (Obama) vorbuchstabiert werden sollte.

2. Der unverzeihliche Verstoß gegen das Völkerrecht

Wer den „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ Russlands als das absolut geltende Kriterium zur Verurteilung dieser Kriegspartei nimmt, hat wohl auch „den NATO-Krieg gegen Jugoslawien vergessen“, schreibt Georg Auernheimer. In seiner kürzlich erschienenen instruktiven Übersicht zur Genese des Ukrainekonflikts („Wie Russlands Nachbar zum Kriegsschauplatz wurde“, Verlag Hintergrund, 2023) fährt er im Blick auf Jugoslawien fort: „Damals haben 1000 Flugzeuge, darunter deutsche, zweieinhalb Monate lang Städte und Industrieanlagen bombardiert und nicht nur Infrastruktureinrichtungen, sondern auch Kulturinstitutionen und Wohneinheiten zerstört oder beschädigt“ – ein Angriff, der „völkerrechtswidrig“ war, „ebenso wie 2003 der zweite Krieg gegen den Irak, den die USA gemeinsam mit Großbritannien durchführten“.

Zu erwähnen ist in dem Zusammenhang auch, dass bei der Zerlegung Jugoslawiens, wie der Journalist Norbert Mappes-Niediek in seiner neuen, groß angelegten Studie „Krieg in Europa“ (Rowohlt Berlin, 2022) vermerkt, der damalige demokratische Senator Joe Biden Kriegstreiber an vorderster Front war. Biden forderte rasches, rücksichtsloses Zuschlagen: „Wenn ich Präsident wäre, würde ich Miloševi? einfach bombardieren… Die NATO-Verbündeten würde ich mitmachen lassen“. Von US-Seite hieß es übrigens, für eine Intervention sei ein Beschluss des UN-Sicherheitsrates „wünschenswert, aber nicht nötig“. Für Außenministerin Albright war die Zustimmung der UN aber noch nicht einmal wünschenswert, sie schrieb später in ihren Memoiren: „Wäre eine Resolution im Sicherheitsrat durchgegangen, so hätten wir einen Präzedenzfall geschaffen: nämlich dass die Nato für ihr Einschreiten die Zustimmung des Sicherheitsrates bräuchte“.

Im Fall des Irak sei hier nur noch – exemplarisch für die zahlreichen Völkerrechtsbrüche der USA – daran erinnert, dass er mit einer dreisten Lüge angekündigt wurde. Der damalige US-Außenminister Powell lieferte 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat eine Rede ab, die voller Falschinformationen über Iraks Massenvernichtungswaffen war und die man unschwer – siehe den damaligen Außenminister Fischer der BRD, die sich an dem Krieg nicht beteiligte – als schlichte Rechtfertigung eines Angriffskriegs durchschauen konnte. Später äußerte Powell, dass dies „der Schandfleck seiner Karriere“ war – „mit 300.000 toten Zivilisten in Irak“ (https://www.migazin.de/2023/02/05/der-us-schandfleck-wie-usa/?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=migletter-free_2042). So billig ist für eine Supermacht ein Bruch des Völkerrechts zu haben: bestenfalls ein paar warme Worte Jahre später…

3. Der unprovozierte „Zivilisationsbruch“

Dass der Krieg völlig überraschend über einen hilflosen Westen hereinbrach, ist genau so grotesk. Der Ukrainekrieg und seine Vorgeschichte (https://overton-magazin.de/krass-konkret/der-ukrainekrieg-und-seine-vorgeschichte/) sind ausführlich dokumentiert worden, man sehe sich etwa auf den Internetmagazinen Telepolis und Overton die Beiträge seit Anfang 2020 an, die vor dem herannahenden Krieg warnten und die die einzelnen Schritte der westlichen Kriegsvorbereitung – auch in mentaler und kultureller Hinsicht (so z.B. bei der „Massenunterhaltung für Vorkriegszeiten“ https://www.telepolis.de/features/Massenunterhaltung-fuer-Vorkriegszeiten-6303303.html) – zum Thema machten. Und das wurde seit Anfang 2022 fortgesetzt, sieh zuletzt etwa die Informationen darüber, „wie Washington die Kriegsgefahr im Zuge der Osterweiterung in Kauf nahm“ (https://www.telepolis.de/features/USA-wussten-dass-man-Russlands-rote-Linien-bei-Nato-Expansion-ueberschritt-7518151.html).

Der Außenpolitik-Experte Jörg Kronauer, Redakteur von german foreign policy, hat dazu im Frühjahr 2022 sein Buch „Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg“ (Papyrossa Köln, 2022) vorgelegt, das redaktionell bereits vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine abgeschlossen wurde und das sich in den militärstrategischen Details als zuverlässig erwies (auch wenn der Autor noch seine Hoffnung auf eine Deeskalation setzte) .

Auernheimer hat das jetzt mit seiner Veröffentlichung darüber, wie Russlands Nachbar zum Kriegsschauplatz wurde, fortgesetzt. Der Autor bietet eine ausgezeichnete Übersicht über die Fakten, die in der politischen Öffentlichkeit regelrecht unterschlagen werden. Die Empörung über den russischen Angriffskrieg – die es in dieser Form bei den NATO-Völkerrechtsverstößen oder Angriffskriegen nie gegeben hat – sei leicht zu erzeugen gewesen, so der Autor, da die meisten Menschen im Westen „nichts von den Angriffen der Ukraine auf Städte und Dörfer seit 2014 wussten, nichts wissen konnten, weil die Medien darüber nie berichtet hatten. Der Anschluss der Krim an die Russische Föderation war zur Annexion erklärt worden, ohne dass jemals in Reportagen und Berichten die Interessenlage der dortigen Bevölkerung geprüft worden wäre“.

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Das Minsler Abkommen am 11. 02. 2015

Den geopolitischen und geschichtlichen Kontext des Konflikts, Details zu den gigantischen Aufrüstungsmaßnahmen des Westens trägt Auernheimer nach; er informiert über den Putsch des Euro-Maidan und die nachfolgenden „antiterroristischen“ Operationen, mit denen das Kiewer Regime im Grunde eine ethnische Säuberung des Landes, nämlich seine Befreiung vom russischen bzw. russischsprachigen Einfluss und ein völkisch strikt abgegrenztes Nation Building durchsetzen wollte. Dazu gibt es auch Rückblicke auf die verhängnisvolle nationalistische Tradition der ukrainischen Staatsgründungsaktivisten. Eine Tradition, die im Westen meistens verharmlost wird, da sich die einstmals starken neofaschistischen Kräfte in der Ukraine nicht mehr als eigene politische Kraft formieren, sondern in den Staats- und Militärapparat integriert wurden.

Die Leistung der patriotischen Moral

Dass bei den hiesigen Produzenten und Konsumenten der öffentlichen Meinung das Ignorieren solcher Sachverhalte – deren Aufdeckung wahrlich keiner großen analytischen Anstrengung bedarf – flächendeckend gegriffen hat, ist ein bemerkenswerter Akt der Volksverdummung. Analoge Vorgänge, das sei hier nur am Rande vermerkt, kann man natürlich auch in der Öffentlichkeit der Russischen Föderation beobachten, wo zudem staatliche Zensurmaßnahmen notwendig waren, um einen (anscheinend nicht ganz linientreuen) Medienbetrieb gleichzuschalten. In Deutschland haben die Redaktionen das freiwillig erledigt…

Diese erstaunliche Geistesleistung, banale Fakten auszuklammern und damit Rätsel über die bösartigen oder irrsinnigen Absichten des gegnerischen Kriegsherren zu verfertigen, sollte man aber nicht auf fehlende intellektuelle Kapazitäten zurückführen. Hier wird vielmehr eine Gesinnungswende praktiziert, die auf einem festen geistigen Fundament gründet und die eigentlich gar nicht viel an Wende und Umstellung mit sich bringt. Dazu abschließend nur einige Hinweise.

Wenn die deutsche Außenministerin Russland jetzt einen „Bruch der Zivilisation“ vorwirft und damit „unmittelbar an den Begriff ‚Zivilisationsbruch‘ (erinnert), der oft im Zusammenhang mit dem Holocaust verwendet wird“ (taz.de, 29.11.22), dann kassiert die grüne Politikerin den Ertrag einer moralischen Veranstaltung ein, die in der BRD gerade von grüner Seite besondere Unterstützung fand: die Vergangenheitsbewältigung in Sachen NS. Man bewältigte die Nazi-Herrschaft nämlich so, dass man gegen das absolute Böse der damaligen Staatsmacher die eigene Güte herausstellte. Indem man sich zur Singularität eines Menschheitsverbrechens bekannte, hatte man den singulären Charakter seiner nationalen Läuterung unter Beweis gestellt.

Dank diesem Moralismus, der die landläufige patriotische Moral bediente und veredelte (teils auch provozierte), kann Deutschland mittlerweile mit imperialer Selbstgerechtigkeit auftrumpfen. Die Nation, die einst mit der Zivilisation brach, hat – weil sie den Fehler ihres damaligen imperialistischen Alleingangs eingesehen hat – alles Recht der Welt, andere Nationen an den Pranger zu stellen. Kurz gesagt, wie es im Overton-Magazin knapp zwei Wochen vor Kriegsbeginn hieß, Deutschland bleibt sich treu und der neue Feind der alte: Russland! (https://overton-magazin.de/krass-konkret/deutschland-bleibt-sich-treu-und-der-neue-feind-der-alte-russland/)

Alternative Optionen des Patriotismus

Es erscheint dabei wie eine Absurdität, dass gerade die grünen Friedensfreunde, die in ihrer Aufstiegsphase noch Hunderttausende zum Protest gegen die NATO-Nachrüstung mobilisierten – damit der Frontstaat BRD nicht zum atomaren Schlachtfeld mutiere –, heute wieder Panzer Richtung Russland losschicken und munter, wie in einem „Kriegsrausch“ (so der neueste Vorwurf von CSU-Söder), eskalieren, während die AfD (https://www.facebook.com/TinoAfD/posts/2967297553578498) der in Stalingrad gefallenen Soldaten gedenkt und Chrupalla dem russischen Botschafter die Hand reicht. Ja, der AfD-Chef unterschreibt sogar den Friedensappell von Schwarzer und Wagenknecht. So hat der Nationalismus der ehemaligen Friedensbewegung, der das Vaterland vor Krieg schützen wollte, heute seine Heimat bei den Rechten, die nach dem nationalen Ertrag der ganzen Eskalation fragen. Deutsche Interessen müssen für sie eben ganz „unbefangen und tabulos auch für die Außenpolitik“ an erster Stelle stehen (https://www.telepolis.de/features/Zweierlei-Nato-Kritik-Dieser-Unterschied-ist-fundamental-7519258.html).

Dass das ein „linker Protest von rechts“ (https://www.telepolis.de/features/Linker-Protest-von-rechts-7318135.html) sein soll, ist natürlich lachhaft. Die AfD ist stramm national, sie hat ja ihren Aufstieg mit einer politischen Dummheit betrieben, nämlich mit der Anklage, die von den demokratischen Gutmenschen betriebene NS-Vergangenheitsbewältigung sei ein „Schuldkult“ (Höcke u.a.), der Deutschland klein mache. Das kann jetzt jedermann als Unsinn erkennen. Mit solchen – geschichtspolitisch genau austarierten – Bekenntnissen trumpft eine Nation diplomatisch auf, weil sie Großes vorhat. Das ist der Anspruch, aus politischer Klugheit muss sie dann aber das imperialistische Kräfteverhältnis in Rechnung stellen. Die offizielle deutsche Linie beugt sich der Einsicht: Die BRD ist unter US-Ägide zur Wirtschafts- und politischen Macht aufgestiegen und wird diesen Erfolgsweg fortsetzen, um zur „Führungsmacht“ (Scholz), zur Zentralmacht“ (Klingbeil), aufzusteigen.

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Das alles geschieht also nicht zum Zweck der Unterordnung, sondern dazu, groß zu werden, es z.B. so weit zu bringen, dass niemals mehr ein Ausländer es wagt, „einen Deutschen scheel anzusehen“, wie es beim damaligen imperialistischen Aufbruch unter Kaiser Wilhelm hieß. Und auf die preußische Tradition und das nationale Selbstbewusstsein der wilhelminischen Ära ist ja die AfD, die Bismarck verehrt und sich als deutsche Soldatenpartei versteht sowie für konsequente Aufrüstung votiert, besonders stolz. Sie sieht die globalen Herausforderungen genau so wie etwa ein SPD-Außenminister Gabriel, der vor sechs Jahren auf der Münchner Sicherheitskonferenz (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9168) gegen den Trump-Kurs festhielt, „Amerika“ könne „nicht die Führungsmacht bleiben“; die EU habe Anspruch auf „eine Partnerschaft auf Augenhöhe“. („Auf Augenhöhe“ heißt übrigens: Man blickt sich gerade in die Augen, nicht von oben herab, also „scheel“, was der Kaiser damals gar nicht leiden konnte – so bleibt sich sogar die imperialistische Rhetorik in Deutschland seit hundert Jahren treu.)

Die Dummheit der AfD hat natürlich nichts mit intellektuellen Defiziten zu tun. Der Partei fallen ja – gegen die verordnete Amnesie – seit dem 24.2.2022 durchaus Verlogenheiten der offiziellen Regierungslinie auf und Parteichefin Weidel hat sogar den Mut, gegen die „Zeitenwende“-Hysterie lautstark an die „Mitverantwortung des Westens für den Angriff Russlands“ zu erinnern. Daraus folgt dann aber wieder die leicht größenwahnsinnige Vorstellung von einer deutschen Aufsichtsrolle, wie sie mit Bismarcks Phrase vom „ehrlichen Makler“ berühmt wurde. Die AfD-Politikerin warnte in der Bundestagsrede am 27.2.2022, man dürfe sich „nicht unreflektiert in einen Krieg hineinziehen lassen… Deutschland kann und sollte hier eine wichtige Rolle als ehrlicher Makler spielen“.

Die AfD ist schlicht und ergreifend eine national bornierte Mannschaft – und dabei im grundsätzlichen Standpunkt mit dem demokratischen Spektrum in Übereinstimmung. Die alternative Rechtspartei teilt auch den Moralismus, wie er derzeit von der Ampelregierung in Anspruch genommen wird. Sie wendet sich nur gegen die spezielle militärische Variante, die den nationalen Erfolg in der Einreihung ins imperialistische Kollektiv unter US-Führung sucht und dabei der Überzeugung folgt, man habe im ukrainischen Staat einen willfährigen Stellvertreter gefunden, der Land und Leute opfert, damit „wir“ zu neuer Größe aufsteigen.

Die Ampel-Männer und Frauen stehen dagegen auf dem Standpunkt eines klug gewordenen Deutschlands, das zweimal, 1914 und 1939, mit seinem „Griff nach der Weltmacht“ scheiterte, weil es gegen den Rest der Welt antrat. Die AfD sieht das nicht so eng. Sie ist aber auch nicht einfach für einen Alleingang. Sie könnte sich den neuen Aufstieg zur Weltmachtrolle eher als Zähmung des russischen Bären vorstellen, mit neuen bündnispolitischen Optionen auf dem Kontinent etc. – und hat in dem Fall sogar eine gewisse militärstrategische Expertise auf ihrer Seite. Es gibt ja pensionierte Generäle, die davor warnen, den Iwan zu unterschätzen und die weltweite Geschlossenheit der eigenen Front zu überschätzen. Der Sache nach geht es hier also um einen Streit zwischen demokratischer Mitte und rechtem Rand darüber, wie man Weltkriege besser führt. Wer da der Dümmere oder Klügere ist – das möchte man gar nicht wissen…

Zuerst bei Overton bzw. Telepolis erschienen.

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Oben       —        Charleroi (Belgique) – Station Janson du métro légerLes Psy.

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Unten        —    „God Bless the USA“ („Gott segne die USA“) – patriotisches Bekenntnis in den Vereinigten Staaten von Amerika

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Magnets on automobiles became a popular way to display patriotism in the USA around the time of the 2004 presidential election.

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Februar 2023

Nicht nur 99 Luftballons am Horizont

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Wer heute das alte Lied „99 Luftballons“ noch einmal spielt oder hört, dürfte einen leisen Anachronismus spüren: Wurden da nicht „General“ und „Kriegsminister“ verhöhnt, weil es ja nur „99 Luftballons“ sind, die da schweben am Horizont?

So viele sind es heute nicht. Bisher entdeckt und abgeschossen waren es vier, von denen sich kanadische und amerikanische Militärs in einem Fall nicht mal sicher waren, ob es sich um einen Luftballon handelt. Dennoch: Heute lacht kaum noch jemand. Ernst nehmen will man die schwebenden Objekte hoch in der Luft allemal. Sie seien bloß für Wetterdienste, behauptete Peking? Von wegen!

Der Nena-Anachronismus lässt sich so leicht nicht mehr herunterspielen auf so etwas wie seichte Ironie: Über unseren Horizont fliegen längst unzählige Objekte. Niemand weiß, wie viele Daten, verschlüsselt in was für einem KI-Deutungsmuster, sie an wen zu welchem Zwecke senden. Erst recht nicht, mit welchen Konsequenzen. Von diesen ominösen Objekten sind die paar Luftballons, von denen man zwei als „von China kommend“ identifiziert hat, „Opas“ aus Zeiten des Ersten Weltkriegs, wenn man sich ihrer als Spionageballons vergewissern kann. Kann man?

Wohl noch nicht ganz. Noch gehen Beschuldigungen und Dementi zwischen Washington und Peking hin und her. Chinas Außenamtssprecher bezichtigt die USA 10-mal der Verletzung des chinesischen Luftraums mit US-Luftballons allein im letzten Jahr – freilich ohne jeden Beweis. Noch hüllen die Europäer sich in vornehmes Schweigen. Und doch wird auch hierzulande, noch hinter vorgehaltener Hand, gemunkelt: Was nun, wenn die Chinesen Spionageluftballons 20 Kilometer auch über unsere Köpfe hinweg schweben lassen, um, wie die US-Militärs argwöhnen, unsere Militärbasen, sagen wir nahe dem an einen russischen Oligarchen verkauften Flughafen Hahn, auszuspionieren? Was nun, wenn diese Chinesen allen Dementi zum Trotz doch Wladimir Putin beim Aggressionskrieg gegen die Ukraine unterstützen würden – mit Daten gestohlen von jenen mysteriösen Ballons zum Beispiel?

Die Augen rechts und links da hinten stinkt es !

Lasst uns einen „Worst Case“ an die Wand malen: Haben nicht auch Chinesen bereits Supersonic-Raketen, gegen die westliche Militärs noch kein probates Mittel haben, um uns davor zu schützen? Noch weit entfernt von der beunruhigenden Tatsache, dass von den der Ukraine versprochenen Leopard-I-Panzern der deutschen Bundeswehr gleich Dutzende untauglich sind? Sind wir gegen irgendwelche „Generäle“ und „Kriegsminister“, verhöhnt in jenem Lied, gewappnet, wenn sie doch nicht nur Späßchen mit uns im Sinne haben, sondern es bitterernst meinen, siehe Putin?

Über paranoide „Kriegsminister“ lacht heute keiner mehr

Quelle       :         TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Guantanamo-Entlassungen

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Februar 2023

Guantanamo-Entlassungen: Die USA in der Verantwortung

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Daniela Gschweng / 

Das Leben eines ehemaligen Guantanamo-Häftlings ist eine fortgesetzte Gefangenschaft ohne Rechte und ohne Perspektive.

Viele ehemalige Guantanamo-Häftlinge führen ein elendes Leben. Den Terror-Stempel werden sie nicht mehr los, obwohl einige wohl nie ein Verbrechen begangen haben. Die USA kümmern sich kaum um ihren Verbleib.

Sabri al-Qurashi sei ein begabter Maler, schreibt die Journalistin Elise Swain, die sich über Monate per Internet mit dem ehemaligen Guantanamo-Häftling unterhalten hat. Für den «Intercept» berichtet sie über sein Leben in Kasachstan, wo er bis heute keinen Aufenthaltsstatus und damit auch keine Rechte hat. Der Jemenit malt ruhige Landschaftsbilder, aber auch Szenen aus der Gefangenschaft. Die Malerei helfe ihm, die Hoffnung nicht zu verlieren, sagt er.

Von Saudi-Arabien über Kandahar nach Guantanamo

2014 wurde al-Qurashi nach 13 Jahren aus Guantanamo entlassen. Ein freier Mann ist er bis heute nicht. Eigentlich, sagt er, sei es «jetzt genauso schlimm wie in Guantanamo, in vielerlei Hinsicht sogar noch schlimmer». Im US-Gefangenenlager in Kuba habe er gewusst, dass die Gefangenschaft enden würde. Ob sein jetziges Leben, das man nur als elend beschreiben kann, sich jemals zum Besseren wendet, weiss er nicht.

Festgenommen wurde der heute 52-Jährige auf einer Geschäftsreise nach Pakistan, die ihn nach Aufzeichnungen des Journalisten Andy Worthington auch nach Afghanistan führte. Er sei unterwegs gewesen, um Parfümöle bei den Herstellern zu kaufen, sagt al-Qurashi. Die Reise endete im US-Gefängnis von Kandahar. Von dort wurde er nach Guantanamo geflogen. «Der schlimmste Tag in meinem Leben», sagt er.

Der «Intercept» nimmt an, dass ein Warlord oder die afghanischen Polizei al-Qurashi verkauft hat. Die US-Armee bezahlte kurz nach 9/11 hohe Summen für mutmassliche Taliban- oder Al Kaida-Mitglieder. Ob er jemals ein Verbrechen begangen hat, ist unklar.

Ohne Anklage oder Prozess

Ende Dezember 2014 wurde er mit zwei anderen Jemeniten im Zuge einer geheimen Abmachung nach Kasachstan gebracht. Zuvor gab es ein Treffen mit Vertretern Kasachstans. Ein Transfer in den Jemen sei aufgrund der politischen Situation nicht möglich gewesen, schreibt der «Intercept». Eine Anklage oder einen Prozess gab es nie.

Laut der «New York Times» erklärte «ein hochrangiger Beamter der Obama-Regierung», dass insgesamt fünf nach Kasachstan umgesiedelte Ex-Gefangene «nach der Überstellung in jeder Hinsicht freie Männer seien».

In al-Qurashis Bericht für den «Intercept» klingt es anders. Nach einer Beobachtungszeit von zwei Jahren sei er ein freier Mann mit allen Rechten, hätten die US-Behörden versprochen. Und Kasachstan sei immerhin ein muslimisches Land. Die kasachischen Behörden seien gut ausgestattet, um die Überwachungsaufgaben zu übernehmen, die seine Entlassung erfordere. Ein Leben als normales Mitglied der Gesellschaft liege vor ihm. Al-Qurashi hoffte, seine Frau wiederzusehen oder zu sich holen zu können.

Als Sans-Papiers gestrandet

Nichts davon wurde wahr. Al-Qurashi hat keinerlei legalen Aufenthaltsstatus in Kasachstan und kann sich nicht frei bewegen. Als Sans-Papiers kann er keine Post bekommen oder absenden, kein Geld empfangen, nicht arbeiten, nicht reisen. Nicht einmal die unmittelbare Umgebung kann er allein verlassen. Wenn er das möchte, muss er den Roten Halbmond kontaktieren, der ihm eine Begleitung zur Verfügung stellt. Manchmal wartet er tagelang.

Der Rote Halbmond finanziert Lebensmittel und Wohnung und begleitet ihn. Soziale Kontakte zu knüpfen, hat der Ex-Häftling aufgegeben. «Die Regierung schikaniert jeden, mit dem ich in Kontakt komme», erzählt er. Sie warne Kontaktpersonen vor dem gefährlichen Terroristen. Er wolle niemanden in Schwierigkeiten bringen und habe deshalb aufgehört, sich mit anderen zu treffen.

«Sie haben keine Rechte»

Über die Jahre habe er mehrmals versucht, einen Besuch seiner Frau oder anderer Familienangehöriger zu arrangieren. Vergeblich. Als «Illegaler» dürfe er keinen Besuch bekommen. «Sie haben keine Rechte», hätten die kasachischen Behörden ihm gesagt. Der Rote Halbmond verhandelt seit Monaten über einen kurzen Besuch seiner Frau. «Ich versuche, nicht aufzugeben, aber alles ist gegen mich», sagt al-Qurashi.

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Es sei schwer, die Verzweiflung nach zwei Jahrzehnten in Gefangenschaft nicht zuzulassen. «Jetzt lebe ich, als wäre ich tot, und man sagt mir, ich sei frei, obwohl ich es nicht bin», schrieb er in einem Chat. Die Reporterin erlebte ihn in unzähligen WhatsApp-Videoanrufen dennoch als positiv und herzlich und humorvoll, schreibt sie.

«Jetzt lebe ich, als wäre ich tot, und man sagt mir, ich sei frei, obwohl ich es nicht bin.»

Sabri al-Qurashi, ehemaliger Guantanamo-Häftling

Vor vier Jahren wurde al-Qurashi auf der Strasse überfallen und im Gesicht verletzt. Eine Anzeige sei nicht möglich, schliesslich sei er illegal da, sagten die Behörden. Von dem Vorfall hat er eine Gesichtslähmung zurückbehalten, die chirurgisch behandelt werden müsste. Bisher hat er Akupunktur bekommen und ein Glas mit Blutegeln.

Von den insgesamt fünf Guantanamo-Häftlingen, die von den USA nach Kasachstan geschickt wurden, leben nur noch zwei dort. Muhammad Ali Husayn Khanayna wollte sich dem «Intercept» gegenüber nicht äussern. Asim Thabit Al Khalaqi, der dritte Jemenit, starb vier Monate nach der Ankunft in Kasachstan überraschend an einer schweren Krankheit. Angehörige werfen den Ärzten ärztliche Kunstfehler vor.

Lotfi bin Ali, ein Bürger Tunesiens, gab mehrere Interviews über sein desolates Leben in Kasachstan und wurde nach Mauretanien umgesiedelt. 2021 starb er dort an einer Herzkrankheit, von der man wusste; laut dem «Intercept», weil er keine adäquate Behandlung bekam. Die US-Behörden habe es nicht gekümmert, sagte sein ehemaliger Anwalt, Mark Denbeaux. Über den Verbleib von Adel Al-Hakeemy, ebenfalls Tunesier, ist nichts bekannt.

Wie wichtig ein ordentliches Gerichtsverfahren ist

Diese Lebensgeschichten zeigen einmal mehr, wie unmenschlich es ist, Menschen ohne ordentliches Gerichtsverfahren jahrelang festzuhalten, und wie gross der Wert eines ordentlichen Gerichtsverfahrens ist. Weder Schuld noch Unschuld der fünf nach Kasachstan Geschickten wurde jemals festgehalten. Die USA stuften sie wohl als geringes Risiko ein. Die Männer tragen dennoch das Stigma des gefährlichen Terroristen.

Auch bei den Gefangenen, die verurteilt wurden, bestehen erhebliche Zweifel an deren Schuld. Der Anfang Februar freigelassene Majid Khan beispielsweise berichtete mehrmals von Folter durch die CIA. Der Pakistaner wird in Zukunft in Belize in Mittelamerika leben.

Die US-Behörden bemühen sich mit Unterbrechungen seit Jahren, das Guantanamo-Gefängnis zu leeren und die heute noch eingesperrten 34 Gefangenen loszuwerden. Aber es ist eben das: ein Loswerden.

Eine Verantwortung, die keiner tragen will

Wer nach der Entlassung die Verantwortung für ehemalige Guantanamo-Häftlinge trägt, ist unklar. Das US-Aussenministerium, zunächst interessiert an einer sicheren Unterbringung ehemaliger Gefangener ausserhalb der USA, sieht seine Pflicht nach der zweijährigen Überwachungsfrist als getan an.

Die Verantwortung gehe an die Aufnahmeländer über, erklärte ein Sprecher des US-Aussenministeriums. Man ermutige alle Gastregierungen, ihre Verantwortung auf humane Weise und unter Berücksichtigung angemessener Sicherheitsmassnahmen wahrzunehmen. Die kasachische Botschaft in den USA reagierte auf eine Anfrage des «Intercept» nicht.

Inhumane Behandlung auch in anderen Ländern

Mit dem Ende der Regierung Obama stellten die USA auch die diplomatischen Bemühungen des Aussenministeriums zu ehemaligen Guantanamo-Häftlingen ein. Die Trump-Administration löste die für Umsiedlungen zuständige Stelle auf, die Ex-Häftlingen grundlegende Menschenrechte hätte garantieren können.

Länder wie Kasachstan, die Vereinigten Arabischen Emirate und Senegal nutzten diese Lücke aus. Die Emirate schickten Ex-Häftlinge ins Gefängnis, Senegal schob einen Ex-Gefangenen nach Libyen ab.

Seit August 2021 gibt es wieder eine US-Stelle für «Guantanamo Affairs», die mit der Diplomatin Tina Kaidanow besetzt ist. Al-Qurashis Anwalt Greg McConnell hat eine Anfrage an Kaidanow gerichtet. Das Personal sei sehr freundlich, sagt er zum «Intercept». Antworten habe er schon lange nicht mehr erhalten.

Die USA müssen Verantwortung übernehmen

Das bisher einzige Angebot der kasachischen Regierung ist laut al-Qurashi eine Reise zurück in den Jemen. Das könnte gegen das internationale Recht der Nichtzurückweisung verstossen, ordnet die Menschenrechtsspezialistin Martina Burtscher gegenüber dem «Intercept» ein. Im Jemen sei al-Qurashi wegen des Terror-Stigmas ein leichtes Ziel der dort agierenden Gruppierungen. Bisher weigert er sich, in den Jemen zu reisen. Für die USA hat die Unterbringung der verbliebenen Gefangenen Priorität.

Al-Qurashis Probleme sind nicht einzigartig. Rund 30 Prozent der ehemaligen Guantanamo-Häftlinge, die in Drittländer gebracht wurden, hätten keinen legalen Status, sagte die US-Organisation Reprieve vor einem Jahr.

Ohne sinnvolle Massnahmen der USA werde sich in dieser Angelegenheit auch nichts bewegen, sagt Mansoor Adayfi, ein anderer Jemenit, der 14 Jahre in Guantanamo eingesperrt war. 2018 wurde er nach Serbien entlassen. Obwohl er eine Aufenthaltsgenehmigung hat, fühlt er sich in Belgrad nicht sicher und wird noch immer überwacht. Er hat einige Folgeerkrankungen der Haft, die ihn einschränken, dokumentierte der «Intercept». Die serbische Regierung drohe regelmässig damit, die Unterstützung einzustellen. 2021 schrieb Adayfi an einem Buch mit dem Titel «Life After Guantánamo». «Welches Leben?», fragt man sich.

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In Putins Hände

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Februar 2023

Wer Verhandlungen fordert, sollte auch erklären, ob er Russland noch mehr zugestehen möchte

Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Die Aufrufe, sofortige Friedensverhandlungen einzuleiten, verkennen den russischen Präsidenten. Putin ist nicht zu trauen.

Tagelang blickte die Welt nach München: Viele erhofften sich von der Sicherheitskonferenz klare Botschaften, wie es nach einem Jahr Krieg in der Ukraine weitergehen wird. Wirklich überrascht hat schließlich US-Präsident Joe Biden mit seiner Reise nach Kiew. Bilder, die ihn zusammen mit Wolodimir Selenski zeigen, gingen um die Welt. Selbst als Alarm ertönte, blieben die beiden Staatschefs wie unberührt unter freiem Himmel. Bidens Besuch in dem freiheitsliebenden Land, wie er sagte, stellte die Sicherheitskonferenz weitgehend in den Schatten.

Als ich anfing, diese Kolumne zu schreiben, hielt Russlands Präsident Wladimir Putin eine Rede zur Lage der Nation. Wenige Stunden später sollte Biden seine Rede an die Nation halten, und natürlich erinnert das an Zeiten des Kalten Krieges, natürlich liegt es nahe, dass Putin versuchen wird, Bidens Besuch als Zeichen zu deuten, der Westen führe einen Krieg gegen Russland – die Frage ist nur, wie sehr man sich von Putin beeindrucken lassen möchte. Er hat in seiner Rede gelogen und behauptet, der Westen habe „den Krieg losgetreten“, und Russland führe „keinen Krieg gegen das ukrainische Volk“.

Die Münchner Sicherheitskonferenz vor einem Jahr hat diese Militäroperation nicht zum zentralen Thema gemacht. Das Ende der Konferenz war am 20. Februar 2022. Vier Tage später überfiel Russland die Ukraine. Man kann davon ausgehen, dass bis zu vier Tage vor Beginn des militärischen Überfalls weite Teile des Westens Putins Zerstörungsgewalt unterschätzt haben. Sie haben selbst angesichts des historischen Militäraufgebots die Gefahr verdrängt und den Aggressor verharmlost. Hätte man die Ukraine bereits während des wochenlangen Aufmarschs der russischen Armee unterstützt, wäre die Botschaft an Russland vielleicht eine andere gewesen, abschreckend.

Ähnlich äußerte sich auch die finnische Staatschefin Sanna Marin. Das Wegsehen und die Untätigkeit des Westens hat Putin weder sanft gestimmt noch dazu gebracht, von seinen strategischen Zielen abzulassen. Es brauchte keine Drohgebärden. Russland begann seinen Angriffskrieg ganz ohne – das sollte man in Erinnerung rufen, wenn Putin nun wieder behauptet, der Westen habe den Krieg begonnen. Putin mag auf diplomatische Entwicklungen mit Krieg reagiert haben, doch in welcher Welt leben wir, wenn es als legitim erachtet wird, die Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes einzuschränken.

Letzte Woche wurden in Deutschland wieder prominentere Stimmen laut, die forderten, man müsse jetzt über Frieden verhandeln. Die meisten Namen sind hinlänglich bekannt, ein neuer Einwurf kam von Jürgen Habermas. Viele, die jetzt für einen Verhandlungsfrieden argumentieren, klammern aus, wie vieles von dem, was sie heute als Verhandlungsoption präsentieren, Russland bereits 2014 zugesichert und der Ukraine abgesprochen wurde. Welches Interesse sollte Russland haben, sich nach einem Jahr Kriegsführung mit dem Status quo von vor Kriegsbeginn zufriedenzugeben? Wer also fordert, man müsse jetzt mit Russland verhandeln, sollte auch erklären, ob er Russland noch mehr zugestehen möchte. Und wäre damit ein dauerhafter Frieden gewährleistet? Wohl kaum. Was, wenn gerade das Verhandeln und Nachgeben die Gewaltspirale nach oben treibt?

Proud of what 10

Nehmen Menschen, die für Verhandlungen – meist zu Ungunsten der Ukraine – argumentieren, so etwas wie die neusten Meldungen wahr. Wie ein Investigativkollektiv anhand von Dokumenten nachwies, die aus der Moskauer Präsidialversammlung geleakt wurden, plant Russland auch die Übernahme von Belarus bis zum Jahr 2030. Worauf stützen sich die, die jetzt Verhandlungen fordern, wenn sie in Putin einen verlässlichen Verhandlungspartner sehen?

Wenn man die Diskurse des letzten Jahres betrachtet, so entspricht der Vorwurf, man könne in der deutschen Öffentlichkeit nicht gegen die Unterstützung für die Ukraine sprechen, ohne geächtet zu werden, nicht den Tatsachen. Sicher, es wird manchmal brachial, doch die Verrohung des Diskurses lässt sich bei allen Themen feststelle. Selbst wer über stillgelegte Straßen in Berlin-Mitte schreibt, wird heute angeprangert. Merkwürdigerweise reagieren ausgerechnet jene, die von den Ukrainern fordern, diesen Krieg zu beenden, besonders empfindlich auf Widerspruch. Ihre Opferrolle setzt leider oft genau dann ein, wenn es um die konkrete Entwicklung eines Szenarios geht, wie der Verhandlungsfrieden herbeigeführt werden könnte. Vielen fehlt die Auseinandersetzung mit der Realität, die Russland seit einem Jahr gewaltvoll zu verändern versucht. Soll man um des Friedens Willen wirklich auf jede Forderung Russlands eingehen? Was ist mit dem Größenwahn Putins? Hier die Unterschätzung des russischen Staatschefs – es reicht ein Friedensangebot für den Frieden –, dort die paralysierende Überhöhung der Gefahr durch ihn: Am Ende führt er uns in den dritten Weltkrieg oder drückt den Atomknopf.

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben       —     Anti-war poster Stop Putin against his megalomania, with a cartoon from 2014 when Crimea was annexed by Russia.

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Das Leiden der Familien

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Februar 2023

Eine Kindheit im Luftschutzbunker

Von Anna Jikhareva

Lisa Dmitrijewa hatte ihr ganzes Leben noch vor sich, doch sie wurde nur vier Jahre alt. Das Mädchen mit Down-Syndrom kam gerade von der Sprachtherapie, die sie regelmäßig besuchte.

Zusammen mit ihrer Mutter überquerte sie einen belebten Platz im Zentrum von Winnyzja, einen Puppenwagen vor sich herschiebend, als mehrere russische Raketen einschlugen. Das Mädchen wurde bei der Explosion getötet, die Mutter kam schwer verletzt ins Krankenhaus.[1] An jenem Tag Mitte Juli 2022 starben in der zentralukrainischen Stadt, weit weg von der militärischen Front, 23 Menschen, darunter neben Lisa Dmitrijewa zwei weitere Kinder, 140 Personen wurden verletzt.

Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine fordert dieser noch immer täglich Tote und Verletzte; weiterhin zerstören Raketen und Artilleriegeschosse Häuser und Kraftwerke, Träume und Hoffnungen. Neben den Kämpfen in der Süd- und Ostukraine beschießt die russische Armee seit Monaten auch gezielt die kritische Infrastruktur des Landes – mit der Absicht, die Menschen zu zermürben, wenn sie in dunklen Wohnungen ausharren müssen, ohne duschen oder sich aufwärmen zu können.[2] Zu den größten Leidtragenden dieses ständigen Ausnahmezustands gehören die ukrainischen Kinder. Auf diesen Opfern der russischen Invasion liegt in der internationalen Berichterstattung allerdings nur selten der Fokus.

Laut der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft sind zwischen vergangenem Februar und Ende Januar insgesamt 459 Kinder gestorben, 914 wurden verwundet, 353 bleiben gemäß der Polizei verschwunden.[3] Zwar decken sich die Zahlen der Vereinten Nationen weitestgehend mit diesen Angaben – doch weil etwa verlässliche Zahlen aus den von Russland besetzten Gebieten und den frontnahen Landstrichen fehlen, dürfte die Dunkelziffer wesentlich höher liegen, davon gehen auch die ukrainischen Behörden aus. Tausende Kinder haben Angriffe zwar selbst überlebt, aber ihre Eltern, Geschwister, Freund:innen oder das Zuhause verloren. Sie alle sind durch den Krieg gezwungen, viel zu schnell erwachsen zu werden.

Laut Unicef hat praktisch keines der sieben Millionen zurzeit im Land lebenden Minderjährigen gesicherten Zugang zu Elektrizität, Heizung und Wasser. „Diese Kinder sehen einem trostlosen Winter entgegen, zusammengekauert in Kälte und Dunkelheit, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie oder wann sie sich erholen können“, sagt Catherine Russell, die Direktorin des UN-Kinderhilfswerks, in einer Stellungnahme. „Abgesehen von den unmittelbaren Gefahren, die der Frost mit sich bringt, wird den Kindern auch die Möglichkeit genommen, zu lernen oder mit Freunden und Familie in Kontakt zu bleiben, wodurch sowohl ihre körperliche als auch ihre geistige Gesundheit stark gefährdet ist.“[4] Gerade die Auswirkungen auf die Psyche sind in diesem Alter oftmals verheerend; Unicef spricht von einer „drohenden mentalen Gesundheitskrise“: Anderthalb Millionen Kinder seien bereits von Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischem Stress und anderen mentalen Erkrankungen betroffen. Die Kyjiwer Psychologin Kateryna Goltsberg schildert dem „Spiegel“ verschiedene Symptome von Traumata: „Neben Verschwiegenheit und Apathie sind da Aggressionen und Ticks wie Augenzucken oder häufiges Räuspern. Manche entwickeln sogar Krankheiten wie Asthma oder Schuppenflechte. Damit Kinder schreckliche Erlebnisse verarbeiten können, müssen sie unterstützt werden.“[5]

»Kein Kind hat Zugang zu geregelter Bildung«

Neben den direkten Folgen des Krieges für die Gesundheit der Kinder schränkt er deren Recht auf Bildung ein. Wie alles andere sind auch die Bedingungen dafür in den letzten Monaten immer schwieriger geworden: Zehntausende Kinder können nicht mehr regelmäßig zur Schule oder in den Kindergarten gehen. Dies nicht zuletzt, weil über 3000 Bildungseinrichtungen im Land beschädigt und fast 500 komplett zerstört sind, wie das ukrainische Bildungsministerium auflistet.[6] „Kein ukrainisches Kind hat mehr Zugang zu geregelter Bildung“, schreibt Unicef. Auch dadurch wird einer ganzen Generation die Zukunft genommen.

Als der russische Angriffskrieg vor einem Jahr begann, war das Schuljahr in vollem Gang. Zuerst wurden Schüler:innen und Lehrer:innen für zwei Wochen in die Zwangsferien geschickt, alle Einrichtungen schlossen ihre Türen – doch als absehbar wurde, dass der Krieg so schnell nicht vorbei sein würde, nahmen viele den Unterricht wieder auf – online. Eine Praxis, die bereits während der Coronapandemie weit verbreitet war und deshalb mehr oder weniger funktionierte.[7] Dies war auch ein Grund dafür, dass Lehrkräfte und Kinder, die nach Beginn der Invasion aus dem Land flohen, weiter unterrichten und lernen konnten. Das Bildungsministerium fällte zudem Entscheide, damit keine Lücken bei den Leistungsnachweisen der Schüler:innen entstehen: Es wies die Schulen etwa an, alle Kinder automatisch in die nächsthöhere Klasse zu versetzen und die Jahresendprüfungen ausfallen zu lassen. Die Abiturprüfung fand zwar trotzdem statt, konnte aber nicht nur im Land selbst, sondern auch in dutzenden Städten in ganz Europa absolviert werden, wie die „Ukrajinska Prawda“ berichtet.[8] So sorgte die Behörde zumindest in dieser Hinsicht für Chancengleichheit. Zum neuen Schuljahr im September 2022 öffnete dann rund die Hälfte der Schulen und Kindergärten wieder die Türen – jene, die den vorgeschriebenen Luftschutzbunker im Gebäude bereits hatten oder über die Sommerferien neu einrichten konnten. Die restlichen Kinder müssen weiterhin mit Fernunterricht vorliebnehmen – doch aufgrund der Stromausfälle infolge der Angriffe auf die kritische Infrastruktur ist der Zugang dazu oft nicht mehr gewährleistet.

Verändert haben sich nicht nur die Rahmenbedingungen des Lernens, sondern auch der Inhalt: So gilt seit diesem Schuljahr in der Ukraine ein neuer Lehrplan. In der Grundschule wird etwa unterrichtet, wie man verschiedene Arten eines Luftalarms auseinanderhält, was man im Falle eines Angriffs tun soll, wie man einen Schutzraum einrichtet, Erste Hilfe leistet oder mit Angst umgeht. Immer wieder üben die Kinder im Unterricht, wie sie rasch in den Keller kommen, wo der Unterricht bei Luftalarm weitergeht. Und ab der fünften Klasse gilt in Fächern wie Literatur und Geschichte ein neues Programm, wie etwa die „taz“ berichtet.[9] So werde den jungen Menschen nun etwa beigebracht, dass die Sowjetunion ein imperialistischer Staat gewesen sei, und wie sich die Ukrainer:innen der Repression dieses Staates widersetzt hätten. Aus dem Programm gestrichen worden seien Werke von vielen russischen Autoren, etwa Anton Tschechow, Lew Tolstoi oder Fjodor Dostojewski. Eingang in den Schulstoff hätten dafür Goethe oder Adam Mickiewicz gefunden. Der Unterricht droht damit zu einem ideologischen Kampffeld zu werden – in den von Russland besetzten Gebieten ist er das bereits. Russland nutzt die dortigen Schulen schon längst für Propagandazwecke: Der Lehrplan wurde geändert, vor allem im Geschichtsunterricht lernen die Kinder nun nur noch das, was dem Kreml genehm ist. „Nach Moskaus Plänen sollen die Schulen vor allem eine zentrale Rolle in der ideologischen Indoktrination der Kinder übernehmen und sie zu ‚russischen Patrioten‘ und Putin-Unterstützern machen“, schreibt etwa die Bildungsexpertin Tatiana Zhurzhenko.[10]

Dass dies meistens nicht freiwillig geschieht, legen diverse Berichte nahe. Demnach üben die Besatzungsbehörden Druck auf Lehrer:innen aus, damit diese ihren Schüler:innen die russische Sicht auf die ukrainische Geschichte vermitteln. So berichtete der „Guardian“ über den Fall einer Lehrerin, die sich weigerte, für die Besatzer:innen zu arbeiten, und deshalb entlassen wurde.[11] „Stellen Sie sich vor: Ich habe mehr als 25 Jahre an dieser Schule gearbeitet. Am Tag meiner Entlassung bin ich allein hinausgelaufen, trug eine Topfpflanze und einen Beutel mit Gedichten, Tränen flossen mein Gesicht hinunter.“ Kurze Zeit später sei sie bei einem Elternabend als „Verräterin“ denunziert worden, weil sie die Schule verlassen hatte. Daraufhin floh die Lehrerin in von der Ukraine kontrolliertes Territorium. Etwa ein Drittel der Lehrkräfte hätten sich dagegen zur Kollaboration bereiterklärt, einige aus Enthusiasmus, andere aus Pragmatismus.

Ähnliche Berichte darüber, wie Druck auf Lehrkräfte ausgeübt wird, sind aus den besetzten Gebieten immer wieder zu hören; der ukrainische Ombudsmann für Bildung spricht von „hunderten“ solcher Einflussnahmen. „Sie zwingen Lehrer, nach russischem Lehrplan zu unterrichten, sie bringen russische Lehrbücher mit, in denen steht, Ukrainer und Russen seien ein Volk, russischer Imperialismus, das volle Paket.“[12] Wer sich in der Ukraine umhört, stößt aber auch auf immer mehr Erzählungen von Lehrer:innen, die nach der Rückeroberung besetzter Städte durch die ukrainische Armee als Kollaborateure verfolgt würden. Ukrainische Politiker:innen fordern harte Gefängnisstrafen für jene, die mit dem russischen Bildungssystem kooperieren oder kooperiert haben. Russische Medienberichte legen derweil nahe, dass Lehrer:innen für die besetzten Gebiete auf der von Russland 2014 annektierten Krim-Halbinsel oder in Russland selbst angeworben werden; die Rekrutierung soll allerdings eher schleppend verlaufen.[13]

Quelle        :        Blätter-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben       —     Station der Metro Kiew, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine (2022) in einen Luftschutzbunker umgewandelt wurde

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Unten         —     Refugee children and babies in a basement in Kropyvnytskyi

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Februar 2023

„Krieg und Frieden“
Russisch im Lokal: Wenn Sprache in Scham mündet

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Aus Warschau von Sandro Gvindadze

Kürzlich war ich in Warschau, um eine Freundin aus Belarus zu besuchen. Zusammen mit ihren Freunden gingen wir in ein ukrainisches Fischrestaurant, das gerade neu eröffnet worden war. Wir waren zu viert, wir hatten uns lange nicht gesehen. Jedenfalls sprachen wir ziemlich viel miteinander. Laut und auf Russisch. Wie immer.

Die Speisekarte war auf Ukrainisch. Mit der Kellnerin, die unsere Bestellung aufnahm, sprachen meine Freunde Polnisch. Sie antwortete auch auf Polnisch, aber man konnte hören, dass sie Ukrainerin war. Ich schwieg. Als die Kellnerin weg war, stockte unser Gespräch. Ich schaute mich um. Überall hingen Plakate zur Unterstützung der Ukraine, überall hörte man ukrainische Gespräche. Es schien, als sei unser Tisch, von dem gerade noch Gelächter und die russische Sprache zu hören gewesen waren, zufällig hierher geraten.

Zum ersten Mal im Leben fühlte ich mich schuldig, weil ich Russisch sprach. Ich hatte den Wunsch, mich vor allen zu entschuldigen. Vor jeden einzelnen Tisch zu treten und zu sagen, dass ich ein schlechter Mensch bin. Denn ich war aus Georgien hierher gekommen, in ihren Raum, und sprach in der Sprache, die ihnen und ihren Vorfahren jahrzehntelang aufgezwungen worden war. Und heute wird in dieser Sprache dazu aufgerufen, sie zu töten.

Wenn ich mit ukrainischen Geflüchteten in Georgien Russisch sprach, fühlte ich mich anders. Vermutlich, weil ich als Journalist einfach meine Arbeit machte.

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Während ich schweigend meine Muscheln aß, stelle ich mir weitere Fragen: Hätte ich dieses Schamgefühl auch, wenn Russisch meine Muttersprache wäre? Wie würde ich mich verhalten, wenn Georgien ein Nachbarland überfallen hätte?

Ich glaube, dass die meisten Russen diese negativen Gefühle nicht verstehen. Es geht ihnen nicht in den Kopf, warum ihre Rede die Georgier verärgern könnte. Dabei gibt es Ansätze von Problembewusstsein. Einige Russen etwa fragen Georgier zuerst auf Georgisch, ob sie lieber auf Russisch oder Englisch sprechen wollen. Auch ich tat was gegen meine sozialen Ängste: Auf Ukrainisch bestellte ich ein Bier. „Djakuju“, sagte ich extra laut, damit alle hörten, dass ich etwas Ukrainisch sprechen kann.

Als wir das Lokal verließen, hatte ich den Eindruck, dass meine Freunde ähnliche Gedanken hatten. Das ist ziemlich traurig. Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur Hunderttausende Menschen getötet und verletzt sowie Millionen Menschen ihr Zuhause genommen. Er hat auch die russische Sprache auf Jahrzehnte vergiftet.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Unten        —         

Castle Square in Warsaw

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Ein Vorschlag zum Frieden

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Februar 2023

Ukraine: Versöhnung nach dem Beispiel der griechischen Tragödie

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Das Dionysostheater

Quelle      :        INFOsperber CH.

Nicolai Petro /   

Das Mitgefühl muss die Wut ersetzen. Eine Versöhnungskommission könnte wie anderswo die verfeindeten Gruppen befrieden.

upg. Kaum ein Nicht-Ukrainer kennt die Ukraine so gut wie Nicolai Petro, Professor an der US-University Rhode Island. Er kennt Russland und die Ukraine auch aus eigener Anschauung. Sein neustes Buch heisst «The Tragedy of Ukraine»*. Im Folgenden ein Essay, das er auf Englisch für De Gruyter verfasste.

Im klassischen Athen hatte die «Tragödie» eine therapeutische und heilende Funktion. Sie ermöglichte es den Athenern, sich mit ihren tiefsten Ängsten und ihrem Hass auseinanderzusetzen und durch einen Prozess der Katharsis, der Sinnesänderung, zu überwinden. Eine Versöhnungskommission könnte die Funktion der antiken Tragödie übernehmen und die Entwicklung in der Ukraine beeinflussen.

Die Aufführung von Tragödien wurde im fünften Jahrhundert v. Chr. zu einem wesentlichen Bestandteil des athenischen öffentlichen Diskurses. Dank dieser Institution konnten sich die Bürgern mit den politischen und sozialen Krisen der Zeit auseinandersetzen. Tragödien bildeten das schlagende Herz der athenischen Demokratie, wo das öffentlich zur Schau gestellt wurde. Die Rückbesinnung auf die staatsbürgerliche Funktion der Tragödie könnte auch heute ein wertvolles Instrument sein, um soziale und politische Spaltungen zu überwinden.

Der britische Kulturtheoretiker Raymond Williams definierte die Tragödie ähnlich wie die antiken Athener. Die Tragödie soll sich sich auf die politischen und sozialen Folgen von tragischen Handlungen konzentrieren. Nach Williams «liegt die Tragödie nicht im individuellen Schicksal…, sondern im allgemeinen Zustand eines Volkes, das sich selbst reduziert oder zerstört, weil es sich seines wahren Zustands nicht bewusst ist».

Beim «Zustand» geht es um unser gemeinsames Versagen als Menschen. Der Politikwissenschaftler Hans J. Morgenthau bezeichnete das Versagen als «Schwäche der menschlichen Vernunft, getragen von den Wellen der Leidenschaft. Diese Schwäche betrifft alle Menschen, Griechen und Perser, Amerikaner und Russen.» Wir sind allzu oft besessen von Gerechtigkeit, die oft mit Rache verwechselt wird. Der verständliche Wunsch nach Vergeltung macht uns blind für das Mitgefühl, das notwendig ist, um die Gesellschaft zu verbinden und ihre Wunden zu heilen.

Im Fall der Ukraine hat eine jahrzehntelange nationalistische Politik die Ost- und Westukrainer in Fragen der Sprache, der Religion und der kulturellen Zugehörigkeit gespalten und dabei die Bande der bürgerlichen Identität zerstört. Die destruktiven Erzählungen der beiden Seiten über die jeweils Andere heizte eine tragische Spirale an. Das förderte Konflikte im Namen der Gerechtigkeit.

Indem beide Seiten darauf beharrten, dass vor jedem Gespräch die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit korrigiert werden müssten, trugen beide Seiten unwissentlich dazu bei, dass ihre gegenseitige Tragödie fortbesteht.

Für die alten Griechen kommt es zu einer Tragödie, wenn der Einzelne nicht erkennen kann, wie sehr sein eigenes Handeln zur gegenwärtigen Lage beitrug. Sie sahen die Lösung darin, den Zusammenhang zwischen Handeln und Katastrophe ins Zentrum zu stellen und die Hybris zu entlarven, die Menschen (und Nationen) daran hindert, die wahre Bedeutung von Gerechtigkeit – nämlich Barmherzigkeit – zu begreifen.

Sie versuchten, dies erlebbar zu machen, indem sie auf der Bühne die Schrecken nachstellten, die aus dem unnachgiebigen Streben nach Rache resultieren. Die griechischen Dramatiker hofften so, das Publikum zur Katharsis zu führen, einer Reinigung von Emotionen, die so stark ist, dass sie Raum für Gefühle wie Mitleid und Mitgefühl schafft und anstelle der Wut treten.

Aristoteles glaubte, dass die Katharsis die Gesellschaft von der endlosen Wiederholung eines tragischen Drehbuchs befreien kann, indem sie den Zuschauern vor Augen führt, wie ihr fehlendes Mitgefühl sie ins Verderben führte.

Bei den öffentlichen Aufführungen an den jährlichen Bürgerfesten, den Dionysien, sollten die Tragödien den Bürgern die verheerenden Folgen von Entscheidungen der Politik vor Augen führen.

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Historische Rekonstruktion des Dionysostheaters in römischer Zeit

Man kann sich die klassische griechische Tragödie als eine Reihe von Dialogen vorstellen, welche die Bürger mit ihren eigenen tragischen Fehlern konfrontierten. Erst wenn die Bürger zu begreifen beginnen, wie ihre eigenen Handlungen den Hass der anderen schüren, können sie einen anderen Weg einschlagen.

Versöhnungskommissionen als moderne Form von Tragödien

Die athenische Polis war klein genug war, um fast jedes erwachsene Mitglied der Gesellschaft in diese bürgerlichen Rituale einzubeziehen. In der modernen Gesellschaft scheint es keinen Mechanismus zu geben, der dieselbe Funktion erfüllen kann. Doch ein vergleichbares Verfahren gibt es seit mehr als vierzig Jahren und wurde in über 50 Ländern eingeführt: Wahrheits- und Versöhnungskommissionen.

Wie die Dionysien der Antike versuchen solche Kommissionen, tiefe soziale Traumata zu heilen und soziale Versöhnung herbeizuführen. In meinem Buch* untersuche ich, wie solche Kommissionen Südafrika, Guatemala und Spanien veränderten. Jedes dieser Beispiele hat der ukrainischen Gesellschaft etwas zu bieten.

  • In Südafrika spielten die anglikanische Kirche und insbesondere Erzbischof Desmond Tutu eine Schlüsselrolle, damit es statt zu gewaltsamer Vergeltung zu Vergebung und Heilung kam.
  • In Guatemala trug die Kommission (vor Ort als Historische Aufklärungskommission bekannt) dazu bei, trotz des Widerwillens der Militärregierung eine nationale Diskussion über die umstrittene Völkermordgeschichte des Landes zu fördern.
  • In Spanien vereinbarte ein Pakt zwischen den politischen Parteien des Landes, die Vergangenheit buchstäblich zu vergessen (Pacto de Olvido). Das gab neuen demokratischen Institutionen Zeit, sich zu entwickeln. Diese brachten schliesslich eine Zivilgesellschaft hervor, die in der Lage ist, die Vergangenheit in einem neuen und konstruktiven sozialen Kontext aufzuarbeiten.

In vielen Ländern waren Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in der Lage, als Therapie ergreifende emotionale Zeugnisse aller Seiten zusammenzutragen, öffentlich zu präsentieren und die Öffentlichkeit so zu einer Katharsis zu führen – einer Läuterung des gegenseitigen Hasses, die eine Heilung der Gesellschaft ermöglicht. Dem einst feindlichen Anderen wurde seine Menschlichkeit zurückgegeben.

Die Ukraine ist durch jahrzehntelange interne Zwietracht zerrissen. Durch Interventionen von aussen wurde diese Zwietracht noch verschlimmert. Eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, die den Ängsten und dem Leid aller Seiten eine Stimme gibt, und die darauf abzielt, ein von allen geteiltesbürgerliches Konzept der ukrainischen Identität zu schmieden, das niemanden ausschliesst, könnte einen wertvollen Beitrag zu einem dauerhaften Frieden leisten.

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Übersetzung: Infosperber

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Oben      —    Das Dionysostheater

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Doppelmoral des Bündnisses

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Februar 2023

Zur Vorbereitung der Nachbereitung der Sicherheitskonferenz 2023

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :      Klaus Hecker

Im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz hat das Bundesministerium der Verteidigung eine Seite eingerichtet, auf der der neue Leiter der Konferenz, Christoph Heusgen, den Kern und die Bedeutung der Konferenz erläutert.

„Wir sind konfrontiert mit einem Zivilisationsbruch durch Putin“, sagte Heusgen angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine. Ausgehend davon stehe die Frage im Mittelpunkt, wie die Grundlagen der regelbasierten internationalen Ordnung erhalten und gefestigt werden könnten. „Gilt die Stärke des Rechts – oder das Recht des Stärkeren?“ – diese Frage stellte Heusgen bewusst in den Raum. Er verband sie mit dem klaren Votum, dass sich die regelbasierte Ordnung, also die Stärke des Rechts, auch weiterhin durchsetzen müsse. Es dürften sich nicht jene politischen Führer durchsetzen, die das Recht nicht achteten. Straflosigkeit dürfe es in der internationalen Ordnung nicht geben.“[1]Kritische Zeitgenossen merken zu einer solchen Argumentation häufig an:

  • der Jugoslawien Krieg 1999, der von den USA und Deutschland und anderen geführt worden ist, sei doch der erste Krieg und Bruch der europäischen Friedensordnung gewesen, explizit gegen einen russischen Verbündeten, nämlich Serbien, geführt worden. Kriegsfürst und damaliger Kanzler Schröder wies und weist immer wieder daraufhin, dass dieser Krieg ausdrücklich ohne Autorisierung durch die UNO, also somit auch gegen die UNO geführt wurde.
  • Weiterhin werden die beiden Irak-Kriege der USA angeführt und deren dreisten Kriegsbegründungslügenden von angeblichen Massenvernichtungswaffen Husseins eine Absage erteilt.
  • Das Ganze mündet dann bei meinen kritischen Genossen in dem Vorwurf der Doppelmoral an den Westen.
  • Und dieses in der Sache nicht zutreffende Narrativ ist anscheinend von solcher Hartnäckigkeit, dass es mir in Jahren mühsamer Gegenargumentation nicht gelungen ist, auch nur ein wenig Boden gut zu machen. Zu allem Überfluss bin ich auch noch davon überzeugt, dass das nicht an meiner Argumentation liegt.
  • Dieses aber zu prüfen, lieber Leser, sei dir überlassen.

Der Vorwurf der Doppelmoral unterstellt zunächst eine höhere Instanz, einen ausserhalb der Welt hockenden Richter, der wohl und gerecht abwägend beide Positionen vergleicht, prüft und beurteilt.

Diesen Richter gibt es aber nicht und es wird ihn auch nie geben. Es ist nachzuzeichnen und zu verstehen, dass die immanente Logik einer moralischen Argumentation immer den zum Gottvater kreiert, der die moralische Argumentation auf die Tagesordnung setzt. Anders formuliert: Derjenige, der sich zum Moralfürst aufschwingt, hat stets seine Massstäbe inthronisiert und will diese auch in seinem Sinne anwenden. Nun wird alles und jeder andere abgemeiert, immer streng an den eigenen Massstäben gemessen, Krieg verwandelt sich dann schon mal rasch in eine Friedensmission. Eines macht jener Moralfürst aber nie, nämlich als humanistischer, parteiübergreifender Weltgeist antreten und ggf. im Büssergewand die reichlich vorhandenen eigenen Missetaten abarbeiten.

Am Beispiel: Mit der Brandmarkung der Schändlichkeiten gegen den russischen Dissidenten Nawalny ist doch niemals gemeint, dass die hiesigen Opfer, wie etwa Assange oder Muhammad Abu Jamale jemals freigesprochen werden. Im Gegenteil: Sie beschmutzen unser System und gehören bestraft. Irgendwie logisch, oder? Mit der Aussage, dass Putin die eurpäisch Friedensordnung gebrochen habe, ist doch nicht angedacht, jetzt zu überlegen, ob der Westen nicht auch schon, vielleicht sogar öfters oder permanent die so friedliche Friedensordnung gebrochen hat bzw. bricht.

Hier hat keiner was vergessen oder nicht bedacht, wie oft interpretiert. Vielmehr und positiv gewendet: Mit der schlichten Ignorierung der eigenen Taten in der Vergangenheit definiert die neue Konferenzleitung programmatisch,

  • dass sie selbst die Hausherren sind,
  • es demzufolge unsere Ordnung ist,
  • die wir schlechterdings nicht übertreten können, die anderen aber schon und dauernd,
  • d.h., jetzt geht es erst richtig los. Das ist genau genommen die Ankündigung einer gnadenlosen Offensive,
  • Moral dient also – immer dazu – in Freund und Feind zu sortieren und nicht – wie im Bild der Justitia eingemeisselt -, Gleiches gegen Gleiches auszuwiegen

Und wenn dann noch der Ewald-von Kleist-Preis vergeben wird:

„Der Ewald-von-Kleist-Gründerpreis, der traditionell bei der Münchner Sicherheitskonferenz verliehen wird, soll laut Heusgen in diesem Jahr an Schweden und Finnland gehen. Damit werde die Bewerbung der beiden Staaten um die NATO-Mitgliedschaft gewürdigt.“[2]

Den NATO -Gürtel noch weiter um Russland schnallen, also weitere Kriegsgründe schaffen, erhält hier den Rang eines Kulturgutes. Ist das jetzt Doppelmoral, Stichwort Kubakrise? Oder wäre es vorstellbar, dass Mexiko und Venezuela einem russischem Pakt beitreten – plus weiteren 16 USA Anrainerstaaten – könnten, ohne dass die USA aufs Schärfste intervenieren würden.

Nein, natürlich nicht! Dennoch keine Doppelmoral. Vielmehr einsinnig und stringent schwingt sich hier der Westen auf, seine Werte praktisch werden zu lassen. Besser umgekehrt formuliert: Die weltweite Ausbeutung lässt sich ja keiner freiwillig gefallen. Sie muss also militärisch abgesichert werden. Es geht offenbar um gegensätzliche Interessen, denen ein kriegsträchtiges Potential inhärent ist. Und das heisst nichts Gutes.

Die Realität überholt gelegentlich die Satire, bei der ihrerseits angesichts der gegenwärtigen Weltlage nicht wirklich Freude aufkommt. Sonst hätte ich gesagt: Finstere Zeiten, in denen ein Krieg aus Versehen erklärt wird und aus Sicht der Kritiker ein 3.Weltkrieg sich in seinem inneren Kern als auf einer Doppelmoral fussend begründet, was wie gezeigt, nicht einmal den Rang einer Erklärung, sondern eher den einer Entschuldigung für sich beanspruchen kann.

Das ist nicht gut und schon gar nicht hilfreich: Wie eifrig und konsequent dagegen Deutschland seit Jahren auf eine globale militärische Präsenz hinarbeitet, zeige ich in dem angehängten Artikel „Ein kleiner Zwerg will nach oben“[3] verfasst zur Münchner Sicherheitskonferenz 2020.:Vor allem auch – „warum“.

Fussnoten:

[1] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/sicherheitskonferenz-im-zeichen-russischen-angriffs-auf-ukraine-5583370

[2] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/sicherheitskonferenz-im-zeichen-russischen-angriffs-auf-ukraine-5583370

[3] https://www.unsere-zeitung.at/2020/02/26/ein-fleissiger-zwerg-will-nach-oben/

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Grafikquellen          :

Oben        —     

Description Secretary of State Antony J. Blinken meets foreign ministers of the G7 nations in Munich, Germany, on February 18, 2023. [State Department photo by Ron Przysucha/ Public Domain]
Date
Source Secretary Blinken Meets Foreign Ministers of the G7 Nations
Author U.S. Department of State from United States
Public domain This image is a work of a United States Department of State employee, taken or made as part of that person’s official duties. As a work of the U.S. federal government, the image is in the public domain per 17 U.S.C. § 101 and § 105 and the Department Copyright Information.
U.S. Department of State official seal.svg

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Unten      —       Munich, Germany (February 17, 2023) Homeland Security Secretary Alejandro Mayorkas gave remarks during a lunch with other senior intelligence officials in Munich, Germany, at the HypoVereinsbank. (DHS photo by Sydney Phoenix)

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Sterben für kein Land?

Erstellt von DL-Redaktion am 19. Februar 2023

Wer ist bereit, für den Donbas selber zu sterben, wer?

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Marc Chesney /   

Das Recht auf Verteidigung versus das Recht auf Leben. Der Krieg ist eine Wette mit dem Einsatz von Millionen Menschenleben.

upg. Grosse Medien informieren viel über Argumente, die dafür sprechen, der Ukraine zu ermöglichen, sämtliche von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern. Deshalb lässt Infosperber zur Meinungsbildung ergänzend Stimmen zu Wort kommen, von denen man in grossen Medien wenig liest und hört. Heute den Zürcher Finanzprofessor Marc Chesney,

Keine der vorgeblich demokratischen Regierungen fragt ihre Bürger, ob sie bereit wären, sich für den Donbas oder die Krim eventuell zu opfern. Deshalb sollten sich alle ganz persönlich diese Frage stellen. Wer im Namen des Rechts auf Selbstverteidigung, das jedem Land zusteht, auf Krieg drängt, sollte sich überlegen, welche Folgen dieser Krieg für sie selber, ihre Familien und ihr privates Umfeld haben könnte.

Wer sein Recht auf Leben und Achtung als unabdingbar einstuft, sollte seine Stimme erheben. Ohne dass es weder bei uns noch in der Ukraine eine demokratische Aussprache darüber gegeben hätte, befinden wir uns jetzt auf einem gefährlichen, ja apokalyptischen Kurs.

Ein paar Dutzend Einzelpersonen, kriegerische Minister, Generäle, Waffenproduzenten und Financiers stecken ihre Köpfe hinter verschlossenen Türen in Ramstein, Davos oder anderswo zusammen und beschliessen, eine Wette darüber einzugehen, wie Vladimir Putin auf die kürzlich beschlossenen Lieferungen von Kampfpanzern – und womöglich auf künftige Lieferungen von Kampfflugzeugen – an die Ukraine reagieren wird. Der Einsatz der Wette ist das Leben von Millionen, ja Milliarden Menschen.

Einige «akkreditierte Kommentatoren» wetten, dass er rational agieren werde, andere (manchmal die gleichen, bloss zu einem späteren Zeitpunkt) räumen ein, dass seine Reaktion nur schwer vorhersehbar sei. Politische «Verantwortungsträger» wie Emmanuel Macron betonen, die Lieferung von schweren Waffen mache ihr Land nicht zur Kriegspartei, andere, dass sie sich de facto bereits im Krieg gegen Russland befänden. So sagte Annalena Baerbock, Grünenpolitikerin und deutsche Aussenministerin kürzlich: «Wir führen einen Krieg gegen Russland».

Bundeskanzler Scholz wiederum hat zur Lieferung von Leopard-2-Panzern und generell von schweren Waffensystemen an die Ukraine erklärt, dass «niemand genau sagen kann, was eine gute oder schlechte Entscheidung ist».

Kurzum, es herrscht heilloses Durcheinander.Offensichtlich haben diejenigen, die mit dem Leben ihrer Bevölkerung Poker spielen, keinen Durchblick. Dann sollten sie besser davon absehen, solche schwerwiegenden Entscheidungen zu treffen. Sie heizen damit das Kriegsgeschehen an, erst recht angesichts der Tatsache, dass die genannten Panzer mit panzerbrechenden Langstrecken-Sprengköpfen aus abgereichertem Uran bestückt werden können. Sollten diese abgefeuert werden, käme das für Russland dem Einsatz von schmutzigen Atombomben gleich.

Falls die NATO keine solche Geschosse liefert, ist es wahrscheinlich, dass die ukrainische Regierung versucht, sie sich auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen und auf Kommandozentralen oder Ortschaften auf russischem Staatsgebiet abzufeuern.

Solche Entscheide der Führenden der westlichen Welt sind verantwortungslos und verstossen gegen den gesunden Menschenverstand. Oft sind es radikale Ideologen, die die Erinnerung an das vom Zweiten Weltkrieg bewirkte Leid nicht weiter berührt. Sie haben Zugang zu geräumigen Atomschutzbunkern. Die Gefahren und das Leiden, das der aktuelle Konflikt insbesondere für die vor Ort verbliebenen Ukrainer bedeutet, lässt sie gleichgültig.

Sie sehen strategische und finanzielle Chancen – Frieden steht nicht auf ihrer Tagesordnung.

Für eine Handvoll Panzer mehr

Eine Regierung sucht die andere zu überbieten. In einem ersten Schritt sagen Dänemark, die baltischen Staaten und Spanien zu, einige Exemplare des Leopard 2 zu liefern, Deutschland und Polen je 14. Wer bietet mehr bei dieser internationalen, von der NATO orchestrierten Versteigerung? Bald schon wird es um die Lieferung von Kampfjets gehen!

Wie ist es denn um die Legitimität von Regierungen bestellt, die solche folgenschweren Entschlüsse ohne jegliche demokratische Konsultation fassen und dabei ihrer Bevölkerung nicht einmal einen minimalen Schutz garantieren können?

In der Schweiz machen kantonale und Bundesbehörden – anders als während den Jahrzehnten des Kalten Kriegs ­– keine öffentlichen Angaben zum Bevölkerungsschutz und Bereitschaft von angemessen ausgestatteten Schutzbunkern. Dieser Mangel an Vorbereitung ist inakzeptabel.

Das Scheitern eines ausbeuterischen Systems

Die fehlende demokratische Legitimation für die Eskalation in der Ukraine und der fehlende minimale Schutz der Bevölkerung sind ein Bruch des Gesellschaftsvertrags, der im Übrigen schon vor langem vollzogen wurde. Alle wichtige Warnsignale stehen auf Rot: Konflikt in Europa mit Gefahr einer nuklearen Eskalation, Erderwärmung, Verlust der Artenvielfalt, extreme soziale Ungerechtigkeiten usw. Es ist das grundlegende Scheitern eines ausbeuterischen Systems, das die Menschen nur als Produktionsfaktoren ansieht, welche in Kriegszeiten ungefragt zu Zerstörungsfaktoren werden und deren eigene Vernichtung dabei in Kauf genommen wird. In diesem System verkommen die Beziehungen der Menschen untereinander und auch ihr Verhältnis zur Natur zur Ware. Es ist an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen, bevor dieses System uns in seinen Zusammenbruch mitreisst. Um es mit den Worten von Jean Jaurès kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs zu sagen: «Der Kapitalismus birgt in sich den Krieg wie die Wolke das Gewitter.»

Diese kriegstreiberischen Tendenzen stossen selten auf offene Ablehnung. Prekarität und Dauerberieselung durch die Medien machen Menschen gefügig und teilnahmslos. Eine ständige Flut völlig unerheblicher Schlagzeilen und Nachrichten – der Rücktritt von Roger Federer, die Fussball-Weltmeisterschaft, die Enthüllungen von Messi und Mbappé, der Tod der englischen Königin, die frühen Memoiren von Prinz Harry – lenken die Aufmerksamkeit ab und tragen zur allgemeinen Gehirnwäsche bei.

In fast allen Medienkanälen dominiert martialische Propaganda. Wie kann man nur einen Augenblick lang rechtfertigen, für einen ukrainischen oder eben russischen Donbas die Existenz ganzer Bevölkerungen aufs Spiel zu setzen?

Der sogenannte gerechte Krieg ist nur ein Krieg und nichts anderes als das, ein unerträglicher Konflikt, der enorme Gefahren für die Menschheit birgt. Wer auf beiden Seiten des Kugelhagels dagegen aufstehen und für das Leben eintreten will, dem sei an das Diktum erinnert: «Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.»

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Dieser Artikel erschien am 31.01.2023 in «Le Temps». Bearbeitung der deutschen Fassung durch Infosperber.

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Oben      —     Protests in Donetsk   (Donbas )

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Der politische Heimatverlust

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Februar 2023

Russland-Romantik und theoretische Belehrungen statt Solidarität: 

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Von Anastasia Tikhomitova

Die deutsche Linke versagt im Umgang mit der russischen Aggression in der Ukraine. Die Solidarität mit den Unterdrückten gilt nicht für massakrierte Ukrai­ne­r:in­nen oder entrechtete Minderheiten in Russland.

Etwa 150 Menschen stehen an einem kalten Januarabend vor dem russischen Haus der Kultur in Berlin. Unter dem Motto „Erinnern heißt Kämpfen“ protestieren vornehmlich ukrainische und russische Linke gegen die russische imperialistische Aggression gegen die Ukraine, gegen Faschismus weltweit sowie politischen Terror in Russland.

Auf der Demo hört man neben Ukrainisch und Russisch hin und wieder Englisch, Deutsch hingegen ist nur vereinzelt vernehmbar. „Die Ukraine muss gewinnen“, sagt Michael Efler von der Partei Die Linke, der als einziger deutscher Linker eine solidarische Rede auf der Demo hält, in der er einige seiner Parteifreund:innen, insbesondere Sahra Wagenknecht, für ihre Haltung gegen Waffenlieferungen an die Ukraine rügt. Diese Position ist in der deutschen Linken eine Seltenheit. Keine der zahlreichen antifaschistischen Gruppierungen hat auf diese Demo hingewiesen oder ist dort erschienen.

Wieso scheint Russlands Krieg in der Ukraine deutsche Linke trotz eines proklamierten Internationalismus nur marginal zu interessieren? Erwähnung findet der Krieg in linken Kontexten insbesondere, wenn es um die berechtigte Kritik an den steigenden Lebenskosten in Deutschland geht. Die Verantwortung dafür suchen Teile der Linken jedoch nicht bei Russland, sondern beim Westen, der Sanktionen gegen Russland verhängte, oder der Ukraine, die sich nicht ergeben will.

Hört man sich in linken Bündnissen um, fällt auch die Antwort auf die Frage, wer die Schuld an diesem Krieg trägt, alles andere als eindeutig aus. Ein beachtlicher Teil der deutschen Linken scheint fest daran zu glauben, dass der Angriff Russlands eine provozierte Reaktion auf die sogenannte Osterweiterung der Nato darstellt. Wie oft wurde im vergangenen Jahr auf linken Antikriegsdemos „Frieden mit Russland“ und „Nein zur Nato“ skandiert, statt sich den Forderungen von Ukrainer:innen, russischer indigener Minderheiten und demokratischer, linker Rus­s:in­nen anzuschließen?

Hierbei erinnert man sich immer gern an das vermeintliche mündliche Versprechen Deutschlands und der USA an Gorbatschow 1990, und verkennt dabei, dass mittelosteuropäische Staaten der Nato aus eigenem Willen und aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit dem russischen Imperialismus beitraten. Vergessen wird auch das jahrelange Ignorieren ukrainischer Sicherheitsbedürfnisse und das Budapester Memorandum von 1994, in welchem Russland der Ukraine für die Abtretung ihrer Atomwaffen volle Souveränität und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen zusicherte. Diese unterzeichnete Vereinbarung wurde bekanntlich 2014 verletzt.

Angesichts westlicher Waffenlieferungen an die Ukraine sehen sich pazifistische Linke nur bestärkt in ihrer Sicht, denn mehr Waffen könnten ja keinen Frieden schaffen – obwohl zahlreiche Kriege durch Waffenlieferungen beendet wurden. Zudem sprechen sie von einer historischen Verantwortung aufgrund des Zweiten Weltkriegs gegenüber Russland. Diese besteht aber genauso gegenüber der Ukraine, da sie neben Belarus am meisten unter der deutschen Invasion gelitten hatte. Doch stattdessen machen linke Pazifisten den Vorschlag, die Ukraine solle kapitulieren oder sich auf Verhandlungen mit Russland einlassen, das genozidale Absichten durch eine Delegitimierung der ukrainischen Identität und Kultur mehr als deutlich gemacht hat. Das ist „Westsplaining“ in Form eines realitätsfernen, moralisierenden Pazifismus, angesichts dessen, dass etwa 90 Prozent der Ukrai­ne­r:in­nen für die Rückeroberung der besetzten Gebiete sind, weil sie genau wissen, was ihnen unter russischer Besatzung droht.

Beachtlich ist außerdem, dass nur westliche Waffenlieferungen und die Militarisierung der Ukraine angeprangert werden, nicht aber Waffen aus dem Iran und Nordkorea für Russland. Und auch nicht die Durchmilitarisierung Russlands in den letzten Jahrzehnten. Befeuert wird dies durch prorussische Propaganda, die über Instagram und Telegram verbreitet wird, über linke Kanäle wie „redfishstream“, den linken Arm von Russia Today, oder antiimperialistische Zeitungen wie die junge Welt. Unter dem Twitterhashtag „Das ist nicht unser Krieg“ findet sich zudem eine reaktionäre Querfront zusammen, die am liebsten so weitermachen würde, als sei Russland nie in die Ukraine einmarschiert. In diesen Kreisen werden jegliche Maßnahmen gegen russische Propaganda verurteilt, der ukrainische Präsident Selenski in antisemitischer Manier als Nato-Schoßhund bezeichnet, die Bedeutung der extremen Rechten in der Ukraine maßlos überzeichnet und Verbrechen gegen ukrainische Zi­vi­lis­t:in­nen heruntergespielt oder geleugnet.

Auch nach Kritik an Russland und seiner Führung sucht man hier vergeblich, vielmehr findet hier eine Apologetik statt. Siehe allein das neueste Beispiel in Form einer Petition und eines Manifests, verfasst von der Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht und der Feministin Alice Schwarzer, worin diese fordern, „uns“, also der Hälfte der Deutschen und ihrer verklärten Sicht auf den Krieg in der Ukraine zuzuhören. Man solle alle Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen, um Schaden vom deutschen Volk zu wenden.

So verkennen deutsche und andere westliche Pa­zi­fis­t:in­nen und An­ti­im­pe­ria­lis­t:in­nen den Imperialismus in Russlands Handeln. Ihre Analyse basiert oft auf veralteten, vulgär-marxistischen Imperialismustheorien. Russland ist heute jedoch eine fossilkapitalistische Diktatur, ohne freies Bürgertum und klassische Arbeiterklasse und wird von einem unproduktiven Oligarchentum und Geheimdiensten regiert. Gewiss trifft Karl Liebknechts Losung „der Hauptfeind steht im eigenen Land“ auf die russische Gesellschaft zu. Doch ertönt diese in linken Kontexten vor allem in Bezug auf die Ukraine und verhindert so das Benennen der Kriegsverantwortlichen. Ganz sicher ist nicht Wolodimir Selenski der Hauptfeind des ukrainischen Volkes, sondern das imperiale Russland und Wladimir Putin. Die Symmetrien zwischen imperialistischen Mächten aus der Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg, aus der die Losung stammt, existiert heute so nicht mehr. Sinnvoll wäre gewiss auch, diesen „Rat“ im eigenen Land anzuwenden, wo für die Handlungen des deutschen Kapitals, das gegen alle Warnungen Appeasement mit Russland trieb, bislang keine Verantwortung übernommen wird.

Getrieben von einem regressiven Antiamerikanismus und der Romantisierung Russlands als Nachfolger der Sowjetunion, findet in Teilen der Linken eine Überidentifikation mit dem „Anti-Westen“ statt, ganz der plumpen „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“-Logik folgend, obwohl für Marx eine bürgerlich-demokratische Gesellschaft – welche die Ukraine im Begriff war zu erschaffen – eine notwendige Voraussetzung für den Sozialismus darstellt. In Äquidistanz zu Despotie und Demokratie versagt man denjenigen Hilfe, die vielleicht nicht unter der roten Fahne, aber ohne Zweifel für Menschenrechte und Freiheit kämpfen, und stellt eigene Theorien über gelebte Realität in Ländern auf, über die man bisher kaum etwas wusste. Aus einer solchen Perspektive ist die Ukraine noch immer eine Pufferzone für russische und westliche Interessen, sind ihre Bür­ge­r:in­nen US-Marionetten und nicht autonome Subjekte. Ähnlich duckten sich Linke auch bei der Unterdrückung der Revolution in Belarus 2020 weg, den blutig niedergeschlagenen Protesten in Kasachstan 2022, beim russischen Krieg gegen Georgien 2008 oder bei den beiden Tschetschenienkriegen, die etwa 200.000 zivile Opfer forderten, während die Maidanrevolution 2013/14 in Kyjiw als vom Westen inszenierter, nationalistischer Aufstand verächtlich gemacht wurde.

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Oben      —     Moscow Kremlin, Russia

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Wider den Fatalismus

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Februar 2023

Der Planet wird uns – wenn nötig – abschütteln

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Ein Schlagloch von Ilja Trojanow

Wenn ohnehin alles schon zu spät wäre, könnten wir uns die Mühe gleich sparen. Ist es aber nicht und Panikmache allenfalls kontraproduktiv. Der Planet wird uns – wenn nötig – abschütteln wie eine lästige Erkältung und ohne uns weiter existieren.

Zu spät“, sagte die Frau im Radio. „Es ist zu spät.“ Die Politikerin wiederholte ihre Klage ein Dutzend Mal. Um das Zögern des Bundeskanzlers bei Panzerlieferungen anzugreifen. Auf Kosten der deutschen Sprache, denn wenn etwas zu spät ist, kann man es auch gleich bleiben lassen. Wer zu spät zum Bahnhof kommt, verpasst den vorgesehenen Zug. Endgültig. Aber es gibt – bei der Bundesbahn wie auch im richtigen Leben – meist einen anderen Zug, einen nächsten. Laut Fahrplan und Lebenserfahrung. Einen Zug, in den man trotz vorangegangenen Gejammers einsteigen wird.

Wir sind derartige Hysterisierung inzwischen gewohnt. Seit einigen Jahren mit endzeitlichem Horizont. Ob beim Krieg gegen die Ukraine oder im Kampf gegen die Klimazerstörung, stets handelt es sich um unsere letzte Chance. Um einen finalen Showdown mit dem Schicksal. Als spielten wir beim Poker all-in. Ob es um unsere Freiheit oder das Überleben der Menschheit geht: It’s now or never!

Das Endgültige zeichnet sich dadurch aus, dass es selten vorkommt – die Apokalypse hat ein solides Alleinstellungsmerkmal. Das Hierundjetzt hingegen wiederholt sich unzählige Male, täglich, stündlich, augenblicklich. Es eignet sich schlecht zur Überdramatisierung, zur existenziellen Reizüberflutung. Und die Gelassenheit, die sich aus dem Wissen um eine weitere Chance ergibt, ermöglicht einen aufgeklärteren Diskurs als das Drohen mit dem Weltuntergang, das uns in die Arme der Alternativlosigkeit treiben soll.

Strukturell ist das Kröchsen der Krähen von allen Kriegstürmen herab dem Sirenengeheul an Bord des untergehenden Planeten Erde ähnlich. Natürlich bin auch ich angesichts der Faktenlage überzeugt, dass wir nur durch radikale Transformation schwerste ökologische Schäden vermeiden können. Weder technologische Lösungen noch grüner Habitus werden uns dabei wesentlich helfen. Aber ich bezweifle, angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre, dass krypto-religiöser Alarmismus einen wertvollen Beitrag leistet.

Zumal die apokalyptische Erwartung wenig mit der Realität zu tun hat. Unsere Freiheit wird natürlich nicht nur in der Ukraine verteidigt. Zum einen, weil sie sich vieler anderer Angriffe erwehren muss (das Erstarken autoritärer und repressiver Kräfte, Vermögenskonzentration, Überwachungskapitalismus, die globale Ungerechtigkeit usw.). Zum anderen, weil es gute Gründe gibt zu bezweifeln, dass eine geschwächte Armee, die nicht einmal einige Provinzen des Nachbarlandes okkupieren kann, in absehbarer Zeit Länder der Nato angreifen oder gar besetzen wird.

Ähnlich verhält es sich bei den ökologischen Herausforderungen. Die Erde wird nicht untergehen, sondern wenn überhaupt die Menschheit. Das Gleichnis von der Arche Noah, das uns hierzulande stark geprägt hat, entstand in einer Wüste, wo es wenige Tiere gab. Die Indigenen im Amazonas, umgeben von allem, was fleucht und kreucht, wären nie auf so eine Geschichte gekommen, weil sie wussten, dass es auch Tiere im Wasser gibt. Jede Dystopie trägt ihre eigenen Scheuklappen. Der Planet wird uns – wenn nötig – abschütteln wie eine lästige Erkältung und ohne uns weiter existieren. Und wer die Natur liebt oder verehrt, wird diese Aussicht vielleicht als beglückend empfinden – schließlich ist schwer erträglich, dass wir das Wunder des Urwaldes zerstören, um veganen Käse zu produzieren. Was untergehen könnte, ist unsere dekadent-destruktive Lebensweise.

Panische Zuspitzungen verhindern, dass wichtige Entwicklungen Beachtung finden. Ein Beispiel hierfür war die Berichterstattung über Lützerath. Die Medien servierten uns ein „High Noon in Niederrhein“: Bagger gegen Baumhäuser. Und übersahen dabei, dass sich dort lebendige und belebende Formen eines alternativen Miteinanders bildeten, wie mir drei Teilnehmerinnen erzählten. Das selbstorganisierte Wirken von Tausenden von Menschen (ein beeindruckendes Panorama der Klimabewegung von gemäßigt bis radikal), die auf basisdemokratische Weise ein funktionierendes Kollektiv formten.

Quelle        :          TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Full disk view of the Earth taken on December 7, 1972, by the crew of the Apollo 17 spacecraft en route to the Moon at a distance of about 29,000 kilometres (18,000 mi). It shows AfricaAntarctica, and the Arabian Peninsula.

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Ein Jahr Russischer Krieg

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Februar 2023

Ein Jahr russischer Angriffskrieg: – Das Elend der linken Legenden

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Oben     —     Montage of the 2022 Russian invasion of Ukraine

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„Nationale Sicherheit“ BDI

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Februar 2023

Im Kampf um die Ausgestaltung des multipolaren Weltmarktes

Quelle:    Scharf  —  Links

Von  Iwan Nikolajew

  1. Prolog

„Zeitenwende“ im deutschen Kapital. „Zeitenwende“ im deutschen Imperialismus. Für die deutsche Bourgeoisie ist die Nachkriegszeit vorbei und eine neue Vorkriegszeit bricht an. Die „nationale Sicherheit“ des deutschen Kapitals bestimmt von nun an die Politik und nicht mehr die „Globalisierung“. Es endet die „Globalisierung“ in der „nationalen Sicherheit“, welche die „De-Globalisierung“ exekutiert. Das deutsche Monopolkapital, konzentriert im BDI, rüstet sich für einen dritten Griff zur Weltmacht.

  1. Das erste Gebot- Schutz der „nationalen Sicherheit“

Mit dem offenen Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes ab der „Corona-Krise“ 2020 endet die Weltgesellschaft, endet das Weltdorf bzw. das „globale Dorf“. Die nationalen Grenzen treten wieder in den Vordergrund, die kapitalistische „Nation“ wird wieder sichtbar, Geopolitik schlägt Geoökonomie. War in der Zeit der sogenannten Globalisierung der Begriff „Geopolitik“ ein Begriff aus alter Zeit und meist von faschistischen oder nationalliberalen Ideologen der Bourgeoisie besetzt, ist er heute in der ganzen Bourgeoisie weit verbreitet und beliebt. Das politische Koordinatensystem hat sich verschoben, verschoben hin zur der Fraktion der nationalliberalen Fraktion des Kapitals, denn die transatlantische Fraktion des Kapitals beginnt beim Nationalliberalismus Anleihen aufzunehmen. Nicht mehr Freihandel steht im Vordergrund, sondern „Handel unter Freunden“, was eben zu einer Negation des Freihandels führt, und damit konkret zum Nicht-Handel mit „Nicht-Freunden“, also „Nicht-Handel“ mit „Feinden“.

Am Anfang der Geopolitik steht die Unterscheidung zwischen „Freund“ und „Feind“. Mit dem offenen Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes ab dem Jahr 2020 in der „Corona-Krise“ steht für das Kapital die „Freund-Feind“-Bestimmung im Zentrum seiner Politik. In der „Freund-Feind“-Bestimmung gibt es keine Neutralität. Wer nicht für die konkrete Anti-Feind-Politik“ des Kapitals ist, ist ein „Feind“. Die Aufforderung des bürgerlichen Staates nach „Haltung“, ist eine Aufforderung sich der „Freund-Feind“-Unterscheidung zu unterwerfen, sich aktiv als „Freund“ oder „Feind“ auszuweisen. In letzter Konsequenz heißt „Freund“ übersetzt in die Sprache des Ausnahmezustandes „Leben“ im Sinne von „Überleben“, während „Feind“ für den Tod steht. In diesem Sinne steht „Haltung“ für Feindschaft gegenüber dem „Feind“ und „Freundschaft“ gegenüber dem nationalen Kapital. Die „nationale Sicherheit“ ist die Unterscheidung zwischen „Feind“ und „Freund“. Das Kapital organisiert sich nach dem Prinzip der „nationalen Sicherheit“ und damit wird dann auch die Arbeiterklasse nach dem Prinzip der „nationalen Sicherheit“ organisiert. „Neutralität“ ist unter diesen Bedingungen versteckte Feindschaft und diese versteckte Feindschaft fürchtet die Bourgeoisie derzeit am meisten. Es werden derzeit von der Arbeiterklasse Loyalitätserklärungen an ihre eigene Bourgeoisie erwartet. Wer diese Loyalitätsbezeugung verweigert ist für die Bourgeoisie der „Feind“. Eine formale Loyalitätsbezeugung reicht nicht aus, sie muß in der Praxis des proletarischen Alltagslebens geliefert werden. Nur dann sieht die Bourgeoisie die „nationale Sicherheit“ gewährleistet. Für die Bourgeoisie ist die „nationale Sicherheit“ ihre Souveränität und ihre Resilienz. Die Souveränität ist dann die „offene strategische Autonomie“ des deutschen Kapitals

„Das Ziel der Bundesregierung und der Europäischen Kommission, die Souveränität und Resilienz in Europa zu stärken, ist angesichts wachsender geopolitischer und ökonomischer Risiken vordringlicher denn je…Unternehmen und Wirtschaftspolitik müssen sich auf die massiv veränderte Lage einstellen. Die EU und ihre Unternehmen können sich nicht auf den Goodwill autokratischer Staatenlenker verlassen. Nicht erst mit dem Krieg Russlands in der Ukraine treten strategische Abhängigkeiten zum Vorschein.“ Neben den geplanten Maßnahmen in den Feldern Energiewirtschaft und Verteidigung müssen Unternehmen und Politik Vorsorge in weiteren kritischen Bereichen treffen. Hierzu bedarf es zuvorderst einer Verzahnung verschiedener Fachbereiche in der Politik. (BDI-Grundsatzpapier: Europäische Souveränität stärken, Zur offenen strategischen Autonomie, 29. Oktober 2022, im folgendem abgekürzt mit BDI)

Resilienz stärken heißt ein dichtes Sicherheitsnetz über die Arbeiterklasse werfen. Das Kapital unterzieht sich einer Neuzusammensetzung und damit auch die Arbeiterklasse unter dem materiellen Primat der Staatssicherheit bzw. der „nationalen Sicherheit“. Darum steht auch die Souveränität gleichzeitig für eine autarkische Tendenz in der Politik des deutschen Imperialismus. Zuvor versuchte der deutsche Imperialismus eine gegenseitige Abhängigkeit mit Rußland oder China zu konstituieren und ging gleichzeitig politisch gegen den russischen Imperialismus oder China vor. Diese Politik scheiterte in der Ukraine. Die gegenseitigen ökonomischen Verflechtungen des deutschen und russischen Kapitals, vor allem im Energiesektor, hielt den russischen Imperialismus nicht davon ab, seine Interessen gegenüber dem deutschen Imperialismus und dem NATO-Pakt in der Ukraine zu verteidigen, dabei war die ökonomische Verflechtung des deutschen Kapitals mit dem russischen Kapital, vor allem in Energiefrage, das Zuckerbrot, und die NATO und EU-Erweiterung die Peitsche. Diese Politik des deutschen Imperialismus scheiterte in der Ukraine und nun ruft das deutsche Kapital nach Entflechtung mit dem russischen Imperialismus, aber auch gegen China, denn Rußland und China sind in einem Bündnis gegen den transatlantischen Imperialismus vereint. Der Ruf der deutschen Bourgeoisie nach Souveränität, einer tendenziellen Autarkie, ist das Resultat der Niederlage des deutschen Imperialismus in der Ukraine gegen den russischen Imperialismus. Zweifellos ist der Ukraine-Krieg ein Schock für den deutschen Imperialismus, welcher immer dem russischen Imperialismus den Respekt verweigerte und nicht auf gleicher Augenhöhe behandelte. Einen Ausgleich mit dem russischen Imperialismus verweigerte bisher der deutsche Imperialismus. Die Niederlage in der Ukraine führt zu Revancheforderungen im deutschen Kapital. Da der deutsche Imperialismus militärisch zu schwach ist, wird die militärische Schwäche über den antirussischen Wirtschaftskrieg kompensiert. Und auch im Wirtschaftskrieg scheitert der deutsche Imperialismus am russischen Imperialismus. Deshalb der Bruch in der Politik des deutschen Imperialismus, denn es ist offensichtlich, daß sich der deutsche Imperialismus neuformieren muß, um im multipolaren Weltmarkt nicht unterzugehen. Die Politik der gegenseitigen Abhängigkeit wird verworfen und nun wird eine Politik der Souveränität und damit der tendenziellen Autarkie angestrebt, wobei die konkrete Ausgestaltung dieser Politik offen ist. Diese konkrete Ausgestaltung einer Politik der Souveränität muss erst innerhalb des Kapitals selbst in Fraktionskämpfen ausgekämpft werden und dabei muß primär der Klassenkampf zwischen Kapital und Proletariat berücksichtigt werden, denn jede Kapitalfraktion muß sich vermittels einer sozialen und politischen Massenbasis legitimieren und kann dies politische Gewicht in den Fraktionskampf der herrschenden Klasse hinein mobilisieren. Das deutsche Kapital weiß nur, was es nicht will, aber nicht, was es stattdessen will. Über eine längere Phase wird die Hegemonie innerhalb der herrschenden Klasse labil sein, tendenziell ist damit die bürgerliche Klassenherrschaft in Frage gestellt und der Notstand ist es, der in dieser Phase die bürgerliche Klassenherrschaft sichert. Hinter dem Notstand formiert sich die Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse und gegen die Weltmarktkonkurrenten neu. Explizit stellt der BDI auf die „nationale Sicherheit“ ab, welche die materielle Grundlage für eine Politik der Souveränität bildet.

„Ordnungspolitisch sollten dabei vier Ziele im Vordergrund stehen: Lieferketten sollten stabilisiert, Technologiefähigkeiten erlangt und ausgebaut, industrielle Fertigkeiten zur Wahrung der eigenen Handlungsfähigkeit inklusive der nationalen Sicherheit verstärkt und die Internationale Wettbewerbsfähigkeit behauptet werden, etwa mit fairen und effektiven Handelsregeln“ (BDI a.a.O.)

Die „nationale Sicherheit“ hat viele Formen. Eine Form ist der Notstand und dieser ist derzeit aktuell. Erst eine Politik der „nationalen Sicherheit“ schafft die materielle Basis für faire und effektive Handelsregeln, so der BDI. Der BDI erkennt deutlich, daß die große ökonomische Macht des deutschen Imperialismus nicht ausreicht, sich in der multipolaren Weltmarktkonkurrenz durchzusetzen, es bedarf auch einer großen militärischen Schlagkraft und diese fehlt deutschen Imperialismus. Im neoliberalen Weltmarkt sicherte der US-Imperialismus als Hegemonialmacht in der imperialistischen Kette bisher die „nationale Sicherheit“ des deutschen Imperialismus. Doch dies ist vorbei. Nachdem der US-Imperialismus seine Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette verlor, formal im Ukraine-Krieg, jedoch real schon weit vorher, ändert sich das US-deutsche Verhältnis in ein deutliches Konkurrenzverhältnis, welches aber der deutsche Imperialismus nicht wahrhaben will und verzweifelt versucht die „deutsch-amerikanische Feindschaft“ zu verhindern und die „deutsch-amerikanische Freundschaft“ zu sichern. Doch die große Unterwürfigkeit des deutschen Imperialismus unter die Interessen des US-Imperialismus vermindert nicht den großen Druck des US-Imperialismus auf den deutschen Imperialismus. Der deutsche Imperialismus führt seinen transatlantischen antirussischen Wirtschaftskrieg aus eigenen Interessen und die deutschen Interessen sind nicht deckungsgleich mit den Interessen des US-Imperialismus. So war der deutsche Imperialismus sofort an vorderster Stelle im antirussischen Wirtschaftskrieg dabei und einer der Haupttreiber dieses Wirtschaftskrieges, kann jedoch nicht aus eigenen Interessen und eigenen Willen einen Sonderfrieden mit dem russischen Imperialismus schließen, obwohl vor allem der deutsche Imperialismus schwere Schäden einstecken muß, denn der US-Imperialismus hat eine höhere Machtentfaltung als der deutsche Imperialismus und kann ihn zwingen, den Wirtschaftskrieg weiterzuführen. Die Sprengung der Nord Stream-Pipelines demonstriert die Macht des US-Imperialismus.

Der deutsche Imperialismus konnte zwar einen antirussischen Wirtschaftskrieg beginnen, kann ihn aber ohne die Zustimmung des US-Imperialismus nicht ohne weiteres beenden. Nur dann kann der deutsche Imperialismus den antirussischen Wirtschaftskrieg beenden, wenn er sich noch zusätzlich mit dem US-Imperialismus konfrontiert. Während der deutsche Imperialismus nur den Wirtschaftskrieg gegen den russischen Imperialismus führt, führt der US-Imperialismus gleichzeitig zwei Wirtschaftskriege, einmal gegen den russischen Imperialismus und einmal gegen den deutschen Imperialismus und damit auch indirekt gegen die EU. Zusätzlich bereitet sich der US-Imperialismus auf einen Wirtschaftskrieg mit China vor, der jederzeit ausbrechen kann. So willig der deutsche Imperialismus ist, den antirussischen Wirtschaftskrieg zu führen und letztlich auch gegen China, so unwillig ist er, den Wirtschaftskrieg gegen den US-Imperialismus zu organisieren. Erst die Verluste und die zerbrechende sozioökonomische Stabilität des Modell Deutschland werden den deutschen Imperialismus, bei Strafe des Untergangs, von seinen Illusionen in die „Deutsch-amerikanische-Freundschaft“ befreien und ihn dann objektiv wieder auf den deutschen Sonderweg zurückführen. In der Ferne klingt dies auch in dem oben aufgeführten Grundsatzpapier des BDI an und wird mit dem Begriff „offene strategische Autonomie“ beschrieben oder als Souveränität und meint immer eine relative Autarkie im Sinne multipolarer imperialistischer Blöcke. Jedoch in der Nahperspektive verbleibt der deutsche Imperialismus im transatlantischen Fahrwasser des US-Imperialismus, auch dies zeigt sich im Grundsatzpaper des BDI. Doch der Protektionismus des multipolaren Weltmarktes wird auch in letzter Instanz den transatlantischen Metropolenblock sprengen und die transatlantischen Metropolen dazu bringen, sich gegeneinander auszurichten. Vor allem in der Frage der Halbleiterproduktion in der EU bestehen noch Illusionen in die transatlantische Zusammenarbeit.

„Das Halbleiter-Ökosystem ist global aufgestellt. Initiativen, wie das Transatlantic Trade and Technology Council (TTC), sollten daher verstärkt genutzt werden, um die Kernkompetenzen von Europa und Nordamerika zu stärken und gleichzeitig enger zusammenzuarbeiten. Eine engere transatlantische Kooperation ist eine entscheidende Voraussetzung, um die Wettbewerbsfähigkeit der Halbleiterindustrie in beiden Regionen zu stärken“. (BDI, a.a.O. S. 11)

Die strategische Autonomie des BDI bzw. des deutschen Imperialismus insgesamt bezieht sich derzeit konkret lediglich auf eine strategische Autonomie innerhalb der transatlantischen Bündnisse und damit unter der Dominanz des US-Imperialismus. Jedoch ist die transatlantische strategische Autonomie des deutschen Imperialismus vom US-Imperialismus eine Illusion, denn gerade der Verlust der Hegemonie durch den US-Imperialismus verstärkt auch die intra-transatlantische Weltmarktkonkurrenz; die relative Schwäche des US-Imperialismus reduziert die Spielräume des deutschen Imperialismus innerhalb der transatlantischen Bündnissysteme in Richtung Null. Spielräume des deutschen Imperialismus innerhalb und außerhalb der transatlantischen Strukturen ergeben sich nur bei einem hegemonialen US-Imperialismus und damit im neoliberalen Weltmarkt, nicht jedoch im multipolaren Weltmarkt, der ein Produkt der Nicht –Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette ist und damit auch ein Produkt des Hegemonialverlustes des US-Imperialismus Im multipolaren Weltmarkt kann der deutsche Imperialismus seine strategische Autonomie nicht mit, sondern nur gegen den US-Imperialismus realisieren. Doch diese Position wird mehrheitlich im deutschen Gesamtkapital verworfen und das deutsche Gesamtkapital wird seine Erfahrungen machen müssen. Noch kann der deutsche Imperialismus, hier vor allem der BDI, nur eine strategische Autonomie gegen den russischen Imperialismus und gegen China in Betracht ziehen. Die „nationale Sicherheit“ des deutschen Imperialismus ist immer noch in letzter Instanz die „nationale Sicherheit“ des US-Imperialismus gegen die internationale Arbeiterklasse. Bis jetzt findet die „nationale Sicherheit“ des deutschen Kapitals ihre Grenze an der „nationalen Sicherheit“ des US-Kapitals, was man konkret im Fall Assange und im Fall Snowden sehen kann. Die US-Geheimdienste kontrollieren im transatlantischen System die elektronischen Kommunikationssysteme und führen Lauschangriffe auch auf die Bundeskanzlerin oder dem Bundeskanzler durch, ohne daß der deutsche Imperialismus einen realen Widerstand leistet. Während der deutsche Imperialismus sich vom russischen Imperialismus abkoppelt, China mit der Abkopplung droht, bleibt es im US-deutschen Verhältnis ruhig. Statt Abkopplung vom US-Imperialismus eher Aufgabe der strategischen Autonomie des deutschen Imperialismus gegenüber dem US-Imperialismus. Dann dient der Begriff „strategische Autonomie“ lediglich der Abkopplung von Rußland und China zugunsten einer engeren Verflechtung mit dem US-Kapital. Der Feind ist nicht der US-Imperialismus, sondern auf der staatlichen Ebene der russische Imperialismus und China, hingegen der eigentliche Feind die Arbeiterklasse ist. Der Ukraine-Krieg ist lediglich der Anlaß für die Neuausrichtung des deutschen Imperialismus. Erst langsam wird sich der deutsche Imperialismus vom US-Imperialismus emanzipieren. Noch hält die deutsche Bourgeoisie in Nibelungentreue zum US-Imperialismus. Schon seit längerem versucht die EU-Kommission eine Strategie zu erarbeiten, um die strategischen Abhängigkeiten zu reduzieren. Dies trifft auf die Zustimmung des BDI.

„Man will die „strategische Souveränität“ Europas erhöhen“. Explizit geht es „dabei auch um den Systemwettbewerb mit autoritär regierten Staaten“. (BDI: a.a.O. S. 3)

Der Feind sind selbstverständlich vor allem Rußland und China, denn die transatlantischen Bundesgenossen des deutschen Imperialismus sind natürlich demokratische Staaten, denn sonst wären sie keine Bundesgenossen des „demokratischen“ Deutschland.

Der Begriff „strategische Autonomie“ bzw. Souveränität zeigt an, daß das deutsche Kapital den Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes akzeptiert hat. Im neoliberalen Weltmarkt, wo die Hegemonie durch den US-Imperialismus ausgeübt wird, benötigte keine Metropole eine „strategische Autonomie, diese wäre gar ein Angriff auf den neoliberalen Weltmarkt. Vor allem Rußland und China haben seit Beginn der Großen Krise im Jahr 2007 eine Politik der „strategischen Autonomie und „Souveränität“ exekutiert und damit auch eine Politik der „strategischen Autonomie und Souveränität“ gegenüber dem US-Imperialismus und seinem transatlantischen System, denn der US-garantierte neoliberale Weltmarkt blockierte die Akkumulation des russischen und chinesischen Kapitals. Der US-Imperialismus war der einzige Souverän und besaß als Einziger eine „strategische Autonomie,“ denn er garantierte den neoliberalen Weltmarkt, zu seinem Vorteil, aber auch zu dem Vorteil aller anderen Metropolen und der Peripherie. Die Absetzbewegung Rußlands und Chinas aus dem neoliberalen Weltmarkt versuchte der US-Imperialismus und sein transatlantisches System zu verhindern. Über die Kolonialkriege in Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen, Libyen etc. versuchte der US-Imperialismus Rußland und China im neoliberalen Weltmarkt zu halten, bzw. dort weiter gefangen zu halten. Diese Kolonialkriege waren immer Stellvertreterkriege zwischen den transatlantischen Metropolen auf der einen Seite und dem russischen Imperialismus und China auf der anderen Seite. Auf den Schlachtfeldern von Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen, Libyen etc. wurde dieser Konflikt ausgetragen, auf diesen Schlachtfeldern wurde der US-Imperialismus und sein NATO-Pakt geschlagen. Der Ukraine-Krieg geht über die neoliberalen Kolonialkriege hinaus; er ist der Grenzpunkt zwischen den neoliberalen Kolonialkriegen und den ersten Kriegen im Rahmen der multipolaren Weltordnung und mehr als ein Kolonialkrieg oder Stellvertreterkrieg, sondern ein verdeckter Krieg zwischen den NATO-Metropolen und dem russischen Imperialismus, der von China in diesem Krieg unterstützt wird. Jederzeit kann diese verdeckte Auseinandersetzung zwischen dem NATO-Pakt und Rußland in eine offene Auseinandersetzung übergehen und damit in den Dritten Weltkrieg. Der Weg in den Ukraine-Krieg führte über Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen, Libyen etc. d.h. dieser Krieg fiel nicht vom Himmel und hat eine lange internationale Vorgeschichte und er ist ein Umschlag von Quantität in eine neue Qualität, der eine Krieg zu viel, welcher der formale Anlaß ist für die letzte Phase des offenen Zusammenbruchs des neoliberalen Weltmarktes und den naturwüchsigen und blutigen Aufgang des multipolaren Weltmarktes. Im Ukraine-Krieg reproduziert sich konkret-spezifisch die neue Qualität der Weltmarktkonkurrenz, spiegelt sich der Verlust der US-Hegemonie, denn sonst wäre dieser Krieg nicht möglich. Das Ende der US-Hegemonie über die imperialistische Kette ist ein blutiges Ende; Rußland und China erhalten ihre strategische Autonomie im multipolaren Weltmarkt, ebenso die anderen Metropolen, aber nicht die Peripherie, dort ändert sich nur die Form der Abhängigkeit, im Verhältnis Metropole-Peripherie kann nur die Metropole wechseln, mehr jedoch nicht. Der Griff jeder Metropole nach der „strategischen Autonomie bzw. Souveränität“ macht deutlich, daß der US-Imperialismus nicht mehr Hegemon ist und nun der Kampf innerhalb der imperialistischen Kette um die Hegemonie ausbricht, alle gegen alle, jeder gegen jeden. Der deutsche Imperialismus steht noch relativ unentschieden zwischen den beiden imperialistischen Epochen, visiert abstrakt die „strategische Autonomie“ an, konkret jedoch bleibt das deutsche Kapital erst einmal im Fahrwasser des US-Imperialismus und des transatlantischen Blocks der Metropolen. Anspruch und Wirklichkeit treten derzeit in der deutschen Bourgeoisie weit auseinander. Der deutsche Anspruch auf „Führung“ ist eine Farce, wenn man dies in Verhältnis setzt mit der Angst davor, daß sich der US-Imperialismus aus Deutschland oder Westeuropa zurückzieht und man alleine dem russischen Imperialismus und auch China gegenübersteht. In der Tendenz tritt die „nationale Sicherheit“ des deutschen Imperialismus in Widerspruch mit der „nationalen Sicherheit“ des US-Imperialismus, doch kurzfristig bestimmt noch die „nationale Sicherheit“ des US-Imperialismus die „nationale Sicherheit“ des deutschen Imperialismus, auch durch das Bitten und Flehen der deutschen Bourgeoisie nach Hilfe gegen den Osten. Mit dem Verschwinden des neoliberalen Weltmarktes verschwindet langsam auch das Dogma, daß die „nationale Sicherheit“ der USA die „nationale Sicherheit“ der transatlantischen Metropolen ist. Im multipolaren Weltmarkt ist jede Metropole auf sich allein gestellt, bzw. von da ausgehend können sich neue Bündnissystems entwickeln und neue imperialistische Blöcke formieren sich.

Die „nationale Sicherheit“ jeder Metropole bezieht sich real auf die Verwertungsinteressen des jeweiligen nationalen Gesamtkapitals und produziert so die „nationalen Interessen“, die weltweit ausgelegt werden. Im neoliberalen Weltmarkt waren die „nationalen Interessen“ im transatlantischen Block unter Führung des US-Imperialismus im Wesentlichen deckungsgleich, so daß der US-Imperialismus nicht nur seine bornierten „nationalen Interessen“ exekutierte, sondern alle „nationalen Interessen“ aller transatlantisch ausgerichteten Metropolen und peripher die Interessen des russischen Imperialismus und Chinas. Die „nationale Sicherheit“ der USA war die „Sicherheit der Welt“ und der US-Imperialismus der Weltpolizist. Die neoliberalen Kolonialkriege des US-Imperialismus hatten zum Zweck den US-Dollar als Weltgeld zu sichern, denn dieser garantierte die Hegemonie des US-Imperialismus. Da der US-Imperialismus als Resultat des Niedergangs der US-Mehrwertproduktion auf mehreren Ebenen hoch verschuldet ist und als Importeuer der letzten Instanz fungiert, besteht die Notwendigkeit, die Verschuldung mit Wert zu unterfüttern, auf diese Weise den US-Dollar als Weltgeld zu verteidigen. Die USA hatten in der Vergangenheit bisher das Privileg sich in eigener Währung zu verschulden. Als Importeuer der letzten Instanz stabilisierten sie den transatlantischen Block bzw. den Weltmarkt, der Aufstieg Chinas und der Wiederaufstieg Rußlands waren auch ein Produkt dieser Politik und damit schufen sich die USA die Feinde, welche heute offen die US-Hegemonie in Frage stellen, bzw. zerstören. Über die Operation Syriana versuchte der US-Imperialismus die strategischen Rohstoffe, vor allem Öl und Gas, zu monopolisieren, damit der US-Dollar noch fester an das Öl und Gas gebunden werden kann, denn der US-Dollar ist an das Öl gebunden und dies ermöglicht die Dollar-Bindung aller anderen Rohstoffe. Diese US-Kolonialkriege sind nur eine Flucht nach vorn und ein Wettlauf gegen die Zeit, ein Wettlauf mit der untergrundig drohenden Entwertung des Kapitals, ein Wettlauf zwischen „Politik“ und „Ökonomie“, den die „Politik“ verliert und objektiv befördert die Politik der „Flucht nach vorn“ gar die Entwertung des Kapitals, statt sie aufzuhalten oder zu verzögern. Mit dem Scheitern der US-Kolonialkriege scheitert auch die Unterfütterung des US-Dollar mit Wert und naturwüchsig bricht sich dann die Große Krise als materieller Ausdruck der Durchschnittsbewegung des Kapitals im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate Bahn. Die imperialistischen Kräfteverhältnisse beginnen sich in der Zeit von 2007-2022 zu Ungunsten des US-Imperialismus zu verschieben. Dem US-Imperialismus ist es nicht gelungen, die Schwäche der US-Mehrwertproduktion mit einer politischen Intervention zu kompensieren, damit konnte auch der US-Dollar als Weltgeld nicht stabilisiert werden und am US-Dollar als Weltgeld hängt der US-Imperialismus. Je mehr sich das internationale Kräfteverhältnis sich zu Ungunsten des US-Imperialismus verschob, also je mehr sich die Widersprüche in der neoliberalen Akkumulationsepoche sich konzentrierten, desto mehr radikalisierte sich der US-Imperialismus und mit ihm der transatlantische Block, konkret NATO-Pakt und EU, der Ukraine-Krieg ist der materielle Ausdruck der Explosion der immanenten kapitalistischen Widersprüche in Form des neoliberalen Akkumulationsmodells.

Die US-Politik der Flucht nach vorn endet in der Ukraine, denn sie ist die rote Linie des russischen Imperialismus und somit ist der Ukraine-Krieg ein indirekter direkter Krieg zwischen den transatlantischen Metropolen und dem russischen Imperialismus und für den russischen Imperialismus gleichzeitig ein Bürgerkrieg innerhalb der „russischen Welt“ und so führt der russische Imperialismus in der Ukraine einen nationalistischen imperialistsichen Bürgerkrieg gegen den transatlantischen imperialistischen Block. Eindeutig ist die russische Kriegsführung im Ukraine-Krieg nicht so sehr auf einen zwischenstaatlichen Krieg ausgerichtet, sondern auf einen Bürgerkrieg der „russischen Welt“, der sich gleichzeitig gegen den transatlantischen imperialistischen Block wendet. Das Ziel der russischen Kriegsführung ist kein „Blitzkrieg“ gegen einen anderen Staat, sondern das Heranziehen des anderen Staates oder dessen Auflösung in die „russische Welt“, dazu wird die ukrainische Gesellschaft umgepflügt, das Unterste nach oben gekehrt und das Oberste nach unten gekehrt; es geht um die Auflösung der ukrainischen Gesellschaft in die „russische Welt“ und dies kann nur langsam vor sich gehen; die Bevölkerung soll sich und muß sich zwischen der „russischen Welt“ und der transatlantisch ausgerichteten Rest-Ukraine entscheiden, es entstehen damit national-homogene Räume, d.h. die russische Kriegsführung dient gleichzeitig dem „nation buildung“. Ein „russischer Blitzkrieg“ würde jedoch die ukrainische Gesellschaft konservieren, statt sie zu zerstören. Zuerst muß die ukrainische Gesellschaft zerstört werden, bevor sie in die „russische Welt“ überführt werden kann. Daran richtet sich die russische Kriegsführung aus. Was auch heißt, daß der russische Imperialismus außerhalb der „russischen Welt“ anders handeln kann und wird, dies wären dann für ihn zwischenstaatliche Kriege. Während die NATO und die NATO-Ukraine einen zwischenstaatlichen Krieg gegen Rußland führt, führt Rußland gegen die NATO-Ukraine einen Bürgerkrieg und sichert sich nur gegen den NATO-Krieg, geht bisher nicht in einen offenen oder verdeckten zwischenstaatlichen Krieg über. Die Neuzusammensetzung des russischen Kapitals-die Neuzusammensetzung der russischen Arbeiterklasse vermittelt sich über den Ukraine-Krieg.

Es hängt vom weiteren Verhalten des NATO-Paktes ab, wie sich der imperialistische Konflikt zwischen den transatlantischen NATO-Metropolen und dem russischen Imperialismus entwickelt. Dieser Konflikt kann jederzeit in den Dritten Weltkrieg umschlagen, denn er hat sich verselbständigt und damit eine Eigendynamik gewonnen, die von den Akteuren nicht mehr kontrolliert werden kann; die Akteure selbst sind im Moment zu den Gefangenen dieses imperialistischen Konfliktes geworden und müssen sich erst aus dem Gefängnis des imperialistischen Konflikts befreien, wollen sie den konkreten imperialistischen Konflikt beherrschen. Dieser Ukraine-Krieg ist ein Weltordnungskrieg, ein Moment, ein Krieg, der die alte neoliberale Weltordnung endgültig zum Einsturz bringt und die multipolare Weltordnung zum Durchbruch verhilft. Im Ukraine-Krieg wird eine neue imperialistische Weltordnung ausgekämpft. Der antirussische Wirtschaftskrieg entwickelt sich immer mehr zu einem Weltwirtschaftskrieg. Zuerst eröffnet der deutsche Imperialismus eine Front im Wirtschaftskrieg gegen Rußland, droht China mit Wirtschaftskrieg und letztlich auch dem US-Imperialismus, denn dieser führt nicht nur gegen Rußland und China einen Wirtschaftskrieg, sondern gleichzeitig auch gegen den deutschen Imperialismus und die EU, welche unter einem erheblichen deutschen Einfluß steht. Alle gegen alle, jeder gegen jeden. Und ein Weltwirtschaftskrieg bietet eine materielle Grundlage für den Dritten Weltkrieg. Immer mehr entpuppt sich der Hauptverbündete des deutschen Imperialismus, der US-Imperialismus, als Feind im Rücken und drängt den deutschen Imperialismus mit seiner Politik objektiv auf seinen Sonderweg. Der deutsche Schlag gegen Rußland kann potentiell die Grundlage für eine deutsch-russische Verständigung herstellen, folgend kann dann der nächste Schlag gegen Westen, gegen den US-Imperialismus ausgeteilt werden. Die Welt von Jalta und Potsdam ist zerbrochen. So kann der Schlag nach Osten den Schlag nach Westen vorbereiten und der Schlag nach Westen wieder den Schlag nach Osten- die traditionelle Pendelpolitik des deutschen Imperialismus.

Im Ukraine-Krieg faßt sich die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse materiell und damit weltweit, zusammen. Ein neues Akkumulationsmodell ist naturwüchsig am Entstehen. Diese Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse bezieht sich konkret auf die Herausbildung imperialistischer Blöcke in der multipolaren Weltmarktkonkurrenz. Die multipolare Weltmarktkonkurrenz schreibt sich materiell in die das Capital fix ein, konkret in Form von KI-Systemen, welche den Anforderungen der Kapitalakkumulation im multipolarem Weltmarkt entspricht, denn in den KI-Systemen materialisiert sich die „nationale Sicherheit“ der Akkumulation im Form des multipolaren Weltmarktes. Erst die KI-Systeme ermöglichen die Herstellung einer „nationalen Sicherheit“ gegen den „inneren Feind“, wie den „äußeren Feind,“ auf einem neuen historischen Niveau und sind die materielle Basis für die bürokratischen Waffen, mit denen die multipolare Weltmarktkonkurrenz ausgetragen wird und damit der Klassenkampf von Seiten des Kapitals, denn das materielle Primat der multipolaren Weltmarktkonkurrenz ist der Klassenkampf, wie dann die multipolare Weltmarktkonkurrenz gleichzeitig auch den Klassenkampf des Kapitals gegen die Arbeiterklasse präsentiert, indem die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum neu im Sinne der multipolaren Weltmarktkonkurrenz, im Sinne der „nationalen Sicherheit,“ zusammengesetzt wird. Über die KI-Systeme wird die Fabrik, wie die bürgerliche Gesellschaft, die materiell primär eine Fabrikgesellschaft ist, einer neuen Form der Ausbeutung unterworfen, denn die KI-Systeme beziehen sich auf die Ausforschung des unmittelbaren, bewußtlosen Verhaltens innerhalb der Arbeit und außerhalb der Arbeit, um schon präventiv Verhalten zu erfassen, die in „staatsfeindliches Verhalten“ münden könnte, welches dann präventiv unterbunden werden könnte. Schon weit im Vorfeld der Tat, soll der Täter eliminiert werden können. Unter diesem Diktat der KI-Systeme hofft das Kapital die Ausbeutungsrate steigern zu können und den alltäglichen Klassenkampf über die Sabotage der Ausbeutung zu zerstören, d.h. die Poren des Arbeitstages sollen über die Forcierung der Methoden der relativen Mehrwertproduktion verdichtet werden.

Vermittelt die KI-Systeme werden die Poren des Arbeitstages nur dann verdichtet, wenn der passive und erst Recht der aktive alltägliche Widerstand der Arbeiterklasse, welcher das neue Ausbeutungsniveau vermittels kollektiver Sabotage der Ausbeutung unterläuft, gebrochen wird. Es bedarf damit auch einer neuen sozialen Zusammensetzung der Arbeiterklasse, denn sonst bleibt die Waffe KI eine stumpfe Waffe im Klassenkampf. Das Kapital setzt der Arbeiterklasse neue Leistungsziele, welche die gesellschaftlich notwendige Reproduktion der Ware Arbeitskraft angreifen. Nur über den Notstand, in welcher Form auch immer, kann der Verzicht der Arbeiterklasse, kann die neue KI-gestützte Form der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse realisiert werden. Konkret. Nur über den Notstand können die Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus, kann sich damit das historisch fixierte Klassengleichgewicht im antagonistischen Klassenungleichgewicht zur Seite des Kapitals positiv öffnen, kann die stumme relative proletarische Gegenmacht in der Fabrik zugunsten einer Betriebsgemeinschaft, die zentral eine Leistungsgemeinschaft ist, verändert werden, nur dann, wenn über den Notstand eine Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft konstruiert wird. Die KI-Systeme im Capital fix können sich nicht ohne den Notstand durchsetzen und unterfüttern den Notstand. Ein neues Fabrikregime erfordert ein neues gesellschaftliches Akkumulationsregime. Das neue multipolare Akkumulationsregime ist ein militarisiertes Akkumulationsregime und die KI-Systeme treiben die innere Militarisierung der bürgerlichen Klassengesellschaft an. Der militärisch-industrielle Komplex wird in der multipolaren Weltmarktkonkurrenz aufgewertet, in seiner Aufwertung reflektiert sich die „Politik der nationalen Sicherheit“, wie eben auch konkret-materiell in der Implantation der KI-Systeme. Die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse ist eine Frage des Klassenkampfes und damit des weltweiten Klassenkampfes und kein einseitiger „Blitzkrieg“ des Kapitals gegen die Arbeiterklasse. Über die technische Anwendung von KI wird das Verhalten der Arbeiterklasse roboterisiert, normiert und standardisiert, für eine neue Rationalisierungsoffensive des Kapitals geöffnet, denn Neuzusammensetzung des Kapitals ist immer eine kapitalistische Rationalisierungsoffensive.

Die Restrukturierung der Verwertungsbedingungen des Kapitals materialisiert sich als abstrakte Negation des neoliberalen Weltmarktes. Der Begriff „Globalisierung“ ist spätestens seit Februar 2022 mit dem Ukraine-Krieg weitgehend verschwunden. An die Stelle des Begriffs „Globalisierung“ tritt der Begriff „strategische Autonomie“ oder „strategische Souveränität“, wie die „Politik der nationalen Sicherheit“ ideologisch umschrieben wird. Diese abstrakte Negation des neoliberalen Weltmarktes findet sich in der Tendenz zur Autarkie. Das jeweilige nationale Gesamtkapital versucht sich tendenziell aus den Abhängigkeiten des Weltmarktes zu befreien. Es findet eine Entflechtung des Kapitals statt, während der neoliberale Weltmarkt für die Verflechtung des Kapitals stand. Der BDI als der führende Ausschuß des deutschen Monopolkapitals wechselt von der neoliberalen Front zur nationalliberalen Front.

„Auch in den europäischen Unternehmen ist eine breite Debatte über die verschiedenen Aspekte der Reduzierung von politisch sensiblen wirtschaftlichen Abhängigkeiten erforderlich. Die sicherheitspolitische Lage lässt eine rein betriebswirtschaftliche Betrachtung zentraler Größen in der unternehmerischen Beschaffung nicht mehr zu. Gestiegene politische Risiken und Lieferkettensicherheit müssen stärkeren Raum in der strategischen Planung der Unternehmen einnehmen. Zudem ist zu diskutieren, wie mit weltweiten Knappheiten oder Engpässen bei kritischen Rohstoffen und Zwischengütern mittelfristig umzugehen ist“ (BDI: a.a.O. S. 5)

Im multipolaren Weltmarkt legt das Monopolkapital Wert auf eine enge Zusammenarbeit mit dem bürgerlichen Staat als ideellen Gesamtkapitalisten. Die gegenseitige weltweite Kapitalverflechtung ist nun ein Fehler und dieser muß rückgängig gemacht werden. Die „Unternehmenssicherheit“ fällt jetzt in der multipolaren Weltmarktkonkurrenz tendenziell mit der „Staatssicherheit“ zusammen. „Unternehmenssicherheit“ und „Staatssicherheit“ sind die zentralen Pfeiler der „nationalen Sicherheit“. Die „nationale Sicherheit“ vermag der deutsche Imperialismus nur innerhalb der EU zu verteidigen, wo er einen bedeutenden Einfluß geltend machen kann. Die EU-Metropolen sieht der deutsche Imperialismus als sein Glacis an. Darauf greift auch der BDI zurück.

„Bei der informellen Tagung der Europäischen Staats- und Regierungschefs vom 10. und 11. März 2022 wurden die „Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten, Verringerung unserer Energieabhängigkeiten und (der) Aufbau einer robusteren wirtschaftlichen Basis ins Zentrum gestellt.“ (BDI: .a.a.O S. 3)

Die EU-Staaten und damit auch Deutschland, wie auch der BDI als zentrale Organisation des deutschen Monopolkapitals zielen auf eine „friedensähnliche“ Kriegswirtschaft ab, welche dem militärisch-industriellen Komplex eine herausgehobene Funktion zuweist („Verteidigungsfähigkeit“, Verringerung der Energieabhängigkeit und robuste wirtschaftliche Basis). Gib es keine wesentlichen gegenseitigen ökonomischen und gesellschaftlichen Verflechtungen mehr, hat der deutsche Imperialismus freie Hand, auch zum Krieg, gegen seine Weltmarktkonkurrenten, allen voran im Moment dem russischen Imperialismus. Das deutsche Kapital kehrt vom Freihandel ab.

„Das Prinzip der offenen Märkte endet dort, wo politische Einflussnahme insbesondere autoritärer Regierungen auf das Schaffen politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeiten Europas abzielt. Besonders bei Staatsunternehmungen in Nicht-Marktwirtschaften bedarf es einer verstärkten Aufmerksamkeit. Sobald Marktakteure ihre Entscheidungen abseits von wirtschaftlichen Kriterien fällen, muss das Abweichen vom Level Playing Field vermutet werden“ (BDI: a.a.O. S.4)

Bis zum Februar 2022 fühlte sich das deutsche Kapital auch den „autoritären Regierungen“ und den „autoritären“ Staaten überlegen und sprach sich für „offene Märkte“ aus. Gerade mit dieser Politik der „offenen Märkte“ sollten die „autoritären Staaten und autoritären Regierungen“ destabilisiert werden, die „Politik der offenen Märkte“ war eine Waffe für das deutsche Kapital, wie für das transatlantische Kapital im allgemeinen. Nun beginnt das deutsche Kapital diese Waffe der „Politik der offenen Märkte“ selbst zu fürchten, denn das Kräfteverhältnis hat sich derart geändert, daß der transatlantische Kapitalismus mit dem Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes in die Defensive geraten ist und eine „Politik der offenen Märkte“ richtet sich dann gegen die transatlantischen Metropolen. Die multipolare Weltmarktkonkurrenz führt dahin, daß sich die transatlantischen Metropolen an die „autoritären Staaten“ anpassen, und ebenso eine autoritäre Politik gegen die Arbeiterklasse einschlagen. Das Einschwenken der transatlantischen Metropolen auf den autoritären Pfad wird vom deutschen Monopolkapital als „Verteidigung“ gegen die „autoritären Staaten“ legitimiert, dahinter verbirgt sich jedoch real die Position, daß das Kapital glaubt, sich gegen die Arbeiterklasse „verteidigen“ zu müssen, was dann den Griff zur Repression und Aggression rechtfertigen würde. Jede Opposition wird sofort verdächtigt, eine fünfte Kolonne des „äußeren Feindes“, d.h. der „autoritären Staaten“ zu sein. Dann ist die eingeschlagene „Politik der nationalen Sicherheit“ in der Tat „alternativlos,“, wenn jede Opposition zum „inneren Feind“ mutiert. Man wirft anderen Staaten eine autoritäre Politik vor, aber selbst betreibt man ebenfalls eine autoritäre Politik. Jedoch spiegeln sich die transatlantischen Metropolen in ihren Herrschaftsmethoden in dem eurasischen Kapitalismus des russischen Imperialismus und Chinas, wie auch umgekehrt, sich die Herrschaftsmethoden des russischen Imperialismus und Chinas sich in den transatlantischen Metropolen reflektieren und richten sich zentral gegen die Arbeiterklasse. Die Setzung des „äußeren Feindes“ ist die materielle Grundlage zur Setzung des eigentlichen „inneren Feindes“. Ohne „äußeren Feind“ kein „innerer Feind“. Deshalb spricht der BDI auch von „Systemwettbewerb“, wie oben angeführt, zwischen der EU und den „autoritären Staaten“ (vgl. BDI. a.a.O. S. 3).

Wenn der BDI von der Reduktion der Abhängigkeiten spricht meint er nicht so sehr die „äußeren Abhängigkeiten“ von der multipolaren Weltmarktkonkurrenz, sondern vor allem die Abhängigkeit der Akkumulation von der Arbeiterklasse, auch wenn dies nur implizit ausgesprochen wird.

„Die Beantwortung dieser Fragen (nach Reduktion der Energieabhängigkeit und der Aufbau einer robusten ökonomischen Basis, I.N) muss auch eine industriepolitische Dimension erhalten. Wo sind die Abhängigkeiten besonders kritisch? Wer hält welche Kontrolle über die industriellen Fertigungsprozesse? Und wo muss die Industrie selbst vor schädlicher Einflussnahme geschützt werden?“ (BDI: a.a.O. S. 3)

In erster Linie ist das Kapital von der Arbeiterklasse abhängig. Die Arbeiterklasse produziert in letzter Instanz das Kapitalverhältnis und damit die Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse naturwüchsig, unbewußt selbst. Ohne die Ausbeutung der Arbeiterklasse kein Mehrwert, welcher an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als Profit erscheint. Ohne Arbeiterklasse kein Profit, kein Kapital. Das Kapital kann sich nicht ohne die Arbeiterklasse verwerten, jedoch kann die Arbeiterklasse die Macht in der Form der Diktatur des Proletariats ergreifen, die Ausbeutung und damit das Kapital negieren und bleibt immer noch Arbeiterklasse. Konkret. Das Kapital brauch die Arbeiterklasse um existieren zu können, aber die Arbeiterklasse benötigt nicht das Kapital um zu existieren, somit ist das Kapitalverhältnis, das kapitalistische Produktionsverhältnis, abhängig von der Ausbeutung der Arbeiterklasse und damit von der Arbeiterklasse. Das Kapital versucht sich permanent von der Abhängigkeit der Arbeiterklasse zu lösen, nichts anderes sind die Methoden der Produktion relativen Mehrwerts, welche sich in der technischen Zusammensetzung des Kapitals, aber vor allem in der organischen Zusammensetzung des Kapitals materialisieren und damit in der durchschnittlichen Bewegung des Kapitals im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. So ersetzt das Kapital permanent die lebendige Arbeit durch die tote Arbeit (Rationalisierung), ohne jemals auf die lebendige Arbeit verzichten zu können, bzw. sie ganz zu ersetzen. Die lebendige Arbeit hat ihren Eigensinn, ist rebellisch und ihre Wertbestimmung ist auch vor allem ein Ergebnis des Klassenkampfes, d.h. die lebendige Arbeit kann sich gegenüber den Übergriffen des Kapitals wehren, kann ihre materiellen Interessen verteidigen und auch Eroberungen darin machen. Ohne lebendige Arbeit kein Mehrwert, kein Profit, aber mit der lebendigen Arbeit permanenter Kampf gegen diese. Eine Neuzusammensetzung des Kapitals ist immer zentral eine Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, quantitativ und qualitativ. Das Ziel ist es, die konkret-historische passive und aktive Organisierung der Arbeiterklasse zu brechen, um die Ausbeutung neu zu organisieren. Es reicht nicht aus, den kapitalistischen Produktionsprozeß technisch neu zu organisieren; das Kapitalkommando muß die direkte und indirekte proletarische Organisierung zerstören, damit der kapitalistische Produktionsprozeß als Ausbeutungsprozeß restrukturiert werden kann, konkret muß das Kapitalkommando die neoliberale Organisierung des Proletariats zerstören und in eine multipolare Organisierung der Ausbeutung überleiten. Das Kapital ist abhängig von der konkreten Organisierung und damit auch sozialen Zusammensetzung der Arbeiterklasse, welche auf einer bestimmten Kapitalstruktur ihre passive und indirekte Organisierung aufbaut, um diese bestimmte historische Kapitalstruktur zu negieren. Es ist vor allem diese proletarische Abhängigkeit, die das Kapital stört und behindert und nicht so sehr die multipolare Weltmarktkonkurrenz. Das deutsche Kapital muß sich der multipolaren internationalen Weltmarktkonkurrenz anpassen, will es nicht untergehen, muß sich dann zuerst gegen die Arbeiterklasse wenden und die proletarische Organisierung zerschlagen. Dem Kapital geht es um die Transformation einer neoliberalen Arbeiterklasse in eine nationalliberale Arbeiterklasse. Für das gesellschaftliche Kapitalkommando ist die Abhängigkeit von der neoliberal organisierten Arbeiterklasse eine „Gefahr für die nationale Sicherheit“, bzw. ist die passiv neoliberal organisierte Arbeiterklasse der „innere Feind“, weil dieser sich weigert, sich nationalliberal organisieren zu lassen und der proletarische Eigensinn tendiert dazu, Strukturen einer relativen proletarischen Gegenmacht zu schaffen. Hier materialisiert sich konkret der Klassenkampf, der immer Klassenkampf um die Kontrolle über den Produktionsapparat ist. Die deutsche Bourgeoisie sieht sich derzeit vom „äußeren Feind“, der multipolaren Weltmarktkonkurrenz und dem „inneren Feind“, die Arbeiterklasse, bedroht und fürchtet, daß sie die Kontrolle über den Produktionsapparat verliert, daß sich die multipolare Weltmarktkonkurrenz, hier vor allem Rußland und China, mit dem multinationalen deutschen Proletariat gegen das deutsche Kapital verbündet, d.h. die deutsche Bourgeoisie konstruiert in dieser Angst eine Verschwörungstheorie und zwar eine Verschwörungstheorie einer „Querfront“, einer „Querfront“ zwischen Rußland, China und der multinationalen deutschen Arbeiterklasse zu Lasten des deutschen Imperialismus. Der deutsche Imperialismus wähnt sich in einer Falle, fühlt sich angegriffen, in die Ecke gedrängt und beginnt in seiner Isolation und Verzweiflung um sich zu schlagen, nach innen und außen. Die „Politik der nationalen Sicherheit“ in Notstandsform ist die Antwort des deutschen Kapitals auf die historischen Veränderungen, konkret in der Form der „kritischen Infrastruktur“. Dort in der „Kritischen Infrastruktur“ konzentriert sich materiell die „nationale Sicherheit.“ Hier wird die Arbeiterklasse signifikant durchleuchtet und nach der Staatstreue (Verfassungstreue) befragt, selektiert und bestraft, einer eingehenden Rasterfahndung unterzogen. Auf diese Weise will das Kapital ermitteln, welche Kontrolle welche Teile der Arbeiterklasse über den kapitalistischen Produktionsprozeß halten. Wo könnte das Kapitalkommando, ob individuelles Kapitalkommando oder gesellschaftliches Kapitalkommando die Kontrolle über den kapitalistischen Produktionsprozeß an den „inneren“ und/oder „äußeren Feind“ verlieren?

Das Kapital versucht für seine Akkumulation strategische Entscheidungen zu treffen und konzentriert seine Verwertung auf die Mehrwertproduktion komplex zusammengesetzter Arbeit, denn dort hofft das Kapital sich in Form von Extraprofiten zu verwerten, von dort aus soll die gesellschaftliche kapitalistische Arbeit umgewälzt, d.h. Kapital und Arbeiterklasse einer neuen sozialen Zusammensetzung zugeführt werden. Es geht um den Aufbau einer KI-gestützten kapitalistischen Produktion; der kapitalistische Ausbeutungsprozeß soll auf „künstliche Intelligenz“ materiell gegründet sein. Dies verlangt mehr als die Produktion von Software für die Rechner der künstlichen Intelligenz, es verlangt nach der Produktion von Hochleistungsrechnern und dazu werden Rohstoffe und Energie benötigt, die in Deutschland und Westeuropa nicht vorhanden oder nicht ohne weiteres vorhanden sind. Immer noch bestimmt die materielle Produktion die Akkumulation des Kapitals und nicht die „New Economy“. Mit dem Ende des neoliberalen Weltmarktes, des tendenziellen Freihandels, wo der deutsche Imperialismus problemlos an die benötigten Rohstoffe für die Akkumulation des deutschen Kapitals kam und dem Aufgang des multipolaren Weltmarktes, der tendenziell ein protektionistischer Weltmarkt ist, wird der Bezug von Rohstoffe für den deutschen Imperialismus zum Problem. Damit ist dann nicht nur die Frage der KI-gestützten Mehrwertproduktion eine Frage der „nationalen Sicherheit“, sondern auch die wohlfeile Beschaffung von Rohstoffen für die Produktion der KI-gestützten Mehrwertproduktion und somit auch für die Politik der „ökologischen“ bzw. der tendenziell autarken Akkumulationsweise. Ohne wohlfeile Rohstoffe scheitert notwendig die Transformation in einen KI-gestützten Kapitalismus, den das Kapital mit seinem Projekt „Industrie 4.0“ anstrebt, wobei die Digitalisierung der kapitalistischen Produktion und Distribution die materielle Grundlage für die KI-gestützte Aufrüstung der Mehrwertproduktion ist. Dann ist das Konzept der „Industrie 4.0“ eine Frage der „nationalen Sicherheit“ und letztlich auch eine Frage der „Kritischen Infrastruktur“. Eine KI-gestützte soziale Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse durch die Neuzusammensetzung des Kapitals ist unter den Bedingungen des multipolaren Weltmarktes nur über eine „Politik der nationalen Sicherheit“ und damit tendenziell immer über den offenen oder verdeckten Notstand, realisierbar. Das deutsche Monopolkapital im BDI ist sich dieser Problematik wohl bewußt.

„Rohstoffe sind Schlüssel zur Erreichung des Green Deal. Rohstoffe stehen am Anfang der Wertschöpfungskette aller innovativen Technologien und Anwendungen. Ohne Rohstoffe keine Digitalisierung und Industrie 4.0, keine Energiewende und E-Mobilität, kein Green Deal, keine Erreichung der Pariser Klimaziele. Die europäische Industrie ist daher auf eine sichere und nachhaltige Rohstoffversorgung angewiesen. Die wachsende Bedeutung von Zukunftstechnologien für eine dekarbonisierte, digitale Wirtschaft und Informationsgesellschaft führt weltweit zu einem steigenden Rohstoffbedarf, vor allem an metallischen und mineralischen Rohstoffen…. Auch strategische Schlüsselbranchen wie Sicherheit und Verteidigung sind auf kritische Rohstoffe angewiesen. Dieser Bedarf wird in den kommenden Jahren weiter zunehmen. Jedoch wird der freie und faire Zugang zu Rohstoffen oftmals durch handelsverzerrende staatliche Maßnahmen behindert. Zusätzlich erschweren hohe Länderkonzentrationen bei kritischen Rohstoffen einen sicheren Rohstoffzugang. Erschwerend hinzu kommt eine verstärkte geopolitische Zuspitzung“ (BDI: a.a.O. S. 13)

Eine Diversifizierung des steigenden Rohstoffbedarfs des deutschen Kapitals ist nicht ohne weiteres möglich, ebenso sind die Einsparmöglichkeiten begrenzt. Die gegenwärtige politische und militärische Schwäche des deutschen Imperialismus verhindert zentrale unilaterale Handlungen des deutschen Imperialismus, nur innerhalb des Rahmens der EU kann der deutsche Imperialismus noch seine Alleingänge realisieren, doch über die Grenzen der EU hinaus, ist die Macht des deutschen Imperialismus gebrochen. Es ist nicht sicher, wie lange auch die EU die deutschen Alleingänge innerhalb der EU aushält. Die Widersprüche innerhalb der EU, vor allem zwischen Deutschland und Frankreich, nehmen immer weiter zu, ebenso die Widersprüche zwischen dem deutschen Imperialismus und dem außerhalb der EU stehenden britischen Imperialismus. Damit richtet sich die deutsche Aufrüstung nicht nur gegen Rußland, sondern auch gegen Britannien und Frankreich, wie gegen alle anderen EU-Staaten und auch gegen die USA, denn es gilt langfristig unabhängig von seinen „Verbündeten“ zu werden, die real immer mehr zu Konkurrenten mutieren. Ohne eine große Militärmacht ist der deutsche Imperialismus außerstande seine Energie-und Rohstoffzufuhr, wie seine Absatzmärkte zu garantieren. Nur auf Basis einer starken Militärmacht kann der deutsche Imperialismus sich seine Verbündeten aussuchen. Gelingt es dem deutschen Imperialismus nicht, eine starke Militärmacht auszubauen, gelingt auch nicht die Rohstoffversorgung und damit muß dann die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse scheitern. Die Sicherung der Rohstoffversorgung des deutschen Kapitals ist die Existenzfrage für den deutschen Imperialismus. Green Deal, Digitalisierung, Industrie 4.0 sind nur mit einer gesicherten Rohstoffversorgung zu realisieren und mit einer starken Militärmacht zu garantieren, denn der multipolare Weltmarkt verhindert einen freien Zugang zu den Rohstofflagerstätten. Mit dem Aufbau einer starken Militärmacht versucht der deutsche Imperialismus seinen Einfluß in der EU auszubauen, den Widerstand seiner Konkurrenten Grenzen zu setzen und die EU als sein Reservelager zu nutzen.

„Um die strategischen Abhängigkeiten zu verringern, ist es entscheidend, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten alle drei Säulen einer nachhaltigen Rohstoffversorgung verfolgen, d.h. erstens die Stärkung der heimischen Rohstoffgewinnung, zweitens die Sicherung eines fairen Zugangs zu Rohstoffen aus dem Ausland und drittens den Ausbau der Kreislaufwirtschaft“ (BDI: a.a.O. S. 16)

Da die heimische Rohstoffgewinnung aufgrund fehlender geologischer Lagerstätten begrenzt sind, die Rohstoffe nicht ohne weiteres durch nachwachsende Rohstoffe substituiert werden können, die Kreislaufwirtschaft ebenfalls die Rohstoffe nur im beschränken Maß einer Wiederverwendung zu führen kann, verbleibt vor allem, die Rohstoffzufuhr aus dem EU-Ausland zu sichern. Der BDI unterstützt deshalb auch die „Strategischen Rohstoffpartnerschaften“ der EU. Bislang wurden nur zwei Abkommen in diesem Sinn geschlossen, einmal mit der Ukraine und einmal mit Kanada. EU-Kapital soll das nicht EU-Kapital im Zielland fördern und sich verflechten und gleichzeitig für das Zielland, die allgemeinen Einfuhrbedingungen in die EU verbessern. (vgl. BDI: a.a.O. S. 18). Aber ohne eine starke Militärmacht hängt die „strategische Rohstoffpartnerschaft“ in der Luft. Der Ukraine-Krieg zeigt schlagend, wie zentral eine starke Militärmacht ist, denn die EU ist nicht in der Lage, ihre „strategische Rohstoffpartnerschaft“ gegen den russischen Imperialismus zu verteidigen und daran scheitert auch der deutsche Imperialismus, d.h. der Ukraine-Krieg bedroht die vitalen Interessen des deutschen Imperialismus und der anderen transatlantischen EU-Metropolen. Aus diesem Grunde deshalb auch der antirussische Wirtschaftskrieg als Reaktion der verlorenen „strategischen Rohstoffpartnerschaft“ mit der Ukraine. Verliert der deutsche Imperialismus und die EU die „strategische Rohstoffpartnerschaft“ mit der Ukraine, stehen alle jetzigen und zukünftigen „strategischen Rohstoffpartnerschaften“ und vor allem das Konzept der „strategischen Rohstoffpartnerschaft“ selbst in Frage. Der BDI stellt grundsätzlich nirgends den antirussischen Wirtschaftskrieg in Frage und heißt ihn damit implizit gut. Auch benutzt der BDI den Begriff des Bundeskanzlers für den Ukraine-Krieg als „Zeitenwende“ für eine „neue Realpolitik“, d.h. für Aufrüstung und imperialistische Aggression nach außen und Repression nach innen. Dies wird vor allem an der Energieversorgung festgemacht.

„Zeitenwende für Europas Energieversorgungssicherheit. Energiewirtschaftliche Fragen sind auf europäischer Ebene zur geopolitischen Strategie- und Sicherheitsfrage geworden. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine steht die Energieversorgungssicherheit unter harter Prüfung und zeigt vergangene Fehleinschätzungen über die geopolitischen und ideologischen Motivationen Russlands auf. In den letzten Jahren wurde nicht weniger, sondern mehr Energie aus Russland importiert und zu wenige Alternativen geschaffen. Dies führte zu beträchtlichen Abhängigkeiten gegenüber Russland, insbesondere bei den Gaslieferungen. Lange wurden marktwirtschaftliche Interdependenzen und die sogenannte „Friedensdividende“ als ausreichende Absicherungsmechanismen für die europäische Versorgungssicherheit angesehen („Wandel durch Handel“). Obwohl die EU historisch ihre Handelsbeziehungen und Diplomatie erfolgreich als außenpolitisches Instrument benutzen konnte und es auch immer noch tut, ist eine geopolitische Verschiebung hin zu mehr Realpolitik unvermeidlich und benötigt nun auch in der Energiepolitik eine neue ausgerichtete politische Haltung.“ (BDI: a.a. O. S. 18)

Der BDI beklagt, daß die Politik der gegenseitigen Verflechtung zwischen dem EU-Kapital und dem russischen Kapital vor allem im Bereich der Energiepolitik gescheitert ist. Mit der Politik der gegenseitigen Verflechtung im Energiebereich versuchte das EU-Kapital Rußland auf dem Status eines Energiezulieferers zu fesseln, Rußland liefert wohlfeil Energie und Rohstoffe und erhält zum Vorteil des transatlantischen EU-Kapitals Waren aus den Sektoren I und II. Ein ungleicher Tausch wurde versucht. Gleichzeitig rückte der transatlantische NATO-Pakt in die Ukraine vor, um den Druck noch weiter zu erhöhen. Doch der russische Imperialismus ging in der Ukraine in die Offensive und zerstörte die tödliche Umarmung durch den transatlantischen Imperialismus. Der dann folgende transatlantische Wirtschaftskrieg gegen Rußland zerstört nicht so sehr die russische Ökonomie, sondern die EU-Ökonomie und damit die Akkumulation des deutschen Kapitals. Wesentlich ist der Ukraine-Krieg eine imperialistische Auseinandersetzung in Form eines Wirtschaftskrieges; die zentrale Front ist der Wirtschaftskrieg, nicht der militärische Krieg. Nun will das deutsche transatlantische Kapital so schnell wie möglich „diversifizieren“ und bricht mit dem russischen Imperialismus, sieht in dem russischen Imperialismus keinen „Partner“ mehr, sondern einen Konkurrenten, gar einen Feind. Dies wird mit dem Begriff „Realpolitik“ umschrieben, wie mit dem Begriff „Zeitenwende“. Keine Kooperation, sondern Feindschaft mit dem russischen Imperialismus. Ein Kampf um Leben und Tod. Es wird ein neues imperialistisches Kräfteverhältnis zwischen der EU und der NATO unter Führung des US-Imperialismus gegen den russischen Imperialismus und China ausgekämpft, bis an den Rand des Dritten Weltkrieges und darüber hinaus. „Realpolitik“ heißt Kriegspolitik und Bürgerkriegspolitik, heißt Schockpolitik vermittels einer Deflationspolitik in deflationärer oder inflationärer Form. „Realpolitik“ ist ein anderer Begriff für Machtpolitik und Machtpolitik geht über transatlantische Politik hinaus, verweist auf den „deutschen Sonderweg“ des deutschen Imperialismus nach innen und nach außen. Eine „Realpolitik“ ist zwar in der ersten Phase transatlantisch, kann jedoch jederzeit in nationalliberal umschlagen. Nicht nur fordert der BDI eine „Realpolitik“ ein, eine Realpolitik die derzeit unter dem Schleier einer hypermoralischen Ideologie exekutiert wird, sondern fordert auch, auf „Haltung“ anzunehmen. Der BDI fordert nicht auf einen politischen Standpunkt zu beziehen, sondern „Haltung“ anzunehmen. „Haltung“ ist zentral ein militärischer Befehlt und meint „Stramm stehen“ und wird mit dem Befehlt „Achtung“ eingeleitet. Der Befehl „Rührt Euch“ bezieht sich dann auf das Gegenteil von „Stramm stehen“, zielt auch eine zwangslose Haltung. „Haltung“ ist zentral ein militärischer Begriff und kein ziviler Begriff. Das Militär entscheidet nur zwischen Freund und Feind und die „Haltung“ ist darauf ausgerichtet, auch das Exerzieren, wo die „Haltung,“ die militärische Disziplin, Befehl und Gehorsam, eingeübt wird. „Haltung“ einnehmen ist ein Befehl des Kapitals an die Arbeiterklasse, ist ein Begriff der „inneren Militarisierung“ der bürgerlichen Gesellschaft zur Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft hin und auf jeden Fall antidemokratisch. Eine „politische Haltung“ nimmt man in der Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft ein und damit unter einer Form des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus), nicht aber in der parlamentarisch-demokratischen Herrschaftsform der Bourgeoisie, dort geht es um politische Standpunkte. Die „politische Haltung“ des BDI ist auf die „Realpolitik“ bezogen, d.h. es geht auch notfalls um die militärische Machtentfaltung nach innen und/oder außen, um die imperialistische Machtpolitik gegen Widerstände durchzusetzen. Eine „politische Haltung“ ist das Gegenteil eines „politischen Standpunktes“, während sich die „politische Haltung“ auf das Militär mit seiner ihm eigenen Freund-Feind“ Unterscheidung bezieht, bezieht sich der „politische Standpunkt“ auf die demokratische bürgerliche Gesellschaft bzw. auf die „Zivilgesellschaft“, bezieht sich auf Regierung und Opposition und nicht auf einen „inneren“ oder „äußeren Feind“. Nicht umsonst bezieht der BDI die „politische Haltung“ auf die „Realpolitik“, denn die „Realpolitik“ bezieht den Krieg, Bürgerkrieg, Terror gegen den „Feind“ mit ein, auch den Wirtschaftskrieg, wie auch eine Politik der tendenziellen Autarkie und damit die „Geopolitik“. Ohne eine korrekte „Haltung“ keine „Machtpolitik“. Der BDI beginnt zaghaft eine deutsche „Geopolitik“ anzudenken. Eine gegenseitige ökonomische Verflechtung mit potentiellen „Feindstaaten“ erteilt der BDI eine Absage, ebenso eine Politik des Wandels durch Handel. Der BDI zielt durch einen „Wandel“ durch Waffen, bzw. „Wandel“ durch Krieg. Einer Politik der „friedlichen Koexistenz“ wird eine Absage erteilt; eine Entspannungspolitik ist für den BDI ein Zeichen von Schwäche. Dem BDI geht es um eine „Freund-Feind“-Politik, nicht nur in der Frage der „Energiesicherheit“.

Der Zugriff auf „kritische Rohstoffe“ muß notfalls mit Gewalt, mit Krieg und Raub, sichergestellt werden. Der antirussische Wirtschaftskrieg führt potentiell somit auch zu einem Krieg mit Rußland, d.h. in den Dritten Weltkrieg, wenn es dem deutschen Imperialismus im Gewand der EU nicht gelingt, anderweitig die „kritischen Rohstoffe“ zu beziehen. Dann steht auch der deutsche Imperialismus vor der Frage Kapitulation oder Eskalation in den Dritten Weltkrieg und die deutsche Bourgeoisie wird eher die Eskalation in den Dritten Weltkrieg wählen, statt Kapitulation, zumindest, wenn sie noch Waffen hat. Es kommt der Arbeiterklasse zu, die deutsche Bourgeoisie rechtzeitig zu entwaffnen, bevor sie aktiv aus Verzweiflung ihrer strategischen Niederlage und ihres Größenwahns den Dritten Weltkrieg auslöst.

„Der Zugang zu kritischen Rohstoffen ist mitentscheidend für einen erfolgreichen Ausbau einer nachhaltigen Energieversorgung. Diesem Aspekt muss u.a. die europäische Handelspolitik und Rohstoffstrategie Rechnung tragen.“ (BDI: a.a.O. S. 20)

Scheitert der „Zugang“ zu den „kritischen Rohstoffen“, scheitert die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, scheitert „Industrie 4.0“ mit ihrer Digitalisierung und Dekarbonisierung. Mit allen Mitteln wird sich das deutsche Kapital dagegen wehren. Es ist nicht nur für den deutschen Imperialismus eine Frage von Leben und Tod. So schwingt bei der Frage des Zugangs zu den „kritischen Rohstoffen“ gleichzeitig eine Kriegsdrohung implizit mit. Zumindest ist die Geschichte offen. Jedoch nur unter dem passiven und/oder aktiven Massendruck, nur durch den Klassenkampf, kann die deutsche Bourgeoisie zum Nachgeben gebracht werden, aus sich selbst heraus ist die Bourgeoisie dazu unfähig.

Die „kritischen Rohstoffe“ des BDI sind die materielle Basis für die angestrebte „strategische Autonomie“ der EU und damit für den dritten Griff des deutschen Imperialismus zur Weltmacht. Der deutsche Imperialismus im Gewand der EU greift nach den Sternen. Mit „NewSpace“, der kommerzialisierten Raumfahrt, soll die Digitalisierung, soll die Entwicklung von KI-Netzen, gefördert werden. Ohne eine Weltraumpräsenz vermittels Satelliten gibt es auch keine Übermittlung von satellitenbasierter Daten, denen die KI-Rechner benötigen. Dies gilt für den zivilen, wie für den militärischen Bereich. Auch die Weltraumsysteme zählen deshalb für das Kapital zur „kritischen Infrastruktur“.

„ NewSpace ist von strategischer Bedeutung für die außen-und sicherheitspolitischen Urteil- und Handlungsfähigkeit. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Bedeutung satellitenbasierter Daten noch verdeutlicht. Weltraumsysteme sind längst eine kritische Infrastruktur. Ein Ausfall hätte weitreichende gesamtindustrielle Auswirkungen.“ (BDI: a.a.O. S. 23)

Bisher hat der deutsche Imperialismus über die EU mit den USA und Rußland in der Frage der Weltraummissionen zusammengearbeitet. Die Zusammenarbeit mit Rußland wurde mit dem Ukraine-Krieg von Seiten der EU sofort beendet. Mit den USA kommt man nicht zu guten Bedingungen ins Geschäft. Nun muß die EU selbst mit den Weltraumsystemen aktiv werden. Ohne Weltraumsysteme ist eine KI-gestützte kapitalistische Produktion nicht möglich, ist es nicht möglich in der multipolaren Weltmarktkonkurrenz eine führende Position zu erringen, ist eine „strategische Autonomie“ gescheitert. Für das Kapital bedeutet das Scheitern der „strategischen Autonomie“ eine „Gefahr für die nationale Sicherheit“ und somit wird auch der Weltraum zu einem Sektor der „nationalen Sicherheit“. Wenn schon der Weltraum zu einem Gebiet der „nationalen Sicherheit“ wird, dann erst Recht jede Bewegung auf der Erde, denn dazu sind die Weltraumsysteme da, zur Überwachung und Kontrolle der Bewegung der Ware Arbeitskraft und damit zur Überwachung und Kontrolle der Arbeiterklasse, was den imperialistischen Krieg und Bürgerkrieg impliziert. Im Ukraine-Krieg wird satellitengestützte Kommunikation eingesetzt, wie gestört, werden satellitengestützte Waffen eingesetzt und gestört. Notfalls können auch die Satelliten selbst gestört oder von der Erde abgeschossen werden. Der Ukraine-Krieg ist auch ein hochentwickelter Drohnenkrieg und der Drohnenkrieg ist ein allseitig vernetzter Krieg; er ist der erste hochentwickelte Drohnenkrieg der Geschichte und somit ein Modell für die zukünftige Kriegsführung, für die zukünftige Kriegsführung im multipolaren Weltmarkt/multipolare Weltordnung. Die Neuzusammensetzung des Kapitals- Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse vollzieht sich zentral über die Weltraumsysteme im Weltraum.

In der gegenwärtigen Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse verschmelzen die Akkumulation des privaten Kapitals und die abgeleitete „Akkumulation“ des militärisch-industriellen Komplexes tendenziell enger als in dem neoliberalen Weltmarkt. Wesentlich ist, daß der militärisch-industrielle Komplex sich nicht nur gegen den „äußeren Feind“ richtet, sondern auch gegen den „inneren Feind“. Die satellitengestützte Produktion produziert unter anderem auch satellitengestützte Waffen bzw. satellitengestützte Anti-Satelliten Waffen. Es findet also eine innere und äußere Militarisierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse im multipolaren Weltmarkt statt, eine Militarisierung, die der deutsche Imperialismus zentral gegen den russischen Imperialismus richtet. Der BDI als Agentur des deutschen Monopolkapitals marschiert im Gleichschritt mit dem ideellen Gesamtkapitalisten, dem bürgerlichen Staat, trägt den antirussischen Wirtschaftskrieg mit und wird auch den imperialistischen Krieg, auch in einem Dritten Weltkrieg, mittragen bzw. der ideelle Gesamtkapitalist formuliert die Interessen des deutschen Monopolkapitals. Die „kritische Infrastruktur“ ist die Erweiterung der militärischen Infrastruktur bzw. der „Verteidigungsinfrastruktur“. Mit der Ausweitung der militärischen Momente auf die Zivilwirtschaft schreitet die Überwachung und Disziplinierung, wie Säuberung der Arbeiterklasse weiter voran. Immer mehr Bereiche fallen dann in den Bereich der staatlichen „Sicherheitsüberprüfung“. Der bürgerliche Staat überprüft über die Geheimdienste nicht nur bei Einstellung, sondern permanent das individuelle persönliche und politische Verhalten der Lohnarbeiter in den Bereichen der „Kritischen Infrastruktur“. Parallel existiert schon heute als Normalfall eine private „Sicherheitsüberprüfung“ über das Internet. Wer sich den Befehlen des individuellen oder gesellschaftlichen Kapitalkommandos in den Sektoren der „Kritischen Infrastruktur“ widersetzt, ein unbotmäßiges Verhalten an den Tag legt, kann ohne weiteres aus den Betrieben gesäubert werden. Es ist durchaus möglich, daß der Begriff der „Kritischen Infrastruktur“ aufgrund der Lieferverflechtungen auf die gesamte Volkswirtschaft ausgedehnt wird, vor allem im offenen Notstandsfall. Auch der verdeckte Notstand ist kein Hindernis für eine solche Regelungsausweitung auf die gesamte Lohnarbeiterklasse. Es kommt so zu einem Berufsverbot, welches immer implizit in der Struktur der „Kritischen Infrastruktur“ enthalten ist. Ohne ein Berufsverbot kann eine „Kritische Infrastruktur“ nicht existieren.

Das deutsche Monopolkapital, repräsentiert im BDI, steht nicht in grundsätzlicher Opposition zur Politik des deutschen bürgerlichen Staates, sondern ist die Speerspitze in dieser imperialistischen Aggression, welche der bürgerliche Staat konkret ausarbeiten und exekutieren muß. Der bürgerliche Staat ist nur das ausführende Organ des Kapitals und damit der imperialistischen Aggressionspolitik des Kapitals, nicht aber die materielle Basis dieser Politik. Die Aggressivität der deutschen Politik ist der Aggressivität des deutschen Kapitals, unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Monopolkapitals, zusammengeschlossen im BDI, geschuldet.

„Russland hat mit der Annexion der Krim 2014 und dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine die grundlegenden Pfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur zerstört, die nach 1990 gemeinsam aufgebaut wurden: das zwischenstaatliche Gewaltverbot, die Achtung der Souveränität anderer Staaten, die freie Bündniswahl sowie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Gleiches gilt für die Prämisse, dass eine enge ökonomische Verflechtung militärische Auseinandersetzung verhindere. Die regel- und rechtsbasierte Ordnung, auf der das moderne Europa fußt, sieht sich nun einem Staat gegenüber, der das Recht des Stärkeren praktiziert“ (BDI: a.a.O. S. 25).

Hier wird deutlich, daß die aggressive Politik des deutschen Imperialismus nicht das Produkt der Unterwerfung des deutschen Imperialismus unter dem Willen des US-Imperialismus ist; die Politik des deutschen Imperialismus kann nicht auf die Politik des US-Imperialismus reduziert werden. Aus eigenen imperialistischen Interessen wird der antirussische Wirtschaftskrieg vom deutschen Kapital geführt und diese eigenen deutschen imperialistischen Interessen führen zu dem ungleichen Bündnis mit dem US-Imperialismus gegen den russischen Imperialismus. Der Ausbruch des russischen Imperialismus, wie auch Chinas, aus dem neoliberalen Weltmarkt gefährdet die „nationale Sicherheit“ des deutschen Kapitals, des deutschen Imperialismus, ganz unabhängig Position des US-Imperialismus. Mit dem Ukraine-Krieg als formaler Ausbruch aus dem Gefängnis des neoliberalen Weltmarktes stellt der russische Imperialismus das EU-Bündnis und den NATO-Pakt unter US-Führung in Frage und damit auch den deutschen Imperialismus. Über den Ukraine-Krieg gelang es dem russischen Imperialismus sich auf eine gleiche Augenhöhe mit den transatlantischen Metropolen zu begeben. Dies werten alle transatlantischen Metropolen und somit auch der deutsche Imperialismus als einen Angriff des russischen Imperialismus auf die „nationale Sicherheit“ und reagieren dementsprechend. Dem Zerstörer transatlantischer Hegemonie und das heißt letztlich der US-Hegemonie, tritt der deutsche Imperialismus, wie auch alle anderen transatlantischen Metropolen, notfalls mit Waffen, aber auf jeden Fall mit einem Wirtschaftskrieg, entgegen. Der Ausbruch des russischen Imperialismus aus seiner untergeordneten Position im neoliberalen Weltmarkt wird als Völkerrechtsbruch und Regelbruch, wie als das Recht des Stärkeren gewertet, hingegen die Aktionen der USA und der transatlantischen Metropolen nicht, denn die beziehen sich positiv auf den transatlantischen neoliberalen Weltmarkt.

Das deutsche Monopolkapital und sein BDI schwören dem US-Imperialismus Nibelungentreue, doch es ist sich nicht sicher, ob der US-Imperialismus ebenfalls dem deutschen Imperialismus die Nibelungentreue schwört, geht eher davon aus, daß der US-Imperialismus sich vom deutschen Imperialismus distanziert und ihm seinem Schicksal überläßt. Aus diesem Grunde zielt das deutsche Monopolkapital auf eine eigene Machtentfaltung des deutschen Imperialismus über die EU ab, um so den Ausfall des US-Imperialismus als Hegemonialmacht zu kompensieren. Eine Politik, die unter der Bundeskanzlerschaft von Olaf Scholz seit März 2022 realisiert wird. Die rot-grün-liberale Bundesregierung setzt ihre Politik nicht gegen das Kapital um, sondern exekutiert den Gesamtwillen des deutschen Kapitals, repräsentiert im BDI als Organ des deutschen Monopolkapitals. Transatlantische Treue nur solange, wie die USA die Interessen des deutschen Imperialismus vertreten. Verweigert sich der US-Imperialismus diesem Ansinnen oder ist er nicht mehr in der Lage dazu, präferiert der deutsche Imperialismus alleine und unter Umständen durch die EU seine Interessen durchzusetzen. Indirekt distanziert sich der deutsche Imperialismus auch vom NATO-Pakt.

„Der russische Angriff auf die Ukraine macht nicht nur den Wert von Sicherheit und militärischer Abschreckung deutlich. Er zeigt auch, dass es ohne die USA keine Sicherheit und kein Frieden in Europa gibt. Ihre politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung sind entscheidend für den anhaltend ungebrochenen Widerstand der Ukraine. Der starke Beistand der USA kann jedoch, beispielsweise durch innenpolitische Entwicklungen oder strategische Schwerpunktsetzungen jederzeit reduziert werden. Europäische Diskussionen um eine strategische Autonomie bedürfen daher mehr denn je einer konkreten Umsetzung. Im Zentrum steht dabei, wie die EU Sicherheit gewährleisten und bei künftigen Konflikten glaubhafte Abschreckung bieten kann- im Notfall auch ohne Rückgriff auf die transatlantischen Partner.“ (BDI: a.a.O. S. 25)

Der BDI fordert eine „strategische Autonomie“ innerhalb des NATO-Paktes für den deutschen Imperialismus ein. Doch eben dies ist nicht möglich. Der US-Imperialismus ist die Garantiemacht des NATO-Paktes und kann den NATO-Pakt nur dann garantieren, wenn keine „strategische Autonomie“ irgendeines Mitglieds oder der EU zugelassen wird. Darauf baut die Abschreckungswirkung des NATO-Paktes auf. Eine „strategische Autonomie“ innerhalb des NATO-Paktes bedeutet das Ende des NATO-Paktes. Es ist die Quadratur des Kreises. Eine „strategische Autonomie“ des deutschen Imperialismus gibt es nur auf den Trümmern des NATO-Paktes; das deutsche Kapital muß sich entscheiden: Mit den USA und dem NATO-Pakt oder mit der EU in die „strategische Autonomie“ und damit gegen den US-Imperialismus und seinem NATO-Pakt. Der Preis für die „strategische Autonomie“ des deutschen Kapitals ist das Ende des NATO-Paktes. Beides kann der deutsche Imperialismus nicht haben: NATO-Unterstützung und gleichzeitig eine strategische Autonomie vermittelt über die EU; der deutsche Imperialismus muß sich für den NATO-Pakt entscheiden und damit gegen die „strategische Autonomie“ oder aber für die „strategische Autonomie“ und damit gegen den NATO-Pakt. Entweder Abhängigkeit vom US-Imperialismus und seiner NATO oder Machtentfaltung auf dem deutschen Sonderweg. Doch bisher ist das deutsche Kapital nicht in der Lage und willens zu entscheiden und will beides. Dieser Wunsch wird an der Realität des multinationalen Weltmarktes scheitern bzw. der multipolare Weltmarkt und damit der Klassenkampf, werden das deutsche Kapital zur Entscheidung zwingen. Doch bis dahin lebt die deutsche Bourgeoisie in ihren hehren Illusionen.

„Das Ziel strategischer Autonomie ist weder die Abkopplung von transatlantischer Sicherheit noch eine übermäßige Aufrüstung zum Zwecke der Abschreckung und Verteidigung. Ziel ist vielmehr die politische Überlebens- und Gestaltungsfähigkeit Europas in der Zukunft, die Fähigkeit Sicherheit sowohl im inneren der Union zu gewährleisten als auch „eigene außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen… um diese in Kooperation mit Dritten oder, falls nötig, eigenständig umzusetzen.“ Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt, dass hier erheblicher Nachholungsbedarf besteht. Deutschland und die EU haben sich zu lang in Sicherheit gewogen und in Abhängigkeit begeben, die ihre Gestaltungs- und Handlungsfähigkeit nun erheblich einschränken und einer strategischen Autonomie diametral entgegenstehen.“ (BDI: a.a.O. S. 25)

Zentral geht es dem deutschen Imperialismus darum, die EU zu militarisieren und die EU zumindest tendenziell zu einer Ersatz-NATO bzw. real zu einer EU-NATO und damit Gegen-NATO umzufunktionieren. Verteidigung der NATO durch die EU statt Verteidigung der EU durch die NATO. Wenn sich die EU alleine „verteidigt“, bedarf es keinem NATO-Pakt mehr.

„Landes-Bündnisverteidigung. Das Ziel strategischer Autonomie verlangt, dass Schlüsseltechnologien und Produktionsfähigkeiten für die Landes- und Bündnisverteidigung von Europa weitgehend selbst bereitgestellt werden. Dafür ist es unabdingbar, dass Wirtschafts- und Industriepolitik, insbesondere für den rüstungstechnologischen Sektor, künftig eng mit europäischen Sicherheitsinteressen verzahnt wird. Dabei gilt es, die Bandbreite an Technologien in den fünf Dimensionen Land, Luft-und Weltraum, See und Cyber-und Informationsraum abzudecken.“ (BDI: a.a. O. S. 25)

Der BDI setzt auf den Ausbau des militärisch-industriellen Komplexes. Unter deutscher Führung soll ein westeuropäischer militärisch-industrieller Komplex entstehen, welcher materiell die „nationale Sicherheit“, wie die „Sicherheit der EU“ gegen die „äußeren Feinde“, wie die „inneren Feinde“ verteidigen soll, wobei für den deutschen Imperialismus die „nationale Sicherheit“ mit der „innere und äußeren Sicherheit“ der EU zusammenfällt, d.h. der deutsche Imperialismus behält sich vor, politische Tendenzen in anderen EU-Staaten als „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ zu werten, wenn sie den Interessen des deutschen Imperialismus zuwiderlaufen und ebenso gleichzeitig diese als „Gefahr für die EU“ einzustufen. Der deutsche Imperialismus setzt sich mit der EU gleich. Jede andere imperialistische Politik, die nicht den Interessen des deutschen Imperialismus entspricht, sich nicht dem deutschen Imperialismus unterordnet, wird als „Gefahr für die EU“ gewertet, denn der deutsche Imperialismus sieht sich als Garantiemacht der EU und steht damit vor allem mit dem französischen Imperialismus in Widerspruch, der ebenfalls die Position als Garantiemacht der EU beansprucht. An den inneren Widersprüchen, konzentriert in einem potentiellen Führungskampf zwischen dem deutschen und französischen Imperialismus kann die EU zerbrechen und damit auch die Eurozone. Es ist also damit entscheidend, wer den westeuropäischen militärisch-industriellen Komplex kontrolliert. Der BDI stellt auf eine deutsche Führungsrolle ab, denn nur dann kann der deutsche Imperialismus die Hegemonie innerhalb der EU erringen. Allgemein fordert der BDI den Ausbau und die Erhöhung der Bedeutung des militärisch-industriellen Komplexes in Deutschland, darin ist auch der Führungsanspruch in der EU impliziert.

„Um eine nationale-global wettbewerbsfähige- deutsche Sicherheits- und Verteidigungsindustrie im Rahmen der Europäischen Zusammenarbeit zu erhalten, gilt es, erstens, im deutschen politischen und öffentlichen Bewusstsein zu verankern, dass die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie einen unverzichtbaren, grundlegenden Beitrag zur nationalen Resilienz, öffentlichen Sicherheit und Landes- und Bündnisverteidigung leistet. Ohne sie ist der Erhalt unserer Lebensgrundlagen für ein freiheitliches und nachhaltiges Leben in unserem Land schlicht nicht möglich. Ein dementsprechend umfassendes Sicherheitsverständnis bedeutet zweitens auch, konsequente Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit (security of supply) und der Finanzierungssicherheit (access to finance) der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie zu ergreifen. Hier ist ein enges Zusammenspiel von staatlichen Stellen und Unternehmen entscheidend.“ (BDI. a.a.O. S. 26)

Aktiv bekennt sich der BDI zu seinem militärisch-industriellen Komplex, wie zur Militarisierung der bürgerlichen Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft soll sich an dem „äußeren“ und „inneren Feind“ ausrichten und damit als Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft. Der Begriff „nationale Resilienz“ ist ein anderer Begriff für die innere und äußere Militarisierung der bürgerlichen Gesellschaft, der Kampf gegen den „inneren Feind“, welcher dem „äußeren Feind“ die Tore öffnet, meint permanente Propaganda, permanente Aufrüstung gegen den „inneren und äußeren Feind“. „Nationale Resilienz“ ist ein anderer Begriff für die „nationale Sicherheit“. Der „nationale Sicherheitsstaat“ schützt nicht die „Demokratie“, sondern zerstört diese, eben im Namen der „nationalen Sicherheit“. Eine Politik der „nationalen Sicherheit“ wird nicht gegen den Willen des BDI hergestellt, sondern seinem Willen gemäß. Über den bürgerlichen Staat bestimmt der BDI den konkreten „inneren Feind“ und „äußeren Feind“ maßgeblich mit. Die „Freund-Feind“- Kennung des BDI führt zur „Zeitenwende“ auch in der Außenpolitik im Sinne der Expansion des deutschen Imperialismus.

„Ein vierter entscheidender Faktor auf dem Weg zur Autonomie wird sein, wie mit der globalen wirtschaftlichen Verflechtung im Kontext geostrategischer Interessenlagen umzugehen ist: Strategische Autonomie kann nur im Zusammenspiel mit Partnern erreicht werden-Partnern, mit denen man Werte, Ziele und Interessen teilt, aber auch Partner, bei denen die Schnittmenge der Gemeinsamkeiten kleiner ist. Es braucht daher eine Neubewertung von Partnerschaften mit Staaten, die weder der EU noch der NATO angehören“ (BDI: a.a.O. S. 26)

So sind die „Partner“ dann die „Freunde“ aus der Sicht des deutschen Imperialismus, denn sie fügen sich zumindest zeitweise in die imperialistischen Pläne des deutschen Imperialismus ein, was nicht heißt, daß sie später zu „Feinden“ werden. Es zählt bei den „großen Partnern“ und erst Recht bei den „kleinen Partnern“ nur das kurzfristige Nutzenkalkül im Sinne des deutschen Imperialismus. So werden „Freunde“ zu „Feinde“ und „Feinde“ zu „Freunden“, je nach den Interessen des deutschen Kapitals. Die Bestimmung der jeweiligen „Freunde“ führt zur Bestimmung des „Feindes“ und umgekehrt. Es geht um Geopolitik und damit um die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette bzw. und die internationale Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Nicht nur der russische Imperialismus wird als „Feind“ vom BDI eingestuft, sondern auch China.

„Auch im globalen Wettbewerb schafft China Abhängigkeiten. Mit großer Sorge wird die gezielte internationale Verbreitung von staatlich getriebenen nationalen Technologiestandards aus China im Rahmen der „Belt and Road Initiative“ verfolgt. Die deutsche Industrie sieht die Gefahr einer Zersplitterung technischer Marktzugangsbedingungen und eine Zunahme globaler Entkopplungstendenzen“ (BDI: a.a.O. S. 29)

Auch für das deutsche Kapital mutiert das chinesische Kapital vom Konkurrenten zum „Feind“. Hier ergeben sich Schnittmengen mit dem US-Kapital, welches China schon seit 2017 als „Feind“ einstuft. Die chinesische Initiative der „Neuen Seidenstraße“ wird auch vom deutschen Imperialismus als „nationale Bedrohung“ angesehen. Der transatlantische antirussische Wirtschaftskrieg ist nur der Prolog zum antichinesischen Wirtschaftskrieg. So wieder das deutsche Monopolkapital, organisiert im BDI, den antirussischen Wirtschaftskrieg gutheißt, so gutheißt es auch einen antichinesischen Wirtschaftskrieg. Es geht nur um die Wahl des Zeitpunktes. Der BDI will nur eine transatlantische technische Normung anerkennen. Wer sich den Wünschen der transatlantischen Metropolen nicht beugt, muß damit rechnen, einen Wirtschaftskrieg aufgezwungen zu bekommen. Dieser antirussische Wirtschaftskrieg wurde vom transatlantischen Kapital als Exempel gedacht, doch er ist eher ein Exempel für das Gegenteil, daß der Wirtschaftskrieg den transatlantischen Metropolen schadet, statt nützt. Am transatlantischen und damit auch deutschen Wesen soll die Welt genesen. Es marschiert der BDI voran:

„Um einer Fragmentierung der technischen Marktzugangsbedingungen international entgegenzuwirken und grünes und digitales Wirtschaften nach europäischen Maßstäben global zu etablieren, müssen Wirtschaft und Politik gemeinsame Zielsetzungen abstimmen und grundlegende Erfolgsprinzipien der Normung in ihrer Arbeitsweise etablieren.“ (BDI: a.a.O. S. 30)

Die internationale Normung soll als Waffe gegen China benutzt werden. Die EU und auch die USA, wie auch ihre Verbündeten, könnten ihren Markt gegen chinesische Waren notfalls abschotten, ist die implizite Drohung, wenn man sich international nicht auf die transatlantische Normung einigt. Die chinesischen Normen sind damit eine „Gefahr für die „nationale Sicherheit“.

„Um die befürchtete Fragmentierung der internationalen Normung durch eine zunehmende Implementierung von chinesischen Normen für signifikante Anteile des Welthandels zu verhindern, braucht es eine Präferenz für die aktive Mitwirkung bei der Erarbeitung internationaler Normen und deren anschließende Übernahme“. (BDI: a.a.O. S. 30)

Die „nationale Sicherheit“ des deutschen Kapitals wird wesentlich durch die internationale Normung bestimmt. Aus diesem Grund fordert der BDI vom bürgerlichen Staat, d.h. vom ideellen Gesamtkapitalisten, mehr Engagement in dieser Frage. Die Frage der „nationalen Sicherheit“ ist die Frage nach der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse.

„Die Welt wird vernetzter, digitaler und nachhaltiger. Das Streben nach einer grünen, digitalen und zirkulären Wirtschaft bestimmt die normungsrelevanten Technologiefelder der Zukunft. Dabei werden Technologien in den Bereichen Verkehr, Energiewirtschaft, Künstliche Intelligenz, Cybersecurity, Batterien und Circular Economy eine wesentliche Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund muss der zunehmenden Bedeutung der Normung und der gestiegenen Wahrnehmung auf politischer Ebene Rechnung getragen werden.“ (BDI: a.a.O S. 30)

Die transatlantischen Metropolen wollen dem russischen Imperialismus und China nur in oberflächlichen Bereichen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse entgegenkommen, aber ihre Hegemonie wollen sie nicht aufgeben, sondern nur verdeckter ausüben. Über die Etablierung technischer Normen, die in Freihandelsverträgen und Assoziierungsabkommen festgeschrieben werden, soll die transatlantische Hegemonie im multipolaren Weltmarkt gesichert werden. Natürlich werden der russische Imperialismus und China dieses Ansinnen ablehnen.

„Internationale Normen und Standards müssen künftig fester Bestandteil europäischer Handelsstrategien- und abkommen werden. Das ist die Voraussetzung, um die Vorreiterrolle in der Normung und Standardisierung auszubauen. Internationale Normen und Standards stärken den regelbasierten Handel und erhöhen die Resilienz westlich orientierter Staaten gegenüber systemischen Wettbewerbern. Dies ist insbesondere bei der Erarbeitung und Ratifizierung von Freihandels- und Assoziierungsabkommen zu berücksichtigen.“ (BDI: a.a.O. S. 30)

Die vom BDI geforderten internationalen Normen zielen nicht auf einen offenen Weltmarkt, sondern auf einen in der Tendenz autarken Weltmarkt. Die technische Normung ist zugleich eine politische und soziale Normung, zielt auf ein bestimmtes Akkumulationsmodell und damit auf einen bestimmten imperialistischen Block im multipolaren Weltmarkt. Auf diese Weise wird dann auch die Arbeiterklasse einer Neuzusammensetzung unterzogen. Zentral geht es immer um eine bestimmte Normung, Normierung und Uniformierung der Arbeiterklasse unter das gesellschaftliche Kapitalkommando und damit um deren Neuzusammensetzung. Der Bezug des deutschen Monopolkapitals auf „sein“ Westeuropa als Binnenmarkt des deutschen Kapitals und damit als Kerngeographie eines imperialistischen Blocks im multipolaren Weltmarkt ist für den BDI zentral. Hier bricht die autarkische Tendenz offen durch.

„Die deutsche Industrie hat schon lang einen besseren Schutz europäischer Unternehmen vor Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt durch teilweise massiv subventionierte Unternehmen aus Drittstaaten gefordert und begrüßt daher das neue Foreign Subsidies Instrument. Gerade bei Übernahmen und öffentlichen Auftragsvergaben brauchen europäische Unternehmen faire Chancen und ein Level Playing Field im Binnenmarkt, das weder durch europäische noch durch drittstaatliche Unternehmen verzerrt werden darf.“ (BDI: a.a.O. S. 37f)

Der BDI möchte den Festungscharakter des EU-Binnenmarktes und damit der EU selbst, deutlicher herausstellen; das EU-Bündnis als Kerngebiet für einen vom deutschen Imperialismus hegemonierten imperialistischen Block. Kapitalinvestitionen in der EU stehen unter ständiger Beobachtung und Sanktionierung. Gegen Rußland, aber auch deutlich gegen China werden schon jetzt Instrumente angewandt, welche aufgrund der „potentiellen Gefährdung der nationalen Sicherheit“ Kapitalinvestitionen in Form von Firmenübernahmen verbieten. Dies betrifft China. Im Fall Rußland werden Kapitalien in Deutschland enteignet und die Unternehmen unter staatlicher Zwangsverwaltung gestellt und unter Umständen ganz aufgelöst.

Die „nationale Sicherheit“ ist immer auch das zentrale Paradigma des BDI und stellt die „neue Normalität“ des Kapitalismus dar. Jede kleinste Störung der Akkumulation kann jederzeit als „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ betrachtet werden. Auch das bisherige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse stellt derzeit für das Kapital eine „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ dar und muß konsequent vernichtet werden und damit auch alle die Organisationen, welche das bisherige gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse verteidigen. Unterwerfen sich diese Organisationen dem bürgerlichen Staat, lassen sie sich unter dieser Drohung der „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ bzw. des „Staatswohls“ von diesem gleichschalten oder schalten sie sich selbst präventiv gleich, wie die DGB-Gewerkschaften, welche der Arbeiterklasse enorme Reallohnverluste zumuten, dann werden sie objektiv in den bürgerlichen Staat eingebaut uns agieren als Arbeitsfront, nicht aber als Gewerkschaft. Die DGB-Gewerkschaftsbürokratie orientiert sich an der „nationalen Sicherheit“ des Kapitals, nicht aber an den Klasseninteressen der Arbeiterklasse. Es wundert dann nicht, daß die Gewerkschaftsbasis mit den Füßen abstimmt und die DGB-Gewerkschaften verläßt, was die Finanzkrise der Gewerkschaften eskalieren läßt und diese sich noch enger in den bürgerlichen Staat einbaut und dann mehr und mehr direkt oder indirekt vom diesem finanziert wird. Der bürgerliche Staat ist der letzte Garant der Gewerkschaftsbürokratie, indem er diese in eine Staatsbürokratie umwandeln kann. Auch die DGB-Bürokratie ist ein Moment in der „Politik der nationalen Sicherheit“ und kann erst unter dem Duck verschärfter Klassenkämpfe gezwungen werden, die Interessen der Arbeiterklasse partiell zu vertreten. Bleibt der proletarische Widerstand auf einem geringen Niveau fixiert, geht die DGB-Bürokratie den Weg der Selbstgleichschaltung im Rahmen einer Politik der „nationalen Sicherheit“, welche im Energienotstand sich auch formal realisiert. Der DGB ist derzeit ein Hindernis für die Aktionen der Arbeiterklasse und begibt sich ins Schlepptau des BDI, d.h. der BDI gibt vor und der DGB folgt im blinden Gehorsam. Derzeit steht die Partei „Die Grünen“ dem BDI am nächsten und nicht CDU/CSU und FDP. Damit sind die aggressiv-transatlantischen GRÜNEN die Speerspitze des BDI in der Bewegung der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Das Schweigen des DGB und nicht nur das Schweigen der DGB-Bürokratie, macht die „nationale Sicherheit“ des BDI erst möglich. Gleichschaltung oder Selbstgleichschaltung der Gewerkschaften führt zur Abschaltung der Gewerkschaften. Erst dann, wenn die Arbeiterklasse zu Sprechen beginnt, zur direkten Aktion greift, wird es um den BDI ruhiger, läßt er von seiner „nationalen Sicherheit“ ab. Nur die direkten Aktionen der Arbeiterklasse können der „nationalen Sicherheit“ des BDI, welche tendenziell die „nationale Sicherheit“ des deutschen Imperialismus ist, Grenzen setzten, nur sie befreien die DGB-Bürokratie aus dem Griff des bürgerlichen Staates. Die „Politik der nationalen Sicherheit“ des deutschen Kapitals sichert eine radikale Deflationspolitik ab, die sich vermittelt über den transatlantischen Wirtschaftskrieg auch zu einer Schockpolitik entwickeln kann. Der Notstand sichert nur eine radikale Deflationspolitik/Schockpolitik gegen die Arbeiterklasse ab. Eine „Politik der nationalen Sicherheit“ trägt immer eine radikale Deflationspolitik oder gar eine Schockpolitik in sich und umgekehrt. Dieser Begriff „nationale Sicherheit“ bezeichnet die radikale Absenkung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus der Arbeiterklasse, also eine Deflationspolitik/Schockpolitik über eine zumindest „friedensähnliche Kriegswirtschaft“. Während sich der BDI vornehm über eine notwendige Deflationspolitik zurückhält, wird der BDA (Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände) über seinen Vorsitzenden Dulger deutlicher:

„Mehr Dynamik und Tempo, mehr unternehmerische Freiheit und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Deutschland muß entfesselt und nicht durch die Politik gefesselt werden. Sonst bewegt sich Deutschland ungebremst auf einen gefährlichen Wendepunkt zu.“ (BDA-Präsident Dulger wird mit diesen Worten in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 28.11.2022 in dem Artikel: „Die Regierung nimmt die Deindustrialisierung mutwillig in Kauf“ zitiert).

Eine gute Arbeitsteilung zwischen dem BDI und dem BDA. Der „gute Polizist“ und der „böse Polizist“. Freiheit für das Kapital und Flexibilität für das Kapital auf dem Arbeitsmarkt bedeutet Verzicht und Unfreiheit für die Arbeiterklasse. Wenn das Deutschland des Kapitals entfesselt wird, wird die Arbeiterklasse gefesselt und das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse historisch abgesenkt. Der BDA droht offen mit einer Deflationspolitik/Schockpolitik, während sich der BDI zurückhält und über die „nationale Sicherheit“ verdeckt das selbige fordert. Wer offen mit einer Deflationspolitik/Schockpolitik droht, droht mit dem Notstand, droht mit der „nationalen Sicherheit“ gegen den „inneren und äußeren Feind“, welcher mit einer „Strategie der Spannung“ eingeleitet werden kann. In der Razzia gegen „Reichsbürger“ wird das faschistisch-wirre Reichsbürger-Milieu bewußt mit den „Anti-Corona-Protesten“ vermischt (der „innere Feind“) und dies in Verbindung mit Rußland gebracht (Besuch eines russischen Konsulats als Besuch und Kontakt mit dem „äußeren Feind“). Damit wird eine gesellschaftliche Spannung gegen die Massenproteste, vor allen in Ostdeutschland, gegen den antirussischen Wirtschaftskrieg aufgebaut, denn diese werden generell seit September 2022 als rechtsradikal, „anti-Corona“ und russlandfreundlich in den bürgerlichen Medien dargestellt. Ohne Zweifel sind auf diesen Demonstrationen diese Tendenzen vorhanden, aber auch andere Tendenzen, welche ausgeblendet werden, damit diese nicht daran teilnehmen. „Linke“ Proteste gibt es wenig und werden nicht organisiert bzw. desorganisiert, denn eine Kritik am antirussischen Wirtschaftskrieg muß verhindert werden. Ein proletarischer Protest wendet sich gegen den antirussischen Wirtschaftskrieg und setzt auf egalitäre Forderungen, stellt das Privateigentum an Produktionsmitteln über die Forderung nach Arbeiterkontrolle in Frage. Diese Razzia dient dem gesellschaftlichen Spannungsaufbau gegen den „inneren und äußeren Feind“ und legitimiert die „Politik der nationalen Sicherheit“, die Politik der Repression und des Notstandes. Die Razzia diente zur Inszenierung einer „inneren Bedrohung durch einen „inneren Feind“, wie einst die RAF. Zwanzig oder mehr Personen sollen sich verschworen haben, um die BRD zu stürzen, welche 80 Millionen Einwohner zählt und einer der mächtigsten Imperialismen innerhalb der imperialistischen Kette ist. Irrationale Annahmen des bürgerlichen Staates. Ein richtiger Staatsstreich sieht anders aus, siehe exemplarisch der Militärputsch in Chile oder der Massenputsch in der Ukraine von 2013 bis 2014. Der bizarre „Dezemberputsch“ des Jahres 2022 ist eine Farce, eine Karikatur eines wirklichen Staatsstreichs, vollkommen unprofessionelle Putschisten spielen in ihren Zusammenkünften ihren Operettenputsch durch. Eine wirkliche Verschwörungstheorie zur Absicherung des Paradigmas der „nationalen Sicherheit“, zur Absicherung eines möglichen wirklichen Staatsstreichs, pseudolegal über einen möglichen Notstand/Ausnahmezustand. Den Staatsstreich gab es im März 2020 über den „Corona-Notstand“ und er ist nur formal, aber nicht real beendet, sondern nur tendenziell zurückreguliert. Darauf aufbauend kann jederzeit exzessiv die Repression des bürgerlichen Staates, bis in den Notstand, exekutiert werden. Die „Strategie der Spannung“ in Aktion. Ob dieser „Fall“ ausgebaut wird oder der Vergessenheit anheimfällt, hängt von der Entwicklung des Klassenkampfes ab. Es können noch mehrere solcher Fälle aufgedeckt werden und der Ruf nach dem „starken Staat“, nach der „wehrhaften Demokratie“ wird laut. Wenn es um Rechtsterroristen geht, dann sollte man doch wohl eher diese in den Reihen der NSU-Nationalsozialistischer Untergrund- suchen, und der bestand aus ca. 300 Personen statt die bekannten drei Personen. Bis heute wird vom bürgerlichen Staat der NSU gedeckt, auch über diverse Zeugenmorde, welche als Selbstmord oder Unfall getarnt werden. Alles im Namen der „nationalen Sicherheit“ bzw. „Staatssicherheit“, bzw. des „Staatswohls“. Man stelle nur den NSU der „Putschgruppe des Dezember“ gegenüber und die Unterschiede springen ins Auge. Auf jeden Fall bereitet sich damit der bürgerliche Staat auf einen Energienotstand vor, ob er eintritt oder nicht ist in diesem Zusammenhang nicht von Belang. Schon die ideologische Vorbereitung eines Notstands ist eine Bedrohung für die Klasseninteressen der Arbeiterklasse; die „Politik der nationalen Sicherheit“ bedroht das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse, bedroht die soziale und politische Sicherheit der Arbeiterklasse, d.h. es geht um die soziale und physische Existenz der Arbeiterklasse. Nur über die Einheitsfront kann die soziale und physische Bedrohung der Arbeiterklasse durch das Kapital beendet, kann dem Energienotstand begegnet werden, denn der Energienotstand bedroht die physische Existenz der Arbeiterklasse, es ist eine Frage von Leben und Tod für die Arbeiterklasse. Der BDI und sein bürgerlicher Staat marschieren gegen die Arbeiterklasse.

  1. Die proletarische Antwort

-Generalstreik gegen Krieg und Krise. Der Feind steht im eigenen Land.

-Radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, ansetzend an der alltäglichen Sabotage der Ausbeutung, auch in der „Kritischen Infrastruktur“ und international organisiert.

-Arbeiterkontrolle über die Produktion als ersten Schritt zur Errichtung der proletarischen Doppelmacht

-Aufbau proletarischer Hundertschaften gegen die Repression des bürgerlichen Staates und seiner neofaschistischen Organisationen.

Iwan Nikolajew Hamburg im Februar 2023 Maulwurf/RS

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Stadtgespräch aus der USA

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Februar 2023

Grüne Männchen nur innerstädtisch: – Sie sind nicht unter uns

Von der Erde  – Caspar Shaller

Über Nordamerika schweben unbekannte Objekte, angeblich ohne Außerirdische. Warum kommen Aliens eigentlich nie nach Europa?

Beruhigende Nachrichten aus den USA: „Es gibt keinen Hinweis auf Aliens oder außerirdische Aktivitäten bei diesen jüngsten Abschussaktionen“, ließ die Sprecherin des Weißen Hauses die Presse am Montag wissen. Denn im Himmel über Nordamerika spielt sich gerade Aufregendes ab: Nachdem bereits ein potenzieller Spionageballon chinesischer Bauart über der Küste des südöstlichen Bundesstaates South Carolina abgeschossen wurde, sind nun über Alaska, Kanada und dem Mittleren Westen weitere fliegende Objekte gesichtet worden.

Das US-Militär schoss seit Freitag drei von ihnen ab. Was mit ihren Trümmern geschehen ist und worum es sich bei den Flugkörpern genau handelt, ist noch unklar. Nachdem es erst hieß, die Flugkörper seien achteckige Objekte, sollen es nun metallische Ballone in Größe eines Klein­wagens sein.

Wilde Spekulationen brandeten durch soziale Medien: Handelt es sich dabei etwa um fliegende Untertassen? Haben wir gerade außerirdischen Besuch aus dem Himmel geschossen? So weit gingen die Gerüchte, dass sich das Weiße Haus schließlich genötigt sah, klarzustellen, dass es sich bestimmt nicht um Aliens handelt. Nothing to see here!

Spätestens seit „Akte X“ haben wir jedoch gelernt, daran zu zweifeln, wie vertrauenswürdig Vertreter der US-Regierung in gut sitzenden Anzügen und mit akurat gescheiteltem Haar sind, wenn es um Extraterrestrisches geht. Und da gibt es einiges: Das Geoinformationsunternehmen Esri veröffentlichte 2019 ein Video, in dem alle UFO-Sichtungen seit 1906 als gelbe Punkte auf einer Weltkarte aufgezeichnet sind.

US-Pass zeigt Final frontier

So viele Menschen können nicht unrecht haben, hinter einem dieser leuchtenden Punkte muss sich doch eine fliegende Untertasse verbergen! Auffällig an der Karte ist, dass darauf die USA als strahlendes Zentrum der Alien-Entdecker erscheinen. Auch jetzt schweben die Flugobjekte über Amerika – nicht über Europa. Warum bekommen wir eigentlich nie Besuch? Sind unsere Städte es etwa nicht wert, von Laserstrahlen zerschossen zu werden?

Das Desinteresse beruht vielleicht auf Gegenseitigkeit. Das Interesse am All ist tief in der amerikanischen Kultur verankert. Die letzte Seite des US-Passes zeigt die final frontier: die Raumsonde Voyager, die am Mond vorbeifliegt. Hollywood schmeißt seit Jahrzehnten einen Alien-Film nach dem andern auf den Markt. Aber auf dieser Seite des Atlantiks scheint sich niemand dafür zu interessieren, was da draußen noch zu finden ist.

Selbst im sonst so technik- und weltraumaffinen sozialistischen Osten sah man keinen Alien weit und breit. In den Science-Fiction-Filmen aus dem Osten wie „Solaris“, „Ikarie XB1“ oder „Signale“ ging es meistens – wie langweilig – um philosophische Fragen des Menschseins.

Ist die Innenstadt ein linksliberales UFO?

Quelle        :         TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Sorry for the shakiness. Myrtle Beach, SC rn #ChineseSpyBalloon

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Eine Agenda der Radikalen

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Februar 2023

ISRAEL – DIE AGENDA DER RADIKALEN

Isaac Herzog in Beit HaNassi, December 2022 (ABG 0348).jpg

Von Charles Underlin

Während Zehntausende in Tel Aviv und Jerusalem gegen die geplante Abschaffung des Rechtsstaats auf die Straße gehen, eskaliert der Konflikt mit den Palästinensern. Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht, solange in der Regierung Vertreter der radikalen Siedlerbewegung das Sagen haben.

Benjamin Netanjahu hat es geschafft. Seit dem 29. Dezember ist er wieder an der Macht. Der neue alte Pre­mier­minister, der das Amt bereits von März 2009 bis Juni 2021 innehatte, kann sich mit 64 von 120 Sitzen auf eine nationalistisch-ultraorthodoxe Mehrheit in der Knesset stützen. Endlich kann er sein großes Projekt verwirklichen: die Durchsetzung eines neuen Regimes, das auf einem autoritär-religiösen jüdischen Nationalismus beruht. Netanjahu bricht damit endgültig mit der Vision einer Demokratie, wie sie die zionistischen Gründerväter Theodor Herzl, Wladimir Zeev Jabotinsky und David Ben-Gurion vertraten.

Den ersten Schritt in diese Richtung vollzog Netanjahu bereits im Juli 2018 mit dem umstrittenen Nationalstaatsgesetz, das die arabischen und dru­sischen Minderheiten diskriminiert.1 Die neue Regierung will diesen Weg zu Ende gehen. Und das heißt: dem Rechtsstaat Fesseln anlegen; die „nationale Erziehung“ radikalisieren, die Führungskader im Sicherheitsapparat auf Linie bringen, die linke Opposition zerschlagen, die Annexion des Westjordanlands vorantreiben und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) kaltstellen.

Mit dem Umbau des Justizsystems hat Netanjahu den Knesset-Abgeordneten Jariv Levin betraut, der seit seiner Wahl auf der Likud-Liste im Jahr 2009 gegen zu unabhängige Richter hetzt. Kaum ernannt, präsentierte Levin am 4. Januar seinen Plan für eine „radikale Umgestaltung“ nach einem ganz neuen Prinzip: Das „Volk“ allein verleiht der gewählten Mehrheit die Legitimität, unbeschränkt zu regieren – ohne die Einmischung von Richtern, denen die Legitimation durch den Souverän abgeht. Konkret heißt das: Eine „Überwindungsklausel“ soll es einer Knesset-Mehrheit von 61 Abgeordneten ermöglichen, Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs aufzuheben, wenn der zum Beispiel ein Gesetz für verfassungswidrig befindet. Und diese Knesset-Entscheidung kann, so Levin, „von einem Richter nicht mehr aufgehoben werden“.

Justizminister gegen den Rechtsstaat

Damit nicht genug: Auch das neunköpfige Gremium, das die Richter des Obersten Gerichtshofs ernennt, soll der Kontrolle der Regierung unterworfen werden. Zu diesem Zweck sieht Levins Reform vor, die beiden von der Anwaltskammer bestellten Vertreter durch direkt vom Justizminister ernannte Mitglieder zu ersetzen.

Als weitere Maßnahmen plant der Justizminister die Neufassung einiger Artikel des Strafgesetzbuches, was dafür sorgen soll, dass dem Korruptionsverdacht gegen Politiker und Politikerinnen künftig seltener nachgegangen wird. Theoretisch könnte es dazu kommen, dass Netanjahu selbst die Richter ernennt, die über seinen Revisionsantrag befinden, falls er in dem laufenden Prozess wegen Betrugs, Veruntreuung und Korruption verurteilt werden sollte.

Die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Esther Chajut, hat die Pläne des neuen Justizministers scharf verurteilt: „Dies ist eine Attacke auf das Rechtssystem, als wäre es ein Feind, den man angreifen und bezwingen muss. Diese Reform ist ein tödlicher Schlag für die Demokratie.“

Levins Reaktion erfolgte prompt. Der Justizminister hielt Chajut vor, dass sie einer Partei angehöre, die nicht zu den Wahlen angetreten sei, sich aber dennoch über die Knesset und die Entscheidungen des Volks erheben würde. Mit ihren Äußerungen wolle die Gerichtspräsidentin überdies dazu aufrufen, „die Straßen in Israel in Brand zu setzen“.

Auch der 86-jährige Aharon Barak, der von 1995 bis 2006 Präsident des Obersten Gerichtshofs war, warnte vor dem geplanten Justizumbau: „Diese Reform führt die Tyrannei durch die Mehrheit ein und ist eine Gefahr für die Demokratie. Wenn sie umgesetzt wird, wird es im ganzen Land nur noch eine einzige Autorität geben, nämlich die des Premierministers!“2

In einem Interview auf Channel 12 warnte Barak eindringlich vor politischer Gleichgültigkeit. Dabei zitierte er ausgerechnet den deutschen protes­tantischen Theologen Martin Niemöller, der sich von einem Anhänger der

Nazis zum Widerstandskämpfer gewandelt hatte und im KZ gelandet war: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist … Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Auf die Frage der Moderatorin Dana Weiss, wie die Bevölkerung reagieren solle, antwortete Barak: „Wenn es zu keiner Einigung kommt, müssen wir den Kampf aufnehmen, natürlich im Rahmen des Gesetzes.“ Es könne durchaus dazu kommen, dass man in der Balfour Street demonstrieren müsse, denn „wir haben nun einmal kein anderes Land“. Mit der Balfour Street meinte Barak den Amtssitz des Pre­mier­ministers in Jerusalem.

Der Oberste Gerichtshof ist zugleich die einzige Institution in Israel, an die sich die Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen wenden können, um ihre Rechte einzufordern. Seine Schwächung würde bedeuten, auch noch die letzte juristische Instanz zu beseitigen, die den Ausbau der Siedlungen im Westjordanland bremsen könnte.

24 Stunden vor seiner Amtseinführung twitterte Netanjahu die ersten Zeilen des Koalitionsvertrags: „Das jüdische Volk hat ein exklusives und unanfechtbares Recht auf alle Gebiete des Landes Israel. Meine Regierung wird überall die Siedlungen ausbauen, auch in Judäa und Samaria.“3

Als im April 2020 die Regierungs­koa­lition Netanjahu/Gantz ihr Programm präsentierte, war noch nicht von „exklusivem Recht“ die Rede. Die neue Formulierung ist auch eine Botschaft an alle internationalen Partner, die Israel nach wie vor an die gemeinsamen „Werte“ erinnern und auf der Notwendigkeit einer Zweistaatenlösung bestehen.4 Zu denen etwa US-Präsident Joe Biden und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gehören, aber auch die Europäische Union.

Demonstrativ hat Netanjahu bei der Regierungsbildung die Kontrolle über das Westjordanland und die innere Sicherheit den Vertretern der Liste „Religiöser Zionismus“ (HaTzionut HaDatit) überlassen, die sich aus den drei radikalsten Siedlerparteien zusammensetzt. So bekam Bezalel Smotrich, der in der Siedlung Kedumim bei Nablus lebt, das Finanzressort und den Posten eines Vizeverteidigungsministers. Als solcher kann er die Kommandeure von zwei wichtigen militärischen Instanzen in den besetzten Gebieten ernennen: der „Koordinierungsstelle der Regierungsaktivitäten in den Gebieten“ (Cogat) und der „ Zivilverwaltung im Westjordanland“, die der Cogat untersteht.

Berlin and Israel walls

Diese beiden Instanzen sind für die Verbindungen zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) verantwortlich. Vor allem aber nehmen sie in den besetzten Gebieten zivile Verwaltungsaufgaben wahr, einschließlich der Kontrolle über alles, was in die Gebiete kommt und sie wieder verlässt. Die Ernennung von Smotrich löste heftige Proteste hoher israelischer Militärs aus, weil sie bedeutet, dass Rechtsextreme in die Befehlsketten der Armee integriert werden.

Für die palästinensische Bevölkerung bedeutet dies die Ablösung der militärischen Okkupation durch ein neues Regime, das von der radikalen Siedlerbewegung kontrolliert wird, stellt der Rechtsprofessor Mordechai Kremnitzer fest, was zwingend zu einer Verurteilung Israels durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag führen werde.

Smotrichs hat auch den Auftrag, das De-facto-Verbot neuer palästinensischer Bauten in der C-Zone – jenen 60 Prozent des Westjordanlandes, die vollständig unter israelischer Kontrolle stehen – konsequent durchzusetzen und dafür zu sorgen, dass Hunderte jüdische Siedlungen, die ohne staatliche Genehmigung errichtet wurden, legalisiert und an die Strom-, Wasser- und Telefonnetze angeschlossen werden. Was die Palästinensische Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas betrifft, so betrachtet sie der neue Minister als ein „terroristisches Gebilde“, dem keinerlei Hilfe zukommen soll.

Die umstrittenste Ernennung Netanjahus ist die von Itamar Ben-Gvir zum Minister für nationale Sicherheit. Der Knesset-Abgeordnete wohnt in der Siedlung Kirjat Arba am Stadtrand von Hebron. Er ist Vorsitzender der rassistischen Partei „Jüdische Stärke“ (Otzma Jehudit), die auch die extremistischen Thesen des Rabbiners Meir Kahane vertritt.5

Ben-Gvir steht in seiner neuen Funktion der israelischen Polizei vor, die ihn noch vor einem Jahr als gefährlichen rassistischen Agitator eingestuft hat. Auch bei der Armeeführung galt er als gefährlicher Extremist, weshalb er vom Militärdienst ausgeschlossen wurde. Im 2022 Oktober wurde der heutige „Sicherheitsminister“ im Ostjerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrah gefilmt, wie er bei Auseinandersetzungen zwischen arabischen und jüdischen Jugendlichen seine Pistole zückte und die israelischen Polizisten aufforderte, auf palästinensische Steinewerfer zu schießen.

Ministerium für nationale Missionen

Quelle       :        Le Monde diplomatique         >>>>>       weiterlesen

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נשיא המדינה יצחק הרצוג, וראש הממשלה בנימין נתניהו, במרכז התמונה המסורתית במשכן הנשיא בירושלים לרגל השבעת ממשלת ישראל ה-37. יום חמישי, ה‘ טבת תשפ“ג, 29 בדצמבר 2022. קרדיט צילום: אבי אוחיון.

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Ein Leben nach Corona

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Februar 2023

Politikprofessor denunziert Kriegsangst als «Krankheit»

Die Institutionen der Politik werden alle nur von  kleinen Sekretären besetzt.

Quelle      :        INFO Sperber CH.

German Foreign Policy /   

Wer vor der Gefahr einer Ausweitung des Ukraine-Kriegs warnt, hat in Deutschland einen schweren Stand.

Der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause, rechnet damit, dass NATO-Staaten in absehbarer Zeit Kampfjets an die Ukraine liefern. Mit Blick darauf sei «Eskalationsbereitschaft» angesagt, nicht «Eskalationsphobie», erklärt Krause, der auch dem Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik angehört, des militärpolitischen Strategiezentrums der Bundesregierung.

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine haben deutsche Politiker und Medien immer wieder Kriegsangst zu stigmatisieren versucht. In einem aktuellen Medienbeitrag heisst es über Furcht vor dem Übergreifen des Krieges auf die Bundesrepublik: «Panikmache müsste … strafbar sein.»

«90 Sekunden vor Mitternacht»

Unterdessen hat UN-Generalsekretär António Guterres vor einer Ausweitung des Ukraine-Kriegs zu einem «grösseren Krieg» gewarnt.  Vor der UN-Generalversammlung konstatierte er, die «Doomsday Clock» («Weltuntergangsuhr»), mit der Wissenschaftler die Nähe zu einer von Menschen herbeigeführten apokalyptischen Katastrophe darzustellen suchen, stehe seit kurzem auf 90 Sekunden vor Mitternacht – ein Punkt, den sie nicht einmal in den härtesten Phasen des Kalten Kriegs erreicht habe.

Ursache seien neben der drohenden Klimakatastrophe nukleare Gefahren und vor allem der Ukraine-Krieg.[1] «Die Aussichten auf Frieden verschlechtern sich weiter», warnte Guterres, «die Wahrscheinlichkeit weiterer Eskalation und Blutvergiessens steigt weiter.» Er fuhr ausdrücklich fort: «Ich fürchte, die Welt schlafwandelt nicht in einen grösseren Krieg, sie bewegt sich mit weit geöffneten Augen in ihn hinein.» Der UN-Generalsekretär forderte eindringlich zum Gegensteuern auf: «Wir müssen härter für den Frieden arbeiten – überall.»

«Der Dritte Weltkrieg»

Schon vor rund einem Monat hatte Papst Franziskus ebenfalls eindringlich vor einem grossen Krieg gewarnt. Franziskus äusserte sich in seiner traditionellen Neujahrsansprache, die er wie jedes Jahr vor den beim Vatikan akkreditierten Diplomaten aus aller Welt hielt und die als aussenpolitische Grundsatzrede des Papstes gilt, zu den zahlreichen aktuellen Konflikten – von Syrien über den israelisch-palästinensischen Konflikt, den Bürgerkrieg in Myanmar und die Spannungen und Unruhen etwa in Peru und Haiti bis zu den Kriegen in der Sahelzone sowie in weiteren Ländern Afrikas.

Für kleine Gäste – lange Tische ?

Zwar beträfen die zahlreichen Kriege und Konflikte jeweils «nur bestimmte Gebiete des Planeten unmittelbar»; doch bezögen sie, sei man ehrlich, «im Grunde genommen alle mit ein». «Das beste und jüngste Beispiel dafür» sei «der Krieg in der Ukraine mit seiner Spur von Tod und Zerstörung, mit den Angriffen auf die zivile Infrastruktur, bei denen Menschen nicht nur durch Bomben und Gewalt, sondern auch durch Hunger und Kälte ihr Leben verlieren.» Der Papst urteilte über die gegenwärtige Lage: «Heute ist der Dritte Weltkrieg in einer globalisierten Welt im Gang».[2]

«Panikmache müsste strafbar sein»

Während der UN-Generalsekretär und der Papst vor der Ausweitung des Ukraine-Kriegs bis hin zu einem Dritten Weltkrieg warnen, werden in Deutschland nun erneut Forderungen lauter, sich von der Kriegsgefahr nicht abschrecken zu lassen. Das ist nicht neu. Nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn behauptete die damalige stellvertretende Leiterin des European Union Institute for Security Studies, Florence Gaub, die Furcht vor dem Weltkrieg sei «genau, was Putin erreichen will»: «Nicht die Bombe, sondern die Angst vor der Bombe ist die Waffe.» Daher dürfe man sie nicht zulassen.[3] Anfang Mai sagte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, befragt, ob er nicht einen Atomkrieg fürchte: «Ich habe keine Angst.»[4] Ende vergangenen Jahres erklärte Carlo Masala, Professor an der Münchner Universität der Bundeswehr, in einer Talkshow, «Angst vor einer Eskalation» durch Russland zu haben sei «ein bisschen paradox»: «Da stehen wir mit unserer Angst auf der falschen Seite.»[5] Am Wochenende brüstete sich ein Autor im Springer-Blatt «Die Welt»: «Corona, Weltkriegsgefahr und Klimawandel machen mir keine Angst». «Vertreter aus SPD und Grünen» wollten der Bevölkerung jedoch Furcht einjagen: «Deren Panikmache müsste … strafbar sein.»[6]

Kriegsangst als «Krankheit»

In einem aktuellen Zeitungsbeitrag bezeichnet nun ein deutscher Politikprofessor die Angst vor einer unkontrollierten Eskalation des Ukraine-Kriegs als eine «deutsche Krankheit». Wie der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause, in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» erklärt, sei damit zu rechnen, dass es in absehbarer Zeit zur Gründung eines «westlichen Konsortium[s] zur Lieferung von Kampfjets» an die Ukraine komme – «denn ohne Luftunterstützung werden die Ukrainer nicht zu jener beweglichen Kriegführung in der Lage sein, die notwendig ist, um die russischen Truppen zu vertreiben».[7] Zur Lieferung von Kampfjets hat der Militärhistoriker Sönke Neitzel, eher als Hardliner bekannt, unlängst geurteilt, liefere der Westen sie, dann erreiche der Krieg «eine ganz neue Eskalationsstufe». Neitzel warnt offen, dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gehe es bei der Forderung nach Kampfflugzeugen darum, «die Nato in diesen Krieg hineinzuziehen».[8]

«Eskalationsphobie»

Mit Blick auf Warnungen wie diese erklärt Krause, der dem Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik angehört, des militärpolitischen Strategiezentrums der Bundesregierung: «Die Deutschen leiden unter einer Krankheit, die man als Eskalationsphobie bezeichnen muss.»[9] «Eskalationsbereitschaft» habe sich immer wieder als «erfolgreich» erwiesen, so beispielsweise im Kalten Krieg. Deshalb müsse man auch heute «den Ukrainern neue Mittel der Kriegführung zur Verfügung» stellen. Weil Bundeskanzler Olaf Scholz sich kürzlich nicht für die rasche Lieferung von Kampfjets ausgesprochen hat, wirft Krause ihm vor, sich «in stiller Pflege der Eskalationsphobie» zu üben.

Furcht vor dem Weltkrieg

Die Furcht vor einer Eskalation des Ukraine-Kriegs, die Krause als «Eskalationsphobie» denunziert, ist in der deutschen Bevölkerung verbreitet. Im Oktober zeigte eine Umfrage, dass 59 Prozent der Bevölkerung Angst vor einem Dritten Weltkrieg haben. Am geringsten ausgeprägt ist die Weltkriegsangst mit jeweils 51 Prozent bei Menschen mit monatlichem Durchschnittseinkommen von 4000 Euro oder mehr und bei Wählern von Bündnis 90/Die Grünen.[10]

FUSSNOTEN:
[1] Secretary-General’s briefing to the General Assembly on Priorities for 2023. un.org, 06.02.2023.
[2] «Papst spricht vor Diplomaten vom dritten Weltkrieg». tagesspiegel.de, 09.01.2023.
[3] S. dazu Ukrainisch Roulette.
[4] «Merz: Habe keine Angst vor Atomkrieg». n-tv.de, 02.05.2022.
[5] Thomas Fritz: «Militärexperte Carlo Masala wundert sich bei «Maybrit Illner» über merkwürdige Angst im Westen». web.de, 09.12.2022.
[6] Harald Martenstein: «Wer wenig Angst hat, gilt in dieser Gesellschaft schnell als politischer Aussenseiter». welt.de, 05.02.2023.
[7] Joachim Krause: «Eskalationsphobie – eine deutsche Krankheit». «Frankfurter Allgemeine Zeitung», 07.02.2023.
[8] Dimitri Blinski: Sönke Neitzel: «Es geht Selenskyj darum, die Nato in diesen Krieg hineinzuziehen». stern.de, 27.01.2023.
[9] Joachim Krause: «Eskalationsphobie – eine deutsche Krankheit». «Frankfurter Allgemeine Zeitung», 07.02.2023.
[10] Oliver Stock: «Mehrheit der Deutschen hat Angst vor Drittem Weltkrieg». focus.de, 21.10.2022.

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Oben      —    (Nova York – EUA, 20/09/2022) Palavras do Secretário-Geral da Organização das Nações Unidas, Excelentíssimo Senhor Antônio Guterres. Foto: Isac Nóbrega/PR

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Kolumne-Fernsicht-Polen

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Februar 2023

Russlands Nachbarn spielen eine neue Rolle in Europa

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Von Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz

Gibt es ein „polnisches Moment“ in Europa? Bei der Debatte diese Woche in der Berliner Zentrale der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik ging es um diese Frage. Anlass war das neue Buch des langjährigen deutschen Botschafters in Warschau, Rolf Nikel. Dieses interessante Buch kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.

Polen, als größtes Land unter den östlichen EU-Mitgliedern, als Land, das Hunderte von Waffen in die Ukraine schickt, könnte in der Tat eine neue Führungsrolle in Europa übernehmen. Wären da nicht die Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit und der erbitterte Streit mit Brüssel.

Vielleicht wäre richtiger, nicht von der polnischen, sondern von der mitteleuropäischen Stunde zu sprechen. In wenigen Wochen jährt sich der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zum ersten Mal. 12 Monate schaffen eine gewisse Distanz – wenn man sie angesichts Tausender sterbender Soldaten und unschuldiger Zivilisten überhaupt haben kann.

Die letzten 12 Monate markieren auch eine Zeit, in der Mittel- und Osteuropa einen tiefgreifenden Wandel erlebt hat. Die Region, die früher als ein Monolith angesehen wurde, scheint jetzt geteilt zu sein, wobei andere Länder als in der Vergangenheit den Großteil der Aufmerksamkeit auf sich ziehen. So denkt beispielsweise heute kaum noch jemand an die ehemals modische Visegrád-Gruppe, sondern man guckt auf die unmittelbaren Nachbarn Russlands – Polen und die baltischen Staaten. Auf sie rückt die Hauptaufmerksamkeit der westlichen Welt.

Warum sind die unmittelbaren Nachbarn Russlands so wichtig? Die Antwort ist einfach: Wegen ihrer besonderen Herangehensweise an die Frage der Eskalation in der Ukraine. Die Nachbarn Russlands, die Ukraine inklusive, teilen die Haltung Moskau gegenüber. Dieser Ansatz ist von grundlegender Bedeutung für die Definition der Ziele der aktuellen Auseinandersetzung mit Präsident Wladimir Putin. Es ist auch ein Ansatz, der in der westlichen Welt nicht ausreichend anerkannt wird.

Bundeskanzler Olaf Scholz ist in den letzten Monaten wegen seiner Zurückhaltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert worden. Glaubt man jedoch den Umfragen, so ist seine Zurückhaltung nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in weiten Teilen der westlichen Welt weit verbreitet. Der Grund dafür ist, dass der Westen die Sorge hat, ein falscher Schritt werde zu einer Eskalation des gegenwärtigen Konflikts und möglicherweise in einen Atomkrieg führen.

Die Eskalation des aktuellen Konflikts kann allein von Putin entschieden werden

Die Kölner Innenstadt nach einem Luftangriff 1942

Die Kölner Innenstadt nach einem Luftangriff 1942

Russlands unmittelbare Nachbarn vertreten hingegen eine völlig andere Auffassung. Nach Ansicht von Warschau, Riga und Kiew kann die Eskalation des aktuellen Konflikts allein von Wladimir Putin entschieden werden. Dieser Konflikt eskaliert von selbst, ohne dass die Länder westlich von Moskau dafür verantwortlich wären. Das Einzige, was wir entscheiden können, ist das Ausmaß der Entschlossenheit als Reaktion auf das Verhalten des Kremls. Die Nachbarn Russlands sind überzeugt, dass man entschlossener reagieren muss, weil man nur so gewinnen kann. Ziel ist es, Russland bis ins Jahr 1991 oder sogar bis zur völligen Niederlage und Zerstörung zurückzubefördern – ins Jahr Null, wie 1945 Deutschland.

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Blues und Bäume

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Februar 2023

In der Krisenwelt an Schönes denken

Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Die ökologische, die politisch-soziale und die kulturelle Katastrophe verstärken einander. Kann man da noch an etwas denken, was einfach schön ist?

Worüber könnte man nicht alles sinnieren und sprechen in dieser Welt! Zum Beispiel von einer neuen Generation von afroamerikanischen Bluesmusikern, die eine traumhafte Balance zwischen Tradition und Aktualität finden: King Solomon Hicks, Christone Kingfish Ingram, Buffalo Nichols oder auch – white female soul – Veronica Lewis. Oder, ganz was anderes, über kulturelle Vagina-Repräsentationen jenseits von pfui und geil, im „Einfach schön“-Modus vielleicht.

Da könnte man sich einen Abstecher in die Legende eines Gemäldes leisten, welches das Arbeitszimmer von Sigmund Freud geschmückt haben soll, aber beständig verhangen werden musste, zumal, wenn weibliche Besucher zu empfangen waren: Gustave Courbets „Der Ursprung der Welt“ aus dem Jahr 1866, mit 46 mal 55 cm nicht eben eine Miniatur zum Verstecken – und auch der Titel ist ein späterer Euphemismus, während man das Gemälde so beschnitten hat, dass das Gesicht der Frau verloren ging … Welch ein mytho-poetischer Horrorslapstick!

Die Trennung des Geschlechts vom Menschen, die mehr oder weniger gewaltsame Allegorisierung und dann dieses panisch-komische Spiel von Ver- und Enthüllungen im Geburtshaus der Psychoanalyse – als Symptom, vielleicht, der phallomanischen Moderne des mitteleuropäischen Bürgertums. Schließlich könnte man über Gegenwärtigkeit als Kunst-Ziel nachdenken. In unserer Kunst, in Literatur und Film wird die Gegenwart scharf angesehen, doch sie schaut als etwas Fremdes und Fernes zurück. Als wäre der Preis für genauere Darstellung der Gegenwart der Verzicht auf Gegenwärtigkeit.

So führte vielleicht ein Schlenker über Virginia Woolf oder James Joyce – womöglich auf weniger ausgetrampelte Pfade zu Erkenntnis und Glück. Aber ach, die Verhältnisse, sie sind nicht so. Wir leben, wieder einmal, in finsteren Zeiten. Und in denen müssen sich Themen wie diese den Vergleich mit den Bäumen aus Bert Brechts Gedicht gefallen lassen, von denen zu sprechen fast einem Verbrechen gleichkommt, weil es ein Schweigen über so viel anderes bedeutet. Wir leben in einer dreifachen Katastrophen-Erzählung, und kaum einem Gedanken kann und darf es noch gelingen, sich von der Bindung an dieses unheilige narrative Dreieck zu trennen:

Dreiklang der Katastrophe

Die ökologische Katastrophe. Unabwendbar. Offenbar nicht trotz, sondern noch beschleunigt durch eine Teilnahme der Grünen und ihrer Klientel an Regierung und Diskurs. Ist es noch fünf nach zwölf oder doch schon zehn nach? Die politisch-soziale Katastrophe. Offensichtlich ebenfalls unabwendbar. Der Aufstieg der populistischen Autokratien einschließlich ihrer Gewalt- und Kriegslüsternheit und die furchtbare Allianz von Neoliberalismus, Populismus und „Post“-Faschismus … Wenn man sich in Italien umsieht, weiß man nicht, was erschreckender ist, der Aufstieg der Rechtsextremen zur Regentschaft, der desolate, wenn nicht suizidale Zustand der Linken oder die narzisstische Ignoranz der Mainstream-Gesellschaft.

Diesseits der Alpen haben wir statt Meloni, Berlusconi und Salvini ein Trio infernale von Lindner, Söder und Merz, und die Linke … reden wir von was anderem, nämlich von der kulturellen Katastrophe. Das ist eine Bildungskatastrophe, eine semantische Katastrophe und eine Katastrophe der kulturellen Infrastruktur. Die Ver-Bild-ung und Verdschungelcampung hat längst auf die einstigen „bürgerlichen“ Leitmedien übergegriffen, auf die demokratische Utopie vom Zugang zu Bildung, Kultur und Kritik für alle ist das populistische Marketing von Verblödung für alle gefolgt.

Wechselwirkungen

Der Trick der Dreifach-Katastrophe liegt in ihren Wechselwirkungen. Auf der einen Seite verstärkt jede der Krisen die beiden anderen. Verblödete Menschen sind nicht in der Lage, die ökologische oder politische Krise zu bearbeiten; angstzerfressene Menschen sind nicht in der Lage, Kultur als Medium der sozialen Verbesserung zu begreifen; Prekarisierung macht allenthalben erpressbar. Und zum anderen führt jeder Fortschritt an einer der Katastrophen-Fronten, wie es scheint, automatisch zur Verschlechterung der Lage an den anderen. Mit jedem ökologischen oder kulturellen Fortschritt, und sei er noch so bescheiden, lockt man weitere Kräfte von der „konservativen“ auf die faschisierte Seite; für jeden noch so bescheidenen Schritt der sozialen Gerechtigkeit verlangt die politisch-ökonomische Agentur des Kapitals ein ökologisches Opfer.

Quelle        :        TAZ.online        >>>>>        weiterlesen

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Lebenswissenschaften –

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Februar 2023

200+ deutsche Großwaffen für die Ukrain

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Achtung ! Deutsche Politiker-innen aufsitzen und schon geht es los !

Von Johannes Kreis

Lebenswissenschaften – 200+ deutsche Großwaffen für die Ukraine (mit Servicezentrum in der Slowakei) und der Geist von Minsk.

Ich möchte darauf hinweisen, dass es wenig Sinn macht, auf der molekularen Ebene den Ursprung des Lebens zu erforschen oder sich über das Signifikanzniveau von medizinischen Studien zu streiten, wenn gleichzeitig in der Ukraine einige Millionen Artilleriegranaten verschossen werden.

In einem Krieg gibt es keine Gewinner und den Bewohnern in der Region ist es egal, von wem die Granate verschossen wurde, die in das Haus eingeschlagen ist. Nach fast einem Jahr Krieg in der Ukraine kommen in den deutschen Mainstream-Medien, insbesondere dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, weiterhin nur diejenigen zu Wort, deren Glaubensbekenntnis mehr Waffen und noch mehr Waffen ist. Jedoch, schon jetzt geht es um deutlich mehr Waffen, Munition und Ausrüstung als die Diskussion zu den 14 Leopard-2 Panzern vermuten läßt. Wo ist die Diskussion zu der Perspektive?

Gemäß der für das Militär so kennzeichnenden, eiskalten Logik des Kriegs ist die Nachrichtenlage unübersichtlich und geprägt von taktischen Überlegungen und operativen Zielen der Kombattanten. Aber es gibt einige Punkte, zu denen einigermaßen gesicherte Aussagen möglich sind.

Was man mit Sicherheit sagen kann ist, dass dies kein Feldgeplänkel ist, sondern das ist ein echter Krieg. Die derzeitigen Schlachten in der Ukraine, geprägt von taktischen Offensiven von beiden Seiten, stehen den Schlachten des 2. Weltkrieges an Härte und Brutalität in nichts nach. Vgl. dazu der Chef des Generalstabes der USA, General Mark Milley, im November 2022,

“The most senior US general estimates that around 100,000 Russian and 100,000 Ukrainian soldiers have been killed or injured in the war in Ukraine.

Gen Mark Milley, chairman of the US Joint Chiefs of Staff, also suggested that around 40,000 civilians had died after being caught up in the conflict.”

Neuere Zahlen zu Gefallenen, Verletzten und zivilen Opfern von Ende Januar 2023 sind noch einmal deutlich höher, aber nicht zu verifizieren.

In Deutschland beschränken wir uns derweil auf die Feststellung, dass Russland angefangen hat. Nach 3 Jahren des medialen COVID-Lockdown-Maßnahmen-Impf-Debakels ist klar, dass von den deutschen Eliten, einschließlich der Kirchen und des Deutschen Ethikrates, nicht mehr zu erwarten ist.

Fest steht, dass Deutschland unter anderem die folgenden Waffen und Waffensysteme an die ukrainische Armee geliefert hat oder liefern wird,

88 Leopard-1 Panzer

37 Flakpanzer GEPARD

40 Schützenpanzer MARDER mit Munition

5 Mehrfachraketenwerfer MARS II mit Munition

14 Panzerhaubitzen 2000

14 Leopard-2A6 Panzer mit Munition

18 Radhaubitzen RCH 155

16 Panzerhaubitzen Zuzana 2

20 Raketenwerfer 70mm auf Pick-up Trucks mit Raketen

60.000 Schuss Munition 40mm Granatwerfer

18.500 Schuss 155 mm Artilleriemunition

30 MG3 für Bergepanzer

54 M113 gepanzerte Truppentransporter mit Bewaffnung

53.000 Schuss Flakpanzermunition

3.000 Patronen „Panzerfaust 3“ zuzüglich 900 Griffstücke

500 Fliegerabwehrraketen STINGER

2.700 Fliegerfäuste STRELA

22 Millionen Schuss Handwaffenmunition

50 Bunkerfäuste

7.944 Panzerabwehrhandwaffen RGW 90 Matador

100 Maschinengewehre MG3 mit 500 Ersatzrohren und Verschlüssen

100.000 Handgranaten

5.300 Sprengladungen

100.000 Meter Sprengschnur und 100.000 Sprengkapseln

350.000 Zünder

1.020 Schuss Artilleriemunition 155 mm

156.000 Schuss Munition 40mm Granatwerfer

5.032 Panzerabwehrhandwaffen

Dazu kommen weitere Systeme und Geräte, z.B. Luftverteidigungssysteme Iris-T SLM und PATRIOT, Artillerieortungsradar COBRA, Bergepanzer, Brückenlegepanzer, Aufklärungsdrohnen, Minenräumgeräte, Funkausrüstung, Zugmaschinen, Störsender, mobile Bodenradare und Wärmebildgeräte und weitere Ausrüstung)

Leopard 2A5

Vgl.

Es scheint, dass die Bunderegierung Waffenlieferungen, die nicht aus Bundeswehrbeständen kommen, sondern aus Unternehmensbeständen, nicht auf der Webseite erfasst.

Dazu kommt der wenig bekannte Betrieb eines Instandhaltungszentrums für Großwaffengerät durch die Bundeswehr in Michalovce in der Slowakei, 35 km von Uschgorod in der Ukraine entfernt,

“Im slowakischen Michalovce betreibt die Bundeswehr für das an die Ukraine gelieferte Großgerät ein Instandhaltungszentrum mit einer Leichtbauhalle, in der sechs bis acht Großgeräte gleichzeitig gewartet werden können. Brigadegeneral Christian Freuding, der Leiter des Sonderstabes Ukraine im Verteidigungsministerium, schwärmte auf Youtube: „Da entsteht eine richtige kleine Stadt.““

„Da entsteht eine richtige kleine Stadt.“ Man freut sich ja mit den Generälen. Nur mit parlamentarischer Kontrolle sollte man hier nicht rechnen. Zum Glück sind wir keine Kriegspartei.

Dazu kommen weiteren Leistungen, wie z.B. Ausbildung,

Inwieweit Deutschland an der elektronischen und optischen Feindaufklärung und der täglichen Lagebeobachtung beteiligt ist, und ob Deutschland die ukrainische Armee mit Lagebildern versorgt, ist nicht bekannt.

Man kann juristisch darüber streiten, ob Deutschland Kriegspartei ist,

Aber, über 200 Großwaffen mit Munition, 100.000 Handgranaten oder 22 Millionen Schuss Handwaffenmunition sind Realität. Das ging in der Diskussion zu den 14 Leopard-2 Panzern etwas unter, zusammen mit der Frage, was denn aus den bisherigen Waffenlieferungen an die Ukraine geworden ist, z.B. den 250 Panzern, die Polen geliefert hatte,

“Poland has already sent about 250 Soviet era T-72 tanks to Ukraine.”

Diese Panzer gibt es vermutlich nicht mehr. Die Frage der Perspektive hat sich in der der Diskussion zu den 14 Leopard-2 Panzern wohl nicht gestellt.

Zu den deutschen Waffenlieferungen kommen die Lieferungen anderer NATO Länder, vor allem der USA. Hier Russland täglich davon zu überzeugen, dass es sich nicht in einem Krieg mit der NATO befindet, dürfte einige Arbeit erfordern.

Die Liste der Staaten, die Waffen an die Ukraine liefern, ist lang. Es ist nicht ganz einfach eine genaue Liste zusammenzustellen, wer, welche Waffen und Munition, in welcher Stückzahl bislang an die Ukraine geliefert hat.

Zu den Panzer-Lieferungen an die Ukraine,

“Here is a list of the countries which have so far pledged tanks to Ukraine, or are reportedly considering to do so, GermanyFinland (not in NATO), PolandPortugalSpainNetherlandsDenmarkNorwayUnited StatesCzech RepublicBulgariaUnited KingdomFrance

Zu der Lieferungen  von Panzern und weiteren Waffen an die Ukraine,

“Germany:                         Leopard2 tanks

UK:                                     Challenger2 tanks

Poland:                               200+ T-72 tanks

Czech Republic:                T-72 tanks,

USA:                                   90 Stryker armoured fighting vehicle, 59 Bradley infantry fighting vehicles, Patriot missile system, Nasams (National Advanced Surface-to-Air Missile System), M142 Himars (High Mobility Artillery Rocket System), Advanced M777 howitzers

Slovakia:                            S-300 air defence system

UK:                                      Starstreak air defence systems, Nlaw anti-tank weapon,

Australia:                          Advanced M777 howitzers

Canada:                             Advanced M777 howitzers

Turkey:                               Bayraktar TB2 armed drones”

Die USA haben bislang (unter anderem) folgende Waffen an die Ukraine geliefert, ohne Kriegspartei zu sein,

“Over 1,600 Stinger anti-aircraft systems

Over 8,500 Javelin anti-armor systems

Over 46,000 other anti-armor systems and munitions

142 155mm Howitzers and up to 1,004,000 155mm artillery rounds

4,200 precision-guided 155mm artillery rounds

9,000 155mm rounds of Remote Anti-Armor Mine (RAAM) Systems

36 105mm Howitzers and 180,000 105mm artillery rounds

276 Tactical Vehicles to tow weapons

22 Tactical Vehicles to recover equipment

38 High Mobility Artillery Rocket Systems and ammunition

20 120mm mortar systems and 135,000 120mm mortar rounds

1,500 Tube-Launched, Optically-Tracked, Wire-Guided (TOW) missiles

Eight National Advanced Surface-to-Air Missile Systems (NASAMS) and munitions

Missiles for HAWK air defense systems

20 Mi-17 helicopters

45 T-72B tanks

Over 1,000 High Mobility Multipurpose Wheeled Vehicles (HMMWVs)

Over 11,000 grenade launchers and small arms

Over 104,000,000 rounds of small arms ammunition

Laser-guided rocket systems

Two harpoon coastal defense systems

58 coastal and riverine patrol boats

M18A1 Claymore anti-personnel munitions

C-4 explosives, demolition munitions, and demolition equipment for obstacle clearing”

Dazu kommt weitere Ausrüstung und Geräte. Siehe auch,

Dazu kommen demnächst, wann ist nicht ganz klar, 31 M1A2 Abrams Kampfpanzer,

Man kann festhalten, dass von den USA bis zu 1 Mio. Artilleriegranaten („up to 1,004,000 155mm artillery rounds“) bereitgestellt werden, ohne dass es in Deutschland eine öffentliche Aufforderung der Bundesregierung zu Verhandlungen gibt.

Ebenfalls steht fest, dass die deutschen Waffen und die Munition geliefert wurden, ohne sich die Frage zu stellen, wie man denn aus dieser menschlichen Katastrophe wieder herauskommt. Das überläßt man allein den Kriegsparteien.

„Zur Frage nach der Dauer deutscher Waffenhilfe verwies Kühnert auf den Bundeskanzler. Er betone immer wieder, die Ukraine so lange zu unterstützen, wie es notwendig sei. „Ihre Kriegsziele definiert die Ukraine selbst und damit auch die Frage, wann ein Moment sein kann, an dem man sich zu Verhandlungen zusammensetzt.““

Vereinzelt gibt es kritische Stimmen auf Landesebene, z.B. Michael Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen. Aber Herr Kretschmer hat schon viel gesagt, z.B. zur Impfpflicht.

Die obigen Zahlen sind objektiv überprüfbar. Alles was darüber hinausgeht, ist schwierig. Vieles unterliegt der Geheimhaltung.

So ist z.B. die Aussage des ehemaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr General a.D. Harald Kujat nicht überprüfbar, dass der damalige britische Premierminister Boris Johnson im April 2022 aktiv die Unterzeichnung eines Friedensvertrages verhindert hat, vgl.

„Nach zuverlässigen Informationen hat der damalige britische Premierminister Boris Johnson am 9. April [2022] in Kiew interveniert und eine Unterzeichnung verhindert. Seine Begründung war, der Westen sei für ein Kriegsende nicht bereit.“

Man wird sicherlich nicht oberster Soldat in Deutschland, wenn man leichtfertig mit Verdächtigungen um sich schmeißt. Aber wenn es nicht in der FAZ oder der SZ steht, wird es in Deutschland nicht wahrgenommen.

Zu den Istanbuler Verhandlungen auf die sich Herr Kujat bezieht vgl.,

Und zu der Haltung von Boris Johnson,

Objektiv steht fest, dass es derzeit keine Friedensverhandlungen gibt. Man wundert sich, dass kein hochrangiger Vertreter der deutschen Bundesregierung solche fordert.

Man wundert sich auch, dass es keine Diskussion zu den Abkommen von Minsk aus 2014 gibt, für die Angela Merkel Anfang 2015 noch gelobt worden war. Das damals erklärte Ziel war es, den Ukraine-Konflikt friedlich zu lösen.

„Dank Angela Merkels Einsatz und ihrer angsteinflößenden Kondition gibt es Bewegung in der Ukraine-Krise. Erwächst daraus ein dauerhafter Frieden, wäre die Kanzlerin künftig bei der Lösung schwieriger Konflikte gefragt.“

Kürzlich hat Frau Merkel in einem Interview mit DIE ZEIT und DER SPIEGEL darauf hingewiesen, dass der eigentliche Zweck der Abkommen gewesen sei, Zeit für eine Bewaffnung der Ukraine zu gewinnen,

„Angela Merkel:

[…] Und das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben.

[Anm. d. Red.: Unter dem Minsker Abkommen versteht man eine Reihe von Vereinbarungen für die selbst ernannten Republiken Donezk und Luhansk, die sich unter russischem Einfluss von der Ukraine losgesagt hatten. Ziel war, über einen Waffenstillstand Zeit zu gewinnen, um später zu einem Frieden zwischen Russland und der Ukraine zu kommen.]

Sie hat diese Zeit hat auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht. Die Ukraine von 2014/15 ist nicht die Ukraine von heute. Wie man am Kampf um Debalzewe (Eisenbahnerstadt im Donbass, Oblast Donezk, d. Red.) Anfang 2015 gesehen hat, hätte Putin sie damals leicht überrennen können. Und ich bezweifle sehr, dass die Nato-Staaten damals so viel hätten tun können wie heute, um der Ukraine zu helfen.“

Vgl. dazu auch folgende Ausführungen,

  • Ulrich Heyden, „Mythos Merkel zerplatzt: „Friedenskanzlerin“ bekennt, dass Minsker Abkommen nur ein Trick war“, Nachdenkseite, 12. Dezember 2022https://www.nachdenkseiten.de/?p=91458

Der ehemalige französische Präsident François Hollande bestätigt die Aussagen von Frau Merkel in einem Interview mit The Kyiv Independent,

The Kyiv Independent: In an interview with the German newspaper Die Zeit, Angela Merkel said about the Minsk protocols that ‚It was obvious that the conflict was going to be frozen, that the problem was not solved, but it just gave Ukraine precious time.‘

Do you also believe that the negotiations in Minsk were intended to delay Russian advances in Ukraine?

François Hollande: Yes, Angela Merkel is right on this point.

The Minsk agreements stopped the Russian offensive for a while. What was very important was to know how the West would use this respite to prevent any further Russian attempts.”

Wär es nicht opportun gewesen, sich die Frage zu stellen, ob man mit der Aufrüstung der Ukraine nicht genau das getan hat, was Russland am meisten gefürchtet hat? Wenn Russland die Ukraine in 2014 hätte überrennen können, warum hat Russland das nicht einfach getan? Ist die Ukraine ein Beispiel dafür, dass Aufrüstung keinen Frieden schafft? Eine öffentliche Diskussion dazu, insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, fehlt derzeit.

Hat es dem Geist des Minsker Abkommens entsprochen, die Ukraine in 2016 an einem Großmanöver der NATO, Anakonda 16, in Polen teilnehmen zu lassen? Die Teilnahme ist von NATO Offiziellen seinerzeit kritisiert worden, vgl.

„Zuvor hätten einige Alliierte massive Bedenken angemeldet, sagten Nato-Offizielle der „Tagesschau“. Nicht wegen der Teilnahme von Nicht-Nato-Staaten, sondern auch deshalb, weil Länder wie Georgien und die Ukraine dabei sind.“

„Und auch Verteidigungsexperten warnen vor russischen Reaktionen: „Jedes noch so kleine Missgeschick, das die Russen missverstehen oder sich entscheiden falsch zu deuten, könnte eine Offensive auslösen“, sagte ein Verteidigungsexperte in der europäischen Botschaft in Warschau der britischen Zeitung „The Guardian“. Dies könne zu einem „Alptraum-Szenario“ führen.“

Das „Alptraum-Szenario“ hat man jetzt. Was lernen wir daraus?

Was mit Sicherheit gesagt werden kann, ist, dass die Einlassungen von Frau Merkel und Herrn Hollande im Dezember 2022 wenig geeignet sind, das notwendige Vertrauen zu schaffen, um am Verhandlungstisch zu einer friedlichen Lösung des Ukraine-Konfliktes zu kommen.

Bislang sind alle modernen Kriege, bis auf die Katastrophen des 1. und 2. Weltkrieges, am Verhandlungstisch gelöst worden. Nach einem 3. Weltkrieg wird es nicht mehr viel geben, über das es sich lohnte zu verhandeln.

Fast hofft man, dass sich am Ende die monetären Interessen durchsetzen und wir zu den gewohnten Heucheleien der deutschen Politik zurückkehren,

“Companies including BASF SE, Dow Inc. and Lanxess AG are poised to cut thousands of jobs and shift investment out of Germany because they don’t expect Berlin to reliably provide the energy they need at prices close to those they once paid for Russian pipeline gas.”

Frieden schaffen mit schweren Waffen. Mit Fassungslosigkeit schaut man auf die Ruinen der Grünen und der SPD und den neuen Militarismus à la Strack-Zimmermann in Deutschland. Wie erleichtert waren alle gewesen, als mit Michail Gorbatschow in den 1980er Jahren Perestroika und Glasnost einsetzten. Die derzeitigen Abgeordneten im Deutschen Bundestag scheinen sich daran gar nicht mehr zu erinnern.

Wir waren alle zu sorglos und haben uns zu sehr darauf verlassen, dass, wenn die Tagesschau nichts berichtet, es eben nichts zu berichten gibt. 33 Jahre nach dem Mauerfall stehen wir vor den Trümmern der Entspannungspolitik von Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher und der Albtraum geht von vorne los. Alle die sich für Frieden aussprechen sind „Putin-Versteher“ und jeder Depp kann sich jetzt als Sicherheitspolitiker aufspielen, wenn er oder sie nur mehr Waffen fordert. Es gibt in Deutschland nicht einmal ansatzweise eine Diskussion zu der Perspektive in der Ukraine, außer mehr Waffen zu liefern.

Deutschland verharrt in Sprachlosigkeit und einer medial vorgegebenen Einheitsmeinung, nach dem Motto „nur keine Schwäche gegenüber Putin zeigen“. Von einer kritischen Begleitung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in den deutschen Medien kann keine Rede sein. Das kennen wir von der Gesundheitspolitik der letzten 3 Jahre.  Die berechtigte Aufmerksamkeit, die der Ukraine-Konflikt in den Medien erhält, wenn auch in sehr einseitiger Darstellung, ist der kurzfristigen Aufarbeitung des COVID-Maßnahmen-Debakels nicht förderlich, wird sie aber längerfristig nicht verhindern können. Nach 3 Jahren verfehlter Gesundheitspolitik stand das kleinlaute Eingeständnis, dass man früher hätte nachdenken müssen. Leider sitzen jetzt wieder dieselben Typen mit den Patentrezepten in den Talkshows und die deutschen Journalisten sind weiterhin des kritischen Nachfragens nicht fähig. Die Fehler, die man in der COVID Berichterstattung gemacht hat, wiederholen sich gerade in der Berichterstattung zum Ukraine-Konflikt.

Da muß man inzwischen auch mal nach den Ursachen fragen.

Statt einer kritischen Begleitung der Regierung gibt es fliegende Wechsel zwischen der Tätigkeit als öffentlich-rechtlicher Journalist und der Tätigkeit als Sprecher von Mitgliedern der Bundesregierung. Beispiele sind Steffen Seibert (Regierungssprecher unter der ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und seit August 2022 Botschafter in Israel) und Michael Stempfle (Pressesprecher des amtierenden Verteidigungsministers Boris Pistorius). Der Vorgänger von Steffen Seibert als Regierungssprecher, Ulrich Wilhelm, wurde dann Intendant des Bayerischen Rundfunks.

Das ist einer Demokratie unwürdig. Eine mediale Einheitsmeinung rechtfertigt sich auch nicht dadurch, dass ausländische Oligarchien gegeneinander Krieg führen und man eine geschlossene Front zeigen möchte. Kriege gibt es leider permanent auf der Welt, wie auch die zahlreichen Auslandseinsätze der Bundeswehr in den letzten 20 Jahren zeigen.

In großem Umfang, deutlich mehr als 14 Panzer, Waffen in ein Kriegsgebiet zu schicken (einschließlich Servicezentrum) und nicht einmal die Frage nach der Perspektive zu stellen, sogar es explizit den Kriegsparteien zu überlassen, wann sie beginnen zu verhandeln, das ist viel zu wenig. Bislang findet sich niemand, der das im deutschen Fernsehen einmal ausspricht.

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Oben     —    Anti-aircraft gun tank Gepard 1A2 combining radarfire-control system and two 35mm guns in a new turret mounted on a Leopard chassis.

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Fahren auf Sicht

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Februar 2023

Eine Postkeynesianische Kriegswirtschaft

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Krisenbewältigung und der Übergang zum autoritären Staatskapitalismus: Derzeit kommen viele Elemente keynesianischer Wirtschaftspolitik zum Einsatz. Dies könnte den Übergang zu einer autoritären staatskapitalistischen Krisenverwaltung anzeigen.

Ob stockkonservative Marktjünger oder bieder-sozialdemokratische Gewerkschafter: In Krisenzeiten sind sie alle Keynesianer. Bei jedem Krisenschub der vergangenen Jahre, wenn es mal wieder galt, den dahinsiechenden Spätkapitalismus mittels billionenschwerer Konjunkturprogramme und Gelddruckerei vor dem Kollaps zu ­bewahren, erlebte die Lehre des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, dessen nachfrageorientierte Konjunkturpolitik in der Nachkriegszeit bis zur Ablösung durch den Neoliberalismus in den achtziger Jahren ­dominant war, eine flüchtige öffentliche Konjunktur.

Auch nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase 2008 und dem pandemiebedingten Einbruch 2020 sprach man wieder über Keynes, der als Hofökonom der Sozialdemo­kratie eine aktive Rolle des Staats bei Investitionsprogrammen und eine expansive Geldpolitik propagiert hatte. Nach den üblichen Abnutzungserscheinungen im Medienzirkus verschwindet die Referenz auf Keynes wieder, wenn der Kapitalismus nach der »keynesianischen« Stabilisierungsphase wieder zum business as usual überzugehen scheint.

Übrig bleiben jedes Mal die im neo­liberalen Zeitalter aus dem politischen und akademischen Mainstream verdrängten, beständig jammernden Keynesianer, mit denen sich nun die nichtsozialdemokratische Linke herumplagen darf. Doch die andauernde Klage der Neokeynesianer und der Vertreter der Modern Monetary Theory (MMT, zu Deutsch: moderne Geldtheorie), wonach es mehr Keynesianismus brauche, damit alles wieder besser werde und der Spätkapitalismus an die Ära des »Wirtschaftswunders« wieder anknüpfen könne, ist angesichts der politischen Realitäten – gelinde gesagt – deplatziert. Viele Instrumente des Keynesianismus kommen bei der Krisenverwaltung, die das System seit 2008 stabilisiert, weiterhin zum Einsatz, sie werden nur nicht als solche ­bezeichnet und wahrgenommen.

Das ist nur logisch vor dem Hintergrund der historischen Genese dieser ökonomischen Schule: Der Keynesianismus wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum kapitalistischen Mainstream als die große »Lehre«, die aus der 1929 einsetzenden Krisen­phase zu ziehen sei – und die kapitalistischen Funktionseliten greifen in ­Krisenzeiten quasi reflexartig zu dessen Instrumentarium. Konsequente ­Regulierung der Währungs- und Finanzmärkte, der Staat als wirtschaftlicher Ordnungs- und Leitfaktor, der eine aktive Investitionspolitik betreibt, eine nachfrageorientierte Lohn- und Sozialpolitik, bei der die Lohnabhängigen auch als Konsumenten begriffen werden, und eine kontrazyklische Konjunkturpolitik, die mittels schuldenfinanzierter Konjunkturprogramme ­Rezessionen verhindern soll, um in Boomphasen diese Schulden dann abzutragen – dies waren die idealisierten Grundzüge der keynesianischen Wirtschaftsordnung, bis der Neoliberalismus unter Margaret Thatcher und ­Ronald Reagan dominant wurde; zu dieser Ordnung wollen die Neokeynesianer zurückkehren.

Billiger geht’s nicht

Der pragmatische Rückgriff auf das Instrumentarium des Keynesianismus findet seinen klarsten Ausdruck in all den Konjunkturprogrammen, die im Gefolge der wiederkehrenden Krisenschübe aufgelegt wurden. Da diese immer intensiver wurden, gewannen auch die staatlichen Subventions- und Investitionspakete bei jedem Krisenschub an Umfang, wie die Unternehmensberatungsfirma McKinsey im Vergleich der Weltfinanzkrise 2008/2009 und des ­Pandemieeinbruchs 2020 darlegte. Schon Mitte 2020 summierten sich die globalen staatlichen Krisenaufwendungen auf rund zehn Billionen US-Dollar – das Drei­fache der Krisenprogramme von 2008/2009.

War die Bundesregierung 2008 haushaltspolitisch restriktiv gesinnt und machte nur mit der berüchtigten, klimapolitisch verheerenden »Abwrack­prämie« für Gebrauchtwagen Negativschlagzeilen, legte sie 2020 besonders weitreichende Krisenprogramme auf. In Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) war das deutsche Konjunkturpaket sogar das größte aller westlichen Industrieländer; es belief sich auf 33 Prozent des BIP. Zudem leitete die Regierung unter Angela Merkel auch in der Euro-Zone eine graduelle Abkehr vom Austeritätsregime ein, das die Vorgängerregierung unter derselben Kanzlerin ein Jahrzehnt zuvor durchgesetzt hatte: Mitte 2020 stimmte sie einem EU-Konjunkturprogramm mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro zu. Es beinhaltete Hilfszahlungen an die EU-Peripherie von immerhin 390 Milliarden Euro.

Auch bei der Geldpolitik galt bis vor kurzem bei der Europäischen Zentralbank (EZB) und ihrem US-amerikanischen Pendant, der Federal Reserve, die Devise, dass Kredite möglichst billig sein müssten. Die Leitzinsen in der EU und den USA sind im 21. Jahrhundert in der Tendenz immer weiter gefallen. Zwischen 2009 und 2021 herrschte – mit kurzem Unterbrechungen – Nullzinspolitik, um die Konjunktur und ­Finanzmärkte zu stützten. Zudem gingen die Notenbanken nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase zur bloßen Gelddruckerei über, indem sie zuerst Hypothekenpapiere und später immer mehr Staatsanleihen aufkauften – und so der Finanzsphäre zusätzliche Liquidität zuführten, die zur Inflation der Wertpapierpreise im Rahmen der großen Liquiditätsblase führten, die dann 2020 platzte. Im Laufe des 21. Jahrhunderts haben Federal Reserve und EZB ihre Bilanzsummen nahezu verzehnfacht, sie sind zu Mülldeponien des zum Dauerboom verurteilten spätkapitalistischen Finanzsystems und zu den größten Eigentümern von Schuldtiteln ihrer Staaten geworden.

Hyperaktiver Zentralbankkapitalismus

Die Notenbanken sind somit im Verlauf des Krisenprozesses zu den entscheidenden ökonomischen Instanzen aufgestiegen, ohne deren Intervention sowohl die Finanzsphäre als auch die Staatsfinanzierung kollabiert wären. Es ließe sich von einem Zentralbankkapitalismus sprechen, wie es der Politökonom Joscha Wullweber in seinem Buch dieses Titels tut, in dem er die Abhängigkeit eines Teils der Finanz­sphäre, des weitgehend unregulierten Markts für Rückkaufvereinbarungen (Repos), von der Aufblähung der Geldmengen durch die Notenbanken darstellt. Der derzeit aufgrund hoher Inflationsraten unternommene Versuch von EZB und Federal Reserve, mit der Wende zu einer restriktiven Geldpo­litik die auf mehrere Ursachen (Pandemie, Krieg, geplatzte Liquiditätsblase, stockende Lieferketten, steigende Energiepreise) zurückzuführende Inflation einzudämmen, geht aber nicht zwangsläufig mit einem Ende der Aufkäufe von Staatsanleihen einher.

In der Euro-Zone schuf die Euro­päische Zentralbank mit PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme, zu Deutsch: Pandemie-Notfallkaufprogramm) eigens ein Krisenprogramm in Umfang von 1,85 Billionen Euro, mit dem weiterhin Staatsanleihen aufgekauft werden, was die Inflationsdämpfung durch die gleichzeitigen Leitzinsanhebungen unterminiert und die ökonomischen Spielräume des Staats vergrößert.

Zudem sind inzwischen staatlicherseits konkret Schritte zu einer aktiven Politik wirtschaftlicher Lenkung erkennbar, vor allem im Rahmen des sogenannten European Green Deal. Neoliberale Hardliner klagen inzwischen über die staatlichen Bestrebungen zur ökologischen »Kreditlenkung«, die vor allem in der EU-Taxonomieverordnung zur Definition nachhaltiger ­Investitionen zum Ausdruck kämen – ironischerweise gelten dabei auch ­Investitionen in Erdgas und Atomkraft als nachhaltig. Überdies sprach sich Sven Giegold (Grüne), Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, schon vor ­einem Jahr in der Financial Times für eine »aktive Industriepolitik« der Bundesregierung aus, die »Innovationen unterstützen« solle, um aus der BRD eine »ökologische und soziale Marktökonomie« zu machen.

Diese von zunehmender Staatstätigkeit oder zumindest immer stärkerer staatlicher Einflussnahme geprägte Struktur des Krisenkapitalismus folgt aber keiner kohärenten Strategie, sondern bemüht sich lediglich, einen wirtschaftlichen Kollaps während der Krisenschübe verhindern. Es ist ein quasi reflexartiger Keynesianismus der Funktionseliten. Die oftmals als Provisorien eingeführten Notprogramme verstetigen sich dann im Krisenverlauf, sie gerinnen zu neuen Strukturen. Man »fährt auf Sicht«, so der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble über das Agieren der Bundesregierung während der Weltfinanzkrise 2009.

Die aktive Industriepolitik von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), für die Giegold in der Financial Times die Werbetrommel rührte, hat ihren Vorläufer in der staatlichen Förderung von »Champions« (für besonders wichtig erachteten Großunternehmen) ­unter seinem Vorgänger Peter Altmaier (CDU), der 2019 aufgrund zunehmender Krisenkonkurrenz und informeller Staatssubventionen in China und den USA auch Deutschlands Exportindus­trie gezielt fördern wollte.

Dieses »Fahren auf Sicht« der Funk­tionseliten in Krisenzeiten, bei dem in Reaktion auf Krisenschübe immer neue Elemente staatskapitalistischer Krisenverwaltung zur Anwendung gelangen, verleiht dieser Formation alle Züge eines Übergangsstadiums zu einer autoritären Krisenverwaltung. Die ökonomischen wie zunehmend auch ökologischen Krisen, die die Politik zum Krisenkeynesianismus nötigen, sind ja nicht Ausdruck einer »falschen« Wirtschaftspolitik, sondern der eskalierenden inneren und äußeren Widersprüche des Kapitalverhältnisses, die sich ganz konkret in dauerhaft schneller als die Weltwirtschaftsleistung steigenden Schulden und einer un­ablässig ansteigenden CO2-Konzentration in der Erd­atmosphäre manifestieren.

Aufgrund eines beständig steigenden globalen Produktivitätsniveaus unfähig, ein neuen industriellen Leit­sektor, ein neues Akkumulationsregime zu erschließen, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet würde, läuft das Weltsystem faktisch immer mehr auf Pump. Der Staat fungiert hierbei durch Gelddruckerei und deficit spending (Kreditaufnahme zur Finanzierung höherer Staatsausgaben) praktisch als letzte Instanz der Krisenverschleppung, nachdem sich spekulative Blasenökonomien (Dotcom-Blase, Immobilienblase, Liquiditätsblase) auf den heißgelaufenen Finanzmärkten weitgehend ­erschöpft haben.

Postkeynesianische Kriegswirtschaft

Das Kapital geht somit in der Warenproduktion seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit, verlustig. Sichtbar wird die aus dieser inneren Schranke des Kapitals resultierende Aporie der kapitalistischen anhand des öden, seit Jahren gepflegten Streits über die Prioritäten der Wirtschaftspolitik zwischen angebotsorientierten Neoliberalen und nachfrageorientierten Keynesianern. Es ist ­immer dieselbe Leier, abgespult in unzähligen Variationen: Der neolibe­ralen Warnung vor Überschuldung und Inflation aufgrund von Konjunktur­programmen halten die Keynesianer die Gefahr einer deflationären Abwärtsspirale, ausgelöst durch Sparprogramme, entgegen.

Amerikanisches Plakat ruft im Zweiten Weltkrieg zur Leihgabe privater Ferngläser an die US-Marine auf.

Beide Parteien haben dabei mit ihren Diagnosen recht, ein Dilemma, das nur durch die Finanzblasenökonomie des neoliberalen Zeitalters überdeckt worden war. Nun, da eine Stagflation, also hohe Inflation ohne wirtschaftliches Wachstum, droht, wird es offensichtlich, dass gerade die Geldpolitik der Notenbanken sich in einer Krisenfalle befindet. Sie müssten der Inflation wegen die Zinsen anheben und zugleich die Zinsen senken, um eine Rezession zu verhindern.

An der Stagflation der siebziger Jahre – zu der das spätkapitalistische Weltsystem auf einem viel höheren Niveau globaler Produktivität und Verschuldung quasi zurückkehrt – ist der Keynesianismus gescheitert. Nach dem Auslaufen des großen Nachkriegsbooms, der von dem fordistischen ­Akkumulationsregime getragen wurde, versagte das keynesianische deficit spending, das nur die Inflation befeuerte. Der Neoliberalismus konnte sich in den achtziger Jahren nur deswegen durchsetzen, weil der Keynesianismus krachend – mit zweistelligen Inflationsraten, häufigen Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit – gescheitert war. Wenn abgetakelte Keynesianer wie Heiner Flassbeck, ehemals Staatssekretär im Bundesfinanzministerium unter Oskar Lafontaine (damals SPD), behaupten, dass es nur die Energie- und Ölpreiskrise war, die damals wie ­heute den Krisen- und Inflationsschub auslöste, dann lügen sie sich selbst in die Tasche. Der Keynesianismus konnte trotz aller Konjunkturprogramme kein neues Akkumulationsregime aus dem Boden stampfen – und er wird es auch jetzt nicht schaffen, neue Märkte hervorzuzaubern, bei deren Erschließung massenhaft Lohnarbeit auf dem glo­balen Produktivitätsniveau verwertet werden könnte.

Der Neoliberalismus »löste« seinerzeit das Problem durch das spekulative Abheben der Finanzsphäre und die Finanzialisierung des Kapitalismus, durch Krisenverschleppung in Rahmen einer regelrechten Finanzblasenökonomie, die durch drei Dekaden hindurch dem Kapital eine Art Zombiedasein auf Pump ermöglichte. Das ist auch der fundamentale Unterschied zwischen der Stagflation der siebziger Jahre und der jetzigen Stagflationsphase. Das Ausmaß der Krise ist viel größer – und das lässt sich ganz einfach an der Höhe der Gesamtverschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung ablesen, die nach Angaben des Internationalen Währungsfonds von rund 110 Prozent zu Beginn des neoliberalen Zeitalters 1980 auf 256 Prozent im Jahr 2020 kletterte.

Dieses Verschuldungsniveau zu ­senken, ist nur um den Preis einer Rezession möglich – also längerfristig ­eigentlich gar nicht. Auf Rezessionen wiederum mit keynesianischen Konjunkturprogrammen zu reagieren, wäre auch ökologisch schlicht Wahnsinn. Die Rezessionsjahre 2009 und 2020 waren die einzigen im 21. Jahrhundert, in denen die CO2-Emissionen im Vergleich zum Vorjahr zurückgingen, doch die oben geschilderten Konjunkturpakete führten in den Folgejahren zu den höchsten relativen Emissionsanstiegen dieses Jahrhundert. Verelendung in der Rezession oder Klimatod? In ­dieser Alternative äußert sich die ökologische Aporie kapitalistischer Krisenpolitik.

Der Keynesianismus mit seinem drögen deficit spending und seiner Staatsgläubigkeit kann die sich zuspitzende innere und äußere Krise des ­Kapitals selbstverständlich nicht lösen, er kann aber den Übergang zu einem neuen Krisenmanagement einleiten. Der Rückbezug auf Keynes kann – gerade bei Funktionseliten, die des Öfteren »auf Sicht« agieren – ein brauchbares Startprogramm zu einer qualitativ neuen Form autoritärer Krisenverwaltung abgeben. Das haben ideologisch avancierte Postkeynesianerinnen, wie die Taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, längst begriffen. In ihrem jüngsten Buch über »Das Ende des Kapitalismus« koppelt sie eine weitgehend von der Wertkritik abgeschriebene Darstellung der äußeren Schranke des Kapitals mit einem Bekenntnis zur Kriegswirtschaft, inklusive Zwangsmaßnahmen und Rationierung. Darauf, auf autoritäre, postdemokratische Krisenverwaltung, exekutiert von erodierenden, mitunter offen verwildernden Staatsapparaten, läuft der Krisengang hinaus. Die Keynesianer sind die Claqueure dieser Dynamik.

Der Keynesianismus, der nur aufgrund der absurden Rechtsverschiebung der gesamten politischen Vorstellungswelt mittlerweile links der Sozialdemokratie zu verorten ist und überhaupt als links gilt, verkommt somit faktisch zur Ideologie im Wortsinn: zur Rechtfertigung der drohenden autori­tären staatskapitalistischen Krisenverwaltung, die das genaue Gegenteil der überlebensnotwendigen Emanzipation vom kollabierenden spätkapitalistischem Sachzwangregime wäre.

Erstveröffentlich in Jungle World, 19.01.2023

Link: https://jungle.world/artikel/2023/03/fahren-auf-sicht

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Medien-Kampagne für Leos

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Februar 2023

Momentaufnahmen aus der deutschen Öffentlichkeit im Januar 23

So zeigen sie Kreuze ganz putzig und munter wie unter Adolf – nur bunter

Quelle:    Scharf  —  Links

Von    : DR. Renate Dillmann

Die deutsche Regierung hat sich für die Lieferung von Leopard-Panzern in die Ukraine und damit für ein Fortschreiten der Eskalation entschieden, die der Westen – rücksichtslos gegenüber weiteren Opfern oder atomaren Risiken – in seinem „Krieg gegen Russland“ (Annalena Baerbock) betreibt. Vorausgegangen war eine außerordentliche Kampagne in den deutschen Mainstream-Medien mit klarer Stoßrichtung. Unter dem Deckmantel „Information“ wurde Stimmung gemacht für die Lieferung von Kampfpanzern, vierzehn Tage lang, 24/7.

Deutsche Medien befeuern den Kriegswillen

Ich zitiere wirklich nicht gerne einen deutschen General, auch wenn er inzwischen außer Dienst ist. Aber wo Harald Kujat Recht hat, hat er Recht: „In diesem Informationskrieg kann man zu einem Kriegsteilnehmer werden, wenn man sich Informationen und Argumente zu eigen macht, die man weder verifizieren noch aufgrund eigener Kompetenz beurteilen kann.“

Tatsächlich kann von sachhaltigen Informationen und verifizierbaren Nachrichten zu den Interessen der Kriegsparteien und zum Stand der militärischen Auseinandersetzung in diesem Land, das sich seines öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seiner freien Presse rühmt, nur sehr ausnahmsweise die Rede sein. Das aber wäre die Basis, um überhaupt ein fundiertes Urteil zu fällen. Wer so etwas haben will, muss schon in der Jungen Welt oder den alternativen Online-Medien (German Foreign PolicyOvertonTelepolisNachdenkseiten99:1 u.ä.) suchen oder politische Analysen in der Konkret oder dem Gegenstandpunkt nachlesen.

Die Mainstream-Medien haben offenbar andere Ziele. Von Kriegsbeginn an haben sie – neben den grünen Fundamentalisten (gerade die ehemaligen „Realos“ sind nämlich welche!) – dafür gesorgt, einen moralischen Kreuzzug gegen Russland zu initiieren.

In dem steht Gut gegen Böse, die Freiheit gegen die Repression, unsere – neuerdings „queere“ – Lebensart gegen die slawische Homophobie, gediegene Regeln und Werte des Westens gegen einen (zwar gewählten, aber egal:) „Autokraten“ Putin, den „Irren aus dem Kreml“ bzw. den „Massenmörder“.

Kriegsverbrechen begehen in dieser Darstellung nur Russen. Nur die russischen Rekruten desertieren in Scharen, während die Ukrainer angeblich aus freien Stücken ihre Heimat verteidigen (seltsam nur, dass die Ukraine ein Gesetz zur Zwangsrekrutierung aller Männer zwischen 18 und 60 erlassen hat, und seltsam auch, dass man in Deutschland nicht wenige ukrainische Männer im waffenfähigen Alter sieht, die offensichtlich vor der Zwangsrekrutierung geflohen sind).

Nazis spielen unseren Medien zufolge in der Ukraine keine wesentliche Rolle und die Demokratie in diesem Land ist anders als die im schlimmen Russland lupenrein. Dass im letzten Jahr elf weitere Parteien (die Kommunistischen Partei hatte es schon 2014 erwischt) verboten wurden, die Medien des Landes völlig gleichgeschaltet sind und geringste Zweifel an den offiziellen Aussagen reichen, um strafrechtlich verurteilt zu werden, ist wohl angesichts des ganzen Kriegstrubels irgendwie durchgerutscht.

Dafür wurde als Täter bei der Sprengung von Nord Stream 2 von den deutschen Medien mit bemerkenswerter Logik Russland, der Eigentümer der Pipeline, ermittelt – Motto: Die Russen sind ja sowieso für jeden Mist verantwortlich, auch wenn es Null Sinn macht. Ebenso bemerkenswert, dass in Deutschland die Anweisung der Bundesregierung, „im Sinne des Staatswohls“ könnten hier keine weiteren Auskünfte erfolgen, von unseren unbeugsam der Wahrheit verpflichteten Journalist:innen einfach geschluckt wurde. Zum Glück gibt es in diesem Land nämlich keine staatliche Zensur! Daher herrscht zu diesem Thema seit bald fünf Monaten in der deutschen Presse ganz freiwillig dröhnendes Schweigen, während fünf ukrainische Demonstranten vor einem russischen Konsulat gleich eine Meldung im Lokalblatt wert sind.

Unser Friedensengel Annalena stellt sich derweil furchtlos und kameraversiert vor die ukrainischen Frauen und Kinder und verkündet lauthals, dass sie keine Angst vor Putins Atombombe hat. Das ist für die Qualitätspresse kein Anlass, zum Geisteszustand der Außenministerin kritisch nachzufragen, sondern man unterstützt diese vielmehr bei den bereits üblichen Umdefinitionen, die sich Bert Brecht zur Verhöhnung der bürgerlichen Presse nicht besser hätte ausdenken können: Unsere Waffen schützen Leben. Und in George Orwells „1984“ steht es ja auch schon: Krieg ist Frieden.

Da „wir“ ja bei den Waffengattungen inzwischen ordentlich vorangekommen sind, gilt nach Adam Riese: je mehr Panzer und je tollere Panzer, desto mehr Leben schützen sie. Jegliches Zögern empfindet man in den deutschen Redaktionen deshalb prinzipiell als völlig unverständlich.

Tatbestand Desinformation

Wie man sieht, ist schon das ganze Jahr 2022 ein munterer demokratischer Diskurs mit sehr verschiedenen Meinungen unterwegs gewesen. Andererseits, und das ist jetzt wirklich erschreckend: Es gab mitten in diesem „brutalen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Putins“ Stimmen von Leuten, die so weiter gemacht haben wie immer. Sie haben nach Ursachen gefragt – als seien die mit dieser Verurteilung nicht hinreichend geklärt; sie dokumentieren die Vorgeschichte, ziehen Vergleiche mit dem Verhalten westlicher Staaten in ähnlichen Fällen, untersuchen die vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen mitgeteilten Informationen, denken über die laufenden Waffenlieferungen und die Konsequenzen einer weiteren Eskalation nach, fahren in die Donbass-Gebiete und machen dort ungefragt Reportagen usw. usf. – was nicht als investigativer Journalismus gelobt wird, sondern sofort die Frage aufwirft: Geht’s noch?

Nein, das geht nicht – und die betreffenden „Desinformanten“ werden entsprechend belehrt. Natürlich nicht in einer Debatte, in denen sie ihre Informationen vortragen und ihre Position begründen könnten und ihre Kritiker dann dagegen argumentieren würden. Soviel Freiheit für die Feinde der Freiheit – und nichts anderes sind ja die „Putinversteher“, zu denen man sie im ersten Schritt erklärt hat, – darf nicht sein, denn dann könnte ja der gesamte Freiheitsstall zusammenbrechen. Also werden sie, wenn man sie ausgemacht hat, dort fertig gemacht, wo man sie treffen kann: Entzug der Vortragsräume, der Publikationsmöglichkeiten, der Jobs, zur Not auch per Anzeige und Geldstrafe.

Ein paar Beispiele:

• Ulrike Guérot wurde wegen eines Buchs, das vom Standpunkt des europäischen Friedensprojekts aus für diplomatische Lösungen mit Russland argumentiert und bis gestern völlig d’accord mit den deutschen Idealen war, öffentlich gebrandmarkt; der Professorin werden Konsequenzen in der Hochschule angedroht. Gabriele Krone-Schmalz, langjährige ARD-Korrespondentin in Moskau, wollte über die Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs informieren („Russland und die Ukraine“) und bekam neben Schmähungen in der Mainstream-Berichterstattung wie im Internet Probleme mit Vortragsräumen.

• Patrik Baab, ein Journalist, der im Donbass Reportagen gemacht und dabei auch über die Referenden berichtet hat, wurde mit Entzug seiner Lehraufträge in Berlin und Kiel bestraft. Der Vorsitzende des DJV (Deutscher Journalistenverband) Frank Überall sah übrigens keinen Anlass, dagegen tätig zu werden – im Gegenteil: „Propaganda für einen Kriegsverbrecher ist per Definition keine journalistische Tätigkeit.“ Wer aus einem Feindesland berichtet, ist demnach Helfershelfer des Feindes und wird zurecht sanktioniert (und zwar nicht, wie sonst üblich, mit Ignoranz und Nichtabdrucken seiner Beiträge, sondern mit Entzug seiner Lehraufträge, ganz gleich, mit welchen Themen die sich beschäftigen).

• Der Friedensaktivist Heinz Bücker wurde zu einer Geldstrafe von 2.000 €, ersatzweise 40 Tage Haft plus Verfahrenskosten, verurteilt. „Sein Vergehen? Er hatte bei einer Rede anlässlich des 81. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 2022 erklärt, man müsse ,offen und ehrlich versuchen, die russischen Gründe für die militärische Sonderoperation in der Ukraine zu verstehen‘. Diese Aussage, so die Begründung im Strafbefehl vom 3. Januar 2023 …, billige ,den völkerrechtswidrigen Überfalls Russland (sic!) auf die Ukraine‘ und hätte ,das Potential, das Vertrauen in die Rechtssicherheit zu erschüttern und das psychische Klima in der Bevölkerung aufzuhetzen.‘“ (NachDenkSeiten) Die Logik ist also: 1. Wer begreifen will, billigt damit bereits. Und 2. Wer billigt, hetzt auf. Das sind doch mal klar vorgezeichnete Grenzen der Meinungsfreiheit.

• Gegen die für Ende März geplante Veranstaltung von Daniele Ganser zur „Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs“ in den Dortmunder Westfalenhallen wird öffentlich Sturm gelaufen – alle Parteien, vor allem die Grünen, bis hin zur Antifa und der „Partei“; als Vorwurf werden frühere antisemitische Äußerungen ins Feld geführt (gemeint ist der vor Jahren geäußerte Verdacht Gansers, dass es sich bei Nine-Eleven um einen „Inside Job“ unter der Bush-Administration gehandelt haben könnte, bei dem auch der Mossad-Geheimdienst mit im Spiel war).

Das alles auszugrenzen, totzuschweigen oder zu verbieten, ist selbstverständlich nicht die Putinsche Repressionslogik, sondern das ist die nötige Selbstverteidigung unserer demokratischen Werte gegen Menschen, die diese Werte so wenig zu schätzen wissen, dass sie keinen Atomkrieg dafür riskieren wollen, und die nicht an die lebensschützende Rolle von Panzern glauben.

Kampagne für Panzer

Soweit war die vorzügliche Stimmung in der Republik bereits gediehen, als die Kampagne für den nächste Eskalationsschritt, die Lieferung von „Leopard-Panzern“ in die Ukraine, los ging. Die blieb ab dann für fast vierzehn Tage lang erstmal die Nachricht Nr. 1 in Fernsehen und Zeitungen, bis die so genannte „Hängepartie“ „endlich“ beendet war.

Die Kampagne operierte mit allem, was aufzubieten war. Zunächst wurden Meldungen vom anstehenden Problem „fehlender“ Lieferungen im nüchternen Ton der Nachrichtensprecher:innen aufgefahren. Dann folgten Interviews mit den üblichen Verdächtigen, Strack-Zimmermann natürlich an vorderster Front und gleich mehrfach, aber auch Oppositionsführer Merz sowie Koalitionspolitiker, die bereit waren, ihr unfassbares „Unverständnis“ über den zaudernden Kanzler in Worte zu fassen.

Ein Leopard 2A6 beim Schuss

Weiter allabendlich Meldungen, wer in aller Welt sich bereits dafür ausgesprochen hatte, dass Deutschland endlich liefert – am 23.1. waren es demnach eine Reihe britischer Parlamentsabgeordneter und der lettische Ministerpräsident, Stimmen also, die man sonst eher nicht zu hören bekommt. Dazu die Ankündigungen verbündeter Staaten, wie Polen, die deutschen Panzer auch ohne die deutsche „Endverbleibsgenehmigung“ zu liefern – eine Ankündigung, die von den deutschen Medien nicht als dreister Vertragsbruch gewürdigt, sondern als Zeichen der Dringlichkeit interpretiert wurde.

Im Wirtschaftsforum Davos wurde – folgt man der Berichterstattung hierzulande – dieses Jahr auch nicht viel anderes diskutiert als die Frage nach den … Sie wissen schon. Und wenn Isabel Schayani mitten aus dem ukrainischen Kampfgetümmel sendete, gaben die von ihr interviewten Ukrainer in ihren Wohnungen wie Schützengräben zum Besten, dass nur „Leopards“ ihnen aus ihrer miesen Lage helfen können.

Alles in allem wuchs also „der Druck auf Olaf Scholz“ (ZDF-Heutejournal 23.1.). „Der Druck wuchs“ (wieder mal ein schönes „Geistersubjekt“!), weil die deutschen Mainstream-Medien ihn Tag für Tag erhöht haben. Hier wurde nicht über Politik berichtet, sondern Politik gemacht – ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie in diesen Redaktionen die Formel von der „4. Gewalt“ aufgefasst wird. Offenbar waren sich die Entscheider in Berlin in der Frage der Lieferungen eine Zeitlang nicht so ganz einig und die hiesige Presse sah sich aufgerufen, mit ihrem entschieden-vorwärtsweisenden Kriegsmoralismus nachzuhelfen.

Gleichzeitig zielte die Kampagne auf die deutsche Öffentlichkeit. Die war nämlich bis zur letzten Woche tatsächlich noch mehrheitlich der Meinung, dass Deutschland keine weiteren „schweren Waffen“ liefern solle, in Ostdeutschland dachten sogar zwei Drittel so. Nun steht es pari pari, 46 % sind dafür, 46% dagegen. Die Medien können sich also gratulieren – auch wenn die Meinung der deutschen Bevölkerung in diesen Fragen natürlich letztlich sowieso nicht von Belang ist (bestens zu sehen am Afghanistan-Krieg, gegen den sich zwanzig Jahre lang (!) eine deutliche Mehrheit ausgesprochen hat und der trotzdem problemlos Jahr für Jahr im Bundestag verlängert wurde).

Kanzler Scholz hatte vierzehn Tage lang wieder einmal keine gute Presse. Von „Zaudern“ und „Zögern“ war die Rede; er galt als Ursache für die „Hängepartie“, die deutsche Regierung wurde als „peinlicher Partner“ tituliert und Scholz sah wie üblich neben seiner von keinem Zweifel angekränkelten Außenministerin matt aus, wenn man die Regierung – wie in Demokratien üblich – am Kriterium von Führungsstärke misst. Andererseits heißt die Botschaft am Ende: Die Regierung hat es sich mit einer so schwerwiegenden Entscheidung keineswegs leicht gemacht, verdient also unser unbedingtes Vertrauen.

Und deshalb haben jetzt alle Bedenkenträger die Klappe zu halten, jedenfalls, wenn sie NATO-kritisch sind. Denn ansonsten ist die Lage ja noch gar nicht klar. Man fragt sich jetzt sogar, ob die Ukraine nicht schon zu sehr ruiniert ist, um Russland zu ruinieren; ob sie auch wirklich alles auftragsgemäß erledigt; ob nicht zu viel Korruption im Kiewer Regime herrscht, von der man neuerdings aus der deutschen, nicht aus der russischen Presse erfährt! Und – Überraschung – selbst die FAZ (28.1.2023) kennt Bedenken: „Man kann die westliche Strategie nicht nur an den Interessen der Ukraine ausrichten, das war schon immer ein Defizit von Teilen der deutschen Debatte. Kein Wunder also, dass nun als erste Strack-Zimmermann in Argumentationsnöte gerät.“

Umgekehrtes Spiel

Denn kaum war die Entscheidung für die Lieferung der „Leos“ gefallen, ging es andersrum los mit den besorgten Nachfragen der Presse. Hat die Bundeswehr eigentlich noch genug Panzer? Und könnten die Konsequenzen für Deutschland nicht doch einigermaßen dumm ausfallen, nukleare Gegenreaktion und so? Muss am Ende gar verhandelt werden?

Das Lustige (oder vielleicht auch gar nicht Lustige): Diese Argumente gab es selbstverständlich auch alle vor „der Entscheidung“. Da allerdings wurden sie von unseren liberalen und staatsfernen Journalist:innen aus dem nationalen „Diskurs“ – es gibt wirklich schöne Begriffe für eine Kampagne mit dem Inhalt „Mehr Panzer für die Ukraine und zwar schnell!“ – sauber ausgegrenzt.

Harald Kujat, der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, aber auch Erich Vad, langjähriger Berater von Angela Merkel, beides natürlich hartgesottene Patrioten, die die Welt und ihre „Lage“ gewohnheitsmäßig daraufhin betrachten, wie die deutschen Interessen in ihr vor- bzw. vorankommen, hatten mit ihren Kommentaren zum aktuellen Kurs der deutschen Regierung in den Mainstream-Medien keine Chance. Kujat hat seine Bedenken dann in der Schweizer Online-Zeitschrift „Zeitgeschehen im Fokus“ zum Besten gegeben (das Overton-Magazin hat das Interview dann ebenfalls gebracht), Erich Vad in der Alice-Schwarzer-Zeitschrift „Emma“ (die bereits den „Offenen Brief an Scholz“ mit-initiiert hatte).

Halten wir für den Moment die Erkenntnis fest: Die Presse kann wirklich erheblich mehr als lügen!

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Mehr Panzer für Stalingrad

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Februar 2023

Statt ’Partnerschaft für Frieden’ lieber: „Deutsche, wollt ihr den totalen Verteidigungskrieg?“

Von Dr. Nikolaus Götz

„Alle Kriege werden mit Resten gegen Reste gewonnen.“ Raymond Cartier, Der Zweite Weltkrieg, München, Zürich 1967, S.339

Als Napoleon I. 1812 mit den 600 000 Soldaten seiner unglaublichen ’Grande armée’ gegen den russischen Zar Alexander I. in den Krieg zog, verhungerten und erfroren über 350 000 Teilnehmer dieser stolzen ’alliierten’ Westarmee jämmerlich in den Weiten des russischen Reiches (1). Als der deutsche ’Gröfaz’ (2) Adolf Hitler im ’Unternehmen Barbarossa’ gegen Stalins UdSSR mit der deutschen Wehrmacht vorging, wusste er nicht, dass der Zweite Weltkrieg nach rund 6 Jahren unter Beteiligung von 61 Nationen die totale Kapitulation ’seines’ Deutschen Reiches zur Folge haben würde. Allein von den 1,13 Millionen in den Jahren 1942/43 eingesetzten deutschen Wehrmachtsoldaten fielen in der russischen Stadt Stalingrad während der dortigen Kämpfe über 500 000 (3) und nur rund 6000 (sic!!!;4) der alsbald deutschen Kriegsgefangenen kehrten nach Jahren der Gefangenschaft in Sibirien wieder heim. Deutschland jedoch war ein einziges Trümmerfeld. Am Ende dieses Zweiten Weltkrieges sollten sich die durch direkten Kriegseinfluss getötete Zivilisten und Soldaten auf 60-65 Millionen Personen summieren (5). Mit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki beendeten die USAmerikaner im Jahr 1945 urplötzlich den Krieg mit dem Kaiserreich Japan und ersparten sich ebenso wie den Japanern, die wohl für beide Kriegsparteien äußerst verlustreiche Invasion der japanischen Hauptinsel.

Seit 1945, dem Beginn des atomaren Zeitalters, lebt nun die Menschheit eher „apokalypseblind“ (6) unter dem stets drohenden ’Damoklesschwert’ der totalen atomaren Vernichtung. Mit der schizophrenen Situation der planetaren Extinktion existierend, wissen die politisch Verantwortlichen, dass „wer als erster seine Atomwaffen abschießt, als zweiter spätestens in der ’Nuklearen Nacht’ sterben wird.“ Deshalb sang die niederländische Rockband Die Bots stellvertretend für alle 1,5 Millionen Mitdemonstranten im Bonner Hofgarten: „Europa hatte zweimal Krieg. Der dritte wird der letzte sein!“ (7)

Als Konsequenz der erlebten schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wollen die Menschen in Europa ebenso wie die Deutschen auch keinen Krieg mehr! „Nie wieder!“, lautete die zeitgenössische Parole im Jahr 1945. Auch sollte „von Deutschland“ kein Krieg mehr ausgehen. Deswegen schrieben die Verfassungsväter des ’Parlamentarischen Rates’ mit dem Artikel 26 im neuem Grundgesetz für die BRD das Verbot eines Angriffskrieges ausdrücklich fest (8). So „greift“ heute das deutsche Militär nicht „an“, sondern, so die verlogene Sprache der ’Experten’, „verteidigt sich ’Deutschland’ vorne“ oder „bohrt Brunnen“. Es wird gar die deutsche Demokratie am Hindukusch verteidigt und es werden im „streitbaren Pazifismus“ (9) „Menschenrechte geschützt“ und auch das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ in Worthülsen garantiert. Im „Theater des Krieges“ wird so wortreich für die deutsche Öffentlichkeit der GG Artikel 26 außer Kraft gesetzt.

Während noch der Alt-Bundeskanzler Willi Brandt (SPD) im Kniefall von Warschau eine deutsche Versöhnungspolitik und Friedenspolitik betrieb, wofür er den Friedensnobelpreis erhielt und ’Die Deutschen’ ihre Wiedervereinigung, die Partei DIE GRÜNEN 1979 das Grundprinzip der „Gewaltlosigkeit“ als Parteimotto wählte, scheint die aktuelle Politikergeneration die leidvolle Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und die den Deutschen erteilte ’Lektion der Geschichte’ vergessen zu haben oder zu ignorieren. Auch die Menschen der übrigen europäischen Völker, in der aus der Kriegsasche geborenen Europäischen Union, wollen heute mehr denn je Frieden, Freiheit und Wohlstand durch Kooperation. Jedoch soll die durch friedliche Integration entstandene Union und die als Handels- Forschungs- und Friedensmacht gedachte Völkerkooperative der EU nach den Vorstellungen gewisser politisch rückwärts gewendeter ’Konservativer’ heute wieder eine ’Militärmacht’ werden. Um sich für einen kommenden Krieg sogar die atomare Option offen zu halten, sind selbst die aktuelle Regierungsverantwortlichen der Bundesrepublik von SPD/FDP und Bündnis90/Die Grünen nicht willig, den längst vorliegenden „Atomwaffenverbotsvertrag“(Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) der UN“ zu ratifizieren, obgleich dem Verbot 93% der deutschen Bevölkerung zustimmen!(10).

Die neue ’Rivalität der großen Nationen’ in der Welt, gepackt in die Werbeparole „My country first!“/Mein Land zuerst!“ eines tumben Präsidenten aus Übersee prägt die politische Debatte, eine Denkweise, die zudem über die Leitmedien so verkündet wird. Elitäre, undemokratische Denkclubs wie die ’Münchner Sicherheitskonferenz’ oder das ’Weltwirtschaftsforum von Davos’ manipulieren die politische Diskussion offen! „Die neue Seidenstraße bedroht Europa!“, warnen beispielsweise gewisse Wirtschaftseliten. Genauso verhindern diese dort geladenen Eliten im Gerede um ihre eigene wirtschaftliche Expansion jedoch die Lösung der drängendsten Weltprobleme. Sogar eher futuristische Kriegsszenarien gegen China, Indien oder die Arktis werden präsentiert. Der Planet Erde wird heute von Großkonzernen in Ausbeutungszonen eingeteilt, mit schlimmeren Konsequenzen für die dortigen Menschen als früher im Zeitalter des ’Imperialismus’. ’Volksinteressen’ werden weltweit von der Polizei niedergeknüppelt und diese ’Knüppelpolitik’ ist keine Spezialität nur diktatorischer Staaten, wie gerade die Räumung von Lützerath erneut für die BRD gezeigt hat! Das Argument ’Krieg in der Ukraine’ wird 2022/2023 von den Erdölkonzernen, den Versicherungen, den Energielieferanten usw. für schamlose Preiserhöhungen genutzt, denen sich der Konsument Mensch in der modernen Industriegesellschaft ungefragt zu unterwerfen hat. Diese autoritären Preisdiktate spiegeln die realen Machtverhältnisse in der deutschen ’Volksherrschaft’ wider.

Während noch im Dritten Reich angeblich die Presse zum Kriegsgeheule gepresst werden musste, stürmen die aktuellen Medien der Empörungs- wie Meinungsmanipulatoren wie im Gleichschritt der alten Wehrmacht in Richtung Kriegseskalation und Atomkrieg! Wen erstaunt es, dass im März 2022 das Deutsche Fernsehen die eigentlich seit 2014 laufenden russischen Kriegshandlungen erst dann in den Fokus der Berichterstattung rückten, nachdem die Corona-Pandemie als Gleichschaltungs- und Horrorthema bei den deutschen Bundesbürgern offensichtlich ausgelutscht war! Wie bei der Corona-Pandemie betreiben jetzt die Staatssender ARD und ZDF eine eher unsachliche, denn ihrer Rolle zugehörige „verantwortliche“ Berichterstattung zur ’Konfrontation im Ukrainekonflikt’: „Der Druck auf Lieferung von Panzern und schweren Waffen wächst“, wird da frei fabuliert oder „Nur die Deutschen blockieren!“ (11)

Vergessen wird die nach dem ’Fall der Mauer von 1989’ eingeleitete Entspannungspolitik mit der 1994 ins Leben gerufenen „Partnerschaft für Frieden“. Wie hoffnungsvoll für alle Menschen der Welt war die folgende am 27. Mai 1997 in Paris unterzeichnete ’NATO-Russland-Grundakte’. Die Kooperationsangebote des Präsidenten der Russischen Förderation Wladimir Putin wurden 2001 im Deutschen Bundestag zwar von allen Parteien beklatscht (12), doch alsdann vom ’Westen’ nicht ausgelotet, zumal gewisse Militärs und Repräsentanten der NATO-Mitgliedsstaaten zum damaligen Zeitpunkt nicht auf ’ihr’ Abschreckungspotenzial verzichten wollten. So wurde von fast allen politisch Verantwortlichen der westlichen Welt eine wichtige Friedensmöglichkeit vertan!

Und jetzt läuft der Ukraine-Krieg, in dem ’klassisch’ die Zivilbevölkerung und die Soldaten ihr Leben verlieren. Schon liegen große Landesteile in Schutt und Asche! Die ukrainische Infrastruktur wird durch die Kriegshandlungen der agierenden Parteien ebenso zerstört, wie das gesamte ökologische System des Landes auf Jahrzehnte hin kontaminiert wird. Auch die Anzahl der toten, der vermissten Personen wird wieder in der kommenden ’Stunde Null’ nur geschätzt werden können. Das Ausmaß an Not, Leid und Krankheit für die Zivilbevölkerung ist nicht abzusehen, ebenso wie die Anzahl an weiteren Flüchtlingen aus der Ukraine, je länger dieser Krieg andauert. Die aktuelle Politik „der deutschen Falken“ mit dem klassischen Weg in die Ausweitung des Krieges“ bringt in der Ukraine jedoch nur weiteren Tod und Zerstörung für die betroffenen Menschen, die schon in den Fernsehnachrichten vermarktet ihr individuelles Schicksal beklagen, anstatt ihre für ihr Leid verantwortliche Regierung zu feuern! Wie sieht heute das demokratisch-freiheitliche Leben der verbliebenen Zivilisten im „Testfeld der Vernichtungswaffen“ in der Ukraine aus?, darf gefragt werden.

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz, getrieben von der Presse und den ziemlich besten Freunden im Westen, liefert jetzt auch noch den Leopard II, bevor es andere ’Heldennationen’ tun. Bei der Politik eines ’America first’, ist klar, dass ’Die Deutschen’/the Germans die erste ’Verteidigungs’-Linie bilden. Deshalb beten die christlichen Bayern, Baden-Württemberger, Elsässer, Lothringer, Saarländer wie auch die Rheinland-Pfälzer zitternd und glaubensstark mit viel Glockengeläute in den Kirchen, dass die erste Atomrakete nicht auf die alliierte amerikanische Air-base Ramstein in der Pfalz fällt. Russlands Ex-Präsident Medwedew hat „den Deutschen“ nämlich gerade erneut mit „Atomkrieg“ gedroht (13). Die erteilte Exportgenehmigung der Lieferung der deutschen Leopard-Panzer ist so nur ein weiterer Eskalationsschritt hin zum totalen ’Verteidigungskrieg’, wobei russische Experten die Neulieferung schon kommentierten: „Diese Panzer brennen auch!“ Der aktuellen Überlassung von Panzern wird alsbald „erneut zwingend“ die Genehmigung für deutsche ’Verteidigungsflieger’ folgen, die sodann „den Himmel“ über der Ukraine befrieden. „So we wish you a peaceful sky!”, meinen spitzfindig gewisse Youtuber.

Auch ’die Deutschen’ führten 1945 beim überlegenen Angriff der Alliierten die Diskussion um ’Kapitulation’, wobei ’die Nazis’ solche Denkweisen als „Feigheit vor dem Feind“ mit sofortiger Erschießung sanktionierten. Auch heute wird in der Ukraine Widerstand geleistet, die ’Freiheit’ verteidigt und wird um den „Endsieg“ gerungen. Und so ’fallen’ in der Ukraine die Unbelehrbaren für ihr „Vaterland“ erneut auf dem ’Feld der Ehre’ (14).

Frieden ist möglich und es wäre furchtbar, wenn dieser aktuelle Krieg in einer endlosen Trümmerlandschaft mit erneut Millionen toten Zivilisten enden würde (15). Auch dieser wünschenswerte Friede würde wohl dann wie der Zweite Weltkrieg von Restwaffen gegen Restwaffen mit solchen ’Helden’ erkämpft, so wie wir nach 1945 geborenen Deutsche sie aus Schmökern wie ’Der Landser’ und Filmdramas wie ’Steiner-Das Eiserne Kreuz’ noch kennen.

Anmerkungen:

1 Siehe die Daten nach: KÖLLER, Heinz/TÖPFER,Bernhard: Frankreich Ein historischer Abriss, Köln 1978, S. 408f. Laut Guillaume-André de Bertier de Sauvigny zog Napoléon sogar mit 700 000 Soldaten los, in: ders.: Die Geschichte der Franzosen, München, Paris 1986, S.282; WIKIPEDIE kommentiert: „Der Feldzug endete nach anfänglichen französischen Erfolgen in einer der größten militärischen Katastrophen der Geschichte.“ Siehe: de.wikipedia.org/wiki/Russlandfeldzug_1812

2 „Gröfaz“: Spöttische deutsche Volksabkürzung für:„Größter Feldherr aller Zeiten“; vgl.: CARTIER, Raymond: Der Zweite Weltkrieg, München, Zürich 1967, S. 338

3 www.google.com/search?q=Rückkehr+Deutscher+Soldaten+aus+Stalingrad&ie=utf-8&oe= utf-8 &client=firefox-b

4: Siehe auch: www.google.com/search?client=firefox-b&q=Anzahl+der+Rückkehrer+von+ Stalingrad&oq=Anzahl+der+Rückkehrer+von+Stalingrad&aqs=heirloom-srp

5 Vgl.: CARTIER, Raymond: Der Zweite Weltkrieg, München 1967, S. 1059

6 Vgl.: ANDERS, Günther: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter; München 1993

7 Siehe: wikipedia.org/wiki/Bots

8 Siehe: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1988, GG Artikel 26

9 Eine Wortreflexion; siehe: „Was heißt das, ’streitbarer Pazifismus’?“, in: NARR, Wolf-Dieter/VACK, Klaus: Streitbarer Pazifismus. Friedenspolitik und Friedensbewegung nach dem Golfkrieg, Sensbachtal 1991; S. 50 ff. (Komitee für Grundrechte und Demokratie)

10 „Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass ein Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) nicht mit den sich aus der Mitgliedschaft im Nato-Bündnis ergebenden Verpflichtungen vereinbar wäre.“ (www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-900644) Siehe: wikipedia.org/wiki/Atomwaffenverbotsvertrag; mit der Meinungsumfrage unter der deutschen Bevölkerung

11 Zitate aus der Berichterstattung des ZDF (Frau Marietta Slomka); siehe auch die dezidierte Kritik an der manipulierenden Berichterstattung des deutschen Fernsehens themenorientiert beispielhaft erarbeitet durch das Autorenteam Friedhelm Klinkhammer/ Volker Bräutigam. Lese die Artikel auf: www. ständige publikumskonferenz der öffentlichen medien.de; siehe auch KLINKHAMMER, Friedhelm/GELLERMANN, Uli/BRÄUTIGAM, Volker: Die Macht um acht: der Faktor Tagesschau, Bonn 2017

12 Siehe: google.com/search?q=Putins+Rede+im+Bundestag&ie=utf-8&oe=utf-8&client=fire fox-b

13 Siehe: gmx.net/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/russlands-ex-praesident-medwe-dew-droht-atomkrieg-37738514#.homepage.hero

14 Die USA, Großbritannien und die östlichen Anrainer Russlands – vor allem Polen – wollen den Krieg weiter fortsetzen, während Deutschland und Frankreich bereit wären, einen Deal mit Moskau zu machen. Siehe auch www.welt.de/politik/ausland/plus243059565/ Ukraine-Krieg-Der-Riss-in-der-Nato-zeigt-sich-an-Deutschland-und-Polen.html

Die unausgewogene Positionierung des ’Westens’ wird auch auf ’Internet’ beim Abfragen der Kriegsverlustzahlen ersichtlich. Überwiegend sind Angaben zu russischen Verlusten zu finden. Die Frankfurter Rundschau meldet am 31.Januar 2023: „Insgesamt 127 500 Soldaten soll Russland seit dem Beginn des Ukraine-Krieges verloren haben.“ Vgl. weiter: wikipedia.org/wiki/Opfer_des_Russisch-Ukrainischen_Krieges; Auf die Frage, „Hat die Ukraine keine Verluste?“, ist als Antwort zu finden: „Die Verluste sind bereits beträchtlich, sowohl an Personal (mindestens 10.000 Tote und Verwundete) als auch an militärischem Gerät.“ (Siehe: www.google.com/search?q=Kriegsverlustzahlen+der+Ukraine+im+aktuellen+Krieg&ie=utf-8&oe=utf-8&client=firefox-b)

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Krieg ohne Grenzen II

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Januar 2023

Kiews verpasste Chance?

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Von Tomasz Konicz

Im Krieg um die Ukraine droht ein abermaliger Wendepunkt – und eine weitere Eskalation mit unkalkulierbaren Folgen.

Rückblickend dürfte die Rückeroberung der südukrainischen Stadt Cherson durch die ukrainische Armee im November 2022 als der unwiederbringlich verlorene Zeitpunkt identifiziert werden, an dem optimale Bedingungen für ernsthafte Friedensgespräche herrschten.1 Die Moral der Invasionstruppen lag nach der demütigenden Niederlage am Boden, während die entsprechenden Signale des Kremls in einem offiziellen Verhandlungsangebot Putins im Dezember gipfelten.2 Kiew schlug damals einen potenziellen Deal mit dem Kreml aus. Inzwischen verbietet ein Gesetz es dem ukrainischen Präsidenten, an Verhandlungen mit Moskau teilzunehmen, solange Putin im Amt ist.

Dem Triumph von Cherson ging die erfolgreiche Blitzoffensive im Oblast Charkow3 voran, wo die russischen Truppen regelrecht kollabierten und riesige Gebiete binnen weniger Tage von den ukrainischen Truppen zurückerobert werden konnten. Der ukrainische Sieg im Oblast Charkow markierte einen Wendepunkt des Kriegsgeschehens, an dem die strategische Initiative an die Ukraine überging, Kiew also das Kriegsgeschehen bestimmte, während Russland sich militärisch in der Defensive befand, nur reagieren konnte. Doch schon die Rückeroberung Chersons war mühsam, langwierig und mit sehr hohen Verlusten an Mensch und Material für die ukrainische Armee erkauft – und sie war nur möglich angesichts der Kappung der russischen Versorgungslinien, indem die Brücken über den Dnjepr mit Artillerie zerstört wurden.4

Nun, gut zwei Monate nach dem russischen Rückzug aus Cherson, ist es die ukrainische Armee, die sich unter hohen Verlusten aus der Bergbausiedlung Soledar, nördlich der seit Monaten umkämpften Stadt Bachmut, zurückziehen musste.5 Die Söldner-Truppen des Kreml-Oligarchen Jewgeni Prigoschin konnten bei der Einnahme der Kleinstadt ukrainische Truppenteile einkesseln, die nach der verweigerten Kapitulation vollständig aufgerieben worden sind. Russische Telegram-Kanäle sind voll von Videos Hunderter in Soledar gefallener ukrainischer Soldaten. Beide Seiten haben Tausende von Soldaten und große Mengen Material bei der Schlacht verloren. Der Krieg ist längst zu einem Abnutzungskrieg geworden, wobei der Kreml davon ausgeht, dass „der Ukraine die Ressourcen zuerst ausgehen werden“, wie ein Insider gegenüber der Financial Times erklärte.6

Es ist die Verdun-Logik des „Weißblutens“ des Gegners, die hier greift. Generalstabschef Erich von Falkenhayn wollte 1916 die französische Armee bei der Abnutzungsschlacht um den symbolträchtigen Ort buchstäblich ihres „Menschenmaterials“ berauben, das in einem industriellen Vernichtungsprozess duchstäblich zerschossen werden sollte. Ähnlich verhält es sich vor Bachmut, dass längst zu einem Symbol des Krieges in der Ostukraine geworden ist. Die Ukraine hat mitunter jahrelang – schon seit dem Bürgerkrieg 2014 – eine feste, statische Verteidigungslinie im Donbass aufgebaut, die nun bei Soledar durchbrochen wurde. Sobald aber ein punktueller Durchbruch bei solch einer statischen Front von Befestigungen erreicht wurde, muss diese mittelfristig als Ganzes aufgegeben und eine neue Verteidigungslinie aufgebaut werden, da ansonsten die gesamte Front durch Flankenangriffe „aufgerollt“ werden kann. Es wird bereits eine neue Verteidigungslinie bei Kramatorsk/Slowjansk aufgebaut.

Deswegen bemühte sich die ukrainische Armee so verzweifelt, den russischen Durchbruch bei Soledar, der einen Rückzug aus Bachmut zu einer bloßen Zeitfrage macht, mit allen Mitteln zu verhindern. Und dies tun beide Seiten mit Menschenmaterial. Es müssen immer neue Einheiten in die Schlacht geworfen werden, um die Lücke in der Front zu schließen oder den Durchbruch auszuweiten, während die Gegenseite diese mittels drohnengestützter Ortung und Artillerieschlägen in Stücke schießt. Die meisten Toten dieses Krieges sind Opfer von Artilleriegranaten, die nie einen Gegner im Nahkampf sahen. Ohne Übertreibung kann schon jetzt konstatiert werden, dass dieser Krieg Hunderttausende von Menschenleben fordern wird. Die rasch expandierenden Friedhöfe der Ukraine gleichen derzeit einem Fahnenmeer, wo permanent neue Gräber für Gefallene ausgehoben werden müssen.7

Beide Seiten haben bereits Tausende von Soldaten allein beim Kampf um Soledar verloren, doch hat es der Kreml offensichtlich vermocht, nach den Desastern und Katastrophen der vergangenen Monate seine Militärmaschine zu stabilisieren. Auch wenn der träge und korrupte Militärapparat immer noch punktuell schwere Fehler begeht, die Hunderten einberufener Reservisten das Leben kosten,8 so hat sich Versorgungslage der russischen Armeeinheiten zumindest entspannt. Der katastrophale Mangel, der die ersten Kriegsmonate prägte, ist durch eine Verbesserung der russischen Logistik klar gemildert worden.

Die Idee, die russischen Terrorangriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine würden durch einen Raketenmangel ein Ende finden, hat sich an der jüngsten Angriffswelle Mitte Januar blamiert, bei der dutzende Ziele getroffen wurden.9 Mittels der winterlichen Angriffe auf die Energieversorgung werden der ukrainischen Infrastruktur schwerste Schäden zugefügt, da bei längerem Stromausfall in Frostperioden die Wasser- und Abwassersysteme aufgrund platzender Rohre zerstört werden. Es sind Milliardenschäden, die hierbei entstehen können.

Mehr noch: Der Kreml richtet die russische Wirtschaft inzwischen auf einen langen Krieg aus, während Reorganisierungsbemühungen der Militärverwaltung und Infrastruktur zu einer dauerhaft höheren Mobilisierungsrate führen sollen. Der Kreml denkt im Hinblick auf den krieg bereits in Jahren: Die Zahl der russischen Militärangehörigen soll bis 1926 von einer Million auf 1,5 Millionen erhöht werden.10 Das Institute for the Study of War (ISW) spricht in diesem Zusammenhang von organisatorischen Schritten, die Russland befähigen sollen, einen „großen konventionellen Krieg“ zu führen.11 Laut ISW sei in den kommenden sechs Monaten eine „entscheidende strategische Aktion“ der russischen Armee zu erwarten, um das Blatt im Krieg zu wenden.

Die russische Teilmobilmachung von 300 000 Reservisten ist inzwischen trotz aller Friktionen und unzulänglichkeiten nahezu abgeschlossen, sodass längst verschiedene Optionen für eine russische Offensive diskutiert werden. Die russische Truppenkonzentration in Belarus nötigt inzwischen die Ukraine, dringend im Osten benötigte Armeeverbände zum Schutz der Grenze im Nordwesten zu stationieren. Russland erklärte kürzlich, dass ein „Angriff der Ukraine“ auf Russland oder Belarus zu einer kollektiven militärischen Antwort beider Länder führen könnte – es ist ein bewusst vage Formulierter Freifahrtschein für einen Kriegseintritt Weißrusslands.12 Weitere Szenarien halten einen russischen Angriff vom Süden für wahrscheinlich, der östlich des Dnjepr Richtung Saporischschja und Pawlograd erfolgen würde, oder von Norden, aus der russischen Region Belogrod, um der ukrainischen Front im Oblast Charkow und Lugansk in den Rücken zu fallen.

Russland verfügt über ein viel größeres militärisches und ökonomisches Potenzial als die Ukraine, und es waren der Größenwahn, die Vetternwirtschaft und die allgegenwärtige Korruption der putinischen Staatsoligarchie, die zu den russischen Katastrophen des ersten Kriegsjahres führten. Doch inzwischen scheinen die Bemühungen des Kremls, diese überlegenen Ressourcen zu mobilisieren, zumindest teilweise erfolgreich zu sein. Im Klartext: der Kreml wird den Krieg mittelfristig gewinnen, sollte der Westen nicht zu einem weiteren Eskalationsschritt – zur massenhaften Lieferung von schwerem Kriegsgerät wie Panzern, Kampfhubschraubern, Kampfflugzeugen – bereit sein. Deswegen nimmt die Diskussion darüber in der westlichen Öffentlichkeit an Fahrt auf.13 Sie ist ein implizites Eingeständnis dessen, dass die Balance des Krieges zugunsten Russlands zu kippen droht.

Die ukrainische Armee hat – ebenso wie Russland – große Verluste an Menschen und Material zu verzeichnen, wobei sie kaum Optionen hat, das Material zu ersetzen. Es hat für Kiew einen militärischen Sinn, deutsche Panzer und gepanzerte US-Fahrzeuge vom Westen zu fordern, um wieder in den Bewegungskrieg übergehen zu können. Wenn das Kriegsgeschehen nicht kippen soll, dann muss der Westen tatsächlich die Waffenlieferungen stark ausweiten. Die Lieferung der britischen Panzer an Kiew ist dabei nur ein Testballon,14 um Berlin zur Zustimmung für die Leopard-Lieferungen zu bewegen. Vom britischen Challenger 2 wurden nur wenige Exemplare exportiert, es existiert keine militärische Infrastruktur für diesen Panzer, während der Leopard 2 ein Exportschlager war, den viele Länder an die Ukraine – samt Ersatzteilen, Munition und Wartungsmaterial – liefern könnten.15

Wohin dieser Eskalationsschritt führt, machten Reaktionen russischer Duma-Abgeordneter auf die potenzielle Lieferung deutscher Panzer deutlich, die in einem solchen Fall die allgemeine Mobilmachung forderten.16 Die brutale Wahrheit ist, dass es keinen „guten“ Ausgang aus diesem imperialistischen Krieg gibt.17 Entweder wird es zu einem schmutzigen geopolitischen Deal zwischen dem Westen und dem Kreml kommen, bei dem Teile der Ostukraine faktisch dem russischen Imperium eingegliedert werden, während das restliche Land der westlichen Einflusssphäre zugeschlagen wird, oder die Eskalationsspirale wird sich weiterdrehen, der Konflikt eskalieren, bis der Krieg vollends außer Kontrolle gerät. Spätestens mit dem drohenden Verlust der Krim wird die nukleare Option akut werden.

Der Kontrollverlust kann somit selbstverständlich die Form eines nuklearen Schlagabtauschs annehmen, da Russland bei dieser konventionellen Eskalationsspirale gegenüber der Nato letztendlich am kürzeren Hebel sitzt. Doch kann das nukleare Armageddon auch in Wechselwirkung mit staatlichen Erosionsprozessen erfolgen. Die Risse im staatlichen Machtgefüge werden gerade im autoritären Russland deutlich sichtbar, da der Krieg gerade die innere Zerrüttung und die Erosion des russischen Staates offenlegte, die schon seinen militärischen Kern erfasst. Generell sind autoritäre Staatsstrukturen kein Zeichen der Stärke, sondern ein Zeichen der sozioökonomischen Schwäche, die nur durch bloßen Zwang eine Zeit lang überdeckt werden kann.

Das Scheitern der von Korruption zerfressenen russischen Armee kontrastiert mit dem Erfolg der poststaatlichen militärischen Akteure: der Wagner-Söldnertruppe um den Kreml-Günstling Prigoschin, der inzwischen in offene Konkurrenz zur Armeeführung tritt, oder den Truppen des tschetschenischen Herrschers Kadyrow, der faktisch ein postmodernes Fürstentum im Kaukasus errichtet hat, das nur noch formell der Kontrolle Moskaus untersteht, solange Kadyrow seinen militärischen Vasallendienst für den Kreml verrichtet. Die Ausbildung von parallelen Machtstrukturen, die selbst den Anschein staatlichen Gewaltmonopols fallen lassen, dürfte im weiteren Kriegsverlauf in Russland voranschreiten. Es ist auch grundverkehrt, Putin für einen allmächtigen Alleinherrscher zu halten, da er eher eine Vermittlerrolle zwischen den diversen Rackets und Clans der russischen Staatsoligarchie spielt.18

Doch ähnliche Zentrifugalkräfte dürften auch im ukrainischen Staatsapparat wirken, der schon vor dem Kriegsausbruch ein bloßer Spielball oligarchischer Interessen war.19 Einen kurzen Einblick in die Machtkämpfe in Kiew gewährte die Entlassung des ukrainischen Präsidentenberaters Oleksij Arestowytsch, der offiziell wegen seiner Bemerkungen zu dem tödlichen russischen Raketenangriff in Dnipro zurücktreten musste.20 Arestowytsch erklärte anfänglich, die russische Rakete, die ein Hochhaus in Dnipro zerstört und dutzende Zivilisten getötet hat, sei von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossen worden. Zuvor hatte Arestowytsch sich in einem Interview kritisch zur Identitätspolitik der Ukraine im Krieg geäußert. Demnach betreibt die ukrainische Rechte eine nationalistische Kampagne zur Verdrängung des Russischen und „postsowjetischer“ Identitäten in der Ostukraine, die viele russischsprachige Ukrainer der Regierung in Kiew entfremde (Das Interview wird vor allem von pro-russischen Accounts geteilt).21 Die an Einfluss gewinnenden rechtsextremen Gruppierungen, die mitunter offiziell Teil der Streitkräfte werden,22 dürften künftig den größten ukrainischen Instabilitätsfaktor im Kriegsverlauf bilden.

Die ukrainischen Chancen, noch entscheidende Geländegewinne gegen Russland zu erzielen, sind – unterhalb der Schwelle eines Großkriegs zwischen Ost und West – verschwindend gering, während die Opferzahlen dieses imperialistischen Kriegs mit jedem Eskalationsschritt immer höher steigen werden. Sowohl, was Menschenleben betrifft, wie auch hinsichtlich der Verwüstungen der Infrastruktur und insbesondere der ostukrainischen Städte, die von der in urbaner Kriegsführung erfahrenen ukrainischen Armee als zentrale Verteidigungspunkte ausgebaut werden. Und: Der Krieg führt zudem nicht nur zur Verwüstung ganzer Regionen im Osten, er beschleunigt auch staatliche und soziale Erosionsprozesse, die ohnehin krisenbedingt in ihrer Wechselwirkung aus anomischen Zentrifugalkräften und autoritärer Formierung wirksam sind.23

Und dennoch bleibt es fraglich, ob selbst ein schmutziger imperialistischer Deal, bei dem die Ukraine faktisch zwischen West und Ost aufgeteilt würde, überhaupt noch eine realistische Option darstellt. Putin hat sich selber ein offizielles Mindestziel für seinen imperialistischen Landraub gesetzt, als er die Scheinreferenden über den Beitritt von vier ukrainischen Verwaltungsregionen in die Russische Föderation abstimmen ließ. Der Donbass, Cherson und Saporischschja befinden sich aber nur zum Teil unter russischer Kontrolle. Ohne den Donbass und Cherson kann der Kreml den desaströsen Kriegsverlauf, der Unmengen an Ressourcen, Material und Geld verschlingt und mit sehr hohen Verlusten verbunden ist, kaum als einen Sieg verkaufen. In Kiew dürfte hingegen jeder Versuch, ernsthafte Verhandlungen mit dem Kreml zu führen, auf den Widerstand der bis an die Zähne bewaffneten extremen Rechten stoßen.24 Und selbst der Westen ist in dieser Frage gespalten: Die USA, Großbritannien und die östlichen Anrainer Russlands – vor allem Polen – wollen den Krieg weiter fortsetzen, während Deutschland und Frankreich bereit wären, einen Deal mit Moskau zu machen.25

Die sozioökologische Krise des Kapitals, das ineinandergreifen der inneren und äußeren Schranke des Kapitals, der durch Schuldenmacherei prolongierten Überproduktionskrise wie der Klima- und Ressourcenkrise, facht diese geopolitische, imperialistische Konfrontationsbereitschaft der Staatsmonster immer weiter an. Die Ressourcen, die fruchtbaren Schwarzerdeböden der Ukraine werden mit zunehmender Intensität der ökologischen Krise immer wichtiger werden. Der Kreml kämpft zudem buchstäblich um die Existenz seines erodierenden, von sozialen Spannungen zerrütteten Imperiums,26 während die überschuldeten USA den Dollar als Weltleitwährung und ihre Stellung als Hegemon gegen behaupten müssen. Dieser am Fahrt gewinnende Krieg zwischen Ozeanien (Dem atlantischen und pazifischen Bündnissystem Washingtons) und Eurasien (China samt Russland) tobt derzeit nur in Osteuropa, doch künftig kann auch in Südostasien, in Taiwan, eine zweite Front entstehen.

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1 https://www.tagesspiegel.de/politik/ukraine-offensive-tag-261-kiews-strategische-glanzleistung-in-cherson-8866336.html

2 https://www.voanews.com/a/putin-says-russia-ready-to-negotiate-over-ukraine-/6890944.html

3 https://www.konicz.info/2022/09/09/wendepunkt-in-der-ukraine/

4 https://www.nytimes.com/2022/09/24/world/europe/ukraine-south-kherson-russia.html

5 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/bachmut-soledar-ukraine-krieg-russland-100.html

6 https://www.ft.com/content/d759e24b-dd48-4adc-a0ae-7e53b89e5231

7 https://www.youtube.com/watch?v=1c9dtEeb6EY

8 https://www.bbc.com/news/world-europe-64142650

9 https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2023/1/14/russia-ukraine-live-russian-missiles-hits-infrastructure-in-kyiv

10 https://kyivindependent.com/news-feed/russian-defense-ministry-confirms-plan-to-expand-army-to-1-5-million-troops

11 https://www.understandingwar.org/backgrounder/russian-offensive-campaign-assessment-january-15-2023

12 https://www.thedailybeast.com/russia-sets-ultimatum-for-top-ally-belarus-to-formally-join-vladimir-putins-war-in-ukraine?ref=scroll

13 https://www.thedailybeast.com/why-russia-is-terrified-of-americas-patriot-missiles-delivery-to-ukraine

14 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/challenger-grossbritannien-ukraine-krieg-russland-100.html

15 https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ukraine-krieg-deutschland-bereitet-sich-auf-leopard-lieferung-fuer-ukraine-vor/28924168.html

16 https://twitter.com/WarMonitors/status/1614999689304363009

17 https://www.konicz.info/2022/06/23/was-ist-krisenimperialismus/

18 https://www.konicz.info/2022/05/25/rackets-und-rockets/

19 https://www.konicz.info/2022/06/20/zerrissen-zwischen-ost-und-west/

20 https://www.bbc.com/news/world-europe-64304310

21 https://twitter.com/e_l_g_c_a/status/1615138445051195392

22 https://twitter.com/militarylandnet/status/1526132364702887936

23 https://www.konicz.info/2022/05/24/eine-neue-krisenqualitaet/

24 https://twitter.com/militarylandnet/status/1526132364702887936

25 https://www.welt.de/politik/ausland/plus243059565/Ukraine-Krieg-Der-Riss-in-der-Nato-zeigt-sich-an-Deutschland-und-Polen.html

26 https://www.konicz.info/2022/01/18/neoimperialistisches-great-game-in-der-krise/

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Die Zweifel sind angemessen

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Januar 2023

Deutschland will Kampfpanzer liefern

File:Kampfpanzer Leopard 2A4, KPz 4.JPG

Ein Debattenbeitrag von Pascal Beucker

Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich entschieden, Leopard-2-Panzer an die Ukraine zu liefern. Das ist eine schwierige, aber richtige Entscheidung. Zu keinem Zeitpunkt wären Linke auf die Idee gekommen, vom Vietkong zu fordern, sich den USA zu unterwerfen.

Deutsche Panzer rollen für den Sieg? Wenn das nur so einfach wäre. Nein, die Lieferung von ein paar Leopard-2-Panzern wird der Ukraine nicht den Sieg gegen Russland bescheren. Das zu behaupten, beruht entweder auf Unkenntnis über die schlechte militärische Lage oder Scharlatanerie. Tatsächlich ist die Ukraine in einer Situation, in der sie neues militärisches Material dringend braucht, um den Krieg gegen Russland nicht zu verlieren. Das ist ein wesentlicher Unterschied.

Dass es sich Bundeskanzler Olaf Scholz – anders als die gelb-grün-schwarze Salonfeldherr:innen-Fraktion um Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter und Friedrich Merz – nicht so leicht mit seiner Entscheidung gemacht hat, war angemessen. Sehr genau abzuwägen, was dem jeweiligen Kriegsverlauf entsprechend an Unterstützung der Ukraine notwendig, sinnvoll und verantwortbar ist, ist genau das, was die Bürgerinnen und Bürger von ihrem Regierungschef verlangen können.

Waffenlieferungen sind nichts, über das öffentlich auf einem Basar gefeilscht werden sollte, sondern sie bedürfen sehr sorgsamer politischer und militärischer Abwägung. Jetzt hat Scholz seine Entscheidung in Abstimmung mit den USA getroffen. Und die ist – auch wenn dieses Zugeständnis jemandem, der in der Friedensbewegung sozialisiert wurde, äußerst schwerfällt – unter den gegebenen Verhältnissen wohl richtig. Denn die Lieferung bedeutet keine Eskalation des Krieges, sondern sie steigert die Chance, dass die Ukraine nicht von Russland okkupiert wird. Der Kampf bleibt auch so noch schwer genug, der Ausgang des Krieges ist völlig offen.

Gleichwohl werden die Panzerlieferungen des Westens die bittere Folge haben, dass Russland den Krieg weiter eskalieren wird. Denn das entspricht der russischen Militärstrategie. Das muss jedem und jeder bewusst sein. Die Konsequenz daraus kann allerdings nur sein, zum Schutz der Menschen in der Ukraine so viele Flugabwehrsysteme wie möglich zu liefern. Auch wenn es sekundär in der öffentlichen Diskussion erscheint, ist das für die Menschen in der Ukraine noch wesentlich wichtiger als die Lieferung von irgendwelchen Panzern.

Putins „rote Linie“

Wenn die USA und die Staaten der Europäischen Union ihre militärische Unterstützung nicht ausweiten, ist die Ukraine verloren. So einfach ist das. Leider. Zu behaupten, mit der Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart würde eine „rote Linie“ überschritten, ist dabei eine lächerlich formalistische Argumentation, die einerseits die bisherigen umfangreichen deutschen Lieferungen an die Ukraine ausblendet, zum anderen unangemessen überheblich ist, weil es die Kampfkraft der zahlreichen Kampfpanzer sowjetischer Provenienz im ukrainischen Einsatz unterschätzt. Das Problem ist nur, dass in dem gegenwärtigen Abnutzungskrieg deren Einsatzfähigkeit zur Neige geht.

Wie auch immer: Putin definiert seine „rote Linie“ rein nach Gutdünken. Die Entscheidung, Kampfpanzer aus deutscher Produktion in eine Kriegsregion zu liefern, darf nie eine einfache sein, schon gar nicht, wenn es um ein Gebiet geht, in dem einst die deutsche Wehrmacht gewütet hat. Vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit ist es auch völlig legitim, wenn die Linkspartei lautstark Waffenlieferungen gänzlich ablehnt.

Wobei jeder und jede, der oder die für immer mehr und immer schwerere Waffenlieferungen eintritt, sich ohnehin bewusst sein sollte, dass er oder sie auf Kosten vieler ukrainischer Menschenleben falsch liegen kann. Fehlender Zweifel ist in Kriegszeiten höchst gefährlich. Und immerhin entspricht die Ablehnung immer weitergehender Waffenlieferungen der Auffassung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung, die ernst zu nehmen ist. Das beruht vor allem auf der Angst, Deutschland könnte in den Krieg gezogen zu werden.

Zur Wahrheit gehört: Niemand im Westen weiß, was und wo Putins „rote Linie“ ist. Russland hat die Kapazitäten, mit seinen Atomwaffen die Welt zu zerstören. Dass der Kampf um die Ukraine Putin zur Vernichtung der Menschheit treiben könnte, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich – aber gleichwohl leider nicht undenkbar. Gerade diejenigen, die ihn zu einem „Irren“ erklären, mit dem nicht mehr verhandelt werden könnte, sollten ein solch irrationales Handeln nicht von vorneherein ausschließen. So unbefriedigend es ist, es bleibt nichts anderes, als Wahrscheinlichkeiten abzuwägen.

Auch Atommächte können verlieren

Dazu zählt, dass die Argumentation der Linkssfraktionsvorsitzenden Amira Mohamed Ali im Gleichklang mit Sahra Wagenknecht mehr als fragwürdig ist, eine Atommacht könne generell keinen Krieg verlieren. Das erscheint schon arg putinpropagandistisch. Denn, und das müssten beide wissen, es ist historisch schlicht falsch: Die Niederlagen der USA in Vietnam und der Sowjetunion sowie der USA in Afghanistan sind schlagende Gegenbeispiele.

Gut und richtig ist das Insistieren der Linkspartei auf ein stärkeres deutsches Engagement für eine Verhandlungslösung. Aber dabei darf nicht ignoriert werden, dass es zuvorderst Russland ist, das keinerlei ernsthafte Verhandlungsbereitschaft erkennen lässt. Stattdessen propagiert das Putin-Regime unverdrossen, an seinen imperialistischen Kriegszielen ohne Abstriche festzuhalten, also an der Unterwerfung der Ukraine.

War 2

Einer größeren Glaubwürdigkeit der Linkspartei würde es zudem dienen, wenn sie sich unabhängig von der Frage der Waffenlieferungen unzweideutig auf die Seite der Überfallenen stellen würde und stets zuvorderst den vollständigen Rückzug Russlands aus der Ukraine fordern würde. Unabhängig davon, ob man es für realistisch hält. Es geht schlicht um eine klare Haltung. Und daran mangelt es Wagenknecht & Co.

Wer meint, wie unlängst die Linkspartei-Abgeordnete und Wagenknecht-Getreue Sevim Dagdelen, die Befürwortung deutscher Waffenlieferungen sei vergleichbar mit der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914, steht jedenfalls zumindest ideologisch im Sold des faschistoiden Putin-Regimes.

Ja, es stimmt, dass an jedem Tag, an dem dieser Krieg noch andauert, zahlreiche Menschen ihr Leben verlieren. Aber was ist die Konsequenz daraus? Dass die Ukraine schnellstmöglich kapitulieren soll? Zu keinem Zeitpunkt wären Linke auf die Idee gekommen, vom Vietkong zu fordern, sich den USA zu unterwerfen. Obwohl bis zu vier Millionen Menschen letztlich im Vietnamkrieg ihr Leben verloren haben. Davon sind wir im Ukraine-Krieg noch weit entfernt.

Bittere Ambivalenz

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben        —    Im Zuge einer Road-Show zeigte das Österreichische Bundesheer im Dornbirner / Hohenemser Steinbruch den Kampfpanzer Leopard 2A4. Er ist das Hautwaffensystem der österreichischen Panzertruppe. Als Hauptwaffe verfügt der Panzer über eine 120 Millimeter Kanone. Die starke Motorisierung sorgt trotz der starken Panzerung für die enorme Beweglichkeit des Fahrzeuges.

Author böhringer friedrich          /      Source    :       Own work      /     Date       :    1 October 2011

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Terroristen in Uniform

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Januar 2023

Irans Revolutionsgarden

Tauschen nicht alle Uniformträger der Staaten ihr Hirn für die Lizenz zum Morden ein ? Auch Deutsche Friedhöfe sind voll mit den Helden ihrer Kriege !

Ein Debattenbeitrag von Teseo Ka Marca

Die iranische Elitetruppe ist entscheidend an der Unterdrückung der Proteste beteiligt. Sie gehört auf die EU-Liste der Terrororganisationen.

Die Revolutionsgarden fördern Terrorismus im Iran und im Ausland, auch in Europa. Sie nicht auf die EU-Terrorliste zu setzen, käme einer Realitätsverweigerung gleich und wäre gefährlich kurzsichtig. Das Signal, das Europa damit an die Iranerinnen und Iraner sendet, die genau schauen, wie Europa sich verhält, wäre fatal.

Letzte Woche leuchtete der Nachthimmel über Saqqez. Die Menschen aus der Heimatstadt von Mahsa Dschina Amini feierten mit Feuerwerk die Abstimmung des EU-Parlaments. Mit überwältigender Mehrheit forderten die Parlamentarier die EU dazu auf, die iranischen Revolutionsgarden als Terrororganisation zu listen. Für die Menschen im Iran bedeutet das einen persönlichen Sieg. Ein kleiner Etappensieg, zugegeben.

Denn ob die Revolutionsgarden tatsächlich auf die EU-Terrorliste kommen, bleibt nach wie vor ungewiss. Diese Woche hätten die Außenminister der EU-Staaten theoretisch die Gelegenheit dazu, wenn sie am Montag zusammenkommen. Doch die EU versteckt sich – wider jegliche politische Vernunft – weiter hinter fadenscheinigen Ausreden.

Bei der Unterdrückung der Proteste spielen die Revolutionsgarden eine entscheidende Rolle. Gegründet wurden sie 1979 vom Revolutionsführer Ruhollah Chomeini mit dem erklärten Ziel, das neue System gegen Feinde im Aus- und Inland zu verteidigen. Seitdem gehören die Revolutionsgarden – wie die reguläre Armee und die Polizei – zu den iranischen Streitkräften.

Lizenz zum Töten

Ihren Auftrag, das islamistische Herrschaftssystem zu schützen, erfüllen die Revolutionsgarden, indem sie Aufstände blutig niederschlagen und Oppositionelle mit ihrem mächtigen Geheimdienst verfolgen. Dabei haben die Regimeagenten praktisch die Lizenz zum Töten. Für die über 500 Toten seit Beginn der Proteste, darunter über 70 Kinder, wurde niemand je zur Rechenschaft gezogen.

Ihre blutige Spur setzt sich fort im Ausland, vor allem in den Nachbarstaaten Irak, Syrien und Libanon. Dort verüben sie mit ihrer Eliteeinheit, den Quds-Brigaden, nicht nur selbst Anschläge, sondern trainieren irantreue Milizen wie die libanesisch-schiitische Hisbollah, deren militärischer Flügel längst auf der EU-Terrorliste steht. Auch vor Europa macht der iranische Staatsterrorismus nicht halt.

Im Januar 2018 unternahm die deutsche Polizei Razzien gegen zehn mutmaßliche Agenten der Revolutionsgarden, die israelische und jüdische Einrichtungen, einschließlich eines jüdischen Kindergartens, für mögliche Attentate ausgespäht haben sollen. Im Februar 2021 wurde ein in Österreich akkreditierter iranischer Diplomat dafür verurteilt, einen Bombenanschlag auf Exil-Oppositionelle in Frankreich geplant zu haben.

Und nun stehen die Revolutionsgarden bei deutschen Ermittlern im Verdacht, im vergangenen November Anschläge auf deutsche Synagogen verübt zu haben. Das sind nur einige der jüngsten Beispiele. Was müssen die Revolutionsgarden noch tun, um als Terroristen zu gelten?

Gegner einer Listung der Revolutionsgarden als Terrororganisation argumentieren einerseits mit der Befürchtung, dass damit ein neues Atomabkommen endgültig verhindert werden würde, andererseits mit der wachsenden Macht der Revolutionsgarden innerhalb der Islamischen Republik. Nach einem möglichen Putsch könnten die Revolutionsgarden identisch mit dem Regime sein, sodass Beziehungen zwischen Iran und Europa nicht mehr möglich wären. Beide Argumente sind indes irreführend.

Die wahre Macht im Iran

Das Atomabkommen ist längst tot und wäre aufgrund der Menschenrechtsverletzungen im Iran politisch ohnehin nicht mehr zu rechtfertigen. Ob das Abkommen seinen eigentlichen Zweck, Iran von Atomwaffen fernzuhalten, erfüllen kann, ist ebenfalls fraglich. Richtig ist hingegen die Feststellung, dass die Revolutionsgarden mit ihrem allgegenwärtigen Geheimdienst, ihren steuerbefreiten Unternehmen und den Basidschi, ihrer millionenstarken, massiv indoktrinierten Freiwilligenmiliz, längst die wahre Macht im Iran sind.

Wer die Revolutionsgarden also als Terrororganisation listet, könnte auch das Regime selbst als Terrororganisation listen. Tatsächlich ist die Islamische Republik ein Terrorregime. Zuständig für die Listung der Revolutionsgarden wäre der EU-Ministerrat. Dort legen die Außenminister der Mitgliedstaaten die Außenpolitik der EU fest. Dass dies noch nicht geschehen ist, liege an „rechtlichen Hürden“.

Solange kein europäisches Gerichtsurteil über terroristische Aktivitäten der Revolutionsgarden aus den letzten fünf Jahren vorliegt, sei eine Einstufung der Revolutionsgarden als Terrororganisation nicht möglich. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Hürden jedoch als nicht existent.

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      38th Anniversary of Iranian 1979 Revolution in Azadi square, Tehran

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Politik und Arbeit ??? Nie

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Januar 2023

Die Politik hat den Ernst der Lage nicht begriffen

Räumung Lützeraths, 11. Januar 2023

Quelle:    Scharf  —  Links

Gemeinsame Erklärung von Wissenschaftlern, Autoren, Politikern, Klimaaktivisten und Bürgerrechtlern zur gewaltsamen Räumung von Lützerath.

Schon die ersten Tage des Jahres erinnerten uns daran, dass 2023 viel auf dem Spiel steht. Bei sommerlichen Temperaturen zu Silvester und einem bisher etwa 10 Grad zu warmen Januar hat jeder empfindende und denkende Mensch mittlerweile das mulmige Gefühl, dass wir ganz bestimmt keine 20 Jahre Zeit mehr haben um die Klimakatastrophe noch zu verhindern. Doch die Stimmen des fossilen „Weiter so!“ sind noch viel zu laut in der Gesellschaft und die Macht der Fossillobby scheint ungebrochen.

Es macht uns fassungslos, dass sich die Politik entgegen der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Klimakatastrophe für die Zerstörung des Dorfes Lützerath und weitere Braunkohleverstromung entschieden hat. Lützerath ist ein Beleg dafür, wie wenig ernst die Politik den Klimaschutz und ihre eigenen Gesetze nimmt.

Am 24. Juni 2021 wurde ein neues Bundesklimaschutzgesetz verabschiedet. Zweck dieses Gesetzes ist „die Erfüllung der nationalen Klimaschutzziele sowie die Einhaltung der europäischen Zielvorgaben zu gewährleisten. Grundlage bildet die Verpflichtung nach dem Übereinkommen von Paris aufgrund der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen. Danach soll der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter zwei Grad Celsius und möglichst auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau begrenzt werden, um die Auswirkungen des weltweiten Klimawandels so gering wie möglich zu halten.“ (Bundes-Klimaschutzgesetz, Gesetze und Verordnungen, BMUV, 2021).

Der „Expertenrat für Klimafragen“ dessen Mitglieder von der Bundesregierung ernannt werden stellt fest, dass eine „sehr große Lücke“ zu den Zielen des Klimaschutzgesetzes besteht, dessen erlaubte Restemissionen sogar auf mindestens 2 Grad Erderwärmung hinauslaufen würden. Doch auch diese ungenügenden Verpflichtungen werden nicht eingehalten.

https://expertenrat-klima.de/content/uploads/2022/11/ERK2022_Zweijahresgutachten.pdf
Wir sind weiter völlig ungebremst in Richtung Klimakatastrophe unterwegs. Laut einer aktuellen Studie der Weltmeteorologieorganisation WMO, https://library.wmo.int/index.php?lvl=notice_display&id=22083#.Y5HsjMuZMY0
könnte eine Erderwärmung von 1,5 Grad bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre erreicht sein und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion drohen.

Eine brandaktuelle Studie namhafter Klimawissenschaftler mit dem Titel „Klima-Endspiel“ (2022) verweist auf die bisherige Vernachlässigung und Unterschätzung von Kipppunkten im Klima- und Erdsystem und auf eine bisher viel zu optimistische Einschätzung von Risiken.

Eine schnelle Erderwärmung von 3 Grad gefährdet möglicherweise bereits das Überleben der Menschheit
(siehe: Klimakrise: Was passiert bei drei Grad Erderwärmung, Spektrum der Wissenschaften).
https://www.spektrum.de/news/klimakrise-was-passiert-bei-drei-grad-erderwaermung/2044870
Wird die Kohle unter den Garzweiler-Dörfern verbrannt, sind die Pariser Klimaziele für Deutschland nicht einzuhalten. Der 2030-„Kompromiss“ mit RWE bedeutet nur, dass die gleiche Menge Kohle früher verheizt ist.

Die 1,5-Grad-Grenze verläuft vor Lützerath

Wir zeigen uns solidarisch mit den Aktivist:innen vor Ort und unterstützen ihre Forderungen. Unser noch verfügbares CO2-Budget erlaubt keine weitere Verschwendung. Es ist nur noch schnelle konsequente Emissionseinsparung möglich, wenn wir der Verantwortung die wir in Paris 2015 übernommen haben ernsthaft nachkommen wollen.

Die Zerstörung von Lützerath und die Verbrennung der Kohle wäre ein weiterer Schritt Richtung Verschärfung der Klimakatastrophe und bedroht direkt die Gesundheit und das Leben der Menschen. Jede Tonne CO? die ausgestoßen wird führt dazu, dass noch mehr Menschen unter Hitzewellen, Extremwetter, Dürren, Hunger und sich ausbreitenden Krankheiten leiden werden. Jede weitere Tonne CO? destabilisiert die Lebensbedingungen der Zukunft weiter, – deshalb muss die Kohle unter Lützerath im Boden bleiben, das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig.

Wir haben inzwischen das Vertrauen in die Regierungspolitik auf Länder- und Bundesebene verloren. Angesichts der Klimakatastrophe, die mit brennenden Wäldern, ausgetrockneten Flüssen, Extremhitze vor unseren Haustüren angekommen ist, rufen wir alle Menschen auf sich am gewaltfreien zivilen Widerstand in Lützerath und anderswo zu beteiligen und die Politik und die Konzerne unter Druck zu setzen. Insbesondere die Wissenschaftler*innen dürfen sich nicht hinter komplizierten Modellen und Forschungsprojekten verschanzen, sondern müssen viel offensiver die Gesellschaft und die Politik über die drohenden Gefahren aufklären und sich dafür Verbündete in Medien und in der Zivilgesellschaft suchen. Eine Pressemitteilung reicht nicht zur Verbreitung der Wahrheit!

Es gibt keine Energiekrise, sondern eine lebensgefährliche Energie- und Ressourcenverschwendung

Wir fordern die Überwindung der Zwangswachstumsgesellschaft und ihrer unverantwortlichen Klima- und Verkehrspolitik durch  geeignete,  konsequente ordnungspolitische Maßnahmen, d.h. auch durch Verbote (z.B. von Kurzstreckenflügen und von Autowerbung), durch die Streichung und Umlenkung von fossilen Subventionen, den konsequenten Ausbau und die Subventionierung von ÖPNV und Zugverkehr, ein Tempolimit auf Autobahnen und warum nicht, durch ein wechselndes Fahrverbot in Abhängigkeit von der Endziffer des Nummernschildes, wie es die Internationale Energieagentur (IEA) vorschlägt? E-Autos sind keine Lösung der Klimakrise und nicht klimafreundlich,- schon wegen dem CO2- Rucksack ihrer Batterien. Der motorisierte Individualverkehr müsste insgesamt bald ein weitestgehendes Ende finden und wieder Raum geben für die Menschen und die Natur. Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien müssen vor allem Energie, Rohstoffe und Transporte eingespart werden,- es muss also endlich der Übergang zu einer regional orientierten, naturverträglichen, klimaneutralen und lebensdienlichen Wirtschaftsweise in Angriff genommen werden. Machen wir Lützerath zum Fanal eines Aufbruchs in diese Richtung und zum Symbol des Widerstands gegen die weitere Zerstörung der Lebensgrundlagen,- setzen wir der fossilen Wirtschaft und Politik endlich Grenzen. Seien wir ungehorsam, – aus wissenschaftlicher Einsicht und aus Liebe zu allem Lebendigen bleibt uns nichts anderes übrig.

Wer diese Gemeinsame Erklärung unterzeichnen und unterstützen möchte, bitte auf folgende Seite gehen: https://earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com/

Dort bitte eine kurze Nachricht über Kontakt senden. Vielen Dank!

 Erstunterzeichner:

Jürgen Tallig, Autor, Klimaaktivist und Bürgerrechtler

Prof. Dr. Helge Peukert, Wirtschaftswissenschaftler, Scientist Rebellion (SR)

Dr. Maiken Winter, Klimaaktivistin

Dr. Harald Bender, Akademie Solidarische Ökonomie

Dr. Hans-Jürgen Fischbeck, Bürgerrechtler, Physiker

Dipl.-Ing Dr. Wolfgang Neef, ehem. TU Berlin

Dr. Winfried Wolf, Zeitschrift „Lunapark21“

Dr. Bruno Kern, Theologe, Initiative Ökosozialismus

Hartmut Plötz, Diplom-Volkswirt, Diplom-Sozialökonom

Marcus Otto, Sprecher Ökologische Plattform

Prof. Dr. Franz Segbers, Konstanz

Dr. Peter Häp, ATTAC-Krefeld

Prof. D.-Ing. Jochen Hanisch (1. Vorsitzender) Verein zur Förderung der angewandten Nachhaltigkeit (VaN e.V.)

Ergänzung zur Gemeinsamen Erklärung

Zahlenmagie und Kipppunkte. Wie viel Zeit haben wir wirklich noch?

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat im Juni 2022 eine Stellungnahme veröffentlicht:

„Wie viel CO? darf Deutschland maximal noch ausstoßen? Fragen und Antworten zum CO?-Budget“ https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2022_06_fragen_und_antworten_zum_co2_budget.pdf

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen ist das höchstrangige wissenschaftliche Beratungsgremium der Bundesregierung und er sagt in seiner Stellungnahme:
“Das noch verfügbare faire CO2-Budget Deutschlands für einen 1,5°C-Pfad läuft 2031 ab, das für 1,75°C 2040. Das geltende Klimaschutzgesetz entspricht nach der Berechnung des SRU einer Begrenzung der Erhitzung der Erde auf weniger als 2, aber deutlich über 1,5°C.”
Das heißt Null Emissionen bis 2031 um die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, wozu die Regelungen des Klimagesetzes nicht ausreichen. Schauen wir mal etwas genauer hin, denn bekanntlich ist oft das Kleingedruckte das Entscheidende:
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) schreibt in seiner 30-seitigen Stellungnahme weiter , unter Punkt 6. auf Seite 7:
“6. Wie groß ist das aktualisierte CO?-Budget für Deutschland und die EU-27 ab 2022?

Aktualisiert beträgt das maximale Budget ab 2022 für Deutschland 6,1 Gt CO? (1,75 °C, 67 %), 3,1 Gt CO? (1,5 °C, 50 %) bzw. 2,0 Gt CO? (1,5 °C, 67 %). Bei linearer Emissionsreduktion ab 2022 wären diese Budgets 2040, 2031 bzw. 2027 aufgebraucht. ”
Die Prozentangaben in den Klammern drücken die Wahrscheinlichkeit aus, mit der eine solche Begrenzung möglich ist. Also, um die Erderhitzung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% auf 1,5 Grad zu begrenzen haben wir noch 8 Jahre Zeit, bei 67% Wahrscheinlichkeit sind es nur noch vier Jahre und bei 100% sind es in etwa nur noch zwei Jahre.

Doch von 100 % wird prinzipiell nie gesprochen. Aber wer würde denn in ein Flugzeug steigen, dass mit 50%iger Wahrscheinlichkeit abstürzt…? Niemand!

Aber die Klimakatastrophe wird schöngerechnet und die CO2- Budgets werden als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis gehandelt, dabei sind sie eigentlich nur schwarze Zahlenmagie.

Auseinandersetzungen an den Polizeiketten vor Lützerath

Nun hat man sich auf den Emissionspfad einer Begrenzung auf eine 1,75 Grad- Erhitzung mit 67 %iger Wahrscheinlichkeit festgelegt und sich damit vermeintlich klimapolitisch Luft bis 2040 verschafft. Aber bei 100% wäre auch hier die Klimaneutralität schon 2035 fällig und hatte man sich denn nicht in Paris auf 1,5 Grad festgelegt, weil jenseits dieser Marke Kippelemente und eine Selbstverstärkung der Erderhitzung zu erwarten sind…!?

Ist es also nicht völlig unverantwortlich, seine Klimapolitik auf ein ungewisses 1,75 -eher sogar ein 2 Grad-Ziel auszurichten, wenn wahrscheinlich schon bei 1,5 Grad alles völlig aus dem Ruder läuft?

Wir werden jetzt die Klimakatastrophe begrenzen oder wir werden sie überhaupt nicht mehr begrenzen können, weil sie sich dann verselbständigt hat und selbst verstärkt. Das meint ganz konkret den auftauenden Permafrost, das schwindende Meereis, die brennenden Wälder, -alles Verstärkungen der Erderhitzung, die bereits in vollem Gange sind, aber in diesen Budgetzahlenspielereien gar nicht berücksichtigt werden. Laut einer neuen Studie haben wir die ersten Kipppunkte bereits erreicht und werden absehbar weitere überschreiten:

“Aus der Analyse der Forscher geht hervor, dass selbst eine globale Erwärmung von ein Grad Celsius – die wir bereits überschritten haben – kritische Kipppunkte auslösen kann. Die aktuelle Erderwärmung von 1,1 Grad über dem vorindustriellen Niveau liege bereits am unteren Ende der Schwellenwerte von fünf Kipppunkten. Bei einem Anstieg auf 1,5 bis 1,9 Grad seien sechs Auslösungen wahrscheinlich. ”
https://t3n.de/news/klimastudie-warnt-5-kippunkte-15-grad-erreicht-klimawandel-1497539/

Und zu guter Letzt sei noch darauf hingewiesen, dass der Weltklimarat IPPC seine Budgetberechnungen an die Annahme geknüpft hat, dass ab 2050 jährlich 10 Gigatonnen (Milliarden Tonnen) CO2 aus der Atmosphäre zurückgeholt werden, was heute schon unmöglich ist.

Man kann eine sich aufschaukelnde Klimakatastrophe nicht später wieder rückgängig machen, genauso wenig wie man den Tod rückgängig machen kann.

Deshalb müssen wir uns heute für das Leben entscheiden.
Jürgen Tallig 20.01.2023

Als Kommentar unter dem Offenen Brief von Scientists for Future in der Leipziger Internetzeitung veröffentlicht:

https://www.l-iz.de/melder/wortmelder/2023/01/offener-brief-ein-moratorium-fuer-die-raeumung-von-luetzerath-506623

weitere Informationen unter: https://earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com

Urheberrecht
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Grafikquellen      :

Oben      —   Räumung Lützeraths, 11. Januar 2023

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Unten     ––       Auseinandersetzungen an den Polizeiketten vor Lützerath

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Kriege ohne Grenzen

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Januar 2023

Heftige Kämpfe in Oblast Saporischschja

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Hat die drohende russische Offensive in der Südukraine bereits begonnen?

Aus dem Südosten der Ukraine, aus der Region Saporischschja, werden derzeit heftige Kämpfe gemeldet. Laut ukrainischen Medien wurden in dieser zwischen den Donbass und dem Dnjepr gelegenen Region in den vergangenen Stunden besonders starke Artillerieangriffe Russlands verzeichnet, während russische Stellen Geländegewinne und die Eroberung von Ortschaften melden. Sprecher der ukrainischen Armee bezeichneten die Lage im Donbass und Saporischschja als „schwierig“, so die Kiew Post.1

Russische Medien sprechen von etlichen eingenommenen Dörfern und einen Vorstoß auf die Stadt Orichiw, die eine strategische Rolle spielt.2 Orichiw sei demnach ein zentraler regionaler Verkehrsknotenpunkt, der russische Angriffe in Richtung der Großstadt Saporischschja erleichtern könnte. Eine erfolgreiche russische Offensive entlang des Ostufers des Dnjepr würde die ukrainischen Armee im Donbass von ihren Versorgungslinien abschneiden. Die ukrainischen Verteidigungslinien in Saporischschja sollen an etlichen Stellen durchbrochen worden sein, was mit den blutigen Kämpfen um die ostukrainische Stadt Bachmut in Zusammenhang stehen dürfte.

Um Bachmut zu halten, hat die ukrainische Armeeführung Truppen aus etlichen Frontabschnitten abgezogen – und so die ukrainischen Verteidigungspositionen vielerorts zwangsläufig geschwächt. Vor Kurzem sind Einschätzungen des Bundesnachrichtendienstes (BND) zur militärischen Lage im Osten durchgesickert, laut denen sich die ukrainische Armee inzwischen in einer schwierigen Lage befindet.3 Demnach verliert die Ukraine allein in Bachmut, das längst symbolisch aufgeladen ist, täglich eine „dreistellige Zahl an Soldaten“. Überdies drohten bei einem Verlust der Stadt „weitere Vorstöße ins Landesinnere“ der russischen Truppen, da die gesamte ukrainische Verteidigungslinie aufgegeben werden müsste (siehe hierzu auch „Kiews verpasste Chance?“)4.

Mörderischer Wettlauf

Die Angriffe der russischen Söldner-Truppen um Bachmut gehen derweil mit unverminderter Intensität weiter. Die ukrainische Armee muss nun entscheiden, wie sie ihre verbliebenen Reserven einsetzen wird: im Donbass, um weiterhin Bachmut zu halten und einen Rückzug auf eine neue Verteidigungslinie bei Slowjansk/Kramatorsk weiter zu verzögern, oder in Saporischschja, um den russischen Vormarsch in Richtung Norden aufzuhalten. Zudem verfügt Moskau weiterhin über hohe Reserven, die noch in die Schlacht geworfen werden können. Mehrere hunderttausend Mann, die bislang noch nicht in die Kämpfe eingegriffen hätten, stünden demnach dem Kreml für weitere Angriffe zur Verfügung. Ukrainische Stellen sprachen gegenüber US-Medien von rund 200 000 Mann.5 Andere Schätzungen, die den derzeit einberufenen Jahrgang von Wehrpflichtigen im Fall einer allgemeinen Mobilmachung durch den Kreml berücksichtigen, kommen auf mehr als 500 000 Mann.

Die plötzlichen Angriffe des russischen Militärs in der strategisch entscheidenden Region Saporischschja – wo Russland zu Beginn der Invasion eine Landbrücke zwischen Donbass und der Krim erobern konnte, scheinen im Zusammenhang mit den jüngst beschlossenen westlichen Waffenlieferungen zu stehen, die mitunter sehr wirkungsvolle Systeme beinhalten.6 Zwar blockierte Berlin die Lieferung deutscher Panzer, doch wird Kiews bald weitreichende Artilleriesysteme (GLSDB) erhalten,7 die den russischen Nachschub und die Kommandosysteme effektiv stören können. Der Kreml will offensichtlich nun seinen imperialistischen Eroberungszug intensivieren, solange die neuen Waffensysteme noch nicht auf dem Schlachtfeld zum Einsatz kommen, was aufgrund der schwierigen Lieferung und notwendigen Ausbildungszeit mitunter Wochen, wenn nicht Monate dauern kann.

Es ist faktisch ein mörderischer Wettlauf zwischen westlichen Waffenlieferungen und russischen Vormarschbemühungen, bei dem der Kreml die ohnehin geplante Offensive gerade in der Region zu entfachen scheint, in der Russland am verwundbarsten ist. Die Region Saporischschja wäre auch ein wichtiges Ziel für eine ukrainische Gegenoffensive, bei der die Landbrücke zwischen Donbass und der Krim zurückerobert würde, was eine Vorbedingung jeglicher Offensivbemühungen gegen die Krim wäre.

Russland hat die Krim schon 2014 okkupiert und später auch formell annektiert. Mitte Januar ließen US-Medien aber durchblicken, dass die Vereinigten Staaten künftig der Ukraine auch dabei helfen wollen, die Krim direkt anzugreifen – die Moskau längst als russisches Territorium betrachtet.8 Bislang weigerte sich Washington, Kiew entsprechende Waffensysteme zu liefern. Moskau schient gerade durch diese Überlegungen getriggert worden zu sein, um in einer – eventuell verfrühten? – Offensive in Saporischschja diese ukrainische Offensivoption zunichtezumachen.

https://www.patreon.com/user?u=57464083

https://konicz.substack.com/

1 https://www.kyivpost.com/post/11362

2 https://twitter.com/rybar_en/status/1616486643090718743

3 https://www.deutschlandfunk.de/bnd-besorgt-ueber-lage-im-osten-100.html

4 https://www.konicz.info/2023/01/19/kiews-verpasste-chance/

5 https://thehill.com/policy/defense/3818361-russia-is-planning-a-major-offensive-heres-what-that-might-look-like/

6 https://www.nytimes.com/2023/01/19/podcasts/the-daily/ukraine-russia-war-weapons.html

7 https://mil.in.ua/en/news/stryker-and-glsdb-to-enter-new-aid-package-from-us-to-ukraine-politico/

8 https://www.nytimes.com/2023/01/18/us/politics/ukraine-crimea-military.html

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Grafikquellen      :

Oben      —       Map of Zaporizhzhia Oblast showing the rough zones of occupation during the southern offensive of the 2022 Russian invasion of Ukraine, as of August 2022. Ukraine (    ) has maintained control over the north of the oblast, including the areas around the cities of ZaporizhzhiaHuliaipole and Orikhiv. The Russian occupation (    ) extends throughout the entire southern part of the oblast, including the major cities of MelitopolBerdiansk and Enerhodar.

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Proteste in Iran

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Januar 2023

Die unstillbare Wut auf die scheinheiligen Greise

Ein Gastbeitrag von Bahman Nirumand

Mit brutaler Gewalt und Hinrichtungen geht das Regime in Iran gegen die Demonstrationen für Frauenrechte und Freiheit vor. Es wird ihm nichts helfen: Die Tage des Gottesstaates sind gezählt.

Revolutionen haben gewöhnlich die Umwälzung der sozialen, ökonomischen oder politischen Verhältnisse zum Ziel. Nicht so bei dem Aufstand in Iran. Hier geht es um das Leben schlechthin, um ein neues, selbstbestimmtes, gleichberechtigtes und freies Leben. Es ist eher eine Kulturrevolution, ein Aufprall der Moderne gegen die Tradition, eine Suche nach einer neuen Identität.

Viel Wut hatte sich besonders in den vergangenen Jahren aufgestaut. Zuletzt über die Monopolisierung der Macht durch die Ultras und die Übernahme der Regierung durch Ebrahim Raisi, der ankündigte, die bislang nicht gelungene Islamisierung der Gesellschaft mit allen Mitteln durchzusetzen. Dazu gehörte auch die Verstärkung der Kontrollen der Sittenpolizei.

Der Tod von Mahsa Amini brachte das Fass zum Überlaufen. Die schlichte, unschuldige 22-jährige Frau, die nie politisch aktiv war, musste sterben, weil einige Haarsträhnen aus ihrem Kopftuch herausschauten. Seitdem gehen landesweit Tag für Tag vorwiegend junge Frauen und Männer auf die Straße, stellen sich mit leeren Händen den bewaffneten Schergen des islamischen Gottesstaates entgegen, die mit äußerster Brutalität gegen sie vorgehen, und fordern den Sturz des Gottesstaates.

Sie scheinen keine Angst zu haben. Während bei früheren Demonstrationen die Teilnehmer sich zuriefen: »Fürchtet euch nicht, ihr seid nicht allein«, rufen sie jetzt, gerichtet an den »»Islamischer Staat««: »Fürchtet euch, wir sind nicht allein.« Sie haben dem Gottesstaat endgültig den Rücken gekehrt. »Islamische Republik wollen wir nicht, wollen wir nicht«, rufen sie.

Die Proteste richten sich gegen das scheinheilige Regime

Was treibt die Menschen, dass sie dafür ihr Leben zu riskieren bereit sind? Es geht längst nicht mehr um den Kopftuchzwang, auch nicht allein um die Diskriminierung der Frauen. Das Ziel des Aufstands ist weit umfassender. Es geht um die Würde des Menschen, um die verbrieften Rechte der Individuen. Die Proteste richteten sich gegen ein Regime, das seit 43 Jahren scheinheilig im Namen Gottes das Volk gängelt. Das erzwungene Kopftuch, das Frauen demonstrativ ins Feuer warfen, ist ein Symbol für Unterdrückung jeglicher Art, für Diskriminierung und Demütigung, nicht nur der Frauen, sondern auch von Jugendlichen, ethnischen und religiösen Minderheiten, von Andersdenkenden.

Die Wurzeln dieser tiefreichenden Entwürdigung liegen in der Revolution von 1979, die zunächst gegen die Schah-Diktatur gerichtet war und Freiheit und Unabhängigkeit forderte, in ihrem Verlauf jedoch von den Islamisten okkupiert wurde, deren Ziel nichts Geringeres war, als dem Volk eine neue Identität zu geben, eine islamische Identität. Im Grunde war die islamische Revolution eher eine kulturelle als eine politische oder soziale Revolution.

Die erste programmatische Rede, die Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei in der Pilgerstadt Ghom hielt, ließ ahnen, was von der neuen Macht zu erwarten war. »Wir werden die gesamte Presse, den Rundfunk, das Fernsehen von der Unmoral reinigen. Alles muss sich am Islam orientieren. Unsere Werbung muss islamisch werden, unsere Ministerien müssen sich in islamische Stützpunkte verwandeln, unsere Gesetze müssen islamische Gesetze sein. Wir werden uns nicht darum kümmern, ob dies dem Westen passt oder nicht. Der Westen hat uns erniedrigt, er hat unsere Seele zerstört. Seid wachsam! Wir müssen wachsam sein, dass sie uns nicht allmählich wieder zurücklocken. Alles muss sich dem Islam anpassen. Ich warne euch, lasst euch nicht durch das Wort Demokratie in die Irre führen. Demokratie ist westlich und wir lehnen westliche Systeme ab.«

Seitdem werden diese Anweisungen Khameneis befolgt. Die Furcht von einer westlichen Unterwanderung ist groß. Man spricht von einer »samtenen Revolution«, die weitaus gefährlicher sei als ein militärischer Angriff. Die Feindschaft gegen den Westen gehört zu den wichtigsten Säulen der Islamischen Republik.

Die neuen islamistischen Machthaber räumten mit allem auf, was zur Grundlage der alten iranischen Kultur und einer zivilen Gesellschaft gehört. Ihr Ziel war eine vollständige Umwertung der bis dahin geltenden Werte. Die ersten Maßnahmen richteten sich gegen Frauen. Sie sollten sich den islamischen Moralvorstellungen fügen und sich entsprechend kleiden. Von da an wurde das Kopftuch zum Symbol der Unterdrückung.

Die neue Macht ordnete Geschlechtertrennung an den Universitäten, Schulen und Badestränden an. Schulbücher wurden umgeschrieben, die vorislamische Zeit zum größten Teil ausgeblendet. Für die Islamisten begann die iranische Geschichte mit dem Einzug des Islam. Jede Form von Erotik oder Sexualität wurde verboten.

Parallelwelten mit wachsender Distanz

Doch die Mühe war bei einem Großteil der Bevölkerung vergeblich. Zu stark ist die Verbundenheit der Iraner mit der eigenen Geschichte, der eigenen Kultur. Sie sind stolz, gerade auf die vorislamische Zeit, auf die Könige Darius und vor allem Kyros, der die erste Charta der Menschenrechte schrieb, sie identifizieren sich mit den großen Dichtern wie Hafis und Ferdowsi, mit der reichen persischen Sprache.

Zudem waren größere Schichten der Bevölkerung bereits mit einer modernen Lebensweise vertraut, die sie auch nach der Revolution hinter verschlossenen Türen pflegten und fortsetzten. So entstanden zwei Parallelwelten, die sich Jahr für Jahr voneinander entfernten. Mehr als sechs Millionen Menschen verließen das Land.

Wer heute jünger als 43 Jahre alt ist, hat nichts anderes erlebt als die Islamische Republik. Das gilt für mehr als die Hälfte der 83 Millionen Bewohner des Landes. Ein Teil dieser Generationen wurde von den Revolutionsgarden, den Basidsch-Milizen und anderen paramilitärischen Organisationen rekrutiert und damit existenziell vom Bestand des Regimes abhängig gemacht. Ein anderer Teil führte ein schwer erträgliches Doppelleben zwischen dem meist laizistischen Elternhaus und den indoktrinierten Schulen und Universitäten.

Bahman Nirumand, geboren 1936 in Teheran, ist ein iranisch-deutscher Germanist, Iranist und Autor. Sein Buch »Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der freien Welt« (1967) hatte starken Einfluss auf die westdeutsche Studentenbewegung der späten Sechziger. Im Dezember 2022 erschien sein jüngstes Buch »Der mühsame Weg in die Freiheit. Iran zwischen Gottesstaat und Republik« (zu Klampen Verlag, 214 Seiten).

Es war und ist ein schizophrenes, kaum zu ertragendes Leben ohne Zukunftsperspektive, ohne die Möglichkeit, eigene Begabungen zu entfalten und zu pflegen. Viele haben ihre Jugend nicht erleben und genießen können. Sie sind immer wieder hoffend auf Änderungen und grundlegenden Reformen zur Wahl gegangen, haben für den Reformer Mohammad Chatami und sogar dem gemäßigten Konservativen Hassan Rohani gestimmt. Wie oft haben sie an Kundgebungen und Protestmärschen teilgenommen, an den Universitäten, in den Fabriken für ihre Forderungen gestreikt. Doch ihre Rufe und Schreie stießen stets auf taube Ohren. Das Regime reagierte auf jede Kritik, jeden Protest mit purer Gewalt.

Sie fordern ein neues Leben, eine neue Identität

Der einzige Fluchtort, in den sich vor allem Jugendliche begeben können, um der unerträglichen Wirklichkeit zu entrinnen, sind das Internet und die sozialen Netzwerke. In dieser virtuellen Welt lernen sie die Außenwelt kennen, begegnen Gleichaltrigen, die frei und unbeschwert von staatlich verordneten Verboten und Geboten ihren Alltag verbringen, sehen Liebespaare, die sich auf den Straßen umarmen und küssen.

Der Vergleich dieser Welt mit ihrem realen Dasein und dem, was die Eltern von der Vergangenheit erzählen, weckt unerfüllbare Sehnsüchte in ihnen, aber auch unstillbare Wut gegen die machtbesessenen, scheinheiligen Greise, die ihnen ihre Jugend geraubt und all die absurden Entbehrungen beschert haben.

Quelle        :         Spiegel-online        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Students of Amir Kabir university protest against Hijab and the Islamic Republic

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Januar 2023

„Krieg und Frieden“
Wer hilft noch, wenn alle Anwälte geflohen sind ?

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Aus Moskau von Xenia Babich

Viele Menschen in Russland sind von der Mobilmachung betroffen. Erstmals informieren sie sich über ihre Rechte, doch oft kann niemand helfen.

Den Russen wird oft vorgeworfen, viel zu langsam das Ausmaß der Katastrophe erkannt zu haben, in die sie ohne besonderen Widerstand zu leisten und ohne zu verstehen, dass sie Opfer der staatlichen Politik wurden, hineingeraten sind. Die Mobilmachung, die zwischen September 2022 und Januar 2023 alle wie ein Schlag traf, ist für Zehntausende Familien zu einem Todesurteil geworden.

In Moskau kann man an der Bushaltestelle hören, wie junge Männer die Tauglichkeitsgrade diskutieren, nach denen einberufen wird. In den sozialen Medien kann man nachlesen, wer wie in die Musterungsstellen geholt wurde. Außerhalb Moskaus teilten Polizisten Vorladungen in den Fabriken aus. Dann wurden die Arbeiter festgenommen und zur Musterung gebracht. Einige wurden einfach auf der Straße verhaftet.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren versuchen Russen dringend herauszufinden: Welche Rechte haben sie, wie verhält man sich bei der Musterung? Was tut man, wenn man das Land nicht verlassen kann? Und: Kann ich töten und möchte ich sterben? Warum passiert das alles? Warum ist es so schrecklich?

Eine Freundin ruft mich an. Weinend erzählt sie, dass ihr Vater einen Einberufungsbescheid bekommen hat. Dass er Rentner ist, dass er in der UdSSR zwei Jahre in Armenien gedient hat, aber nichts mehr davon erinnert. Dass er verstört ist wie noch nie. Dass sie einen Anwalt braucht und dass er Angst hat, in Moskau das Haus zu verlassen, weil sie ihn in die Musterungsstelle verschleppen könnten.

Die Basilius-Kathedrale und der Rote Platz.jpg

Eine andere Freundin erzählt, dass sie ihren Mann – einen Reanimatologen – bislang noch in keine Brigade aufgenommen haben, aber in seinem Krankenhaus schon Listen zusammenstellen. Die Menschen werden an die „Frontlinie“ geschickt. Ihr Mann will das Land nicht verlassen. Er ist Arzt und Vater eines kleinen Sohnes. Er spricht nicht über seine Ängste, aber seine Frau sucht auch einen Anwalt.

Die Verlobte eines Mannes aus St. Petersburg, der bereits eingezogen und ins „Trainingslager“ gebracht wurde, schluchzt und erzählt von starkem Druck: Der Mann wird aufgefordert, den Kontrakt zu unterschreiben, für Fahnenflucht drohen sie ihm Strafen an. Es gehe ihm schlecht, er bitte um Freistellung. Seine Eltern wissen nicht, was sie noch tun können. Auch sie suchen nach einem guten Anwalt.

Quelle       :         TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Unten     —    Ein Bild der Ansicht auf dem Roten Platz in Moskau, aufgenommen vom US-Außenministerium // Tatsächlich ist nur ein kleiner Teil des Platzes zu sehen (das Blau steht in der Mitte). Der größte Teil des Platzes wird durch die Kremlmauer auf der linken Seite versperrt

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Politik auf vier Pfoten

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Januar 2023

Der Puma lahmt – und zwar auf allen 4 Pfoten

Datei:Schützenpanzer Puma der Bundeswehr (49919110048).jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :      Klaus Hecker

Wie geht Kriegsvorbereitung nach innen. Seit geraumer Zeit wird kontinuierlich über den Schützenpanzer Puma berichtet, der sich als einziges Mängelwesen herausgestellt hat.

Die Tagesschau um 20.00 Uhr vom 19.12.2022 etwa hat diesem Thema fast fünf Minuten gewidmet. Politiker und Journalisten jedweder Couleur beklagen diese Missstände und warnen vor einem Imageverlust für Deutschland und für die Bundeswehr. Tja, aber wobei eigentlich: wer verliert hier was, wofür?Der Standpunkt, eine verhunzte Panzergeneration sei ein Glücksfall für die Menschheit, ein unfreiwilliger Schritt zur Abrüstung herrscht offensichlich nicht vor. Schade!

Vielmehr wird mit der staatsbürgerlichen Lieblingsbetrachtung, es klappt nicht, sie haben es verbockt, ein Antimaterialismus gefeiert, der nicht die eigenen Interessen in den Mittelpunkt stellt, sondern Ziele und Zwecke des Staats. In der Form des Beklagens eines Scheiterns wird nicht der Zweck, sondern der im Moment nicht erreichte Zweck aufs Korn genommen und damit affirmiert.

Diese staatsbürgerliche Bildung und Übung ist es, die die Nachrichten mit dieser Berichterstattung inszenieren. Aber dabei bleibt es nicht. Jetzt wird das Volk zum Panzerexperten herangezüchtet und das Schauermärchen Waffen sind zum Frieden da wird bei dieser Gelegenheit auch gecancelt. Verteidigungsministern Lambrecht erklärt, dass die Zeiten, in denen die Bundeswehr als so eine Art technisches Hilfswerk und/oder Rotes Kreuz ins Ausland aufgebrochen sei, vorbei seien. Stahlhelm Agnes Zimmermann (FDP) verlängert, die Friedensdividende sei aufgebraucht.

Wir lernen:

  • mit 1100 PS erreicht der Puma bis zu 70 Km/h
  • mit 30mm Kanone kann er bis zu 2 km Entfernung treffen
  • Lenkraketen können feindliche Panzer noch in 4 km Entfernung ausschalten
  • 360 Grad Kameras – mit Wärmebilderkennung auch in der Nacht
  • der Clou, eine digitale Lagekarte im Puma vernetzt alle Einheiten außerhalb des Panzers — daher der Name „Infanterist der Zukunft“. (Warum der Puma bisher ein Papiertiger ist, Tagesschau online, 19.12.2022)

Ja, Krieg ist nicht nur auf der Tagesordnung, sondern will und muss demzufolge mit Material und Gerät auf den neuesten und eben auch auf den passendsten Stand für den entsprechenden Einsatz gebracht werden. In dem trockenen Bergen Afghanistans ist anderes gefordert als in den Weiten der Ukraine – oder vielleicht sogar Russlands?

Dieses mal ist der Puma „zu klein“- jedenfalls für den geplanten Kriegsschauplatz. Zudem: Ein „rollender, schiessender Computer“ ist zwar Weltspitze, aber eben noch nicht in der Praxis. Also plant die Bundeswehr noch einmal den alten Marder zu rekrutieren und die Bevölkerung darf mit zittern, ob dieser noch genügt (und tut es leider auch).

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Bundeswehr in Schulen Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Aufrüstung wird also ideologisch nicht als Hurra gefeiert, sondern als Klageoper über Mängel und Versäumnisse von Wirtschaft und Politik.
Der erste deutsche Panzer A7V glänzte zum Ensetzen der Gegnersaaten mit gewaltiger Größe – erwies sich dann aber als zu unbeweglich. 30 tausend Tonnen Stahl, 20 Mann Besatzung, aber nur 200 PS, was so ungefähr heute jeder Golf GTI hat. Das konnte nicht gutgehen.

Aber, und das kann man von diesem Schlachtschiff lernen, eine relative Unabhängigkeit von der Technik. Während der Puma mit gewaltigen Computerproblemen glänzt, ist der 20. Mann in diesem 1. Weltkriegsmonsrer der Brieftaubenwart. „Nicht schneller als ein Spaziergänger – aber scheinbar unaufhaltsam“ [1].

Tja, auch hier wird das „es klappt nix“ besser, es hat nix geklappt, zum leitenden Gesichtspunkt – posthum.

SCHLUSSFOLGERUNG: Mit der Berichterstattung, was alles nicht funktioniert, funktioniert offenbar eines, die Kriegsvorbereitung in den Köpfen der Bürger. Lieber ein bisschen frieren für die Aufrüstung, und sich über mangelnde Einsatzbereitschaft der Waffengattungen mokieren. Geld scheint nicht das Problem zu sein. Die Bevölkerung stiftet in Gestalt höherer Energiepreise und mit Schnattern am heimischen auf 18 Grad runter reduzierten Ofen auch noch einen Beitrag.

Protest ist nicht zu vernehmen. Leider.

[1] Enge, Gestank und ohrenbetäubender Lärm, Peter Körner, Welt online, 02.02.2017

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —    Wehrtechnische Dienststelle für Waffen und Munition 91 (WTD 91) in Meppen

Verfasser Dirk Vorderstraße aus Hamm, Deutschland     /      Quelle    :

    Schützenpanzer Puma der Bundeswehr      /       Datum     :   09.06.2018.

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 2.0 Generic Lizenz.

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Unten      —      Autor Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

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Ein Rat von Henry Kissinger

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Januar 2023

«So lässt sich ein weiterer Weltkrieg vermeiden»

Könnte dort wohl jemand Bohnen in den Ohren gehabt haben?

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Red. /   

Der frühere US-Aussenminister schlägt Rückkehr zu den Grenzen vom 24. Februar 2022 vor. Er warnt vor modernsten Waffen.

upg. Vor acht Jahren las Henry Kissinger Russland die Leviten, warnte aber auch vor einer verhängnisvollen Politik des Westens. Er sah den Krieg kommen. Jetzt plädiert Kissinger für einen Waffenstillstand und warnt davor, Fehler des Ersten Weltkrieges zu wiederholen. Infosperber dokumentiert seinen Artikel, den er am 17. Dezember 2022 in «The Spectator» veröffentlichte.

Niemand wollte den Eindruck der Schwäche erwecken

Der Erste Weltkrieg war eine Art kultureller Selbstmord, der die Vorherrschaft Europas zerstörte. Die europäischen Staats- und Regierungschefs schlafwandelten – um es mit den Worten des Historikers Christopher Clark zu sagen – in einen Konflikt hinein, den keiner von ihnen angezettelt hätte, wenn sie die Welt am Kriegsende 1918 vorausgesehen hätten. In den vorangegangenen Jahrzehnten hatten sie ihre Rivalität durch die Schaffung zweier Bündnisse zum Ausdruck gebracht, deren Strategien durch ihre jeweiligen Mobilisierungspläne miteinander verbunden waren. So konnte 1914 die Ermordung des österreichischen Kronprinzen in Sarajewo (Bosnien) durch einen serbischen Nationalisten zu einem allgemeinen Krieg eskalieren. Er begann, als Deutschland seinen Allzweckplan, Frankreich zu besiegen, durch einen Angriff auf das neutrale Belgien am anderen Ende Europas umsetzte.

Die europäischen Nationen, die nur unzureichend damit vertraut waren, wie die Technologie ihre jeweiligen Streitkräfte verbessert hatte, fügten sich gegenseitig beispiellose Verwüstungen zu. Im August 1916, nach zwei Jahren Krieg und Millionen von Opfern, begannen die Hauptkriegsparteien im Westen (Grossbritannien, Frankreich und Deutschland) zu überlegen, wie das Gemetzel beendet werden könnte. Im Osten hatten die Rivalen Österreich und Russland vergleichbare Fühler ausgestreckt. Da kein denkbarer Kompromiss die bereits erbrachten Opfer rechtfertigen konnte und niemand den Eindruck von Schwäche erwecken wollte, zögerten die verschiedenen Führer, einen formellen Friedensprozess einzuleiten.

Daher ersuchten sie die Amerikaner um Vermittlung. Die Sondierungen von Colonel Edward House, dem persönlichen Gesandten von Präsident Woodrow Wilson, ergaben, dass ein Frieden auf der Grundlage eines modifizierten Status quo ante in Reichweite war. Wilson wollte zwar vermitteln, zögerte aber bis nach den Präsidentschaftswahlen im November. Doch bis dann hatten die britische Somme-Offensive und die deutsche Verdun-Offensive weitere zwei Millionen Tote gefordert.

Der Erste Weltkrieg dauerte noch zwei Jahre und forderte Millionen von Opfern, wodurch das Gleichgewicht in Europa unwiederbringlich gestört wurde. Deutschland und Russland wurden von Revolutionen zerrissen, Österreich-Ungarn verschwand von der Landkarte. Frankreich war ausgeblutet. Grossbritannien hatte einen grossen Teil seiner jungen Generation und seiner wirtschaftlichen Kapazitäten einem Sieg geopfert.

Der Strafvertrag von Versailles, der den Krieg beendete, erwies sich als weitaus brüchiger als die Struktur, die er ersetzte.

Vergleichbarer Wendepunkt in der Ukraine?

Befindet sich die Welt heute in der Ukraine an einem vergleichbaren Wendepunkt, da der Winter gross angelegte Militäroperationen in der Ukraine erschwert oder verunmöglicht? Ich habe wiederholt meine Unterstützung für die militärischen Bemühungen der Alliierten zum Ausdruck gebracht, um die russische Aggression in der Ukraine zu vereiteln. Aber es ist an der Zeit, die bereits erfolgten strategischen Veränderungen als Grundlage zu nehmen, um Frieden durch Verhandlungen zu erreichen.

Die Ukraine ist zum ersten Mal in der modernen Geschichte zu einem wichtigen Staat in Mitteleuropa geworden. Unterstützt von ihren Verbündeten und inspiriert von ihrem Präsidenten Wolodymyr Zelenskij hat die Ukraine die russischen konventionellen Streitkräfte, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg bedrohen, in die Schranken gewiesen. Und das internationale System – einschliesslich China – wehrt sich gegen die Androhung oder den Einsatz von Russlands Atomwaffen.

Dieser Prozess hat die ursprüngliche Frage nach der Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato in den Hintergrund treten lassen. Die Ukraine verfügt über eine der grössten und schlagkräftigsten Landstreitkräfte in Europa, die von den USA und ihrer Verbündeten ausgerüstet wurde. Ein Friedensprozess sollte die Ukraine in irgendeiner Form in die Nato einbinden. Die Alternative der Neutralität ist bedeutungslos geworden, insbesondere nachdem Finnland und Schweden der Nato beigetreten sind.

Waffenstillstands-Linie entlang der Grenzen vom 24. Februar

Aus diesem Grund habe ich bereits im Mai letzten Jahres empfohlen, eine Waffenstillstandslinie entlang der Grenzen einzurichten, an denen der Krieg am 24. Februar begann. Russland würde dann seine Eroberungen aufgeben, nicht aber das Gebiet, das es vor fast einem Jahrzehnt besetzt hatte, einschliesslich der Krim. Dieses Gebiet könnte nach einem Waffenstillstand Gegenstand von Verhandlungen sein.

Wenn die Vorkriegsgrenze zwischen der Ukraine und Russland weder durch Kampfhandlungen noch durch Verhandlungen erreicht werden kann, könnte der Rückgriff auf den Grundsatz der Selbstbestimmung erwogen werden. International überwachte Volksabstimmungen über die Selbstbestimmung könnten auf besonders geteilte Gebiete angewandt werden, die im Laufe der Jahrhunderte wiederholt den Besitzer gewechselt haben.

Das Ziel eines Friedensprozesses wäre ein zweifaches: die Bestätigung der Freiheit der Ukraine und die Festlegung einer neuen internationalen Struktur, insbesondere für Mittel- und Osteuropa. Letztendlich sollte Russland einen Platz in einer solchen Ordnung finden.

Gegen ein Vakuum in einem Russland voller Atomwaffen

Manche bevorzugen ein Russland, das durch einen fortgesetzten Krieg machtlos geworden ist. Dem stimme ich nicht zu. Trotz seiner Neigung zur Gewalt hat Russland über ein halbes Jahrtausend lang entscheidende Beiträge zum globalen Gleichgewicht und zur Machtbalance geleistet. Seine historische Rolle sollte nicht herabgewürdigt werden.

Russlands militärische Rückschläge haben seine globale nukleare Reichweite nicht beseitigt, die es ihm ermöglicht, mit einer Eskalation in der Ukraine zu drohen. Selbst wenn diese Fähigkeit abnimmt, könnte die Auflösung Russlands oder die Zerstörung seiner Fähigkeit zu strategischer Politik sein 11 Zeitzonen umfassendes Territorium in ein umkämpftes Vakuum verwandeln:

  • Seine konkurrierenden Gesellschaftsteile könnten ihre Streitigkeiten mit Gewalt beilegen wollen.
  • Andere Länder könnten versuchen, ihre Ansprüche mit Gewalt auszuweiten.

Diese Gefahren sind umso grösser, als Tausende von Atomwaffen Russland zu einer der beiden grössten Atommächte der Welt machen.

Risiken von hochtechnischen, mit KI ausgestatteten Waffen

Während sich die Staats- und Regierungschefs der Welt bemühen, den Krieg zu beenden, in dem zwei Atommächte gegen ein konventionell bewaffnetes Land antreten, sollten sie auch darüber nachdenken, welche Auswirkungen die aufkommende Hochtechnologie und künstliche Intelligenz auf diesen Konflikt und auf die langfristige Strategie haben. Es gibt bereits autonome Waffen, die in der Lage sind, ihre eigenen wahrgenommenen Bedrohungen zu definieren, zu bewerten und ins Visier zu nehmen, und die somit in der Lage sind, ihren eigenen Krieg zu beginnen.

Sobald die Grenze zu diesem Bereich überschritten ist und Hightech zur Standardwaffe wird – und Computer die Hauptausführenden der Strategie werden -, wird sich die Welt in einem Zustand befinden, für den sie noch kein etabliertes Konzept hat. Wie kann die Führung Kontrolle ausüben, wenn Computer strategische Anweisungen in einem Ausmass und in einer Art und Weise vorgeben, die den menschlichen Beitrag von Natur aus begrenzt und bedroht? Wie kann die Zivilisation inmitten eines solchen Strudels widersprüchlicher Informationen, Wahrnehmungen und zerstörerischer Fähigkeiten erhalten werden?

Es gibt noch keine Theorie für diese sich ausbreitende Realität, und es haben sich noch keine Beratungsbemühungen zu diesem Thema entwickelt – vielleicht, weil sinnvolle Verhandlungen neue Entdeckungen ans Licht bringen könnten, und diese Offenlegung selbst ein Risiko für die Zukunft darstellt. Die Überwindung der Diskrepanz zwischen fortschrittlicher Technologie und dem Konzept von Strategien zu ihrer Beherrschung oder gar dem Verständnis ihrer vollen Tragweite ist heute ein ebenso wichtiges Thema wie der Klimawandel, und es erfordert Führungspersönlichkeiten, die sowohl die Technologie als auch die Geschichte beherrschen.

Das Streben nach Frieden und Ordnung hat zwei Komponenten, die manchmal als widersprüchlich angesehen werden: das Streben nach Sicherheitselementen und die Forderung nach Versöhnungsakten. Wenn wir nicht beides erreichen können, werden wir auch keines von beidem erreichen. Der Weg der Diplomatie mag kompliziert und frustrierend erscheinen. Aber der Weg dorthin erfordert sowohl die Vision als auch den Mut, ihn zu beschreiten.

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Zwischentitel von der Redakaktion

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Grafikquellen        :

Oben      —    Henry Kissinger und Bundeskanzlerin Merkel im Deutschen Historischen Museum

Unten       —        ART zur Veröffentlichung Kapitän William Youl Arcuri, Fotos zur Verfügung gestellt von William Y. Arcuri, U.S. Air Force Kunst von 1SG Timothy Lawn Einheit: 205th Press Camp Headquarters DVIDS Stichworte: Lila Herz; KRIEGSGEFANGENER; Distinguished Flying Cross; Joint Chiefs of Staff; Vietnamkrieg; West Point; Hanoi; Kriegsgefangene; Hoa Lo Gefängnis; Kriegsgefangenenmedaille; Elefantenspaziergang; Präsident Richard Nixon; FAN; Hanoi Hilton; Nordvietnamesisch; Quilt 3; SAM-2 Boden-Luft-Raketen; Linebacker II; Anderson Air Force Base in Guam; B-52G Stratofortress; Mikojan-I-Gurewitsch Design Bureau (MIG) Kämpfer; US-Sicherheitsberater Henry Kissinger; 1972 Pariser Friedensgespräche; fliegende Telefonmasten; der 11-Tage-Krieg; Der Weihnachtsbombenanschlag; Sieg der Propaganda; US-Außenpolitik; Unterstützung bei der Aufstandsbekämpfung; 361. Luftverteidigungsdivision; Rolling Thunder Kapitel 6

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Krieg und Frieden

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Januar 2023

„SiegFrieden“ oder schnellstens Waffenstillstand?
Zur Eskalationslogik des Ukrainekrieges

Auch die heute lebenden Politiker-innen scheinen Unbelehrbar zu sein

Quelle        :     Berliner Gazette

Von Jürgen Link

Der aktuell alles beherrschende Krieg, der nicht nur ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist, sondern als inter-imperialer Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen auch zu einem small world war ausgewachsen ist, der nicht zuletzt als Wirtschaftskrieg geführt wird – dieser Krieg wird nicht zuletzt von einem Durchhaltediskurs getragen, wie Jürgen Link in seiner Analyse zeigt.

Der Grad der Eskalation ist zur Jahreswende 2022/23, nach knapp einem Jahr, durch einen angsteinflößenden „Winterkrieg“ auf dem Schlachtfeld in der Ukraine und im westlichen ‚Hinterland‘ durch wirtschaftliche Sorgen von epochalem Ausmaß gekennzeichnet. Schlimmer als die mediogenen Blackouts sind die anhaltenden täglichen Massaker am „Menschenmaterial“, aber auch am Klima. Wie Wolfgang Ischinger, heute strammer Bellizist, vor gar nicht langer Zeit zutreffend feststellte: „Ein großer Krieg, und die gesamten Klimaziele, die wir haben, können Sie alle einstampfen“ (zitiert nach WAZ 3.12.2019).

Ischinger hat damit nicht nur über sich selbst, sondern insbesondere über alle grünen Bellizistinnen das Urteil gesprochen. Denn jeder Tag dieses Krieges bringt auch die Klimakatastrophe rasch näher – so dass die schiere Länge des Krieges ein fundamentales Problem darstellt, das nicht mit Verweis darauf vom Tisch gewischt werden kann, dass Putin ihn zweifellos völkerrechtswidrig angefangen hat. Was die humanen Verluste angeht, so fehlen natürlich verlässliche Zahlen. Sicher ist nur, dass sie auf beiden Seiten entsetzlich sind (am 11.11. bezifferte der Generalstabschef der USA Mark Milley die Gesamtverluste an Toten und Verwundeten beider Seiten auf etwa je 100.000).

Ereignisgeschichte und Strukturgeschichte zusammendenken

Auch die im weiten Sinne juristischen Aspekte des Krieges, die im westlichen mediopolitischen Diskurs dominieren, sind demnach aktual historisch eingebettet in eine militärische, wirtschaftliche und diskursive Eskalationslogik, die es daher vor allem zu analysieren gilt. Das wirft das schwierige Problem auf, wie Ereignisgeschichte und Strukturgeschichte integriert zusammenzudenken wären – und das auch noch mitten im aktuellen Prozess. Zum einen wird der Krieg (zunächst vom mediopolitischen Diskurs, dann auch bereits von einem aktual geschichtlichen Essayismus) als eine Folge von Ereignissen vor und nach dem 24. Februar 2022 erzählt.

Ich beschränke mich auf die wichtigsten mit struktureller Eskalationsrelevanz:

Die Verkündigung der „Zeitenwende“ durch Kanzler Scholz am 27.2. wertet unter dem Stichwort „Sicherheit“ das militärische Teilsystem der Gesellschaft enorm auf und flankiert dominante Teilsysteme wie vor allem Wirtschaft (Sanktionen), Politik (Notstandsmaßnahmen) und Diskurs (Medien) mit militärischen Anforderungen.

Pentagonchef Lloyd Austin bildet am 26.4. in Ramstein offiziell die weitgehend geheim operierende (und von Geheimdiensten gemanagte) Ramstein-Koalition der Willigen aus zunächst 40 und dann mehr (teils unbekannten) Ländern unter Führung der USA und in Koordination mit der NATO. Gleichzeitig schwenkt die Führung der Ukraine von einer Strategie der von Volksresistenz unterstützten Defensive mit dem Ziel von baldigen Verhandlungen um auf eine Strategie der offensiven hoch professionellen Gegen-Eskalation mit dem Ziel eines „SiegFrieden“ nach Rückeroberung des gesamten Donbass und der Krim (erste Schritte dazu sind die Sommer-Gegenoffensive der Ukraine bei Cherson und Charkow, die Teilsprengung der Krimbrücke am 8.10. und die Ausweitung des Kriegs auf russisches Territorium durch Drohnenschläge).

Am 26.9. werden in der Nähe von Bornholm, also einem von der NATO kontrollierten Seegebiet, die Pipelines Nordstream 1 und 2 gesprengt. Nachdem zuerst Russland beschuldigt wurde, wurde das „Thema“ nach kurzer Zeit vollständig „aus den Schlagzeilen genommen“, was eher für eine von den USA patronierte ‚westliche‘ Aktion spricht. Völkerrechtlich handelt es sich in jedem Fall um einen überfallartigen, angriffskriegerischen Akt gegen Deutschland. Auf der Gegenseite greift Russland seit dem 17.10. massiv und kontinuierlich die energetische Infrastruktur der Ukraine an.

Dreieck struktureller Tendenzen

Diese Ereignisse – so war und ist die im folgenden zu explizierende These – entwickeln sich im Rahmen eines ‚Dreiecks‘ aus mittel- und langdauernden strukturellen Tendenzen, die bereits vor Putins Überfall auf die Ukraine virulent waren.

Erstens das sogenannte Great Decoupling, auch Deglobalisierung genannt, d.h. die wirtschaftliche Abkopplung der US-amerikanischen Hegemonialzone, also des Westens oder Westblocks, von einem neuen Ost-Block mit Hegemonie Chinas. Die militärisch begründeten Sanktionen gegen Russland eskalieren also strukturell das Decoupling. Wie schnell und wie radikal auch China sanktioniert werden soll, ist sowohl in den USA wie in Europa umstritten.

Zweitens eine maximalistische Tendenz, das Supermachtmonopol der USA nach dem Kollaps des alten Ostblocks durch NATO und eine Art NATO + (wie z.B. die Ramstein-Koalition) militärisch und politisch zu festigen und auszuweiten. Das impliziert eine sehr viel stärkere Führungsrolle der USA als seit Ende des alten Kalten Krieges. Diese maximalistische Tendenz, die in den Entscheidungseliten der USA nicht unumstritten ist, ist am deutlichsten durch das „Project for a New American Century (PNAC)“ und seine Nachfolgeinstanzen ausformuliert, sodass sich von einer Tendenz PNAC-NATO sprechen lässt.

Das strukturelle Ziel des PNAC ist explizit, das Supermachtmonopol der USA seit dem Kollaps der Sowjetunion zu bewahren und zu stärken, also die Emergenz einer erneuten zweiten Supermacht zu verhindern. Auf der Ebene der Ereignisse und der personalen Entscheider im Rahmen der Eskalation ist die jetzige US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland, die die Verhandlungen zwischen den USA und der Regierung Selenski als graue Eminenz leitet, die Ehefrau des Gründers und Master Minds des PNAC, Robert Kagan. Die PNAC-Strategie im Ukrainekrieg erweist sich am deutlichsten im Kriegsziel „Die Ukraine muss siegen“ sowie „Russland muss offensivunfähig werden“. Dieses seit Ramstein durchgesetzte Ziel kann also als „SiegFrieden“ bezeichnet werden. Im ‚Hinterland‘, z. B. in Deutschland, entspricht ihm die Parole „schwere Waffen“.

Wer mit Händen redet zeigt an – wo es fehlt

Drittens schließlich das durch den Ukrainekrieg sehr gestärkte Projekt, die Anstrengungen zur Verhinderung einer Klimakatastrophe (symbolisch um das 1,5 Grad-Ziel der Pariser Klimakonferenz von 2015 herumkonstelliert) mit den ersten beiden Tendenzen möglichst eng zu integrieren. Dass dieses Ziel jedoch bis auf weiteres durch die Folgen des Sanktionsregimes ins groteske Gegenteil verkehrt ist, muss nicht ausgeführt werden. „Die Wirtschaft“, also die auf Profitabilität angewiesene kapitalistische Wachstumswirtschaft, fordert nicht bloß Subventionen aus Steuergeldern zum (sehr viel teureren) Ersatz der alten Lieferketten, sondern auch zur Kompensation ihrer verlorenen Rentabilitäten, also „Wumms“ und „Doppelwumms“, denen in den USA konkurrierende (!) „Trippelwummse“ entsprechen. All das aber ist ja „Protektionismus“ und „Staatseingriff in die Märkte“, ja geradezu „Autarkie“ und „Planwirtschaft“! Wir haben es, sollte diese Tendenz wirklich mittel- und langdauernd dominant werden, tatsächlich mit einer Art präventiver Kriegswirtschaft zu tun, die stets mit staatsmonopolistischen Dispositiven einhergeht.

Stand des Eskalationsprozesses

Der Stand des Eskalationsprozesses im „Winterkrieg“ lässt sich also etwa so resümieren:

Das militärische Teilsystem testet die Stufen knapp unterhalb der Atomschwelle aus. Test ist wörtlich zu verstehen: Beide Seiten erproben nicht zuletzt die digitalen Drohnenwaffen der Zukunft. Die USA streben dabei nach Möglichkeit ein Monopol der modernsten Waffen an. Die westliche „SiegFrieden“-Strategie testet dabei die „Optionen“ Russlands unterhalb der nuklearen.

Das wirtschaftliche Teilsystem testet den „Wirtschaftskrieg“ (Jasper von Altenbockum, FAZ 5.12.2022). Damit wird aber auch das politische System getestet: Jeder Kriegszustand ist gleichzeitig der höchste Grad von Notstand. Äußerer Krieg und inneres Ermächtigungsregime sind reziprok gekoppelt. Alle bisherigen Kriege, auch die in parlamentarisch-repräsentativen Demokratien, wurden notständisch und ermächtigungspolitisch geführt, was die weitgehende Suspension demokratischer Verfahren und Rechte zur Folge hatte (zu beobachten derzeit in der Ukraine, falls man sie nicht wie Russland als „autokratisch“, sondern als „demokratisch“ einordnen will).

Man sollte sich in diesem Kontext an die mit Scholzens »Zeitenwende« parallele ominöse Proklamation Stoltenbergs eines kriegerischen »New Normal« erinnern (nach Spiegel 26.2., S. 15). Die Corona-Dispositive könnten bereits als Blaupause für notständische Ermächtigungen bei weiterer Eskalation dienen.

Schließlich sind Waffen- und Wirtschaftskrieg seit jeher auf einen Diskurskrieg angewiesen, der die „Stimmung“ der Massen betrifft, bei der es sich im Falle eines längeren Kriegs vor allem um eine Stimmung des „Durchhaltens“ handelt. Die wichtigsten Instrumente des Diskurskriegs sind bekanntlich die hegemonialen Massenmedien. Deren wichtigste Diskurswaffe ist der binäre Reduktionismus, also die ‚Einordnung‘ aller Ereignisse, Ansichten, Personen, Äußerungen in ein binär reduziertes Sagbarkeits- und Sichtbarkeitsfeld, das durch radikale Polarisierung zwischen „Wir“ und „Die“ gekennzeichnet ist. Der diskursive ‚Zwischenraum‘ zwischen den Polen wird zu einer Zone des Tabus. Entsprechend wir eine Ansicht, die ‚weder-noch‘ impliziert, „letztendlich“ dem Gegenpol zuzuordnen.

Gegen den „Durchhalte“-Diskurs

Ein Beispiel für die Diskurswaffe des binären Reduktionismus: Die historische Analogie Putin = Hitler, mit Ukraine 2022 = Polen 1939 , (angebliches) ‚deutsches Zaudern‘ = Appeasement 1930er Jahre, Chamberlain/Daladier = Schröder/Steinmeier/Merkel. Es geht dabei diskursanalytisch sowohl um Kollektivsymbolik (Hitler und Putin als Allegorien des historisch Extrem-Bösen) wie äußerst schiefe Strukturanalogien (was hätte ein Hitler mit Atomwaffen strukturell bedeutet?). Jedenfalls funktioniert die Analogie heute binär reduktionistisch: Verhandlungen? Waffenstillstand? Alles = Appeasement, also = Hitler, also = Putinversteherei. Zu diesem binären Reduktionisms gehört auch die Nötigung zu einem polaren Freundbild: Wolodymyr Selenskyj als makellos humane Heldenfigur.

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass alle diskurstaktischen Mittel zu nutzen sind, um den vom binären Reduktionismus tabuierten Raum der Sag- und Sichtbarkeit ‚zwischen‘ den beiden Polen zu befreien. Das betrifft vor allem die Sagbarkeit der Forderung nach sofortigen Verhandlungen für einen Waffenstillstand. Angeblich kann man mit einem Kriegsverbrecher wie Putin nicht verhandeln. Das ist ein leicht durchschaubarer Vorwand zwecks Verlängerung des Kriegs im Sinne des PNAC-Konzepts. Aber je schlimmere Kriegsverbrechen sich ereignen, umso schneller muss doch ein Waffenstillstand kommen, der sie beendet. Juristische Verfolgung, Grenzfragen und Reparationen wären dabei auf spätere Friedensverhandlungen zu verschieben.

Was kann die Diskurstheorie zur Befreiung der tabuierten ‚Zwischenzone‘ beitragen? Besonders empfehlenswert sind die Mittel der Satire, wofür Karl Kraus im Ersten Weltkrieg das große Vorbild bleibt. Aber auch viele sogenannt spontane Witze zeigen, dass, wie Berthold Brecht formulierte, auch das Volk keineswegs „tümlich“ ist: momentan vor allem durch das Verfahren der satirischen Hyperbel, etwa der satirischen Überbereitschaft, mittels allerhand grotesker Ideen Energie zu sparen. Der binäre Reduktionismus versucht, deeskalierende Sagbarkeit dadurch zu zerstören, dass sich Putin angeblich über entsprechende Diskurse „ins Fäustchen lacht“: Verhandlungen? Appeasement! – da lacht sich Putin ins Fäustchen! Das lässt sich umdrehen, wie ich es in einer Baerbock-Satire versucht habe (in Heft 83 der kultuRRevolution).

Auf diese Weise können die ernsthaften Argumente für Verhandlungen durch Sabotage an der Durchhaltestimmung gestärkt werden. Das unterstützt durchaus auch den zivilgesellschaftlichen Widerstand in der Ukraine, soweit er auf das Entgegenkommen eines zivilgesellschaftlichen Widerstands in Russland mit dem Ziel des Sturzes der dortigen Kriegsregierung zielt (Information über die Massaker, Stimulation von Desertion usw.). Die „SiegFrieden“-Strategie steht all dem diametral entgegen und stärkt den nationalistischen Bellizismus und damit auch den „Durchhalte“-Diskurs aller Seiten genau wie 1914.

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Grafikquellen     :

Oben       —     In Leo Tolstois Roman Krieg und Frieden beschreibt er die Artilleriebatterie des fiktiven Hauptmanns Tuschin in der Schlacht bei Schöngrabern, es ist unklar, wie eng Tolstois Version der Schlacht mit dem historischen Geschehen zusammenhängt.

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Fordern ohne zu Liefern ?

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Januar 2023

Deutschland zum Jahreswechsel – von Böllern bedroht?

 

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      : Renate Dillmann

Forderung nach härteren Strafen und besserer Ausrüstung der Polizei. Das fängt ja gut an. Während die Berichterstatter der Nation im Rest der Welt Silvesterfeiern mit „berauschendem Feuerwerk“, ausgelassener Stimmung am Big Ben, der Copa Cabana und New York sehen, macht der Blick ins eigene Land ihnen schon wieder Sorgen.

So berichtet die Tagesschau am Neujahrstag gleich in ihrer ersten Meldung, dass Ordnungskräfte, Rettungsdienste, Feuerwehren und Straßenreinigung es zur Jahreswende „mal wieder“ und zugleich „so schwer wie noch nie“ hatten!

Als ob die Staatsmacht nicht schon 364 Tage und Nächte genug zu tun hätte im endlosen Kampf gegen das Böse, gegen Extremisten, Terroristen, Spione, Islamisten, Faschisten, Kommunisten, Anarchisten, Chaoten, Clans, Kriminelle, Illegale, Irre im Inland und beim Export ganz anderer Böller und Raketen in alle Welt (zur Bewahrung von Frieden und Freiheit natürlich) nun auch noch das.

Das Volk böllert am 365. Tag – ohne heißen Herbst wohlgemerkt und bei 15 Grad plus zu Silvester – trotz lokaler Feuerwerks-Verbote und Klimawandel wild drauf los! Schlimmer noch: Die „Ordnungskräfte“, medial verkörpert durch die Feuerwehr, nicht durch die Polizei, berichten von zahlreichen Angriffen auf die „Helfer“.

Zwar fehlt es an jeglichen Beweisen für die unsagbare Brutalität, die ansonsten stets zumindest durch Amateuraufnahmen belegt werden kann (die „Tagesschau“ suggeriert durch den Schnitt ihrer Bilder tatsächlich, dass Feuerwehr beim Löschen eines Hausbrands behindert wurde, während die „junge Welt“ von „brennenden Mülltonnen“ berichtet), aber das Urteil steht fest: Grundlos und wider aller Vernunft greifen in deutschen Großstädten unbestimmte Subjekte jene Kräfte an, die ihnen doch nur helfen wollen!

Eine Erfindung der Presse? Oder Propaganda der zunehmend von AfD und Nazis unterwanderten Berufsvereinigungen von Polizei und insbesondere der Feuerwehr? Mag sein. Und wenn nicht?…

Dann hätte eine um Aufklärung bemühte Presse zumindest die Aufgabe zu ermitteln, wie es zu dieser vermeintlich irrationalen Wut auf die Ordnungskräfte kommt. Anhaltspunkte gäbe es ja:

1. Eine zunehmend grosse Zahl angestammter, sowie zugezogener und geflüchteter, in jedem Fall aber verachteter armer Teufel, die sich sinn- und zwecklos an einer Ordnung (ab)arbeiten, die ihnen kein materielles Zurechtkommen, keine Familie, keine gesellschaftliche Anerkennung und kaum eine gesellige Zusammenkunft gewährt.

2. Die erzwungene Ergebenheit braver Knechte gegenüber den „Sachzwängen“ einer Nation der steigenden Preise, Renditen und Ansprüche gegen jene, die das Privileg eines Arbeitsplatzes im Menschenrechts Paradies Deutschland genießen.

3. Die kleine kompensatorische Hoffnung, wenigstens nach vollbrachter Dienstbarkeit am Ende des Jahres (ziemlich grund- und sinnlos übrigens!) einmal ein Recht auf Krach, ein Recht auf Ausgelassenheit und ein Recht auf die Straße zu haben, in der man sonst als Paketzusteller, Bettler, Putzfrau, Müllmann und Taugenichts existiert und wahrgenommen wird. Und in der einen die Polizei auch am Silvesterabend als Problem einstuft und vorsorglich in Mannschaftsstärke aufmarschiert.

4. Vielleicht auch die „Testosteron gesteuerten Party People“, die die Gelegenheit nutzen, einmal im Beisein des weiblichen Publikums den eigenen Mut und die Kampfbereitschaft jenseits allen Klassenbewusstseins unter Beweis zu stellen…

All das böte reichlich Stoff, nachzufragen und über Ursachen nachzudenken, wenn man der vermeintlich grundlosen Aggressivität (so sie denn überhaupt so wie behauptet stattgefunden hat) auf die Spur kommen wollte.

Die Presse lässt sich allerdings nicht beirren: Es braucht keine Aufklärung über die Fakten und schon gleich keine (soziologische) Ursachenanalyse für die einseitige und ungeprüfte Beschuldigung. Was die Nation stattdessen braucht, ist klar: Der Rechtsstaat kann „solche Formen der Verrohung von Gewalt nicht hinnehmen“ (Nancy Faeser, Tagesschau vom 2.1.): Die Konsequenzen heißen härtere Strafen, bessere Ausrüstung der Polizei (nicht der Rettungsdienste – oder kriegen die Sanitäter jetzt mehr Geld, kürzere Einsatzzeiten und bessere Ausrüstung?!) und überhaupt mehr innere Sicherheit.

Das BILD von der „notorisch bedrohten Nation“ gehört bekanntlich zu den alltäglichen Kontinuitäten der öffentlichen Berichterstattung vor und nach 1945 im Reich der Dichter und Henker, also mit und ohne Gleichschaltung ihrer Presseorgane. Das gilt für den letzten Tag des alten Jahres wie den Start ins neue…

Na dann, Prosit Neujahr!

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —   Feuerwerksverkauf in Berlin-Marzahn

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Der Maidan in Kiew 2014

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Januar 2023

«Ohne Hilfe der USA hätte es keinen Staatsstreich gegeben»

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Red. /   Kein westliches Land hätte einen solchen Gewalt-Aufstand wie auf dem Maidan toleriert, sagte der damalige Ministerpräsident Asarow.

upg. Als Grund für die wochenlangen Unruhen im Jahr 2013/14 auf dem Maidan in Kiew wird immer wieder folgendes Narrativ erzählt: Der damalige Präsident Janukowitsch habe sich unerwartet geweigert, das mit der EU ausgehandelte Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen. Das habe eine spontane Protestbewegung ausgelöst. Als sich die Lage zuspitzte, hätte sich dann das westliche Ausland eingemischt, um die demokratischen Kräfte zu unterstützen.
Premierminister war damals Nikolai Asarow. Er war vier Jahre lang bis zu seinem Rücktritt Ende Januar 2014
 Regierungschef – und damit der am längsten regierende Premierminister der unabhängigen Ukraine. Asarow widerspricht dem westlichen Narrativ. Er lebt heute in Moskau und erarbeitet in einem «Komitee zur Rettung der Ukraine», das in Opposition zur derzeitigen Regierung in Kiew steht, politische Vorschläge für die Zukunft der Ukraine. Wir dokumentieren im Folgenden ein Interview, das der Journalist Stefan Korinth im November 2016 mit Asarow über den genauen Hergang aus dessen Sicht führte.

Herr Asarow, wir sprechen heute [2016], zum dritten Jahrestag des Maidanbeginns. Auslöser der Proteste damals war ja die Ablehnung des Assoziierungsabkommens durch Sie und Präsident Viktor Janukowitsch. In deutschen Medien hiess es damals immer, Sie hätten das Abkommen überraschend abgelehnt. In den Medien wurden auch selten Gründe genannt. Könnten Sie für das deutsche Publikum die Ablehnungsgründe nochmal genau erläutern?

Nikolai Asarow: In den westlichen Medien ist diese Frage sehr wenig objektiv betrachtet worden. Bitte beachten Sie, dass das Assoziierungsabkommen bereits 2012 paraphiert worden war. Das heisst, die Vereinbarung war im Prinzip fertig, zwei Jahre, bevor der Maidan passierte. Daraus folgt die einfache Frage: Warum wurde das Abkommen 2012 oder 2013 nicht unterschrieben, wenn es denn fertig war? Der Grund dafür ist, dass die Europäische Kommission die Unterzeichnung des Abkommens von der Freilassung Julia Timoschenkos abhängig gemacht hat. Und die ukrainische Seite war unzufrieden mit den im Abkommen festgehaltenen Ergebnissen zum Freihandel.

Das Freihandelsabkommen zwischen der Ukraine und der EU sollte im Prinzip zeitgleich mit einem Freihandelsabkommens zwischen der Ukraine und Russland in Kraft treten. Das hätte bedeutet, dass die ukrainischen Grenzen auf beiden Seiten offen gewesen wären für Waren, Dienstleistungen und Kapital. Das führte zu einem Konflikt zwischen Russland, der Ukraine und der EU, mit dessen Lösung wir uns beschäftigen mussten.

Diese Verhandlungen haben sich sehr, sehr schwierig gestaltet. Sie müssen sich das so vorstellen, dass wir die Fragen am Anfang jeweils bilateral besprochen haben. Das heisst, wir sind nach Brüssel gefahren, haben dort gesprochen. Danach sind wir nach Moskau gefahren und haben dort gesprochen. Und nachdem diese Gespräche nichts gebracht haben, weil auf beiden Seiten keine Einigung erzielbar war, habe ich den Vorschlag gemacht: «Egal wo, aber lasst uns zu dritt zusammensitzen und das klären.»

«Die EU hat dreiseitige Gespräche komplett abgelehnt»

Und erst im September 2013 hat Russland solchen trilateralen Gesprächen überhaupt zugestimmt. Obwohl es schon nicht einfach war, Russland zu einem dreiseitigen Treffen zu bewegen, hat es die EU aber komplett abgelehnt, und gesagt: «Das ist kein Thema, was einem dreiseitigen Gespräch zusteht. Das ist eine Sache nur zwischen der Ukraine und Europa!»

In dieser Zeit hat sich ein Handelsbilanzdefizit von elf Milliarden im Handel zwischen der Ukraine und Europa ergeben. Das heisst die ukrainischen Importe waren um elf Milliarden höher als die Exporte nach Europa. Uns war klar, dass wir in dem Moment, wo wir die Grenzen für Waren und Dienstleistungen öffnen, sofort mit der hohen wirtschaftlichen Entwicklung der westlichen Unternehmen konkurrieren müssen.

Deswegen haben wir uns an die EU gewendet und darum gebeten, Unterstützung für die Modernisierung unserer Wirtschaft zu bekommen. Damit wir auf mittlere Sicht zumindest konkurrenzfähig im Freihandel mit Europa werden können. Und wir hatten Hoffnung, dass diese Frage positiv beschieden wird. Aber an dieser Stelle gab es eben keine Einsicht und auch keine Unterstützung.

Ich würde gern noch zwei, drei Gedanken zum Inhalt dieses Assoziierungsabkommens anbringen.

Bitte

Das, was wir in Wahrheit nach Europa exportieren können, sind zum grossen Teil Agrarprodukte. Aber ausgerechnet diese Produktkategorien wollte die EU sehr limitieren durch Einfuhrquoten. Ein Beispiel: Als wir die Gespräche mit Europa begonnen haben, war die Quote für die Einfuhr von Getreide in die EU 20’000 Tonnen. Im Verlauf der Gespräche habe ich es geschafft, dass wir die Quote zumindest auf 200’000 Tonnen erhöhen konnten. Aber die Ukraine produziert mehr als 60’000’000 Tonnen. Und das potenzielle Volumen, das die Ukraine exportieren könnte, sind 30 ’000’000 Tonnen. Die Frage, die sich für mich natürlich gestellt hat, ist: «Was ist das für ein Freihandelsabkommen, wenn gerade das, was wir exportieren können, sich nicht exportieren lässt, weil man es durch Quoten sehr stark begrenzt?»

Oder wir hätten mehr als 1’000’000 Tonnen Fleisch in die EU liefern können. Und man hat uns eine Quote von 20’000 Tonnen zugestanden. Wir wären auch in der Lage gewesen, ein grosses Volumen an Stahl zu exportieren. Die Produkte des Maschinenbaus, die wir unter Umständen auch hätten exportieren können, die waren natürlich limitiert und reglementiert durch die technischen Normen der EU, die nicht identisch waren mit denen der Ukraine.

Prime Minister of the Russian Federation Dmitry Medvedev and Prime Minister of the Ukraine Nikolay Azarov

Aus diesen ganzen Punkten heraus hat sich Ende 2013 die Meinung manifestiert, dass der ökonomische Teil des Assoziierungsabkommens in der derzeitigen Form für die Ukraine nicht vorteilhaft gewesen ist. Aber ich unterstreiche nochmal: Alle Gespräche sowohl mit der EU als auch mit Russland wurden vertraulich geführt. Nichts davon ist an die Medien durchgesickert. Wir haben darauf gehofft, irgendwie einen Kompromiss zu finden.

Aber im November 2013: Was hatten wir damals vom Gipfeltreffen mit der EU? Die finanzielle Hilfe für die Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft wurde abgelehnt. Die Erhöhung der Quoten wurde abgelehnt. Ein Überbrückungskredit wurde ebenfalls abgelehnt. Daher hat sich für uns die Frage gestellt, die Unterschrift zu verschieben, bis wir die eben benannten Probleme mit einem Kompromiss gelöst haben.

Diesen Moment hat man zur Vorbereitung eines Staatsstreichs genutzt. Auf der diplomatischen Ebene hat Barroso [damals EU-Kommissionspräsident] sehr klar gesagt: «Wenn ihr das nicht unterschreibt, wird es ein anderer Präsident und ein anderer Premierminister unterschreiben.» Ich glaube, dass diese Aussage sehr deutlich unterstreicht, welches Machtverhältnis zwischen der EU und der Ukraine damals existierte.

Aufarbeiten der Geschichte

upg. Ein Krieg darf nicht davon abhalten, die Vorgeschichte zu analysieren. Die Nato unter Führung der USA war für den 20-jährigen Angriffskrieg gegen Afghanistan verantwortlich, der eine Viertel Million Tote forderte. Präsident George W. Bush und seine Koalition der Willigen waren für den Angriffskrieg gegen den Irak, der über eine halbe Million Todesopfer forderte, verantwortlich. Wenn Historiker die Vorgeschichten analysieren und sich fragen, ob diese Kriege vielleicht hätten verhindert werden können, stellen sie damit die Verantwortung der Kriegsführenden nicht in Frage. Auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine lange Vorgeschichte. Über sie gilt es – aufgrund der heutigen Quellenlage – ebenfalls zu informieren, ohne die Verantwortung Russlands für den Krieg in Frage zu stellen.

Bevor wir zum Maidan kommen, wollte ich noch kurz beim Abkommen bleiben und einmal genauer zu den Interessen nachfragen. Sie haben gerade geschildert, dass die wirtschaftlichen Aspekte des Vertrages nicht so vorteilhaft für die Ukraine waren. Aber was waren denn dann die Vorteile, die sie sich die ukrainische Staatsführung von diesem Vertrag erhofft hat? Denn auch eine Beitrittsperspektive enthielt das Abkommen ja explizit nicht.

Das stimmt. Wir haben eigentlich über die gesamten vier Jahre lang immer wieder die Frage über eine langfristige EU-Mitgliedschaft der Ukraine auf die Tagesordnung gesetzt. Das wurde aber kategorisch abgelehnt. Und es ist richtig, im Abkommen selbst gibt es keinerlei Hinweis auf eine langfristige Beitrittsperspektive.

Aber was haben wir trotzdem als Vorteile gesehen? Erstens habe ich sehr viele Chancen gesehen, die Assoziierung mit der EU zur Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft zu verwenden. Wir wollten im Prinzip über das Abkommen europäische Investitionen ins Land holen und mit Hochtechnologie unsere Wirtschaft modernisieren. Wir sind davon ausgegangen, dass der Wettbewerb zwischen ukrainischen und europäischen Unternehmen mittel- und langfristig zu positiven Strukturveränderungen in der ukrainischen Wirtschaft führt.

Aber der wesentliche Teil des Assoziierungsabkommens war auf Rechtssicherheit und die Schaffung von Rahmenbedingungen für die Wirtschaft ausgerichtet. Insbesondere in der Frage der Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit haben wir grosse Hoffnungen auf dieses Abkommen gesetzt, besonders die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit von der Exekutive um- und durchzusetzen. Die Umsetzung aller europäischen Normen angefangen von der Meinungsfreiheit über Menschenrechte mit dem Ziel einer demokratischen Gesellschaft.

Also wir haben in der Assoziierung mit der EU sowohl die Möglichkeit gesehen, uns gesellschaftspolitisch weiterzubilden und an europäische Normen anzunähern als auch das Potenzial zur wirtschaftlichen Modernisierung. Leider haben wir uns da tiefgreifend geirrt.

«Ich habe immer gesagt: Die Ukraine ist ein neutraler Staat»

Welche Interessen hat die EU denn Ihrer Meinung nach mit dem Vertrag verfolgt?

Heute ist das vollkommen klar. Das Hauptziel der europäischen Politiker war die Umsetzung amerikanischer Vorgaben, um alles zu unternehmen, dass die Ukraine geopolitisch nicht in die euro-asiatische Zollunion Russland-Kasachstan-Weissrussland eintritt. Und insbesondere die Verbindung zwischen der Ukraine und Russland zu schwächen. Und damit auch indirekt einen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland zu begründen.

Ich habe auf meinen Treffen mit den europäischen Führungsspitzen oft die Frage gestellt: «Warum braucht ihr das?» Ich habe nie eine Antwort bekommen. Ich habe immer gesagt: Die Ukraine ist ein neutraler Staat. Ein Staat, und das habe ich immer zum Ausdruck gebracht, der sehr gute Beziehungen haben sollte zu Europa genauso wie zu Russland. Und wir hatten weder das Ziel in die Nato einzutreten noch in einen Militärpakt mit anderen Staaten gegen Russland.

Vor uns stand die riesengrosse Aufgabe, die Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft voranzutreiben und deshalb sollte die politische Seite auch eigentlich eher im Hintergrund sein. Ich bin heute nach den vergangenen drei Jahren, in denen wir real die Entwicklungen haben mitverfolgen können, aber umso mehr überzeugt, dass besonders die Aussenpolitik der EU alles andere als unabhängig gewesen ist.

Sie haben ja gerade schon angedeutet, dass es militärische Regelungen in dem Abkommen gab …

… nein, es gab keine Paragrafen für militärische Zusammenarbeit.

Es ist aber in mehreren Artikeln des Vertrages [Artikel 7, 10 und 13] die Rede von «gemeinsamer Sicherheits- und Verteidigungspolitik», von gemeinsamer Terrorabwehr und militärischer Zusammenarbeit mit der EU.

Das sind allgemeine Themen. Terrorismusbekämpfung – ja. Aber militärische Zusammenarbeit im klassischen Sinne – nein.

Also es hat definitiv keine militär-politischen Absichten in dem Abkommen gegeben?

Nein.

«Diese Leute haben die Wirtschaft komplett zugrunde gerichtet»

In Ihrem Buch «Die Wahrheit über den Staatsstreich* schreiben Sie, dass Sie «die Ukraine nach Europa führen» wollten. Nun hiess es im Westen immer, Sie seien «pro-russisch». Wie passt das denn zusammen?

Ich war nie ein pro-russischer Politiker, wenn man «pro-russisch» so definiert, dass ich irgendwelche Vorgaben aus Russland umgesetzt habe. Heute sagt man, dass die, die jetzt an der Macht sind, «pro-westlich»-orientierte Politiker sind. Und die, die weggeräumt worden sind, hat man als «pro-russisch» dargestellt. Das ist grundfalsch.

Diejenigen, die jetzt an der Macht sind, führen die Ukraine sicherlich nicht nach Europa, sondern werfen sie viele Jahre in ihrer Entwicklung zurück. Wenn nach Europa, dann in die 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Diese Leute haben die Wirtschaft komplett zugrunde gerichtet. Während meiner Zeit als Premierminister lag das durchschnittliche Einkommen bei 500 Dollar, die durchschnittliche Rente bei 200 Dollar und die Preise für Grundnahrungsmittel und Dienstleistungen waren fünf- bis sechsmal niedriger als in Europa. Das heisst die Kaufkraft der 500-Dollar-Einkommen muss man, um sie mit Europa zu vergleichen, mit fünf multiplizieren.

Und heute ist das Durchschnittseinkommen auf 120 Dollar und die Renten auf 30 bis 40 Dollar gesunken. Die Preise aber sind drei- bis viermal höher als früher. Zeigen Sie mir nur ein europäisches Land, in dem vergleichbar niedrige Einkommensverhältnisse herrschen. In welchen Ländern sind rechtsradikale Parteien an der Macht und wo herrscht eine derartige Medienzensur vor wie in der heutigen Ukraine? In welchen europäischen Ländern sind Bücher und Filme verboten? Die, die heute an der Macht sind, führen definitiv keine pro-westliche Politik. Es sind, einfach ausgedrückt, Diebe und Gauner.

Ich war immer beeindruckt vom Lebensniveau in westlichen europäischen Ländern. Deshalb habe ich alles unternommen, um die Ukraine näher an westliche Standards und an das westliche Lebensniveau heranzuführen. Ich habe zum Beispiel während meiner Amtszeit erstmals in der Ukraine eingeführt, dass alle Pharmazieprodukte der GMP entsprechen müssen – der Good Manufacturing Practice, dem europäischen Standard für pharmazeutische Produkte. Ich hatte auch vor, das in allen anderen Zweigen der Wirtschaft einzuführen.

Aber man muss im Hintergrund verstehen, dass Russland trotzdem unser grösster Wirtschafts- und Handelspartner war. Deswegen war es für uns existenziell, gute nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland zu pflegen. Russland hat uns grosse Mengen an Öl, Gas und andere Energieträger zur Verfügung gestellt. Und historisch gesehen, haben wir mit Russland eine sehr stark gemeinschaftlich-integrierte Wirtschaft. Über die gemeinsamen Energieleitungen hat uns Russland in den kalten Wintern grosse Mengen an Energie zur Verfügung gestellt. Deswegen war es strategische Aufgabe jeder unserer Regierungen, gute nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland zu pflegen. Und darin besteht auch die zum Ausdruck gebrachte «pro-russische» Haltung unserer Regierung.

Was war denn aus Ihrer Sicht Russlands Interesse in diesen Dreier-Verhandlungen gewesen, wenn es dazu gekommen wäre?

Die Interessen Russlands sind in dieser Hinsicht einfach und transparent. Durch die Ukraine gehen die Erdöl- und Erdgasleitungen nach Europa. Über diese deckte Westeuropa damals mehr als 30 Prozent seines Gasbedarfs. Durch die Ukraine gehen auch die Hauptinfrastrukturträger Russlands nach Europa: Schiene, Strasse, Telekommunikation. Die wichtigsten eisfreien Häfen liegen am Schwarzen Meer.

Die Ukraine war für Russland das Haupttransitland. Die Ukraine war auch der Hauptabsatzmarkt russischer Produkte. Wir haben in Russland Waren im Wert von mehr als 30 Milliarden Dollar eingekauft. Deswegen war für Russland wichtig, dass die Ukraine ein freundschaftlich gesinntes und stabiles Land bleibt. Und das ist auch wichtig für die gemeinsamen Beziehungen zwischen der Ukraine Europa und Russland.

«Ab dieser Nacht hat der Staatsstreich begonnen»

… Dann kommen wir zum Maidan. Sie haben ja damals im Regierungsviertel das alles aus nächster Nähe mitbekommen. Wie haben Sie denn persönlich die ersten Tage und Wochen des Maidan erlebt? War da schon abzusehen, dass das was Grösseres wird?

Die Demonstrationen haben am 21. November 2013 angefangen. Das waren im Prinzip friedliche und relativ kleine Demonstrationen. An manchen Tagen haben sich da bis zu tausend Leute zusammengefunden und hauptsächlich waren das Studenten. Diese Situation war ungefähr bis zum 28. November so, also bis zu dem Moment, als Präsident Janukowitsch am 28. November in Vilnius abgelehnt hat, das Assoziierungsabkommen zu unterschreiben. An diesem Tag hat das Aktionskomitee der Studenten offiziell die Entscheidung getroffen, die Proteste zu beenden.

In der Nacht vom 29. auf den 30. November sind nicht mehr als 50 bis 100 Demonstranten auf dem Platz der Unabhängigkeit gewesen. Wobei der grössere Teil derjenigen schon keine Studenten mehr waren, sondern ältere Zugereiste aus der Westukraine. Und genau ab dieser Nacht hat der Plan zum Staatsstreich begonnen.

Stellen Sie sich einfache Fragen: Wie konnten auf dem Platz der Unabhängigkeit um 4 Uhr nachts mehr als zehn Kamerateams nationaler und internationaler Medien, insbesondere polnischer Medien, sein? Das heisst, sie haben gewusst, da wird etwas passieren. Wenn sie um 4 Uhr morgens Kameras bereithalten und aufbauen, macht man das normalerweise nur, wenn man einen guten Hinweis darauf hat, dass irgendwas passiert.

Ungefähr um halb 5 Uhr morgens kamen aus Richtung Hotel Ukraina rund 100 Leute zum Maidan hinunter – Vertreter des radikalen Rechten Sektors, bewaffnet mit Eisenstangen und Schlagstöcken. Und die haben angefangen, auf die wenigen Polizisten auf dem Platz einzuschlagen. Auf dem Platz lief ständig eine Kamera der Polizei, deshalb ist das aufgenommen worden. Ich habe diese Aufzeichnungen auch selbst gesehen. Diese Kämpfer des Rechten Sektors gingen mit glühenden Stöcken, die sie zuvor in den brennenden Mülltonnen angesengt hatten, auf die Polizisten los und versuchten, ihnen diese in die Gesichter zu stechen. Die Polizisten haben Verstärkung angefordert. Und es ist ein Spezialkommando der Berkut gekommen. Und die haben angefangen, diese 100 Kämpfer auseinanderzutreiben. In dem Zusammenhang sind auch die vertrieben worden, die ursprünglich im Zeltlager waren. In diesem Moment haben alle ukrainischen und europäischen TV-Sender angefangen zu filmen und zeigten diese Sequenz dann alle halbe Stunde im Fernsehen.

Und dann sind natürlich Bilder um die Welt gegangen, von Leuten mit eingeschlagener Nase und Blut im Gesicht, um in diesem Moment eine Stimmung zu erzeugen. Es ist alles so dargestellt worden, wie ein abscheulicher und zu verurteilender Gewaltexzess der Polizisten gegen Demonstranten. Und niemand hat die Bilder von den Provokateuren gezeigt, die diesen Konflikt begonnen haben.

In den Medien wurden Aufrufe verbreitet, zum Maidan zu kommen und die Gebäude des Präsidenten und weitere Regierungsgebäude zu besetzen. In diesem Moment hat der Prozess der bewaffneten Machtergreifung angefangen. Die Polizisten waren nicht mit Schusswaffen ausgerüstet, deshalb ist es den radikalen Demonstranten gelungen, alle wesentlichen Gebäude zu blockieren, wie das Rathaus und die Präsidentenadministration. Besetzt war auch das Gewerkschaftsgebäude. Trotz dieser klaren Verletzung aller Verfassungsnormen und Gesetze hat Präsident Janukowitsch keine Massnahmen ergriffen, diese Demonstranten gewaltsam auseinanderzutreiben.

In diesen Tagen haben die radikalen Kräfte am Maidan Barrikaden aufgebaut. Diese Kämpfer haben auch die friedlichen Demonstranten benutzt, um aus deren Schutz heraus mit Molotow-Cocktails und Steinen auf Polizisten zu werfen. Im Rathaus war ein Verhörzentrum, wohin gefangengenommene Sicherheitskräfte gebracht wurden oder auch Leute, die sie als Spione betrachtet haben. Es war völlig offensichtlich, dass ein Szenario der Machtübernahme in Gang gesetzt worden war.

Ich hatte die Botschafter der EU-Länder und den amerikanischen Botschafter eingeladen. Ich konnte sie nicht ins Regierungsgebäude einladen, denn es war blockiert von den Maidankämpfern. Deswegen hat dieses Treffen im Aussenministerium stattgefunden.

Ich habe ihnen Bilder gezeigt, insbesondere von diesen Provokateuren. Ich habe Beispiele gezeigt und gesagt: «Meine Herren Botschafter, Ihr habt einen grossen Einfluss auf Eure Länder und auf die militanten Demonstranten. Ruft sie zur Ordnung auf! Wenn sie sich nicht friedlich verhalten, wird der Staat gezwungen sein, sie mit Polizeigewalt zur Ordnung zu rufen. Die gesamte Ukraine arbeitet ruhig und im Zentrum Kiews gibt es eine Gruppe radikaler Putschisten, die versuchen, die Macht zu übernehmen.» Als Antwort der Botschafter: Schweigen.

Ich habe mich damals auch an den deutschen Botschafter gewandt. «Herr Botschafter, können Sie sich vorstellen, wenn in Deutschland eine Gruppe von militanten Demonstranten das Kanzleramt blockieren und besetzen würde? Welche Massnahmen würde in Deutschland die Polizei unternehmen?» Darauf hat er gelächelt, und gesagt: «Das ist in Deutschland unmöglich, weil Deutschland ein demokratisches Land ist.»

Ich habe das als Verhöhnung empfunden und als Zynismus. Und das habe ich ihm auch so gesagt. «Ihr denkt, in der Ukraine darf man sowas machen, aber zu Hause nicht. Man kann in der Ukraine das Regierungsgebäude besetzen. Man kann in der Ukraine Polizisten umbringen, Molotow-Cocktails werfen und zusehen, wie Leute wie Fackeln abbrennen. Und ihr glaubt, dass das alles demokratisch richtig ist.» Ich habe damals verstanden, dass Hilfe vonseiten der europäischen Botschafter und des amerikanischen Botschafters sicher nicht zu erwarten ist.

Ausserdem hat unser Geheimdienst mir jeden Tag berichtet, dass die Führer des Maidan ständig zu Konsultationen in der amerikanischen Botschaft waren. Das ist im Prinzip auch offen zugegeben worden und hat auch Obama bestätigt. Nach Kiew kamen auch Frau Nuland [Assistant Secretary of State im US-Aussenministerium] und der Chef des State Departements. Ich habe mich mit Victoria Nuland getroffen und ihr die Situation geschildert. Sie hat sie besser gekannt als ich. Und sie hat versucht, mich zu überzeugen, dass die Ukraine eine Regierung der nationalen Einheit braucht.

Ich habe ihr geantwortet, dass es in der Ukraine eine Regierung gibt, die nach der Verfassung und den Gesetzen demokratisch gewählt ist. Eine Woche vor diesem Treffen hatten ich und mein Kabinett noch das Vertrauen des Parlaments ausgesprochen bekommen, nachdem ich ein Misstrauensvotum gestellt hatte. Was geht es Frau Nuland überhaupt an, welche Regierung es in der Ukraine gibt? Wir erzählen ihnen auch nicht, was es für einen Regierung in den USA geben soll. Welche Veranlassung haben sie, uns zu erklären, welche Regierung wir brauchen?

Den gesamten Dezember über sind verschiedenste Vertreter westlicher Länder nach Kiew gereist. Da waren Kaczyński, McCainWesterwelle und viele andere. Alle diese Vertreter haben auf dem Maidan gesagt, dass sie die Demonstranten unterstützen. Nuland hat gesagt, dass der Erfolg der Demokratie, so wie sie diesen Staatsstreich genannt hat, die USA fünf Milliarden Dollar gekostet hat. Aber was hat es die Ukraine gekostet? Hunderte Milliarden, 50’000 Tote und viele bittere Schicksale.

«Vonseiten der westlichen Diplomaten gab es das permanente Mantra, unter keinen Umständen Gewalt anzuwenden gegen die Demonstranten»

Ich wollte noch kurz beim Maidan bleiben. Präsident Janukowitsch hätte also selbst entscheiden können, den Maidan mit Gewalt zu räumen? Oder hätte das der Entscheidung eines Polizeiführers bedurft?

Nach der Verfassung der Ukraine unterstehen alle Polizei- und Militärstrukturen dem Präsidenten. Die Regierung befasst sich mit sozialen und ökonomischen Fragen. Aber kein Vertreter der Regierung, des Parlaments oder der Präsident selbst hat den Auftrag zur gewaltsamen Räumung des Maidan gegeben. Die Polizisten hatten keine Schusswaffen, sie hatten Schlagstöcke, Schilder und manche hatten Reizgas.

Jetzt haben Sie ja schon erklärt, was Sie den westlichen Vertretern während des Maidan gesagt haben. Was haben die denn Ihnen gegenüber für Druck gemacht?

Vonseiten der westlichen Diplomaten gab es das permanente Mantra, unter keinen Umständen Gewalt anzuwenden gegen die Demonstranten. Ich weiss, dass Herr Biden [damals US-Vize-Präsident] Janukowitsch offen bedroht hat: Wenn er eine gewaltsame Auflösung der Demonstration durchführt, wird er eine persona non grata in Europa und in der Welt. Und gegen ihn würden Sanktionen beschlossen.

Das hat bei Janukowitsch zu einer Situation der Unentschlossenheit geführt. Und die Putschisten merkten, dass sie nicht bestraft wurden. Janukowitsch hat drei Monate lang mit ihnen Gespräche geführt. Jeden Tag haben sie mehrere Stunden gesessen, um Bedingungen für einen Kompromiss auszuhandeln. Und jedes Mal haben die Demonstranten die Versprechungen, die sie abgegeben haben, nicht eingehalten.

Ein Beispiel: Janukowitsch hatte mit den Demonstranten ausgehandelt, dass das Ministerium für Landwirtschaft geräumt werden soll. Das haben sie zugesagt, aber nicht gemacht. Er hat mit ihnen besprochen, dass sie die Blockade des Regierungsgebäudes aufheben sollen. Das haben sie versprochen, aber auch nicht eingehalten. Dasselbe gilt für das Rathaus. Und so weiter.

«Es war keine Revolution, sondern ein Staatsstreich»

In der Ukraine heisst es heute, der Maidan war eine «Revolution der Würde». Was halten Sie davon? Was war der Maidan?

Es ist völlig offensichtlich, dass es ein Staatsstreich gewesen ist. Es ist aber auch augenscheinlich, dass man einem Staatsstreich einen gewissen demokratischen Anschein geben muss. Und genau deshalb hat man den Maidan als Revolution dargestellt.

Aber wie kann das eine Revolution sein, wenn im ganzen Land eine normale Situation herrschte und nur im Zentrum Kiews sowas passierte? Wenn Sie hundert Meter weggegangen sind von diesen Maidanbarrikaden, lief das Leben in Kiew zu dieser Zeit ganz normal. Das zeigt, dass in dem ganzen Maidanprozess ein minimaler Anteil der ukrainischen Bevölkerung involviert war. Im Wesentlichen einige tausend bewaffnete Kämpfer und Aktivisten.

Es wäre überhaupt kein Problem gewesen, mit denen fertig zu werden, wenn Janukowitsch die Vollmachten genutzt hätte, die ihm als Präsidenten nach der Verfassung zustehen. Der Versuch der bewaffneten Machtübernahme ist ein Verbrechen. Die Tötung von Polizisten ist auch ein Verbrechen, das bewaffnete Besetzen von Gebäuden ist genauso ein Delikt. Da entsteht eine einfache Frage: Warum hat der gesamte Sicherheitsapparat des Landes drei Monate lang nicht auf diese Verbrechen reagiert?

Heute gibt es schon eine grosse Anzahl an Beweisen. Es gibt heute sogar schon ein Geständnis von einem radikalen Aktivisten, dass er mit zwei Schüssen zwei Polizisten getötet hat («Maidan: Ich schoss ihnen ins Genick»). Es gibt auch Dokumentationen von westlichen Sendern. Es ist heute schon dokumentiert, woher die Sniper gekommen sind, wer sie gewesen sind und wer die friedlichen Demonstranten erschossen hat. Und alle diese Verbrechen sind nur begangen worden, um ein Ziel durchzusetzen: die Machtübernahme. Deswegen ist es völlig offensichtlich, dass es keine Revolution war, sondern ein Staatsstreich.

Welche Informationen haben Sie denn über die Sniper?

Zum Beispiel Herr Pashinsky, das ist einer der radikalen Putschisten, ist damals festgehalten worden beim Wegbringen von Scharfschützengewehren vom Maidan. Einer der Berater des derzeitigen Innenministers Awakow hat geholfen, einen der Scharfschützen zu befreien, der auf dem Maidan festgenommen wurde. Sie haben von diesen Festnahmen gewusst. Sie haben diese Sniper befreit. Die Sniper sind verschwunden mit unbekanntem Aufenthalt.

Die Vertreter von Staatsanwaltschaft und Polizei haben es innerhalb von drei Jahren nicht geschafft, nur einen einzigen Zeugen zu finden oder sonst irgendwie zu beweisen, dass die Scharfschützen aus den Strukturen Janukowitschs oder Berkuts gewesen wären. Oder in irgendeiner Weise zu belegen, dass der damalige Innenminister Sachartschenko oder Janukowitsch den Auftrag für die Sniper gegeben hätten. Ich unterstreiche: Innerhalb von drei Jahren keinerlei Beweise.

Dafür gibt es bei uns eine grosse Anzahl von Beweisen, dass insbesondere Jazenjuk, Poroschenko, Pashinsky und Turtschinow in die Organisation dieser bewaffneten Auseinandersetzungen involviert gewesen sind. Die Maidan-Morde haben ihnen geholfen, die Bevölkerung aufzuwühlen und auf dieser Basis die Verfolgung von Janukowitsch anzugehen. Sie wollten Janukowitsch damals umbringen und sie wollten das öffentlich tun. Eine grosse Anzahl von bewaffneten Radikalen hat sich auf den Weg gemacht zur Residenz des Präsidenten. Janukowitsch ist gezwungen gewesen, mit seinem Hubschrauber nach Charkow zu fliegen. Während dieser Zeit ist schon die Machtübernahme in den Städten fortgeschritten.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass es auf Sie selbst bzw. auf Ihren Dienstwagen, in dem Ihre Frau sass, einen Anschlag gab. Können Sie diese Situation nochmal schildern?

Nachdem Janukowitsch von Kiew nach Charkow geflogen ist, war mein Aufenthalt in Kiew lebensbedrohlich. Meine Personenschützer haben mich darüber informiert, dass für meine Sicherheit nicht garantiert werden kann. Ich habe die Entscheidung getroffen, in den Osten des Landes zu fahren, in dem es damals ruhig war und die gesamte Situation anders war. Ich wollte mit dem Flugzeug fliegen. Meine Frau kann aus Gesundheitsgründen nicht mit kleinen Flugzeugen fliegen. Deswegen habe ich sie mit dem Auto nach Donezk geschickt. Als sie von zu Hause weggefahren ist, ist gleich ein Jeep hinter ihnen hergefahren. Er ist dem Auto ungefähr 100 Kilometer gefolgt. Dann hat er sie überholt. Alle haben gedacht, er ist jetzt weggefahren.

Allerdings haben sie diesen Jeep einige Minuten später wieder gesehen, als er ihnen auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite entgegen kam. Und auf den Trittbrettern des Jeeps stand ein Mann mit einer Maschinenpistole. Als dieser Jeep sich dem Auto meiner Frau näherte, hat der Mann einen Feuerstoss auf das Auto meiner Frau abgegeben. Zum Glück war die Strasse nicht eben und alle Kugeln sind im Motor eingeschlagen, nur eine Kugel hat das Glas zerfetzt. Der Motor hat gebrannt und der Jeep ist mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Kiew weggefahren. In dem Auto, auf das geschossen wurde, waren vier Personen, die zum Glück nicht verletzt wurden. Sie haben sich dann umgesetzt in ein zweites Auto, das im Konvoi mit ihnen gefahren war und sind weiter nach Donezk gefahren. Natürlich hatten die Attentäter erwartet, dass ich im Auto sass und schossen deshalb.

Plan für eine friedliche Regelung in der Ukraine

Zur Zukunft der Ukraine: Was ist nun aus Ihrer Sicht nötig, wer muss sich bewegen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden?

Ein Staatsstreich, eine Wirtschaftskrise und ein militärischer Konflikt im Osten des Landes – das sind Folgen des Konfrontationskurses zwischen den USA und Russland. Es hätte keinerlei Staatsstreich gegeben, wenn das nicht aus den USA gutgeheissen und gefördert worden wäre.

Donald Trump hat vor kurzem sehr einfach und klar gesagt: «Der Konflikt in der Ukraine ist ein Konflikt zwischen den USA und Russland.» Deswegen gibt es auch nur einen Ausweg aus der Situation: Eine Vereinbarung zu finden zwischen den USA und Russland, in der ein Massnahmenkatalog zur Stabilisierung des Landes verabschiedet wird. Natürlich kann auch Deutschland einen grossen Beitrag dazu leisten, wenn es eine prinzipielle und objektive Position dort übernehmen würde. Ich habe das bisher leider nicht so sehen können.

Ich habe einen eigenen Plan für eine friedliche Regelung in der Ukraine. Er besteht aus zehn Punkten. Der Hauptpunkt ist, die Akzeptanz, dass in der Ukraine ein Staatsstreich stattgefunden hat, und dass die derzeitige ukrainische Regierung eine nicht-legitime Regierung ist. Wenn man diesen Fakt anerkennt, dann kann man di