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Nigers Bodenschätze

Erstellt von DL-Redaktion am 4. August 2023

In Niger geht es auch um Uran und Ausbeutung

Quelle      :        INFOsperber CH.

Martin Sonneborn /  Red. Martin Sonneborn ist Mitglied des EU-Parlaments («Die Partei»).

Niger ist der siebtgrösste Uranproduzent, aber drei Viertel seiner Einwohner sind an kein Stromnetz angeschlossen.

In Frankreich gibt es keine einzige aktive Goldmine. Dennoch besitzt dieser ehemals verbrecherische Kolonialstaat mit 2’436 Tonnen die viertgrössten Goldreserven der Welt.

Die ehemals französische Kolonie Mali besitzt genau 0,0 Tonnen Gold, obwohl es mehrere Dutzend Minen, darunter 14 offiziell, im Land gibt. Es werden dort pro Jahr ganze 70 Tonnen davon abgebaut. Von den Einnahmen aus knapp 60 Tonnen Gold, die von (schätzungsweise) 600’000 Kindern in der ehemals französischen Kolonie Burkina Faso geschürft werden, gehen nur 10 Prozent an das Land, aber 90 Prozent an multinationale Goldgräberkonzerne.

Ähnlich wie beim Gold funktioniert es beim Uran: Die letzte seiner 210 Uranminen hat Frankreich im Jahr 2001 geschlossen. Seither werden alle mit dem umwelt- und gesundheitsschädlichen Uranabbau verbundenen Probleme, einschliesslich der Gefahren radioaktiver Verstrahlung, vorsorglich nach woanders exportiert.

Französischer Konzern hat in Niger das Sagen

Aus dem westafrikanischen Niger stammen etwa ein Viertel der europäischen und ein Drittel der Uranimporte Frankreichs, das mit 56 Kernkraftwerken einen ausbaufähigen Spitzenplatz unter den Atomstromexporteuren der Welt belegt. Beschafft wird deren betriebsnotwendiger Brennstoff vom staatlichen Nukleargiganten Orano (ehemals Areva), der den höchsten und (passenderweise auch) schwärzesten Granitbau unter den Wolkenkratzern des Pariser Kapitaldistrikts La Défense besitzt. Mit Geheimverträgen wird das Uran beispielsweise aus Niger importiert, wo der Konzern sich drei gewaltige Uranminen sowie die Mehrheitsbeteiligung an Nigers Staatsunternehmen für Uranaufbereitung (Somaïr) unter den Nagel gerissen hat.

Die ehemals französische Kolonie Niger verfügt über die hochwertigsten Uranerze Afrikas und ist der siebtgrösste Uranproduzent der Welt, aber der Weltbank zufolge sind drei Viertel seiner Bürger noch nicht einmal ans Stromnetz angeschlossen. 40 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, ein Drittel der Kinder ist untergewichtig, die Analphabetenquote liegt bei 63 Prozent. Nur die Hälfte der Einwohner hat Zugang zu sauberem Trinkwasser, nur 16 Prozent sind an eine angemessene Sanitärversorgung angeschlossen.

Das gesamte Staatsbudget Nigers, eines Landes mit der dreifachen Fläche der Bundesrepublik, ist mit rund 4,5 Milliarden Euro nicht grösser als der jährliche Umsatz des französischen Atomkonzerns Orano. Trotz seiner Uran- und Goldvorkommen lag der Niger im Entwicklungs-Index zuletzt auf Platz 189 von 191 erfassten Staaten.

Frankreich hat im Zuge der «Dekolonisierung» der 1960er Jahre seine vormaligen Kolonien zwar in die formale Unabhängigkeit entlassen, hinterliess ihnen allerdings Staats- und Rechtsordnungen, die – wie in der Kolonialzeit – darauf ausgelegt waren, die Bevölkerung einerseits mit möglichst geringem Aufwand zu kontrollieren und andererseits so viele Rohstoffe zu exportieren wie irgend möglich.

Vorkaufsrechte und an Euro gebundene Währung

Nicht genug, dass Frankreich sich über den sogenannten Kolonialpakt in Françafrique weiterhin das Vorkaufsrecht auf alle natürlichen Ressourcen und den privilegierten Zugriff auf Staatsaufträge gesichert hat, es zwingt den Staaten seither ebenso seine irrwitzige Kolonialwährung CFA-Franc auf, die jede autonome Geld-, Wirtschafts- oder Sozialpolitik der nur formal souveränen Staaten nachhaltig verunmöglicht. Die vierzehn CFA-Staaten sind nicht nur durch einen festen Wechselkurs an den Euro gekettet, was ihnen 1994 eine Abwertung von fünfzig Prozent einbrachte, sondern haben auch jeden Zugriff auf 85 Prozent ihrer Währungsreserven verloren, die sie gezwungenermassen bei der Agence France Trésor hinterlegen müssen.

Alle CFA-Staaten sind in hohem Masse rohstoffreich und nicht weniger hochverschuldet. Burkina FasoMali und Niger gehören trotz ihrer immensen Bodenschätze zu den ärmsten Ländern der Welt. «Meine Generation versteht das nicht», sagt der 35-jährige Staatschef Burkina Fasos, Ibrahim Traoré. «Wie kann Afrika, das über so viel Reichtum verfügt, zum ärmsten Kontinent der Welt geworden sein?»

Nicht «unterentwickelt», sondern «überausgebeutet»

Ganz einfach, sagt der US-amerikanische Politikwissenschaftler Michael Parenti. Arme Länder sind nicht «unterentwickelt», sondern «überausgebeutet» («not underdeveloped but overexploited»).

Es gib also Gründe dafür, dass in Niamey, der Hauptstadt Nigers, die französische Botschaft brennt.

Es gibt Gründe dafür, dass die Bürger in den Strassen west- und zentralafrikanischer Staaten nicht die französische Trikolore oder das kobaltblaue Europabanner, sondern die Flagge Russlands bei sich tragen.

Und ob es uns oder der EU nun gefällt oder nicht, sieht ein wachsender Teil der vor allem jüngeren afrikanischen Bevölkerung in Putin keineswegs einen Bösewicht, sondern den Vorkämpfer einer globalen Freiheitsbewegung, die gegen die – unter dem Deckmantel der «Demokratie» – von Akteuren des geopolitischen Westens aufrechterhaltene Ausbeutungs- und Unterwerfungsordnung in ihren Landstrichen gerichtet ist.

Rohstoffraub, Ausplünderung, Übervorteilung

All dies wird sich nicht mit guten – oder mit gut geheuchelten – Worten in Luft auflösen lassen, nicht durch die Streichung «verletzenden» Kinderromanvokabulars, nicht durch tolpatschige EU-«Informationskrieger» und noch weniger durch konzertiertes Bombengewitter, sondern nur dadurch, dass sich nach Jahrhunderten nun endlich einmal die realen Beziehungsverhältnisse des Westens zum Globalen Süden ändern. Und Unterdrückung, Bevormundung, Ausplünderung, Rohstoffraub und Übervorteilung durch mafiös ungleiche Handelsverträge ihr überfälliges Ende nehmen.

Die USA sind – in dieser und manch anderer Hinsicht – bekanntlich ein hoffnungsloser Fall, die EU vielleicht noch nicht. Je länger sie sich dem von ihr zu vollziehenden Paradigmenwechsel zu entziehen versucht oder ihm gar mit Gewalt begegnet, desto schlimmer wird es für sie ausgehen.

Vielleicht wäre es ein Anfang, wenn die EU beim nächsten Gipfel mit Afrika oder Lateinamerika die angereisten Staatsoberhäupter einmal durch dasselbe Hauptportal ins Konferenzgebäude schreiten liesse, das sie selbst benutzt, anstatt ihre fremdkontinentalen Gäste immerfort durch den schmucklosen Seiteneingang zu schleusen.

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P.S.: Einen Ersteindruck ihrer intellektuellen Satisfaktionsfähigkeit gibt die nigrische Militärregierung übrigens selbst. Auf die Ankündigung der USA, jegliche Hilfsgeldzahlung an den Niger einzustellen, habe das Regime – afrikanischen Quellen zufolge – ausrichten lassen, der demokratische Weltmarktführer möchte seine Hilfe behalten und sie für die Millionen Obdachloser in den Vereinigten Staaten verwenden: «Nächstenliebe beginnt zu Hause.»

P.P.S.: Ibrahim Traoré ist nicht nur Staatschef von Burkina Faso, sondern als Absolvent der Universität Ouagadougou und der örtlichen Militärakademie auch Geologe und Offizier. Als jüngstes und smartestes Staatsoberhaupt der Welt droht der 35-Jährige daher völlig zu Recht zum Hoffnungsträger der westafrikanischen Erhebung gegen Neokolonialismus und westliche Dominanz zu werden. Auch Traoré hat die französischen Truppen vor die Tür gesetzt und den Export von Gold und Uran nach Frankreich und in die USA untersagt, während er eine regionale Allianz mit Niger, Guinea, Mali und Algerien schmiedet.

P.P.P.S.: Frankreich und die USA drohen – selbst und über ihre Mittelsleute von ECOWAS – mit einem gewaltsamen Eingriff zur Wiederherstellung der «demokratischen» Ausbeutungsordnung. Sieht aus, als hätten unsere kriegsbegeisterten Honks demnächst die Wahl, ob sie die westliche Welt lieber in der Ukraine (Team Blackrock) oder in Westafrika (Team Atomstrom) verteidigen wollen. Das ist das Schöne am Kapitalismus. Er sorgt stets für reichhaltige Auswahl.

Eine militärische Intervention der Achse USA-Frankreich-Grossbritannien-ECOWAS in Niger, so erklärten es Burkina Faso und Mali soeben, würden sie als «Kriegserklärung» gegen sich selbst auffassen. Eine deutliche Ansage, die der malische Regierungssprecher Abdoulaye Maïga für die traditionell etwas begriffsstutzigen Demokraten aus Nord-Nordwest ein weiteres Mal und – wohl um der Deutlichkeit willen –noch ein drittes Mal wortgleich wiederholt. Guinea sieht das ähnlich, und auch Algerien, das ein militärisches Kooperationsabkommen mit Niger unterhält, wird «im Falle einer ausländischen Intervention nicht untätig bleiben».

Das Letzte, was Westafrika braucht, ist zufälligerweise auch das Letzte, was wir und Sie, und ist zufälligerweise auch das Letzte, was der ganze Rest der Welt braucht: einen weiteren Krieg.

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Zwischentitel von der Redaktion. Hier zur Webseite von Martin Sonneborn.

Hilferuf von Swissaid

Red. «Die gegen Niger verhängten Sanktionen treffen die Notleidenden im ärmsten Land der Welt», erklärte der Leiter des Swissaid-Büros in Niger, Mahamane Rabilou Abdou, am 3. August im «Tages-Anzeiger». Das Land mit 26 Millionen Einwohnern sei auf den Import von Grundnahrungsmitteln, Benzin und Strom angewiesen. Trotzdem beschlossen die Westafrikanischen Staaten (Ecowas), die Grenzen zu Niger zu schliessen. In wenigen Tagen seien die Preise um einen Viertel angestiegen.

Bereits im letzten Jahr seien vier Millionen Menschen in Niger von Mangel- und Unterernährung betroffen gewesen. Wegen einer anhaltenden Dürre drohten auch dieses Jahr grössere Ernteverluste.

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Oben      —     Map of Niger

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Wo endet Freundschaft?

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Juli 2023

Südafrika beim Russland-Afrika-Gipfel

Ein Debattenbeitrag von Lutz van Dijk

Beim Russland-Afrika-Gipfel muss sich besonders Südafrika heiklen Fragen stellen. Dabei geht es nicht nur um die Haltung zum Krieg in der Ukraine.

Zum Auftakt des zweitägigen Russland-Afrika-Gipfels in Sankt Petersburg sind am Donnerstag nur 17 Staatschefs der 54 Länder Afrikas erschienen – wesentlich weniger als beim ersten Gipfel 2019, als es noch 43 waren. So gab es diesmal Absagen aus Nigeria, Kenia, der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda und Sambia. Dabei sind außer Südafrika unter anderem Ägypten, Äthiopien, Mali, Senegal, Simbabwe und Uganda.

Ein Kreml-Sprecher machte für das Wegbleiben bereits den „Druck des Westens“ verantwortlich. Zu dem parallel stattfindenden Forum mit zahlreichen Arbeitsgruppen waren bis Donnerstag dagegen fast 1000 Delegierte aus afrikanischen Ländern angereist, allein 39 aus Südafrika unter Leitung von Präsident Cyril Ramaphosa.

Mit Spannung wird erwartet, worüber jenseits von Bekundungen zu historischen „Freundschaften“ zwischen der damaligen Sowjetunion (zu der auch die Ukraine gehörte, was gern vergessen wird) und Befreiungsbewegungen Afrikas konkret gesprochen werden wird:

Wird es auch um die drohenden Hungersnöte in Ländern Ostafrikas wie dem Sudan oder Tansania nach der russischen Aufkündigung des Getreideabkommens mit der Ukraine gehen? Deren Lieferungen können nun nicht mehr sicher beziehungsweise nur noch teilweise über teure Umwege stattfinden – wobei Russland jüngst selbst ukrainische Getreidesilos bombardierte. Wo werden afrikanische Länder eigene Positionen formulieren, auch bei bislang mehrheitlicher Enthaltung bei den UNO-Abstimmungen gegen Russlands Krieg gegen die Ukraine?

Auf dem ersten Russland-Afrika-Gipfel vor vier Jahren hatte Putin noch ausdrücklich die „Souveränität aller Länder“ betont. Er sprach von „bedingungsloser Hilfe beim Aufbau von Infrastrukturen in Afrika – anders als zahlreiche westliche Länder, die dies nur mittels Drohung oder Erpressung tun“. Nun sicherte Putin schon im Vorfeld des Gipfels zu, dass Russland in der Lage sei, „Getreide aus der Ukraine durch sowohl kommerzielle als auch kostenlose Lieferungen an notleidende Länder Afrikas zu ersetzen“. Dies auch als deutliche Kritik an der EU-Sanktionspolitik gegen Russland, obwohl dieses Angebot fragwürdig bleibt. Bereits jetzt sind seit dem Ende des Abkommens die Getreidepreise weltweit um 9 Prozent gestiegen.

Es gibt eine eigene Tradition, nach der Delegierte aus Russland und afrikanischen Ländern sich gegenseitig als „Freunde“ begrüßen, zuweilen auch Staatschefs mit Vornamen. Zuletzt geschehen Mitte Juni bei der Friedensmission sieben afrikanischer Staaten in der Ukraine und Russland.

Ramaphosas 10-Punkte-Plan

Trotz dieser Freundschaftsbekundungen sollte das Bemühen der Leitung dieser Mission durch Südafrikas Präsident Ramaphosa in Gesprächen mit Selenski und dann Putin nicht lächerlich gemacht, sondern als ernsthafter Vermittlungsversuch anerkannt werden. Auch weil Ramaphosas „10-Punkte-Plan“ kritisch gegenüber Russland vermerkte, dass „Kriegsgefangene und verschleppte Kinder freizulassen“ seien und die „Souveränität aller Staaten gemäß der UN-Charta anerkannt“ werden müsse. „Freund Wladimir“ ließ seinen Unmut unmittelbar spüren: Die russische Luftwaffe bombardierte Kyjiw, als Ramaphosa mit Begleitung dort eintraf und zunächst in einem Bunker Zuflucht suchen musste.

Es gibt die Tradition, nach der Delegierte aus Russland und afrikanischen Ländern sich als „Freunde“ begrüßen. Trotzdem sollte Ramaphosas Vermittlungsversuch ernst genommen werden.

Brisant wurde die „Freundschaft“ Südafrikas mit Russland, als Ramaphosa als Gastgeber des nächsten BRICS-Gipfels in Johannesburg vom 22. bis 24. August auch Putin einladen sollte: Als Mitgliedsland des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), der einen Haftbefehl gegen Putin ausgestellt hatte, wäre er verpflichtet, ihn bei Einreise zu verhaften. Monatelang wurden alternative „Lösungen“ erkundet, wie die Verlegung des BRICS-Gipfels nach China, das kein IStGH-Mitglied ist, wie übrigens auch Russland und die USA nicht.

Erst kürzlich gab es ein allgemeines Aufatmen in Südafrika, als Putin bekannt gab, nicht zum nächsten BRICS-Gipfel zu reisen, sondern seinen Außenminister Lawrow zu schicken und selbst nur digital teilzunehmen. Inzwischen gibt es auch einen Gerichtsbeschluss in Südafrika, wonach Putin bei Einreise auch in Zukunft verhaftet werden müsste.

BRICS-Staaten nicht unterschätzen

Quelle          :           TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     CAPE TOWN. At the Russian-South African talks with South African President Tabo Mbeki.

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Unten          —                 SOUTH AFRICA. Visiting the Cape of Good Hope.

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Juli 2023

Wo das Geld steckt – Sparpläne der Bundesregierung

Kolumne von Ulrike Herrmann

Die neuen Sparpläne der Bundesregierung sorgen für Ärger. Dabei wäre es doch so einfach, an Geld zu kommen, wie ein Blick in den Bundeshaushalt zeigt.

Der geplante Bundeshaushalt sorgt für hitzige Diskussionen. Stichworte sind: gestrichenes Elterngeld für Paare mit einem Jahreseinkommen von über 150.000 Euro, deutlich weniger Mittel fürs Bafög oder eingefrorene Zuschüsse für Krankenkassen, obwohl das Gesundheitswesen mehr Geld benötigt. Da wären innovative Ideen willkommen, wie der Staat neue Geldquellen auftun könnte.

Dass Kerosin von der Energiesteuer befreit ist, kostet den Staat 8,3 Milliarden Euro.

Um hoffnungsfrohe Erwartungen gleich zu zerstören: Neues ist nicht zu erwarten; die Debatte dreht sich seit Jahren im Kreis. Jeder denkbare Steuervorschlag wurde schon vielfach ventiliert – ohne dass sich Nennenswertes geändert hätte. Trotzdem sind manche Ideen so gut, dass eine Wiederholung nicht schadet.

Erster Vorschlag: Die Erbschaftssteuer wird endlich gerecht ausgestaltet – und belastet auch Firmenerben. Sie müssen nämlich gar keine Erbschaftssteuer zahlen, wenn sie es schlau anstellen, selbst wenn sie ein Milliardenvermögen übernehmen. Das verstößt gegen das Grundgesetz, wie das Bundesverfassungsgericht längst festgestellt hat. Profitieren würden die Länder, die notorisch klamm sind, denn sie kassieren die Erbschaftssteuer komplett.

Allerdings nutzen selbst die Machtworte des Verfassungsgerichts bisher nichts, weil die Familienunternehmen geschickte Lobbyarbeit betreiben und den Eindruck erzeugen, ihr Betrieb würde sofort in den Konkurs rutschen, wenn sie Erbschaftssteuer abführen müssten. Das ist nachweislich falsch. Früher mussten Firmenerben nämlich Steuern zahlen, aber Pleiten gab es dadurch nicht.

Zweiter Vorschlag: Die umweltschädlichen Subventionen werden abgeschafft. Das Umweltbundesamt hat eine lange Liste vorgelegt und unter anderem errechnet, dass es allein 8,2 Milliarden Euro im Jahr kostet, Diesel nicht so hoch zu besteuern wie Benzin. Die Entfernungspauschale schlägt mit weiteren 6 Milliarden Euro zu Buche, das Dienstwagenprivileg führt zu Mindereinnahmen von 3,1 Milliarden Euro, und die Befreiung des Kerosins von der Energiesteuer kostet 8,3 Milliarden Euro. Diese Zahlen stammen von 2018, neuere gibt es nicht.

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

Theoretisch ließe sich so also viel Geld mobilisieren. Aber man stelle sich einmal vor, die Entfernungspauschale würde entfallen. Die Wut in den Vororten wäre grenzenlos, was keine Partei riskieren möchte. Zudem scheitern alle diese Vorschläge daran, dass es direkte oder indirekte Steuererhöhungen wären. Die hat die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag aber ausgeschlossen, wie FDP-Finanzminister Lindner bei jeder Gelegenheit betont.

Bleibt ein dritter Vorschlag, der sich sofort umsetzen ließe und für Mehreinnahmen sorgen würde: Die Regierung hebt den Mindestlohn deutlich an. Wenn die Niedriglöhner endlich mehr verdienten, würden sie auch mehr Steuern zahlen. Zugleich würden sie mehr Beiträge in die Renten- und Krankenkassen abführen, sodass die staatlichen Zuschüsse dort abnehmen könnten.

Quelle       :          TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     Left: „Um, gee… how many people came up trying to pass off little scribbled notes saying, „I.O.U. $3.00. Sincerely, Jon Doe?!“ Well, at least I thought it was funny.

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Lebendige Dystopie

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Juli 2023

Brasilien: Was verbrennt den Amazonas?

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von          :     crimethinc

Ein Plädoyer von brasilianischen Anarchist*innen. Während die Brände im Amazonas-Regenwald im Jahr 2019 loderten, haben uns Genoss:innen in Brasilien diese Analyse der Ursachen der Katastrophe geschickt und beschreiben wie sie unsere Vision der Zukunft beeinflussen sollte.

Die Szenerie ist düster. Am 19. August 2019 liegt Rauch über den Städten des Bundesstaates São Paulo und macht um 15 Uhr den Tag zur Nacht. Am Tag zuvor haben die Menschen in Island die erste Beerdigung eines für tot erklärten Gletschers organisiert, mit einem Grabstein und einer Schweigeminute. Der Rauch, der São Paulo einhüllte, wird durch Waldbrände im Amazonaswald weit im Norden Brasiliens verursacht; der Gletscher ist aufgrund der steigenden Temperaturen, die mit dem sich in der Atmosphäre ansammelnden Kohlendioxid zusammenhängen, verschwunden.Diese tragischen Szenen – fast malerisch, fast absurd – könnten komisch wirken, wenn sie nicht real wären. Sie sind so extrem, dass sie uns an fiktive Szenarien erinnern, wie sie in dem Roman Und noch immer die Erde beschrieben werden, einer brasilianischen Umweltdystopie von Ignácio de Loyloa Brandão. Das in den 1970er Jahren während der Militärdiktatur in Brasilien geschriebene Buch beschreibt ein fiktives diktatorisches Regime namens »Civiltar«, das die Abholzung des letzten Baumes im Amazonasgebiet mit der chauvinistischen Erklärung feiert, dass es »eine Wüste grösser als die Sahara« geschaffen habe. In dieser Geschichte sind alle brasilianischen Flüsse tot; Krüge mit Wasser aus jedem der erloschenen Flüsse werden in einem hydrographischen Museum ausgestellt. Dünen aus Aluminiumdosen und Autobahnen, die ständig durch die Karossen verlassener Autos blockiert sind, bilden die Kulisse von São Paulo. Die Stadt selbst leidet unter plötzlichen Hitzewallungen, die jeden ahnungslosen Menschen töten können; mysteriöse Krankheiten suchen die Bürger*innen, insbesondere die Obdachlosen, heim.

Der Autor behauptet, er habe sich von realen Ereignissen inspirieren lassen, die damals absurd und ungewöhnlich erschienen. Heute werden sie immer alltäglicher.

Die Nachricht von der zunehmenden Verbrennung im Amazonasgebiet hat weltweit für Erschütterungen gesorgt. Laut dem Nationalen Institut für Weltraumforschung ist die Zahl der Brände in Brasilien im Jahr 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 82% gestiegen, und während wir diese Zeilen schreiben, werden immer noch neue Ausbrüche von Bränden gemeldet. Die katastrophalen Bilder der Zerstörung haben die Empörung von Menschen auf der ganzen Welt geschürt, die sich Sorgen um die Zukunft des Lebens auf der Erde machen, da sie wissen, wie wichtig der Amazonas-Regenwald für die Klimaregulierung und die globale Artenvielfalt ist. Die Bilder der Brände veranlassten den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, das Thema auf dem G7-Gipfel anzusprechen und sich in den Medien einen Schlagabtausch mit Präsident Jair Bolsonaro zu liefern, nachdem Frankreich Millionen von Dollar für die Bekämpfung der Waldbrände bereitgestellt hatte.

Seit Ende 2018 wurden in vier brasilianischen Bundesstaaten eine halbe Milliarde Bienen tot aufgefunden. Das Sterben dieser Insekten, die für die Befruchtung von 75% des Gemüses, das wir essen, unerlässlich sind, wird mit dem Einsatz von Pestiziden in Verbindung gebracht, die in Europa verboten, in Brasilien aber erlaubt sind. Im August 2019 wies das Gericht die Anklage gegen einen Landwirt ab, der im Jahr 2015 aus einem Flugzeug abgeworfene Pestizide als chemische Waffe gegen die indigene Gemeinschaft Guyra Kambi’y in Mato Grosso do Sul eingesetzt hatte. Im selben Monat koordinierten Gruppen von Landwirten, »Landräubern« (Personen, die Dokumente fälschen, um sich Land anzueignen), Gewerkschaftsmitgliedern und Händlern über eine WhatsApp-Gruppe das Legen von Bränden in der Gemeinde Altamira in Pará, dem Epizentrum der Brände im Amazonas-Regenwald. Wie in Folha do Progresso berichtet, wurde der »Tag des Feuers« von Menschen organisiert, die durch die Worte von Jair Bolsonaro ermutigt wurden: »Das Ziel«, so einer der Anführer, der anonym sprach, »ist es, dem Präsidenten zu zeigen, dass sie arbeiten wollen.«

Die jüngste Welle von Bränden, die die Politik von Präsident Jair Bolsonaro mit Angriffen auf Wälder, Kleinbäuer*innen und indigene Bevölkerungen in Verbindung bringt, ist eine Intensivierung eines Prozesses, der so alt ist wie die Kolonialisierung Amerikas. Als die Arbeiterpartei (PT) noch an der Macht war, wurden zahlreiche Projekte zur Ausweitung und Beschleunigung des Wachstums eingeleitet, darunter der Bau des Kraftwerks Belo Monte, durch den indigene Gemeinschaften und Tausende andere Landbewohner*innen vertrieben wurden oder auf andere Art davon betroffen waren. Die Verabschiedung des Forstgesetzes im Jahr 2012 ermöglichte es den Landwirt*innen, ungestraft in indigene Gebiete und Naturschutzgebiete vorzudringen, während die Ausweisung neuer Schutzgebiete ausgesetzt wurde.

Sowohl linke als auch rechte Regierungen sehen die Natur und das menschliche Leben in erster Linie als Ressourcen für die Produktion von Gütern und für den Profit. Die Regierung Bolsonaro, ein erklärter Feind der einfachen Leute, der Frauen und der indigenen Gruppen, droht uns nicht nur mit der physischen Gewalt der polizeilichen Unterdrückung. Mit seiner Ankündigung, kein indigenes Land mehr anzuerkennen, verschärft Bolsonaro einen Krieg gegen die Ökosysteme, die das menschliche Leben ermöglichen – einen Krieg, der ihm lange vorausgeht.

Eine seit 500 Jahren andauernde Katastrophe

Seit Jahrhunderten kämpfen wir darum, die grösste Katastrophe unserer Zeit zu überleben, eine Katastrophe, die die Nachhaltigkeit aller Biome und Gemeinschaften auf diesem Planeten bedroht. Ihr Name ist Kapitalismus – das grausamste, ungerechteste und zerstörerische Wirtschaftssystem der Geschichte. Diese Bedrohung ist nicht das Ergebnis unausweichlicher Naturgewalten. Der Mensch hat sie geschaffen, und der Mensch kann sie beseitigen.

In Brasilien haben wir aus erster Hand erfahren, wie dieses System Menschen ausbeutet, Genozid fördert und die Erde, das Wasser und die Luft degradiert und verschmutzt. Selbst wenn wir es letztendlich schaffen, es abzuschaffen, werden wir immer noch mit den Folgen leben müssen, die sich daraus ergeben, dass wir es so lange haben weiterlaufen lassen. Die Zerstörung ganzer Ökosysteme, die Gifte in den Flüssen und in unserem eigenen Körper, die ausgestorbenen Arten, die verschwundenen Gletscher, die abgeholzten und zugepflasterten Wälder – diese Folgen werden noch viele Jahre lang zu spüren sein. In Zukunft werden wir überleben müssen, indem wir uns aus den Ruinen und Abfällen, die dieses System hinterlassen hat, das holen, was wir brauchen. All das Material, das dem Boden entrissen wurde, um über die Erdoberfläche verstreut und in die Meere gekippt zu werden, wird nicht über Nacht in die Tiefen zurückkehren, aus denen es kam.

Wenn wir dies erkennen, sollten wir unsere revolutionären Aussichten entsprechend gestalten. Es ist töricht, sich vorzustellen, dass die Abschaffung des Kapitalismus die Konsumaktivitäten, die der globalen Bourgeoisie derzeit zur Verfügung stehen, auf die gesamte Menschheit ausweiten wird; wir müssen aufhören, von einer regulierten post-kapitalistischen Welt mit unendlichen Ressourcen zu phantasieren, um die Art von Waren zu erzeugen, die uns die kapitalistische Propaganda vorgaukelt. Vielmehr müssen wir experimentieren, wie wir die Selbstverwaltung unseres Lebens inmitten der Wiederherstellung unserer Biome, unserer Beziehungen und unserer Körper nach Jahrhunderten der Aggression und Ausbeutung teilen können – indem wir das Leben in Regionen organisieren, die ihm feindlich gesonnen sind.

Die Art und Weise, wie wir heute unseren Widerstand organisieren, sollte von der Tatsache geprägt sein, dass unsere revolutionären Experimente nicht in einer Welt des Friedens, der Stabilität und des Gleichgewichts stattfinden werden. Wir werden inmitten der Folgen von jahrhundertelanger Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung ums Überleben kämpfen müssen. Im besten Fall wird die Zukunft so aussehen wie die Situation in Kobanê im Jahr 2015: eine siegreiche Revolution in einer zerbombten Stadt voller Minen.

Niemand muss sich eine Apokalypse ausmalen, wenn die schlimmsten Dystopien bereits Teil der Realität sind. In den Städten Mariana und Brumadinho im Bundesstaat Minas Gerais sind die von den Bergbauunternehmen Samarco und Vale betriebenen Dämme wegen mangelnder Wartung und Vernachlässigung von Mensch, Tier und Umwelt zusammengebrochen. In Mariana kamen bei einem Unfall im Jahr 2015 19 Menschen ums Leben; in Brumadinho sind nach einer Katastrophe im Januar 2019 mindestens 248 Menschen ums Leben gekommen und Dutzende werden noch vermisst. Um des Profits willen haben diese Unternehmen und ihre Manager*innen eine der schlimmsten Umweltkatastrophen des Landes verursacht, von der Tausende betroffen sind, von den Angehörigen der Toten bis hin zu den indigenen und ländlichen Gemeinschaften, die von den Flüssen abhängen, die durch den giftigen Schlamm, der in den Dämmen eingeschlossen wurde, verwüstet wurden.

An solchen Beispielen lässt sich leicht erkennen, dass die schlimmste Tragödie nicht das Ende der kapitalistischen Ordnung ist, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt existiert. Wie Buenaventura Durruti in einem Interview während des spanischen Bürgerkriegs sagte:

»Wir, die Arbeiter, können andere bauen, die ihren Platz einnehmen, und zwar bessere! Wir haben nicht die geringste Angst vor Ruinen. Wir werden die Erde erben, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Die Bourgeoisie könnte ihre eigene Welt sprengen und zerstören, bevor sie die Bühne der Geschichte verlässt. Wir tragen hier eine neue Welt in unseren Herzen. Diese Welt wächst in dieser Minute.«

Was also brennt im Amazonas?

Wissenschaftler*innen, staatliche Institutionen, soziale Bewegungen und die Land- und Stadtbevölkerung sind sich einig über die Auswirkungen und Risiken der globalen Erwärmung und der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung. Einige dieser Folgen sind im Begriff, unumkehrbar zu werden. Die Abholzung des Amazonas selbst könnte irreparabel werden, wenn sie 40% seiner Gesamtfläche erreicht.

Es hat noch nie funktioniert, von Regierungen zu verlangen, dass sie diese Probleme für uns lösen – und wird es auch nie. Das ist besonders töricht, wenn es um die Umweltkatastrophen geht, die durch ihre eigene Politik verursacht werden. Die Beschlagnahmung von Land und die Abholzung des Amazonas sind untrennbar mit den organisierten kriminellen Unternehmen verbunden, die auf dem Lande schmuggeln und töten. Ganze 90% des geernteten Holzes sind Schmuggelware, die von einem riesigen Apparat des illegalen Kapitalismus unterstützt wird, an dem bewaffnete Milizen und der Staat selbst beteiligt sind.

Populistische Führer*innen wie Bolsonaro versuchen, von der sich abzeichnenden ökologischen Katastrophe zu profitieren, während sie gleichzeitig leugnen, dass sie stattfindet. Einerseits behaupten sie, dass kein Handlungsbedarf besteht, um die globale Erwärmung einzudämmen – neben Trump war Bolsonaro der einzige andere Führer, der damit drohte, aus dem Pariser Abkommen auszusteigen, und behauptete, die globale Erwärmung sei eine »Fabel für Umweltschützer«. Dies trägt dazu bei, die rechtsextreme Basis zu mobilisieren, die offenkundige Unehrlichkeit als Demonstration politischer Macht bewundert und zelebriert. Andererseits werden diese Führer*innen, wenn die Folgen des Klimachaos und der ökologischen Ungleichgewichte zu offensichtlichen, unbestreitbaren Tatsachen werden, Umweltkrisen, Produktknappheit, Flüchtlingsströme und Klimakatastrophen wie Wirbelstürme opportunistisch als Vorwand nutzen, um die Umsetzung von immer autoritäreren Massnahmen in den Bereichen Gesundheit, Verkehr und Sicherheit zu beschleunigen. Der Einsatz autoritärer und militarisierter Mittel, um zu bestimmen, wer Zugang zu den Ressourcen hat, die er zum Überleben in einem Kontext weit verbreiteter Knappheit benötigt, wird von vielen Theoretiker*innen als Ökofaschismus bezeichnet.

Das Eingreifen ausländischer Staaten in die Wälder des Amazonasgebiets nach ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen ist lediglich die Fortsetzung des Kolonialismus, der 1492 begann. Keine Regierung wird das Problem der Brände und der Entwaldung lösen. Bestenfalls können sie die Auswirkungen der Ausbeutung, an der sie schon immer beteiligt waren, verlangsamen. Der neoliberale Kapitalismus fordert endloses Wachstum und verlangt die Umwandlung von Wäldern und Böden in konkurrenzfähige Konsumgüter auf dem Weltmarkt.

Was also verbrennt den Amazonas – und den gesamten Planeten? Die Antwort ist klar: das Streben nach Land, Profit (legal oder nicht) und Privateigentum. Nichts davon wird von einer gewählten oder aufgezwungenen Regierung geändert werden. Die einzige wirklich ökologische Perspektive ist eine revolutionäre Perspektive, die das Ende des Kapitalismus und des Staates selbst anstrebt.

Unsere Fähigkeit zur Vorstellungskraft trainieren

Die dystopischen Bilder in And Still the Earth und George Orwells Roman 1984 waren als Warnungen gedacht: übertriebene Projektionen des Schlimmsten, was passieren kann, wenn wir den Lauf der Geschichte nicht ändern. Heute, wo Kameras an jeder Ecke stehen und unsere eigenen Fernseher und Handys uns überwachen, scheint es, als würden diese dystopischen Romane als Handbuch für Regierungen und Unternehmen dienen, um unsere schlimmsten Albträume Wirklichkeit werden zu lassen.

Dystopien sind Warnungen, aber Utopien stellen per Definition Orte dar, die es nicht gibt. Wir brauchen andere Orte, Orte, die möglich sind. Wir müssen in der Lage sein, uns eine andere Welt vorzustellen – und uns selbst, unsere Wünsche und unsere Beziehungen ebenfalls anders zu gestalten.

Wir sollten die Kreativität, die uns befähigt, uns Zombie-Apokalypsen und andere literarische oder filmische Katastrophen vorzustellen, nutzen, um uns eine Realität jenseits des Kapitalismus vorzustellen und sie aufzubauen. Heute, da die Realität die Fiktion übertrifft, sind unsere Aktivitäten weitgehend von Unglauben und Passivität geprägt. Aber mensch kann in einem fahrenden Zug nicht neutral sein – schon gar nicht in einem, der auf einem Gleis in den Abgrund rast. Wer die Arme verschränkt, macht sich mitschuldig. Ebenso ist individuelles Handeln unzureichend, weil es die Logik aufrechterhält, die uns hierher gebracht hat.

Wir müssen revolutionäre Bezugspunkte für ein selbstorganisiertes und egalitäres kollektives Leben wiederentdecken. Wir müssen Beispiele für reale Gesellschaften, die sich dem Staat und dem Kapitalismus widersetzt haben, wie die anarchistischen Experimente während der russischen und ukrainischen Revolutionen von 1917 und der spanischen Revolution von 1936, mit anderen teilen. Wir sollten uns auch daran erinnern, dass alle diese Versuche letztlich von der bolschewistischen Partei und der ihr folgenden stalinistischen Diktatur, die eine beispiellose Industrialisierung und die Massenvertreibung der Landbevölkerung durchführte, verraten und niedergeschlagen wurden, oder mit deren Duldung. Dies verdeutlicht, warum es so wichtig ist, eine Vorstellungswelt zu entwickeln, die nicht einfach die Visionen des kapitalistischen Industrialismus reproduziert.

Wir können auch auf zeitgenössische Beispiele wie den zapatistischen Aufstand in Mexiko seit 1994 und die laufende Revolution in Rojava in Nordsyrien schauen. Aber zusätzlich zu den Beispielen, die von Anarchist*innen oder Menschen, die von anarchistischen Prinzipien beeinflusst sind, angeboten werden, sollten wir von den vielen indigenen Völkern um uns herum lernen: Guaranis, Mundurukus, Tapajós, Krenaks und viele andere, die der europäischen und kapitalistischen kolonialen Expansion fünf Jahrhunderte lang unaufhörlich Widerstand geleistet haben. Sie alle sind lebende Beispiele, von denen Anarchist*innen über das Leben, die Organisation und den Widerstand ohne und gegen den Staat lernen können.

Wenn es eine grundlegende Basis für Solidarität als Antwort auf den Angriff auf die Grundlage allen Lebens im Amazonasgebiet gibt, dann ist es das Potenzial, dass wir Verbindungen zwischen den sozialen Bewegungen, den Armen und Ausgegrenzten der Welt und der indigenen und bäuerlichen Bevölkerung ganz Lateinamerikas herstellen können. Um der Abholzung im Amazonasgebiet und zahllosen ähnlichen Formen der Zerstörung auf dem ganzen Planeten Einhalt zu gebieten, müssen wir Basisbewegungen stärken, die die neoliberale Ressourcenbewirtschaftung von Böden, Wäldern, Gewässern und Menschen ablehnen.

Für eine Solidarität zwischen allen Bevölkerungsgruppen und ausgebeuteten Klassen, nicht zwischen Paternalismus und dem Kolonialismus der Regierungen! Die einzige Möglichkeit, die Umweltkrise und den globalen Klimawandel zu bewältigen, ist die Abschaffung des Kapitalismus!

Ein anderes Ende der Welt ist möglich!

Übersetzung aus dem Buch Das Gebot der Ordnung. Die Wahl 2022 in Brasilien. Immergrün Verlag 2022. 132 Seiten. ca. CHF 12.00. SKU 01-194-9783910281073.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —     Brigadistas do Prevfogo/Ibama participam de operação conjunta para combater incêndios na Amazônia Foto: Vinícius Mendonça/Ibama

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Vom Krieg und Frieden

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Juli 2023

Die Verschwundenen von Belarus

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Von     :       Olga Bubich

Das Gedächtnis ist eine knifflige und äußerst unbeständige Sache. Mit jeder neuen „Schicht“ an Erfahrungen wird der Inhalt unserer Erinnerungen beständig verändert. Wir sind von Natur aus wirklich nicht gut darin, uns Dinge zu merken, und die Aussichten werden angesichts unseres blinden Vertrauens in mobile Geräte und das sogenannte Silikongedächtnis nicht besser.

Repressive Regime nutzen das kollektive Gedächtnis jedoch immer wieder als einen Raum, in dem sich die Geschichte fälschen lässt, und setzen alles daran, dass neue Generationen bestimmte „unbequeme“ Episoden oder störende Meinungsführer vergessen oder sich falsch an sie erinnern. Zwei Jahre nach der größten Protestbewegung in der Geschichte meines Heimatlandes Belarus scheint das Land in eine Fabrik der Amnesie verwandelt zu werden.

Erst unentschuldbar spät las ich über die „desaparecidos“ – über die repressive Strategie des Verschwindenlassens durch den unterdrückenden Staat oder eine politische Organisation, gefolgt von der Weigerung, das Schicksal oder den Aufenthaltsort dieser Person bekannt zu geben. Den herrschenden Militärjuntas erschien dies günstig: Da keine Leichen gefunden wurden, konnten keine Anklagen erhoben und auch keine Gerichtsverfahren begonnen werden. Schon die ungefähre Zahl der Verschwundenen ist kaum vorstellbar: 30 000 Opfer in Argentinien und über 2000 in Chile. Von keinem dieser Menschen wurden jemals Spuren gefunden.

In Argentinien wurde das Schweigen jedoch schnell gebrochen, und zwar von jenen, für die das Erinnern eine Pflicht war – den Aktivistinnengruppen der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo. Sie wurden 1977 spontan von Verwandten der Verschwundenen gegründet und verlangten Gerechtigkeit mit regelmäßigen Protesten auf dem gleichnamigen Platz in Buenos Aires. Die Unmöglichkeit, über den Verlust trauern zu können, verlagerte das Trauma in eine ewige Gegenwart – die Toten waren immer noch da und mit ihren verzweifelten Familien umkreisten sie auf Fotos und selbstgemachten Plakaten den Platz, stets begleitet von derselben Frage: „Wo sind diese Menschen?“

Als ich über die Mobilisierungen zur Bewahrung des Gedächtnisses in Lateinamerika las, konnte ich gar nicht anders, als ein heftiges Déjà-vu-Gefühl zu verspüren. All diese Frauen mit Schwarz-Weiß-Portraits ihrer Lieben, die Lippen fest aufeinander gepresst, die Gesichter eisern entschlossen. Ich entdeckte, dass die Tragödie der Verschwundenen sich nicht nur jenseits des Ozeans abspielte – sondern auch zur Realität meines Landes gehörte. Und bis heute gehört.

Zum Schweigen gebracht

Leider erwies sich der Argentinier Jorge Videla nicht als der letzte Diktator, der Oppositionelle entführen ließ und dann verlangte, man solle eine neue Seite aufschlagen. Vielmehr gehören Auslöschung und das folgende Schweigen des Staates auch zu den Instrumenten des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko. Seit seiner ersten Amtszeit ging er auf Nummer sicher, indem er jeden Rivalen eliminieren ließ, der den Thron seines Landes hätte erobern können. Zu den bekanntesten Fällen belarussischer „desaparecidos“ gehören die Politiker Juri Sacharenko und Viktor Gonchar, der Unternehmer Anatol Krasovsky sowie der politische Journalist und Kameramann Dmitri Sawadski. Im Jahr 2004 gründeten Iryna Krasovskaya und Swetlana Sawadskaya, die Ehefrauen der Verschwundenen, die gemeinnützige Stiftung „We Remember“.[1]

Ihr Ziel ist es, die Verantwortlichen für die Morde an ihren Partnern vor Gericht zu bringen. Doch obwohl private Ermittlungen den Plan hinter diesen „perfekten Morden“ aufgedeckt haben, von denen es mehr als 30 gegeben hat, musste sich bislang kein Staatsdiener für die Entführungen vor Gericht verantworten[2]. Hingegen wurde Pawel Scheremet, der diesen Plan gemeinsam mit Swetlana Kalinkina in ihrem Buch „Der zufällige Präsident“ aufgedeckt hatte, 2016 von unbekannten Tätern ermordet.

Pack kennt und trifft sich . Vor ihren Fahnen stehen die Bananen. 

Nach diesem lauten Vorgehen in den späten 1990er Jahren griff Lukaschenko zu einer anderen Methode, um den Dissens zum Schweigen zu bringen. Oppositionsführer durften ihre Meinung nun äußern – aber nur bis zu einem gewissen Grad. Denn das Regime lässt sie nicht mehr entführen, sondern aufgrund von absurden Vorwürfen anklagen und ins Gefängnis stecken. Sodann verbreitet es nur wenige oder gar keine Nachrichten über ihre körperliche und seelische Verfassung. Wir kennen also scheinbar den Aufenthaltsort dieser Menschen, aber was bedeutet das unter diesen Umständen schon? Sie werden von der Öffentlichkeit ausgeschlossen, medizinische Hilfe wird ihnen verweigert, und sie müssen monotone, gesundheitsgefährdende Arbeiten verrichten. Damit sind sie in Wirklichkeit die belarussischen „desaparecidos“. Von den 24 Präsidentschaftskandidaten, die bei den fünf Wahlen nach 1994 gegen Lukaschenko antraten, wurden sieben inhaftiert, weitere vier sahen sich Gewalt und Drohungen ausgesetzt. Zusammen kommen Lukaschenkos Konkurrenten um die Staatsspitze auf über 60 Jahre Haft.

Dem Menschenrechtszentrum Wjasna zufolge gibt es in Belarus derzeit rund 1500 politische Gefangene. Im Jahr 2020 lag die Inhaftierungsrate bei 345 Gefangenen pro 100 000 Einwohner. Belarus gehört damit weltweit zu den 20 Staaten mit der höchsten Rate – als einziges europäisches Land neben der Türkei. Verurteilt wurden die politischen Gefangenen, weil sie „Absichten“ geäußert, „verurteilendes Schweigen“ gezeigt, „mentale Solidarität“ geleistet haben oder gar, weil sie „stillschweigend zugestimmt“ haben. Unter ihnen finden sich Teenager, Rentner und Mütter mit kleinen Kindern. Mit Stand Sommer 2022 beliefen sich ihre Strafen zusammengenommen auf 2756 Jahre. Dennoch enthalten die Schulbücher für das Fach Geschichte, die 2021 neu geschrieben wurden und die Zensur des kollektiven Gedächtnisses betreiben, nur drei Zeilen über die Massenproteste von 2020 und ihre verheerenden Folgen: „Die sechsten Präsidentschaftswahlen fanden am 9. August 2020 statt. Bei fünf anderen Kandidaten erhielt der gegenwärtige Präsident 80,1 Prozent der Stimmen.“

Quelle          :         Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —   Demonstration in Warschau zur Erinnerung an die verschwundenen Regimegegner Juryj SacharankaWiktar HantscharAnatol Krassouski und Dsmitryj Sawadski

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Tagesschau auf Kriegskurs

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Juli 2023

MAFIA IM ENDGERÄT

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor        :    Uli Gellermann

Das TV-Gerät wirkt völlig harmlos. Millionen dieser Kästen stehen in deutschen Haushalten. Ein paar Millionen SmartPhones kommen hinzu. Mit allen werden Tag und Nacht die sogenannten Nachrichten der Tagesschau empfangen. Doch was so harmlos „Nachricht“ heißt, ist in Wahrheit zunehmend eine geballte Ladung von Werbebotschaften für die Waffenindustrie.

Mörderische Waffenindustrie

Wer für die mörderische Waffenindustrie arbeitet, der beteiligt sich an Verbrechen. Sowohl solche gegen das Grundgesetz als auch jene gegen die Menschlichkeit. Und wer diese Verbrechen organisiert, den kann man als mafiös bezeichnen.

Aus den Zwangsgebühren können Sie nicht aussteigen

Die ARD macht Ihnen, wie der Pate zu sagen pflegt, „ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können“ – so kommt die Tagesschau ins Haus. Denn aus den Zwangsgebühren können Sie nicht aussteigen. Sie haben keine Wahl. Wenn Sie es versuchen, dann wird die GEZ, die Gebühreneinzugszentrale, andere Seiten aufziehen. Auch wenn die GEZ heute ganz harmlos „Beitrags­service“ heißt, die Zwangsmittel sind die gleichen.

Werbung für die Rüstungsindustrie

Nach dem Rundfunkzahlungszwang folgt immer wieder die unbestellte Werbung für die Rüstungsindustrie. Mal erzählt die Tagesschau von den gestiegenen Rüstungsexporten und kommentiert die Steigerung damit, dass sie „die enge Verbundenheit mit unseren EU- und NATO-Partnern und engen Partnerländern abbilden“. Dann bemitleidet sie den Verteidigungsminister, weil dessen Etat zu klein sei.

Nachrichten unterstützen Verbrechen

Obwohl die diversen ARD-Anstalten zur Unparteilichkeit und Neutralität verpflichtet sind: Sie betreiben das Geschäft der Regierung und der ihr angeschlossenen Waffenindustrie. Ihre sogenannten Nachrichten unterstützen Verbrechen, sind also mafiös.

Zuschauer machen mit
Auch diese Ausgabe der MACHT-UM-ACHT stützt sich auf eine Vielzahl von
Zuschauer-Zuschriften, die an diese Adresse gesandt wurden:
DIE-MACHT-UM-ACHT@apolut.net Dafür bedankt sich die Redaktion ganz
herzlich.

Hier geht es zum Video:

https://apolut.net/die-macht-um-acht-133-mafia-im-endgeraet/

Urheberrecht

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Die politischen Schleimer

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Juli 2023

Wenn Milliarden locken, werden «westliche Werte» zur Makulatur

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Um Mohammed bin Salman versammeln sich viele westliche politusche Stinker.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von           :          Pascal Derungs / 

Saudi-Arabiens Herrscher Mohammed bin Salman entlarvt das Gesicht mancher westlicher Schönredner. Der Diktator ist salonfähig.

Der saudische Staatschef trotzt allen Drohungen, ihn zu isolieren. Kronprinz Mohammed bin Salman hat wiederholt den Reichtum und Einfluss Saudi-Arabiens genutzt, um die internationale Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen des Königreichs zu ignorieren. In seinem Artikel vom 10. Juni 2023 berichtet Ben Hubbard in der New York Times über die wundersame Verwandlung Bin Salmans vom «Paria» zum Partner.

Wie aus Moralisten Wendehälse wurden 

Bei seiner Kandidatur für das Weisse Haus hatte Joe Biden geschworen, den saudischen Kronprinzen wegen der Ermordung des Dissidenten Jamal Khashoggi zum «Paria» zu machen. Erst im vergangenen Herbst drohte er dem Prinzen erneut mit «Konsequenzen», sollte er sich den amerikanischen Wünschen in der Ölpolitik widersetzen. Der republikanische Senator Lindsey Graham nannte Prinz Mohammed eine «Abrissbirne», die «niemals eine Führungspersönlichkeit auf der Weltbühne sein» könne.

Jetzt klängen diese Worte hohl, schreibt Hubbard, Präsident Biden habe Prinz Mohammed bei seinem Besuch in Saudi-Arabien per Handschlag begrüsst und schicke regelmässig hohe Beamte zu ihm, einschliesslich seines Aussenministers Antony J. Blinken. Senator Graham habe neben dem Prinzen gegrinst während eines Treffens im April. «Daran sieht man, dass Geld eine grosse Rolle spielt, denn dieser Mann sitzt auf einer Ölquelle und hat so viel Geld, dass er sich im Grunde aus allem herauskaufen kann», zitiert Hubbard den entschiedenen Gegner der Monarchie Abdullah Alaoudh, den saudischen Direktor der «Freedom Initiative», einer in Washington ansässigen Menschenrechtsorganisation.

Der Kronprinz hat gelernt und das Machtspiel durchschaut 

Während seines achtjährigen Aufstiegs zur Macht, so die NYT, habe der 37-jährige Prinz Mohammed immer wieder den Erwartungen getrotzt, dass seine Herrschaft in Gefahr sei, und gleichzeitig den Reichtum des Königreichs, seinen Einfluss auf die Ölmärkte und seine Bedeutung in der arabischen und islamischen Welt genutzt, um wiederholten Drohungen, ihn mit internationaler Isolation zu bestrafen, zu entgehen.

Auf seinem Weg habe er nicht nur seine Vision für die Zukunft Saudi-Arabiens als selbstbewusste Regionalmacht mit einer wachsenden Wirtschaft und grösserem politischem Einfluss geschärft, sondern auch Lehren aus seinen Rückschlägen gezogen, um seine Methoden zur Erreichung seiner Ziele zu verfeinern, so Analysten und Beamte, die Hubbard befragte.

Zumindest im Moment scheine dem Kronprinzen alles gut zu gelingen, stellt Hubbard fest. Die starke Ölnachfrage der letzten Jahre hat die Kassen des Königreichs gefüllt. Es kaufte einen englischen Fussballverein, zahlte eine beachtliche Summe, um Cristiano Ronaldo in seine nationale Liga zu holen, und versucht, immer neue internationale Stars anzuwerben, um das saudische Image aufzuwerten.

Auch im Profi-Golfsport zeichne sich eine prestigeträchtige Partnerschaft ab zwischen der renommierten PGA und der neu gegründeten, von Saudi-Arabien unterstützten LIV Golf Liga, weiss Hubbard. Sollte dieser Golf-Deal zustande kommen, würde ein enger Vertrauter von Prinz Mohammed zu einer der mächtigsten Persönlichkeiten des Sports werden und Saudi-Arabien eine weitere wichtige Plattform bieten, um sein internationales Image zu verbessern.
[Red. Unterdessen ist der Deal zustandegekommen: Wie sich Saudi-Arabien ins Herz des Golfsports einkauft]

Aus dem «jungen Wilden» wurde ein besonnener Staatslenker

Das alles, so die NYT, seien bedeutende Fortschritte für einen jungen Prinzen, der weithin als gefährlicher Emporkömmling gegolten habe, als sein Vater 2015 König wurde. Noch im selben Jahr startete der Prinz eine Militärintervention im Jemen, die enorm viele zivile Opfer forderte und «in einem Sumpf versunken» sei. Später schockierte er die diplomatische Gemeinschaft mit der Entführung des libanesischen Premierministers und versetzte die Geschäftswelt in Schrecken, indem er Hunderte reicher Saudis im Rahmen einer angeblichen Korruptionsbekämpfungsaktion wochenlang in ein Luxushotel sperrte.

Sein internationales Ansehen ging 2018 stark zurück, nachdem ein saudisches Killerkommando den regimekritischen saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Konsulat des Königreichs in Istanbul getötet und zerstückelt hatte. Prinz Mohammed bestritt, von dem Anschlag gewusst zu haben, aber die CIA kam zum Schluss, dass er die Operation wahrscheinlich angeordnet hatte.

Das sei vermutlich sein Tiefpunkt gewesen, schreibt Hubbard. Doch in den folgenden Jahren habe der Kronprinz dank des beträchtlichen Reichtums und der Macht seines Landes einen Grossteil seines Einflusses zurückgewonnen. Schon früh habe er interne Rivalen ausgeschaltet, um seine Kontrolle im eigenen Land zu festigen. Die von ihm angestossenen sozialen Veränderungen, wie die Erlaubnis für Frauen, Auto zu fahren, und die Ausweitung der Unterhaltungsmöglichkeiten in einem Land, in dem Kinos früher verboten waren, hätten ihm Fans unter der Jugend des Königreichs eingebracht.

Staatsoberhäupter von der Türkei bis zu den Vereinigten Staaten, die Prinz Mohammed einst verschmähten, hätten ihn in den letzten Jahren als die Zukunft Saudi-Arabiens akzeptiert, analysiert Hubbard. Der Kronprinz habe auch die Beziehungen des Königreichs zu China vertieft. So habe China Saudi-Arabien zu einem diplomatischen Durchbruch mit dem langjährigen regionalen Rivalen Iran verholfen.

Letztlich gewinnt der lange Atem des Autokraten

Bin Mohammed wisse genau, dass er als «König im Wartestand» in einer Monarchie mit viel Geduld spielen könne. Tatsächlich wird er sich nie zur Wiederwahl stellen müssen, und er hat es bereits mit dem dritten amerikanischen Präsidenten zu tun. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele weitere kommen und gehen werden, während er im Amt bleiben wird.

Seine «Genesung» von der Khashoggi-Affäre habe gezeigt, dass das Geld des Königreichs einen langen Weg zurücklegen könne und dass, egal wie sehr westliche Regierungen über Menschenrechte reden würden, andere Interessen schliesslich Vorrang hätten, bilanziert Hubbard.

Das Einfordern von Menschenrechten hielten die arabischen Golfstaaten «für einen Witz», zitiert Hubbard Dina Esfandiary, Senior-Beraterin für den Nahen Osten und Nordafrika bei der «International Crisis Group»: «Sie sind sich ihres Wertes für die westliche Welt bewusst, als Partner, als Energieproduzenten, als Länder mit wirtschaftlicher Macht. Also können sie mit dieser leeren Drohung leben, weil sie einfach zur Beziehung gehört.»

Ben Hubbard

Ben Hubbard ist der Leiter des Istanbuler Büros der New York Times. Er hat mehr als ein Dutzend Jahre in der arabischen Welt verbracht, darunter in Syrien, Irak, Libanon, Saudi-Arabien, Ägypten und Jemen. Er ist Autor des Buches «MBS: The Rise to Power of Mohammed bin Salman».

Big Business erringt Vorrang vor Moral und Ethik

Als der Dissident Khashoggi getötet wurde, verteidigte der damalige US-Präsident Trump den Kronprinzen nachdrücklich, indem er unter anderem herausstrich, dass die saudischen Waffenkäufe den Vereinigten Staaten zugutekämen. Auch der republikanische Senator Graham aus South Carolina, der damals sagte, Prinz Mohammed sei nicht geeignet, die Führung zu übernehmen, ist mittlerweile umgeschwenkt, indem er sich bei Bin Salman im April für den Kauf amerikanischer Flugzeuge bedankte: «Sie haben für 37 Milliarden Dollar Flugzeuge gekauft, die in meinem Staat und meinem Land hergestellt wurden», sagte der Senator dem saudi-arabischen Fernsehsender Al Arabiya. Und fügte an: «Als Senator der Vereinigten Staaten behalte ich mir das Recht vor, meine Meinung zu ändern.»

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dessen Regierung Einzelheiten über die Ermordung Khashoggis an die Öffentlichkeit durchsickern liess, habe seine Einwände schliesslich fallen gelassen, schreibt Hubbard. «Letztes Jahr übertrug ein türkisches Gericht das Verfahren gegen Khashoggis Mörder an Saudi-Arabien und beendete damit den letzten Prozess, der die Verantwortlichkeit für das Verbrechen sicherstellen sollte». Und er ergänzt vielsagend: «Kurz darauf hat das Königreich der türkischen Zentralbank Einlagen in Höhe von 5 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt, um die türkischen Finanzen zu stützen.»

Die Einflusssphäre der USA schwindet zunehmend

Viele der Entscheidungen von Kronprinz Bin Salman in den letzten Jahren seien durch das wachsende Gefühl innerhalb des Königreichs beeinflusst worden, dass die USA ein unzuverlässiger Partner geworden seien, schreibt Hubbard in der NYT. Der Kronprinz habe es bereits mit drei US-Präsidenten beider Parteien zu tun gehabt, die alle das amerikanische Engagement im Nahen Osten zurückfahren wollten.

Die Risiken eines solchen Rückzugs für Saudi-Arabien seien 2019 deutlich zu Tage getreten, als Drohnen- und Raketenangriffe, deren Orchestrierung die USA dem Iran vorwarfen, saudische Öleinrichtungen trafen und fast die Hälfte der Produktion des Königreichs vorübergehend zum Erliegen brachten. Präsident Trump lehnte damals eine Intervention ab, woraufhin Prinz Mohammed und seine Amtskollegen in den Vereinigten Arabischen Emiraten zum Schluss gekommen seien, dass die USA ihnen nicht mehr den Rücken freihielten und dass sie selbst für ihre Sicherheit sorgen müssten.

Seither sei es unwahrscheinlicher geworden, dass Saudi-Arabien automatisch auf amerikanische Forderungen eingehe, stellt Hubbard in der NYT fest. Bin Salman habe sich geweigert, die westlichen Sanktionen mitzutragen, mit denen der russische Präsident Putin nach der Ukraine-Invasion isoliert werden sollte. Stattdessen habe Saudi-Arabien die Importe von verbilligten russischen Ölprodukten sogar erhöht.

Abschlägig beschieden wurde auch die Forderung der Regierung Biden, die Ölproduktion hoch zu halten, um die Gaspreise in den Vereinigten Staaten vor den Zwischenwahlen im November zu senken. Im Gegenteil: Im Oktober einigte sich das Königreich mit den anderen Mitgliedern des Ölkartells OPEC Plusdarauf, die Produktion stattdessen zu drosseln, um die Preise hoch zu halten.

Doch die von Präsident Biden angedrohten «Konsequenzen» seien nie eingetreten. Das mache deutlich, dass selbst die USA ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Saudi-Arabien für zu wichtig hielten, um sie zu gefährden, analysiert Hubbard.

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte

Die Wahrnehmung, dass sich die USA aus dem Nahen Osten zurückziehen, habe Prinz Mohammed dazu veranlasst, die diplomatischen Beziehungen Saudi-Arabiens auszuweiten, insbesondere zum grössten Rivalen der USA, zu China. China ist der wichtigste Handelspartner des Königreichs und der grösste Abnehmer saudischen Öls. Ben Hubbard schreibt, beim chinesisch-arabischen Gipfeltreffen in Riad im Dezember 2022 hätten die beiden Staatsoberhäupter darüber gesprochen, dass China als Vermittler fungieren könnte, um den Konflikt mit dem Iran zu entschärfen. Tatsächlich sei es bereits einige Monate später zu einem überraschenden diplomatischen Durchbruch gekommen, als Saudi-Arabien und Iran ankündigten, wieder normale diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Laut Hubbard ist dies ein doppelter Gewinn für Prinz Mohammed, der dadurch die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts mit seinem Hauptfeind in der Region verringert und gleichzeitig dem US-Rivalen China eine Vermittlerrolle zugespielt habe. Die USA seien aufgrund ihrer eigenen angespannten Beziehungen zu Teheran nicht in der Lage gewesen, eine iranisch-saudische Vereinbarung zu vermitteln.

Vom Saulus zum Paulus?

Mittlerweile würden selbst einige ehemalige Kritiker des Königreichs in Kronprinz Bin Salmans Bemühungen, die Region zu stabilisieren, positive Zeichen erkennen, schreibt Hubbard. Er zitiert Dennis Horak, einen ehemaligen kanadischen Botschafter, der 2018 wegen saudi-kritischen Twitter-Beiträgen von seinem Posten in Riad verwiesen wurde: «Riad baut wieder Brücken und versucht, die Hand auszustrecken und eine konstruktivere Kraft in der Region zu sein».

Die Frage sei nur, ob dies von Dauer sein könne, stellt Hubbard abschliessend fest.

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Grafikquellen        :

Oben      —   Arab leaders, U.S. president Joe Biden and Mohammed (fifth from right) at the GCC+3 summit in Jeddah, 16 July 2022

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Unten           —         Speaking with U.S. president Donald Trump in Washington, D.C., 14 March 2017

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DIE EINGEHEGTE STADT

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Juli 2023

Unter dem Al-Sisi-Regime verschwindet in Kairo immer mehr öffentlicher Raum

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von Sophie Pommier

Früher traf man sich an der Corniche, um einfach mal frische Luft zu schnappen. Doch damit ist es vorbei, seit die Uferstraße am Nil vor vier Jahren umgestaltet wurde – ausgerechnet unter dem Slogan „Mamshaa Ahl Misr“ (Promenade für die Menschen Ägyptens).

Seitdem gibt es zwei Bereiche: Der eine ist der für alle zugängliche Bürgersteig neben der im Dauerstau vor sich hin stinkenden Autoschlange, vom Volksmund zahma (Marmelade) genannt. Der andere Bereich liegt direkt am Wasser: eine hölzerne Promenade mit Restaurants und Cafés, an der Privatjachten und Wassertaxis anlegen können.

Aber die Promenade ist nicht frei zugänglich. Der Zutritt kostet 20 ägyptische Pfund (60 Eurocent) pro Person – in einem Land, in dem der monatliche Mindestlohn im öffentlichen Dienst bei 3500 Pfund (106 Euro) und im Privatsektor bei 2700 Pfund (82 Euro) liegt. Alle 100 Meter steht ein Ticket­kiosk, und alle 20 Meter eine Überwachungskamera. Sobald man vom Bürgersteig auch nur an das Geländer herantritt, das die Welt der Reichen und Schönen vom gemeinen Volk trennt, wird man von einem Wachmann höflich, aber bestimmt auf Abstand verwiesen.

Vorbei sind die Abende, da man mit Freunden auf Plastikstühlen am Nil saß und den Feluken hinterhersah, die das Ufer mit ihren dröhnenden Musikboxen beschallten. Auch die hölzernen Partyboote sind fast ganz verschwunden, abgelöst durch einen gediegeneren – und exklusiveren – Bootsservice.

„Wegen der Neubauviertel, der Hochhäuser und jetzt auch noch der neuen Uferpromenade sieht man den Fluss überhaupt nicht mehr“, klagt Selim1 , der seine Stadt über alles liebt. Dabei sei der Nil ein Teil der ägyptischen Identität, abgesehen davon, dass er den ganzen Großraum Kairo strukturiere.

Mit dem Eintrittsgeld zur Promenade erwirbt man noch nicht das Recht, eines von den Happy Few frequentierten Restaurants zu betreten oder in einem Lokal ein Glas zu trinken. Auch an der Tür wird streng gesiebt. Selbst wer zur ägyptischen Mittelklasse gehört, wurde in bestimmten Lokalen schon abgewiesen. „Sie wollten mein Facebook-Konto sehen, um mein soziales Umfeld einzuschätzen“, ärgert sich Mona. Die junge Frau berichtet, dass sie um ein Haar nicht reingelassen worden wäre. Mona trägt einen eleganten Hi­dschab, damit wäre sie in einigen exklusiven Resorts an der Mittelmeerküste unerwünscht, in denen Bikinis und Alkoholkonsum die Norm und Kopftücher verboten sind.

Auch die von den Briten übernommene Klubtradition trägt dazu bei, dass die Segregation weiterlebt. In den zahlreichen Offiziersclubs der ägyptischen Armee gibt es seit Langem exklusive Zirkel wie den Klub der Grenzschützer, den Klub der Offiziere der Streitkräfte, den Klub der Sicherheitsoffiziere, den Klub der Polizeioffiziere.

Die hohen Zäune um die Armenviertel sind ebenfalls nichts Neues: Schon zu Mubaraks Zeiten sollte durch  Mauern um die informellen Siedlungen das Elend versteckt werden. Seitdem hat die so­zia­le Polarisierung noch zugenommen. Ägyptens Wirtschaft liegt am Boden, das Land braucht dringend Geld. Den Konsum stützen nur noch die Reichen, für die – nach dem Vorbild der Golfstaaten – immer mehr öffentliche Räume reserviert werden. So entstehen ständig neue Res­tau­rants und Boutiquen und Bankfilialen, für die der Staat, oft in Gestalt der Armee, Mietzahlungen und Gewerbesteuer kassiert.

Die neuen Bars und Restaurants setzen auf einen pseudokosmopolitischen Look. Vor dem London-Café stehen vier Wachen wie vor dem Buckingham-Palast, mit den bekannten roten Uniformen und den schwarzen Bärenfellmützen. Mit solchen Lokalitäten verliert Ägypten immer mehr von seinem einheimischen Kolorit, was langfristig sogar Einnahmen aus dem Tourismus kosten könnte. Doch bisher scheint sich das vom Golf übernommene Konsumkonzept noch zu rechnen.

Vor allem die Armee hat ein vitales Interesse an der neuen urbanen Entwicklung. Ihr gehören nicht nur die Baufirmen, die die Projekte umsetzen. Sie organisiert auch die Bewirtschaftung, was ihr satte Gewinne einbringt.2 In Kairo ist es ein offenes Geheimnis, dass das berühmte Restaurant Séquoia im Zamalek-Viertel an der Nordspitze der Gezira-Nilinsel geschlossen wurde, weil sich die Besitzer nicht mehr vom Militär erpressen lassen wollten. Die Lokalitäten, die an seiner Stelle aufmachten, führt die Armee.

Triumph des Autos über den Flaneur

Der Kairoer Zoo und der angrenzende Botanische Garten wurden dem Militär ebenfalls zur Sanierung überantwortet, inklusive des Nutzungsrechts mit einer Laufzeit von 25 Jahren. Die meisten ärmeren Familien, die hier am Wochenende auf den Wiesen picknicken, werden sich die Eintrittspreise nach der Wiedereröffnung bestimmt nicht mehr leisten können.

Dasselbe gilt für den mehr oder weniger erschwinglichen Teil des größten ägyptischen Freizeitparks: Der Gezira Sporting Club entstand 1882 auf dem Gelände eines Botanischen Gartens auf der Gezira-Insel. Vor allem an den Wochenenden wurden die Eintrittspreise drastisch angehoben.

Und selbst die archäologischen Stätten wurden teilweise privatisiert. Der koptische Medien- und Mobilfunk-Mogul Naguib Sawiris, einer der reichsten Männer Ägyptens, hat im Oktober 2020 ein Restaurant mit Blick auf die Pyramiden eröffnet.

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Da sind wir wieder in der Politik, wo fast alle den gleichen Gestank ausströmen

Auch die Bewohner des eleganten Stadtteils Heliopolis, benannt nach der nahegelegenen altägyptischen Stadt im Nordosten Kairos, sind verunsichert und fürchten um ihr Viertel. Die Gartenstadt wurde Anfang des 20. Jahrhunderts auf Initiative des belgischen Eisenbahnunternehmers Édouard Empain auf 24 Quadratkilometern mitten in der Wüste angelegt, mit breiten Boulevards und modernster Infrastruktur.

Gegen den Bau einer Straße, die Heliopolis mit der zukünftigen ägyptischen Hauptstadt verbinden soll, die Präsident al-Sisi als Leuchtturmprojekt rund 50 Kilometer östlich von Kairo hochziehen lässt, haben hier viele protestiert. Zahlreiche alte Bäume wurden für die neue Trasse schon gefällt; an einigen Stellen wurde die Straße durch die Bauarbeiten völlig blockiert.3

„Meine Mutter ist schon ein bisschen älter, sie traut sich gar nicht mehr aus dem Haus“, erzählt Mahmud, ein Stadtentwicklungsexperte. „Die neue Schnellstraße verläuft direkt vor ihrer Haustür, und sie haben die Bürgersteige einfach entfernt.“ Die neuen Verkehrsachsen zementieren den Triumph des Autos über den Flaneur.4

Bei dieser urbanen „Entwicklung“ geht es aber auch um die sicherheitspolitische Kontrolle des öffentlichen Raums. Bereits nach dem Militärputsch im September 2013 hatte die Stadtverwaltung von Kairo angekündigt, die wichtigsten Plätze im Stadtzentrum umzugestalten. Damit sollte verhindert werden, dass die Versammlungsorte zu Stätten des Protests werden wie der Tahrir-Platz 2011, im Jahr des Arabischen Frühlings.5

Die Reichen haben sich ohnehin längst in ihre privaten Gated Communities am Stadtrand zurückgezogen, wo man sich nur mit dem Auto fortbewegen kann. Und die Armen sollen möglichst in die noch weiter entfernten Vorstädte ziehen, damit man im Stadtzentrum die alten oder ungenehmigt errichteten Häuser abreißen kann.

In den neuen Vierteln, die sich endlos in eine wüstenähnliche Weite ausdehnen, stehen die Betonklötze reihenweise in der prallen Sonne. An der Hauptstraße gibt es ein paar Cafés, Supermärkte und Einkaufszentren – als Treffpunkt alles andere als attraktiv. Und so sitzen die meisten Leute in ihrer Freizeit zu Hause vor dem Fernseher mit seinem weitgehend staatlich kontrollierten Programm, oder sie chatten in den sozialen Netzwerken, in denen das Regime kaum weniger Einfluss hat.

Der gesamte Lebensstil hat sich verändert. In Ägypten hielten sich die Menschen früher, sobald es die Temperaturen zuließen, vorwiegend auf der Straße auf, vor allem während der Abende im Ramadan. In den neuen fernen Stadtvierteln sind die Mo­scheen mittlerweile fast der einzige Ort, an dem man sich noch versammeln kann. Aber auch sie unterliegen einer strengen Kontrolle, was man daran merkt, dass alle Predigten gleich klingen.

Ein Volkspark für die besseren Kreise

Quelle         :  LE  MONDE diplomatique          >>>>>         weiterlesen

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Oben        —         President Sisi speaking at the UK-Africa Investment Summit in London, 2020

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Wider die Korruption

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Juli 2023

Weltweit wird Korruption als eines der größten Hindernisse für wirtschaftliche und soziale Entwicklung gesehen

Ein Debattenbeitrag von Otto Geiß

Der Maschinen- und Anlagenbau ist zweitgrößter Industriezweig Deutschlands. Er beliefert weltweit Sektoren, die Menschenrechte missachten.

Für 50 Millionen Euro verkaufte die deutsche Krones AG im Jahr 2015 eine Brauereianlage und zwei Abfülllinien an die angolanische Firma Sodiba. Das Darlehen für Sodiba stellte die deutsche KfW-IPEX-Bank zur Verfügung. Wie sich später herausstellte, gehörte das Unternehmen Isabel dos Santos. Ihr Vater war fast 40 Jahre lang Präsident von Angola und häufte durch Vetternwirtschaft und Steuerhinterziehung ein Privatvermögen von 20 Milliarden (!) US-Dollar an. Ein Blick in das angolanische Amtsblatt hätte gereicht, um das zu wissen. Wegen fahrlässigen Vorgehens wurde der KfW eine Geldbuße auferlegt. Krones hat nach eigenen Angaben daraus gelernt und in Bezug auf Geschäftspartner sogenannte „Third Party Checks“ eingeführt.

Der Fall zeigt exemplarisch: Deutsche Unternehmen sollten besser hinschauen, mit wem sie im internationalen Handel Geschäfte machen. In vielen Ländern, in denen auch deutsche Maschinen- und Anlagenbaufirmen Geschäfte machen, gehört Korruption zur Tagesordnung. Transparency International definiert Korruption als Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Vorteil oder Nutzen. Korruption tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf, zum Beispiel als Bestechung, Wahlbetrug, unrechtmäßige Bereicherung und Vetternwirtschaft. Doch was das für Menschen- und Umweltrechte oft bedeutet, ist vielen Unternehmen nicht bewusst.

Viele Verletzungen von Menschenrechten und Umweltschutzvorgaben werden erst und gerade durch Korruption ermöglicht. Korruption ist in diesem Kontext eine stete Begleiterscheinung, ein klassisches Querschnittsphänomen – und kein Kavaliersdelikt.

Weltweit wird Korruption als eines der größten Hindernisse für wirtschaftliche und soziale Entwicklung gesehen. Der finanzielle Schaden, der wirtschaftlich schwachen Ländern durch Korruption entsteht, liegt laut der Konrad-Adenauer-Stiftung um ein Vielfaches über den Beträgen, die diese Länder als Entwicklungsgelder erhalten.

Korruption ist kostspielig – und findet auch statt, weil sich Pri­vat­ak­teu­r:in­nen aus wohlhabenden Industrieländern daran beteiligen. Es braucht immer die Hand, die gibt, und die Hand, die nimmt. Das hierzu notwendige Geld gelangt über internationale Lieferketten an Produktionsstandorte in diesen Ländern. Po­li­ti­ke­r:in­nen und Be­am­t:in­nen nehmen dort zum Beispiel Bestechungsgelder an und dulden Korruption, anstatt Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen, die Menschenrechtsverletzungen und Umweltverstöße ermöglichen oder von ihnen profitieren.

Je höher die Korruptionsrate, desto schlechter die Menschenrechtslage. Das zeigt auf eindrückliche Weise ein Vergleich des von Transparency International herausgegebenen Korruptionswahrnehmungsindex mit dem Freedom-House-Index für politische und bürgerliche Freiheiten. In beiden zählen zum Beispiel der Südsudan, Syrien, Somalia und Jemen zu den Schlusslichtern.

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Korruption, Menschenrechtsverletzungen und Umweltverstöße gedeihen also in gleichen Umgebungen und beruhen auf ähnlichen Ursachen. Wenn deutsche Unternehmen korrupte Praktiken anwenden oder dulden, schaffen sie damit direkt oder indirekt Voraussetzungen, die Menschenrechtsverletzungen ermöglichen. Korruptionsbekämpfung auf allen Stufen der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsketten ist deshalb eine Grundvoraussetzung für eine integre Umsetzung menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten.

Von Bergbau- über Textil- bis Verpackungsmaschinen – die potenziellen und tatsächlichen negativen Auswirkungen in der nachgelagerten Wertschöpfungskette des deutschen Maschinen- und Anlagebaus sind massiv. Das belegt eine Studie, die Germanwatch, Transparency Deutschland, Gegenströmung und das Bischöfliche Hilfswerk Misereor gemeinsam herausgegeben haben, um das Problembewusstsein für die negativen Auswirkungen in der nachgelagerten Wertschöpfungskette zu schärfen. Sie zeigt die Verantwortung der Branche, Sorgfaltspflichten für die nachgelagerte Wertschöpfung zu übernehmen. Deutlich wird, dass dies für die Unternehmen keine unangemessenen Belastungen darstellt.

Die Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus sollten einen risikobasierten Ansatz für Sorgfaltspflichten zu Menschenrechten, Umweltschutz und Korruptionsprävention etablieren und dabei Querschnittsrisiken der Korruption im Auge behalten. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist eine ehrliche und systematische Risikoanalyse, auch mit Blick auf die belieferten Sektoren, jeweilige Geschäftsbeziehungen und -modelle sowie Länderrisiken.

Quelle       :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Rüstung und Militär

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Juni 2023

Eine EU-Armee für das deutsche Europa?

Blutrote Teppiche gibt es nicht für Panzer Verkäufer in der USA

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von              :    Jürgen Wagner
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 398, April 2015, www.graswurzel.net

Rüstungshaushalt, Militär und Rüstungsindustrie.  Die Pläne zum Aufbau einer „Vereinigten Armee von Europa“ reichen zurück bis zum Pleven-Plan der frühen 1950er Jahre.

Seither werden sie in schöner Regelmässigkeit aus der politischen Mottenkiste geholt, zuletzt Anfang März 2015 durch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, dem schnell andere Politiker, besonders aus Deutschland, beisprangen.Dahinter steckt das Kalkül, nur im EU-Verbund liesse sich die militärische – und damit auch die machtpolitische – Schlagkraft der Europäischen Union auf das Niveau ihrer Wirtschaftskraft hieven. Schon vor Jahren fasste der ehemalige belgische Aussenminister Mark Eyskens diese Überlegungen in einem Spruch zusammengefasst, der inzwischen zum geflügelten Wort avanciert ist: „Europa ist ein wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und, was noch schlimmer ist, ein militärischer Wurm, wenn es keine eigenständige Verteidigungsfähigkeit entwickelt.“

Tatsächlich wurde aus genau diesen Gründen mit dem – schrittweisen – Aufbau einer EU-Armee längst begonnen. Die wohl wichtigste Massnahme in diesem Bereich ist das sogenannte Pooling & Sharing (P&S), die gemeinsame Beschaffung und Nutzung von Militärgerät.

Damit droht jedoch der komplette aussen- und sicherheitspolitische Bereich jeglicher nennenswerten parlamentarischen Kontrolle entzogen zu werden. Dies dürfte allerdings sogar eher ein gewünschter Effekt sein – was dem Aufbau einer EU-Armee dagegen aktuell wirklich ernsthaft im Wege steht, sind die unterschiedlichen Interessen zwischen Deutschland und dem überwiegenden Rest der EU-Länder.

Machtpolitischer Mehrwert

Wie gesagt, die Forderung nach einer EU-Armee ist nicht eben originell, teils neu ist allerdings der Begründungszusammenhang (1), in den EU-Kommissionspräsident Juncker seine Initiative stellte: „Eine europäische Armee hat man nicht, um sie sofort einzusetzen. [] Aber eine gemeinsame Armee der Europäer würde Russland den Eindruck vermitteln, dass wir es ernst meinen mit der Verteidigung der Werte der Europäischen Union. [] Eine solche Armee würde uns helfen, eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und gemeinsam die Verantwortung Europas in der Welt wahrzunehmen. [] Im Übrigen würde eine europäische Armee zu einer intensiven Zusammenarbeit bei der Entwicklung und beim Kauf von militärischem Gerät führen und erhebliche Einsparungen bringen.“

Der Verweis auf Russland soll hier augenscheinlich den nötigen Alarmismus erzeugen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Viel interessanter ist dagegen Junckers Äusserung, eine solche Armee sei generell von grossem Nutzen, und zwar unabhängig davon, ob sie überhaupt eingesetzt wird. Hier reproduziert der EU-Kommissionschef die innerhalb der Eliten omnipräsente Vorstellung, dass der weltpolitische Einfluss eines Landes eng mit dessen militärischen Schlagkraft zusammenhängt. Mit anderen Worten brachte diesen Gedanken der ehemalige EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering folgendermassen auf den Punkt: „Politische Gestaltungskraft ist in der internationalen Politik aber unveränderlich an militärische Stärke gebunden. [] Die EU sollte sich daher nicht nur in ihrem Wunschdenken und ihrer Rhetorik zu einem Akteur von globaler Relevanz erklären, sondern sie muss auch die Mittel besitzen und danach handeln.“

Folgt man dieser Auffassung, so ist ein Zuwachs an militärischer Macht allein deshalb schon wünschenswert, da er mit der Vergrösserung des eigenen Einflusses einhergeht. Hier setzt Junckers zweites Argument in seinem Plädoyer für eine EU-Armee an: beim Geld. Denn selbstredend sollen die von ihm prognostizierten Einsparungen nicht zu einer Absenkung der Rüstungshaushalte führen, sondern zu Effizienzsteigerungen, also knapp zusammengefasst: Zu mehr Krieg pro Euro!

Ausgangspunkt der diesbezüglichen Überlegungen ist der kleinteilige europäische Rüstungssektor, der sich auf viele Länder und Rüstungsbetriebe verteilt und durch den das ganze Geschäft mit dem Krieg reichlich ineffizient wird. So argumentierte etwa Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel in seiner rüstungspolitischen Grundsatzrede (2) vom 8. Oktober 2014: „Die Verteidigungsindustrie in der EU ist nach wie vor national ausgerichtet und stark fragmentiert. Europa leistet sich den ‚Luxus‘ zahlreicher Programme für gepanzerte Fahrzeuge, den intensiven Wettstreit zwischen drei Kampfflugzeugen und eine starke Konkurrenz z. B. im U-Boot-Bereich. [] Folgen dieser unbefriedigenden Situation sind hohe Kosten und nachteilige Folgen für den internationalen Wettbewerb, aber auch negative Auswirkungen für die Streitkräfte. Die Bundesregierung muss daher nach meiner Meinung verstärkt auf eine europäische Zusammenarbeit bis hin zum Zusammengehen von in einzelnen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen setzen.“

Eine Bündelung des Rüstungssektors in einer EU-Armee (im Fachjargon: Konsolidierung) soll hier Abhilfe schaffen, wie etwa eine Studie des wissenschaftlichen Dienstes des EU-Parlaments namens „Cost of Non-Europe Report“ (3) argumentiert: „73 Prozent der Beschaffungsvorhaben würden bis heute nicht europaweit ausgeschrieben. ‚Zusammenarbeit bleibt die Ausnahme‘, urteilen die Experten. Die daraus entstehenden Mehrkosten sind immens. Laut Bericht belaufen sie sich auf mindestens 26 Milliarden Euro pro Jahr. Maximal könnten sich die verschwendeten Steuergelder sogar auf 130 Milliarden Euro jährlich summieren. Im Jahr 2012 gaben die EU-Staaten rund 190 Milliarden für Rüstung aus.“ (Spiegel Online, 08.12.2013) Auch Junckers Pressesprecher Margaritis Schinas gab an, mit der vom EU-Kommissionschef geforderten Intensivierung der „Zusammenarbeit bei der Entwicklung und beim Kauf von militärischem Gerät“, also mit Pooling & Sharing, könnten Kostensenkungen in dieser Grössenordnung erreicht werden: „Wir haben Studien, die zeigen, dass wir bis zu 100 oder 120 Milliarden Euro pro Jahr einsparen können“ (euraciv.de, 10.03.2015)

Nukleus einer EU-Armee

Auch wenn die Einschnitte in den Rüstungshaushalten bei weitem nicht so dramatisch ausfallen, wie das Gejammer von Politik, Militär und Rüstungsindustrie nahe legt, existiert trotzdem aus oben beschriebenen Gründen ein hohes Interesse an einer Vergrösserung der militärischen Schlagkraft – und P&S soll genau dies bewerkstelligen. So heisst es in einem Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): „Europa verliert die Fähigkeit, jenseits seiner Grenzen militärisch zu handeln. [] Die chronisch unterentwickelten militärischen Fähigkeiten drohen weiter zu verkümmern: als Folge der Finanzkrise schrumpfen die Verteidigungsapparate rasant. [] In den verteidigungspolitischen Kommuniqués von Nato und EU gilt Pooling und Sharing (P&S) derzeit als technokratische Wunderwaffe gegen drohende militärische Handlungsunfähigkeit.“

Die bislang aus 28 Einzelarmeen mit häufig vollkommen unterschiedlicher Ausrüstung modular oder ad-hoc zusammengesetzten EU-Einheiten sollen sukzessive in immer mehr Teilbereichen durch stehende gemeinsame Truppenteile mit gemeinsamen Stäben und einheitlicher Bewaffnung ersetzt werden. Die derart gebündelten Kräfte stellen den Nukleus einer künftigen EU-Armee dar und sollen dann die prognostizierten deutlichen Kostensenkungen in den Bereichen Anschaffung, Betrieb und Wartung militärischen Geräts nach sich ziehen. Das Ganze ergibt dann deutlich mehr Militärmacht als die Summe seiner Teile, so die Argumentation.

Der erste wesentliche Impuls zur Intensivierung von Pooling & Sharing ging von der deutsch-schwedischen Gent-Initiative aus, deren Vorschläge der Europäische Rat am 9. Dezember 2010 billigte. Im Dezember 2011 wurden elf Pilotprojekte vereinbart, die sich etwa auf Bereiche wie Luftbetankung, Satellitenkommunikation, „intelligente“ Munition usw. erstrecken. Um diese Bereiche auszuweiten, wurde am 19. November 2012 ein Verhaltenskodex (Code of Conduct) verabschiedet, dessen Zweck der damalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Christian Schmidt, folgendermassen zusammenfasste: „Dieser Verhaltenskodex enthält eine starke politische Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten, die multinationale Kooperation stärker und von Anfang an in ihre nationalen Planungen einzubeziehen und möglichst zur bevorzugten Methode im Bereich der Fähigkeitsentwicklung zu machen.“

Auf dem Rüstungsgipfel im Dezember 2013 wurde dann ein „Policy Framework for Systematic and Long-Term Defence Cooperation“ in Auftrag gegeben, das im November 2014 veröffentlicht wurde. Beim nächsten anstehenden Rüstungsgipfel der Staats- und Regierungschefs im Juni 2015 soll die Intensivierung von Pooling & Sharing erneut weit oben auf der Agenda stehen – u.a. dürfte dabei der wiederholt gemachte Vorschlag debattiert werden, europaweite Beschaffungsprojekt generell von der Mehrwertsteuer zu befreien, um so P&S voranzubringen.

Kriegspolitik im stillen Kämmerlein

Zwar darf bezweifelt werden, dass Pooling & Sharing auch nur ansatzweise zu Einsparungen in Dimensionen führen wird, wie sie die oben genannten Studien nahelegen. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, besteht, wie bereits erwähnt, die Absicht dann ohnehin nicht darin, dies für eine Senkung der Rüstungshaushalte zu nutzen, sondern für die Erhöhung der militärischen Schlagkraft. Allein schon deshalb ist das gesamte Konzept friedenspolitisch bedenklich.

File:Upgraded Leopard 2.jpg

Doch der eigentliche Haken ist die Frage der demokratischen Kontrolle – in einigen EU-Ländern, unter anderem auch hierzulande, verfügen die nationalen Parlamente (noch) über erhebliche Mitspracherechte, insbesondere was die Zustimmung zu Auslandseinsätzen anbelangt. Obwohl ein Szenario, in dem der Bundestag einen von der Regierung beschlossenen Einsatz kippen würde, nur schwer vorstellbar ist, hat der Parlamentsvorbehalt dennoch eine wichtige Funktion: Er zwingt dazu, über den Sinn bzw. Unsinn von Militäreinsätzen öffentlich zu debattieren und ein Mindestmass an Rechenschaft darüber abzulegen.

Genau hier ergibt sich aus der Debatte um eine EU-Armee ein militaristischer Kollaterallnutzen, indem argumentiert wird, es könne nicht angehen, dass der Bundestag – und sei es nur theoretisch – den Einsatz von gemeinsam angeschafftem und/oder genutztem Militärgerät die Zustimmung versagen könnte. Dieser Mangel an „Verlässlichkeit“ sei der wesentliche Stolperstein, weshalb P&S nur langsam vorankomme. Er müsse aus diesem Grund aus dem Weg geräumt werden.

Am lautstärksten fassten diese Überlegungen der inzwischen verstorbene CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Schockenhoff und sein Kollege Roderich Kiesewetter schon 2012 folgendermassen zusammen: „Wichtig ist, dass wir wie unsere Verbündeten auf Kommando-, Logistik-, Aufklärungs- oder Ausbildungseinheiten, die ‚geteilt‘ werden, verlässlich zugreifen können. [] Eine wirkungsvolle GSVP [Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik] wird die militärischen Fähigkeiten der einzelnen Staaten in so starkem Masse zusammenlegen und unter geteilte Führung stellen, dass es nicht möglich sein wird, nationale Vorbehalte als Einzelmeinung durchzusetzen. Deutsche Soldaten könnten damit in einen EU-Einsatz gehen, den die deutsche Regierung und der Deutsche Bundestag allein aus eigener Initiative nicht beschlossen hätten. [] Dieser Souveränitätsverzicht betrifft gerade den Bundestag mit seiner im europäischen Vergleich eher starken Mitspracherolle und müsste sich in einer Reform des Parlamentsvorbehalts bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr niederschlagen. Der Bundestag muss weiterhin das letzte Wort in Form eines Rückrufvorbehalts bei solchen Entscheidungen behalten.“

Mit der Frage, wie sich der Parlamentsvorbehalt am „besten“ aushebeln lässt, beschäftigt sich derzeit eine Kommission unter Leitung des ehemaligen Verteidigungsministers Volker Rühe, die in absehbarer Zeit ihre Vorschläge präsentieren will. Dabei ist zu sagen, dass ein Abbau nationaler Kontrollmöglichkeiten grundsätzlich abzulehnen ist. Dies gilt aber umso mehr dann, wenn gleichzeitig keine Stärkung des EU-Parlaments erfolgt – und genau hiervon ist nirgends in der gesamten Debatte ernsthaft die Rede. Bislang hat das EU-Parlament in der Aussen- und Sicherheitspolitik faktisch nichts zu sagen und es deutet auch nichts darauf hin, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. Die als Exekutive agierenden EU-Staats- und Regierungschefs – und zwar v.a. die der grossen EU-Länder, allen voran Deutschland – könnten also in absehbarer Zukunft die EU-Militärpolitik im Alleingang weitgehend unbehelligt von nationaler oder europäischer Kontrolle betreiben.

Pleven Redux

Trotz der machtpolitischen Attraktivität von P&S sind viele BefürworterInnen des Konzeptes unzufrieden, mit den eher mauen bisherigen Fortschritten in diesem Bereich. An Deutschland liegt es hier bestimmt nicht: Auch die Juncker-Initiative erfreute sich grosser Unterstützung quer durchs nahezu komplette politische Farbenspektrum. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und auch Kanzlerin Angela Merkel begrüssten den Vorstoss ebenso wie der SPD-Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Hans-Peter Bartels und Aussenminister Frank-Walter Steinmeier. Als eine „hervorragende Idee“ bezeichnete auch der Grünen-Aussenpolitiker Omid Nouripour die jüngste EU-Armee-Initiative, verwies allerdings darauf, dass dem einige „Elefanten“ im Weg stünden, etwa, dass eine EU-Armee unrealistisch sei, „solange es nicht eine europäische Aussenpolitik gibt“.

Ungewollt verweist der heutige Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung Hans-Gert Pöttering auf den eigentlichen Elefanten im Raum: „Die EU kann nur gemeinsam das Gewicht, das sie mit Blick auf ihre Bevölkerung und Wirtschaftskraft besitzt, in die Waagschale werfen. Die Schuldenkrise in einigen EU-Ländern macht noch einmal offenkundig, was längst hätte klar sein müssen: Von einer gemeinsamen Währung profitieren alle, und daher müssen sich auch alle an die Spielregeln, an die vertraglichen Grundlagen der Währungsunion halten. [] In der Finanz- und Wirtschaftspolitik haben die Eurostaaten entscheidende nationale Kompetenzen schon an die supranationale Ebene übertragen. Es ist an der Zeit, dies auch im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu wagen.“

Angesichts solcher Sätze dürften in nahezu allen EU-Hauptstädten die Alarmglocken angehen. Schliesslich hat die Bundesregierung gerade im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise unter Beweis gestellt, dass sie bereit und in der Lage ist, ihren Willen in diesem Bereich auch rabiat gegen andere EU-Länder durchzusetzen. Gepaart mit den teils offen artikulierten Forderungen nach einem „deutschen Europa“ dürfte hier die Ursache liegen, dass sich der Enthusiasmus dafür, auch im Militärbereich „nationale Kompetenzen an die supranationale Ebene zu übertragen“, derzeit in Grenzen hält. So äusserte sich etwa der britische Premier David Cameron zu Junckers Vorschlägen: „Unsere Position ist absolut klar. Für die Verteidigung sind konkrete Staaten und nicht die Europäische Union zuständig.“ Auch Polens Aussenminister Grzegorz Schetyna nannte die Initiative eine „sehr riskante Idee“.

Und selbst aus Frankreich kommen eher zurückhaltende Töne und zwar aus nicht gänzlich anderen Gründen, weshalb die französische Nationalversammlung bereits den Pleven-Plan zum Aufbau einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahr 1954 versenkte. Louis Terrenoire, der damalige Generalsekretär der Gaullisten, kritisierte den Plan ein Jahr vor seinem Scheitern folgendermassen: „Acht Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus sind die diplomatischen Bestandteile der germanischen Macht wiederhergestellt. Wenn die europäischen Integrationspläne, vor allem die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, verwirklicht werden sollten, wird künftig über die deutsche Vorherrschaft kein Zweifel mehr möglich sein.“

Jürgen Wagner
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 398, April 2015, www.graswurzel.net

Anmerkungen:

Jürgen Wagner ist Politikwissenschaftler und geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI, www.imi-online.de) in Tübingen.

(1) www.focus.de/politik/ausland/verteidigung-der-werte-um-russland-in-schach-zu-halten-juncker-fordert-europa-armee_id_4528731.html

(2) www.bmwi.de/DE/Presse/reden,did=661856.html

(3) www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/etudes/join/2013/494466/IPOL-JOIN_ET(2013)494466_EN.pdf

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —   Secretary of Defense Lloyd J. Austin III is greeted upon arrival to the Ministry of Defense in Berlin by German Defense Minister Boris Pistorius and Ambassador Amy Gutmann Jan 19, 2023. (DoD photo by U.S. Air Force Tech. Sgt. Jack Sanders)

Unten        —      Leopard 2 Panzer der neuesten Generation auf dem Gelände der Rheinmetall.

Datum
Quelle Eurosatory_1506–0785
Urheber AMB Brescia

Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 2.0 generisch“ (US-amerikanisch) lizenziert.

Checked copyright icon.svg Dieses Bild wurde ursprünglich auf Flickr veröffentlicht und am 7. Oktober 2012 vom Administrator oder vertrauenswürdigen Benutzer File Upload Bot (Magnus Manske) überprüft. Die Überprüfung ergab, dass das Bild zum Zeitpunkt der Überprüfung auf Flickr mit der oben genannten Lizenz markiert war.

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Die Letzte Generation

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Juni 2023

„Schluss mit der Präventivhaft“

Von    : Herta Däubler-Gmelin als Gastbeitrag

Herta Däubler-Gmelins Expertise ist gefragt: als Vorsitzende der Berliner Kommission „Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen“ ebenso wie zur Kriminalisierung der Letzten Generation. Die Ex-Bundesjustizministerin (SPD) in einem Exklusiv-Beitrag für Kontext.

Die Aktionen der Letzten Generation spalten die Öffentlichkeit. Viele von uns unterstützen ihre Ziele mit gutem Grund: Wir wissen längst, dass nur noch wenig Zeit bleibt, um die Klimakrise nicht vollends zur Klimakatastrophe zu machen. Wir alle sehen auch, dass die Verantwortlichen in Regierungen und Parlamenten die notwendigen Veränderungen zu zögerlich vorantreiben können, weil der Einfluss der Lobby zu stark und die Trägheit vieler Bürgerinnen und Bürger zu groß ist. Viele lassen sich auch allzu gern von populistischen Beschwichtigern einlullen, obwohl wir jeden Tag mehr erleben, dass jedes weitere Verschieben der längst bekannten überfälligen Entscheidungen doppelt kostet und sich rächen wird.

Also: Alle müssen mehr tun, wir müssen unsere gewohnte Lebensweise verändern. Und zwar bald. Darauf muss immer wieder aufmerksam gemacht werden. Durch bessere politische Kommunikation – das ist eine wichtige Aufgabe nicht nur für Politiker:innen und Parteien, sondern auch für Journalisten, die sich heute viel zu viel darauf begrenzen, genüsslich den Streit und die Konflikte in der Regierung zu beschreiben.

Demonstrationen und Aktionen der Zivilgesellschaft gehören dazu. Die gibt es glücklicherweise, und sie sind, ebenso wie Kritik, nicht nur erlaubt, sondern geradezu Bürgerpflicht. Sie können Öffentlichkeit und Druck erzeugen und auf diese Weise mithelfen, die längst als erforderlich erkannten Änderungen gerade noch rechtzeitig genug umzusetzen.

Mehr Kreativität und Hirn

Das muss gelingen. Die Nachdenklichen unter den jungen Leuten wissen, was alle spüren: Heute wird über ihre Zukunft entschieden. Meine Enkelinnen und Enkel und weitere Generationen müssen die Chance bekommen, auch künftig selbstbestimmt in einer Gemeinschaft mit Freiheit, Schutz und Solidarität leben zu können. Das fordern sie in vielen Demonstrationen und Aktionen, von denen die meisten beeindruckend kreativ sind und bemerkenswert wenig über die Stränge schlagen.

Nicht so manche Aktivitäten der Letzten Generation: Deren Aktionen des zivilen Ungehorsams verletzen häufig Vorschriften, auch Gesetze. Das ist ein Problem, ohne Zweifel; in jedem Einzelfall müssen Ziel und Mittel in rechtsstaatlicher Balance stehen. Ihre Klebeaktionen beispielsweise sind ein Grenzfall. Sie nerven nicht nur die für die Trägheit politisch Verantwortlichen, sondern auch viele „normale“ Bürger, die sich ungern behelligen lassen, obwohl auch sie aufgerüttelt werden müssen: Wer, wie ich, im E-Auto in Berlin (nicht in Tübingen, da hat sich OB Palmer vernünftigerweise mit den Aktivisten auseinandergesetzt) mehr als eine Stunde in einem Kleber-Stau stand, hat für den Zorn vieler Aufgestauter durchaus Verständnis. Allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, ob die Empörten, die bei solchen Gelegenheiten am liebsten in die Reporter-Mikrofone beißen würden, sich in den heute normalen verkehrsbedingten Staus vergleichbar echauffieren.

Ich finde auch die Farb- oder Kartoffelbreiattacken auf berühmte Museumsbilder und manches andere schlicht blöd und wünsche mir mehr Kreativität und Hirn, um durch bessere Demonstrationsformen die notwendige Klimapolitik im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten und nicht durch die Aufregung über zweifelhafte Methoden abzulenken. Die Forderung der Letzten Generation nach „Bürgerräten“ halte ich für politisch falsch und für eher naiv. Zwar sehe ich, dass damit die Zuständigkeit der verfassungsgemäß gewählten Parlamente keineswegs verdrängt werden soll. Ich sehe jedoch nicht, warum und wie Bürgerräte eine weniger träge oder weniger durch Lobbyisten beeinflusste Klimapolitik durchsetzen könnten. Vorgeschaltete Beratungen von Bürgerräten würden die Willensbildung nur weiter verlängern. Tempo 30 in Ortschaften und Tempo 100 im Übrigen wäre konsequenter und wirksamer.

Söder sollte besser Bäume umarmen

Söder – Holz zu Holz und Hirn zu Hirn

Kritik ist also nicht nur an der Trägheit der Regierenden und unserer Gesellschaft geboten; ich halte auch die Auseinandersetzung über manche Aktivitäten der Letzten Generation für völlig berechtigt!

Aber ist es deshalb vertretbar oder gar richtig, diese Gruppe als „Terroristen“, „Ökoterroristen“ oder Kriminelle abzustempeln, wie das von besonders prägnanten Lautsprechern der politischen Rechten mittlerweile geschieht? Und ist es zulässig, Mitglieder dieser Gruppe durch Polizei und Justiz entsprechend strafrechtlich zu verfolgen? Klare Antwort: nein, ganz sicher nicht.

Quelle       :          KONTEXT-Wochenzeung-online        >>>>>>        weiterlesen

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Oben     — Mehr Infos: www.mehr-demokratie.de/erfahrungsbericht-karlsruhe.html

2.) von Oben      —     Der Aufstand der Letzten Generation blockiert Straße am Hauptbahnhof, stehend Lina Eichler, Berlin, 28.01.22

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Unten       —

Letzte Generation Löwenbräukeller Munich Dachauer Strasse 2023-06-12

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Juni 2023

Nur Rationierung ist gerecht

Von Ulrike Herrmann

Wassermangel im Dürresommer. Angeblich leben wir in einer Marktwirtschaft. Doch wenn wichtige Güter knapp werden, hilft die nicht weiter. Dann muss rationiert werden.

Wer bekommt wie viel Wasser? Und wofür? Wie lange darf man noch den Rasen sprengen oder Pools füllen? Solche Fragen werden auch in Deutschland relevanter. In den vergangenen Wochen hat es kaum geregnet, ein Ende der Dürre ist nicht abzusehen. Vor allem im Osten Deutschlands sind die Dürrekarten tiefrot eingefärbt.

Es steht ein Wort im Raum, das eigentlich nur aus Kriegszeiten bekannt ist, wenn alles knapp wird: Rationierung. Ganz selbstverständlich arbeitet die Berliner Umweltsenatorin schon an einem Notfallplan, und auch die BürgerInnen staunen nicht, dass Wasser demnächst staatlich zugeteilt werden könnte.

Diese allgemeine Erwartung an den Staat, dass er die Regie übernehmen soll, ist jedoch längst nicht so naheliegend, wie die meisten BürgerInnen offenbar intuitiv annehmen. Denn angeblich leben wir in einer „Marktwirtschaft“. Zumindest FDP und Union sind davon fest überzeugt. In einer „Marktwirtschaft“ würde jedoch der Preis regeln­, wer wie viel Wasser bekommt. Marktwirtschaft wäre: Wenn Wasser knapp ist, wird es eben teuer. Der Effekt wäre, dass die Reichen weiter ihre Pools füllen und Golfplätze bewässern lassen, weil sie sich die erhöhten Wasserpreise mühelos leisten können. Dafür würde es dann in den armen Quartieren nicht mehr für eine Wassertoilette reichen.

Doch offenbar sind die Deutschen keine Marktwirtschaftler, wenn wichtige Güter wie Wasser knapp werden. Dann soll nicht mehr der Preis regieren – sondern die Gerechtigkeit. Jede soll mehr oder minder das Gleiche bekommen. Wenn die Reichen dann auf Pools und Golf verzichten müssen, haben sie eben Pech gehabt.

Das hat einen sehr rationalen Kern: Deutschland ist eine Demokratie, geht also davon aus, dass alle Menschen gleich sind und daher jeder eine Stimme hat. Dieser fundamentale Gleichheitsgedanke wird auch ökonomisch zentral, wenn es darum geht, wichtige Güter zu verteilen, sobald sie knapp werden.

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

Nun ist Wasser ein Extrembeispiel, weil Menschen nicht lange überleben können, wenn sie nicht regelmäßig trinken. Da liegt es nahe, auf Rationierung zu setzen, damit alle versorgt sind. Spannend wird es bei Gütern, die nicht unentbehrlich sind. Werden auch sie irgendwann rationiert? Da ist zum Beispiel das Fliegen, ein Lieblingshobby der Deutschen. Schon jetzt ist klar, dass es der Luftfahrt in den nächsten Jahrzehnten nicht gelingen wird, klimaneutral zu werden. Klimaneutralität ist nur möglich, wenn man aufs Fliegen verzichtet. Software-Milliardär Bill Gates weiß auch schon, wie er dieses Problem gern lösen würde: Kerosin muss eben sehr teuer werden. Dann könnte er weiterhin mit seinen Privatjets fliegen, während der große Rest finanziell überfordert wäre und am Boden bleiben muss.

Quelle        :       TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben      —     Left: „Um, gee… how many people came up trying to pass off little scribbled notes saying, „I.O.U. $3.00. Sincerely, Jon Doe?!“ Well, at least I thought it was funny.

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Süd- und Mittelamerika:

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Juni 2023

 Was in vielen unserer Medien unterging

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :     Romeo Rey /   

Linke Reformpolitik hat in vielen Ländern keine Chance, weil sich konservativ dominierte Parlamente mit aller Kraft dagegenstemmen.

In mehreren Ländern Lateinamerikas, wo linksgerichtete Kandidaten in letzter Zeit die Präsidentschaftswahlen gewonnen haben, erweisen sich konservative Mehrheiten in den Parlamenten wie erwartet als entscheidende Bremsklötze. Gesetzes- und Verfassungsprojekte, die auf strukturelle Reformen hinauslaufen sollten, prallen an einer Wand des Widerstands ab. Allerdings kann man auch nicht übersehen, dass die Anhänger des Wandels mangels politischer Erfahrung und innerer Geschlossenheit oft jedes Fingerspitzengefühl vermissen lassen.

Ein typischer Fall für dieses Scheitern ist Chile, das Ende 2021 den kaum 35-jährigen ehemaligen Studentenführer Gabriel Boric zum Präsidenten der Republik wählte, eine linke Mehrheit im Kongress jedoch klar verfehlte. Jener Urnengang schien zu bestätigen, dass das politische Spektrum in diesem Andenstaat in drei ähnlich grosse Drittel zerfällt, wobei die mittlere Fraktion normalerweise eher nach rechts als nach links tendiert. Dieser Trend verstärkte sich gerade noch mal beim Plebiszit über eine neue Staatsverfassung und erst recht bei der kürzlich erfolgten Wahl eines nur noch 51 Personen zählenden Verfassungsrats, in dem nun Konservative und Ultrarechte fast nach Belieben schalten und walten können. Diesen in dem Ausmass von niemandem erwarteten Umschwung kommentiert die britische Tageszeitung «The Guardian» mit Projektionen auf andere Teile des Subkontinents.

Eine Analyse in «Nueva Sociedad» befasst sich mit dem Umstand, dass die Teilnahme an diesen Urnengängen – entgegen früherer Regelungen – obligatorisch war, was offenbar zu starken Verwerfungen zwischen den Blöcken führte. Fatal war auch, dass sich die Linken nicht als Einheit präsentierten, sondern den Eindruck von Zerwürfnis in manchen zentralen Punkten hinterliessen. In naher Zukunft wird die konservative Mehrheit im Verfassungsrat in eben diesen heiklen Fragen (privates oder staatliches Übergewicht in der Alters- und Krankenversicherung sowie im Schul- und Hochschulwesen) Farbe bekennen müssen. Mit simplen Status-quo-Lösungen dürfte sich die Mehrheit des chilenischen Volkes kaum abfinden wollen. Auch für neuere Probleme dürfte es keine Patentformeln geben, z. B. für die Stagnation in der Wirtschaft, das Auflodern der Inflation, die illegale Einwanderung im Norden des Landes, den andauernden Konflikt mit den indigenen Mapuches im Süden und die zunehmende Gewalttätigkeit im Zusammenhang mit dem Rauschgifthandel.

Ein ähnliches Panorama offenbart sich den regierenden Linken in Kolumbien. Präsident Gustavo Petro sah sich kaum ein Jahr nach der Amtsübernahme veranlasst, eine gründliche Umbildung seines Kabinetts vorzunehmen. Sieben der achtzehn Minister mussten den Hut nehmen. Praktisch bei allen Entscheiden muss der Staatschef sorgfältig abwägen, wie er die sehr heterogene Truppe seines Pacto Histórico zusammenhalten kann, während er gleichzeitig in den Reihen der seit zwei Jahrhunderten (mit)regierenden Liberalen und Konservativen die nötigen Stimmen zusammenkratzen muss, um seine wichtigsten Projekte durch das ihm mehrheitlich feindlich gesinnte Parlament hindurchzuschleusen.

Eigentlich sollte die Regierungspolitik in erster Linie darauf hinauslaufen, die Lebensbedingungen für die ärmere Hälfte Kolumbiens substanziell zu verbessern. Doch die bürgerliche Opposition verzögert mit allen Mitteln, Tricks und Vorwänden alle Bemühungen um die versprochene Landreform. Auch die Umsetzung der Friedensabkommen mit verschiedenen Guerillas kommt kaum vom Fleck, berichtet die Online-Zeitung amerika21. Die linken Ultras drohen die Geduld zu verlieren, und auf der Gegenseite lauert im Hintergrund Expräsident Álvaro Uribe, der schon immer «gewusst hat», dass die Verhandlungen mit den Aufständischen nie zu einem für ihn und seine Anhängerschaft akzeptablen Ergebnis kommen würden.

Und wie sieht es aus in Brasilien? Kommt der wiedergewählte Lula da Silva in seinem dritten Mandat mit seinen ähnlich lautenden Plänen in Fahrt? Dass der altverdiente Mann der brasilianischen Arbeiterbewegung – wie seine an die Schalthebel der Regierungsgeschäfte gekommenen Kolleginnen und Kollegen in diesem Erdteil – leisten und liefern möchte, steht ausser Zweifel. Doch auch im südamerikanischen Riesenstaat zählen über kurz oder lang nur die konkreten Ergebnisse. Die Lobbys der reichsten Fazendeiros, der Rohstoffkonzerne, der Bau- und Möbelholzindustrie, der Goldgräber, Viehzüchter und jene der modernen Bergbauindustrie sind landesweit bestens organisiert. Ihre Tentakel reichen in alle legislativen, exekutiven und juristischen Bereiche hinein. Gegen eine solche Übermacht hat auch das formale Oberhaupt eines der grössten Staaten der Welt nicht viel zu bestellen, wie ein Bericht in der NZZ deutlich macht. Vor allem dann nicht, wenn manche Interessenkonflikte tief in die eigene Anhängerschaft hineinreichen.

Etwas anders gelagert sind die Probleme, mit denen sich die Regierung von Nicolás Maduro herumschlägt. Zum einen mochte er einen Punkt für sich verbuchen, als die Meldung in Caracas eintraf, dass sein bis anhin wichtigster Rivale Juan Guaidó schliesslich die Segel streichen musste und sich in die USA abgesetzt hat. Guaidó hatte vor ein paar Jahren erreicht, dass ihn rund 60 Staaten (vor allem der Alten Welt sowie einige konservativ regierte in Lateinamerika) als «legitimen Präsidenten» von Venezuela anerkannten. Rückblickend ist nun festzustellen, dass solche Illusionen kaum mehr als eine peinliche Schaumschlägerei waren.

Zum andern muss Maduro nun zuschauen, wie Washington Venezuelas einst rentabelstes Unternehmen im Ausland ausschlachtet und den Meistbietenden zum Kauf anbietet. Wörtlich aus der Depesche von amerika21: «Mit drei Raffinerien und einem Netz von mehr als 4000 Tankstellen in den USA hat Citgo im vergangenen Jahr einen Gewinn von 2,8 Milliarden US-Dollar erzielt und könnte mit 13 Milliarden Dollar bewertet werden. Caracas hat jedoch seit 2019 keine Einnahmen mehr erhalten, nachdem Washington die Selbstausrufung Guaidós zum ‹Interimspräsidenten› anerkannt und die Leitung von Citgo an einen Ad-hoc-Vorstand der Opposition übergeben hatte.» Lateinamerika wird die Abwicklung dieses Falles aufmerksam verfolgen, um eigene Schlüsse über die Sicherheit von fremdem Eigentum in den USA zu ziehen.

Auf der Kippe scheint das Schaukelspiel zwischen links und rechts in Ecuador zu stehen. Dort hat der konservative Staatschef Guillermo Lasso denselben Schritt unternommen wie sein damaliger linksgerichteter Amtskollege Pedro Castillo im benachbarten Peru. Beide wollten den gordischen Knoten zwischen ihrer Regierung und der Opposition mit der Schliessung des Parlaments und nachfolgenden Neuwahlen lösen, was man im Äquatorstaat hochoffiziell als muerte cruzada (gleichzeitiger Tod) bezeichnet. Dem Amtsinhaber in Quito könnte laut amerika21 dieses Manöver gelingen, während der Schuss in Lima nach hinten losging. Als möglicher Profiteur in dieser verzwickten Situation lauert Ecuadors früherer Präsident Rafael Correa.

In Argentinien, wo man sich auf allgemeine Wahlen im Oktober vorbereitet, ist mittlerweile ein neuer wertgrösster Geldschein in Umlauf gesetzt wurden. Er lautet auf 2000 Pesos, zum offiziellen Wechselkurs beträgt sein Wert derzeit umgerechnet knapp 8 Franken / Euro / US-Dollar, zum parallelen oder «schwarzen» Kurs gar nur die Hälfte davon. Bis zum Jahresende rechnet man in Buenos Aires mit einer Inflationsrate von 140 Prozent. Das Karussell der Anwärter auf die Nachfolge des diffus populistischen Präsidenten Alberto Fernández dreht sich schwindelerregend, und viele fragen sich, was für einen Reiz es haben könne, sich um ein derart giftiges Erbe zu streiten.

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Oben      —   Citgo-Tankstelle in Belleville (Wisconsin)

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Der KI Grenzen setzen

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Juni 2023

EU-Parlament zur künstlichen Intelligenz

Von Svenja Bergt

Am Mittwoch möchte das EU-Parlament über die weltweit bislang umfassendste Regulierung von KI abstimmen. Ex­per­t:in­nen fordern schon Nachbesserungen.

Es ist ein düsteres Szenario, das Meredith Whittaker da malt. Eine Welt, in der wenige große Unternehmen Systeme mit künstlicher Intelligenz (KI) herstellen und kontrollieren. Eine Welt, in der unterbezahlte Ar­bei­te­r:in­nen diese KI-Systeme kuratieren und ihnen zuliefern müssen. In der die Interessen und Rechte der Nut­ze­r:in­nen und das Wohl der Gesellschaft sekundär sind. Mit diesem Szenario warnt Whittaker davor, die Unternehmen und den Markt einfach machen zu lassen: „Die KI-Systeme werden von Firmen gebaut, deren primäre Ziele Profit und Wachstum sind.“

Whittaker, einst Google-Mitarbeiterin, ist heute Präsidentin der Signal-Stiftung, die mit der gleichnamigem Messenger-App verbunden ist. Und sie ist Expertin in Sachen KI: Als Mitgründerin des AI Now Instituts an der New York University beschäftigt sie sich auch wissenschaftlich mit der Technologie. Auf der Bühne bei der Digitalkonferenz re:­pu­bli­ca spricht sie vor einem Publikum, das tendenziell der Digitalisierung gegenüber aufgeschlossen eingestellt ist.

Doch KI – das ist kein klassisches Digitalisierungsthema. Anders als neue Plattformen, von denen alle paar Jahre mal eine neue zum Star wird, wie aktuell Tiktok, anders als die permanente digitale Überwachung, an die sich die meisten längst gewöhnt haben, ist KI etwas grundlegend Neues. Etwas, das Hoffnungen weckt. Und Ängste.

Es ist nicht einmal zwei Wochen her, dass eine Reihe Expert:innen, darunter etwa Sam Altman, Chef des ChatGPT-Herstellers OpenAI, vor möglichen Risiken gewarnt hat: „Das Risiko einer Vernichtung durch KI zu verringern, sollte eine globale Priorität neben anderen Risiken gesellschaftlichen Ausmaßes sein, wie etwa Pandemien und Atomkrieg.“

OpenAI-Chef tingelt durch die Politikwelt

Dass die Warnung es bei diesem einen Satz beließ, sorgte umgehend für Kritik. Sie würde damit eher weitere Ängste auslösen, statt einen Weg für einen konstruktiven Umgang mit der neuen Technologie aufzuzeigen. KI-Expertin Whittaker bezeichnet die Idee der Überlegenheit von KI als „Mythos“. „Je mehr wir glauben, dass diese Systeme übermächtig sind, desto mehr Macht geben wir den Firmen dahinter“, sagt sie.

Zum Beispiel die Macht, gehört zu werden. So trifft Altman aktuell die Staats­che­f:in­nen zahlreicher Länder – und nahm auch am Treffen eines transatlantischen Kooperationsforums teil, auf dem Ver­tre­te­r:in­nen von EU und USA sich über gemeinsame Standards für KI-Anwendungen austauschten.

Tatsächlich ist die EU, was die KI-Regulierung angeht, ausnahmsweise mal nicht allzu weit hinter einer Technologieentwicklung zurück. Am Mittwoch soll das Parlament über den Artificial Intelligence (AI) Act abstimmen. Es ist die weltweit bislang umfassendste Regulierung zu künstlicher Intelligenz.

Die Abstimmung ist ein wichtiger Zwischenschritt, denn die Zeit drängt: Bis zum Jahresende sollen sich Parlament, Rat und EU-Kommission in den Trilog genannten Kompromissverhandlungen geeinigt haben. Weil es wegen Übergangsfristen danach noch zwei bis drei Jahre dauern wird, bis die Regelungen letztlich greifen, kündigten EU und USA nach dem Kooperationstreffen einen „freiwilligen Verhaltenskodex“ an, der diese Zeit überbrücken und die Weichen in Richtung der europäischen Regelungen stellen soll.

Positive Reaktionen auf Regeln

Tatsächlich haben nicht nur die EU, sondern auch die USA Interesse an gemeinsamen Regeln, die sich andere Länder zum Vorbild nehmen könnten. Doch was taugen die europäischen Regeln in der Form, wie sie aktuell geplant sind?

Spricht man mit Ex­per­t:in­nen für IT-Recht und -Ethik über den AI Act, sind die Reaktionen zumeist erst einmal positiv. Zum Beispiel, dass die EU einen sogenannten risikobasierten Ansatz verfolgt. Das heißt: Die Anwendungen sollen in Risikoklassen eingeteilt werden – je höher das Risiko, desto umfassender und strenger die Regeln.

Damit wird beispielsweise eine KI im Bereich Strafverfolgung stärker reguliert als ein Chatbot. Dazu kommen Vorschriften zu Transparenz und Erklärbarkeit der Systeme sowie Rechte für Betroffene, die sich gegen KI-Entscheidungen wehren wollen. Die beiden federführenden Ausschüsse des EU-Parlaments hatten zuletzt noch einmal nachgeschärft und weitere Anwendungen in die Kategorie „inakzeptables Risiko“ aufgenommen, in der sich die verbotenen Einsatzzwecke befinden, – unter anderem Systeme zur biometrischen Massenüberwachung.

„Der Schutz der Menschen steht im Mittelpunkt“, beschreibt Matthias Kettemann, Professor für Innovationsrecht an der Universität Innsbruck, den Geist des Gesetzesvorhabens. Und: Weil die Regulierung nicht bei technischen Vorgaben stehen bleibt, sondern die Auswirkungen auf die Gesellschaft im Blick habe, drohe der AI Act nicht von den technologischen Entwicklungen überholt zu werden.

Wer lässt sich zur Rechenschaft ziehen?

Auch Sandra Wachter, Professorin am Oxford Internet Institute der gleichnamigen Universität sieht viel Positives – aber in einigen Punkten auch deutlichen Nachholbedarf. Zum Beispiel sei aktuell vorgesehen, dass die Hersteller im Rahmen der vorgesehenen Zertifizierung selbst bewerten sollen, ob ihre Produkte den Regeln entsprechen, statt dafür externe Prü­fe­r:in­nen heranziehen zu müssen. Oder die Haftungsfrage, also: Eine KI richtet Schaden an – wer lässt sich dafür zur Rechenschaft ziehen? „Momentan liegt der Fokus der EU bei der Haftung noch sehr auf den Entwicklern der Foundation Models und das ist meines Erachtens nicht ausreichend“, sagt Wachter.

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Oben     —   Automatic Number Plate Recognition (ANPR). ANPR (Automatic Number Plate Recognition) is now the world rage use of this software and camera. Now, parking and highway traffic management have become easier with the ANPR camera and the software. It also knows as license plate recognition(LPR). Now I discuss in detail the ANPR Camera and software. Advantages of ANPR camera and software. 1. Car Parking Management. We can manage our parking system with the ANPR camera when a car came to the front of the camera automatically scan the Number plate or license plate of this car and then store it in the database. 2. Journey Time Analysis. The camera keeps the data of the coming and going of the cars and give you the data when it came and when it goes. 3. Traffic Management An ANPR system can manage traffic also because if any vehicle breaks the rule of traffic then the camera automatically detects the car and keep the data in the case files. It can count the number of cars or vehicles that pass through the ANPR camera.

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Die Welt im Wandel

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Juni 2023

Der Fall kommt im Sog der Überheblichkeit

Das alles für eine Hand voll Dollar

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Es ist nicht mehr zu übersehen, dass sich die Welt seit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg manifest im Wandel befindet, verkürzt: weg von der US-Hegemonie.

Dass sich solch gewaltige Veränderungen nicht ohne Nebenwirkungen vollziehen und über Generationen dauern können, wird Tag für Tag deutlich und spürbar, überall auf der Welt. Zwar will die US-Politik davon nichts wissen oder verdrängt diese unaufhaltsame Entwicklung, aber selbst die US-Amerikaner haben den „American Dream“ aufgegeben und sehen die Zukunft ihres Landes weit überwiegend düster.

Laut einer Umfrage des Pew Research Center vom Frühjahr dieses Jahres schätzen die Lage der USA 2050 so ein: Wirtschaft der USA ist schwächer – 66%, USA weniger wichtig in der Welt – 71%, USA politisch gespaltener – 77%, Kluft zwischen Arm und Reich in den USA größer – 81%. Diese deutliche Volksmeinung wird von der Politik beharrlich mit „America First“ verdrängt. Ebenso plump wie arrogant schieben sie alle Übel auf den neuen Feind Nr.1, China.

Da gibt es z.B. seit 2009 die sog. BRICS-Staaten, die weder von den USA noch von den westlichen Industriestaaten so recht ernst genommen wurden und sich seitdem zu einem starken Wirtschaftsverbund entwickelt haben und schon heute ein reales wirtschaftliches Gegengewicht zu den G7-Staaten darstellen. Das demonstrieren sie auch deutlich durch das weitgehende Abkoppeln vom Dollar und den Handel untereinander in ihren Landeswährungen. Dadurch entfällt die arrogante Kontrolle durch die USA und die Weltbank und BRICS ist jetzt eine Alternative für viele Entweicklungsländer geworden.

Es hat zu politischen und kulturellen Veränderunegn geführt, dass z.B. China seine internationalen Aktivitäten friedvoll und zum gegenseitigen Nutzen betreibt, eine Einstellung, die den USA völlig unbekannt zu sein scheint. Die USA und in deren Schlepptau die G7 müssen ihre Überheblichkeit gegenüber anderen Ländern aufgeben und nicht alles nur nach ihrem finanziellen Vorteil bewerten. Bestes Beispiel sind die Jahre von mitte 1970 bis 2015 im China-Handel.

Der Westen konnte nicht genug billig und gut in China fertigen lassen oder einkaufen, um es mit hohen Gewinnen zu verkaufen. Das Land und sein Volk hat keinen interessiert und die Entwicklung dort hat man total verschlafen, um heute entsetzt aufzuwachen und China als Feind Nr1 abzustempeln, weil es in Rekordzeit zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt geworden ist. Reiner Neid! Aber vor allem Dummheit und immer wieder nur kurzfristige und eigensüchtige Profitgeilheit!

Da folgen viele Länder lieber China und/oder BRICS, halten sich aus dem Ukraine-Konflikt heraus, plädieren für seine diplomatische Lösung und haben sich vom Dollar bereits deutlich gelöst. Diese markanten Umwälzungen in der Weltwirtschaft haben bereits dazu geführt, dass „seit 2000 der Anteil der in US-Dollar gehaltenen Währungsreserven der Zentralbanken um die Hälfte gesunken“ ist.

Die USA und der im blind folgende Westen müssen endlich runter von ihrem hohen Ross und die Probleme der Welt nicht mit Gewalt, sondern mit Respekt vor anderen Völkern und Kulturen lösen und, wenn nötig, deren Potential friedvoll entwickeln helfen. Waffen und Sanktionen sind keine Lösung, wie im Ukraine-Konflikt geradezu grotesk vorgefüht, weil sie dem Westen und der Welt mehr schaden als Russland. Wenn der US-geführte Westen sich nicht schleunigst von seiner Überheblichkeit und seinem hegemonialen Denken verabschiedet, wird er in deren Sog untergehen.

Urheberrecht
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Oben       — „US Mexico Israeli Style Wall“ by Carlos Latuff.

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Wann ist sein Papagei dran?

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Juni 2023

PREIS FÜR HABECKS KATZE

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Am Rande der Hannover Messe wurde der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mit einem Preis für die Energiewende ausgezeichnet. Der wurde ihm von seinem Bruder Hinrich überreicht. Hinrich ist nicht nur Habecks Bruder, sondern auch Chef der Wirtschaftsförderung Schleswig-Holstein. Die Wirtschaftsförderung wird von der Landesregierung Schleswig-Holstein finanziert und gesteuert.

Prinzip der Allparteien-Koalition

Wer die Tatsache, dass eine Landesregierung einem Bundesminister publikumswirksam einen Preis zuschanzt, für politischen Inzest hält, der versteht das Prinzip der deutschen Allparteien-Koalition nicht: Alle, die da mitmachen, sind preiswert zu korrumpieren. Dieser oder jener mit noch einem teuren Amt, andere mit einem fadenscheinigen Preis – bezahlt wird die komplette Kirmes vom Steuerzahler.

Wappentier ist die Blindekuh

Wie immer geht es um das Wichtigkeits-Karussell: Du findest mich gut, dann finde ich dich gut, später finden wir vielleicht auch einen guten Grund – die Geschlossenheit. Wer geschlossen ist, der macht kein Fass auf, der schließt vor jedem auftauchenden Polit-Verbrechen die Augen. Das Wappentier ist die Blindekuh, die Flagge besteht aus Löchern, die Hymne beginnt mit „Einigkeit“. „Recht und Freiheit“ sind aus Gründen der Koalitionsdisziplin gestrichen.

Keine Blutschande sondern Reinzucht

Dass der Bruder dem Bruder einen Preis zuschiebt, ist keine Blutschande sondern Reinzucht: Nur wer sich familiär im Kreise dreht, hält sich rein. Das wussten schon die alten Ägypter. Dort machte es der Bruder mit der Schwester. In Deutschland treibt es der Bruder mit dem Bruder: Platz da für neue Geschlechter ist ein grünes Prinzip.

Nur der Bruder ist kein Luder

Das Habeck- Prinzip „Nur der Bruder ist kein Luder“ ist so hermetisch, dass keinerlei Alternative möglich ist. Da bleibt die grüne Fahne hoch und die Reihen sind fest geschlossen. Wer aus der Reihe tanzt, wird zur Tarantella nicht unter drei Runden verurteilt.

Grüne Massensuggestion

Die Tanzopfer leiden unter Tarantismus, einer psychischen Erkrankung in Verbindung mit Massensuggestion. Wer diese Krankheit erwischt, der hält GRÜN für die Farbe der Hoffnung, Deutschland für eine Demokratie und seine Medien für vielfältig.

Eau de Robert bei Douglas

Noch ist das Höchstmaß an Geschlossenheit nicht erreicht. Erst wenn Habecks Katze den Grammy für ihr Maunzen bekommen hat, wenn sein Papagei mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde und sein Schweiß als Eau de Robert bei Douglas Höchstpreise erzielt, ist die Zeit für das Vierte Reich gekommen. Jenes Reich, in dem die Schließer die Macht übernommen haben und die Ketten als Schmuck für alle gelten.

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Oben      —   Hauskatze, langhaarig, weiß mit braun-grauen Tigerflecken

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Juni 2023

Habeck, Discounter und Klimaaktivismus: – Letzte Generation Aldi

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Silke Mertins

Der Discounter hat die Lösung zum schnellen Energiesparen für jeden Haushalt: Ein Balkonkraftwerk im Montageset. Kann das die Wogen in der Ampel glätten?

Die Minderjährige, die zu meiner Hausgemeinschaft gehört, findet mich distanzlos. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt. Man kann schließlich nicht jedes Mal fragen, bevor man mal schnell eine kleine Umarmung braucht. So ging es auch dem Mann, der sich diese Woche in Frankfurt unbemerkt in den Konvoi des Bundeskanzlers einreihte und Olaf Scholz nach dem Aussteigen am Flughafen „überraschend innig“ umarmte, wie es aus Regierungskreisen hieß.

Überraschend ist der Vorfall gleich in mehrfacher Hinsicht. Erstens: Jemand möchte Olaf Scholz umarmen. Zweitens: Olaf Scholz wird tatsächlich noch erkannt, obwohl er sich beim Regieren vorzugsweise unsichtbar macht. Drittens: Typisch deutsch wäre unter Männern eigentlich ein herzlicher Händedruck oder dieses eine Umarmung andeutende Schultergeklopfe gewesen. Aber wer weiß heute schon noch, was typisch deutsch ist?

Neulich sagte mir ein junger Syrer, typisch deutsch sei für ihn, dass die Züge nie pünktlich seien. Er will jetzt für ein Auto sparen. Innige Umarmungen jedenfalls finden in der Bundesregierung nur noch in „Game of Thrones“-Manier statt: um das Messer leichter in den Brustkorb des anderen rammen zu können. Bei den Liberalen sitzt die Klinge besonders locker. Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck möchte eigentlich Finanzminister Christian Lindner nicht einmal mehr mit spitzen Fingern die Hand geben.

Könnte ja sein, dass der FDP-Mann ihn blitzschnell an sich zieht für eine möglicherweise unangenehme Umarmung. Doch Lindner und seine Getreuen haben auch andere Methoden. Sie müssen als Jugendliche am selben Kurs teilgenommen haben wie die Minderjährige: „Zehn Wege, Absprachen zu unterlaufen“. Man kann zum Beispiel durch endlose Fragen die Dinge in die Länge ziehen.

Mit Aldi verschwägert?

Muss etwa der Hund auch dann ausgeführt werden, wenn man gerade vom Leben sehr erschöpft ist, ein sehr wichtiges Telefongespräch mit einem sehr netten Jungen führt oder man nicht weiß, was man anziehen soll? In Habecks Fall ziehen die Liberalen den Prozess mit über hundert Fragen zum geplanten Gebäudeenergiegesetz in die Länge. Rechtfertigen neue Umstände nicht auch einen Wortbruch?

Wie hätten die Liberalen denn wissen sollen, dass der Klimawandel tatsächlich konkretes Handeln erfordert und wir deshalb jetzt alle viel mehr über Wärmepumpen wissen, als wir jemals wissen wollten? CO2-reduzierte Heizmethoden werden aller Voraussicht nach so stark subventioniert, dass sie kaum teurer sind als konventionelle Heizungsanlagen.

Aber hey, das ist unglaublich schwer zu verstehen. Und überhaupt: Wo steht eigentlich, dass man Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einhalten muss? Es hat 2021 festgelegt, dass das bisherige Klimaschutzgesetz nicht weit genug geht und die Freiheit der jungen Generation gefährdet. Aber die FDP hat da noch so viele Fragen an das Verfassungsgericht, mindestens hundert.

Außerdem stellt sich die Frage, ob einer von Habecks Staatssekretären oder er selbst vielleicht mit dem Aldi-Konzern verschwägert oder durch Trauzeugerei verbunden ist. Aldi Nord bietet nämlich ab Juni ein „Balkonkraftwerk“ zum Discountpreis an. Letzte Generation Aldi. Gut, dass Christian Lindner nicht bei Discountern einkauft und die woke Unterwanderung der Wirtschaft mit Technologien, die irgendwie nicht technologieoffen sind, nur aus der Ferne mitansehen muss.

Quelle        :       TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Die ungleichen Partner

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Mai 2023

Der Krieg hat China und Russland zusammenrücken lassen.

VON    :       SUSANNE WEIGELIN-SCHWIEDRZIK

Doch unter der Oberfläche zeigen sich grundverschiedene Weltbilder. Europa sollte die strategischen Chancen nutzen. In der Volksrepublik China wird interessengeleitet entschieden. Radikale Kehrtwendungen sind jederzeit möglich.

Am 10. und 11. Mai 2023 fanden in Wien unter strenger Geheimhaltung Gespräche zwischen dem amerikanischen Sicherheitsberater Jake Sullivan und dem für internationale Fragen zuständigen Mitglied des Politbüros der KP Chinas, Wang Yi, statt. Sullivan und Wang Yi redeten an diesen beiden Tagen insgesamt über acht Stunden miteinander. Chinesischen Berichten zufolge hat Wang Yi das Angebot wiederholt, ein Entgleisen der Konkurrenz zwischen den beiden größten Wirtschaftsmächten in einen offenen Konflikt zu vermeiden – anknüpfend an die zwischen Xi Jinping und Präsident Biden getroffenen Vereinbarungen in Bali.

Seit dem Zwischenfall um den „Spionageballon“ im Februar 2023 waren die Gesprächskanäle zwischen den USA und der Volksrepublik China eingefroren. Die chinesische Seite betrachtete den Abschuss des Ballons als völlig unangemessen: Er zeige, dass Washington in einer Krisensituation nicht bereit sei, mit China einen Weg zu beschreiten, der rational, angemessen und lösungsorientiert sei. Mehrere Versuche der amerikanischen Seite, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, scheiterten, bis schließlich Anfang Mai der amerikanische Botschafter in Peking von Außenminister Qin Gang empfangen wurde.

Peking lässt Washington zappeln, denn in Peking meint man zu wissen, warum US-Außenminister Antony Blinken so dringend mit der chinesischen Seite verhandeln möchte: China soll helfen, die große Verlegenheit, in der die Biden-Regierung steckt, zumindest abzuschwächen, auf keinen Fall aber zu verschärfen. Es ist die lodernde Finanzkrise in den USA und – damit verbunden – das schwindende internationale Vertrauen in den US-Dollar als Leitwährung.

In Peking weiß man, dass man hier einen wichtigen Hebel in der Hand hält. Wenn man sich nur genügend Zeit lässt, werden die USA nicht anders können, als ihre Politik gegenüber China zu ändern. Die Tatsache, dass seit geraumer Zeit allenthalben US-amerikanische Staatsanleihen verkauft werden, bereitet der Regierung Biden erhebliche Probleme und erschüttert das amerikanische Finanzsystem. Sollte China aus seinen immer noch großen Beständen weiter amerikanische Staatsanleihen verkaufen und seine Dollarreserven schneller als bisher abstoßen, würde dies die Krise in den USA erheblich verschärfen und gleichzeitig die schwelende Vertrauenskrise gegenüber dem Dollar als internationale Leitwährung vertiefen. Andersherum würde ein Verzicht auf weitere Veräußerungen von US-Staatsanleihen oder der Ankauf weiterer Staatsanleihen die Situation in den USA entspannen. Blinken wollte deshalb bereits im Februar nach China reisen, aber seit dem Abschuss des chinesischen Ballons klopft er vergeblich an die Türen des chinesischen Außenministeriums.

File:The President of Russia arrived in China on a state visit. 02.jpg

In der Zwischenzeit hat sich Peking an Moskau angenähert. Chinas Staatsführung sieht sich offenbar gezwungen, von der Wunschvorstellung einer einvernehmlichen Lösung mit den USA, ja einer erhofften geteilten Verantwortung bei der Führung der Welt Abstand zu nehmen. Die logische Konsequenz waren Xi Jinpings Reise nach Moskau und seine offen bekundete Freundschaft mit Wladimir Putin, der sich als Bewunderer des chinesischen Entwicklungsmodells bereitwillig den wirtschaftlichen Plänen öffnete, die Xi Jinping im Gepäck hatte.

China fühlt sich vom Westen, insbesondere von den USA, bedroht und bereitet sich auf eine früher oder später einsetzende – und von beiden Seiten betriebene – Abkoppelung seiner Wirtschaft vom Westen vor. Die vielen Projekte, die im Zuge der „Neuen Seidenstraße“ entstanden sind, haben Chinas Einfluss auf den Globalen Süden vermehrt, aber wirtschaftlich nur bedingt einen positiven Effekt gehabt. Nun stellt man sich in Peking vor, dass Russland nicht nur viele der Rohstoffe liefern wird, die man für die chinesische Wirtschaft benötigt. China kann sich auch als Modernisierungsmotor in Russland betätigen. So, wie das Engagement der europäischen, japanischen und amerikanischen Wirtschaft seinerzeit nicht nur China, sondern auch den jeweiligen Ländern genutzt hat, so soll Chinas Engagement für die Modernisierung Russlands der chinesischen Wirtschaft einen neuen Wachstumsschub ermöglichen.

Chinas neue Allianz mit Russland hat also nichts mit ideologischer Übereinstimmung zu tun. Ganz im Gegenteil zu dem, was man in Brüssel und Berlin wertegeleitete Außenpolitik nennt, wird in China interessengeleitet entschieden. Radikale Kehrtwendungen sind jederzeit möglich. Chinas Eintreten dafür, dass der Ukrainekrieg so schnell wie möglich endet, ist auch in diesem Sinne zu verstehen. Sein sogenannter Friedensplan ist deshalb auch eine Interessenbekundung: Nur wenn der Krieg baldmöglichst endet, kann China damit beginnen, seine Modernisierungspläne für Russland umzusetzen.

Auch befürchtet es bei einem längeren Krieg, dass die bisherige Resilienz des wirtschaftlichen und politischen Systems in Russland ausgelaugt wird und Russland womöglich in eine Systemkrise hineinschlittert. Diese wäre für China höchst bedrohlich, würde doch ein mögliches Auseinanderbrechen Russlands dem Westen die Möglichkeit eröffnen, durch seinen Einfluss auf die dann eventuell entstehenden Staaten in der russischen Peripherie bis an die chinesische Nordgrenze vorzustoßen. Xi Jinping hat seit dem letzten KP-Parteitag wiederholt Reden gehalten, in denen er von der „Einkreisung“ Chinas durch den Westen gesprochen hat: ein Horrorszenario für die chinesische Führung, die in Xinjiang, Tibet, Hongkong und Taiwan Destabilisierungsversuche des Westens zu erkennen meint. Aus chinesischer Sicht ist es also dringend geboten, Russland so weit zu unterstützen, dass es nicht auseinanderbricht.

Aber klar ist: Strategisch sind Russland und China nur bedingt auf einer Linie. Sie sind sich einig in ihrer Gegnerschaft zu den USA und ihrer Forderung nach einer sogenannten Demokratisierung des Systems der internationalen Beziehungen. In der Frage der zukünftigen Weltordnung sprechen beide von „Multipolarität“. Doch zeigt sich, dass ihre Vorgangsweise nicht wirklich abgestimmt ist. Während sich Chinas KP die Führung in der Welt am liebsten mit den USA teilen würde – und die wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen so weit wie möglich aufrechterhalten möchte –, meldet Wladimir Putin mit dem Angriff auf die Ukraine den Anspruch Russlands an, als Dritter im Bunde Weltmacht zu sein.

Putin macht immer wieder deutlich, dass man die Weltordnung grundsätzlich infrage stellen muss. Er agiert als klassischer Revisionist und betont stärker als Xi Jinping die Notwendigkeit der Neuordnung der Welt im Sinne der Multipolarität. Auch an der Frage der Stationierung von Atomwaffen gibt es deutlich Unterschiede in der Haltung Pekings und Moskaus. Während Xi Jinping bei seinem letzten Besuch in Moskau meinte, sich mit Putin darauf geeinigt zu haben, dass keinerlei Nuklearwaffen außerhalb des jeweils eigenen Landes stationiert werden dürften, veranlasste Putin einen Tag nach der Abreise Xis, dass auf dem Boden von Belarus ein Raketensystem stationiert werde, das mit Nuklearwaffen bestückt werden kann.

Anders sieht das Kalkül der politischen Führung Chinas aus. Sie sieht die Möglichkeit und Notwendigkeit, das System der internationalen Beziehungen schrittweise von innen her umzugestalten. Dabei stört Russlands revisionistischer Eifer, und der Krieg in der Ukraine hat in diesem Sinne China einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Chinas schöne neue Welt ist eine Welt, in der die USA China als Weltmacht auf Augenhöhe anerkennen und sich die Welt mit China teilen. Der Westpazifik wird von China kontrolliert und damit der gesamte Warenverkehr zwischen Asien, dem Nahen und Mittleren Osten sowie Europa. Den Ostpazifik dürfen die USA beherrschen. In allen anderen Teilen der Welt gibt es in diesem Szenario lebhafte Konkurrenz, die von den beiden Supermächten so weit kontrolliert werden muss, dass diese nicht in eine kriegerische Auseinandersetzung ausartet. In dieser Zukunftsvision hat Russland keine Weltmachtfunktion. Es wird in den zweiten Rang eingeordnet – dort, wo man auch Europa, Japan und Indien sieht.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —       After Russian-Chinese talks

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Unten      —       Председателем КНР Си Цзиньпином.

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USA ohne Friedensspuren

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Mai 2023

„Die USA sollten eine Kraft für den Frieden in der Welt sein“

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Am 16. Mai erschien in der New York Times (NYT) ein ganzseitiger Artikel, der an politischer Brisanz nichts zu wünschen übrig lässt und sich erst auf den zweiten Blick als Anzeige erweist, aufgegeben und bezahlt vom Eisenhower Media Network.

Diese Art der Veröffentlichung lässt vermuten, dass ein solcher Artikel nie von der Redaktion der NYT verfasst worden wäre, denn er ist voller Kritik an der Regierung und legt Daten offen, die so bisher noch nie von der Regierung und/oder der Presse öffentlich gemacht worden sind.

Von herausragender Brisanz ist die Kritik an der „desaströsen“ Rolle der USA bei der Erweiterung der NATO und den schlussendliche zum Ukraine-Krieg führenden Spannungen. Der Krieg selbst wird als „absolutes Desaster“ bezeichnet, verbunden mit dem Aufruf an Biden und den Kongress, „den Krieg schnellstens diplomatisch zu beenden, zumal die Gefahr einer militärischen Eskalation besteht, die außer Kontrolle geraten könnte“. Nach anfänglich ein paar tausend Stahlhelmen sind wir jetzt bei der Lieferung von Kampfjets. Steiler kann man sich die Spirale der Eskalation in so kurzer Zeit kaum vorstellen.

Auch die unselige Rolle des britischen Clowns Boris Johnson, der 2022 die Ukrainezum Abbruch der Friedensverhandlungen mit Russland genötigt hat, wird dargelegt, ebenso wie die gesamte Entwicklung der Ukraine-Krise. Von all dem kein Wort in unseren sog. „Leitmedien“ mit der Folge, dass wir – mittendrin – trotz oder auch wegen der täglichen TV-Shows kein richtiges Bild von diesem unsäglichen Leid haben. Dass die NYT diese Veröffentlichung nicht selbst gebracht hat, zeugt von Angst und Unterwürfigkeit, denn Unwissenheit darf man da wohl nicht unterstellen.

Und das widerspiegelt das ganze Dilemma. Dieser Friedensaufruf mutet in Anbetracht der Handlungen der USA in Verbindung mit dem Ukraine-Krieg wie ein Wunschtraum an, ist aber eine reale Forderung einer Gruppe namhafter US Militärs und Experten mit knallharten Argumenten. Nach dem 2. Weltkrieg hat eine US-Intervention noch nie zu einem Frieden geführt. Aber es sind 800 US-Militärstützpunkte rund um die Welt entstanden, in Deutschland sogar mit Atomwaffen. Insofern könnte man die Anzeige sogar mutig nennen, denn noch nie ist die kriegstreibende Rolle der USA so deutlich gemacht worden.

Den scheinbar biederen Biden interessieren offenbar die an die Ukraine gelieferten Waffen mehr als die hunderttausende Toten auf den Schlachtfeldern und in den Städten. Die „ökologische und wirtschaftliche Zerstörung ist unabsehbar. Künftige Verwüstungen könnten exponentiell größer sein, da die Atommächte immer näher an einen offenen Krieg heranrücken“. Und unsere Regierung verkündet dummdreist, dass jeder Zentimeter NATO-Boden verteidigt wird. Wohl selbst dann, wenn es sich gar nicht um einen NATO-Zentimater handelt. Hier geht es um pure Gewalt, Kriegsverbrechen und Gräueltaten als Teil dieses Krieges. Dass wir aktiv an diesem Elend beteiligt sind, hat uns die NYT-Anzeige überdeutlich gezeigt. Ein ehrlich verhandelter Frieden ist allemal besser als ein noch so waffenstrotzend geführter Krieg.

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Oben       —       Sniper Bush (by Latuff).

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Die EU Goldschürfer

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Mai 2023

Westliche Länder wollen der Ukraine Privatisierungen aufzwingen

Будинок Київської контори Державного банку.JPG

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von  Michael Roberts /   

Gegen den Willen der Bevölkerung drängt der Weltwährungsfonds zur Privatisierung von Banken und Staatsunternehmen.

Red. Im Schatten des Kriegsgeschehens sind in der Ukraine Wirtschaftsreformen im Gange, die für westliche Konzerne den Teppich auslegen. Der folgende Artikel ist ein Auszug aus dem Beitrag «Ukraine – die Invasion des Kapitals» des linken Ökonomen Michael Roberts*. Der Beitrag ist in der neusten Ausgabe Widerspruch 80/23 erschienen. 

In einer Reihe von Berichten hat die Wirtschaftsbeobachtungsstelle des Oakland-Instituts dokumentiert, wie die ukrainische Wirtschaft durch ausländisches Kapital übernommen wird, sogar mitten im Krieg.

Gentechnik in der Landwirtschaft

Zwar verhängte die Ukraine im Jahr 2001 ein Moratorium für den Verkauf von Land an AusländerInnen, um die unkontrollierte Privatisierung zu begrenzen. Doch seither war es ein Hauptziel westlicher Institutionen, diese Bestimmung aufzuheben. Bereits 2013 hatte die Weltbank ein Darlehen in der Höhe von 89 Millionen Dollar gewährt für die Entwicklung eines Programms für Beurkundungen und Grundbucheintragungen, das für die Privatisierung und Kommerzialisierung von staatlichem und genossenschaftlichem Land benötigt wird.

Diese Vereinbarung, die damals von Russland als Hintertür zur Erleichterung des Markteintritts westlicher multinationaler Unternehmen angeprangert wurde, beinhaltet die Förderung «moderner landwirtschaftlicher Produktion […], einschliesslich des Einsatzes von Biotechnologien». Sie sieht also die Öffnung ukrainischer Felder für Kulturen von gentechnisch veränderten Organismen vor (Celada 2022).

Agenda für eine «euroatlantische Integration»

Im Juli 2021 trafen sich hochrangige VertreterInnen der USA, der EU, Grossbritanniens, Japans und Südkoreas in der Schweiz zu einer sogenannten Ukraine Reform Conference (URC), deren Agenda sich ausdrücklich darauf konzentrierte, dem Land politische Veränderungen aufzuzwingen. Sie machte folgende Vorgaben: «Stärkung der Marktwirtschaft», «Dezentralisierung, Privatisierung, Reform staatlicher Unternehmen, Landreform, Reform der staatlichen Verwaltung» und «euroatlantische Integration».

Die Agenda war eigentlich eine Fortsetzung der Ukraine-Reformkonferenz von 2018 in Kopenhagen. Diese hatte betont, wie wichtig es sei, den grössten Teil des verbliebenen öffentlichen Sektors der Ukraine zu privatisieren. Das ultimative Ziel der Reform sei «der Verkauf staatlicher Unternehmen an private Investoren» verbunden mit der Forderung nach «Deregulierung, Energiereform, Steuer- und Zollreform». Der Bericht von 2018 beklagt, dass die «Regierung der grösste Vermögensbesitzer der Ukraine ist» und stellt fest: «Die Reform der Privatisierung und der staatseigenen Unternehmen wurde lange erwartet, da dieser Sektor der ukrainischen Wirtschaft seit 1991 weitgehend unverändert geblieben ist.» (URC 2018, 26, 7)

Dabei muss man wissen, dass die meisten UkrainerInnen die Pläne der Ukraine-Reformkonferenz von 2018 ursprünglich ablehnten. Eine Meinungsumfrage ergab, dass nur 12,4 Prozent die Privatisierung staatlicher Unternehmen befürworteten, während 49,9 Prozent sie ablehnten (URC 2018, 27).

Der Krieg lässt jedoch alles in einem anderen Licht erscheinen. Der IWF besteht mit Unterstützung der Regierung Selensky darauf, im Interesse der «Effizienz» und der «Bekämpfung der Korruption», die Banken und Staatsunternehmen umfassend zu privatisieren: «Obwohl in Kriegszeiten üblicherweise Regierungen die Regie übernehmen bei der Zuteilung von Ressourcen, erfordern die ukrainischen Verhältnisse eher marktorientierte Zuteilungsmechanismen, um kosteneffiziente Lösungen zu gewährleisten, welche die staatlichen Kapazitäten nicht überfordern, bestehende Probleme wie die Korruption nicht verschärfen und (unversteuerte) Schwarzmarktaktivitäten nicht fördern. Zu diesem Zweck sollte das Ziel darin bestehen, eine weitgehende und radikale Deregulierung der Wirtschaftstätigkeit zu verfolgen, Preiskontrollen zu vermeiden und eine produktive Umverteilung der Ressourcen zu erleichtern.» (Georgieva 2022)

Die Ukraine Recovery Conference vom Juli 2021 bekräftigte die Pläne, wonach die ukrainische Wirtschaft vom Kapital übernommen werden soll, was die Regierung Selensky uneingeschränkt billigte. Zum Abschluss des Treffens verabschiedeten alle anwesenden Regierungen und Institutionen eine gemeinsame Erklärung, die sogenannte Erklärung von Lugano. Diese Erklärung wurde durch einen «Nationalen Wiederaufbauplan» (National Recovery Plan) ergänzt, der von einem von der ukrainischen Regierung eingerichteten Nationalen Rat für Wiederaufbau (National Recossvery Council) ausgearbeitet worden war (Ukraine’s National Recovery Plan 2022).

Dieser Plan sieht eine Reihe kapitalfreundlicher Massnahmen vor, darunter die «Privatisierung nicht kritischer Unternehmen» und die «definitive Überführung von staatseigenen Unternehmen in private Konzerne» (UNRP 2022, 9). Als Beispiel wird der Verkauf des staatlichen ukrainischen Kernenergieunternehmens EnergoAtom angeführt. Um «privates Kapital in das Bankensystem zu anzulocken», fordert der Plan zudem die «Privatisierung von staatseigenen Banken» (ebd., 32).

Abbau der ArbeiterInnenrechte 

In einem Aufruf zum Abbau des Arbeitsschutzes kritisiert das Dokument die übriggebliebenen arbeitnehmerfreundlichen Gesetze in der Ukraine, von denen einige noch aus der Sowjetzeit stammen. Der Nationale Wiederaufbauplan beklagt «veraltete Arbeitsgesetze, die zu komplizierten Einstellungs- und Entlassungsverfahren, Überstundenregelungen usw. führen». Als Beispiel für die angeblich «veraltete Arbeitsgesetzgebung» nannte der Plan, dass ArbeiterInnen mit einem Jahr Berufserfahrung in der Ukraine «für betriebsbedingte Entlassungen eine neunwöchige Kündigungsfrist» gewährt wird, verglichen mit nur vier Wochen in Polen und Südkorea (UNRP 2022, 31).

Laut internen Dokumenten, die 2021 an die Öffentlichkeit gelangten, schulten britische Behörden ukrainische BeamtInnen darin, wie man eine widerspenstige Öffentlichkeit davon überzeugen kann, dass es richtig sei, Arbeitnehmerrechte aufzugeben und gewerkschaftsfeindliche Massnahmen umzusetzen (European Public Service Union 2021). In den Schulungsunterlagen wird beklagt, dass die öffentliche Meinung auf die vorgeschlagenen Reformen überwiegend negativ reagiere. Es wurden kommunikative Strategien vermittelt, um die UkrainerInnen für die Unterstützung der Reformen zu gewinnen.

Im März 2022 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Notstandsgesetz, das es den ArbeitgeberInnen erlaubt, Tarifverträge auszusetzen. Im Mai 2022 verabschiedete es ein dauerhaftes Reformpaket, mit dem die grosse Mehrheit der ukrainischen ArbeiterInnen vom ukrainischen Arbeitsrecht ausgenommen wird; es betrifft alle, die in kleinen und mittelgrossen Unternehmen arbeiten (Guz 2022).

Dieses Gesetz, das 70 bis 80 Prozent der Beschäftigten des Landes den Schutz des nationalen Arbeitsrechts verweigert, wurde im August 2022 von Präsident Selensky unterzeichnet.

Für Putins Krieg gegen die Ukraine gibt es keine Entschuldigung

Für die die betroffenen Menschen ist ein Krieg das Schlimmste: Komplett zerstörte Infrastrukturen und Wohnhäuser, kein Wasser, kein Strom, viele Tote und noch mehr schwer Verletzte und Vertriebene. Rachegefühle halten sich jahre- oder sogar jahrzehntelang. 

Präventiv geführte Kriege gegen angebliche oder tatsächliche Bedrohungen verstossen gegen das Völkerrecht und gegen die UNO-Charta. Weder feindliche Raketen an der Grenze noch Faschistengruppen noch diktatorische Verhältnisse noch Attentate rechtfertigen einen Krieg oder die Aneignung eines fremden Territoriums. Das gilt für Russland in der Ukraine genauso wie für die Türkei in Syrien, für die saudische Koalition in Jemen oder wie früher für die USA im Irak und in Afghanistan.

Nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Völkerrechtlich sind militärische Kampfhandlungen nur zur Selbstverteidigung erlaubt, falls ein Land – wie die Ukraine – militärisch angegriffen wird. Dann können und dürfen andere Länder dem angegriffenen Land helfen, sich gegen den Aggressor zu wehren.

Wie bei jedem Krieg sollten alle Seiten bestrebt sein, ihn mit einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung zu beenden. Ein erstes Nachgeben liegt beim Aggressor.

Die Redaktion

Deregulierung der Raumplanung und des Baurechts

Im Dezember 2022 verabschiedete das ukrainische Parlament im Eiltempo radikale Änderungen des Planungsrechts (Kolesnichenko 2022). Die überwiegende Mehrheit der Bauwirtschaft unterstützte die Änderungen, aber JournalistInnen, ArchitektInnen und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens schlugen Alarm. Die neuen Vorschriften, die noch vor dem Krieg ausgearbeitet worden waren, werden der ukrainischen Bauindustrie nie dagewesene Befugnisse einräumen. Das Gesetz hatte beispielsweise die Möglichkeiten erheblich eingeschränkt, historische Gebäude unter Schutz zu stellen oder eine Immobilie in kommunales Eigentum zurückzuführen.

[Ende 2022 setzte der IWF weitere Bedingungen für Milliardenkredite fest. Am 31. März 2023 genehmigte das IWF-Exekutivdirektorium 15,6 Milliarden Dollar im Rahmen einer neuen Erweiterten Fondsfazilität (EFF) für die Ukraine. Die Red.]

Die EU und die Kontrolle der Investitionen 

ÖkonomInnen des Center for Economic Policy Research (CEPR) setzen sich für eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union ein. In ihren Worten: «Es spricht viel dafür, dass Europa bei der Koordinierung der Hilfe und bei Entscheiden auf höchster Ebene die Führung übernehmen sollte, da seine wirtschaftlichen und sozialen Anreize eng mit denen der Ukraine abgestimmt sind.» (ebd., 5)

Ganz im Sinne des Mainstreams fordern die ÖkonomInnen eine neue, der EU angegliederte Agentur, die «dazu beiträgt, den Einfluss politischer Kräfte zurückzubinden», mit anderen Worten: die demokratische Kontrolle stark einzuschränken.

Es sieht ganz so aus, dass die USA den Fuss noch vor Europa in die Tür bekommen. Das ukrainische Wirtschaftsministerium unterzeichnete eine Vereinbarung mit Blackrock, der weltgrössten Investmentgesellschaft, um «eine spezielle Plattform zu entwickeln, die privates Kapital anzieht für den Wiederaufbau und die Unterstützung der ukrainischen Wirtschaft» (Ministry of Economy of Ukraine 2022). Die erste Stellvertretende Ministerpräsidentin und Wirtschaftsministerin der Ukraine, Yuliia Svyrydenko, meinte nach der Unterzeichnung des Memorandums: «Wir hoffen, dass diese ‹Wiederaufbau-Plattform› zu einem wirksamen Instrument wird für die Mobilisierung von Investitionen in die Schlüsselsektoren unserer Wirtschaft.» (ebd.)

Damit offenbart die ukrainische Führung den Preis, der für die vorübergehende Freigiebigkeit ausländischer Gläubiger zu bezahlen ist: Ausländische multinationale Konzerne und Regierungen werden die Kontrolle über die ukrainischen Ressourcen übernehmen. Die Übernahme der Ukraine durch hauptsächlich ausländisches Kapital wird damit besiegelt. Das Land darf dann mit der Rückzahlung seiner Schulden beginnen und so dem westlichen Kapital neue Profite bescheren.

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Oben      —    Facade of National Bank of Ukraine Building – Downtown Kiev – Ukraine

This is a photo of a monument in Ukraine, number: 80-382-0657

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«Wir tun was!» : Shell

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Mai 2023

Kleines Greenwashing-ABC am Beispiel Shell

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Daniela Gschweng /   

Tue wenig, rede viel – so sieht das Klimaengagement vieler Unternehmen aus. «Flip» nahm exemplarisch Shell auseinander.

Was tun, wenn man sein Geld mit Umweltverschmutzung verdient, aber dringend ein grünes Image braucht? Man legt Klimaziele fest und kommuniziert diese möglichst breit und oft. Wie grün sie tatsächlich sind, tritt dabei in den Hintergrund.

Ein Beispiel für diese Art Klimakommunikation ist Shell. Der Öl- und Gaskonzern hat es als Produzent fossiler Brennstoffe zugegeben schwer, seine Produkte als klimafreundlich zu verkaufen. Das aber tut er nach allen Regeln der Kunst.

Das Online-Magazin «Flip» hat Shell im vergangenen Jahr in der Waschküche über die Schulter geschaut. Herausgekommen ist eine Art kleines Kommunikations-ABC des Greenwashings, dem «Infosperber» noch einige Punkte hinzufügen konnte.

1.      Rede deine Beteiligung klein

Shell ist für zehn Prozent der nationalen Klimaemissionen in Deutschland verantwortlich. Das schreibt der Konzern selbst auf seiner Website in Form einer verschriftlichten Rede des Ex-Deutschland-CEOs Fabian Ziegler (im August 2022 abgelöst durch Felix Faber).

Wörtlich: «Es ist also wahrscheinlich keine große Überraschung, dass etwa 10 Prozent [80 Millionen Tonnen] aller deutschen CO2-Emissionen mit Shell Deutschland verbunden sind.» Das ist ganz schön viel. Der innerdeutsche Flugverkehr verursache im Vergleich 0,3 Prozent der deutschen CO2-Emissionen, schreibt «Flip».

Nur 8 Millionen Tonnen CO2 verursache der Shell-Konzern selbst, sagt Ziegler. 72 Millionen Tonnen Kohlendioxid würden jährlich in die Luft geblasen, weil Kund:innen Shell-Produkte verwendeten. Dafür, suggeriert er, könne Shell ja nichts.

2.      Betone deine Verantwortung und dein Engagement

Der gesellschaftliche Druck, die Energiewende zu beschleunigen, sei hoch, sagt der Ex-CEO von Shell Deutschland noch. Shells Job sei es nun, «mehr und sauberere Energie bereitzustellen». Und dabei klimaneutral zu werden. Das klingt sehr nach Verantwortung, Engagement und Zielen.

3.      Wähle ein Ziel, das weit in der Zukunft liegt

Wie diese Ziele aussehen, ist weniger überwältigend. Shell ist auf dem Weg zu «netto null», das betont der Konzern an jeder sich bietenden Stelle. Netto-Null-Emissionen kommen demnach schon bald. Also 2050, das heisst, erst in 27 Jahren. Deutschland will dann schon seit fünf Jahren klimaneutral sein – so steht es im Klimaschutzgesetz.

Wenn Unternehmen zum Netto-Null-Emissions-Datum konkret werden, liege das Ziel meistens zwischen 2040 und 2050, zitiert «Flip» eine Studie, die auf Umfragen beruht. Immerhin legt Shell ein Klimaziel fest, was nicht bei allen Unternehmen der Fall ist.

4.      Verwende möglichst viele Zahlen und Begriffe

Wo ein Ziel ist, sind auch Schritte, um es zu erreichen, auf gut Englisch «Milestones». Auf diese Meilensteine kraftvoll zugehen will Shell mit der «Powering Progress Strategie». Selbige besteht gösstenteils aus dem Kauf von Klima-Zertifikaten, damit rechnerisch kein CO2 mehr übrigbleibt. CO2-Zertifikate halten jedoch selten, was sie versprechen, stellte sich kürzlich bei einer internationalen Recherche heraus (Infosperber berichtete).

Dazu investiert Shell in Carbon Capture, also das Einfangen von CO2. Das in Produktionsprozessen aufgefangene Kohlendioxid wird dann entweder verwertet oder im Boden gelagert. Wie viel CO2 dabei nachhaltig aus der Luft entfernt wird, ist offen. «CCS» und «CCU» (Carbon Capture and Storage sowie Carbon Capture and Usage) klingen aber wenigstens eindrucksvoll.

5.      Definiere deine eigenen (möglichst komplizierten) Massstäbe

Bis 2030 will Shell seine Emissionen halbieren – also doch ein naheliegenderes Ziel. Das gelte aber nur für die Emissionen aus «Scope 1» und «Scope 2», sagt Shell. Scopes sind Emissions-Kategorien, erklärt «Flip». Scope 1 steht für Emissionen aus der Shell-eigenen Produktion, Scope 2 für die Emissionen aus Strom, Gas und Wärme, die Shell verbraucht. Scope 3 besteht aus Verbrauch und Entsorgung von Shell-Produkten und umfasst 95 Prozent der globalen Shell-Emissionen, hat «Flip» errechnet und sich von Shell bestätigen lassen.

Bis 2030 steht rechnerisch also eine 50-Prozent-Reduktion der fünf Prozent der Emissionen an, für die Shell sich verantwortlich fühlt. Sprich: eine Verminderung von 2,5 Prozent bis 2030. Das klingt sehr viel weniger eindrucksvoll als «Netto-Null-Emissionen» oder «Halbierung».

Shell ist nicht der einzige Konzern, der solche Zahlenakrobatik betreibt. Nestlé beispielsweise schätzte grosszügig seinen CO2-Ausstoss für 2030 und zog von dem fiktiven Wert dann «Reduktionen» ab (Infosperber berichtete).

6.      Zeige Demut und gehe still gegen Regulierung vor

2021 verurteilte ein erstinstanzliches Gericht in Den Haag Shell dennoch dazu, die Emissionen aller Scopes bis 2030 um 45 Prozent zu reduzieren. Shell betrachtete «das Urteil … als Beschleunigung unserer Powering Progress Strategie», zitiert «Flip». Das hört sich so an, als ob der Konzern die Massregelung angenommen und begrüsst hätte. Tatsächlich ist das Urteil bis heute nicht gültig, weil Shell Berufung eingelegt hat. Es ist nicht einmal sicher, ob solche Entscheidungen überhaupt von Gerichten getroffen werden können oder ob die Politik übernehmen muss.

7.      Wälze Kosten auf die Kundschaft ab

Mit 1,1 Cent pro Liter Treibstoff sollen autofahrende Konsumentinnen und Konsumenten schon jetzt mithelfen, «Scope 3»-Emissionen zu verringern. Mit dem Zusatz-Cent seiner Kund:innen unterstützt Shell dann Klimaschutzprojekte. Basierend auf Zahlen aus 2020, die «Flip» erfragt hat, kompensiert Shell damit jährlich 0,46 Prozent seiner in Deutschland verursachten Emissionen. Zur Kritik an vielen CO2-Zertifikaten siehe oben.

«Flip» beklagt ausserdem, dass Shell interne Kritik systematisch totschweigt und führt dazu die ehemalige Shell-Sicherheitsberaterin Caroline Dennett an. Dennett kündigte im Juli 2022 ihren Job bei Shell und ging mit ihrem Kündigungs-Video viral. Sie wirft Shell vor, dem Klima bewusst zu schaden, und bezeichnet das Unternehmen als «Jedi-Meister im Greenwashing». Shell hat zu ihrem Abgang seither keinen Kommentar abgegeben.

Wir beenden die Liste an dieser Stelle und betonen nochmals, dass Shell nicht das einzige Unternehmen ist, das solche und ähnliche Kommunikations-Strategien verwendet.

Shell möchte seine Öl- und Gasförderung übrigens in den nächsten Jahren ausweiten. Die Organisation Global Witness verklagte Shell Anfang 2023 wegen Greenwashing, weil der Konzern Investitionen in Erdgas als Ausgaben für erneuerbare Energien einstuft. Auch nach Auffassung der Umwelt-Juristen von Client Earth wird sich am Geschäftsgebaren von Shell in den nächsten 14 Jahren nichts ändern. Ob sich das mit «Netto Null» verträgt?

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Oben      —   Cartoon illustrating the concept of greenwashing

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Unten       —       8,000 returnees are currently staying here in the camp Photo: Tracy Wise/Oxfam

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Der neue „Cold War 2.0“.

Erstellt von DL-Redaktion am 17. Mai 2023

KALTE KRIEGER IM SILICON VALLEY

Von Evgeny Morozov

Der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China spitzt sich zu. In Washington beschwören manche bereits einen „Cold War 2.0“. Denn große Bedeutung kommt dem Wettlauf um die künstliche Intelligenz zu. Das Pentagon knüpft immer engere Bande zu den Tech-Giganten – die aus dem Hype um KI Kapital zu schlagen wissen.

Der Kalte Krieg ist vorbei“, verkündete 1988 die Werbebroschüre für ein merkwürdiges neues Computerspiel von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs: „… fast“. Dazu eine Zeichnung des Kreml mit ein paar geometrischen Figuren im Vordergrund. Die Broschüre wirbt für die „Sowjetische Herausforderung“ und verkündet: „Ausgerechnet jetzt, wo die Spannungen zwischen Ost und West allmählich nachlassen, landen die Sowjets einen Volltreffer gegen die USA.“

Der Volltreffer heißt „Tetris“.

In goldenen, kyrillischen Lettern prangt der Name des Kultspiels auf leuchtend rotem Grund: Тетрис – wobei das Wort statt mit einem „s“ mit Hammer und Sichel endet. Die Idee für das Werbeheftchen, das heute im National Museum of American History in Washington ausgestellt ist, kam von Spectrum HoloByte, dem US-Vertrieb des Spiels. Spectrum HoloByte bot das gesamte Motivrepertoire des Kalten Kriegs auf, um Tetris in Ronalds Reagans Amerika zum Erfolg zu machen – von russischer Volksmusik bis zu Bildern sowjetischer Kosmonauten. Schon damals wussten einige im Silicon Valley, wie man mit dem Kalten Krieg Kasse macht.1

Wir spulen vor ins Jahr 2023. Gil­man Louie, der damals CEO von Spectrum HoloByte war, ist heute eine Schlüsselfigur im „Cold War 2.0“. So nennen manche in Washington den fortschreitenden Wirtschaftskrieg zwischen China und den USA. Eine entscheidende Arena in diesem Kampf sind die Spitzentechnologien, und dabei geht es heute nicht mehr um Tetris, sondern um künstliche Intelligenz.

Louie, der eine amerikanische Bilderbuchkarriere hinlegte, wurde in den frühen 1980er Jahren als Entwickler von Flugsimulationsspielen bekannt.

Vom Spieleentwickler zum Sicherheitsberater

Die Spiele waren so erfolgreich, dass die US-Luftwaffe zu Louie Kontakt aufnahm. Ende der 1990er Jahre war Louie dann Chef des CIA-eigenen Investmentfonds In-Q-Tel, der auf Investitionen im Hightech-Sektor spezialisiert ist. Aus dem berühmtesten Investment, das In-Q-Tel einging, entstand die Technologie, die später Google Earth ermöglichte.

Als die Trump-Regierung davor warnte, dass die Vereinigten Staaten im Technologiewettlauf unterliegen könnten, tauchte Louie erneut an zentraler Stelle auf. Er wurde Mitglied der National Security Commission on Artificial Intelligence, eines hochkarätig besetzten Beratergremiums unter dem Vorsitz des ehemaligen Google-Chefs Eric Schmidt.

Innerhalb weniger Jahre entstand aus der Zusammenarbeit mit Schmidt eine enge Partnerschaft – so eng, dass Louie inzwischen CEO des 2022 gegründeten America’s Frontier Fund (AFF) ist, hinter dem ebenfalls Eric Schmidt steht. Der AFF ist ebenso wie In-Q-Tel eine Nonprofitorganisation und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Washington dabei zu helfen, „den globalen Technologiewettbewerb des 21. Jahrhunderts für sich zu entscheiden“.

Der Fonds inszeniert sich selbst als eine Art Wunderwaffe und verspricht, „die produzierende Industrie neu zu beleben, Arbeitsplätze zu schaffen, die heimische Wirtschaft anzukurbeln und das amerikanische Heartland [den Mittleren Westen] aus seiner Erstarrung zu befreien“. Auf der eindrucksvollen Liste der Vorstandsmitglieder stehen unter anderem ein ehemaliger CEO von IBM und einer von Trumps Nationalen Sicherheitsberatern.

Die Gründung des AFF ist eine Reaktion auf Chinas wachsenden Einfluss im sogenannten „Deep Tech“-Bereich, also bei künstlicher Intelligenz und Quantencomputing. „Spitzentechnologien entstehen nicht in der Garage“, verkündet der AFF auf seiner Web­site und verabschiedet sich damit vom Mythos des tüftelnden Unternehmergenies, der im Silicon Valley weit verbreitet ist.

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Gilman Louie, der den Kalten Krieg 1.0 für die Vermarktung von Tetris nutzte, nutzt heute den Kalten Krieg 2.0, um den KI-Hype zu befeuern. Oder vielleicht auch umgekehrt, im heutigen Washington lässt sich das nicht mehr

so genau auseinanderhalten. Fest steht nur eines: Der Hype wird konsequent zu Geld gemacht.

Der alte Tetris-Slogan lässt sich im KI-Zeitalter natürlich nicht mehr verwenden. Heute ist die Botschaft: „Der Neue Kalte Krieg ist da. Fast …“. Das kommt bei vielen in den USA gut an – bei den Tech-Konzernen ebenso wie bei Rüstungsunternehmen und bei den Thinktanks, die außenpolitisch für einen harten Kurs werben.

Jenseits aller Rhetorik sind gewisse ideologische Verschiebungen unverkennbar. Die neuerdings um sich greifende Angst, ihr Land könnte den KI-Wettlauf gegen China verlieren, hat Amerikas politische Eliten ganz offensichtlich aus ihrem Schlummer im Wunderland der freien Märkte aufgeschreckt. Diese Eliten reden inzwischen so, als fühlten sie sich nicht mehr den Dogmen des Washington Consensus (Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung) verpflichtet. Bei manchen hört es sich gar so an, als hätten sie die Seiten gewechselt und folgten jetzt dem „Beijing Consensus“.

In Foreign Affairs, dem Lieblingsorgan des außenpolitischen Establishments der USA, erschien kürzlich ein Essay2 , in dem für einen starken Staat argumentiert wird, der die KI nach Kräften pushen soll. Die Autoren, Eric Schmidt und Yll Bajraktari, rechnen auch mit den politischen Irrtümern der Vergangenheit ab: Sie tadeln Washingtons frühere Faszination für die Globalisierung, weil die USA sich dadurch von „strategischen Überlegungen“ habe ablenken lassen, und sie monieren die Orientierung der Risikokapitalbranche an kurzfristigen Gewinnen.

Stattdessen wird in dem Artikel leidenschaftlich für „Beihilfen, staatlich abgesicherte Kredite und Abnahmeverpflichtungen“ geworben. Sie seien die richtigen Instrumente, um Washingtons langfristige Tech-Ziele zu erreichen. Ausgezahlt werden sollen diese Beihilfen natürlich durch Organisationen wie den AFF, denn die wüssten im Unterschied zu herkömmlichen Risikokapitalfonds, wie man das Geld so investiert, dass es langfristigen Interessen zugutekommt.

Stellenweise erwartet man, der Artikel werde im nächsten Absatz eine stramm organisierte Industriepolitik fordern. Dazu können sich Schmidt und Bajraktari aber doch nicht durchringen, denn „Industriepolitik“ sei und bleibe, so heißt es im Text, ein „belasteter Begriff“. Die überarbeitete Version des Washington Consensus zeichnet sich offensichtlich vor allem dadurch aus, dass man mehr staatliche Zuwendungen an die Privatwirtschaft fordert und dabei die Angst ausnutzt, die USA könnten den nächsten Kalten Krieg verlieren.

Die Argumente sind meist so gestrickt, dass sie sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft Anklang finden. Ökonomische und geopolitische Überlegungen müssen ineinandergreifen. Die intensive Förderung von KI wird als Möglichkeit verkauft, den USA zu neuer Größe zu verhelfen, nach außen wie nach innen. Letzteres soll durch die massive Unterstützung neuer KI-basierter Branchen geschehen.

Manche glauben, mit diesem neuen Konsens halte der „Post-Neoliberalismus“ Einzug, aber in Wahrheit gleicht er aufs Haar dem „militärischen Keynesianismus“ aus der Zeit des Kalten Kriegs, als man höhere Militärausgaben für das Mittel der Wahl hielt, um die Sowjetunion zu besiegen und Amerikas wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern.

Drei Jahrzehnte neoliberaler Staatskunst lassen sich allerdings nicht so leicht ausradieren. Offensichtlich kann man nicht einfach zurück in die Tage des Kalten Kriegs, als öffentliche Gelder beinahe unbegrenzt einer Handvoll Rüstungsunternehmen zuflossen. Heute sind schlanke Prozesse und Unternehmergeist gefragt, und für Generäle des US-Militärs ist es nicht gerade eine Traumvorstellung, sich als Silicon-Valley-Start-up neu zu erfinden. Das Pentagon scheut sich sogar, einen eigenen Risikokapitalfonds nach dem Vorbild von In-Q-Tel aufzulegen und die vom US-Kongress dafür bereitgestellten Gelder anzunehmen.3 Vielleicht ist das der Grund, warum der AFF als private Firma gegründet werden musste.

Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Bande zwischen dem Pentagon und dem Silicon Valley enger werden. Vor kurzem schuf das US-Verteidigungsministerium sogar den neuen Posten des Chief Digital & AI Officers – und besetzte ihn mit Craig Martell, der früher beim Fahrdienst-Vermittler Lyft für das maschinelle Lernen verantwortlich war. Die US-Tech-Unternehmen arbeiten sich immer weiter in die Budgets des militärischen Beschaffungswesens vor – daran ändern auch die moralischen Bedenken ihrer Beschäftigten nichts.

Der Google-Mutterkonzern Alphabet legte zwar nach Protesten seiner Ingenieure die Pläne zur Mitarbeit an dem umstrittenen Pentagon-Projekt „Maven“ ad acta, bei dem es um automatische Bilderkennung geht, gründete aber gleich darauf eine Tochtergesellschaft mit dem harmlos klingenden Namen Google Public Sector, die Cloud-Dienstleistungen für militärische Zwecke anbietet.

Alphabet ist kein Einzelfall. Das Know-how des Silicon Valleys bei Cloud Computing und maschinellem Lernen ist und bleibt unverzichtbar für die Pläne des Pentagon. Das gilt insbesondere für die Vision, ein System aufzubauen, das die Daten von Boden- und Luftsensoren aus allen Bereichen der Streitkräfte zusammenführt. Mit Hilfe von KI sollen diese Daten so verarbeitet werden, dass das Militär wirkungsvoller und besser koordiniert reagieren kann. Zu diesem Zweck erteilte das Pentagon Ende 2022 den vier Tech-Giganten Microsoft, Google, Oracle und Amazon den Auftrag, für 9 Milliarden US-Dollar die Cloud-Infrastruktur für dieses kühne Vorhaben zu entwickeln.

Anders als in den Zeiten des Kalten Kriegs ist jedoch keineswegs ausgemacht, wie viel von diesem Geld nach der keynesianischen Trickle-down-Theorie bei der Normalbevölkerung ankommt. Im KI-Bereich fließt das Geld für Arbeitskosten in die Taschen der Staringenieure – und da geht es um ein paar hundert, nicht um Mil­lionen –, oder es landet bei den vielen schlecht bezahlten Vertragsfirmen, die dabei helfen, die KI-Modelle zu trainieren. Die meisten dieser Firmen sitzen nicht einmal in den USA: OpenAI engagiert Dienstleister in Kenia, die dafür sorgen, dass sein beliebter Chatbot ChatGPT keine anstößigen Bilder und Texte auswirft.

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Beim Cloud Computing ist zudem nicht klar, welcher Nutzen von seinem Ausbau zu erwarten ist. Datenzentren zu bauen, ist teuer – und ein positiver Effekt für die Wirtschaft ist nicht erwiesen. Klar ist nur, dass dadurch tendenziell die Grundstückspreise steigen. Problematisch sind auch die ökologischen Kosten von KI und Cloud Computing. Der Glaube an den Multiplikationseffekt des vielen Geldes, das in die militärischen KI-Anwendungen gepumpt werden soll, könnte sich als Illusion erweisen.

Es kann also sein, dass der Kalte Krieg 2.0 nicht die Rückkehr zum „militärischen Keynesianismus“ bedeutet. Sofern die KI nicht die ersehnte „technologische Singularität“ hervorbringt – also die KI selbst technologische Innovationen erzeugt –, wird Keynes nicht auf einen Schlag wieder lebendig, nur weil man noch mehr Geld in der Tech-Branche pumpt. Vielleicht erleben wir eher einen bizarren neuen „militärischen Neoliberalismus“, der durch noch mehr Staatsausgaben für KI und cloudbasierte Dienste die Ungleichheit weiter verschärft und die Aktionäre der Tech-Giganten noch reicher macht.

Kein Wunder, dass manche dieser Aktionäre auf einen Neustart des Kalten Kriegs erpicht sind. Tatsächlich hat niemand so viel dafür getan, dieses neue Narrativ und den dazugehörigen ideologischen Konsens zu festigen, wie der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt.4 Schmidt, dessen Vermögen rund 20 Milliarden US-Dollar beträgt, ist in Washington eine Institution, seit er 2008 für Barack Obama Wahlkampf gemacht hat.

Von 2016 bis 2020 hatte er den Vorsitz im Defense Innovation Advisory Board des Pentagon, für das er hunderte von US-Militärstützpunkten in aller Welt besuchte. Anschließend wechselte er an die Spitze der National Security Commission on Artificial Intelligence, die in ihrem Abschlussbericht 2021 davor warnte, die USA seien im KI-Bereich nicht ausreichend vorbereitet, um mit China konkurrieren zu können. Neuerdings ist Schmidt Mitglied einer Regierungskommission, die sich mit Sicherheitsfragen im Bereich Biotechnologie beschäftigt.

Quelle         :  LE MONDE diplomatique        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   An Aerial view of Meta’s Main Headquarters with the famed sign in view. Taken on a DJI Mavic 3 Classic; screenshotted from a video.

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Opfer der Parteipolitik

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Mai 2023

Das Wirtschaftsministerium schuf die Energie-Agentur einst in einer Nacht-und-Nebel-Aktion

Für Arbeiten zu denen Politiker-innen nicht fähig sind, sich aber bezahlen lassen, werden  Mitarbeiter aus den Clans oder der Wirtschaft gesucht !

Ein Debattenbeitrag von Christine Wörlen

Die Energieagentur dena stand immer unter politischem Einfluss. Ihr Hauptjob – die Fachberatung bei der Energiewende – wird so ausgebremst.

Die Deutsche Energie-Agentur (dena) ist in aller Munde. Das ist ein völlig neues Gefühl für die 400 Mitarbeitenden. Als die technische Werkbank der Energiewende würde sie eigentlich schon gerne viele Leute erreichen, aber natürlich nicht mit Skandalnachrichten. Aber bereits die Gründung dieser Bundes-GmbH im Jahr 2000 war von parteipolitischer Trickserei geprägt. Das Bundeswirtschaftsministerium schuf die Agentur, die eigentlich als Gemeinschaftsprojekt geplant war, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, um klarzustellen, wer hier das Sagen haben würde.

Besetzt wurde es auch schon damals mit einem Freund des Hauses, Stephan Kohler – der gleichzeitig ein enger Vertrauter von Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier war, der niedersächsischen SPD-Connection. Der Augsburger war zuvor bereits Chef der niedersächsischen Landesenergieagentur gewesen – technisch also qualifiziert. Politisch aber von Beginn an diskreditiert.

Das ganze Polittheater – damals wie heute – ist eine Katastrophe, denn es schadet dem so wichtigen Mandat einer Deutschen Energie-Agentur: die Energiewende mit Information und Kommunikation voranbringen, sie erklären und Bürger und Unternehmen zum Mitmachen motivieren. Das ist heute dringender notwendig denn je. Durch Putins Krieg und die Energiekrise haben auch die Grünen Probleme, diesem ebenso disruptiven wie langfristigen Transformationsprozess Richtung und Kontinuität zu geben. Und die Klima­kri­se hat leider keine Pause gemacht, während die Politik in den Merkel-Jahren schlief.

Dabei ist die Aufgabe der dena nicht das Machen von Politik. Vielmehr arbeitet die dena im vorpolitischen Raum – da, wo es an die Entwicklung von Ideen geht –, und bei der Umsetzung von Gesetzen. Gerade bei der Umsetzung der Energiewende fehlt es aktuell ganz massiv an Wissen.

Eine echte Deutsche Energiewende-Agentur müsste ein neutraler Informationsgeber für Ent­schei­dungs­trä­ge­r:in­nen sein. Das ist angesichts der vollkommen irrational aufgeladenen Debatte über „Habecks Heizhammer“ nötiger denn je. Zielgruppe der dena sind nicht (nur) Politiker:innen. Wirklich entscheidend ist die Information in die Breite. Energieverbrauchende, Haus­eigentümer:innen und Unternehmen praktisch aller Branchen benötigen leicht zugängliches Wissen darüber, wie sie ihren Energieverbrauch ohne Wohlfahrtsverluste einschränken und ganz praktisch auf erneuerbare Energien umsteigen können.

Hierzu kann die dena direkt beraten. Vor allem aber sollte sie auch Landes- und Kreisenergieagenturen, Verbraucherzentralen, Mietervereine, Schuldnerberatungen, Industrie- und Handelskammern und andere Organisationen in die Lage versetzen, selbst zu Energiewendemittlern zu werden. Diese Informationsfunktion kann keine andere staatliche Institution so systematisch wahrnehmen wie die dena, auch wenn sich die Verbraucherzentralen und NGOs redlich bemühen.

Aber die dena hat weitere wichtige Aufgaben. So leidet die deutsche Energiewende zum Beispiel unter einem erstaunlichen Datendefizit. Unsere Ent­schei­dungs­trä­ge­r:in­nen fliegen in weiten Bereichen im Blindflug oder zumindest in einem dichten Nebel. Wie der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, bereitwillig zugibt, kann er nur recht grob abschätzen, wie hoch der Wärmebedarf überhaupt ist. Aber Bauchgefühl kann teuer werden – zum Beispiel beim Gaseinkauf oder der Pacht von Flüssiggasstationen.

In Deutschland werden Energiedaten von der Industrie zusammengestellt. Früher von der sogenannten Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen, betrieben vom Braunkohleverband, heute vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft. Aber stellt die Gewährleistung der Energiesicherheit nicht eine hoheitliche Aufgabe der Daseinsvorsorge dar? Sollte nicht der Staat selbst sicherstellen, dass er jederzeit die Datenbasis für seine Entscheidungen hat? Im Strombereich, der von der Bundesnetzagentur reguliert wird, sieht es besser aus als in den Bereichen Gas und Wärme. Im Gebäudebereich gab es bis vor wenigen Jahren nicht einmal deutschlandweite Statistiken zur Zahl der Gebäude, geschweige denn zu ihrem Energieverbrauch. Auch hier muss die dena ansetzen.

Das führt zur dritten wichtigen Rolle, die die dena einnehmen sollte. Die dena ist eine Plattform für den Austausch zwischen den Akteuren der Energiewende. Das sind einerseits die Energieunternehmen. Aber dazu gehören auch die Ver­brau­che­r:in­nen und andere Gruppen. Sie haben eine – oftmals unnötige und übertriebene – Angst vor den Veränderungen, die Energiewende und Klimaschutz mit sich bringen. Neben den klassischen Zielgruppen Industrie und privaten Ver­brau­che­r:in­nen betrifft die Energiewende ja mittlerweile auch Kultureinrichtungen, Kirchen, Vereine, Medizin und Sportvereine. Die Energiewende und noch viel mehr der Klimaschutz sind Querschnittsthemen, die einen breiten gesellschaftlichen Diskurs benötigen.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     Head of dena (Deutsche Energieagentur = German Energy Agency) at the VDMA Conference in Berlin 2012

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Söders Märchenstunde

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Mai 2023

E-Fuels und Kernfusion

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Einen Debattenbeitrag von Ulrike Herrmann

Klimaneutralität über den Preis herzustellen klappt nicht. Auch Kernfusion, Minireaktoren und E-Fuels sind reines Wunschdenken. Markus Söder und der FDP ist das egal.

FDP und Union haben erstaunliche Ansichten, wie sich Klimaschutz umsetzen lässt. So wird immer wieder der Eindruck erweckt, die Kernfusion könne eine Lösung sein. In Bayern ist bekanntlich gerade Wahlkampf, weswegen die CSU sogar eine eigene „Demonstrationsanlage für Kernfusion, beheimatet in Bayern“ bauen will.

Dabei käme die Kernfusion viel zu spät, um das Klima zu retten. Unter den Physikern gehen selbst Hyperoptimisten davon aus, dass die Kernfusion frühestens „in Jahrzehnten“ gelingt. Diese Hyperoptimisten sind übrigens selten. Die meisten Physiker winken ab, wenn sie den Begriff Kernfusion hören. Denn bisher ist es noch nie gelungen, durch Kernfusion Nettoenergie zu gewinnen. Stattdessen war die Fusion bisher ein Verlustgeschäft, weil es sehr viel Energie kostet, Atomkerne zusammenzuzwingen.

Aber selbst wenn die Hyperoptimisten recht hätten, dass die Fusion in ferner Zukunft tatsächlich Energie abwirft: Das deutsche Klimaschutzgesetz sieht vor, dass wir schon 2045 klimaneutral sein müssen, damit wir die gefährlichsten Klimakipppunkte noch vermeiden können. Bis 2045 wird aber garantiert kein einziger Fusionsreaktor stehen.

Ähnlich weltfremd ist eine weitere Idee von Union und FDP: Sie trommeln für eine Renaissance der klassischen Atomenergie per Kernspaltung. CSU-Chef Markus Söder hofft vor allem auf „Minireaktoren“, die er natürlich ebenfalls am liebsten in Bayern erforschen würde. Mini­reaktoren: Dieses Konzept klingt futuristisch, ist aber in Wahrheit uralt. Schon in den 1950er Jahren träumte man vom „Kraftwerk in der Kiste“. Die Kleinreaktoren sollten als Flugzeugantrieb dienen oder als „Babyreaktoren“ Räume heizen. Es kam bekanntlich anders. Diese Art von Minireaktoren wurde nie gebaut, und ein Grund war, dass auch sie strahlenden Atommüll hinterlassen, den niemand in seinem Wohnzimmer oder in der Küche haben wollte.

Errichtet wurden stattdessen Großkraftwerke, die sich besser beherrschen ließen. Aber auch dort kam es zu den sattsam bekannten Problemen: Für den deutschen Atommüll gibt es bisher kein Endlager, und zudem wird der Bau neuer Reaktoren immer teurer.

Das Uran würde nur für 13 Jahre reichen, wenn man den ganzen Globus mit Kernenergie versorgen wollte

Was auch gern übersehen wird: Das Uran würde nur 13 Jahre lang reichen, wenn man den ganzen Globus mit Kernenergie versorgen wollte, um die fossilen Brennstoffe zu ersetzen und weltweit Klimaschutz zu betreiben. Momentan ist die Atomenergie ein Nischenphänomen, das weniger als 5 Prozent des globalen Endenergieverbrauchs abdeckt.

Aber technische oder physikalische Grenzen interessieren FDP und Union nicht, weswegen sie sich auch so sehr für E-Fuels begeistern können. Söder fürchtet um den „Industriestandort Bayern“, wenn es zu einem Verbrenner-Aus kommt. Also sieht er „große Potenziale“ bei den synthetischen Kraftstoffen. Doch leider ist es eine große Energieverschwendung, Ökostrom in E-Fuels umzuwandeln. Der Wirkungsgrad liegt bei ganzen 15 Prozent.

Nun könnte man es als Marotte abtun, dass FDP und Union so hartnäckig auf Kernfusion, Atomkraft oder aber E-Fuels setzen, die unwahrscheinlich, unerheblich oder ineffizient sind. Aber die beiden Parteien praktizieren nur besonders ausgeprägt eine Weltfremdheit, die auch anderswo in der Klimapolitik zu beobachten ist. Dieser Irrtum heißt: CO2-Preis.

Technik wird ignoriert

Auf den ersten Blick wirkt die Idee sehr charmant, Treibhausgase mit einem Preis zu versehen, sodass die „Mechanismen des Marktes“ wirken können. Es fällt gar nicht auf, wie vermessen der Ansatz ist, dass ein einziger Preis die gesamte Klimakrise lösen soll. Denn dahinter steht die Annahme, dass sich die physikalischen Realitäten dem „Markt“ schon fügen werden. Technische Probleme und Grenzen werden ignoriert. Die Vermutung ist, dass der Preis alle relevanten Informationen enthält und alles steuern kann. Damit agieren die Volkswirte, als wären sie Gott. Gott soll die Welt erschaffen haben, und ein ähnliches Wunder wollen die Ökonomen nun auch vollbringen. Sie setzen einen Preis – und schon soll sehr bald die Klimaneutralität kommen. Ähnlich wahrscheinlich sind Engel.

Aber von vorn: Wenn wir bis 2045 klimaneu­tral sein wollen, muss es jetzt sehr schnell gehen. Der CO2-Preis müsste in extrem kurzer Zeit rasant steigen, damit 2045 niemand mehr auf die Idee kommt, Gas, Kohle oder Öl zu verbrennen. Ein derartiger Ausstieg aus den fossilen Energieträgern wäre problemlos, wenn genug Ökostrom zur Verfügung stehen würde, der relativ günstig hergestellt werden kann. Wenn jedoch grüne Energie fehlt, wird der Ausstieg brutal.

Die zentralen Fragen sind also technisch, nicht ökonomisch. Um nur einige aufzuzählen: Wie viel Ökoenergie kann man in Deutschland maximal erzeugen? Wie stark kann die Effizienz von Batterien oder Windrädern bis 2045 zunehmen? Was kann die Industrie an Rohstoffen und Energie einsparen? Wie aufwendig wäre der Import von Ökoenergie, die in der Sahara hergestellt wird?

Quelle         :      TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld, zwischen den Kühltürmen die Betonkuppel mit dem Kernreaktor

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Es war einmal….

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Mai 2023

So enden alle Ereignisse oder Zustände.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

So auch die US-Hegemonie oder „unipolare Weltbeherrschung“. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete 1991 eine weltpolitisch bipolare Situation der jüngeren Geschichte, und die USA behaupteten sich seitdem als Monopolist in der Weltpolitik.

Spätestens mit dem jämmerlichen Rückzug aus Afghanistan aber begann das Schwinden der US-Macht, das durch den fulminanten Aufstieg von China zur zweiten Volkswirtschaft der Welt ganz offensichtlich beschleunigt wird. Die Schwergewichte in der Welt verschieben sich seitdem deutlich in Richtumng eines multilarteralen Weltgeschehens. Nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die USA und ihre Vasallen in den G7-Staaten wirtschaftlich und bevölkerungsmäßig deutlich schwächer sind als die im BRICS zusammengeschlossenen Staaten.

Allein China und Indien stellen 35 Prozent der Weltbevölkerung, während die USA es gerade auf 4,1 Prozent bringen. Und die überwiegende Weltbevölkerung will weg von der unilateralen, US-gesteurten „regelbasierten internationalen Ordnung“ hin zu einer multilateralen Verständigungen über die Regeln, nach denen die Völker der Welt miteinander umgehen wollen.

Der erste und in Anbetracht des Brutalo-Kapitalsimus wichtigste Schritt ist die Lösung vom US$ mit der Gründung der New Development Bank (BRICS-Bank) mit Sitz in Shanghai zur Abwicklung aller Geldgeschäfte zwischen den BRICS-Staaten in den Nationalwährung bzw. Yüan. Nun müssen sich Entwicklungs- und Schwellenländer nicht mehr einer peinlichen Prüfung ihrer Kreditwürdigkeit unterziehen, sondern können sich respektvoll z.B. mit China über ein Entwicklungsprojekt verständigen, ohne alles über den US$ abwickeln zu müssen und so die USA an einem Projekt mitverdienen zu lassen, für das sie sowieso kein oder allenfalls dann Verständnis haben, wenn es „America First“ dient.

Das Monopol des US$ ist gebrochen. Schwieriger, langwieriger und sicher auch gefährlicher wird die Lösung der Welt von der US-Militärmacht. Mit über 800 Militärstützpunkten rund um die Welt unterhalten die USA eine Kriegs- und Rüstungsindustrie, die nur ihren Interessen dient. Dabei übersehen die USA in ihrer Arroganz und Ignoranz geflissentlich, dass alle seit Vietnam entfachten Kriege nur unendliches Leid ausgelöst haben und keiner von den USA gewonnen wurde. Schlimmer noch und gnadenlos wird die Abhängigkiet der USA von Rohstoffen aller Art, insbesondere von solchen für die Herstellung von Produkten und Verfahren der KI-Industrie. Verzweifelt ihr Versuch, durch die Lieferung von schmutzigem LNG Länder wie die BRD abhängig zu machen.

Spätestens mit der erratischen Energiepolitik der aktuellen BRD-Regierung wird das überaus schädliche LNG als Nischenprodukt verschwinden. In Sachen Diplomatie sind die USA seit eh und je ein Totalausfall. Seit der Monroe-Doktrin haben sie kein Interesse, geschweige denn Verständnis für die Nöte und Wünsche anderer Völker und Länder. Die gebetsmühlenartige Berufung auf Gott und die Demokratie ist längst als hohles Palaver enttarnt. Wenn die USA sich nicht selbst kritisch konstruktiv erneuern, werden sie – wie schon so viele vor ihnen – verkümmern. Das „panta rhei“ des Heraklit gilt gnadenlos auch für die USA. Die Augen verschließen und durch ist der falsche Weg nach irgendwo.

Urheberrecht
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Oben       —   20210627 99 New York Harbor & Statue of Liberty

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US- und EU- Geopolitik

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Mai 2023

Hybris des Westens

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ESSAY VON STEFAN REINECKE

Die neue globale Trennungslinie scheint „Demokratie gegen Autokratie“ zu sein. US-Präsident Joe Biden trommelt Demokratiegipfel zusammen, um eine vom Westen angeführte internationale Front gegen die autoritären Bedrohungen aus Russland und China zu bauen. Der Westen scheint seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wieder auferstanden zu sein, als moralische Wertegemeinschaft und schlagkräftiger politischer Player. Sogar das etwas ausgebleichte Freiheitsversprechen glänzt wieder.

In Europa wirkt diese Erzählung derzeit aus guten Gründen überzeugend. Putins neoimperiale Aggression zielt über die Ukraine hinaus. Die Sicherheit Europas wird, wie seit 1990 nicht mehr, von dem atomaren Drohungspotenzial der USA gewährleistet. Nur wenn der Westen vereint auftritt, wird er der russischen Aggression langfristig Einhalt gebieten.

Das Bild „Demokratie gegen Diktatur“ mag verführerisch klar sein, aber es ist als globales Rezept zu schlicht. Olaf Scholz, ansonsten Bidens treuer Verbündeter, reiht sich zu Recht nur halbherzig in den Feldzug gegen die Diktaturen ein und warnt in einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs vor „einer neuen Zweiteilung der Welt in Demokratien und autoritäre Staaten“. Es gibt triftige Gründe, die gegen die gefeierte Renaissance des Westens sprechen – und noch mehr gegen die Aufspaltung der Welt in ein moralisch überlegenes, überwiegend weißes Zentrum und einen autoritären Rest.

Vielleicht ist die Beschwörung westlicher Werte nur die Begleitmusik, die den globalen Niedergang der USA und Europas übertönen soll. Die USA haben vor 20 Jahren noch achtmal so viele Waren und Dienstleistungen hergestellt wie China, heute ist dieser Vorsprung auf 25 Prozent geschrumpft. In den 38 OECD-Staaten, die sich Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen, also im erweiterten Westen, leben nur 16 Prozent der Weltbevölkerung. Global unangefochten führend ist der Westen nur in einem Metier: Waffen. Die USA geben doppelt so viel Geld für Rüstung aus wie Russland, China und Indien zusammen. In den Nato-Staaten lebt ein Achtel der Weltbevölkerung – aber sie zahlen 50 Prozent der globalen Rüstungsausgaben.

Selbstbestimmung nur für weiße Europäer gedacht

Um die Ambivalenz des mit Waffen und Weltanschauung ausgerüsteten Westens zu verstehen, nutzt ein Blick zurück auf den Moment, in dem der Westen als Verbindung der Macht­zentren USA und Europa auf der Weltbühne erschien. Die Vereinigten Staaten traten 1917 auf der Seiten von Frankreich und Großbritannien, den europäischen Demokratien, in den Ersten Weltkrieg ein. ­Woodrow Wilson fuhr 1919, als erster US-Präsident überhaupt, ins Ausland.

In den früheren Kolonien schaut man auf die westlichen Werte verständlicherweise mit einer gewissen Skepsis

Er reiste mit einer großformatigen Idee im Gepäck nach Europa – dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das zwischen Paris und Belgrad eine gerechte Nachkriegsordnung stiften sollte. Mit Wilsons Reise begann das amerikanische Jahrhundert, in dem die USA in der Doppelrolle als Weltpolizist und Lehrmeister in Sachen Demokratie aufzutreten gedachten. Inder und Vietnamesen, Ägypter, Koreaner und Chinesen waren begeistert von Wilsons Idee, dass die Völker fortan selbst über ihr Schicksal bestimmen sollten. Und sie wurden bitter enttäuscht.

Denn Selbstbestimmung war nur für weiße Europäer gedacht, nicht aber für Bewohner der europäischen Kolonien. Ein 25-jähriger chinesischer Intellektueller notierte 1919 nach dem frustrierenden Ende der Versailler Verhandlungen in sein Tagebuch: „So viel zur nationalen Selbstbestimmung.“ Sein Name war Mao Zedong. Die Verwandlung prowestlicher asiatischer Idealisten in Kommunisten ist, wie der Publizist Pankaj Mishra gezeigt hat, ohne den Rassismus des Westens kaum zu verstehen.

Menschenrechte mit eigenen Interessen abgeglichen

Die Apologeten des Westens betonen heute, dass all das lange her ist. Zudem verfüge der Westen über die Fähigkeit zu Selbstkorrektur und selbstkritischer Vergangenheitsbearbeitung. In den früheren Kolonien schaut man auf die westlichen Werte, vor allem wenn sie von moralischen Fanfarenstößen begleitet werden, verständlicherweise mit einer gewissen Skepsis.

Zudem zeigen zwei Beispiele, dass der Westen Werte und Menschenrechte noch immer kühl mit eigenen Interessen abgleicht. Erstens: Saudi-Arabien führt im Windschatten des öffentlichen Interesses einen brutalen Krieg im Jemen. Es gibt in diesem Stellvertreterkrieg, in dem Iran die andere Seite unterstützt, laut der UNO 380.000 Opfer. Wirtschaftssanktionen gegen Riad? Im Gegenteil. Saudi-Arabien ist seit Jahrzehnten mit dem Westen verbündet und ein verlässlicher Öllieferant. Und EU- und Nato-Staaten beliefern Saudi-Arabien mit Waffen. Die Unterstellung, dass sich der Westen um die Ukraine kümmert, weil dort weiße Europäer sterben, wirkt angesichts des Grauens der russischen Kriegsführung kaltherzig. Völlig abwegig ist sie nicht.

Zweitens: Der Westen hat nach 1990 die Chance verspielt, als Sieger des Kalten Krieges eine stabile Ordnung zu schaffen. Die USA haben in Afghanistan und Irak im Namen von „Menschenrechten und Demokratie“ (George W. Bush) vielmehr genau das Muster wiederholt, das dafür sorgt, dass westliche Werte in vielen Regionen der Welt als Hohn empfunden werden. Beides waren neo­kolonial gefärbte Kriege.

Im Falle des Iraks schufen die USA durch ihren Angriffskrieg mit dem Islamischen Staat erst das Monster, das sie zu bekämpfen angetreten waren. Wenn die USA nach 2000 als Weltpolizist auftraten, dann meist als ein unfähiger Macho-Cop, der auf eigene Rechnung arbeitete und dem das Gemeinwohl schnurz war. „Nichts untergräbt die Idee des Westens mehr als die Verwestlichung mit vorgehaltenem Gewehr, wie sie vom 19. bis ins 21. Jahrhundert immer wieder praktiziert wurde“, so der US-Historiker ­Michael Kimmage.

Ideologen des Westens wie der Publizist ­Richard Herzinger bauen unverdrossen weiter auf dieses Konzept. „Wenn die demokratische Welt Einigkeit, politische Entschlossenheit und militärische Stärke mit konsequentem Eintreten für Freiheitsrechte überall auf dem Globus verbindet, wird sie auch künftig die bestimmende weltpolitische Kraft sein“, so Herzinger. Es gilt also weiterhin den Globus mit den Segnungen des Liberalismus zu beglücken – mit den Menschenrechten in der einen Hand, überlegener Feuerkraft in der anderen. So klingt eine lernunfähige, liberale Ideologie, die blind dafür ist, dass die Mischung aus zivilisatorischem Sendungsbewusstsein und rüder Interessenpolitik in vielen Regionen als Neuauflage des Imperialismus des 19. Jahrhunderts verstanden wird.

Politische Hartwährung im Ost-West-Konflikt

Es stimmt: Mächtige Autokraten instrumentalisieren die Kritik an der Doppelzüngigkeit des Westens, um weiter ungestört die eigene Bevölkerung zu schikanieren. Vor allem Putin und die russische Propaganda bedienen sich oft surrealer, vor Hass triefender antiwestlicher Klischees, um die eigene Herrschaft zu festigen. Doch das schafft die Frage nach der Doppelmoral des Westen nicht aus der Welt. Im Gegenteil.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>      weiterlesen

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Oben      — La Estatua de la Libertad y la Isla de la Libertad vistas desde el mar.

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Ein Fall von Klassenverrat

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Mai 2023

Giffey verwahrt sich hartnäckig gegen ein ursozialdemokratisches Politikprojekt

Ein Debattenbeitrag von Ingo Arend

Franziska Giffeys Berliner SPD macht sich gerade jene Klientel zum Partner für Wohnungsneubau, die eine Volksentscheids-Mehrheit enteignen wollte.

Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt“. Das hat nicht August Bebel gesagt, sondern sein Zeitgenosse Henrich Zille. Das Mietskasernenelend des proletarischen „Milljöhs“ am Ende des 19. Jahrhunderts, das der legendäre Künstler mit dem Spruch anprangerte, existiert zumindest im Berlin des 21. Jahrhunderts so nicht mehr.

An Cholera, Typhus und den Blattern, wie es Friedrich Engels in seinen Schriften zur Wohnungsfrage beklagte, sterben Mie­te­r:in­nen der deutschen Hauptstadt nicht mehr.

Aber die „Wohnungsfrage“ unserer Tage ist zu einer ähnlichen sozialen Zeitbombe geworden. Was sich nicht nur an den rasant steigenden Obdachlosenzahlen und den Zeltlagern des Lumpenproletariats unter Brücken und S-Bahn-Bögen, vor Supermärkten und Sparkassen ablesen lässt.

Berlin hat seit den 2000er Jahren einen ebenso rabiaten wie konzertierten Angriff des internationalen Investmentkapitals auf einen, infolge von 40 Mauerjahren relativ günstigen Wohnungsmarkt erlebt. Die Äxte, mit der die anonymen Pensionsfonds, Anlagefonds und Briefkastenfirmen, die dieses lukrative Terrain planmäßig aufrollten und dessen Nutznießer bis heute erschlagen, heißen Mietsteigerung und Umwandlung in Eigentumswohnungen.

„Diese Stadt lässt Dich machen“ – in ihrem neuesten Werbefilm beutet eine Berliner Biermarke einmal mehr den Mythos von der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten aus. Derweil flüchtet sich das unbotmäßige Kreativvölkchen auf das der Spot zielt, ins Umland, weil es die lustigen Orte, an denen er gedreht wurde, nicht mehr bezahlen kann oder diese von der öden Investarchitektur a la Mercedes-Benz-Arena am Spreeufer plattgemacht wird.

Es ist diese kaum verhüllte Gier, die zum Volksentscheid am 26. September 2021 geführt hat. Dabei hatten sich bekanntlich 59,1 Prozent der Abstimmenden dafür ausgesprochen, profitorientierte Wohnungsunternehmen wie die Deutsche Wohnen oder Vonovia in Gemeineigentum zu überführen.

Es gehörte also schon einige Chuzpe von SPD-Spitzenfrau Franziska Giffey dazu, ausgerechnet diese Klientel zu Partnern für ein „Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen“ auszurufen. Die ideologische Augenwischerei bestand darin, eine sozialpartnerschaftliche Symmetrie zu suggerieren, die nicht existiert. Der Fall des Milliardärs Nicolas Berggruen steht dabei pars pro toto. Kaum hatte er sich in der Stadt mit ein paar Vorzeigeprojekten das Image des Kulturfreunds zugelegt, warf er seine Mie­te­r:in­nen reihenweise aus ihren Wohnungen und Ateliers.

Es steht paradigmatisch für die Lage der linken Volkspartei, dass sie die „Expropriation der Expropriateure“ scheut, die die Theoretiker der Arbeiterbewegung von Karl Marx über August Bebel bis Otto Bauer propagierten. Ja selbst Kevin Kühnert wollte mal BMW kollektivieren. Stattdessen bemüht Giffey das Gewissen, das schwieg, als sie bei ihrer Doktorarbeit schummelte, um diese Ini­tiative zu verhindern.

Lassen wir das Moralargument einmal beiseite, hinter dem sich eine ähnliche Entideologisierung von Politik verbirgt wie hinter der stereotyp wiederholten Formel „Das Beste für Berlin“ – als ob es nicht um die soziale Gestaltung der Stadt ginge. Lassen wir auch die Ablehnung eines demokratischen Mehrheitsvotums für eine in der Verfassung vorgesehene Maßnahme beiseite. Den Verursachern des größten anzunehmenden Wohnungsproblems seit dem 2. Weltkrieg will Giffey nun gar noch Steuererleichterungen gewähren, um den Wohnungsbau anzukurbeln.

So hartnäckig, wie sich Giffey gegen ein ursozialdemokratisches Politikprojekt verwahrt, fragt man sich langsam: Von wem wird diese Frau bezahlt? Von der SPD? Den Steuerzahler:innen? Oder der Immobilienwirtschaft? Primus – dem „Immobilienentwickler im Luxussegment“, der die SPD mit einer Spende von 9.999 Euro bedachte, dankte sie mit den Worten: „Sie können mich bei Fragen oder Anregungen gerne direkt ansprechen“.

Auch nach der Wahl bleibt die Rhetorik auffällig: Kein Tag vergeht ohne neue Beispiele von Verdrängung und Entmietung – einer anderen Form von Enteignung. Doch der jetzt vorgestellte Koalitionsvertrag mit der CDU sorgt sich um die „schwierige und krisenhafte Rahmenbedingungen in der Bauwirtschaft“ – kein Wort über die existenzielle Gefährdung tausender Mieter:innen.

Quelle      :        TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben       —     29th plenary session of the 19th legislative period of the Abgeordnetenhauses of Berlin: Election of the Governing Mayor

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Unten        —     Karl Marx, The Prophet

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Wer will das Kontrollieren ?

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Mai 2023

LNG und die Blindheit unserer Regierung

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Teile des eingestürzten Gebäudes während der Rettungsarbeiten, 27. April 2013

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Alle Politiker blöken wild durcheinander nach der Befreiung von Lieferabhängigkeiten z.B von China und sind ganz offenbar blind für die Hinterfotzigkeiten ihres vorgeblich besten transatlantischen Verbündeten und Anführers der westlichen Wertegemeinschaft.

An sich sollten wir die US-Intetionen in Sachen Öl, Gas und NLG (liquid natural gas) spätestens seit Trump kennen, der sich dem Bau von North Stream 2 widersetzte und rüpelhaft sogar deutsche Firman sanktionierte. ‚America First‘ wird noch heute gepflegt, indem die aktuelle US-Administration mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die dann doch fertiggestellte Pipeline kurzerhand gesprengt hat. Sahra Wagenknecht hat das in jeder Hinsicht unverantwortliche Handeln unserer Regierung in ihrem letzten Newsletter zutreffend angeprangert. Noch deutlicher analysiert der US-Publizist Michael Hudson die Abgründe und Auswirkungen der Gier der USA nach Macht und Geld.

Die seit Jahrzehnten von den USA im Hintergrund gepflegte Strategie erfährt jetzt durch den Ukraine-Konflikt und die damit verbundenen Saktionen gegen Russland eine krasse Offenkundigkeit, die von unseren Politikern aber offensichtlich nicht erkannt oder vielleicht sogar wissentlich verdrängt wird. Zum Schaden unseres Volkes wurschtelt man an Symptomen herum, ohne die wahren Ursachen abzustellen. Durch blindes Befolgen der von den USA verhängten Sanktionen hat sich die westliche Wertegemeinschaft in eine Notlage gebracht, die sie jetzt holterdipolter durch Flickschustereien und ohne Rücksicht auf das Volk und die Natur zu bändigen sucht. Groteskerweise brauchen wir das teure LNG (Fracking Gas) aus den USA gar nicht, weil der Markt davon bereits überschwemmt ist. Aber die deutschen Vasallen zahlen weiter den mit den USA vereinbarten, überhöhten Preis.

So drängt sich unversehens die Frage auf, was die vielbeschworene Wertegemeinschaft unter Führung der USA überhaupt wert ist und wie wir uns möglicherweise schleunigst aus ihrem Würgegriff lösen müssen. Wenn unser scheinbar wichtigster Verbündeter uns nicht ehrlich behandelt und uns als (noch) stärkste Industrienation Europas in seine totale Abhängigkeit zwingen wiill, dann sind auch wir ein großer Verlierer in diesem Neuen Kalten Krieg und werden auf Jahre unseren erarbeiteten Lebensstandard in vielen Bereichen aufgeben und langsam wieder aufbauen müssen, wenn wir uns nicht für die neuen Entwicklungen in der Welt öffnen. Die Mehrheit der Länder der Welt folgt der westlichen regelbasierten Ordnung nicht oder nicht mehr.

Hegemoniale Attitüden sind vorbei, auch seitdem China uns zeigt, wie man auch ohne militärischen oder wirtschaftlichen Druck oder Zwang friedvolle Beziehungen gestalten kann. Das LNG ist nur ein Warnsignal, dass wir unser Geschick autonom gestalten müssen und nicht blind einem Leithammel folgen dürfen. Dazu gehört auch die unbedingte Pflicht, die aktuelle Krise durch Verhandlungen zu lösen. America first ist vorbei. Nur win-win-Lösungen bringen uns weiter. Wenn unsere Regierung für die Realität der komplexen Ereignisse und Interaktionen unserer Zeit blind ist, sollte sie im Interesse des Volkes abtreten, um weiteren Schaden von ihm abzuwenden.

Urheberrecht
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Demokratie und Großkrisen

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Mai 2023

Den politischen Raum öffnen

Hat sich die Politik nicht immer zuerst selber gesehen ? Was wurde den Menschen gegeben? 

Ein Schlagloch von Georg Diez

Krisen verlangen neue Wege. Anstatt Interessen frontal gegenüberzustellen, sollte die Politik danach fragen, wie wir gemeinsam leben können.

Mit „der Politik“ ist etwas passiert: Sie hat „die Menschen“ entdeckt. Also nicht spontan oder epiphanisch, in einem Akt der humanistischen Erweckung; sondern eher tastend, taktisch, in einer Art humanistischem Schwindel. Ich würde nicht direkt Lüge sagen, sondern ich würde es eher Strategie nennen. Sie hat sich dadurch verändert, „die Politik“, in ihrem Wesen und Selbstverständnis.

Sie ist heimeliger geworden, unpräziser und im Geist der Zeit auch populistischer ­– denn der Verweis auf „die Menschen“ impliziert ja eine mehr oder weniger homogene Gruppe, die einem elitär-technokratischen oder vernunftgeleiteten Weg entgegensteht. „Die Politik“ ist dadurch in gewisser Weise weniger demokratisch geworden, auch wenn die, die so oft von „den Menschen“ reden, genau das Gegenteil behaupten würden.

Aber die Demokratie betrifft erst einmal nicht „die Menschen“ – sie ist eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, wie es Abraham Lincoln in der Gettysburg Address 1863 im Zuge des Amerikanischen Bürgerkriegs zusammenfasste. Oder, wie es die politische Philosophin Danielle Allen gerade sehr zeitgemäß gesagt hat: Demokratie ist der stete Widerstand gegen oligarchische Tendenzen in der Gesellschaft.

Es gibt natürlich viele Definitionen, je nach politischem Lager – aber eines ist vielleicht klar: Demokratie ist ein Ziel und kein Zweck. Im Prozess der Demokratie nun tauchen „die Menschen“ als Gruppierung nicht auf; es geht um jeden einzelnen Menschen, mit seinen oder ihren Rechten, die geschützt und durchgesetzt werden müssen.

Rhetorischer Bremsklotz

Es geht also darum, etwas zu bedeuten, wenn „die Menschen“ immer häufiger erwähnt werden – in einem früheren Stadium etwa vor ein paar Jahren in der Version „die Kohlekumpel“ oder „der Mann am Fließband“, als es darum ging, einige wenige Zehntausend Jobs in der fossilen Industrie zu retten und mehrere Zehntausend Jobs in der Solarindustrie zu opfern.

Und auch nun wieder im Kontext des Klimawandels – angesichts der notwendig gravierenden Veränderungen wird immer davor gewarnt, die Gesellschaft zu spalten, zu verschrecken, „die Menschen“ auf dem langen Weg in die sozial-ökologische Gesellschaft mitzunehmen; allerdings wird vor allem von Leuten gewarnt, die selbst die Gesellschaft spalten, etwa indem sie einer recht kleinen Partei mit sehr artikulierten Partikularinteressen angehören, wie es die FDP ist; oder indem sie erkennbar gar nicht die notwendige grüne Wende im Blick haben, sondern nur die nächste Wahl.

Die Rede von „den Menschen“ ist damit zu einem rhetorischen Bremsklotz geworden. Inhaltlich wird deutlich, welche Politik mit dieser beschworenen Mehrheit gemeint ist – denn wenn es um Steuererleichterungen für die Reichen etwa geht, wird ja nicht von „den Menschen“ gesprochen, die man mitnehmen muss, und auch nicht dann, wenn es darum geht, Menschen auf der Flucht abzuholen, damit sie nicht im Mittelmeer ertrinken. Die Rede von „den Menschen“ maskiert mit anderen Worten das, worum es in der Politik immer geht: Interessen.

Und das wiederum ist nicht ganz unwichtig. Politik ist der Prozess legitimer Entscheidungsfindung – sie ist damit in der gegenwärtig reduktionistisch-repräsentativen Form immer partikular, sie ist auf Konflikt ausgelegt, der durch Kompromisse geregelt wird. Es könnte natürlich anders sein, eine andere Form von Politik ist möglich und denkbar – eine Politik, die Interessen weniger frontal gegeneinanderstellt, die die menschlichen und die nicht-menschlichen Interessen berücksichtigt, die also eher nicht von „den Menschen“ handelt, sondern das Leben als Ganzes meint.

Teil einer verwobenen Realität

Hier gibt es gerade eine faszinierende Anzahl von Büchern, Gedanken, Möglichkeiten, das zu definieren, was das Mehr-als-Menschliche ist – Bücher etwa von James Bridle, Bayo Akomolafe, Minna Salami, Corine Pelluchon, Jeremy Lent, George Monbiot, Ursula Goodenough, Lorenzo Marsili, um nur ein paar zu nennen: Es ist eine gemeinsame und sehr heterogene Reflexion darüber, wie im Zuge des Klimawandels unser planetares Denken anders definiert werden kann und muss, wie wir uns als vernetzte und verbundene Wesen sehen – nicht als „die Menschen“, sondern als Teil einer verwobenen Realität.

Quelle       :         TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Neue alte Weltordnung?

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Mai 2023

No one wins, one side just loses more slowly.“

Es wird immer Einer daseun, welcher sich alles nimmt. 

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von     :        Tomasz Konicz

Kann das staatskapitalistische China die abgetakelten USA als Hegemon beerben? The Wire.

Glaubt mensch den Deklarationen russisch-chinesischer Gipfeltreffen und westlichen Einschätzungen, dann wird das 21. Jahrhundert durch eine Ära chinesischer Hegemonie bestimmt werden. Bei ihrem Moskauer Kriegsgipfel Mitte März sprachen sich Putin und Xi für eine „gerechte multipolare Weltordnung“ aus, die der Ära der US-Hegemonie ein Ende bereiten würde.1 Ein britischer Regierungsreport warnte hingegen vor einer Welt der „Gefahr, Unordnung und Teilung“, die Peking in offener, „epochenformender Herausforderung“ der liberalen, „regelbasierenden Weltordnung“ kreiere.2 Wobei es eigentlich auch britischen Analysten schwerfallen müsste, die krisengeplagte spätkapitalistische Welt anders als durch “Gefahr, Unordnung und Teilung” geprägt zu sehen. Bei solchen Einschätzungen handelt es sich offensichtlich um simple Projektionen. Doch das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie vollkommen falsch wären – wie ja ein flüchtiger Blick auf das Gemetzel in der Ukraine und das Säbelrasseln um Taiwan illustriert.

Das Gerede von einer multipolaren Weltordnung ist somit einerseits Ideologie all jener autoritären Staaten der Semiperipherie, die sich vermittels imperialistischer Macht- und Kriegspolitik darum bemühen, die erodierenden USA zu beerben, um auf regionaler oder globaler Ebene eine ähnliche Vormacht oder Dominanz zu erringen, wie sie Washington in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innehatte. Die Zunahme regionaler zwischenstaatlicher Konflikte ist gerade Ausdruck dieser sehr reellen multipolaren Weltunordnung in einer globalen Krisenphase, in der es faktisch keinen Welthegemon mehr gibt. Ob es nun russische Imperialisten, iranische Mullahs, türkische Neoottomanen oder deutsche Vollazis und Querfrontler sind – es ist vor allem der Neid auf die im Zerfall begriffenen Machtmittel Washingtons, der dieses letzte Stadium des Antiamerikanismus motiviert. Und dies gilt vor allem für den US-Dollar. Der Greenback als – vor allem auf dem Ölhandel beruhende – Weltleitwährung verschaffte Washington die Option, sich im Wertmaß aller Warendinge zu verschulden, um etwa seine Militärmaschinerie zu finanzieren. Wenn hingegen ein Erdogan die Geldpresse anwirft, dann steigt einfach die Inflation.

Deswegen sorgen die jüngsten währungspolitischen Abmachungen zwischen China, Russland und etlichen Staaten der Semiperipherie für Aufsehen. Mitte März propagierte Regierungschef Xi bei einem Staatsbesuch in Riad eine Umstellung des Ölhandels mit Saudiarabien auf den chinesischen Yuan, um der „zunehmenden Umwandlung des Dollars zur Waffe“ zu begegnen.3 Riad soll den symbolischen Schritt zur Abwicklung eines Teils seines Ölhandels mit Peking ernsthaft erwägen. Im kriegsführenden Russland ist angesichts westlicher Sanktionen der Yuan zur meistgehandelten Währung aufgestiegen.4 Ähnliche bilaterale Währungsdeals konnte Peking mit Brasilien,5 Pakistan6 und Venezuela7 abschließen. Auf dem letzten BRICS-Treffen im Februar wurde gar der Aufbau eines alternativen Währungssystems für „Schwellenländer“ diskutiert.8 Die Financial Times warnte bereits im März, dass die westlichen Funktionseliten sich auf eine „multipolare Währungsweltordnung“ vorbereiten sollten – was den Verlust des „außerordentlichen Privilegs“ Washingtons, sich in der Weltleitwährung zu verschulden, bedeuten würde.

Diese verstärkten Absetzbewegungen vom Dollar sind einerseits auf die US-Sanktionen gegen Russland beim Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine zurückzuführen, da dabei erstmals russische Auslandsguthaben eingefroren wurden (Lawrow sprach vom „Diebstahl“), was von allen Regimes, die perspektivisch damit rechnen müssen, in Konflikt mir Washington zu geraten, aufmerksam registriert wurde. Doch kann diese Tendenz zur De-Dollarisierung und De-Globalisierung nur vor dem Hintergrund des imperialen Abstiegs der USA und des historischen Krisenprozesses voll verstanden werden. Hiernach erst wird klar, wieso China nicht in der Lage sein wird, die Vereinigten Staaten als Hegemon zu beerben.

Giovanni Arrighi hat in seinem faszinierenden Werk ‚Adam Smith in Beijing‘ die Geschichte des kapitalistischen Weltsystems als eine Abfolge von Hegemonialzyklen beschrieben. Eine aufstrebende Macht erringt in einer auf der warenproduzierenden Industrie geprägten Aufstiegsphase eine dominierende Stellung innerhalb des Systems, nach einer Signalkrise geht diese Hegemonialmacht in den imperialen Abstieg über, in dem die Finanzindustrie an Bedeutung gewinnt, um schließlich von einem neuen, über größere Machtmitte verfügenden Hegemon abgelöst zu werden.

Und diese Abfolge kann sowohl im Fall Großbritanniens wie der USA empirisch nachvollzogen werden. Das englische Empire, das im Rahmen der Industrialisierung im 18. Jahrhundert zur ‚Werkstatt der Welt‘ aufstieg, wandelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Weltfinanzzentrum, bevor es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den ökonomisch aufsteigenden USA abgelöst wurde, die wiederum ihre ‚Signalkrise‘ während der Krisenphase der Stagflation in den 70ern erfuhren. Hiernach setzte die Deindustrialisierung und Finanzialisierung der USA ein, die zu einer ökonomischen Dominanz des US-Finanzsektors führte. Die Verschuldung des absteigenden Hegemons beim imperialen Aufsteiger, die Arrighi ebenfalls thematisierte, kann sowohl im Fall Großbritanniens gegenüber den USA, als auch den Defizitkreislauf der Vereinigten Staaten gegenüber China festgestellt werden.

Der Dollar errang seine Weltstellung somit im Rahmen des fordistischen Nachkriegsbooms, als der Marshall-Plan im verwüsteten Europa auch die Hegemonie der Vereinigten Staaten zementierte. Und es war gerade diese lang anhaltende Phase fordistischer Expansion, die das ökonomische Fundament der US-Hegemonie bildete. Mit dem Ende des Nachkriegsbooms in der Stagfaltionsphase, der Finanzialisierung und der Durchsetzung des Neoliberalismus wandelte sich die ökonomische Grundlage des westlichen Hegemonialsystems: Die sich immer weiter verschuldenden USA wurden in der systemischen Überproduktionskrise zum „Schwarzen Loch“ des Weltsystems, das durch seiner Handelsdefizite die Überschussproduktion exportorientierter Staaten wie China und BRD aufnahm – um den Preis voranschreitender Deindustrialisierung. Peking und Berlin hatten somit allen Grund, die US-Hegemonie und den Dollar als Weltleitwährung zu tolerieren, da ohne den amerikanischen Absatzmarkt Chinas Aufstieg zur neuen „Werkstatt der Welt“ nicht möglich gewesen wäre.

Der an seiner eigenen Produktivität erstickende, zunehmend auf Pump laufende Spätkapitalismus kettete im Rahmen dieser Globalisierung der Defizitkreisläufe und der damit korrespondieren Blasenökonomie die „Produktionsstandorte“ und Defizitstaaten aneinander, doch zugleich nahm das Konfliktpotenzial aufgrund sozioökonomischer Zerfallsprozesse immer weiter zu. Diese Krisentendenz wurde ganz konkret in Donald Trump personifiziert, der von einer erodierenden weißen Mittelschicht gewählt und mittel Protektionismus die USA reindustrialisieren wollte – und somit ungewollt de Abstieg des Dollars, der gerade aufgrund der Defizite des Dollarraumes akzeptiert wurde, noch beschleunigte. Eigentlich gibt es seit Trump keine US-Hegemonie mehr. Die Vereinigten Staaten halten ihre Stellung nur noch vermittels nackter Dominanz, vor allem aufgrund ihres Militärisch-Industriellen-Sektors, der das wahre Rückgrat des Dollars bildet – und eben dies lässt eine militärische Auseinandersetzung zwischen China und den USA wahrscheinlich werden. Die USA stehen global ähnlich mit dem Rücken zur Wand, wie es der russische Imperialismus am Vorabend des Ukraine-Kriegs im postsowjetischen Raum tat. Dies wurde auch am derzeitigen Bankenbeben evident, das ausgerechnet an US-Staatsanleihen getriggert wurde.9

Der krisenbedingt zunehmende Protektionismus scheint somit der Weltleitwähurng Dollar den Rest zu geben. Und dennoch wird das 21. Jahrhundert aufgrund der sich entfaltenden sozioökologischen Weltkrise des Kapitals keine Epoche chinesischer Hegemonie mit sich bringen können. Der Yuan wird den Dollar nicht beerben. Die von der Dominanz der Warenproduktion geprägte hegemoniale Aufstiegsphase der Volksrepublik erfolgte im Rahmen der besagten globalen Defizitkreisläufe, bei denen die Verschuldungsdynamik im Westen die Nachfrage für die chinesische Exportwirtschaft generierte – und sie endete mit dem Krisenschub von 2008. Mit dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und Europa gingen die extremen chinesischen Exportüberschüsse zurück (mit Ausnahme der USA), während die gigantischen Konjunkturpakete, die Peking damals zur Stützung der Wirtschaft auflegte, zu einer Transformation der chinesischen Konjunkturdynamik führten: der Export verlor an Gewicht, die kreditfinanzierte Bauwirtschaft, der Immobiliensektor bildeten fortan die zentralen Triebfedern des Wirtschaftswachstums.

Somit hat China offensichtlich seine ‚Signalkrise‘, die den Übergang zu einem finanzmarktgetriebenen Wachstumsmodell markiert, schon 2008 hinter sich gebracht. Chinas Wachstum läuft somit ebenfalls auf Pump, die Volksrepublik ist ähnlich hoch verschuldet wie die absteigenden westlichen Zentren des Weltsystems. Die chinesische Defizitkonjunktur bringt noch weitaus größere Spekulationsexzesse hervor als es in den USA oder Westeuropa der Fall war, was die Verwerfungen auf dem absurd aufgeblähten chinesischen Immobilienmarkt 2021 evident machten. Ökonomisch hat der hegemoniale Abstieg der Volksrepublik aufgrund der globalen Systemkrise bereits eingesetzt, obwohl sie ihre Hegemonialposition geopolitisch noch gar nicht erringen konnte.

Was immer zählt in der Politki ist der persönliche Reichtum der Machthaber ! Und so hat der Westen allen gezeigt, wie es geht !

Dieser Mangel eines neuen Leitsektors, eines massenhaft Lohnarbeit verwertenden Akkumulationsregimes in der Warenproduktion, in dem sich die innere Schranke des Kapitals manifestiert, bildet den großen Unterschied zwischen dem gegenwärtigen China und den USA am Ende des 2. Weltkrieges. Dies wird gerade hinsichtlich der außenpolitischen Ambitionen Pekings evident, wo mit der „Neuen Seidenstraße“ ein ehrgeiziges globales Entwicklungsprojekt initiiert wurde, das sich am Vorbild des Marshall-Plans orientierte – und das der Volksrepublik die erste internationale Schuldenkrise bescherte.10 Von den rund 838 Milliarden US-Dollar, die Peking bis 2021 zum Aufbau eines auf China zentrierten Wirtschafts- und Bündnissystem in Entwicklungs- und Schwellenländern investierte, sollen nach dem Ausbruch des aktuellen Krisenschubs (Pandemie und Ukraine-Krieg) rund 118 Milliarden ausfallgefährdet gewesen sein.11

Da ist kein globaler Konjunkturfrühling in Sicht, sondern nur Überschuldung und Inflation.12 China wirkt somit aufgrund seiner im In- und Ausland einstürzenden Schuldentürme, als ob es schon vor dem Erringen der Hegemonie im Abstieg befindlich wäre. Hinzu kommt die äußere, ökologische Schranke des Kapitals, da die Volksrepublik im Zuge ihrer staatskapitalistischen Modernisierung zum größten Emittenten von Treibhausgasen Aufsteig, was aufgrund der drohenden Klimakatastrophe einen ähnlichen Entwicklungsweg für weitere Länder des globalen Südens zum reinen ökologischen Irrsinn macht (Und zugleich wäre es schlicht pervers, dem aus den Zentren heraus dem globalen Süden Verzicht zu predigen). Der historische Hegemonialzyklus des kapitalistischen Weltsystems wird somit überlagert von dem sozioökologischen Krisenprozess des Kapitals, er tritt mit ihm in Wechselwirkung und lässt Chinas hegemonialen Aufstieg und Zerfall ineinander übergehen.

Ein Hegemonialsystem, bei dem ja die Stellung des Hegemons toleriert würde, ist aufgrund der sich immer stärker manifestierenden inneren und äußeren Schranken des Kapitals, aufgrund der ökonomischen und ökologischen Doppelkrise nicht mehr realisierbar. Imperialismus in der gegenwärtigen Krisenphase, in der die historische Expansionsbewegung des Kapitals in eine Failed States hinterlassende Kontraktion umgeschlagen ist, läuft auf Abschottung und reinen Ressourcen-Extraktivismus hinaus. Die Abschottung gegenüber den sozioökonomischen Zusammenbruchsgebieten, die keine Rolle mehr spielen als Absatzmärkte, geht mit dem brutalen Kampf der Staaten um die abschmelzenden Rohstoffe und Energieträger einher, die der stotternden Verwertungsmaschine zugeführt werden müssen.13

Hier ist eindeutig eine historische Tendenz zu feststellbar. Das Bestreben zur direkten Kontrolle der Kolonien und Schutzgebiete im 19 Jahrhundert, in der Epoche englischer Hegemonie, ging im 20. Jahrhundert in den informellen Imperialismus über, wie in Washington vermittels Umstürzen und Installierung abhängiger Regimes praktizierte. In der Endphase des kapitalistischen Weltsystems scheint imperialistische Herrschaft auf bloße Aufrechterhaltung infrastruktureller Extraktionswege hinauszulaufen, durch die Ressourcen und Energieträger aus den ökonomischen und ökologischen Zusammenbruchgebieten in die verbliebenen Zentren befördert werden sollen.

Was sich im gegenwärtigen Krisenimperialismus entfaltet,14 ist somit eine Logik des last man standing, bei der die Krisenfolgen auf die Konkurrenz abgewälzt werden. Diese inzwischen bis zum offenen Krieg reichende Machtkämpfe zwischen den Staatssubjekten exekutieren den objektiv voranschreitenden Krisenprozess. Es ist ein geopolitischer Machtkampf auf der untergehenden spätkapitalistischen Titanic, bei dem es faktisch keine Gewinner mehr gibt. Deswegen sind auch alle scheinbaren Allianzen so brüchig, wie es zuletzt an den Absetzbewegungen der EU gegenüber den USA in der Taiwan-Frage offensichtlich wurde.15

Und dennoch ist vor dem Hintergrund der sozioökologischen Krise das Ringen zwischen dem russo-chinesischen Eurasien und dem Ozeanien der Vereinigten Staaten, bei dem Ukraine und Taiwan einen akuten und einen potenziellen Brennpunkt bilden, durchaus auch als ein Kampf zwischen Zukunft und Vergangenheit zu begreifen. Es ist ein Kampf zwischen der untergehenden Ära neoliberalen Kreisverwaltung und dem drohenden Zeitalter offen autoritärer Herrschaft,16 bei der autoritäre Formierung und sozialer Zerfall in Wechselwirkung stehen, wie es geradezu paradigmatisch an der russischen Staatsoligarchie und Mafiaherrschaft sichtbar ist.17 Die Krise treibt die erodierenden spätkapitalistischen Staatsmonster förmlich in die Konfrontation, sodass die Entladung der anwachsenden autodestruktiven Tendenzen des Kapitals in einem Großkrieg durchaus möglich ist.

https://www.patreon.com/user?u=57464083

https://konicz.substack.com/

1 https://www.n-tv.de/politik/Xi-und-Putin-wollen-gerechtere-Weltordnung-article23996962.html

2 https://www.aljazeera.com/news/2023/3/14/russia-china-creating-world-of-danger-disorder-division-uk

3 https://www.globaltimes.cn/page/202212/1281416.shtml

4 https://www.bloomberg.com/news/articles/2023-04-03/china-s-yuan-replaces-dollar-as-most-traded-currency-in-russia#xj4y7vzkg

5 https://www.globaltimes.cn/page/202303/1288326.shtml

6 https://www.aa.com.tr/en/energy/invesments/pakistan-china-agree-to-trade-in-yuan/22190

7 https://www.aa.com.tr/en/energyterminal/finance/venezuela-opts-to-use-chinese-yuan-for-oil-trade/763

8 https://www.ft.com/content/02d6ab99-ea36-41c4-9ad3-9658bb1894a7

9 https://www.konicz.info/2023/03/19/die-silicon-valley-bank-als-das-schwaechste-glied/

10 https://www.ft.com/content/ccbe2b80-0c3e-4d58-a182-8728b443df9a

11 https://www.konicz.info/2022/10/18/china-mehrfachkrise-statt-hegemonie-2/

12 https://www.ft.com/content/049aef43-4f03-45a1-bf65-749cd44921cc?emailId=af7e811c-648b-4ffa-b140-d7980fc81974&segmentId=22011ee7-896a-8c4c-22a0-7603348b7f22

13 https://www.konicz.info/2021/10/14/ddr-minus-sozialismus/

14 https://www.konicz.info/2022/06/23/was-ist-krisenimperialismus/

15 https://www.nbcnews.com/news/world/macron-europe-china-taiwan-usa-outrage-rcna79090

16 https://www.konicz.info/2022/05/24/eine-neue-krisenqualitaet/

17 https://www.konicz.info/2022/05/25/rackets-und-rockets/

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Oben       —    Former German Chancellor Gerhard Schröder as an oligarch in oil and gas of Russian companies Gazprom and Rosneft.

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Nebeneinkommen im BT.

Erstellt von DL-Redaktion am 15. April 2023

Die Diät ist ihnen nicht  genug

VON FREDERIK EIKMANNS, TOBIAS SCHULZE, ALEXANDRA HILPERT UND PASCAL BEUCKER

Mitglieder des Bundestags müssen neuerdings ihr Nebeneinkommen genau angeben. Die taz hat sich durch die Zahlen gewühlt. Auf die zehn Bestverdienenden entfällt über die Hälfte des Gesamtnebeneinkommens aller Abgeordneten.

Bei fast allen Bundestagsmitgliedern ist neuerdings online einsehbar, wie viel Geld sie nebenher erwirtschaften. Wenige Top­ver­die­ne­r*in­nen stehen einer großen Mehrheit gegenüber, die nur wenig einnimmt. Von rund 37 der 736 aktuellen und 11 ausgeschiedenen Abgeordneten fehlen die Daten noch, vor allem von Union und FDP. Die taz hat die Daten, die es schon jetzt gibt, ausgewertet und bei einigen Bundestagsmitgliedern genauer nachgebohrt.

Dabei zeigt sich, dass ein Großteil der Bundestagsmitglieder neben den normalen Diäten von rund 10.000 Euro monatlich nur wenig zusätzlich einnimmt. Im Schnitt liegt der Nebenverdienst derzeit bei nur rund 15.500 Euro brutto über die gesamte laufende Legislaturperiode, das sind weniger als 1.000 Euro im Monat. Insgesamt rund 490 Abgeordnete, also über die Hälfte der Bundestagsmitglieder, listen momentan keine Nebenverdienste auf, die über 1.000 Euro im Monat oder 3.000 Euro jährlich liegen. Das ist die Schwelle, ab der sie gemeldet werden müssen. Einige wenige Bundestagsabgeordnete geben dagegen Nebenverdienste von Hunderttausenden Euro brutto über die bisherige Legislatur­periode an. Dabei haben es vor allem Hinterbänkler in die ersten zehn geschafft (siehe Tabelle auf Seite 11).

Unter ihnen sind einige Selbstständige mit eigenen Unternehmen. Von ihnen erwirtschaftete Summen sind nicht mit Gewinnen gleichzusetzen, sondern geben vielmehr den Umsatz ihrer Firmen an, von dem unter Umständen ein großer Teil für Lohnzahlungen an Angestellte, Betriebskosten und anderes abgeht – wie groß dieser Anteil ist, müssen sie nicht an­geben. Das macht diese Angaben schwer vergleichbar mit denen von anderen Topverdiener*innen, etwa denen, die als Parteifunktionäre über 100.000 Euro brutto im Jahr verdienen oder als Buch­au­to­r*in­nen Tausende Euro im Monat nebenher erwirtschaften, ohne nennenswerte Betriebskosten zu haben.

Auch zwischen den Fraktionen gibt es beim Nebenverdienst Differenzen. Im Schnitt erwirtschaften die Mitglieder der Linken im Bundestag am meisten nebenbei. Ihr durchschnittlicher Brutto-Nebenverdienst liegt bei etwa 23.000 Euro über die gesamte bisherige Legislaturperiode. Das liegt vor allem an Sahra Wagenknecht, die seit November 2021 bisher beachtliche 792.961 Euro brutto einnahm. Weil außerdem die Linksfraktion mit nur 39 Abgeordneten sehr klein ist, hebt Wagenknecht den Schnitt gewaltig. Auf Platz zwei sind die Abgeordneten der Union und der Grünen (je durchschnittlich rund 18.000 Euro Brutto-Nebenverdienst seit Anfang der Legislaturperiode), dahinter die FDP (rund 16.000 Euro). Deutlich unter dem Schnitt wirtschaften dagegen AfD-Abgeordnete (rund 12.000 Euro) und Sozialdemokraten (rund 10.000 Euro).

Die Daten

Angaben von bundestag.de, Stand 13. April 2023. Im Bundestag sitzen derzeit 736 Abgeordnete, dazu kommen weitere 11, die im Verlauf der aktuellen Legislaturperiode ausgeschieden sind. Für insgesamt 710 aktuelle und ausgeschiedene Abgeordnete liegen aktuell Daten vor. Bei allen Verdienstzahlen handelt es sich um Brutto-Angaben ab 1. November 2021, nur vollständige Monate und Jahre wurden gezählt. Während dieser Legislatur ausgeschiedene Parlamentarier*innen und deren Nach­fol­ge­r*in­nen werden zusammen als ein*e Ab­ge­ord­ne­te*r gewichtet.

File:KAS-Politischer Gegner, SPD FDP-Koalition-Bild-1153-1.jpg

Dass Abgeordnete neben ihrer Parlamentstätigkeit noch andere Jobs ausüben, ist nicht prinzipiell verwerflich. Erfahrung in bestimmten Berufsfeldern kann für die Parlamentsarbeit sogar hilfreich sein. Problematisch werden Nebentätigkeiten dann, wenn politische Entscheidungen Auswirkungen auf das Berufsfeld haben, in dem Abgeordnete arbeiten. Genau das geschah mutmaßlich während der Pandemie, wie die sogenannte Maskenaffäre zeigt, die im März 2021 die Union erschütterte. Damals gelangte an die Öffentlichkeit, dass einige Bundes- und Landespolitiker von CDU und CSU in der Pandemie Geschäfte mit Maskenherstellern eingefädelt hatten, von denen sie selber profitierten. So etwa die damaligen Unions-Bundestagsabgeordneten Georg Nüßlein und Nikolas Löbel, die deswegen ihre Mandate abgaben und aus CSU bzw. CDU austraten. Auch gegen Ex-Kanzlerkandidat Armin Laschet und den damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gab es Vorwürfe. Zwar wurde letztendlich niemand verurteilt, doch sorgten die Enthüllungen für die Einsicht, dass für das Vertrauen ins Parlament ein gewisser Grad an Transparenz nötig ist: Der Bundestag beschloss die neuen Transparenzregeln. Nach den Regeln, die bis dahin galten, mussten Abgeordnete ihre Nebenverdienste nur in Stufen angeben.

Anti-Korruptions-Aktivist*innen sehen in den neuen Transparenz­regeln einen Fortschritt. Norman Loeckel von Transparency International sagt: „Durch die Regeln werden mögliche Interessenkonflikte zwischen den eigenen wirtschaftlichen Interessen und den politischen Tätigkeiten für alle sichtbar und zugänglich.“ Um deren Legitimität beurteilen zu können, brauche es aber eigentlich auch Informationen über die Arbeitszeit, die durch Nebentätigkeiten anfällt. Die müssen Abgeordnete bisher nicht angeben. ­Loeckel sagt weiter: „Wichtig ist es, insbesondere bei den Abgeordneten hinzuschauen, die durch Dienstleistungen sehr viel Geld verdienen.“ Auch Léa Briand von Abgeordnetenwatch.de begrüßt die neuen Regeln. Sie sagt aber: „Es bleiben weiterhin viele Ausnahmen.“ Sie beklagt: „Wir wissen nicht, ob Regelverstöße kontrolliert und sanktioniert werden.“ Ebenfalls kritisch sieht Briand, dass das Gesamtvermögen von Mi­nis­te­r*in­nen und Abgeordneten nicht aufgelistet werden muss sowie die Regelungen für nebenberufliche Anwält*innen, die die Namen ihrer Man­dan­t*in­nen verschweigen dürfen.

Abgesehen von solchen Lücken gibt es aber noch ein weiteres Problem der neuen Transparenzregeln: die Bundestagsverwaltung. Denn sie scheint mit der Umsetzung völlig überfordert. So sind die Angaben, die es bisher auf bundestag.de gibt, teils chaotisch und schwer zu entziffern. Vor allem aber hängt die Bundestagsverwaltung dramatisch hinter ihrem Zeitplan her, den es für die Veröffentlichung der Nebeneinkünfte einst gab. Ursprünglich sollten die Angaben für alle Abgeordneten schon 2021 veröffentlicht werden, zuletzt hieß es dann, bis Ostern 2023 werde man fertig. Auch diese Frist ist nun verstrichen und noch immer fehlen einzelne Angaben. Auf Anfrage, wann die restlichen Angaben folgen sollen, sagt eine Sprecherin: „In den nächsten Tagen.“

1.) Die Erbin

Ophelia Nick verdient dank Fabrik-Anteilen nebenbei Millionen

2.) Die Pflege-Chefin

Kristine Lütke arbeitet als Geschäftsführerin eines Heims

3.) Die Autorin

Sahra Wagenknecht polarisiert – und macht das zu Geld

usw.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesn

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Aus den Finanzcasino

Erstellt von DL-Redaktion am 14. April 2023

Bildung und Pflege sind wirtschaftlich gesehen nicht produktiv.

Casino bei RWS.jpg

Von Ulrike Herrmann

Gelten deshalb  auch schnell als „teuer“. Aber auch diese Bereiche profitieren vom Wachstum. Lehrer müssen sein. Das ist keine gute Nachricht, wenn man nur das Wachstum erhöhen will Und wirft eine Fatale Optol auf die Probleme.

Was ist eigentlich ökonomisches Wachstum? Diese Frage wirkt banal, hat aber immense Auswirkungen. Selbst scheinbar ferne Bereiche wie Kinderkrippen, Schulen, Krankenhäuser oder Pflegeheime sind davon elementar betroffen. Wenn etwa Pflegekräfte streiken, dann ist die eigentliche Frage, wer vom Wachstum profitieren soll.

Ökonomisches Wachstum ist zunächst einmal ganz simpel: Es existiert immer dann, wenn mehr Waren und Dienstleistungen entstehen als zuvor. Zwar ist dieses „Mehr“ nicht leicht zu messen, aber diese Ungenauigkeiten sollen hier keine Rolle spielen. Es reicht zu wissen, dass es ein „Mehr“ gibt. Diese Güter entstehen durch Arbeit, und trotzdem sind es nicht die Beschäftigten, die das Wachstum erzeugen. Denn die Menschen ändern sich ja nicht wirklich. Sie haben zwei Arme und zwei Beine, und deutlich intelligenter werden sie auch nicht. Wenn es also zu Wachstum kommt, kann es nicht an der Arbeit der Einzelnen liegen. Der Treiber ist die Technik, die ständig besser und effizienter wird. Die Maschinen machen uns reich. Die Ökonomen nennen das auch „Zuwachs an Produktivität“.

Allerdings ist nicht jede Branche gleich geeignet, um Technik einzusetzen. In der Fertigung von Industriegütern arbeiten kaum noch Menschen. So wird in der Automobilbranche fast alles von Robotern geschweißt, und in den riesigen Hallen stehen nur noch einige Beschäftigte, um an Computern die Arbeit der maschinellen Kollegen zu überwachen. Dafür lassen sich andere Bereiche fast gar nicht technisieren: Dazu gehört etwa das Betreuen von Kleinkindern in Krippen.

Kinderbetreuung ist eine Dienstleistung, was häufig zu dem Missverständnis führt, dass sich Dienstleistungen ganz generell nicht technisieren ließen. Doch das Gegenteil ist wahr. Gerade für die Dienstleistungen werden oft sehr viele Maschinen eingesetzt. „Dienstleistungen“ sind für die Ökonomen alle Güter, die man nicht lagern kann, weil Erstellung und Verbrauch zusammenfallen. Typische Beispiele sind ein Flug nach Mallorca oder eine Zugfahrt nach München. Die Bahn produziert keine Reisen auf Vorrat, anders als Audi, wo die Autos zum Teil auf Halde stehen, bevor sie verkauft werden. Trotzdem sind Bahnfahrten oder Flugreisen fast reine Technik, die nur relativ wenig Personal benötigen.

Ein anderes Beispiel sind die Banken, die ebenfalls zu den Dienstleistern zählen und inzwischen fast komplett mechanisiert sind. Kassierer wurden durch Geldautomaten ersetzt, und auch ansonsten wurde sehr viel Personal eingespart, weil die Kunden ihr Banking jetzt online erledigen. Auch das Investmentgeschäft ist weitgehend automatisiert, indem die Computer berechnen, wann welches Derivat gekauft oder verkauft werden sollte.

Betreuung, Pflege und Bildung sind also rare Ausnahmen, weil sie sich nicht technisieren lassen. Aber ausgerechnet diese Branchen sind elementar und nicht ersetzbar. Es wäre falsch, Kinder nicht zur Schule zu schicken. Zwar gibt es Bildungsprogramme, die sich auf dem Laptop ansehen lassen, aber spätestens die Corona-Lockdowns haben zweifelsfrei bewiesen, dass die meisten Kinder schwer leiden und nur geringe Fortschritte machen, wenn sie nicht mit ihren Klassenkameraden und Lehrern zusammen sein können.

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Lehrer müssen also sein. Das ist keine gute Nachricht, wenn man nur das Wachstum erhöhen will – denn in der Bildung gibt es keine Zunahme an Produktivität. Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Das ist keine Kritik an den Lehrern, sondern eine reine Beschreibung der Realität. Im 19. Jahrhundert saßen in den Volksschulen zum Teil 50 Kinder in einer Klasse, heute unterrichtet ein Lehrer nur noch ungefähr 25 Schüler. Wenn man so will, ist die Produktivität der Lehrer sogar noch gesunken. Wo früher einer reichte, werden jetzt zwei gebraucht.

In der Pflege ist es ähnlich: Das Krankenhauspersonal kann nicht ständig noch mehr Patienten betreuen, wenn es allen gut gehen soll. Rund ums Klinikbett steigt die Produktivität also ebenfalls nicht. Das hat enorme Konsequenzen, denn sofort stellen sich gravierende Verteilungsfragen, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Um dieses Verteilungsproblem zu verstehen, hilft es, sich zunächst den – leicht idealisierten – Normalfall in einer Industriegesellschaft anzusehen: Durch den technischen Fortschritt werden ständig mehr Waren und Dienstleistungen hergestellt, sodass auch die Löhne steigen können, weil es ja mehr zu kaufen gibt.

Quelle       :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben           —       Casino im Resort World Sentosa (Singapur)

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Unten   —     Ulrike Herrmann (taz, Berlin) und Markus Pühringer (Grüne) beim Querdenken #18 („Der Sieg des Kapitals“) in Linz

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Bankenlobby wetzt Messer

Erstellt von DL-Redaktion am 14. April 2023

Licht ins Dunkel bringt nur eine UBS/CS-PUK

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs Schnell /   

Der Nationalrat hat die Staatsgarantien abgelehnt. Das bleibt wirkungslos. Die eigentliche Arbeit für das Parlament fängt erst an.

Einer der zentralen Punkte nach der Übernahme der CS durch die UBS ist die Frage, was die CS noch wert ist. Und wie sich der Zustand der CS auf die UBS auswirken wird. Wüsste die Öffentlichkeit mehr darüber, könnte seriöser über die Too-big-to-fail-Problematik diskutiert werden. Die UBS ist gegenwärtig daran, mit internen und wohl auch externen Prüfstellen rasch Antworten zu finden. In der Öffentlichkeit hört man nichts darüber.

Einer der Schwerpunkte ist die Beurteilung der Derivate, in denen die CS engagiert ist. Infosperber hat in einer Artikelreihe auf die Bedeutung dieser Papiere hingewiesen. Gemäss Finanzprofessor Marc Chesney belief sich der Nominalwert der Derivate bei Credit Suisse im Jahr 2017 auf 29,9 Billionen Franken. Diese Zahl überstieg das Bruttoinlandprodukt der Schweiz um das 36-Fache.

Dieser Wert oder Unwert der CS-Derivate bildet eines der grossen Risiken, welches der Bund mit seiner Staatsgarantie von 109 Milliarden Franken abdecken muss. Wieweit sich Bundesstellen Einblick in die Prüfung der CS gesichert haben, ist nicht bekannt.

Die Analyse ist eine Herkulesaufgabe. Im Wallstreet-Krisenjahr 2008 hatten die US-Behörden für die analytische Arbeit Blackrock beiziehen müssen, den heute grössten Finanzkonzern der Welt. Nur mithilfe von Blackrock-Topteams waren die US-Behörden imstande, Rettungspläne für die fallenden Investmentbanken Bear Stearns und Citigroup sowie den Finanzversicherungsgiganten AIG zu zimmern.

Die Grossbanken spekulieren mit hoch abstrakten Produkten im Milliardenbereich. Die Geschäfte sind äussert komplex und verlangen modernste Rechenleistungen. Doch sie sind weitgehend intransparent. Ein grosser Teil des Derivatenhandels haben Grossbanken in Schattenbanken ausgelagert, die ausserhalb der nationalen und internationalen Regulierungsvorschriften spekulieren. Kommt eine Bank ins Trudeln, springt der Staat ein.

Für Bankencrashs wurde in den letzten siebzig Jahren immer irgendwie eine Lösung gefunden. Doch zu welchem Preis? Der letzte Supercrash von 2008 führte zu grossen sozialen Verwerfungen. Viele Länder leiden immer noch darunter.

PUK jetzt

In der Schweiz fragen sich Politik und Wirtschaft nun, ob die neue UBS das Land nicht überfordern wird. Die Ratlosigkeit liest sich zwischen den Zeilen und macht sich bemerkbar auch in Fernsehen. Damit sind wir bei der Frage nach einer PUK.

Ja, eine PUK braucht es. Sie muss die CS wie den toten Körper eines Ertrunkenen sezieren, um herauszufinden, wie die intransparenten Geschäfte liefen. Gerade bei den Derivaten. Und beim CS-Eigenhandel. Eine PUK muss Zugriff auf die Resultate der laufenden Analyse durch die UBS bekommen. Die PUK muss ihre Untersuchungen so weit treiben, dass sie der Öffentlichkeit anschliessend Auskunft geben kann, ob die exorbitanten Spekulationsgeschäfte überhaupt einen volkswirtschaftlichen Nutzen haben. Oder ob der grösste Teil der Derivategeschäfte – was bereits ziemlich klar ist – nur den Boni-Empfängern und Aktionären nützt.

Umso dringender stellt sich die Frage, wie eine (Gross-)Bank aussehen soll, damit der Staat sie aus der Vollkasko-Haftung entlassen kann.

Die Bankenlobby wetzt die Messer

Bereits wärmt die Bankenlobby das Uralt-Argument des Wettbewerbsnachteils auf und bringt es unter die Leute. Scharfe Regulierungen würden dem Finanzplatz Schweiz schaden. Andere Banken würden in Mitleidenschaft gezogen und und und. Wie nach 2008 in den USA, Grossbritannien, Frankreich oder Deutschland, als sich besorgte Politiker und Politikerinnen (Merkel war auch dabei) einschüchtern liessen und Angst um ihre Bankenplätze bekamen.

Eines der schönsten Lobby-Beispiele dazu ist die über Jahre geführte Durchlöcherung des Dodd-Frank-Acts von 2010 durch die US-Grossbanken. Neue Regulierungen sollten ein «Too big to fail» in der Zukunft verunmöglichen. Der Chef von JP Morgan Chase hatte mehr als ein Dutzend Kongressabgeordnete höchstpersönlich kontaktiert, um das gewünschte Gegensteuer zu geben. Und Citicorp schrieb eine wichtige Passage der vermeintlichen Wall-Street-Gesetzgebung gleich selber um. Dies, nachdem die Bank im Sturm 50 Milliarden an Rettungsgeldern bekommen hatte.

Auch in der EU wurden vor fünfzehn Jahren Hunderte von Milliarden an Steuergeldern in die Rettung angeschlagener Banken gepumpt. Dafür sollten im Gegenzug deren hochspekulative Geschäfte gesetzlich eingeschränkt und besteuert werden. Doch die Finanzlobby verhinderte das Vorhaben weitgehend – dank dem Internationalen Bankenverband IIF unter Vorsitz des Schweizers Josef Ackermann.

Lief es in der Schweiz bisher anders? Nein. Die Parlamentsprotokolle der entsprechenden Debatten in den letzten Jahren können allesamt nachgelesen werden. Besonders peinlich ist die Lektüre für die FDP. Die gegenwärtigen Kommmunikationsverrenkungen passen dazu. Devise: «Möglichst abwarten und nichts überstürzen.»

Die Schweizer Bankenlobby kann sich freuen.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —     Monte Carlo, Monaco 23rd May 2013 Nico Rosberg, Mercedes W04. World Copyright: Charles Coates/LAT Photographic ref: Digital Image _N7T1433

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Keine klare Ansage

Erstellt von DL-Redaktion am 12. April 2023

Es ist irritierend, wie Emmanuel Macron Chinas Staatschef hofiert.

Die Männer zeigen schon wie sie die EU auf Distanz halten

Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Macron besucht Xi Jinping. Dort wird fröhlich mit Kohle geheizt, hier predigt man den Einbau von Wärmepumpen. Die Aushöhlung der politischen Haltung führt bei vielen Bürger-innen zu euner Art Nihilismus.

In welcher aller Welten leben wir gerade? Ich weiß es nicht mehr, und dabei bin ich beruflich ständig mit dem Einordnen von politischen Ereignissen beschäftigt. Wie ist das alles wohl für Leute, deren Beruf nichts mit Politik und Medien zu tun hat, nichts mit Demokratie oder Verwaltung, die einfach mitkommen müssen.

Allein die Debatte über die Wärmepumpen: Noch bevor die Bevölkerung inhaltlich über Vor- und Nachteile aufgeklärt werden konnte, spielt die Ampelkoalition ihre Billigseifenoper, sticht Informationen durch, es kommt zur Panikmache und zu Falschinformationen. Weite Teile der Beobachter des politischen Berlins stürzten sich auf die Rivalität zwischen Christian Lindner und Robert Habeck.

Man hobbypsychologisierte darüber, wer beim Kanzler höher in der Gunst stünde. Die meisten Bürger werden nach Wochen der Debatte den Unterschied zwischen Wärmepumpe und Klimaanlage noch immer nicht kennen. Was sie interessiert, ist, wie sie das alles bezahlen sollen. Aber diese Angst ist vielen, die über das Thema berichten, zu profan. Das überlässt man der Bild, und die dreht den Angstregler ordentlich auf.

Doch auch die politischen Beobachter, die wirksame Klimapolitik fordern und Maßnahmen wie den Einbau von Wärmepumpen als richtigen Weg in die Zukunft bejubeln, verstehe ich nur bedingt. Ihre Zustimmung ist mir einfach zu national. Ja, wir müssen handeln. Doch angesichts der Herausforderung der Klimakrise dienen solche nationalen Debatten doch nur dem eigenen guten Gewissen.

Alleingang löst das globale Problem nicht

Rechte instrumentalisieren die teuren Maßnahmen und mobilisieren, indem sie behaupten, Deutschland wolle nun im Alleingang den Planeten retten und der Steuerzahler solle das alles bezahlen. Populismus, ja, doch er greift. Natürlich hat jedes Land seine eigene Klimapolitik umzusetzen, aber das globale Problem wird der Einbau von Wärmepumpen eben nicht lösen.

Je länger wir auf diese Art debattieren, je mehr sich Bürgerinnen und Bürger in die Opferrollen retten aus finanzieller und intellektueller Überforderung oder einfach nur Erschöpfung, desto instabiler wird unsere Demokratie. Teile der geplanten Maßnahmen sind in Zeiten von Inflation zu teuer, die Wut der Deutschen entlädt sich durch den Zulauf zu rechten Parteien, die weder die Klimakrise noch die Demokratie ernst nehmen.

Zugegeben, alle, die etwas von der Dimension der Klimakatastrophe verstehen, sagen an dieser Stelle: Wenn der Planet für den Menschen nicht mehr bewohnbar ist, wird auch keine Demokratie helfen. Mag sein. Doch den Planeten ernsthaft zu retten, würde internationale Bündnisse erfordern, auch das wissen die Bürger. Wo bleibt die ernst zu nehmende internationale Agenda, das funktionierende globale Bündnis?

In den Armen eines Autokraten

Die Autokraten sind leider wieder auf dem Vormarsch und Klimabündnisse werden immer schwieriger, selbst wenn sich Länder wie China gerne ein Klimaschutzprofil verpassen würden, sprechen die Fakten eine andere Sprache. In welcher aller Welten wacht man auf, wenn En-Marche-Macron plötzlich ein James-Bond-artiges Video von seinem Besuch in China auf seinem offiziellen Twitter-Account verbreitet?

Wer sieht nicht wie klein die EU ist – im Vergleich zu Asien ?

Er marschiert darin geradewegs in die Arme eines autoritären Herrschers, spricht von einer Faszination zwischen China und Frankreich und nennt arschkriecherisch – oh, pardon, höflich natürlich – China zuerst. Es ist eine der großen Perversionen der PR-Möglichkeiten unseres Social-Media-Zeitalters, dass man zwielichtige politische Vorhaben mit weichgespülter Bildsprache vermitteln kann, die auf emotionaler Ebene funktioniert.

Wir sollten an dieser Stelle daran erinnern, dass Macron zuletzt seine Rentenreform auf einem weniger demokratischen Weg durchgesetzt hat – und trotzdem im Amt geblieben ist. In weiten Teilen der deutschen Berichterstattung zeigte man weniger Verständnis für die Wut der Franzosen als für Macrons autoritären Führungsstil. Die Sicherheit Europas hängt nun also davon ab, wie fest unsere Umarmung mit Xi Jinping ist.

Letzterer wird in Macrons Video gleich heroisierend mitinszeniert, als hätte eines der mächtigsten Länder Europas nichts in der Hand, um einem nach Corona angeschlagenen China auf Augenhöhe zu begegnen. Wie sollen Bürger, die nach einem Achtstundentag in der Gebäudereinigung, der Pflege oder nach sonstiger harter Arbeit nach Haus kommen, noch entschlüsseln, was derzeit richtig ist?

Quelle          :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —       Visit of Ursula von der Leyen, President of the European Commission, to China

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Unverstand sucht Schuldige

Erstellt von DL-Redaktion am 12. April 2023

Schon wieder eine Bankenkrise

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Die größten Versager aus 19 Ländern und der EU schleichen sich von Gipfel zu Gipfel für nette Fotos. Alle Jahre wieder – Dummheit trifft auf  Dummheit.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von  :    Suitbert Cechura

Ja, haben die Banken denn gar nichts gelernt? Regieren nur Nieten in Nadelstreifen die Geldwirtschaft? Oder Kriminelle? Hier einige Klarstellungen zu den (mehr oder weniger) dummen Fragen.

Erneut beherrscht ein Krisenszenario die Schlagzeilen: Zuerst war es die amerikanische Silicon Valley Bank, bei der Milliarden von Dollar auf einen Schlag vernichtet wurden, dann traf es die Schweizer Credit Suisse, bei der wiederum Reichtum in Milliardenhöhe von einem Moment zum anderen verschwand. Und plötzlich ist erneut von einer drohenden Bankenkrise mit weltweiten Konsequenzen die Rede.

Was ist da los in der Finanzwelt? Nach der Finanzkrise von 2007 sollten doch angeblich in allen Ländern Lehren gezogen werden, nachdem etwa hierzulande „die Banken mit mehr als 70 Milliarden Euro Steuergeld gerettet wurden“ (FAZ, 1.4.23) und in der Nachfolge neue Regelungen für mehr Sicherheit usw. – in Deutschland wie auf europäischer Ebenen – in Kraft traten. Und jetzt das!? Und dann wird nach der raschen Rettung in der Schweiz auch noch die Staatsanwaltschaft aktiv: „Ermittlungen wegen Credit Suisse“ (FAZ, 3.4.23)! Also schon wieder Straftäter unterwegs, die den Hals nicht vollkriegen konnten?

Eine andere Nachfrage wäre dabei interessanter. Angesichts der Milliardensummen, die jetzt schon wieder innerhalb weniger Tage einfach so „verschwunden“ sind, während in jedem Supermarkt noch der kleinste Diebstahl hart geahndet wird und viele Menschen an der Kasse nach dem letzten Cent kramen, könnte man doch ins Grübeln kommen. Vielleicht sollte man einmal fragen, was „Reichtum“ in dieser Gesellschaft eigentlich ist?

Das Geschäftsgeheimnis: Aus Schulden Vermögen machen

Anlass für die Krise bei der Silicon Valley Bank soll gewesen sein, dass diese viele Wertpapiere mit langer Laufzeit und marktüblichen Zinsen besaß. Das klingt eigentlich nach einer soliden Anlage, konnte die Bank doch mit jährlichen Zinsen und nach Ende der Laufzeit mit der Rückzahlung des Kredits rechnen. Zum Problem wurden diese Wertpapiere dadurch, dass viele Kunden – d.h. mehr, als man erwartet hatte – ihr Geld abzogen und die Bank die Papiere verkaufen musste. Da seit dem Zeitpunkt ihres Kaufs die Zinsen gestiegen waren, erwiesen sie sich allerdings als wertgemindert, ja fast wertlos.

Die Medien warfen der Bank deshalb eine falsche Anlagepolitik vor. Dabei blieb das eigentliche und „normale“ Geschäft außen vor – eine sehr kurzsichtige Kritik! Denn dass die Rückforderung von Geld, das Einzelkunden oder Institutionen einer Bank geliehen haben, zum Problem wird, verweist auf die problematische Grundlage des Geschäfts, das in der Kreditbranche tagein, tagaus betrieben wird, ob es sich nun um die Silicon Valley Bank oder ein anderes Institut handelt.

Vereinfacht dargestellt, sieht dieses Geschäft folgendermaßen aus: Banken leihen sich Geld von denen, die es momentan oder langfristig übrig haben oder auf diese Art und Weise vorsorgen wollen. Dafür zahlen die Banken ihren Kunden Zinsen. Sowohl das Geld ihrer Aktionäre oder Teilhaber – das Eigenkapital im strengen Sinne – wie die Einlagen von Sparern und anderen Kontoinhabern machen dann die ökonomische Potenz einer Bank aus, mit der sie im Geschäftsleben antritt. Der Sache nach handelt es sich aber um nicht viel mehr als Schulden.

Das Geld, über das eine Bank somit treuhänderisch verfügt, bleibt nicht bei ihr. Es ist die Grundlage für ein – mittlerweile – breit gefächertes Kreditgeschäft. Das heißt, es wird weggegeben. Banken verleihen es gegen höhere Zinsen weiter oder legen es ihrerseits in Wertpapieren (Aktien, Unternehmensanleihen etc.) an, wie dies bei der Silicon Valley Bank der Fall war. Dabei beschränken sie sich selbstverständlich nicht darauf, genau so viel Geld zu verleihen, wie sie sich geliehen haben oder worüber sie laut Gründungsakt verfügen: „Bei den größeren Finanzinstituten in Deutschland lag die bilanzielle Eigenkapitalquote 2012 lediglich bei ungefähr 2 Prozent.“ (https://etf.capital/eigenkapitalquote-banken/) In diesem Geschäftszweig lebt man also von vornherein über seine Verhältnisse!

Natürlich bleibt auch vieles, was verliehen wird, innerhalb der Bank und wandert nur von einem Konto auf das andere, weil der Kreditnehmer etwas bei einem anderen Kunden der Bank gekauft hat. Und ein Liquiditätsmanagement – auch durch staatliche Regelungen vorgeschrieben – achtet genau darauf, was in der Kasse ist. Das verliehene Geld verleiht der Bank dann natürlich einen Rechtsanspruch auf Rückzahlung plus Zinsen. Diesen Rechtsanspruch kann die Bank als Wertpapier wiederum beleihen – z.B. bei der Bundesbank – oder an x-beliebige Interessenten verkaufen. Sie erhält so Geld, das sie wieder investieren kann.

Insofern lebt das Geschäft der Banken einerseits davon, möglichst viel Geld zu verleihen, weil die darauf gezahlten Zinsen ihren Gewinn vergrößern. Andererseits müssen die Banken darauf achten, über genügend „Liquidität“ zu verfügen, also mit so vielen Mitteln „flüssig“ zu sein, wie normaler Weise von der Kundschaft abgezogen wird. Wie viel das ist, stellt sich als ein Erfahrungswert in dem Gewerbe heraus, das kontinuierlich mit Ein- und Auszahlungen zu tun hat. Aber das ändert nichts daran, dass es Spekulation bleibt. Immer können Ereignisse eintreten, die die Kontoinhaber dazu veranlassen, vermehrt ihre Konten zu leeren.

Dass zwischen den beiden Seiten – dem Einnehmen und Ausgeben – ein Widerspruch besteht, Banken zugunsten höherer Gewinne dazu neigen, mehr Kredite zu vergeben, als den Liquiditätserfordernissen gut tut, und sich deshalb des öfteren in prekäre Situationen manövrieren, ist übrigens der Grund für die staatliche Aufsicht über das Bankengeschäft. Ein „Bankrott“, also die Pleite einer Bank, würde nämlich wegen der Anzahl der davon unvermeidlich mit betroffenen Gläubiger wie Schuldner und den Auswirkungen auf andere Banken, d.h. letztlich (wie der Crash von 2007/08 gezeigt hat) auf das gesamte Kreditsystem, notwendigerweise größere Folgen nach sich ziehen als die Pleite eines einzelnen Unternehmens, die es in der marktwirtschaftlichen Konkurrenz ständig gibt. Deshalb widmen die Staaten dem Kreditgeschäft eine erheblich größere Aufmerksamkeit und versuchen mit verschiedenen Vorschriften über Eigenkapital, Mindestreservesatz, Liquiditätsanforderungen usw. diesen „systemrelevanten“ Bereich ihrer Wirtschaft „sicherer“ zu machen.

Das Risiko einzuschränken, um die Spekulation sicher zu machen, ist natürlich ein Widerspruch, da sie ja gerade mit der Unsicherheit kalkuliert und aus den unterschiedlichen Erwartungen bzw. Einschätzungen der Marktakteure Profit zu schlagen versucht. Zudem schränken die Auflagen gleich wieder das Geschäft der Banken ein, die ja mit ihrer großzügigen Kreditvergabe die Wirtschaft zum Wachsen bringen sollen – weshalb auch umgekehrt wieder allzu viel an Einschränkung nicht sein darf und sich die Bankiers regelmäßig über „Überregulierung“ beschweren…

Die Schuldner der Banken: per se unsichere Kantonisten

Für das Geschäft der Banken kommt es wesentlich darauf an, dass bei den von ihnen verliehenen oder angelegten Geldern regelmäßige Zinszahlungen, Dividenden bzw. Kurszuwächse bilanziert werden können. Insofern erweist sich das Bankgeschäft abhängig vom Gang der Geschäfte, die mit ihrem Kredit angestoßen wurden. Das Problem im Fall der Silicon Valley Bank hieß nun: Die Wertpapiere der Start-up-Unternehmen hatten ihr lange Zeit Zinseinnahmen gesichert, mit denen sie weitere Geschäfte machen konnte. Als sie die Papiere allerdings vor Ablauf der Laufzeit verkaufen musste, um die Liquidität der Bank zu sichern, erwiesen sie sich – angesichts allgemein steigender Zinsen – als quasi wertlos. Warum?

Der Wert eines Wertpapiers bestimmt sich eben nicht einfach nach dem Kaufpreis. Er wird vor allem im Vergleich zu anderen Wertanlagen ermittelt. Maßstab ist dabei, inwieweit es in der Lage ist, sich zu verwerten, also mehr Geld zu generieren. Steigen allgemein die Zinsen – was in diesem Fall wegen der neuen Vorgaben der US-Zentralbank eintrat –, werden einige Wertanlagen attraktiver und andere damit eventuell entwertet. Hier hat man die ganz normale Geschäftspraxis der Branche vor sich: Die Möglichkeit, aus Geld mehr Geld zu machen, ist der ebenso schlichte wie knallharte Maßstab, an dem sich entscheidet, ob Milliarden von Euros oder Dollars vernichtet werden oder nicht.

Es geht also keineswegs um einzelne Missetaten von Versagern oder kurzsichtigen Gierlappen, um ein paar unsaubere Unternehmen, die den Preis für ihr Missmanagement bezahlen. Die Antwort auf die eingangs gestellte Nachfrage zum Thema Geldvernichtung heißt: Hier hat man es mit dem Wirken des Maßstabs zu tun, an dem nicht nur die Entscheidung für oder gegen ein Wertpapier hängt, sondern der Konsequenzen für die ganze Welt mit sich bringt. Alles dreht sich – im inzwischen internationalisierten Kreditgeschäft – eben darum: um das Gelingen der Spekulation, die Stätten der Produktion in die Welt setzt oder brach legt, Handel antreibt oder scheitern lässt, Menschen in Arbeit bringt, freisetzt oder zum Hungern verurteilt. Denn mit dem entsprechenden Geld verschafft sich der Besitzer die Verfügungsmacht über allen menschlichen wie sachlichen Reichtum in der Welt und kann demnach auch darüber befinden, was an Produktion und Distribution lohnend ist und was nicht.

Das Bankgeschäft ist mit seinen Krediten und Geldanlagen ebenfalls davon abhängig, dass die einen ein lohnendes Geschäft bewirken und die anderen sich gut verzinsen. Die Konkurrenz der Unternehmen untereinander sorgt allerdings mit Notwendigkeit dafür, dass auf keinen Fall alle Investoren mit dem Kredit, den sie sich bei den Banken verschaffen, ein genügend großes Wachstum hinkriegen. Mit anderen Worten: Zahlungsausfälle auf Seiten der Schuldner sind kapitalistischer Alltag – anders geht eine Marktwirtschaft schlicht nicht. Einzelne Ausfälle kann eine Bank dabei verkraften, kommt es jedoch zu einer Vielzahl von Ausfällen, ist die Liquidität des Instituts bedroht. Dann bewerten Anleger wie Einleger die Aussichten ihres Geschäfts neu, ziehen ihr Geld im Fall des Falles ab und die nächste Bankenkrise nimmt ihren Lauf…

Der wirtschaftliche Sachverstand: sucht Schuldige

Bankenkrisen, die mit ziemlicher Regelmäßigkeit auftreten, gehören also systembedingt zum Kapitalismus dazu. Die letzte Finanzkrise ist ja nicht lange her und auch davor gab es in Abständen solche Krisen. Eine ganze Reihe von Banken ist nicht nur deshalb verschwunden, weil sie von anderen aufgekauft wurden, sondern auch, weil sie mit staatlicher Unterstützung abgewickelt wurden. So ist die Zahl der Landesbanken erheblich geschrumpft, um hier nur an einige deutsche Champions von damals zu erinnern. Dennoch suchen Journalisten, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker bei jeder Krise die „Schuldigen“ – ganz so, als ob diese Krisen nicht im Wesen dieses Geschäftes und seiner spekulativen Basis begründet wären:

Jede-r welcher nicht weis, sucht nach Schuldigen oder bestellt sich einen Hausmeister zum Wirtschaftsminister.

„In den letzten zehn Jahren machte die Credit Suisse insgesamt einen Verlust von 3,2 Milliarden Franken – und schüttete in der gleichen Zeit Boni von 32 Milliarden Franken aus. Hohe Boni, hohe Risiken. Das war nach der Finanzkrise so, als der damalige Vorstandschef Brady Dougan unter seinem überforderten Verwaltungsrat Urs Rohner die Bank leitete. Das war unter Nachfolger Tidjane Thiam so, der später wegen seiner Verwicklung in eine Spitzelaffäre gehen musste. Und auch das letzte Führungsduo, Ulrich Körner und Axel Lehmann, änderte nicht viel an der Strategie. Stattdessen glaubten die beiden, mit Durchhalteparolen und Geld von saudischen Aktionären einfach so weitermachen zu können wie bisher.“ (SZ, 24.3.23)

Da müsste sich allerdings die Frage aufdrängen, wie solche Pfeifen dauernd in die Führungspositionen von Konzernen gelangen? Aber es ist ja einfach die billige Tour, hinterher, wenn sich der Erfolg nicht eingestellt hat, mit der Schlaumeierei zu kommen, dass man dieses Geschäft besser unterlassen hätte.

Die landläufige Kritik basiert auf der eher kindischen Vorstellung, dass das ganze spekulative Geschäft von Unternehmen wie Banken sicher zu machen sei. Aus diesem Grunde gibt es eine ständige Diskussion darüber, wie das Bankengeschäft neu oder besser zu regulieren wäre: „Rund 70 Milliarden Euro hat die Rettung der Banken damals allein die deutschen Steuerzahler gekostet. Geld, das man auch in Schulen oder die Bahn hätte stecken können. Und die Frage, die sich viele Menschen gerade nicht nur in der Schweiz stellen lautet: Hat die Welt, hat die Politik, haben vor allem Banken denn gar nichts dazu gelernt?“ (SZ)

Dass Staaten Unmengen Geld in Banken statt in Schulen oder Infrastruktur stecken, ist eben ein Hinweis darauf, was in dieser Gesellschaft Priorität hat. Das Geldgeschäft mit dem Geschäft, das auf Geldvermehrung setzt, muss laufen, davon ist alles in dieser Gesellschaft abhängig gemacht und deshalb werden im Zweifelsfall auch alle Mittel dafür mobilisiert: Banken sind in diesem Sinn tatsächlich so nötig für diese Gesellschaft wie der Blutkreislauf für den Menschen. Schulen können auch später renoviert werden; es braucht sie zwar für den Nachwuchs der Nation, aber dessen Brauchbarkeit ist nicht unmittelbar gefährdet, wenn die Fenster zugig sind oder der Putz bröckelt. Auch die Bahn ist für die nötigen Transporte von Waren und Arbeitskräften unerlässlich, aber das geht auch mit Verspätungen und Überfüllung.

Gelernt haben Politiker und Banken nach der letzten Finanzkrise durchaus. Die Politik hat die Banken zu einer höheren Eigenkapitalquote verpflichtet und so das Kredit- und Anlagengeschäft beschränkt, wobei streng darauf geachtet wurde, dass dies nicht zu sehr die Kreditvergabe der Banken an die Wirtschaft behindert. Die Banken haben ihrerseits alles dafür getan, damit ihr Geschäft auch unter diesen Bedingungen nicht leidet und sie diese Regelungen für sich nutzen können.

Der Rest der Welt wurde dabei nicht gefragt. Und was sollten die kleinen Sparer auch lernen? Ihre Zinsen wurden gekürzt und die Gebühren erhöht, so dass nicht nur ihre Einkommen in den letzten Jahren geschrumpft sind, sondern auch ihre Rücklagen, sofern sie denn welche haben. So geht sie eben, die schöne Marktwirtschaft.

Zuerst erschienen bei Telepolis

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Oben       —   Staats- und Regierungschefs beim G20-Gipfel in Rom 2021

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Häuserkampf in München

Erstellt von DL-Redaktion am 10. April 2023

Haidhausen soll leuchten

Woerthstr. 8 Muenchen-1.jpg

Wörthstraße 8; Mietshaus, neubarocker Eckbau

Aus München  Dominik Baur

Ausgerechnet mitten in München wollen Mieter ihr Haus übernehmen und selbst verwalten. Doch jetzt läuft ihnen die Zeit davon.

Armin Kasper haut mit der Faust auf den Tisch: „Wir müssen einfach kämpfen. Ein Haus in Haidhausen, das ist doch was! Und es ist unser Haus.“ Der 62-jährige Briefträger sitzt mit acht Mitstreiterinnen und Mitstreitern an einem langen Tisch in einer Wohnküche in ebenjenem Haus in Haidhausen. „Wir müssen es versuchen. Wenn wir scheitern, dann scheitern wir. Aber dann haben wir’s wenigstens versucht.“

Es ist die Küche der Nachbarn Verena Hägler und Andy Ebert im ersten Stock, die einmal in der Woche zum Krisenzentrum wird. Sie ist geräumig und gemütlich, hohe Decken, Stuck. Am Küchentisch beratschlagen sie sich nun schon seit Monaten jeden Donnerstag, wie sie es anstellen können, dass sie auch in ein paar Jahren noch hier wohnen – und das zu bezahlbaren Mieten. Seit sie die Annonce gesehen haben, dass ihr Haus zum Verkauf steht, herrscht Alarmstimmung in der Wörthstraße 8.

Betritt man das Haus, steht man zunächst zwischen Kinderwagen auf einem Mosaik, das stolz das Baujahr des Hauses verkündet: 1894. Ein unsanierter Altbau mit Holzfußboden, Kastenschlössern und allem, was dazugehört. Die alte Holztreppe knarzt beharrlich, von den Wänden im Treppenhaus blättert Farbe ab, aber sonst – das haben sich die Bewohner von Gutachtern bestätigen lassen – ist das Haus gut in Schuss. Über den Briefkästen am ersten Treppenabsatz wacht ein kleiner Buddha aus Gips, draußen am Hauseck eine steinerne Madonna.

13 Wohnungen hat das Haus und 29 Bewohner. Von der Schneiderin über den Schreiner und die Grafikerin bis zur Tierärztin ist alles vertreten. Aufkleber an einer Tür zeugen davon, dass sich hier, nur drei Kilometer vom Sechzgerstadion entfernt, sogar St.-Pauli-Fans niedergelassen haben. Unten befinden sich noch ein Schreibwaren- und ein Schmuckladen sowie ein Friseursalon.

Haidhausen also. Man tritt dem übrigen München sicherlich nicht zu nahe, wenn man behauptet, dass dies eines der schöneren Stadtviertel ist. Am rechten Isarhochufer zentral gelegen, findet man hier noch reichlich Altbauten; das Viertel hat den Krieg für Münchner Verhältnisse gut überstanden. Laut Wikipedia sind sogar zwei Drittel der Gebäude über 100 Jahre alt. Biergärten gibt es hier, Cafés, kleine Läden, den bayerischen Landtag und sogar eine richtige inhabergeführte Metzgerei. Ein Dorf mitten in der Stadt, schreiben die Reiseführer.

Nur den Bunten Würfel gibt es nicht mehr, das Kabarett, in dem Karl Valentin Anfang 1948 seine letzte Vorstellung gegeben hat. Es war gleich um die Ecke in der Preysingstraße. Als man ihn dort versehentlich über Nacht in der kalten Garderobe eingesperrt hat, soll er sich die Lungenentzündung geholt haben, an der er kurz darauf starb.

Aber zurück in die Wörthstraße 8. Eine Woche vor dem Krisentreffen, zweiter Stock. Wer bei Katrin Göbel vor der Tür steht, auf den richten erst einmal die Cartwrights ihre Colts. Als gelte es, die Ponderosa gegen Eindringlinge zu verteidigen. Hinter der Tür, an der die „Bonanza“-Postkarte klebt, trifft man im Wohnzimmer dann neben Katrin Göbel auch Andy Ebert und Hendrik Wirschum. Die drei gehören zum harten Kern der Hausgemeinschaft und erzählen von ihrem eigenen Häuserkampf. Göbel, 57 Jahre alt, wohnt bereits seit 33 Jahren in der Wörth­straße 8. Gemeinsam mit einer anderen Hausbewohnerin betreibt sie den Schreibwarenladen Kokolores im Erdgeschoss. Ebert, 48, arbeitet als Informatiker, Wirschum, 39, als Gewässerökologe.

„Wird unser Haus UNSER Haus?“ lautet die Frage, die auf den Flyern und Postkarten prangt, die sie haben drucken lassen. Eine große Frage. Mit einem großen Fragezeichen. Denn in der Tat ist es etwas gerade in München ziemlich Einzigartiges, was diese Menschen hier planen: „Unsere drei Hauptziele“, erzählt Wirschum, „sind, dass wir erstens mal dieses Haus für immer dem Spekulationsmarkt entziehen, dass wir sozialverträgliche Mieten garantieren können und dass wir selbstverwaltet sind.“

Dass sie von der Annonce erfahren haben, war reiner Zufall. Eine Bewohnerin des Hauses wurde im vergangenen Sommer von einer Bekannten auf die Anzeige in einem Immobilienportal hingewiesen: „Das ist doch euer Haus.“ 6,5 Millionen Euro, das war die Summe, die der Eigentümer für das Haus wollte – genau genommen für eine Hälfte davon, denn die andere gehörte seiner Schwester.

Gesprächsbereite Vermieter

Als die Mieter daraufhin die Eigentümer kontaktierten, lernten sie zwei relativ gesprächsbereite Exemplare der Gattung Vermieter kennen, die ihren Mietern auch gern dauerhaft bezahlbare Mieten sichern würden.

So ergab sich in den folgenden Gesprächen ein Plan, der kompliziert, aber vielversprechend erschien: Der eine Eigentümer würde seinen Anteil der Hausgemeinschaft verkaufen und sich mit fünf Millionen Euro begnügen, von denen zwei Millionen erst in fünf Jahren bezahlt werden müssten. Seine Schwester, die mittlerweile in der Schweiz lebt, würde ihre Hälfte der dortigen Confoedera-Stiftung überschreiben, die dann wiederum ihre Hälfte des Gebäudes gegen die andere Hälfte des Grundstücks eintauschen würde, um daraufhin das Gesamtgrundstück der Hausgemeinschaft in Erbpacht zu überlassen. Das Modell der Stiftung sieht ohnehin vor, Grundstücke der Spekulation zu entziehen und mit dem Pachtzins „das freie Kultur- und Geistesleben“ zu fördern. Gehört der Stiftung einmal ein Grundstück, darf sie es nicht mehr verkaufen.

Damit der Deal funktioniert, müsste die Hausgemeinschaft sich nun also nur noch das nötige Geld leihen, um den Bruder auszubezahlen, und das zu Konditionen, die ihnen erlaubten, mit ihrer Miete den Kredit abzubezahlen, den Erbzins von jährlich 75.000 Euro zu begleichen und das Haus instand zu halten.

Fünf Millionen Euro sind viel Geld, für ein Haus in Haidhausen jedoch eine überschaubare Summe. Hätten die beiden Geschwister das Haus als eine Einheit zum Verkauf angeboten, hätten sie auf dem freien Markt einen Investor gefunden, der 14 Millionen dafür gezahlt hätte, schätzt Ebert, oder auch 15.

Man muss vielleicht kurz in Erinnerung rufen, wie das sonst so abläuft in einer Stadt wie München. Katrin Göbel bekommt es fast täglich zu hören in ihrem Laden. Da kommen die Leute aus dem Viertel vorbei und erzählen ihre Geschichten. Dass da einfach mal unangekündigt das Wasser abgestellt wird, gehört zu den harmloseren. Es wird schon auch mal ein angeblich sanierungsbedürftiges Dach abgedeckt, woraufhin der Vermieter plötzlich die Handwerker nicht mehr bezahlen kann. Die Mieter sitzen dann in ihrem Haus unter dem offenen Dach, und es regnet hinein. Oder die Toiletten sollen ersetzt werden: Die Kloschüsseln werden auch schnell ausgebaut – doch dann kommen die Handwerker nicht mehr, um die neuen einzubauen.

Viele Vermieter, sagt Andy Ebert, spekulierten auch einfach nur auf die Steigerung des Bodenwerts. Die hätten Geld und Zeit. Solche Investoren kauften ein Haus und säßen dann einfach zehn Jahre aus. „Danach können sie es spekulationssteuerfrei weiterverkaufen, und bis dahin wird es runtergeritten.“ Irgendwann hat man die lästigen Mieter dann los.

Und hinterher? Wird saniert und neu vermietet. An Menschen, die es sich leisten können. Von denen gibt es schließlich genug in einer Stadt, in der sich Amazon, Google und Co. mit eindrucksvollen Filialen breitmachen. Gerade erst hat der Freistaat dem Apple-Konzern ein riesiges Innenstadtgrundstück für eine Viertelmilliarde überlassen. „Isar Valley“, titelte die Süddeutsche Zeitung.

Eine Neuvermietung unter 20 Euro pro Quadratmeter kalt? Gibt es in der Gegend praktisch nicht mehr.

„Seit 2008 ist hier gefühlt jedes Haus saniert und verkauft worden“, sagt Ebert. Neuvermietungen unter 20 Euro pro Quadratmeter kalt? Gebe es in der Gegend praktisch nicht mehr. Vor drei Wochen habe er eine Anzeige für eine Wohnung direkt im Nachbarhaus gesehen, erzählt Ebert: 105 Quadratmeter für 2.700 Euro kalt.

Das Mietshäuser Syndikat

Häuser „Die Häuser denen, die drin wohnen“, lautet das Motto des Mietshäuser Syndikats. In dem Verbund haben sich mittlerweile schon 184 Projekte selbstverwalteten Wohnens zusammengefunden. Die Projekte befinden sich verstreut über ganz Deutschland, besonders viele gibt es in und rund um Berlin sowie Freiburg, wo die Idee für das Syndikat Ende der Achtziger geboren wurde.

Kaufen Die Initiative richtet sich an Gruppen, die sich ohne größeres Eigenkapital gemeinsam ein Haus kaufen oder bauen wollen und bereit sind, die Immobilie dauerhaft dem Immobilienmarkt zu entziehen. Käufer des Hauses ist dann eine GmbH, die zu gleichen Teilen der jeweiligen Hausgemeinschaft und dem Syndikat gehört. Die Mieter treffen Entscheidungen über ihr Haus selbst, das Syndikat verhindert durch sein Vetorecht einen Verkauf der Immobilie. Finanziert wird der Kauf großteils über Kredite von Unterstützern.

Damit es ihr nicht genauso ergeht, will sich die Hausgemeinschaft jetzt dem Mietshäuser Syndikat anschließen. Die Idee des Syndikats entstand Anfang der Neunziger in Freiburg, seither wurden bereits 184 Projekte umgesetzt. Ziel der Initiative ist es, möglichst viele Häuser oder Grundstücke aus dem Spekulationsmarkt herauszukaufen.

Dazu schließen sich die Bewohner eines Hauses zu einem Verein zusammen, der zusammen mit dem Syndikat eine GmbH gründet, der wiederum das Haus gehört. Durch das Konstrukt wird verhindert, dass die Bewohner das Haus doch irgendwann verkaufen. Gekauft wird die Immobilie mit geliehenem Geld. Bislang gibt es in München aber nur ein einziges Projekt, das auf diese Weise ein Mietshaus dem freien Markt entzogen hat – in der Ligsalzstraße im Westend.

Das Geld für den Kauf der Wörth 8 soll über Direktkredite von Menschen reinkommen, die das Projekt unterstützen wollen. In den vergangenen Wochen gingen bereits Absichtserklärungen für Kredite in Höhe von fast 1,5 Millionen Euro ein. Laufzeit und einen Zins von bis zu einem Prozent dürfen die privaten Finanziers selbst bestimmen.

Geht der Plan auf, könnten die Bewohner den Kauf des Hauses mit akzeptablen Mieten stemmen. Derzeit zahlen sie im Schnitt nur 9 Euro pro Quadratmeter, künftig wären sie bereit, auf 12 Euro hochzugehen.

Klingt natürlich gut. Endlich mal eine positive Geschichte aus dieser Stadt, in der Wohnen längst zum Luxusgut geworden ist. Das dachten die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses zunächst auch. Sie machten sich ans Werk, bastelten eine Homepage, berieten sich mit Experten des Mietshäuser Syndikats, warben um Direktkredite. Doch dann der Dämpfer: In einem Telefonat erklärte der Hauseigentümer plötzlich, das Ganze gehe ihm nun doch zu langsam, sei ihm zu unsicher. Er werde sich wieder auf die Suche nach anderen Käufern machen. Kurz darauf kamen bereits Interessenten zur Hausbesichtigung.

Quelle       :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Wörthstraße 8; Mietshaus, neubarocker Eckbau, mit reichem Stuckdekor, 1894 von Franz Hammel.

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Bürgermeisterwahl Chicago

Erstellt von DL-Redaktion am 7. April 2023

Gute Kinder, böse Stadt

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Aus Chicago von Lukas Hermsmeier

695 Menschen wurden 2022 in Chicago getötet. Bei der Wahl des neuen Bürgermeisters dreht sich alles um die Frage: Was tun gegen die Gewalt? Die einen wollen mehr Polizei, die anderen wollen sie abschaffen.

 

Die erste Schusswaffe hatte Camiella Williams mit elf Jahren. Ein 9-mm-Kaliber, für 25 Dollar vom Taschengeld gekauft. Nichts Besonderes in Englewood, sagt sie. Hatten die Jungs ja auch.

Wenn sie die anderen einschüchtern wollte, holte sie die Pistole aus ihrem Rucksack und wedelte damit herum. Muss sie sich abgeguckt haben, sagt Williams. Wer zu einer Gang gehört, sorgt besser für Angst, als sie zu zeigen.

In Englewood gibt es kein Leben ohne Gewalt. Gewalt ist draußen und zwischen den Menschen und irgendwann auch in einem drin, sagt Williams. Als Trauma, kalt und glühend. Man weiß, dass Personen, die schwere physische Gewalt ausüben, fast immer selbst Gewalt erfahren haben. In Englewood erlebt man es.

Wer mit Camiella Williams, die heute 35 Jahre alt ist, zwei Söhne hat und als Lehrerin arbeitet, durch ihre alte Heimat im Süden von Chicago fährt, spürt, wie sehr sie an Englewood hängt. Sie zeigt auf den Kiosk, an dem sie damals Fruchtgummis für 75 Cent kaufte, die Marke, die sie jetzt immer noch holt. Sie erzählt vom Shoppingcenter, das es nicht mehr gibt, Evergreen Plaza, „von allen nur Everblack genannt“. Erinnerungen an jeder Ecke. Und an jeder zweiten nennt sie einen neuen Namen.

Deonte. Rekia. Porshe. Terrell. Starkesia. Tyshawn.

Wie viele Menschen sie in ihrem Leben durch Gewalttaten verloren hat? „Es müssten über 50 sein.“ Freundinnen, Cousins, Lehrerinnen, Bekannte.

„An manchen Tagen weiß ich einfach nicht mehr weiter“, sagt Williams, als sie an einer Ampel hält. Angst, schiebt sie wie im Reflex hinterher, habe sie aber keine. Williams zeigt links neben sich auf das kleine Fach in der Autotür. Dort liegt ihre Pistole. Dass Selbstbewaffnung keine langfristige Lösung ist, muss man ihr nicht erzählen. Kaum jemand weiß das besser als sie.

***

Wenn Chicago, mit 2,7 Millionen Ein­woh­ne­r*in­nen die drittgrößte Stadt der USA, am 4. April einen neuen Bürgermeister wählt, wird die Southside eine entscheidende Rolle spielen. Es sind allerdings nicht die Leute in Englewood, ihre Perspektiven, die im Mittelpunkt der Debatten stehen. Maßgebend ist auch nicht in erster Linie die Gewalt, die sich hier durch Armut, fehlende Angebote und oft rassistische Repressionen der Polizei ins Leben der Menschen drückt und dann zwischen ihnen explodiert. Gewalt wird von den politischen Verantwortlichen als Problem nur sehr selektiv wahrgenommen.

Das dominierende Thema dieser Wahl ist Crime, also Kriminalität.

Kriminalität und Gewalt haben natürlich etwas miteinander zu tun, aber es sind doch ganz verschiedene Denkgrößen, verschiedene Rahmen. Besonders deutlich wird das in Vierteln wie Englewood, wo das Label „crime hotspot“ eine Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt geradezu verhindert.

2022 wurden in Chicago 695 Menschen getötet. Im Jahr davor waren es 804. So hoch waren die Zahlen zuletzt in den 90er Jahren. Dass die Zahl der Straftaten in den vergangenen Jahren laut Polizei gestiegen ist, wird vor allem mit der Pandemie erklärt. 2022 wurden pro Tag durchschnittlich 59 Autodiebstähle gemeldet. Schießereien gehören zur Normalität. Laut aktueller Umfragen fühlen sich zwei Drittel der Ein­woh­ne­r*in­nen von Chicago unsicher.

Hat man diese Statistiken im Kopf, überrascht es kaum, dass das Thema den Wahlkampf bestimmt. Und doch ist dieses Jahr etwas Besonderes. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es einen aussichtsreichen Kandidaten auf das höchste Amt der Stadt, der anders über Gewalt und Kriminalität nachdenkt – der nicht noch mehr Polizei in Viertel wie Englewood schicken will, sondern im Gegenteil, so viele Be­am­t*in­nen wie möglich durch Sozialarbeiter*innen, The­ra­peu­t*in­nen und Leh­re­r*in­nen ersetzen will.

Linker Wandel oder Recht und Ordnung?

Brandon Johnson heißt der Mann, der einen linken Wandel für Chicago anstrebt. Der 47-jährige Afroamerikaner war Lehrer an einer öffentlichen Schule und Gewerkschaftsaktivist, bevor er Politiker wurde. Aktuell sitzt er im Parlament von Cook County, so heißt der Verwaltungsbezirk, in dem Chicago liegt. Johnson wohnt mit seiner Familie in Austin, einem überwiegend prekären Viertel im Westen der Stadt. Er weiß, wie sich Schüsse aus der Nähe anhören. Und er gibt zu, dass er manchmal Angst hat, wenn seine Kinder draußen spielen.

„Glaubt mir“, sagt Johnson bei jeder Gelegenheit, „mir liegt persönlich daran, dass wir das Problem lösen“.

Sein Kontrahent, der 69-jährige Paul Vallas, will keinen Bruch, sondern den Strafapparat weiter ausbauen. Vallas war in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen US-Metropolen als Chef der Schulbehörde im Einsatz und sorgte in Chicago, Philadelphia und New Orleans dafür, dass Teile des Bildungssystems privatisiert wurden. Statt großflächig in öffentliche Schulen zu investieren, ließ Vallas sogenannte Charter Schools eröffnen, die von privaten Trägern gemanagt werden. Darüber hinaus führte er rigidere Teststandards ein und kürzte beim Rentenfonds der Lehrer*innen.

Damit Chicago zurück zu „Gesetz und Ordnung“ kommt, will Vallas Tausende weitere Po­li­zis­t*in­nen einstellen. Mit diesem Versprechen konnte er im ersten Wahlgang Ende Februar vor allem die wohlhabenden, überwiegend weißen Wäh­le­r*in­nen im Zentrum und im Norden Chicagos überzeugen. Vallas landete – bei einer Wahlbeteiligung von nur 36 Prozent – vor Johnson auf Platz eins. Amtsinhaberin Lori Lightfoot, die in ihren vier Jahren im Rathaus weitestgehend orientierungslos agierte, stürzte ab.

In der Stichwahl kommt es nun zu einem Duell der politischen Visionen. Johnson und Vallas sind zwar beides Demokraten, könnten aber innerhalb der Partei kaum weiter voneinander entfernt stehen. Der eine kommt aus der Bewegung, der andere aus der Bürokratie. Der eine wird von progressiven Graswurzelgruppen unterstützt, der andere von der Polizeilobby. Er sei „mehr ein Republikaner als ein Demokrat“, hat Vallas mal über sich gesagt.

Es funktioniert

Von Bedeutung ist diese Wahl weit über die Grenzen von Chicago hinaus. Der Umgang mit Gewalt ist eine zentrale Frage der amerikanischen Politik. Republikaner und rechte Medien haben in den vergangenen Jahren – auch als Antwort auf die Schwarzen, linken Massenproteste im Sommer 2020 nach dem Mord an George Floyd durch einen weißen Polizisten – ihre Crime Panic intensiviert: Weil die Demokraten in den Städten nicht hart genug regierten, versinke das Land im Chaos, lautet ihre Erzählung.

Das Unheimliche an der Crime Panic ist, dass sie nichts löst und trotzdem funktioniert: Die meisten Demokraten lassen sich bereitwillig treiben, mindestens so oft treiben sie die Aufrüstung selbst voran. Es gilt: Auf keinen Fall soft on crime wirken. Präsident Joe Biden hat das Polizeibudget insgesamt um mehrere Milliarden erhöht. Seinem Plan nach sollen in den kommenden Jahren 100.000 neue Po­li­zis­t*in­nen eingestellt werden.

In Chicago, ausgerechnet dort, könnte nun ein Gegenexperiment beginnen. Johnson verspricht zwar keinen radikalen Abbau der Polizei, aber einen radikalen Wandel im Umgang mit der Gewalt. Sollte er gewinnen, hätte die linke Bewegung Macht demonstriert – und stünde sofort unter enormen Druck. Sie müsste gegen alle Widerstände beweisen, dass es anders geht.

***

Wenn Camiella Williams lacht, und ihre Zahnlücke zum Vorschein kommt, dann wirkt sie mit ihrem runden Gesicht für einen kurzen Moment wie ein Kind. Das passiert nicht oft an diesem Nachmittag.

Sie trägt einen blauen Kapuzenpullover, auf dem „GoodKidsMadCity“ steht, so heißt die Community-Organisation, bei der sie als Mentorin arbeitet. Der Name ist eine Anspielung auf Kendrick Lamars legendäres Album, natürlich ist es auch eine politische Botschaft: Nicht die Kids sind das Problem, sondern die Umstände, in die sie geworfen werden.

GoodKidsMadCity wurde 2018 in Englewood gegründet, mehrere hundert Jugendliche sind dort mittlerweile aktiv. Sie treffen sich, um über Konfliktlösungen zu sprechen, organisieren Basketballturniere und Proteste, unterstützen die Angehörigen von Gewaltopfern. Sie setzen sich dafür ein, dass in ihre Nachbarschaften investiert wird: neue Jobs, bessere Bildung, Zugang zu Gesundheitsversorgung, mehr Sportplätze. Sie wollen Gewalt präventiv entgegenwirken. Und sie fordern eine Abschaffung der Polizei.

Williams versucht, ihre Erfahrung an die jungen Ak­ti­vis­t*in­nen weiterzugeben. Sie sagt ihnen nicht: Gebt eure Waffen weg. Sie sagt: Fangt keinen Streit an. Sie fordert nicht: Verlasst eure Gangs. Sie weiß: So was passiert nicht einfach so. „Ich nehme sie ernst“, so Williams, „indem ich ihnen meine Verletzbarkeit zeige.“

Williams war zehn, als ihr Vater an Aids starb. Ihre Eltern waren da schon eine Weile geschieden. Dann erfuhr sie, dass ihre Mutter Brustkrebs hat. Zu viel für ein Kind, sagt sie, vor allem, wenn es keine professionelle Hilfe bekommt. Williams suchte Prügeleien, egal mit wem. In der High School fing sie an, mit Drogen zu dealen, schloss sich einer Gang an, deren Namen sie lieber nicht verraten möchte. Sie entwickelte eine „Vorliebe zur Gewalt“, wie sie im Rückblick sagt.

Die Bewegung ist stark

Im März 2006, Williams war 19 und zum ersten Mal schwanger, wurde ein 14-jähriges Mädchen in der Nachbarschaft durch einen Irrläufer eines Sturmgewehrs getötet. „Sie bringen jetzt auch Kinder um?“ Williams wusste, dass sie irgendwie rausmuss. Sie wandte sich an den Pastor der St.-Sabina-Kirche, deren angeschlossene Schule Williams besucht hatte. Zusammen installierten sie vor dem Gebäude eine Gedenkwand mit Fotos von getöteten Jugendlichen aus Chicago. Knapp 200 Bilder hängen dort heute in sechs Glasvitrinen. Für Williams war es der Einstieg in den Aktivismus.

Sie zog aus Englewood in einen Vorort südlich der Stadt, schrieb sich in ein Community-College ein. In den folgenden Jahren trat sie verschiedenen aktivistischen Gruppen bei. Black Lives Matter nahm seinen Lauf. Der Glaube an eine Reform der Polizei war damals noch da.

„Als ich als politische Organizerin angefangen habe, wurde mir beigebracht, dass man seine Wut besser nicht zeigt“, sagt Williams. „Die Kids von heute sind zum Glück radikaler.“

Und in kaum einer Stadt ist die Bewegung so stark wie in Chicago.

Neben GoodKidsMadCity gibt es in der Windy City, so Chicagos Spitzname, diverse Organisationen, die für den Abolitionismus kämpfen, also die Überwindung von Polizei und Gefängnissen. Da wäre zum Beispiel das Project NIA, von der Vordenkerin Mariame Kaba initiiert, das sich dafür einsetzt, Kinder und Jugendliche aus dem Strafsystem zu holen. Da wären Assata’s Daughters, benannt nach der Schwarzen Freiheitskämpferin Assata Shakur, die politische Bildung anbieten und Ak­ti­vis­t*in­nen trainieren. Auch Kollektive wie BYP100, Love & Protect oder das Rampant Magazine setzen sich dafür ein, den jetzigen Strafapparat obsolet zu machen.

Brandon Johnson, Bürgermeisterkandidat für Chicago :

„Die sichersten Städte der Welt haben eine Sache gemeinsam: Sie investieren in die Menschen“

Alder Planetarium

Chicago ist wieder einmal Wegbereiter. So war es ja schon im 19. Jahrhundert, als dort Zehntausende Ar­bei­te­r*in­nen für einen Acht-Stunden-Tag kämpften und damit den Tag der Arbeit aus der Taufe hoben. So war es in den 1960er Jahren, als Fred Hampton die revolutionäre Rainbow Coalition ins Leben rief. So war es auch 2012, als Zehntausende Leh­re­r*in­nen – organisiert durch die Gewerkschaft CTU – streikten und damit der amerikanischen Ar­bei­te­r*in­nen­be­we­gung Schwung verpassten. In Chicago sitzt der linke Verlag Haymarket Books, benannt nach dem blutigen Aufstand 1886. Hier findet auch die alljährliche Sozialismuskonferenz statt. Chicago ist die Stadt, in der eine wiedererstarkte Gewerkschaftsmacht auf einen Schwarzen, linken Feminismus trifft. Sollte Johnson die Wahl zum Bürgermeister gewinnen, hätte er das vor allem der Graswurzel-Organisierung der vergangenen Jahre zu verdanken.

Quelle         :            TAZ-online          >>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     From top left: Downtown Chicago, the Willis Tower, the bucetar, the Chicago „L“, Navy Pier, the Field Museum, and Millenium Park

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Darüber redet kaum jemand

Erstellt von DL-Redaktion am 4. April 2023

Der Deal der Großbanken

Ein Debattenbeitrag von Rudolf Walther

Übernahme von Credit Suisse. Von der Pleite der Credit Suisse und der Übernahme durch die UBS profitieren vor allem Wirtschaftsanwälte und Kanzleien.

In der Schweiz kursiert unter ehrgeizigen Abiturienten, aber auch bei gestandenen Sozialwissenschaftlern, wie mir ein befreundeter, im Schweizer Sozial- und Gesundheitswesen tätiger unabhängiger Firmengründer und Berater mitteilte, der nur auf den ersten Blick erstaunlich gleiche Traum von der nicht verfehlten, erst im nächsten Leben zu korrigierenden Berufswahl. Die Schweizer Abiturienten träumen fast nur noch von der Bedeutung der finanziell aussichtsreichsten Studien- und Berufswahl, möglichst fürs ganze bevorstehende Berufsleben.

Auf den zweiten Blick erstaunt diese Koinzidenz der Träume von alten und angehenden Akademikern über die Berufswahl nicht. Denn den Hintergrund und Anlass für diese Gleichschaltung der Träume bildet die politische Debatte in der Schweiz: die Pleite der Großbank Credit ­Suisse und die ferngesteuerte Übernahme der Credit ­Suisse durch die Konkurrentin UBS.

Deutlich führte das Drama vor Augen: Wenn es um den internationalen Finanzmarkt geht, hat es mit dem Stolz auf Eigenständigkeit, Neutralität und traditionelles Brauchtum, das sich seit geraumer Zeit immer schroffer gegen andere und Fremde richtet, ein ganz schnelles Ende.

Die Träume älterer und angehender Akademiker von der lukrativsten Berufswahl in der Schweiz werden befeuert von der Aussicht auf lebenslang wohlstandssichernde Honorare für Wirtschaftsanwälte und ihre Kanzleien aus anstehenden Gerichtsprozessen, in der es um milliardenschwere Streitwerte geht.

Fremdkapital, das in Eigenkapital umgewandelt wird

Es handelt sich um die Entschädigung der Käufer von sogenannten AT1-Anleihen mit einem Nennwert von gigantischen 16,1 Milliarden Schweizer Franken bei der Pleitebank Credit Suisse.

AT1-Anleihen, auch „Coco-Bonds“ genannt, sind hochriskante „Errungenschaften“ der Finanzindustrie nach der letzten Bankenkrise von 2008/2009. Es ist Fremdkapital, das jedoch ohne Zustimmung der Inhaber in Eigenkapital umgewandelt werden kann – so zumindest die marktwirtschaftsfromme und kapitalmarktkompatible Lesart der Juristen der Schweizer Behörden, die jedoch umstritten ist.

Die Käufer dieser AT1-Anleihen wurden ohne seriöse juristische Prüfung ihrer Regress- und Entschädigungsansprüche enteignet. Und das könnte eine Lawine von Klagen auslösen.

Die Steuerzahler müssen haften

Die ohne Zweifel bevorstehenden Entschädigungs- und Haftungsprozesse enthalten politische Brisanz. Und das nicht nur für die Schweizer Finanzministerin Karin Keller-Sutter, die sich wie eine patriotisch besorgte Politikerin für „ihre“ Banken und deren Geschäftsmodell ins Zeug legt, sondern in letzter Instanz auch ganz erhebliche finanzielle Risiken für den Steuern zahlenden Teil der Schweizer Bevölkerung schafft.

Die Steuerzahler haften nach dem Stand der Dinge auf jeden Fall mit mindestens 9 Milliarden Franken für den Deal. Die Nationalbank ist bereit, 100 Milliarden Franken zu drucken, um die famose Lösung abzusichern und der Übernahme der Credit ­Suisse durch die USB genügend Cash zur Verfügung zu stellen.

Vor allem aber birgt der Deal der Großbanken enorme Prozessrisiken und damit reichlich Futter, also üppige Honorare für Generationen von erfahrenen Wirtschaftsanwälten und -kanzleien mit einer Langzeit-Beschäftigungsgarantie.

Niemand redet vom Image-Schaden

Auch Interessenten der als wertlos eingestuften AT1-Anleihen wie die Investmentbank Goldman Sachs stehen bereits in den Startlöchern und kaufen die Papiere schon mal auf – für den Fall der Fälle. Die Bilanzsumme der zusammengelegten beiden Großbanken umfasst mit etwa 1,6 Billionen Franken mehr als das Doppelte des gesamten Bruttoinlandsprodukts der Schweizer Wirtschaft.

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Fast keiner, und schon gar nicht öffentlich wahrnehmbar, redet vom Imageschaden der Pleite der Großbank für die Schweizer Wirtschaft und für die Demokratie.

In den Medien kümmern sich allenfalls Nischenprodukte wie die linke Zürcher Wochenzeitung, die kleine sozialwissenschaftliche Zeitschrift Widerspruch oder Blogs kritischer Wissenschaftler um die gravierenden Imageverluste des Landes, ausgelöst durch gewohnheitsmäßig an der unscharfen Grenze zur Kriminalität operierenden Banker vom Zürcher Paradeplatz, dem Stammsitz der beiden Schweizer Großbanken.

Als sei nichts passiert

In offen national-chauvinistisch und trotzig-apologetischer Perspektive profilieren sich dagegen Organe der Rechts-Abbieger-Presse wie die einst durchaus lesbare Wochenzeitung Die Weltwoche unter dem heutigen Eigentümer Roger Köppel – ein selbstherrlich über willige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter regierender Chefredakteur, rechter SVP-Politiker und Fan des SVP-Urgesteins Christoph Blocher.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben     —    Occupy movement at Paradeplatz in Zürich (Switzerland)

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Genozid bleibt Genozid

Erstellt von DL-Redaktion am 31. März 2023

 Politiker senden auch nur Ihresgleichen ins Ausland

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Ein Debattenbeitrag von Alexander Rhotert

Auf dem Balkan gibt es eine Unkultur, Kriegsverbrechen zu verherrlichen. Der deutsche Hohe Repräsentant für Bosnien enttäuscht in seiner Amtsführung.

Der inflationär gebrauchte Begriff des Völkermords ist im internationalem Recht klar definiert. Drei Gerichte haben mehrfach geurteilt, dass der Mord an über 8.300 Bosniaken, verübt von serbischen Einheiten während des Bosnien-Krieges in Srebrenica im Juli 1995, ein Völkermord war. Punkt. Recht gesprochen haben die Gerichte der UN, der Internationale Gerichtshof (IGH) und der Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGH), sowie der Staatsgerichtshof von Bosnien und Herzegowina. Dafür wurden Serbenführer Radovan Karadzic und sein Armeechef Ratko Mladic zu lebenslanger Haft wegen Völkermords und weitere Täter zu über 700 Jahren rechtskräftig verurteilt.

Dies ist ein Meilenstein der internationalen Strafjustiz seit den Militärtribunalen von Nürnberg und Tokyo. Trotzdem gibt es auf dem Balkan, speziell in Bosnien, eine besorgniserregende Unkultur der Leugnung und Relativierung von Völkermord und anderen Kriegsverbrechen. Aus der Haft entlassene Kriegsverbrecher werden, insbesondere in Belgrad, aber auch in Zagreb, wie Helden empfangen. Es gibt eine regelrechte Kriegsverbrecherglorifizierung, die von politischen und staatlichen Stellen teils sogar gefördert wird.

Karadzics Nachfolger, Serbenführer Milorad Dodik, hat die Genozid-Leugnung in sein politisches Stammrepertoire integriert. Er hofiert öffentlich Kriegsverbrecher, so am 9. Januar 2022, als er zum 30. Gründungstag des serbisch-dominierten Teils Bosniens, der Republika Srpska, den vom Haager Kriegsverbrechertribunal wegen seiner Beteiligung am Srebrenica-Genozid verurteilten serbischen Offizier Vinko Pandurevic einlud. Bei der vom bosnischen Verfassungsgericht verbotenen Militärparade stand der Srebrenica-Mörder hinter Präsident Dodik. Der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und ehemalige deutsche Landwirtschaftsminister, Christian Schmidt, verurteilte weder Pandurevics Teilnahme, noch verbot er die verfassungswidrige Versammlung, obwohl dies zu seinen Hauptaufgaben gehört.

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Wird im Ausland nicht genau das probiert, was im eigenen später Konzens wird? Jeder Clan wird seine besten Leute zu Hause beschäftigen!

Ein Jahr später, am 9. März dieses Jahres, bezeichnete der nun höchst umstrittene Schmidt auf einem Balkan-Forum in Budapest laut Anwesenden den Völkermord von Srebrenica als eine „genocide-style situation“. Wirklich? Eine „völkermordartige Situation“ oder eine „Situation im Stile eines Genozids“ kennt das internationale Recht nicht. Für solche rhetorischen Entgleisungen sollten die Opfer eine umgehende Entschuldigung erwarten können, die erwartungsgemäß ausblieb. Warum? Weil Bosnien in Deutschland wenige interessiert, die Entscheidungen treffen. Daher kann sich Schmidt seit 18 Monaten Amtszeit von einem Skandal zum nächsten hangeln. Nur der Wiener „Standard“ berichtete im deutschsprachigen Raum über den jüngsten Ausfall.

Deutschlands ehemaliger UN-Repräsentant, Botschafter Hanns Schumacher, kritisierte Schmidts „unglückliche rhetorische Übung“, die zu seiner „schwachen Amtsführung“ noch hinzukäme. Vielleicht sollte man in Berlin die Meinung von ehemaligen deutschen Diplomaten zur Kenntnis nehmen. Schumacher und viele andere fordern die Abberufung Schmidts seit geraumer Zeit. Schmidts unsensibler Fauxpas erinnert an die gequälten Worte einiger politisch und diplomatisch Beteiligter, die 1994 den Völkermord in Ruanda als völkermordartige Exzesse relativierten, um nicht eingreifen zu müssen. Bereits vor Schmidts Äußerungen forderte die Gesellschaft für bedrohte Völker den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Michael Roth, auf, auf Schmidt einzuwirken oder ihn auszutauschen.

Schmidt hat sämtliche Hoffnungen enttäuscht, strikter gegen serbische und kroatische Nationalisten vorzugehen, denen die Existenz des multiethnischen Bosniens ein Dorn im Auge ist. Obwohl Schmidt Macht und Mittel hat, gegen sie vorzugehen, tut er dies nicht. Im Gegenteil: Er stellt selbst den destruktiv agierenden Machthabern Serbiens und Kroatiens regelmäßig eine Carte blanche aus, indem er ihnen attestiert, einen mäßigenden Einfluss auf Bosnien zu haben.

Diese Annahmen sind realitätsfern. Ohne Unterstützung Belgrads und Zagrebs müssten sich ihre Statthalter in Bosnien warm anziehen. Schmidts Worte sind verstörend, eine umgehende Entschuldigung wäre das Minimum gewesen. Dies gehört in Deutschland seit vielen Jahrzehnten zur politischen Kultur und Staatsräson, ebenso wie die Anerkennung der Singularität des Holocausts, und sollte demnach auch für Deutsche gelten, die im Ausland Dienst tun. Deutschland hatte bereits in den 1980er Jahren einen unsäglichen Historikerstreit, ausgelöst von den kruden Thesen Ernst Noltes, der, verkürzt betrachtet, Auschwitz als Reaktion auf das sowjetische Gulagsystem darstellte. Es kann keine Diskussion darüber geben, was ein Völkermord war. Dies wird in Relativierung münden, selbst unbeabsichtigt.

Quelle         :         TAZ-online            >>>>>        weuterlesen

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Oben       —     Begräbnis von 465 identifizierten Massakeropfern (2007)

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 26. März 2023

Tiktok-Format „Unverlangt eingesandt“: – Lustiger Literaturbetrieb

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Kolumne von Fatma Aydemir

Ein Mensch schickt einen Text zur Veröffentlichung an einen Verlag – und der stellt ihn dann öffentlich bloß. Humor ist immer so eine Sache.

Alle müssen Content machen. Auch bei deutschen Literaturverlagen, deren Marken sich ja meist eher aus der eigenen Tradition generieren, ist angekommen: Wer neue Zielgruppen erreichen will, muss auf Social Media. Und zwar nicht einfach nur mit einer nüchternen Bewerbung des eigenen Programms, sondern mit Verlosungen, Behind-the-scene-Material und witzigen Videos.

Humor ist hierzulande, wenn nach unten getreten wird.

Nun ist Humor natürlich immer so eine Sache. Hierzulande funktioniert er augenscheinlich am besten, wenn nach unten getreten wird. Folgerichtig hat sich der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch (KiWi) das Tiktok-Format „Unverlangt eingesandt“ ausgedacht, bei dem sich in Kurzvideos über Manuskript-Einreichungen lustig gemacht wird. Also ein Mensch schreibt da jahrelang an einem Text, fasst sich irgendwann ein Herz, sendet ihn an einen Verlag und der guckt dann bloß rein, um daraus pseudolustigen Content zu generieren.

Für Lacher soll in „Unverlangt eingesandt“ der selbstsichere Ton der Anschreiben sorgen sowie die Formfehler und Forderungen der unbekannten Autor_innen. In einer Einsendung etwa verlangt der_die Autor_in 10.000 Euro Vorschuss für das beiliegende Manuskript und gibt an, dass der Text noch vier weiteren Verlagen zum Angebot vorliegt. Was den Zuschauer_innen aber unausgesprochen als lächerliche, weil dreiste Forderung verkauft wird, ist in Wahrheit ein sehr realistisches Angebot für einen Konzernverlag wie KiWi. Und für die schreibende Person sowieso: Angenommen in einem Romanmanuskript stecken zwölf Monate Arbeit, dann sind das zehn Riesen durch zwölf brutto – was daran ist nochmal dreist und funny?

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Ein Verkehrszeichen, das vor Kiwis warnt

Es verwundert kaum, dass wir in dem Format nichts über die Textqualität der Manuskripte erfahren, sondern lediglich von den Anschreiben. Denn das unfreiwillig Komische an „Unverlangt eingesandt“ ist, dass suggeriert wird, irgendein Großverlag schaue sich 2023 noch die unverlangt eingesandten Manuskripte an. Dabei treffen doch längst Literaturagenturen die Vorauswahl, lektorieren Manuskripte vor, bieten sie den Verlagen an. Der Verlag braucht sich somit gar nicht mehr durch Texte wühlen, die abseits von diesen Strukturen entstehen, er bietet einfach mit anderen Verlagen um jene Texte und Autor_innen, die ihm irgendwie „gut verkäuflich“ vorkommen, gemessen an einem chronisch verspäteten Trendverständnis. Und beschwert sich anschließend darüber, dass die Agenturen den Markt kaputt machen. Kurz: Es ist eigentlich genauso wie überall.

Branchenübliche Codes

Nur dass in einer anderen Branche vielleicht die Hemmung größer wäre, sich öffentlich über Jobbewerbungen lustig zu machen. Denn nichts anderes ist eine Manuskripteinreichung: eine Bewerbung. Und nichts anderes ist das Autor_innendasein: ein Job. Der kapitalistische Blick auf (noch) nicht kommerziell erfolgreiche Autor_innen und generell Künstler_innen ist dagegen ein mitleidiger bis verächtlicher: „Haha, guck mal, der Spinner denkt, er sei was Besseres. Geh mal arbeiten.“

Quelle        :           TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —       Ein Verkehrszeichen, das vor Kiwis warnt, welche die Straße überqueren

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Politik und Banken

Erstellt von DL-Redaktion am 25. März 2023

 Beruhigende Worte von Scholz und Macron sind wenig wert

File:2021-08-21 Olaf Scholz 0309.JPG

Es war immer schwer politischen Trollen zuzuhören, welche von Banken rein gar nichts verstehen – ansonsten wären sie Banker geworben.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs P. Gasche /   

Um das Vertrauen in Grossbanken zu bewahren, müssen Behörden und Banker lügen. Sie würden lieber das labile Geldsystem fixieren.

Nach dem Zwangsverkauf der Credit Suisse an die UBS «herrscht nach wie vor Unsicherheit an den Börsen», meldete gestern Freitag, 24. März, die Schweizer Tagesschau. Die Aktien der Deutschen Bank beispielsweis hätten am Freitag 8,5 Prozent ihres Wertes verloren. Die Regierungschefs würden «versuchen zu beruhigen».

In Brüssel versammelte Regierungschefs sahen sich veranlasst, die Öffentlichkeit am Fernsehen zu beruhigen.

Olaf Scholz erklärte in der ARD-Tagesschau:

«Die Deutsche Bank hat ihr Geschäft grundlegend modernisiert und neu organisiert und ist eine sehr profitable Bank. Es gibt keinen Anlass, sich irgendwelche Gedanken zu machen.»

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zur gleichen Zeit im Fernsehen:

«Wir haben aus vergangenen Krisen gelernt. In der Eurozone sind die Banken heute am Solidesten, weil sie die Vorgaben für Solvenz und Liquidität, die nach der Finanzkrise von 2008 entstanden, am Gewissenhaftesten befolgen.»

Wie hiess es doch zum Kollaps der Credit Suisse: Sie habe überhaupt keine Liquiditätskrise gehabt. Es seien vielmehr die gestiegenen Zinsen gewesen, Probleme von US-Banken und Gerüchte in Social Media, welche die Grossbank ins Schleudern gebracht hätten.

Falls dies zutrifft, wäre dies ein Beleg dafür, auf wie wackeligen Füssen das gesamte Finanzsystem beruht. Denn steigende Zinsen waren längst vorauszusehen. Ebenso, dass etwa in den USA, Italien, Spanien oder Griechenland einzelne Banken ins Taumeln kommen können. Und Gerüchte in Social Media sollten abermilliardenschweren Grossbanken wohl nichts anhaben können.

Doch dies ist offensichtlich tatsächlich möglich, weil das Bankensystem ein klappriges Kartenhaus ist, das auf nahezu blindes Vertrauen der Sparer, Anleger und Investoren angewiesen ist. Aus diesem Grund dürfen Regierungen, Behörden – und natürlich auch die Banken selbst – nie reinen Wein einschenken.

Auch zu viele Experten befolgen dieses Gebot und warnen nicht rechtzeitig, wenn sie Schwachstellen und Gefahren analysieren. In der ARD-Tagesschau äusserte sich Hans-Peter Burghof, Finanzökonom an der Universität Hohenheim:

«Ich sehe keinen Grund für eine allgemeine Bankenkrise […] Die Banken werden von den Märkten schlecht behandelt.»

Vielleicht haben Experte Burghof, Macron und Scholz recht. Es wäre jedenfalls zu hoffen.

Aber ihre beruhigenden Worte sind nichts wert, weil sie auch so reden müssten, fallls es wirklich ernsthafte Anzeichen einer Bankenkrise gäbe.

Aus diesem Grund sollten die Medien solch beruhigende Aussagen von Behörden, Experten und Banker nicht zum Nennwert weiterverbreiten, sondern stets darauf hinweisen, dass keiner dieser Exponenten je die Wahrheit sagen würde, falls am Bankenhimmel düstere Wolken aufziehen.

Erst nach einem Kollaps können alle Fehler und vergangenen Warnzeichen aufgezählt werden.

Das Vertrauen, das nicht erschüttert werden darf

Das fast blinde Vertrauen in Grossbanken – und damit das Schönreden – muss heute aus folgenden Gründen unzumutbar gross sein:

  • weil Grossbanken nur fünf Prozent ihrer Milliarden-Verpflichtungen mit Eigenkapital gedeckt haben. Es braucht deshalb nur wenige Gross- oder Kleinkunden, die ihre Guthaben in kurzer Zeit zurückziehen.
  • weil Grossbanken mit ihrem eigenen bescheidenen Kapital und mit Kundengeldern hochspekulative Wettgeschäfte betreiben, deren Exzess der computerisierte Millisekunden-Handel darstellt.
  • weil Grossbanken viele riskante Geschäfte über Schattenbanken abwickeln. Weltweit seien 150 Billionen Dollar in spekulative Geschäfte investiert, die ausserhalb der Bilanzen und ohne jegliche Kontrollen abgewickelt würden, erklärte Finanzjournalistin und Buchautorin Myret Zaki in der Sendung «Infrarouge» des Westschweizer Fernsehens. Die Nominalwerte von sogenannten Derivaten, darunter unzählige sogenannte strukturierte Produkte, würden jetzt bei der UBS und CS zusammen etwa das Vierzigfache des Schweizer Bruttoinlandprodukts erreichen. Das sagte der Zürcher Finanzprofessor Marc Chesney in der gleichen Sendung.

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Massnahmen die sich aufdrängen, damit fehlendes Vertrauen nicht so rasch zu einem Crash führt

Professor Chesney hat notwendige Massnahmen bereits vor zehn Jahren auch auf Infosperber aufgezählt. Keine davon wurde seither umgesetzt. Sie drängen sich mehr denn je auf, damit die Märkte wieder normal funktionieren:

  1. Die Eigenkapitalanforderungen für Banken sollten mindestens 20% bis 30% betragen.
  2. Die Banken sollten im Rahmen eines Trennbankensystems in Investment- und Geschäftsbanken aufgetrennt werden, wie dies durch den Glass-Steagall Act von 1933 während Jahrzehnten der Fall war und womit durchaus eine gewisse ökonomische Stabilität gewährleistet werden konnte.
  3. Die Finanzprodukte sollten, bevor sie auf den Markt kommen, zertifiziert werden, so wie dies bei anderen Produkten der Fall ist, wie zum Beispiel im Industrie-, Nahrungs- und Pharmasektor. Die Finanzüberwachungsbehörden sollten für die Vergabe solcher Zertifikate verantwortlich sein. Auf diese Weise würde die Verbreitung «giftiger» Produkte begrenzt.
  4. Die Verbriefungs-Praktiken sollten eingegrenzt werden.
  5. Die Verbreitung «giftiger» Produkte sollte ein Finanzdelikt darstellen, so wie es in allen anderen Wirtschaftszweigen der Fall ist oder zumindest sein sollte. Es würde sich um eine Straftat handeln, welche die wirtschaftliche und finanzielle Sicherheit verletzt.
  6. Das riesige Volumen von Derivaten erzeugt Systemrisiken für die Wirtschaft. Es sollte kontrolliert und drastisch reduziert werden. So könnte man vermeiden, dass die Absicherung bestimmter Produkte zu Wetten auf den Zusammenbruch von Unternehmen werden. Das ist bei den Kreditderivaten Credit Default Swaps oder CDS der Fall. Die meisten sichern keine Risiken ab, sondern sind reine Wettgeschäfte.
  7. Der Kauf eines CDS sollte das Halten eines darauf basierenden Wertschriftentitels voraussetzen, der gegen Verlust abgesichert werden soll.
  8. Die Aktivitäten von Hedge-Fonds oder von Private-Equity-Fonds sollten kontrolliert werden.
  9. Für die Führungskräfte von Banken sollten die Entschädigungssysteme auf der Grundlage von Bonuszahlungen durch Systeme ersetzt werden, die auch wirkliche Bestrafungen (malus) beinhalten. Heute sind es Aktienoptionen und hohe Abfindungen, die den Anreiz zum Eingehen von Risiken schaffen, die letztlich von anderen Teilen der Gesellschaft getragen werden: von Aktionären, Kunden, Arbeitnehmern, Rentnern und schliesslich von den Steuerzahlenden.
  10. Die Effektivität des Risikomanagements und des Risiko-Controllings der Banken sollte stark verbessert werden. Boni für Risiko-Controller wären viel nützlicher als solche für Händler.
  11. Eine Mikrosteuer auf allen elektronischen Zahlungen sollte eingeführt werden. Es geht nicht nur darum, dem Staat mehr Geld zukommen zu lassen, sondern darum, die Spekulation und die Volatilität durch Verteuerung einzudämmen. Wettgeschäfte mit High Frequency Trading würden dadurch begrenzt. (Siehe Dossier Mikrosteuer auf alle Geldflüsse.)
  12. Die Grösse der Banken sollte begrenzt werden. Das Problem des «too big to fail» ist gefährlich, weil es falsche Anreize erzeugt. Finanzinstitute gehen Risiken ein, ohne deren Konsequenzen tragen zu müssen, weil der Steuerzahler im Notfall zur Kasse gebeten wird. Es handelt sich dabei um eine Gratisversicherung auf Kosten der allgemeinen Bevölkerung statt auf Kosten der Verantwortlichen.
  13. Rating-Agenturen sollten unter öffentlicher Kontrolle stehen, weil ihre Macht der demokratischen Funktionsweise der Staaten schadet. Die 2008-Finanzkrise hat gezeigt, dass sie gescheitert sind, da sie Zombi-Banken mit guten Noten bewertet haben. Sie wurden von diesen Geschäftsbanken dafür gut entlöhnt.
  14. Der Inhalt des Unterrichts in Volkswirtschaftslehre und Finance muss gründlich überprüft werden.

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Grafikquellen        :

Oben      —     Olaf Scholz, Politiker (SPD) – Zur Zeit Vizekanzler und Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem ist er Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl 2021. Hier während einer SPD-Wahlkampfveranstaltung im August 2021 in München. Titel des Werks: „Olaf Scholz – August 2021 (Wahlkampf)“

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Nord Stream Pipelines

Erstellt von DL-Redaktion am 23. März 2023

«Biden gab der CIA eine Cover-Up-Story in Auftrag»

President Joe Biden greets German Chancellor Olaf Scholz, Friday, March 3, 2023.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Red. /   

Laut Seymour Hersh versorgten US- und deutsche Geheimdienste Medien mit alternativer Version zur Zerstörung von Nord-Stream-2.

upg. Die Biden-Administration tue alles, um von der Verantwortung der USA abzulenken, schreibt Investigativjournalist Seymour Hersh in einer Stellungnahme vom 22. März. Er beruft sich auf eine Quelle, die Zugang zu diplomatischen Geheimdienstinformationen habe. Nach dem Besuch von Kanzler Olaf Scholz am 3. März im Weissen Haus seien Leute des Geheimdienstes CIA gebeten worden, «in Zusammenarbeit mit dem deutschen Geheimdienst eine Titelgeschichte vorzubereiten, welche die amerikanische und deutsche Presse mit einer alternativen Version für die Zerstörung von Nord Stream 2 versorgen soll». Die CIA sollte die Darstellung widerlegen, Biden habe die Zerstörung der Pipelines angeordnet.

Ein paar Tage später machte die wenig glaubwürdige Story die Runde, eine sechsköpfige Besatzung einer gemieteten Jacht habe die drei Nord-Stream-Pipelines gesprengt. «Spuren der Täter führen in die Ukraine», titelten Medien.

Kritische Medien vermuteten schon damals, es könnte sich um ein «False Flag»-Narrativ handeln. Ein solches legt bewusst Spuren, die auf einen [falschen] Verursacher deuten. Infosperber stellte am 9. März fest: «Falls die USA zusammen mit Norwegen die Sabotage organisierten, haben die US-Geheimdienste jedes Interesse daran, falsche Fährten zu legen.»

Scholz und Biden schweigen

Als Präsident Biden am 3. März den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz in Washington empfing, gab es nur zwei öffentliche Auftritte: erstens einen kurzen Austausch von Komplimenten zwischen Biden und Scholz vor dem Pressekorps des Weissen Hauses. Fragen waren keine erlaubt. Und zweitens ein CNN-Interview mit Scholz, während dem keine Fragen zu den Pipeline-Vorwürfen gestellt wurden.

Der Bundeskanzler war ohne Pressebegleitung nach Washington geflogen. Und dort wollten die beiden Staats- und Regierungschefs keine Pressekonferenz abhalten, wie es bei solchen Treffen üblich ist.

Gemäss Hersh sei später berichtet worden, dass Biden und Scholz ein 80-minütiges Treffen hatten, die meiste Zeit ohne Berater.

Biden gab keinen Auftrag zur Abklärung des Terrorakts bekannt

Die Medien in Washington hätten sich mit den «Pro-forma-Dementis» des Weissen Hauses zufriedengegeben. Kein Journalist habe den Pressesprecher je gefragt, «ob Biden das getan hat, was jeder ernstzunehmende Regierungschef tun würde: den US-Geheimdienst formell beauftragen, eine gründliche Untersuchung mit allen seinen Mitteln durchzuführen und herauszufinden, wer die Tat in der Ostsee begangen hat». Hersh zitiert eine Quelle innerhalb der Geheimdienstgemeinschaft, wonach der Präsident dies nicht tat und auch nicht tun werde. «Warum nicht?», fragt Hersh. «Weil er die Antwort kennt.»

Unter dem Titel «How America Took Out The Nord Stream Pipeline» hatte Hersh am 8. Februar beschrieben, wie die USA die Geheimaktion von langer Hand vorbereitet und dann zusammen mit norwegischen Spezialeinheiten durchgeführt haben sollen.

Es sei Präsident Biden gewesen, der die mysteriöse Zerstörung der neuen 11-Milliarden-Dollar-Pipeline anordnete.

Die Medien in den USA hätten seine Recherchen nahezu totgeschwiegen, sagt Hersh. Nach dem Besuch von Olaf Scholz in Washington hätten Geheimdienste der USA und Deutschlands dafür gesorgt, dass eine falsche Verdachtsstory zur New York Times und zur deutschen Wochenzeitung Die Zeit gelangt, um den Verdacht zu entkräften, dass Biden und US-Agenten für die Zerstörung der Pipelines verantwortlich waren.

Deutschland und Europa mit hohen Gaspreisen konfrontiert

Sarah Miller, eine Energieexpertin und Redaktorin bei Energy Intelligence erklärte Hersh in einem Interview, warum seine Recherchen in Deutschland und Westeuropa für Schlagzeilen sorgten: «Die Zerstörung der Nord Stream-Pipelines erhöhte die Erdgaspreise, die das Sechs- oder Mehrfache des Vorkrisenniveaus erreichten.» Einen Monat nach dem Sabotageakt hätten die Preise das Zehnfache des Vorkrisenniveaus erreicht, mit Folgen für die Strompreise. Regierungen hätten schätzungsweise bis zu 800 Milliarden Euro ausgegeben, um Haushalte und Unternehmen vor den Auswirkungen zu schützen.

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Aufgrund des milden Winters in Europa seien die Gaspreise zwar etwa auf einen Viertel des Höchststandes vom Oktober zurückgegangen, lägen aber immer noch zwei- bis dreimal so hoch wie vor der Krise. Und sie seien mehr als dreimal so hoch wie die aktuellen Preise in den USA. Europa bemühe sich um den Aufbau von Solar- und Windenergiekapazitäten, aber es könne sein, dass diese nicht schnell genug realisiert seien, um grosse Teile der deutschen Industrie zu retten.

Die Vermutung von Seymour Hersh: Die USA hätten die Nord-Stream-Pipelines zerstört, damit Kanzler Scholz keine Wahl mehr habe und über die Pipelines endgültig kein Gas mehr von Russland beziehen könne.

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Oben      —     President Joe Biden greets German Chancellor Olaf Scholz, Friday, March 3, 2023, in the Oval Office of the White House. (Official White House Photo by Adam Schultz)

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Kein Deutsches schämen

Erstellt von DL-Redaktion am 22. März 2023

Deutsch-israelische Beziehungen

Gegen Israel ist keine Kritik erlaubt, sagt der Deutsche Jagdschein.

Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Schuld und Universalismus. –  Israels Demokratiebewegung setzt auch auf deutsche Rückendeckung. Bedenken als Nachfahren der Täter sollten uns dabei nicht im Weg stehen.

Nun gab es also eine jüdisch-israelische Protestkundgebung in Berlin, klein, bunt und laut, wie zuvor in anderen Städten der Welt. Nur ist in Deutschland eben nichts wie anderswo, wenn es um Israel geht. Um mit dem Subjektiven zu beginnen: Kann sich eine nichtjüdische Deutsche am Protest gegen Rechtsextremismus in Israel beteiligen? Antworten, die ich hörte, reichten von „auf keinen Fall“ bis „ja, klar“.

Gleiche, universelle Werte zu postulieren, jenseits von Herkunft, ist hier ungleich schwieriger als in der Gegnerschaft zu Autoritarismus anderswo, in Gestalt von Trump, Orbán oder Erdoğan. Die Nachkommen der Täter sollen sich gegenüber den Nachkommen der Opfer nicht als Lehrmeister in Demokratie aufspielen – die Ermahnung hallt weiter nach.

Und am Ort des Geschehens, dem Pariser Platz zu Berlin, genügte ein Blick auf einige der handgemalten Plakate, um zu wissen: Sprecherposition hat Bedeutung. Das Schild „We know what fascism can do“, sollte ich eher nicht tragen. Es gab allerlei NS-Anspielungen; sie reflektierten die Inanspruchnahme des moralischen Kapitals der Holocaust-Erinnerung durch den Gegner, Netanjahu & Co., wie auch den (deutschen) Ort des Geschehens. Ich fand da für mich keinen adäquaten Platz.

Vielmehr warf die Erfahrung dieses Tages einen Strauß von Fragen auf, die um die Begriffe Schuld und Universalismus kreisen. Was sagt uns die vielzitierte Lehre aus der Geschichte, wenn es um ein vibrierendes jüdisches Anliegen der Gegenwart geht? Lähmt uns richtigerweise ein Schuldgefühl, bindet es Deutschen die Hände – oder ist das nur eine billige Ausrede?

Palästinensisch-jüdischer Dialog

Weil es unbequemer wäre, sich der universalistischen Herausforderung zu stellen und von Israel Demokratie und Menschenrechte für alle, Juden wie Palästinenser, zu fordern? Letztere waren auf dem Pariser Platz nur Randfiguren, sollten eher unsichtbar sein, damit die Kundgebung nicht in Verdacht geriete, antiisraelisch zu sein. Die Sorge ist einerseits verständlich – hier trat eine jüdische Zivilgesellschaft in Aktion, ohne das Dach der Gemeinde und jenseits der sonst sorgfältig abgesteckten Grenzen, folglich angreifbar. Da war Vorsicht berechtigt.

Andererseits spiegelt diese Vorsicht wiederum ein sehr deutsches Setting. Selbst nachdem führende israelische Militärs den Siedler-Angriff auf die Ortschaft Huwara ein Pogrom nannten, gelten Palästinenser bei uns nicht als Stimme Betroffener und Gefährdeter, nicht als rechtmäßig Beteiligte am öffentlichen Diskurs. In den USA spricht dieser Tage der palästinensische Rechtsphilosoph Raef Zreik an der Universität Harvard zur israelischen Verfassungskrise, in Dialog mit dem jüdischen Juristen Noah Feldman.

Warum ist dergleichen hier so schwer denkbar? Will dafür ernsthaft jemand die deutsche Schuld bemühen? Bevor Kanzler Scholz und sein Gast Netanjahu am Deportationsmahnmal Gleis 17 des S-Bahnhofs Grunewald der Schoah-Opfer gedachten, waren dort, mit weißen Rosen, Protestbotschaften hinterlegt worden: Die Holocaust-Erinnerung nicht für politische Zwecke missbrauchen!

Beschämendes Schweigen

Einer der Beteiligten, der israelische Historiker Arie Dubnov, erklärte gegenüber der Zeitung Haaretz, die Zeremonie an Gleis 17 verleihe dem unkoscheren Besuch Netanjahus einen koscheren Anstrich. Eben noch ein Angeklagter, der daheim ein Verräter genannt wird, ein Spalter und Zerstörer seines Landes, stand er hier nun als unanfechtbarer Repräsentant der Opfer. Was, wenn demnächst noch schlimmere Gestalten seines Kabinetts auf solch einem Gedenkakt bestehen?

Deutsche Politiker-innen führen bei ihren besuchen immer ihre eigene Staatsräson mit sich

Die deutsche Politik steckt in einem hausgemachten Dilemma fest: schon zu lange Schoah-Verantwortung und die Haltung zu israelischem Regierungshandeln nicht getrennt zu haben. Darauf ist der ganze Apparat, die gesamte Diplomatie geeicht. Gewiss, umsteuern ist möglich, aber unter Beachtung eines Risikos: Das Israel-Bild in deutschen Meinungsumfragen ist seit Langem kritischer, negativer als bei der Elite, bis hin zu jenen 20 Prozent mit dezidiert antisemitischen Überzeugungen. Und diese Marke steigt bei akuten politischen Konflikten.

Die Angst von Juden und Jüdinnen in Deutschland, dass negative Schlagzeilen über Israel sie selbst gefährden könnten, ist also ernst zu nehmen. Aber wäre es dem Kampf gegen Antisemitismus nicht gerade dienlich, wenn das Verhältnis zu den verschiedenen Kräften im heutigen Israel und ihre jeweilige Bedeutung für die Erinnerungskultur demokratisch verhandelt würde? Die jetzige Situation erzwingt das geradezu, mit allen neuen, schwierigen Facetten.

Die prodemokratische Bewegung in Israel erwartet von Deutschland ein Signal des Beistands. Darüber sollte der Bundestag debattieren, ohne Fraktionszwang und jenseits üblicher Floskelstarre. Oder ist die moralische Trägheit zu groß, um zum Thema deutsche Verantwortung einmal eigene, frische Gedanken zu formulieren? In der Zivilgesellschaft gibt es genug antifaschistisch motivierte Kräfte, um eine solche Debatte einzufordern. Das deutsche Schweigen als Antwort auf die Rufe aus Tel Aviv, Haifa und Jerusalem ist beschämend.

Quelle         :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen 

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Grafikquellen       :

Oben       —      Israel criticism not allowed

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Unten       —     Tribute to White Power

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Zwischen Kriege und Krisen

Erstellt von DL-Redaktion am 21. März 2023

Krisenkeynesianismus der blinden Tat

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von       :     Tomasz Konicz

Während im Krisenalltag viele Elemente keynesianischer Wirtschaftspolitik zum Einsatz kommen, verwildert der Postkeynesianismus in der deutschen Linken zur Ideologie.

Ob stockkonservative Marktjünger1 oder bieder-sozialdemokratische Gewerkschaftler2: In Krisenzeiten sind sie alle Keynesianer. Bei jedem Krisenschub der letzten Jahre, als es mal wieder galt, den dahinsiechenden Spätkapitalismus mittels billionenschwerer Konjunkturprogramme und gigantischer Gelddruckerei vor dem Kollaps zu bewahren, erlebte der britische Ökonom, dessen nachfrageorientierte Konjunkturpolitik bis zur Ablösung durch den Neoliberalismus in den 1980er Jahren dominant war, eine flüchtige öffentliche Konjunktur. Nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase 2008 oder dem pandemiebedingten Einbruch 2020 sprachen plötzlich alle über John Maynard Keynes, der als Hofökonom der alten staatsgläubigen Sozialdemokratie eine aktive Rolle des Staates bei Investitionsprogrammen und Geldpolitik propagierte. Bis es, nach den üblichen Abnutzungserscheinungen im Medienzirkus, keiner mehr tat und der Kapitalismus nach der „keynesianischen“ Stabilisierungsphase wieder zum „Business as usual“ überzugehen schien.

Übrig blieben nur die im neoliberalen Zeitalter aus dem politischen und akademischen Mainstream verdrängten, beständig jammernden Keynesianer, mit denen sich nun die Linke jenseits der Sozialdemokratie herumplagen darf. Doch die beständige Klage aus dem Spektrum der Neokeynesianer und der Modernen Monetären „Theorie“ (MMT), wonach es mehr Keynesianismus brauche, damit alles wieder besser werde und der Spätkapitalismus an die Ära des Wirtschaftswunders anknüpfe, ist angesichts der politischen Realitäten – gelinde gesagt – deplatziert. Viele Instrumente des Keynesianismus kommen bei der Krisenverwaltung weiterhin zu Einsatz, sie werden nur nicht als solche thematisiert und wahrgenommen. Keynes ist längst pragmatischer Krisenalltag, etliche der Krisenmaßnahmen und -Programme, die das System seit 2008 stabilisieren, tragen seine Handschrift.

Und dies ist nur logisch vor dem Hintergrund der historischen Genese dieser Ökonomieschule: Der Keynesianismus erfuhr seinen Durchmarsch zum kapitalistischen Mainstream nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gerade als große „Lehre“ aus der 1929 einsetzenden Krisenphase – und die kapitalistischen Funktionseliten greifen in Krisenzeiten quasi reflexartig zu dessen Instrumentarium. Konsequente Regulierung der Währungs- und Finanzmärkte, der Staat als wirtschaftlicher Ordnungs- und Leitfaktor, der eine aktive Investitionspolitik betreibt, die nachfrageorientierte Lohn- und Sozialpolitik, bei der die Lohnabhängigen der Wirtschaftswunderzeit auch als Konsument*innen begriffen wurden und eine kontrazyklische Konjunkturpolitik, die mittels schuldenfinanzierter Konjunkturprogramme Rezessionen verhindern sollte, um in Boomphasen diese Schulden dann abzutragen – dies waren die inzwischen idealisierten Grundzüge der keynesianischen Wirtschaftsordnung bis zum Durchmarsch des Neoliberalismus unter Thatcher und Reagan, zu der die Neokeynesianer zurückkehren wollen.

Billiger geht’s nicht

Der pragmatische Rückgriff auf das Instrumentarium des Keynesianismus findet seinen klarsten Ausdruck in all den Konjunkturprogrammen, die im Gefolge der an Intensität gewinnenden Krisenschübe aufgelegt wurden. Folglich gewannen auch diese staatlichen Subventions- und Investitionspakete bei jedem Krisenschub an Umfang,3 wie die berüchtigte Unternehmensberatung McKinsey anhand der Weltfinanzkrise 2008/09 und des Pandemieeinbruchs 2020 darlegte.4 Schon Mitte 2020 summierten sich die globalen staatlichen Krisenaufwendungen, mit denen die Folgen des durch die Pandemie getriggerten Krisenschubs minimiert werden sollten, auf rund zehn Billionen Dollar – das Dreifache der Krisenprogramme von 2008/09.

Und es war gerade die 2008 konjunkturpolitisch zurückhaltende Bundesregierung, die damals nur mit der berüchtigten, klimapolitisch verheerenden Abwrackprämie für PKWs Negativschlagzeilen machte, die 2020 besonders weitreichende Krisenprogramme auflegte. In Relation zum deutschen Bruttoinlandsprodukt hat Berlin sogar das größte Konjunkturpaket aller westlichen Industrieländer aufgelegt: es umfasste 33 Prozent des BIP. Zudem leitete die Regierung Merkel auch in der „deutschen“ Eurozone eine graduelle Abkehr vom schäublerischen Austeritätsregime ein, indem sie Mitte 2020 einem europäischen Konjunkturprogramm im Rahmen des europäischen Haushalts zustimmte, das bei einem Volumen von 750 Milliarden immerhin Hilfszahlungen an die Peripherie von 380 Milliarden Euro beinhaltet.5

Und auch bei der Geldpolitik galt bis vor Kurzem bei Europäischer Zentralbank (EZB) wie Federal Reserve (Fed) die Devise, dass es billiger kaum noch gehen könne. Die Leitzinsen aller westlichen Währungsräume sind im 21. Jahrhundert in der Tendenz immer weiter gefallen. Zwischen 2009 und 2021 herrschte – mit kurzem Unterbrechungen – eine Nullzinspolitik, mit der Konjunktur und Finanzsphäre gestützt wurden. Zudem gingen die Notenbanken nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase zur schlichten Gelddruckerei über, indem sie zuerst Hypothekenpapiere und später zunehmend Staatsanleihen aufkauften – und so der Finanzsphäre zusätzliche Liquidität zuführten, die zur Inflation der Wertpapierpreise im Rahmen der großen, 2020 platzenden Liquiditätsblase führten. Im Laufe des 21. Jahrhunderts haben Fed und EZB ihre Bilanzsummen nahezu verzehnfacht, sie sind zu Mülldeponien des zum Dauerboom verurteilten spätkapitalistischen Finanzsystems und den größten Eigentümern von Schuldtiteln ihrer Staaten geworden.

Hyperaktiver Zentralbankkapitalismus

Die Notenbanken sind somit im Verlauf des Krisenprozesses zu zentralen ökonomischen Akteuren aufgestiegen, da ohne deren Intervention sowohl die Finanzsphäre wie die Staatsfinanzierung kollabiert wären. Es ließe sich von einem Zentralbankkapitalismus sprechen, wie es der Politökonom Joscha Wullweber in einem Buch mit diesem Titel tut, in dem die Abhängigkeit eines Teils der Finanzsphäre, des weitgehend unregulierten Marktes für Rückkaufversicherungen (Repos), von der Gelddruckerei der Notenbanken beleuchtet wird.6 Der derzeit aufgrund zweistelliger Inflationsraten unternommene Versuch von EZB und Fed (Einzig die Bank of Japan stemmt sich verzweifelt gegen den Trend),7 mit der Wende zu einer restriktiven Geldpolitik die auf mehrere Ursachen zurückzuführende Inflation (Pandemie, Krieg, geplatzte Liquiditätsblase, Klimakrise)8 einzudämmen, geht aber nicht zwangsläufig mit einem Ende der Aufkäufe von Staatsanleihen einher.

In der Eurozone wurde mit PEPP (Pandemic emergency purchase programme) eigens ein Krisenprogramm in Umfang von 1.850 Milliarden Euro geschaffen, mit dem zwecks Stabilisierung der Eurozone Staatsanleihen bei gleichzeitigen Leitzinsanhebungen aufgekauft werden (Nettozukäufe sollen im kommenden März ausgesetzt werden)9, wodurch die Inflationsbekämpfung faktisch unterminiert wird – und was wiederum die ökonomische Rolle des Staates stärkt, da dieser weiterhin im Rahmen von PEPP sein Haushaltsdefizit finanzieren kann. Zudem sind auch Schritte zu einer aktiven Wirtschaftspolitik des Staates erkennbar, vor allem hinsichtlich des Green New Deals. Neoliberale Hardliner10 klagen im Handelsblatt inzwischen laut über die staatlichen Bestrebungen zur ökologischen „Kreditlenkung“, die vor allem in der Einführung der EU-Taxonomieverordnung zur Definition nachhaltiger Investitionen zum Ausdruck kämen (Ironischerweise gelten dabei auch Investitionen in Erdgas und Atomkraft als „nachhaltig“). Überdies sprach sich Habecks Staatssekretär Sven Giegold – ein Attac-Aktivist der ersten Stunde – schon vor einem Jahr gegenüber der Financial Times (FT) für eine „aktive Industriepolitik“ Berlins aus, die „Innovationen unterstützen“ solle, um aus der BRD eine „ökologische und soziale Marktökonomie“ zu machen.11

Diese von zunehmender Staatstätigkeit geprägte Struktur des Krisenkapitalismus ist aber nicht Folge einer kohärenten Strategie, sondern Ausdruck der jeweiligen Bemühungen, während der akuten Krisenschübe einen Kollaps der Weltwirtschaft zu verhindern. Es ist ein Keynesianismus der blinden Tat, bei dem Funktionseliten quasi reflexartig agierten. Die oftmals als Provisorium eingeführten Notprogramme und Politikwechsel verstetigen sich dann im Krisenverlauf, sie gerinnen zu neuen Strukturen und Dynamiken in latenten Krisenphasen. Man „fährt auf Sicht“, so der damalige Finanzminister Schäuble über das Agieren der Bundesregierung während der Weltfinanzkrise 2009.12 Die Maßnahmepakete bauen schlicht aufeinander auf. Habecks aktive Industriepolitik etwa, für die Giegold in der FT die Werbetrommel rührte, hat ihren Vorläufer in der staatlichen Förderung „nationaler Champions“ unter seinem Vorgänger Peter Altmaier, der angesichts zunehmender Krisenkonkurrenz und informeller Staatssubventionen in China und den USA auch Deutschlands Exportindustrie gezielt fördern wollte.13

Dieses „Fahren auf Sicht“ der Funktionseliten in manifesten Krisenzeiten, bei dem in Reaktion auf Krisenschübe immer neue Elemente staatskapitalistischer Krisenverwaltung zur Anwendung gelangen, verleiht dieser Formation alle Züge eines Übergangsstadiums innerhalb der spätkapitalistischen Krisenentfaltung. Die ökonomischen und ökologischen Krisen, die die Politik zum Krisenkeynesianismus nötigen, sind ja nicht Ausdruck einer „falschen“ Wirtschaftspolitik, sondern der eskalierenden inneren und äußeren Widersprüche des Kapitalverhältnisses, die sich ganz konkret in beständig schneller steigenden Schulden (als die Weltwirtschaftsleistung) und einer unablässig ansteigenden CO2-Konzentration manifestieren.

Aufgrund eines fortwährend steigenden globalen Produktivitätsniveaus unfähig, einen neuen industriellen Leitsektor, ein neues Akkumulationsregime zu erschließen, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet würde, läuft das Weltsystem faktisch immer mehr auf Pump. Der Staat fungiert hierbei durch Gelddruckerei und Deficit Spending zunehmend als letzte Instanz der Krisenverschleppung, nachdem die Defizitbildung im Rahmen der neoliberalen Finanzblasenökonomie (Dot-Com-Blase, Immobilienblase, Liquiditätsblase) auf den heiß gelaufenen Finanzmärkten sich weitgehend erschöpft hat. So ist etwa der breit angelegte US-Aktienindex S&P 500 nach seinem historischen Höchststand von mehr als 4700 Punkten Ende 2021 inzwischen um rund Tausend Punkte eingebrochen.

Moderne Monetäre Ideologie

Die Spätphase des globalisierten Finanzblasenkapitalismus, in der die expansive Geldpolitik der Notenbanken zur Inflation der Wertpapierpreise in der Finanzsphäre beitrug – bis hin zum Schwarminvestmet und den flüchtigen Boom von Meme-Aktien wie GameStop14 – ließ auch eine extreme Form spät- und postkeynesianischer Wirtschaftsideologie aufkommen, die unter Ausblendung jeglicher systemischen Krisenanalyse – insbesondere des Zusammenhangs zwischen Blasenbildung und den offenen Geldschleusen der Notenbanken – behaupten konnte, dass alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Spätkapitalismus durch Gelddruckerei gelöst werden konnten. Die Zinsen und die Inflation blieben ja zwischen 2008 und 2020 niedrig.

Der Modern Monetary Theory (MMT) schien die Quadratur des kapitalistischen Kreises geglückt. Vollbeschäftigung, Sozialstaat, Wirtschaftswachstum und die ökologische Wende – all dies sei nur eine Frage der expansiven Geldpolitik, so die zentrale These der MMT. Dieser neokeynesianischen, in der sozialistischen Linken der Vereinigten Staaten sehr populären Geldtheorie zufolge können Regierungen, die ihre Währung kontrollieren, die Staatsausgaben frei erhöhen, ohne sich um Defizite sorgen zu müssen. Denn sie können jederzeit genug Geld drucken, um ihre Staatsschulden in ihrer Währung abzuzahlen. Inflation sei dieser Theorie zufolge so lange kein Problem, wie die Ökonomie nicht an natürliche Wachstumsgrenzen stoße oder es ungenutzte ökonomische Kapazitäten gebe, wie etwa Arbeitslosigkeit.

Gelddrucken bis zur Vollbeschäftigung – darauf zielt diese spätkeynesianische nachfrageorientierte Wirtschaftsideologie ab, die sich im Windschaden der von ihr unverstandenen, heißlaufenden Finanzialisierung des Kapitalismus ausbildete. Zumeist verweisen Befürworter der MMT auf die expansive Geldpolitik der US-Notenbank Fed, die von 2007 bis 2009 und ab 2020 mit Billionenbeträgen die strauchelnden Finanzmärkte stützte. Da die als „Quantitative Lockerungen“ bezeichnete Gelddruckerei anscheinend keine Inflationsschübe nach sich zog, will die MMT diese Krisenmaßnahmen gewissermaßen zur Leitlinie neo-sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik erheben. Durch expansive Geldpolitik soll das Angebot der Ware Geld so lange erhöht werden, bis eben die Nachfrage gedeckt sei, die Arbeitslosigkeit verschwunden und die Wirtschaft ordentlich brumme. Die historisch beispiellosen Aufkaufprogramme der Notenbanken, mit denen ein auf Pump laufender Spätkapitalismus mühsam stabilisiert wird, will die MMT letztlich zur neuen Normalität erklären – und somit in Ideologie, in die Rechtfertigung des Bestehenden übergehen.

Es ist auch kein Zufall, dass die MMT ihre politische Heimat in den USA hat, die mit dem US-Dollar die Weltleitwährung kontrolliert. Damit kann sich Washington im globalen Wertmaß aller Warendinge verschulden. Wie es aussieht, wenn Staaten der Peripherie dazu übergehen, ihre eigene Währung nach Gutdünken zu drucken, die im US-Dollar ihren globalen Wertmaßstab finden, kann aktuell etwa an der Türkei des „Zinskritikers“ Erdogen studiert werden, wo die Inflationsrate in den dreistelligen Bereich zu beschleunigen droht.15 Die MMT stellt somit nicht nur eine sehr exklusive Ideologie dar, die eventuell noch in der Eurozone Anhänger finden kann, sich aber anhand der Erfahrungen in der Peripherie und Semiperipherie schlicht blamiert.

Der Neokeynesianismus sieht also die Ursache der gegenwärtigen kapitalistischen Malaise hauptsächlich in mangelnder Geldversorgung. Deren tatsächliche Krisenursache bildet aber ein fehlender ökonomischer Leitsektor, ein fehlendes neues Akkumulationsregime, das massenhaft Lohnarbeit verwertete – und das aufgrund des hohen globalen Produktivitätsniveaus nie wieder errichtet werden wird. Irrationaler Selbstzweck des Kapital ist ja seine höchstmögliche Verwertung mittels der Ausbeutung von Lohnarbeit – der einzigen Ware, die als Substanz des Kapitals Mehrwert produzieren kann – in der Warenproduktion. Die keynesianische Nachfragepolitik tut hingegen so, als ob der Kapitalismus schon überwunden wäre, als ob die Bedürfnisbefriedigung – und nicht uferlose Kapitalverwertung – den Zweck der kapitalistischen Wirtschaft bildete. Es ist der übliche keynesianische Taschenspielertrick, der die Irrationalität kapitalistischer Vergesellschaftung einfach ausblendet.

Es ist eine einfache, seit den 1980er Jahren zu beobachtende Krisenregel: Wenn die Akkumulation des Kapitals der realen Wirtschaft stottert, dann setzt ein spekulatives Wachstum der Finanzsphäre ein. Ignoriert wird von der MMT hierbei der Zusammenhang zwischen den quantitativen Lockerungen und dem Wachstum des aufgeblähten spätkapitalistischen Finanzsektors. Die Gelddruckerei der Fed (wie die der Europäischen Zentralbank) führte sehr wohl zu einer Inflation – zur Inflation der Wertpapierpreise auf den Finanzmärkten. Ausgerechnet der von den Keynesianern verteufelte, aufgeblähte Finanzsektor – Fundament der als Konjunkturmotor fungierenden globalen Verschuldungsdynamik – bildete somit den entscheidenden Faktor, der eine Stagflationsperiode verhindere, wie sie in den 1970ern dem Keynesianismus das Rückgrat brach und den Weg für den Neoliberalismus öffnete. Der Neoliberalismus entfesselte die Finanzsphäre gerade in Reaktion auf die Krisenphase der Stagflation, was als Form der Krisenverzögerung zur Ausbildung des auf Pump laufenden, von Blase zur Blase taumelnden Zombie-Kapitalismus16 führte.

Die Rückkehr der deflationären Vergangenheit

Das Kapital geht somit in der Warenproduktion seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit, verlustig, was die mit immer größeren Schuldenbergen konfrontierte Politik in eine Sackgasse treibt: Inflation oder Deflation? Konkret wird die aus der inneren Schranke des Kapitals resultierende Aporie der kapitalistischen Krisenpolitik anhand des öden, seit Jahren gepflegten Streits17 über die Prioritäten der Wirtschaftspolitik zwischen angebotsorientierten Neoliberalen und nachfrageorientierten Keynesianern sichtbar. Der Twitter-Keynesianer Maurice Höfgen praktiziert gerne dieses stupide Schattenboxen.18 Es ist immer dieselbe Leier, abgespult in tausend Variationen: Der neoliberalen Warnung vor Überschuldung und Inflation bei Konjunkturprogrammen wird von den Keynesianern die Mahnung vor der deflationären Abwärtsspirale, ausgelöst durch Sparprogramme, entgegengehalten. Beide Streitparteien haben dabei mit ihren Diagnosen recht, was nur durch die Finanzblasenökonomie des neoliberalen Zeitalters überdeckt wurde. Nun, in der Ära der Stagflation wird es offensichtlich, dass gerade die Geldpolitik der Notenbanken sich in einer Krisenfalle befindet.19 Die Notenbanken müssten der Inflation wegen die Zinsen anheben, und zugleich die Zinsen senken, um eine Rezession zu verhindern.

Übrigens: an eben der oben skizzierten, historischen Stagflationsperiode der 1970er Jahre – zu der das spätkapitalistische Weltsystem auf einem viel höheren Krisenniveau derzeit quasi zurückkehrt20 – ist der Keynesianismus tatsächlich fulminant gescheitert. Nach dem Auslaufen des großen Nachkriegsbooms, der von dem fordistischen Akkumulationsregime getragen wurde, versagten alle Politikrezepte der Keynesianer. Der Neoliberalismus konnte ich also in den 1980ern nur deswegen durchsetzen, weil der Keynesianismus krachend – mit zweistelligen Inflationsquoten, häufigen Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit – gescheitert ist. Wenn ein abgehalfterter Keynesianer wie Heiner Flassbeck – stilecht im Querfrontmagazin Telepolis21 – behauptet, dass es nur die Energie- und Ölpreiskrise war, die damals wie heute den Krisen- und Inflationsschub auslöste, dann lügt er sich selbst in die Tasche. Der Keynesianismus konnte trotz aller Konjunkturprogramme kein neues Akkumulationsregime aus dem Boden stampfen – und er wird es auch jetzt nicht schaffen, neue Märkte hervorzuzaubern, bei deren Erschließung massenhaft Lohnarbeit auf dem globalen Produktivitätsniveau verwertet werden könnte.

Der Neoliberalismus „löste“ das Problem durch das spekulative Abheben der Finanzsphäre, der Finanzialisierung des Kapitalismus, also durch Krisenverschleppung im Rahmen einer regelrechten Finanzblasenökonomie, die durch drei Dekaden hindurch dem Kapital eine Art Zombieleben auf Pump ermöglichte. Dies ist auch der fundamentale Unterschied zwischen der Stagflation der 1970er und der jetzigen Stagflationsphase. Das Krisenniveau ist viel höher – und es läßt sich ganz einfach anhand der Relation zwischen Gesamtverschuldung und Wirtschaftsleistung ablesen, die von rund 110 Prozent zu Beginn des neoliberalen Zeitalters 1980, auf inzwischen 256 Prozent kletterte (ohne Finanzsektor).22

Und ein nachhaltiger Abbau dieses Schuldenbergs ist nur um den Preis einer Rezession möglich – also längerfristig eigentlich gar nicht. Ganz abgesehen davon, dass es ökologischer Wahnsinn ist, auf Rezessionen mit keynesianischen Konjunkturprogrammen zu reagieren. Die Rezessionen von 2009 und 2020, die im Gefolge der damaligen Krisenschübe ausbrachen, hatten die einzigen Jahre im 21. Jahrhundert zur Folge, in denen die CO2-Emissionen zurückgingen. Doch die oben geschilderten Konjunkturpakete führten in den Folgejahren zu den höchsten Emissionsanstiegen dieses Jahrhunderts. 2009 fiel der Ausstoß von Treibhausgasen um 1,4 Prozent,23 um 2010 dank keynesianischer Konjunkturprogramme um 5,9 Prozent24 zuzulegen! 2020 sanken die Emissionen pandemiebedingt wiederum um 4,4 Prozent, während sie 2021 aufgrund vielfacher Konjunkturmaßnahmen um 5,3 Prozent zulegten.25 Verelendung in der Rezession oder Klimatod? Hierin äußert sich die ökologische Aporie kapitalistischer Krisenpolitik.

Ideologisches Material für linken Krisenopportunismus

Verstockte Altkeynesianer wie Flassbeck, wie auch der vollkommen abgedrehte Nachwuchs rund um die MMT ignorieren diese simplen Zusammenhänge verbissen, die schlicht auf die Notwendigkeit der Systemtransformation verweisen. Immer noch wird das Märchen verbreitet, wonach eine falsche Politik zur Finanzialisierung, zum Abheben der Finanzmärkte in der neoliberalen Ära führte – und es nur darum gehen müsse, diese „einzuhegen“. Und selbstverständlich spulen sie routiniert ihr dumpfes Programm ab, um trotz zweistelliger Inflation vor einer restriktiven Geldpolitik zu warnen. Auch wenn es langsam schlicht peinlich wird, mit welcher Akrobatik die Evidenz der Krisenfalle bürgerlicher Politik geleugnet wird, um immer wieder die Inflation als eine „Anomalie“ abzutun, die mit „wahrer“ keynesianischer Politik bekämpft werden solle. Es gibt im rasch in Regression übergehenden Keynesianismus schlicht kein Schamgefühl, selbst wenn die eigenen Vorhersagen sich an der Krisenrealität dermaßen deutlich blamieren wie in der derzeitigen Stagflationsphase.

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Bei Flassbeck, dem notorischen Höfgen, wie bei vielen anderen Keyensianern, die absolut blind gegenüber der Weltkrise des Kapitals sind, gibt es einen Reflex, um alle Evidenz der ideologischen Sackgasse, in der sie sich befinden, abzustreiten. So wie die Inflation keine „echte“ Inflation sei, fordern sie bei der Krisenpolitik den „wahren“ Keynes, da alles, was bislang an Methoden zum Einsatz komme, dem Idealbild nicht entspreche. In aller deprimierenden Offenheit wird dies beim Autor des oben erwähnten Buches über den Zentralbankkapitalismus evident, der ellenlang beschreibt, wie die Notenbanken das aufgeblähte Finanzsystem stützen müssen, um dann zu behaupten, dies sei kein Keynesianismus, da Finanzmärkte nicht an die Kandarre genommen würden:26 „Das derzeitige starke Eingreifen der Zentralbanken in das Finanzsystem und selbst die Unterstützungsmaßnahmen der Regierungen während der Corona-Pandemie sind also kein Zurück zum starken Staat oder ein neuer Keynesianismus. Trotz der Schwere der Krisen ist es zu keinen weitreichenden wirtschafts- und finanzpolitischen Kursänderungen gekommen. Es ist eine Regierungsweise, die sich innerhalb der weiterhin vorherrschenden marktliberalen Wirtschaftsordnung vollzieht. Weder die Funktionsweise des Finanzsystems im Allgemeinen noch die des Schattenbankensystems im Speziellen werden infrage gestellt. Genau das müsste aber passieren, um die Krisenhaftigkeit des Systems zu überwinden.“

Tatsächlich kann der heutige Krisenkeynesianismus nicht dem alten Idealbild entsprechen, da er als Form prekärer Krisenverwaltung mit den Folgen der dekadenlangen Finanzialisierung des Kapitalismus konfrontiert ist. Es ist deprimierend: Joscha Wullweber beschreibt die Folgen dieser Finanzialisierung anhand der von ihm als „Schattenbanksystem“ bezeichnenden Repo-Geschäfte27 und beklagt die Folgen der raschen Expansion der Finanzsphäre, um dann im kapitalistischen Gedankengefängnis zu verbleiben und die strukturellen Dynamiken zur bloßen Frage einer falschen der Politik zu erklären. Und eben dieses Denken macht den Keynesianismus zu einem gern benutzten ideologischen Vehikel für linken Opportunismus.28 Keynesianer werden vor allem in der „Linkspartei“ hofiert, da sie die Systemkrise zu einer bloßen Politikfrage umlügen, was die intendierte Mitmacherei bei der Krisenverwaltung ganzer Linkspartei-Rackets von linksliberal bis rechtsnational legitimiert. Die verkürzte Kapitalismuskritik der Keyesianer ist längst zur Ideologie geronnen.

Postkeynesianische Kriegswirtschaft

Der Keynesianismus mit seinem drögen Deficit Spending und seiner Staatsgeilheit kann die sich zuspitzende innere und äußere Krise des Kapitals selbstverständlich nicht lösen, er kann aber als Übergang in eine neue Krisenqualität fungieren. Keynes kann aber – gerade bei Funktionseliten, die des Öfteren „auf Sicht“ agieren – einen brauchbaren Bootloader, ein Übergangsvehikel, zu einer qualitativ neuen Form autoritärer Krisenverwaltung abgeben. Das haben ideologisch avancierte Postkeynesianerinnen, wie die Taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, längst begriffen:29 In ihrem jüngsten Buch über das „Ende des Kapitalismus“, das eine weitgehend von der Wertkritik abgeschriebene Darstellung der äußeren Schranke des Kapitals mit einem Bekenntnis zur Kriegswirtschaft koppelt – inklusive Ukas (Erlass, russ.) und Rationierung. Dem auf dem rechten Auge blinden, von rechten Seilschaften durchsetzten deutschen Staat will die Taz-Redakteurin mit ungeheurer Machtfülle ausstatten und zur zentralen Instanz der gesellschaftlichen Reproduktion in der Krise machen. Frau Herrmann baut auch hier natürlich auf keynesianisch verkürzter Kapitalismuskritik auf, wo der Staat als großer Gegenspieler zum Kapital erscheint – und nicht als Teil des kapitalistischen Systems, das mit diesem untergeht, wie es reihenweise in den „Failed States“ der Peripherie bereits der Fall ist.

Darauf, auf autoritäre, postdemokratische Krisenverwaltung, exekutiert von erodierenden, mitunter offen verwildernden Staatsapparaten, läuft der Krisengang hinaus. Die Keynesianer spielen nur die – dummen oder perfiden – Jubelperser dieser objektiven Krisentendenz zum anomischen Autoritarismus. Der Keynesianismus, der nur aufgrund der absurden Rechtsverschiebung des gesamten politischen Spektrums als Teil der Linken links der Sozialdemokratie gilt, verkommt somit auch hier zur Ideologie in ihrem reinsten Sinn: Zur Rechtfertigung der drohenden autoritären staatskapitalistischen Krisenverwaltung, die das genaue Gegenteil der überlebensnotwendigen Emanzipation vom kollabierenden spätkapitalistischen Sachzwangregime wäre. Die Linke sollte folglich endlich dazu übergehen, die Keynesianer als das zu betrachten, was sie objektiv sind: als Ideologen.

Zuerst erschienen in: oekumenisches-netz.de, Netz-Telegramm Februar 2023.

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1 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/der-volks-und-betriebswirt/volkswirtschaftslehre-sind-wir-jetzt-alle-keynesianer-1775435.html

2 https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/in-der-krise-sind-alle-keynesianer

3 https://www.konicz.info/2020/10/27/vergleich-der-krisen-2020-vs-2008/

4 https://www.mckinsey.com/featured-insights/coronavirus-leading-through-the-crisis/charting-the-path-to-the-next-normal/total-stimulus-for-the-covid-19-crisis-already-triple-that-for-the-entire-2008-09-recession

5 https://www.sueddeutsche.de/politik/eu-sondergipfel-haushalt-1.4973847

6 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/507732/zentralbankkapitalismus/

7 https://www.konicz.info/2022/12/30/japan-in-der-krise-mehr-alkoholismus-wagen/

8 https://www.konicz.info/2021/08/08/dreierlei-inflation/

9 https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/pepp/html/index.en.html

10 https://www.handelsblatt.com/meinung/homo-oeconomicus/gastkommentar-homo-oeconomicus-kreditlenkung-ist-kein-gutes-rezept-fuer-klimaschutz/27974940.html

11 https://www.ft.com/content/fa740376-da98-4067-92b4-85d315bbb6e2

12 https://wolfgang-schaeuble.de/wir-fahren-auf-sicht-dazu-muss-man-sich-offen-bekennen/

13 https://www.ifo.de/publikationen/2005/aufsatz-zeitschrift/nationale-industriepolitik-brauchen-wir-nationale-champions

14 https://www.konicz.info/2021/01/30/hedge-fonds-gamestop-und-reddit-kleinanleger-die-grosse-blackrock-bonanza/

15 https://www.konicz.info/2022/01/31/werteverfall/

16 https://www.streifzuege.org/2017/wir-sind-zombie/

17 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

18 https://twitter.com/MauriceHoefgen/status/1610588756754534400

19 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

20 https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/wirtschaft/theorie/stagflation-inflationsrate-6794.html

21 https://www.telepolis.de/features/Die-Welt-vor-der-Rezession-Diese-alten-Fehler-werden-die-Lage-verschaerfen-7286773.html?seite=all

22 https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2021/12/15/blog-global-debt-reaches-a-record-226-trillion

23 https://www.reuters.com/article/us-climate-emissions-idUSTRE6AK1OU20101121

24 https://www.reuters.com/article/us-iea-co2-idUSTRE74T4K220110530

25 https://joint-research-centre.ec.europa.eu/jrc-news/global-co2-emissions-rebound-2021-after-temporary-reduction-during-covid19-lockdown-2022-10-14_en#:~:text=In%202021%2C%20global%20anthropogenic%20fossil,the%20world’s%20largest%20CO2%20emitters.

26 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/507732/zentralbankkapitalismus/

27 Repurchase Agreements (Repos) sind Rückkaufvereinbarungen. Hierzu Wullweber (Quelle in Fußnote Nr. 26): „Repos sind Verträge, bei denen Wertpapiere zu einem bestimmten Preis verkauft werden, um diese nach einer definierten Zeit zu einem vorher festgesetzten Preis plus Zinsen wieder zurückzukaufen. … Im Prinzip ist ein Repo nichts anderes als eine Pfandleihe: Die eine Seite benötigt Geld und hinterlegt als Sicherheit ein Pfand in Form eines Wertpapiers. Die andere Seite besitzt Geld und verleiht dieses gegen diese Sicherheit. … Ganz allgemein gibt es im Schattenbankensystem einerseits Finanzakteure wie Hedgefonds und Geschäftsbanken, die Geldmittel benötigen, um durch Geschäfte mit unterschiedlichen Risikoprofilen kurzfristig Profit erzielen zu können oder auch, um eine Unterdeckung von Kapitalreserven aufzufangen. … Auf der anderen Seite finden sich Geldmarktfonds, Vermögensverwalter, Pensionsfonds und andere institutionelle Investoren oder auch Unternehmen, die ihr überschüssiges Kapital mit verhältnismäßig geringen Risiken und vergleichsweise hohen Renditen anlegen möchten.“

28 https://www.untergrund-blättle.ch/politik/deutschland/linkspartei-opportunismus-in-der-krise-7288.html

29 https://www.konicz.info/2022/12/14/rebranding-des-kapitalismus/

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ChatGPT löst Krise aus

Erstellt von DL-Redaktion am 19. März 2023

Hausaufgaben aus der Maschine

Tote Augen – leerer Sinn, welche Rergierung steuert von innen ?

Von Philipp Brandstädter

Schüler überlassen das Schreiben ganzer Aufsätze einer künstlichen Intelligenz. Kritiker fürchten, dass der Persönlichkeitsentwicklung dadurch etwas Zentrales verlorengeht. Stimmt das?

Die ersten Videos liefen zum Jahreswechsel auf Sihams Smartphone ein. Von da an folgte ein Tiktok-Kurzclip auf den nächsten, neben Kosmetik-, Tanz- und Tiervideos immer wieder ChatGPT, die geniale Erfindung. „Ständig erzählte irgendjemand, wie einfach man damit Hausaufgaben machen kann und wie es das ganze Schulleben auf den Kopf stellen würde“, sagt die Schülerin aus der Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln. „Also habe ich es selbst ausprobiert.“

Seit ChatGPT Ende November 2022 gestartet ist, drehen sich die Diskussionen in sozialen Netzwerken oft um das auf einer künstlichen Intelligenz (KI) basierende Sprachsystem. Und SpiegelZeitFAZ machen KI zum Titelthema. Was KI bereits alles kann, wo KI schon überall eingesetzt wird, wann KI unsere Arbeit übernimmt. Wöchentlich gibt es neue Experteninterviews, oder die KI schreibt die Kolumnen gleich selbst – wie einmal im Monat in der wochentaz, wo die künstliche Intelligenz Anic T. Waed Autorin der Kolumne „Intelligenzbestie“ ist.

ChatGPT, so heißt es, könne komplexe Fragen beantworten, gebe Erklärungen und Tipps, helfe genauso schnell bei der Reiseplanung, wie sie einen Computercode oder ein neues Theaterstück schreibt.

„Zuerst habe ich die Englischaufgaben damit gemacht“, sagt Siham. „Frage eingeben und die Antwort kopieren. Das geht total einfach, wenn man mal faul ist oder keine Zeit hat.“ Auch bei grundsätzlichem Lernstoff, für den im Unterricht der Oberstufe mal wieder nicht genug Zeit blieb, hilft ChatGPT nach. Dadurch wurde die KI zum Standard-Tool der 17-Jährigen. „Wenn mir die Antwort nicht ausreicht, schreibe ich:,Erkläre das genauer‘, oder ich stelle meine Frage anders. Schon bekomme ich einen neuen, detaillierteren Text, der mir beim Lernen hilft.“

War das jetzt schon gemogelt?

In diesen Tagen macht sich mal Begeisterung breit, mal Besorgnis. Dabei hätten wir auch schon vor Jahren von KI überwältigt sein können: Erst bezwingt ein Computer den Weltmeister im Schach, dann helfen Navis beim Autofahren, später empfehlen uns Algorithmen personalisierte Inhalte wie Bücher, Musik, Filme und Schnäppchen. Aber so richtig von den Socken sind wir erst, als eine KI beginnt, auf Zuruf verrückte Bilder zu zeichnen oder in einem Chatfenster mit uns zu plaudern. Faszinierend und gruselig zugleich.

Gruselig vor allem für Schulen und Universitäten. Denn dort, wo Schreiben eine Persönlichkeit ausbilden, kritisches Denken fördern und junge Menschen zu mündigen BürgerInnen erziehen soll, beginnen die jungen Menschen, das Schreiben einer Maschine zu überlassen.

Wenn dieser Schritt aber von einem Computer übernommen wird, geht in der Persönlichkeitsentwicklung nicht etwas Zentrales verloren? Muss das Bildungswesen einschreiten? Kann man das überhaupt verhindern?

Gerade wurde Siham von ihrem Lehrer erwischt. Was heißt schon „erwischt“: „Warum soll ich nicht ChatGPT benutzen? Ist doch auch nicht groß anders als Googeln.“ Siham sucht in ihrem Chatverlauf mit ChatGPT, um welches Thema es ging, kann den Dialog mit der Sprach-KI aber auf die Schnelle nicht finden. Es war im Politikkurs, die Hausaufgabe hatte irgendwas mit Verfassungsorganen und dem Bundesrat zu tun. „ChatGPT hat da auch ganz gute Antworten geliefert, aber dann ist mein Lehrer stutzig geworden.“

„Das war Zufall“, sagt Lehrer Friedemann Gürtler. „Ich hatte mit ChatGPT gespielt und viele dieser typischen, abwägenden Antworten erhalten.“ Si­hams Sätze in der Hausaufgabe hatten einen ganz ähnlichen Ton. „Die abwägende Antwort hat nicht so recht zu der eindeutigen Fragestellung gepasst.“

Hat Siham etwas Verbotenes getan? Hat sie getäuscht? Plagiiert? Friedemann Gürtler war sich da auch nicht so ganz sicher. Also hat er Siham gebeten, ein Referat über ChatGPT zu halten. Da hatten schon die meisten SchülerInnen in Sihams Oberstufe von dem Programm mitbekommen. „Inzwischen nutzt jeder ChatGPT für die Schule“, sagt Siham. „Das ist total nützlich und auch richtig so. Nur wird es ab jetzt für die Lehrkräfte schwierig werden, die schriftlichen Leistungen zu bewerten.“

ChatGPT soll in Minnesota eine Juraprüfung bestanden haben

Dass Computer Fließtexte generieren, die sich nicht von jenen unterscheiden lassen, die Menschen verfassen, ist für die Lehre ein Riesenproblem. ChatGPT soll an der Uni von Minnesota sogar schon eine Juraprüfung bestanden haben. Auch im Theo­rieteil, den MedizinerInnen ablegen müssen, um in den USA praktizieren zu dürfen, hat ChatGPT locker die vorgeschriebene Mindestpunktzahl erreicht.

Warum also nicht einfach ChatGPT verbieten?

In den USA ist das teilweise schon geschehen, der Schulbezirk in New York hat sich dazu entschieden. In der EU feilen Kommission und Parlament seit zwei Jahren am Artificial Intelligence Act, dem ersten Regelwerk für KI. Sogenannte Hochrisikoanwendungen sollen dabei eingeschränkt werden wie die Gesichtserkennung oder die Prüfung der Kreditwürdigkeit. ChatGPT ist per Definition auch ein Hochrisiko, solange die generierten Texte nicht einer Person zugeschrieben werden. Irgendjemand muss ja dafür gerade­stehen, sollte die Maschine sexistischen, rassistischen, manipulativen, zusammengelogenen Mist verzapfen. Kann man Schulen so eine Maschine zumuten?

Berliner Firma bringt eigene Version heraus

Gerade einmal fünf Tage brauchte ChatGPT, um weltweit eine Million NutzerInnen zu erreichen. Kein anderer Onlinedienst hat diese Marke so schnell geknackt. Instagram brauchte knapp drei Monate, Twitter zwei Jahre. Der irrwitzige Hype überrascht auch Fachkreise, denn Sprachmodelle wie GPT, die bei Google LaMDA und bei Face­book OPT-175B und jetzt LLaMA heißen, gibt es schon etwas länger, auch wenn sie noch nicht frei nutzbar sind.

GPT steht für Generative Pretrained Transformer und ist ein neuronales Netz, dessen Verbindungen sich zwischen den Rechenknoten bei Erfolg verstärken. Dadurch lernt das Netzwerk, ähnlich wie unser Gehirn es tut. Die künstliche Intelligenz wurde mit massenhaft Textdaten trainiert: Artikel, Aufsätze, Blogeinträge, wissenschaftliche Papers, Belletristik, Kochrezepte – Millionen Texte, größtenteils aus dem Internet und ein beträchtlicher Stapel Fachbücher.

Es ist in etwa so, als hätte man ein Kind in eine Bibliothek gesperrt, wo es sich mit der Zeit einen Sinn aus den Texten zusammengereimt hat. Welcher Buchstabe folgt mit welcher Wahrscheinlichkeit auf den anderen? Welches Wort folgt auf welches Wort? Welche Wortfolgen passen grammatikalisch und inhaltlich zusammen? Auf der Grundlage von erlernten statistischen Wahrscheinlichkeiten imitiert ChatGPT menschliche Sprache und erzeugt mit jeder Anfrage einen neuen Text. In seiner inzwischen dritten Version macht das Programm das so gut, dass unsereins in der Regel die Luft wegbleibt.

Für ChatGPT wurde das bestehende Sprachmodell lediglich mit einer Chatfunktion garniert. Das macht es leicht, das Programm zu benutzen, und bringt auch noch Spaß mit ins Spiel. So können alle „prompten“, also eine Anfrage an das Programm richten. Und die Erfinder von ChatGPT konnten ihr Monster auf die ganze Welt loslassen, das seitdem durch die Prompts von derzeit weit über 100 Millionen Menschen weiter trainiert und verbessert wird.

Dass diese kostbaren Daten gerade Sekunde für Sekunde den Internet­riesen durch die Lappen gehen, macht ChatGPT zu dem großen Ding, das es gerade ist. Zum ersten Mal spurtet Google nicht vorweg, sondern muss nachziehen. Hastig hat es sein eigenes künstliches Sprachmodell namens Bard veröffentlicht, das bei dessen Vorstellung gleich mal eine falsche Info verbreitete und die Aktie von Googles Mutterkonzern Alphabet absacken ließ. Chinas Suchmaschine Baidu antwortet derweil mit ihrem Chatbot Ernie.

Ernie und Bard, kein Witz. Und ausnahmsweise gibt es mit dem Heidelberger Unternehmen Aleph Alpha auch einen deutschen Player, der in Sachen KI auf Augenhöhe mitmischt.

Andere Firmen nutzen GPT3 für ihre Produkte, alle können die Sprach-KI kostenfrei in ihre Software einbauen. Zu diesen Firmen gehört auch Mindverse aus Berlin-Spandau. Geschäftsführer Noel Lorenz, 25 Jahre alt, spaziert durch die neuen Räume, in die er vor Kurzem mit seinem Team eingezogen ist. Sein Personal verdoppelt sich gerade, der hintere Trakt der Etage ist noch eine Baustelle.

„Von GPT3 war ich schon fasziniert, als es noch in der Beta­phase steckte“, erzählt Lorenz. Da war das Modell endlich in der Lage, selbstständig Muster in seinen Daten zu erkennen und menschenähnliche Texte zu erstellen. Das gelang, weil die KI mit einer Datenmenge trainiert wurde, die bald 1.500-mal so groß war wie die der Vorgängerversion.

Vor zwei Jahren gegründet, surft Mindverse nun auf der Erfolgswelle von ChatGPT mit. „Im Vergleich zu GPT kann Mindverse besser Deutsch und ist dank seiner Livedaten aus dem Internet moderner“, sagt Lorenz. ChatGPT greift nur auf Datensätze bis zum Jahr 2021 zurück. Seit zehn Jahren programmiert Lorenz, vor sieben Jahren hat er seine erste Firma gegründet, dann verkauft. Er hat ein bisschen Medizin studiert, ist aber lieber zu BWL gewechselt. Der schwarze Steve-Jobs-Rolli unter dem Sakko lässt erahnen, welche Richtung seine Karriere einschlagen soll.

Neben der Chatfunktion bietet Mindverse zusätzliche Feintuning-Modelle, die sich gezielter auf die Datensätze beziehen als bei ChatGPT. „Das neuronale Netzwerk antwortet nur so gut, wie es gefragt wird. Daher konkretisieren wir die Anfragen mit unserer Software.“ Eine Funktion ist dafür gemacht, Stichpunkte in Fließtext zu verwandeln, eine andere soll Aufsätze mit Thesen und Argumenten schreiben, die nächste werbewirksame Überschriften erfinden oder Songtexte dichten.

„Die KI wird ständig von unseren Power­usern trainiert und bewertet“, sagt Lorenz. Das bedeutet, dass das Sprachmodell weiter lernt und umso menschlicher wird, während es den Gesprächspartner spielt. Außerdem bezieht die Maschine Formeln ein, die die Lesbarkeit von Texten berechnen: das Flesch-Kincaid-Grade-Level, den Gunning-Fog-Index, den Coleman-Liau-Index. Diese Formeln zählen Buchstaben, Silben und Wörter und berechnen, wie verständlich ein Satz sein muss. Unabhängig von dessen Inhalt ist das wichtig für die Suchmaschinenoptimierung. Je besser die berechnete Lesbarkeit, desto höher das Ranking bei Google und Co.

Im Gegensatz zur ersten Version von ChatGPT gibt Mindverse auch die Websites an, die die KI als Quelle genutzt hat. Das könnte bei Hausarbeiten ein entscheidender Vorteil sein. „Wir haben bestimmte offizielle Websites als seriös eingestuft und bewerten Quellen höher, je häufiger sie verlinkt werden“, sagt Noel Lorenz. Außerdem hat der Mindverse-Kopf auch an den Datenschutz gedacht. Die Prompts und Entwürfe können über anonyme Konten verfasst werden.

Das hat Thomas Süße auf das Programm aufmerksam gemacht. Er steht vor einem Smartboard in den Räumen des Campus Gütersloh, einem schlichten weißen Gebäude hinter dem Bahnhof, auch „Gleis 13“ genannt. Die Studierenden machen hier hauptsächlich etwas mit Maschinen: Mechatronik, Engineering, Logistik, digitale Technologien. Sozialwissenschaftler Süße bringt die menschliche Komponente in die Maschinenwelt, indem er zur Transformation der Arbeit forscht. „Die Technisierung verändert, beschleunigt, erleichtert unsere Arbeit“, erklärt der Professor. „Sie setzt uns aber auch unter Druck.“

Technostress nennt Thomas Süße das, die Schattenseite der Digitalisierung. Er kritzelt blaue Pfeile und Kürzel an die Wand und denkt laut: „Bislang haben sowohl Hochschulen als auch Schulen nur sehr wenig wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie Schüler und Studierende die Sprach-KI sinnvoll nutzen.“ Es gibt noch keine gesicherten Antworten. Wie auch, ChatGPT ist zu neu – und das Bildungswesen zu langsam. „Darum brauchen wir jetzt Grundlagenforschung, und zwar schnell.“

Doch Lernerfolg lässt sich nicht so einfach nachweisen. Gelernte Kompetenz, das umfasst neben Fachwissen auch kreatives Schaffen, kritisches Denken, Zusammenarbeit, die Fähigkeit, sich mitzuteilen. „Das sind alles persönlich empfundene und eingeschätzte Werte“, sagt Süße. „Mein Job ist es, diese schwer erfassbaren Variablen besser messbar zu machen.“ Dazu will er eine große Gruppe SchülerInnen befragen, die regelmäßig eine Sprach-KI nutzt.

Der Plan: Eine Klassenstufe soll ihre Facharbeit schreiben und dabei Mindverse verwenden dürfen. „Wir wollen wissen, welche Rolle die Sprach-KI spielt: ob sie Ideen einbringt, als Sparringpartnerin im Schreibprozess hilft, oder Co-Autorin wird.“ An der ersten Untersuchung werden 120 junge Leute teilnehmen. Wie praktisch, dass die benötigte Kohorte quasi vor der Haustür des Professors lernt.

Den richtigen Umgang mit ChatGPT lernen

Das Evangelisch Stiftische Gymnasium (ESG) in Gütersloh ist ein bisschen besonders. Protestanten gründeten es, als die ersten Maschinen begannen, die Arbeitswelt auf den Kopf zu stellen, und die Aufgaben des Handwerks übernahmen. Es heißt, hier würden RichterInnen, ChirurgInnen und ManagerInnen von morgen die Schulbank drücken.

Der in Gütersloh ansässige Medienkonzern Bertelsmann hat den Backsteinbau der Schule um eine verspiegelte Mediothek mit Tonstudio und Videoschnittraum ergänzt. Seit einem Vierteljahrhundert sind Laptops hier Teil des Unterrichts. Dank Lernplattform und Endgeräten wechselte das ESG im Lockdown spielend in den Distanzunterricht. Und auch bei der Verwendung von Sprach-KIs gibt es an dieser Schule nur wenig Berührungsängste.

Deutschlehrer Hendrik Haverkamp hat seine 8. Klasse erst neulich gegen ChatGPT antreten lassen. Die Aufgabe war eine Gedichtanalyse. Nachdem die Schülerinnen und Schüler ihre Arbeiten abgegeben hatten, kam die KI an die Reihe. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um ihren Text abzuliefern: eine fein strukturierte Analyse mit aufeinander aufbauenden Argumenten und ohne einen Rechtschreibfehler. „Das sah auf den ersten Blick nach einer hervorragenden Arbeit aus“, erzählt Haverkamp. „Nur war der Text inhaltlich komplett falsch.“

Sprachmaschine statt Wissensmaschine

Die KI schrieb das Gedicht „Berliner Abend“ von Paul Boldt lieber Erich Kästner zu und erzählte etwas über hübsche Naturbeobachtungen, die in Boldts Schilderungen nicht wirklich vorkommen. Die Argumente der Maschine waren teils erzkonservativ, teils weltfremd. Das erste Urteil der Klasse über ChatGPT: „Boomer-Tool“. „ChatGPT ist wie ein Insidergag: Ich verstehe ihn nur dann, wenn ich genug darüber weiß“, sagt Haverkamp.

Es ist Mittwoch, ein eisiger Morgen, erste Stunde, Deutsch. In der 8. Klasse sind die Laptops aufgeklappt, kein Heft, kein Stift liegt auf den Tischen. Lehrer Haverkamp steht vor dem Bildschirm an der Wand, wo früher mal eine Kreidetafel hing, und schickt ein paar Meldungen über Elon Musk auf den Monitor. „Welche Nachricht ist Fake und von ChatGPT, welche ist echt?“ Es gibt erste Vermutungen, der Schreibstil der KI ist der Klasse längst vertraut.

„ChatGPT macht keine Umschreibungen wie ‚Der 51-Jährige‘.“ „Das Wort ‚Milliarden‘ würde nicht mit,Mrd.‘ abgekürzt.“ Haverkamp zeigt der Klasse ein Tool, das künstlich generierte und von Menschen verfasste Texte unterscheiden können soll. Kann es aber nicht. Die Sprach-KI ist zu weit entwickelt, das Prüfungsprogramm aufgeschmissen. Dann kopiert ein Schüler fix einen Textbaustein der menschengemachten Meldung aus der Zeitung, sucht im Netz und findet die Quelle.

„Mir wäre es lieber, wenn ChatGPT auch mal zugeben würde, dass es keine Ahnung hat“, sagt Lilli aus der 10. Klasse. „Eine eigene Meinung würde ihr auch gut stehen.“ Im Projektunterricht beschäftigt sich die 16-Jährige gerade mit den sogenannten Neuen Medien. „Die KI relativiert alle Argumente und geht nicht so richtig in die Tiefe. Man braucht eigenes Wissen und muss skeptisch bleiben, damit man keine Fehler übernimmt.“ Bei Themen, für die es kein Richtig oder Falsch gibt, sagt Lilli, wenn es ethisch, emotional oder persönlich wird, dann sei ChatGPT blank.

ChatGPT ist eine Sprachmaschine, keine Wissensmaschine. Das Programm schwafelt, immer selbstbewusst, immer wieder inhaltsarm. Es verwendet Worthülsen, bedient sich aus Quellen wie Blogs oder der Boulevardpresse, ignoriert direkte Zitate, liest nicht zwischen den Zeilen, erzählt lieber irgendetwas, als gar nichts zu texten. Viele Floskeln, inflationär verwurstete Fremdwörter, sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit, eine Illusion des Plausiblen.

Dennoch arbeitet auch Lillis Mitschüler Max viel mit dem Sprachtool. „Wenn ich einen Aufsatz schreibe oder etwas programmieren will. Die KI verkürzt die Zeit für die Fleißarbeit, damit ich mehr Zeit für die Denkarbeit habe.“ Wegen der Sache mit ChatGPT waren auch schon mehrere Medienleute am Gymnasium und haben mit ihm gesprochen. Gerade erst kam ein Fernsehteam vorbei, erzählt Max. Die hätten für ihren Beitrag aber mal schön seine Antworten verdreht. „Es kam so rüber, als würde ich die KI aus purer Faulheit alle Hausaufgaben erledigen lassen.“ Ganz so einfach sei das nun auch wieder nicht.

Im Mai werden Max und Lilli ihre Facharbeiten schreiben, KI-unterstützt, für die Studie von Thomas Süße. „Ich kann mir vorstellen, dass das Programm eine Inspirationsquelle sein wird“, sagt Lilli. „Es hat mir vorher schon gute Überschriften oder auch Argumente vorgeschlagen, auf die ich selbst nicht gekommen wäre. Warum sollte ich solche Ideen nicht benutzen.“

Für die meisten SchülerInnen und Studierenden ist das noch nicht so selbstverständlich wie für Lilli und Max. Künstliche Intelligenz für eine Abschlussarbeit zu verwenden ist zwar kein Plagiat. Dafür müsste das geistige Eigentum einer Person gestohlen werden, und noch machen wir zwischen Mensch und Maschine einen klaren Unterschied. Jedoch kann man die Texte einer KI auch schlecht als eigenes geistiges Eigentum ausgeben. Das wäre eher als Täuschungsversuch zu werten.

Was ist erlaubt, was verboten?

Diese Art der vermeintlichen Täuschung bringt zwei Probleme mit sich.

Erstens: Das ohnehin schon überlastete Lehrpersonal müsste nach maschinellem Ghostwriting fahnden. Aber wann? Und wie? Schon jetzt bekommt es kein Tool hin, zielsicher KI-Content zu erkennen. Das wird auch in Zukunft kaum gelingen, da die Sprach-KI ja ständig besser, menschenähnlicher wird.

Zweitens: Wo fängt die Täuschung an? Ganz sicher, wenn man ganze KI-generierte Absätze verwendet. Aber auch schon bei ein paar Worten? Oder bei einer Idee, die mir von allein nicht eingefallen ist? Oder wenn ich meinen Text durch ein Rechtschreibprogramm laufen lasse? Wenn ich einen Taschenrechner benutze?

Im Gegensatz zu den USA scheinen es die Bundesländer nicht auf ein Verbot von ChatGPT abzusehen. Auf der Bildungsmesse Didacta in Stuttgart hieß es gerade: Sprach-KI hat zu viel Potenzial, um sie zu verbieten.

Seitens des Hessischen Kultusministerium hieß es: KI-Anwendungen könnten „Schülerinnen und Schüler individuell in ihrem Lernprozess unterstützen“. Viel konkreter wird es bis dato nicht. Immerhin veröffentlichte das nordrhein-westfälische Schulministerium einen Leitfaden zum Umgang mit KI. Darin wird die Arbeit mit Textrobotern nicht verboten, stattdessen auf die Pflicht der Schulen hingewiesen, ­Medienkompetenz zu lehren.

Eine Richtlinie, wie die Lehrerinnen und Lehrer künftig Leistungen prüfen sollen, hat noch niemand geschrieben. Und so scheint es, als würden wir der künstlichen Intelligenz genauso begegnen wie den anderen Krisen der jüngeren Zeit auch. Klima, Corona, KI-Weltherrschaft: Wir sehen es kommen, wir wissen, dass wir handeln müssen – und sitzen es lieber aus.

„Die Angst ist vor allem so groß, weil es an Erfahrung fehlt“, sagt Anja Strobel. Die Psychologin forscht im Bereich „Hybrid Societies“ an der TU Chemnitz daran, wie der Mensch mit der Maschine interagiert und ein vertrauensvolles Miteinander in der Arbeitswelt möglich ist. Strobel hat Interviews ausgewertet, die der Gütersloher Sozialwissenschaftler Thomas Süße mit ArbeiterInnen in einer Fabrik geführt hat. Sie sprachen darin über ihre Erfahrung, eine künstliche Intelligenz wie einen Azubi anzulernen.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Output of Craiyon (formerly „DALL-E Mini“). See the model card for information on the model used. Specifically (from the title card): „Images are encoded through a VQGAN encoder, which turns images into a sequence of tokens. Descriptions are encoded through a BART encoder. The output of the BART encoder and encoded images are fed through the BART decoder, which is an auto-regressive model whose goal is to predict the next token. Loss is the softmax cross-entropy between the model prediction logits and the actual image encodings from the VQGAN.“ Upscaled using Real-ESRGAN.

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Unten        —     The Chromatics CT4100 graphics terminal displayed text and character-cell graphics in color.

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Vom Seco zu Nestlé:

Erstellt von DL-Redaktion am 18. März 2023

Um die 40’000 Franken pro Sitzung

Lobby-Ablösung gefunden

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von     :    Pascal Sigg /   

Die ehemalige Seco-Direktorin soll in den Nestlé-Verwaltungsrat. Sie hat jahrelang im Dienst des Konzerns lobbyiert.

Ende April soll Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch in den Nestlé-Verwaltungsrat gewählt werden. Ineichen-Fleisch war bis Juli 2022 elf Jahre Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) in Guy Parmelins Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung. Zuvor war sie vier Jahre Schweizer Botschafterin und Delegierte für Handelsabkommen sowie Chefunterhändlerin der Schweiz bei der Welthandelsorganisation (WTO).

Nun soll der Schritt in die Privatwirtschaft folgen. Und der ist lukrativ. Die Zeitung «work» der Gewerkschaft «unia» hat berichtete kürzlich: «Die Nestlé-Verwaltungsrätinnen und -räte haben sich 2022 zu 11 Sitzungen getroffen, die durchschnittlich 2 Stunden und 55 Minuten dauerten. Dafür bekommen sie 280’000 Franken Honorar und 15’000 Franken Spesen im Jahr. Für den Einsitz in einem der Verwaltungsratsausschüsse kommen minimal 70’000 Franken und maximal 300’000 Franken hinzu. Ebenfalls pro Jahr. Zum Vergleich: Das Lohnmaximum für einen 100-Prozent-Job beim Bund liegt bei knapp 400’000 Franken.»

Im Namen der Schweiz in Südamerika für Nestlé lobbyiert

Ineichen-Fleisch kennt Nestlé bereits gut. Denn ihr Seco lobbyierte im Ausland wiederholt für die Interessen des Grosskonzerns – im Namen der Schweizer Eidgenossenschaft. Dies machten letztes Jahr Recherchen der NGO «Public Eye» bekannt (Infosperber berichtete). Ihnen zufolge versuchte das Seco die Regulierung von Nahrungsmitteln in Ländern wie Chile, Peru oder Ecuador im Interesse Nestlés zu beeinflussen. Besonders gut dokumentiert ist die letztlich erfolglose Einflussnahme in Mexiko.

Wegen der grassierenden Fettleibigkeit hatte Mexiko im Herbst 2016 einen «nationalen epidemiologischen Notstand» ausgerufen. Die Zahlen einer Gesundheitsstudie von 2020 zeigten: Unter den fünf- bis elfjährigen Kindern sind 38 Prozent übergewichtig oder gar fettleibig. Und unter den MexikanerInnen ab 20 Jahren sind 74 Prozent zu dick. Über ein Drittel der Erwachsenen ist fettleibig.

Auch in der Schweiz droht Nestlé eine Regulierung

Als Massnahme schlug der Gesundheitsausschuss der mexikanischen Abgeordnetenkammer fünf schwarze Stoppschilder vor, mit dem Schriftzug «Exceso», also «Übermass» – an gesättigten Fetten, an Kalorien, an Salz, an Transfetten, an Zucker. Zudem sollten mit Warnhinweisen versehene Produkte nicht mehr mit Comic-Figuren, Spielzeugen oder Berühmtheiten beworben werden. Dagegen wehrte sich Nestlé mithilfe der offiziellen Schweiz. Doch im Herbst 2020 trat die Regelung trotzdem in Kraft.

Selbst ausströmender Lobbygestank von Lindner FDP und Klöckner CDU konnte Nestle nicht von einen Arrangement mit den-r Politiker-in abhalten.

Seither haben weitere Länder wie Brasilien oder Kolumbien nachgezogen. Und auch in Deutschland und der Schweiz laufen ähnliche Bestrebungen. Die Sprecherin des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) aus Alain Bersets Departement des Innern sagte der SonntagsZeitung (Paywall) kürzlich: «Das BLV hat ebenfalls Pläne für eine Regulierung der an Kinder gerichteten Werbung». Die Behörde habe jahrelang erfolglos versucht, die Produzenten dazu zu bringen, entsprechende Lebensmittel freiweillig gesünder zu machen (Infosperber berichtete).

Ineichen-Fleisch dürfte also wissen, was bei Nestlé auf sie zukommt. Letzten Frühling sagte sie öffentlich über ihre Arbeit im Auftrag der Schweizer BürgerInnen: «Eine Hauptaufgabe meiner letzten elf Jahre als Seco-Direktorin war es, mehr Regulierung abzuwehren.»

Weiterführende Informationen

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Grafikquellen        :

Oben      —

Day 2 of the 10th WTO Ministerial Conference, Nairobi, 16 December 2015. Photos may be reproduced provided attribution is given to the WTO and the WTO is informed. Photos: © WTO. Courtesy of Admedia Communication.

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Worst-Case-Szenarien II

Erstellt von DL-Redaktion am 10. März 2023

Über aufgeklärten Katastrophismus und Analphabet*innen der Angst

File:Schoolchildren examine replica of 'Fatman' atomic bomb at the Nagasaki Atomic Bomb Museum, Nagasaki, Japan.tif

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :        MAS

„Gewalt gegen Gewalt funktioniert nicht. Sie dürfen den Krieg gar nicht erst anfassen, denn er ist infektiös wie ein Virus.“ Alexander Kluge.

Vor zwei Jahren habe ich hier einen Artikel über das geleakte Strategiepapier des deutschen Innenministeriums veröffentlicht, in dem ich eine Parallele zum „catastrophisme éclairé“ von Jean-Pierre Dupuy zu entdecken meinte (1).Dieses interne Papier wurde von einem bislang anonym gebliebenen Expertenteam aus Virologen, Epidemiologen, Medizinern, Wirtschafts- und Politikwissenschaftlern mit dem Ziel erarbeitet, unterschiedliche Szenarien der Ausbreitung des Coronavirus zu analysieren, unabhängig von ihrer jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit. Falls nichts unternommen werde, rechne man mit „über einer Millionen Toten im Jahr 2020 – für Deutschland allein.“ Insofern sei 1.) der „Worst Case (.) mit allen Folgen für die Bevölkerung in Deutschland unmissverständlich, entschlossen und transparent zu verdeutlichen“; 2.) die „Vermeidung des Worst Case (.) als zentrales politisches und gesellschaftliches Ziel zu definieren“; und 3.) den Bürger*innen klar zu machen, „dass folgende Massnahmen nur mit ihrer Mithilfe zu ihrem Wohl umgesetzt werden müssen und können.“ (2)Bei den Kritiker*innen war damals von Panikmache die Rede. Viele, auch ich, stiessen sich an der formulierten Absicht, mittels drastischer Schilderungen – von den Krankenhäusern abgewiesene Schwerkranke sterben „qualvoll um Luft ringend zu Hause“, Kinder bringen ihre Eltern ins Lebensgefahr, „weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen“ usw. – eine „Schockwirkung“ (3) erzielen zu wollen, um Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung für die ergriffenen Massnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehen herzustellen.

Der aufgeklärte Katastrophismus im Sinne Dupuys besteht genau in dieser Schockwirkung, in einem negativen Gesellschaftsentwurf, „der die Form eines fixen Zukunftsbilds annimmt, das man nicht will“ (4). Dieser Entwurf muss katastrophal genug sein, um abstossend zu wirken, und glaubwürdig genug, um zum Handeln zu bewegen. Insofern muss die geringe Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gefahr in eine Gewissheit verwandelt werden, man muss, wie Dupuy empfiehlt, vom schlimmsten Szenario ausgehen, „um den maximalen Schaden auf ein Minimum zu reduzieren“, damit das Unaufhaltsame nicht eintrifft. (5) Die Voraussage zeitigt selber Wirkung – jene nämlich, sich selbst zu dementieren.

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Kürzlich wurde der Gesundheitsminister bei Lanz in die Mangel genommen, nach dem üblichen 4-gegen-1-Prinzip (den Moderator eingerechnet). Markus Grill warf Lauterbach vor, sich einer „Rhetorik der Angst“ bedient zu haben, als er etwa am 18. April 2021 folgenden Tweet postete:

„Es gibt jetzt die Möglichkeit, in den nächsten 6 Wochen noch einmal weit über 10.000 Menschen meist im Alter von 40-60 J zu retten, mit letztem strengen Lockdown. Oder sind wir dafür nicht bereit, weil uns die Einschränkungen 10.000 Tote nicht wert sind. Dann hätten wir versagt.“

Der Lockdown blieb aus. Nach sechs Wochen informierte sich der Chefreporter beim Robert-Koch-Institut: Es waren in Wirklichkeit „nur“ 700 Tote. Sein Fazit: „Ich finde es sowieso eine relativ schlechte Art (…) zu kommunizieren, ein Arzt nimmt Patienten eigentlich unbegründete Ängste. Und ich finde auch ein Politiker sollte nicht mit Ängsten operieren, die möglicherweise auf sehr wackligen Beinen stehen.“

Lauterbach verteidigte die Prognose, berief sich auf die ihm damals vorliegenden „hochkomplexen Modellrechnungen“ renommierter Wissenschaftler wie Michael Meyer-Hermann und Viola Priesemann, die – wie Grill sofort einwarf – „oft kolossal danebenlagen“.

So funktioniere Wissenschaft, entgegnete Lauterbach, und verwies später auf das „Präventionsparadox“. Gegenüber Heribert Prantl wurde er in seiner Verteidigung grundsätzlicher:

„Was ich wirklich ablehne und falsch finde, dass also eine Warnung vor dem, was wirklich stattfinden kann – schwere Erkrankung, Todesfolge, Long Covid usw. –, (…) dass man das im Nachhinein als eine Panikmache abtut“. (6)

Man kann Lauterbach vieles vorwerfen, – eines aber nicht: Die Pandemie wie Trump oder Bolsonaro bagatellisiert zu haben. Er wirkt tatsächlich ein wenig wie der Unglücksprophet aus Günther Anders Parabel „Die beweinte Zukunft“, an Noah, den einsamen Rufer in der Wüste, der für seine Botschaft auf die Zeitform der vollendeten Zukunft zurückgreifen musste.

Zunächst ist es natürlich richtig, dass die Datenlage bezüglich der getroffenen Corona-Massnahmen mangelhaft war. Der vom Bundestag beauftragte Bericht des Corona-Sachverständigenrates vom Juli 2022 hat längst bestätigt: „Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Massnahmenstärke nicht erkennbar.“ (7)

Doch indem wir das wissenschaftliche Nichtwissen betonen, schreibt Jean-Pierre Dupuy (8), gerät die Katastrophe aus dem Blick und hält uns davon ab, verantwortlich zu handeln.Die grösste Schwierigkeit besteht in unserer Unfähigkeit zu glauben, dass der schlimmste Fall tatsächlich eintreten wird. Je grösser die Katastrophen erscheinen, für um so unwahrscheinlicher werden sie gehalten, bevor sie eintreten, doch um so selbstverständlicher erscheinen sie, sobald sie eingetreten sind – eine Erfahrung, auf die bereits Henri Bergson im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg hingewiesen hat.

„Trotz meines Schockes, und meines Glaubens, dass ein Krieg selbst im Fall eines Sieges eine Katastrophe wäre, fühlte ich (…) eine Art von Bewunderung für die Leichtigkeit, mit der der Wandel vom Abstrakten zum Konkreten vonstatten ging: Wer hätte gedacht, dass eine so ehrfurchtgebietende Möglichkeit mit so wenig Aufhebens in die Wirklichkeit eintreten würde? Dieser Eindruck von Einfachheit überwog alles.“ (9)

„Katastrophen zeichnen sich durch eine in einem gewissen Sinne inverse Zeit aus“, schlussfolgert Dupuy. „Als ein Ereignis, das aus dem Nichts hervorbricht, wird die Katastrophe möglich nur durch ihre „Selbstermöglichung“ (um einen Begriff Sartres zu verwenden, der in diesem Punkt ein Schüler Bergsons war). Und das ist genau die Quelle unseres Problems. Wenn man einer Katastrophe vorbeugen will, dann muss man an ihre Möglichkeit glauben, bevor sie eintritt. Wenn es andererseits gelingt ihr vorzubeugen, dann versetzt ihr Nichteintreten die Katastrophe ins Reich des Unmöglichen und die Vorsichtsmassnahmen werden im Nachhinein als sinnlos angesehen.“ (10)

Wer sich heute angesichts des Kriegs in der Ukraine vor einer möglichen Eskalationsdynamik fürchtet, die sich bis hin zum Einsatz taktischer Atomwaffen erstreckt, wird von Expert*innen dahingegen beruhigt, bloss einem Putinschen Narrativ aufzusitzen. Florence Gaub sagt etwa bei Maischberger:

„Ich tue mich ein bisschen schwer mit diesem Worst Case Szenario, was hier davongaloppiert mit uns. Wenn wir von Atomwaffen reden, reden wir immer über ein superhypothetisches Szenario. Sie sind nur einmal beziehungsweise zweimal, aber in ganz kurzer Zeit hintereinander, zum Einsatz gekommen. Die ganze Literatur zum Thema Abschreckung sagt, die Hauptfunktion ist, dass man damit drohen kann. Und das macht Putin die ganze Zeit. Und hier in Deutschland funktioniert das tatsächlich sehr gut.“ (11)

Es funktioniert sogar so gut, dass Prof. Dr. Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, den Deutschen eine psychische Krankheit namens „Eskalationsphobie“ attestieren zu müssen glaubt:

„Von aussen betrachtet, ist die Berliner Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine von einer Angst vor Eskalation beherrscht, die in kaum einem anderen Land des Westens in dieser Intensität so zu beobachten ist. Während in anderen Hauptstädten mehr und mehr überlegt wird, welche Waffensysteme die Ukrainer benötigen, um die nächste russische Offensive abzuwehren oder um die russischen Truppen gar aus dem Land zu vertreiben, dreht sich die deutsche Debatte in geradezu hektischer Weise darum, wie man jede Eskalation vermeiden kann, weil sonst der dritte Weltkrieg ausbricht. Dabei ist es Russland, das in der Ukraine eskaliert, weil es dort unbedingt gewinnen will. Und ohne Bereitschaft des Westens, diese Eskalation mit einer überlegten, stufenweisen Gegen-Eskalation zu beantworten, wird es keinen Frieden in der Ukraine geben.“ (12)

Das ist ein klarer Fall von „Apokalypse-Blindheit“ (Günther Anders). Was kann man diesen – nochmals Günther Anders – „Analphabeten der Angst“ entgegnen?

Sich vor allem nicht so sicher zu sein, was Putin nun will oder nicht will, was er letztlich tun oder nicht tun wird. Wir wissen nicht, ab wann für ihn die rote Linie überschritten sein wird, welche „Gegen-Eskalation“, ob dies nun Panzer- oder Kampfjetlieferungen an die Ukraine sind, zum Einsatz taktischer Atomwaffen führen könnte. Dieses Wissen ist keinem Standardwerk über den Kalten Krieg oder Modellrechnungen atomarer Bedrohungsszenarien zu entnehmen. Es aufgrund dieser Ungewissheit einfach darauf ankommen zu lassen, wäre fatal; dann verhielte man sich in der Tat so, „als ob die Katastrophe selbst die einzige faktische Grundlage dafür bilden würde, die Katastrophe prognostizieren zu können.“ (13)

Folglich muss diese prinzipielle Ungewissheit – das ist das „Aufgeklärte“ an Dupuys Katastrophismus – in eine Gewissheit verwandelt und vom schlimmsten anzunehmenden Fall ausgegangen werden, um diesen verhindern zu können.

Ansonsten wird es übermorgen zu spät sein.

Fussnoten:

(1) „Worst-Case-Szenarien“ 07.02.2021: https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/gesellschaft/coronavirus-worst-case-szenarien-6245.html

(2) https://fragdenstaat.de/dokumente/4123-wie-wir-covid-19-unter-kontrolle-bekommen/, S.1.

(3) https://fragdenstaat.de/dokumente/4123-wie-wir-covid-19-unter-kontrolle-bekommen/, S. 13.

(4) Dupuy zit. Walter Francois: Katastrophen: eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Reclam Verlag: Stuttgart 2010, S. 274f. Die beiden Werke von Jean-Pierre Dupuy, die sich diesem Thema widmen – Pour un catastrophisme éclairé. Quand l’impossible est certain, Seuil: Paris 2004 und Petite métaphysique des tsunamis, Seuil: Paris 2005 –, wurden noch nicht ins Deutsche übersetzt. Dupuy hat inzwischen über andere Katastrophen publiziert: La guerre qui ne peut pas avoir lieu: essai de métaphysique nucléaire, Desclée de Brouwer: Paris/Perpignan 2018 und La catastrophe ou la vie: pensées par temps de pandémie, Seuil: Paris 2021.

(5) Dupuy zit. n. Francois a.a.O., S. 274.

(6) Markus Lanz vom 9. Februar 2023. Zu Gast: Politiker Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte Markus Grill, Ärztin Dr. Agnes Genewein und Journalist Heribert Prantl. ZDF-Mediathek: https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-9-februar-2023-100.html

(7) Evaluation der Rechtsgrundlagen und Massnahmen der Pandemiepolitik. Bericht des Sachverständigenausschusses nach § 5 Abs. 9 IFSG: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/S/Sachverstaendigenausschuss/220630_Evaluationsbericht_IFSG_NEU.pdf, S. 70.

(8) Vgl. Jean-Pierre Dupuy: „Aufgeklärte Unheilsprophezeiungen. Von der Ungewissheit zur Unbestimmbarkeit technischer Folgen“. In: Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.): Unbestimmtheitssignaturen der Technik. Eine neue Deutung der technisierten Welt. Transcript Verlag: Bielefeld 2005, S. 81–102, hier: 93.

(9) Bergson zit. n. Dupuy a.a.O., S. 94.

(10) Dupuy a.a.O., S. 94f.

(11) Erich Vad und Florence Gaub: Wie der Ukraine-Krieg beendet werden könnte. 22.02.2023. ARD-Mediathek: https://www.ardmediathek.de/video/maischberger/erich-vad-und-florence-gaub-wie-der-ukraine-krieg-beendet-werden-koennte/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL21lbnNjaGVuIGJlaSBtYWlzY2hiZXJnZXIvMTRiZTE5MGUtMTk5Yy00YTM2LTllMjMtZjllZjQ2NzM1NzZh

(12) Joachim Krause. „Eskalationsphobie – eine deutsche Krankheit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 7. Februar 2023.

(13) Dupuy a.a.O., S. 93.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —       File:Schoolchildren examine replica of ‚Fatman‘ atomic bomb at the Nagasaki Atomic Bomb Museum, Nagasaki, Japan.tif

Author OKJaguar         /        Source   :     Own work        /       Date     :      16. April   2019

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Daten als neue Munition

Erstellt von DL-Redaktion am 10. März 2023

Ukraine nutzt KI von Palantir

Von Adrian Lobe

Die US-Datenfirma Palantir liefert Software an die Ukraine, um feindliche Truppenbewegungen zu verfolgen. Ist das rechtlich und moralisch vertretbar?

Zu den Eigentümlichkeiten des Ukraine-Kriegs gehört, dass er mit den militärischen Mitteln und Taktiken des 20. Jahrhunderts geführt, aber mit Instrumenten des 21. Jahrhunderts organisiert wird. Brutale Abnutzungskämpfe in Schützengräben wie im Ersten Weltkrieg stehen satellitengestütztem Internet und Kryptofinanzierung gegenüber. Vor Kurzem wurde bekannt, dass die Ukraine bei der militärischen Zielerkennung, dem sogenannten „Targeting“, eine Künstliche Intelligenz der US-Firma Palantir nutzt.

Die Software namens MetaConstellation, die Palantir der Ukraine kostenlos zur Verfügung stellt, verarbeitet massenhaft Daten von Satelliten, Flugzeugsensoren und Drohnen, um in Echtzeit feindliche Truppenbewegungen zu verfolgen. Palantir-Chef Alex Karp jubilierte, die „Macht ausgefeilter algorithmischer Waffensysteme“ sei mittlerweile vergleichbar mit dem Besitz einer taktischen Atomwaffe.

Die verbale Offensive überrascht, heißt es doch immer, man müsse in dem Konflikt „rhetorisch abrüsten“. Doch Karp kann sich solche forschen Töne erlauben. Palantir ist einer der größten Player im globalen Überwachungskapitalismus. Die vom rechts-libertären Investor Peter Thiel gegründete Firma, die in der Anfangsphase vom Wagniskapitalarm der CIA mitfinanziert wurde, liefert Analysesoftware an Behörden auf der ganzen Welt.

Durch die Hintertür zur Kriegspartei

Es ist ein lukratives, aber gleichsam verschwiegenes Geschäft. Zu den Kunden von Palantir gehören neben US-Geheimdiensten und -konzernen unter anderem auch die Polizei in Hessen, deren eingesetzte Fahndungssoftware HessenData jüngst vom Bundesverfassungsgericht für teilweise verfassungswidrig erklärt wurde. Das Überwachungsnetz, das die umstrittene Analysefirma über die Welt geworfen hat, ist so engmaschig, dass sich darin nicht nur Terroristen und Drogendealer, sondern auch Betrüger wie der mittlerweile verstorbene Börsenmakler Bernie Madoff verfangen haben. Und möglicherweise auch russische Kriegsverbrecher. Palantir-Chef Karp erklärte in kühl-technischem Militärjargon, die Software seines Unternehmens sei für den größten Teil des „Targetings“ in der Ukraine verantwortlich.

Dabei stellt sich aus völkerrechtlicher Perspektive eine wichtige Frage: Wenn Teile der Befehlskette, nämlich die datengestützte Zielverfolgung, an ein US-Unternehmen delegiert werden, werden dann die USA durch die Hintertür zur Kriegspartei? Es ist schon erstaunlich: Über die Lieferung von Panzern wird hitzig diskutiert, über die Lieferung von Software und Daten jedoch kaum. Dabei sind Daten im Krieg mindestens so wichtig wie Munition.

Das weiß auch Palantir-Chef Karp, der sich als Teil einer Guerilla-Truppe sieht, die nicht nur für den Westen, sondern auch für ihre Anteilseigner kämpft. Viele Anleger, die in das börsennotierte Unternehmen investierten, spekulierten auf eine steigende Nachfrage an Überwachungssoftware im „Global War on Terror“.

„Mehr Google als Lockheed“, so beschrieb das Tech-Magazin „Wired“ einmal die Unternehmenskultur von Palantir – mehr Suchmaschine als Rüstungskonzern. Die Webseite des Konzerns wirkt wie die eines Biolabors. In einem Imagefilm blicken Menschen in medizinischer Kleidung in Mikroskope und füllen Reagenzgläser ab, laufen Impfampullen und Einwegmasken vom Band; in einer fast schon rührenden Szene hält eine Pflegerin am Krankenbett die Hand einer Seniorin. Der Hintergrund: Palantir hat einen millionenschweren Deal mit dem britischen Gesundheitsdienst NHS geschlossen – die Bilder von fürsorgendem Pflegepersonal lassen sich besser vermarkten als die bewaffneter Soldaten. Doch vieles von dem, was die T-Shirt-tragenden Softwareentwickler in ihren hippen Start-up-Räumen zu Code verschrauben, landet am Ende bei der Polizei oder dem Militär.

Waffenfähige Daten

So konnte die US-Armee mit einer Mustererkennungssoftware von Palantir herausfinden, dass Terroristen im Irak Garagentüröffner als ferngesteuerte Detonatoren benutzen. Auch bei der Aufspürung des Verstecks von Osama bin Laden soll die dubiose Datenfirma eine Rolle gespielt haben. Wenn die Ukraine nun bei der militärischen Zielauswahl auf die Software von Palantir zurückgreift, ist das, zumindest instrumentell, eine Fortsetzung des Krieges gegen den Terror. Nur: Wo und von wem werden die Entscheidungen getroffen? Wie hoch ist die Trefferrate? Was, wenn die Künstliche Intelligenz sich irrt?

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil zu US-Drohneneinsätzen entschieden, dass die bloße Durchleitung von Datenströmen über eine Satelliten-Relaisstation an der Air Base Ramstein keine grundrechtlichen Schutzpflichten des deutschen Staates auslöst. Diese seien nur für „Handlungen oder technische Abläufe auf deutschem Staatsgebiet“ zu bejahen, „die einen relevanten Entscheidungscharakter aufweisen“. Das wäre zum Beispiel die Erstellung von Ziellisten oder Auswertung von Informationen.

Quelle         :         TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       World Economic Forum 2022, Dev, panel discussion

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Erdbeben in Syrien

Erstellt von DL-Redaktion am 6. März 2023

Eine Politisierte Katastrophe

Zwei Lumpen welche von Ihresgleichen immer wieder Empfangen werden.

Ein Debattenbeitrag von Ibrahim Murad

Assad und Türkei-treue Gruppen in Syrien nutzen das Erdbeben für den Machterhalt. Ihnen sollten international bindende Grenzen gezogen werden.

Millionen von Syrern und Türken wachten am 6. Februar im Morgengrauen auf und sahen die Verwüstung, die das große Erdbeben mit mehr als 50.000 Toten hinterlassen hatte. In Syrien ist das Ausmaß der Zerstörung für viele durchaus mit der Verwüstung durch den Bürgerkrieg vergleichbar.

Trotz der humanitären Notlage, deren Folgen und Auswirkungen noch jahrelang andauern werden, nutzen sowohl der syrische Diktator Assad als auch die von der Türkei unterstützte syrische Opposition die Katastrophe aus, um von der Tragödie politisch zu profitieren. Assad sucht nach persönlichem und politischem Gewinn, indem er sich als Retter in der Not inszeniert, der versucht, dem ganzen Land zu Hilfe zu eilen. Mit Erfolg: Die USA haben die Sanktionen gegen Syrien nun gelockert, damit Hilfeleistungen überhaupt funktionieren können. Großbritannien und die EU sind diesem Beispiel gefolgt und haben ebenfalls die Sanktionen gelockert, sodass nun sanktionierte Einrichtungen und Personen humanitäre Hilfsgüter erhalten können – für Assad ein Prestigegewinn.

Doch das Bild des barmherzigen Samariters hat einen gewaltigen Riss. Wie brutal und skrupellos das Assad-Regime in Wirklichkeit ist, zeigt sich selbst in solch einer Situation. Kurdische Viertel und Dörfer im stark vom Erdbeben getroffenen Aleppo, das unter Kontrolle des Regimes steht, werden von Truppen der syrischen Regierung belagert und blockiert. Gleichzeitig werden Hilfsgüter, die den Erdbebenopfern zur Verfügung gestellt worden sind, von regimetreuen bewaffneten Gruppen geraubt und auf den Märkten den Opfern verkauft.

Auch wirkt es, als böte das Erdbeben eine Gelegenheit für Assad, den Prozess der Normalisierung mit der arabischen Welt zu beschleunigen, insbesondere nachdem viele arabische Staaten die dringende Hilfe direkt mit der syrischen Regierung koordiniert und nach Damaskus geschickt haben. Konkreter wurde es, als Assad mit den Besuchen des ägyptischen Außenministers Sameh Shoukry und des jordanischen Außenministers Ayman Safadi zum ersten Mal seit 2011 wieder hochrangige Diplomaten aus diesen beiden Staaten empfing. Assad selbst besuchte kürzlich in einer offiziellen Staatsvisite den Golfstaat Oman – sein erst zweiter Besuch eines arabischen Landes seit 2011. Die Zeichen stehen also auf Normalisierung der Beziehungen zur arabischen Welt.

In den Jahren des Bürgerkriegs war Assad mit Ausnahme von Russland und des Irans auf der diplomatischen Bühne isoliert. Nun, nach dem Erdbeben, scheint es zumindest in den Beziehungen zur arabischen Welt wieder vorwärtszugehen. Denkbar ist auch, dass der von Russland und dem Iran unterstützte Annäherungsprozess zwischen Syrien und der Türkei wegen der gemeinsamen Herausforderungen nach dem Erdbeben intensiviert wird. Ankara war in den vergangenen Jahren ein zentraler Unterstützer der syrischen Opposition.

Assad scheint es also zu gelingen, die Barriere regionaler und internationaler Embargos zu durchbrechen. Gleichzeitig versucht er, die Legitimität seines Regimes zu beweisen. Er hat Botschaften an die syrische Opposition und „nicht verbündete“ Länder gesandt, in denen er erklärt, dass sein Regime bleiben und er weiterhin die Angelegenheiten im Land kontrollieren werde.

Aber nicht nur Assad nutzt das Erdbeben für sich. Auch bei seinen politischen Kontrahenten im Land, in Nordwestsyrien, sind bewaffnete Gruppen, die loyal zu Ankara sind, damit beschäftigt, die bereitgestellte Hilfe untereinander aufzuteilen und zu stehlen. Berichte und Videos aus der von der Türkei besetzten Region Afrin haben enthüllt, dass bewaffnete Fraktionen die vom Ausland geschickten Hilfsgüter beschlagnahmt und auf den Märkten weiterverkauft haben.

Assad sucht nach persönlichem und politischem Gewinn, indem er sich als Retter in der Not inszeniert

Im einst mehrheitlich kurdischen Afrin werden die noch übrig gebliebenen Kurden trotz dieser Katastrophe systematisch von Ankara und der bewaffneten Opposition diskriminiert und bei der Verteilung der Hilfsgüter umgangen. So wird auch gegen politisch unliebsame Betroffene des Erdbebens vorgegangen, vor allem, wenn es Kurden sind.

Die von Ankara unterstützte syrische Opposition verweigerte auch die Weiterfahrt von Hilfskonvois, die von der kurdischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens für die Regionen Nordwestsyriens bereitgestellt waren. Offenbar erlaubte es Ankara nicht. Trotz des Ausmaßes der humanitären Katastrophe laufen die Konfliktparteien im Land immer noch gegen die Zeit. Auf Kosten von Millionen Syrern wird die Erdbebenkatastrophe politisiert.

Al-Qaida-Ableger bekommt Erdbebenhilfe

Quelle         :         TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben       —       During his visit to Iran, Syrian President Bashar al-Assad met with Iranian leader Seyyed Ali Khamenei

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Vermitteln, nicht einmischen

Erstellt von DL-Redaktion am 3. März 2023

Die Ukraine ist wichtiges Transitland der Seidenstraße

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Ein Debattenbeitrag von Nora Sausmikat

Chinas lange erwartete „Friedensstrategie“ für den Ukrainekrieg ist zugleich eine Umformung der UN-Charta nach chinesischem Verständnis.

Am 24. Februar, dem Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine, veröffentlichte das Außenministerium der VR China ein Zwölf-Punkte-Papier zu Chinas Position in diesem Aggressionskrieg. Noch kurz nach Beginn der Invasion gab es international die Hoffnung, China könnte seinen Einfluss auf Russland entscheidend für Vermittlungen und Frieden nutzen.

Denn China gilt als Russlands wichtigster Verbündeter. Der Aggressionskrieg gegen die Ukrai­ne ist auch Zeichen eines offenen Kampfes der politischen Systeme. Schon kurz nach dem russischen Überfall bat der ukrainische Botschafter in Japan China um ein Einlenken.

Seit 12 Monaten also wartet die Welt auf Chinas Friedensinitiative – nun erscheint dieses Zwölf-Punkte-Papier.

Was es nicht ist? Es ist keine klare Position des offiziellen Chinas zu dem Aggressionskrieg. Es ist weder eine eindeutige prorussische Stellungnahme noch ein klares „Machtwort“ in Richtung Russland, den Angriffskrieg zu stoppen.

Was es ist? Es ist ein diplomatisches Symbol für die Weltbühne, welches die Zutaten internationaler Diplomatie im chinesischen Sinne auslegt und für die Kriegssituation mit neuer Bedeutung füllt.

China verteidigt seit Langem das Konzept der staatlichen Souveränität, sprich das Recht souveräner Staaten, frei von ausländischer Einmischung zu sein. Dies sei der „Garant für Frieden, Sicherheit und Wohlstand“. Dieses Verständnis „staatlicher Souveränität“ geht jedoch weit über die in der UN-Charta enthaltenen entsprechenden Verbote der unerlaubten Gewaltanwendung und Bewaffnung oder Finanzierung von Rebellenbewegungen hinaus. Für China ist dieser Grundsatz des Völkerrechts gleichbedeutend mit „Nichteinmischung“. Denn China bezeichnet bereits bloße Kommentare zu seiner Innenpolitik – ganz zu schweigen von Kritik an seiner Menschenrechtsbilanz – routinemäßig als eine unzulässige Form der „Einmischung“ in seine staatliche Souveränität. Diese Haltung versucht China auf der Weltbühne der Diplomatie zu etablieren. Das ist höchst gefährlich, speziell wenn es um Verbrechen ­gegen die Menschlichkeit und andere völkerrechtliche Vergehen geht – wie derzeit von Russland in der Ukraine begangen. Eine geschlossene internationale Reaktion auf von Russland begangene Gräueltaten in der Ukraine, die laut Völkerrecht eindeutig gegeben sind, wird so auch seit einem Jahr durch prorussische chinesische Haltung verhindert.

Das Zwölf-Punkte Papier ist eine aus chinesischer Sicht logische Konsequenz der seit 10 Jahren massiv vorgenommenen Umformung universeller Spielregeln auf nationale Befindlichkeiten. Beispiel Menschenrechte: Die Betonung der staatlichen Souveränität, der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und des Rechts auf wirtschaftliche Entwicklung als ein über allen anderen Rechten stehendes Menschenrecht droht das gesamte internationale Menschenrechts­system sowie Normen zu Transparenz und Rechenschaftspflicht zu schwächen. Die Idee von universellen Menschenrechten, die über die nationale Souveränität hinausgehen und die internationale ­Gemeinschaft als Ganzes betreffen, lehnt China ab.

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Im Zwölf-Punkte Papier betont China die Bedeutung der territorialen Souveränität aller Länder. Ein kleiner Unterschied zur staatlichen Souveränität mit großen Folgen. Dies kann heißen, dass dies eine Anerkennung russisch annektierter Gebiete als russisch nach sich zieht. Letztlich können hier auch Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Änderung des Status Taiwans nach sich ziehen. Es kann aber auch heißen – dies ist eher unwahrscheinlich –, dass China den Einmarsch in ein souveränes Land wie die Ukraine am Ende doch noch verurteilt.

Was das Zwölf-Punkte Papier auch ist: ein Angebot Chinas als Vermittler, ein Aufruf zu Dialog und Kompromissen – unter den Prämissen eines umgedeuteten Völkerrechts. China spricht sich für einen Waffenstillstand und die Wiederaufnahme von Friedensgesprächen aus.

Die zwölf Punkte spiegeln darüber hinaus pragmatische Interessen Chinas wider: Lieferketten sollen wieder sicher funktionieren, der eurasische Kontinent muss dafür stabil gehalten werden, und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen soll die Sanktionen gegen Russland stoppen. Dialog und Verhandlungen seien die einzige Lösung, nicht Sanktionen. Es darf nicht vergessen werden: Die Ukraine ist wichtiges Transitland der Seidenstraße und wichtiger Militär- und Getreidelieferant Chinas. Konkret benennt Punkt 9 des Zwölf-Punkte Plans die Getreide-Schwarzmeer-Initiative, die es gelte fortzusetzen.

Quelle    :          TAZ-online           >>>>>       weiterlesen

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Oben       —   Übersicht der wichtigsten Projekte, die im Rahmen der Belt and Road-Initiative vorangetrieben werden und wurden. Quelle: Infrastrukturatlas 2020, Urheber: Appenzeller/Hecher/Sack, Lizenz: CC BY 4.0[102]

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Februar 2023

Nicht nur 99 Luftballons am Horizont

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Wer heute das alte Lied „99 Luftballons“ noch einmal spielt oder hört, dürfte einen leisen Anachronismus spüren: Wurden da nicht „General“ und „Kriegsminister“ verhöhnt, weil es ja nur „99 Luftballons“ sind, die da schweben am Horizont?

So viele sind es heute nicht. Bisher entdeckt und abgeschossen waren es vier, von denen sich kanadische und amerikanische Militärs in einem Fall nicht mal sicher waren, ob es sich um einen Luftballon handelt. Dennoch: Heute lacht kaum noch jemand. Ernst nehmen will man die schwebenden Objekte hoch in der Luft allemal. Sie seien bloß für Wetterdienste, behauptete Peking? Von wegen!

Der Nena-Anachronismus lässt sich so leicht nicht mehr herunterspielen auf so etwas wie seichte Ironie: Über unseren Horizont fliegen längst unzählige Objekte. Niemand weiß, wie viele Daten, verschlüsselt in was für einem KI-Deutungsmuster, sie an wen zu welchem Zwecke senden. Erst recht nicht, mit welchen Konsequenzen. Von diesen ominösen Objekten sind die paar Luftballons, von denen man zwei als „von China kommend“ identifiziert hat, „Opas“ aus Zeiten des Ersten Weltkriegs, wenn man sich ihrer als Spionageballons vergewissern kann. Kann man?

Wohl noch nicht ganz. Noch gehen Beschuldigungen und Dementi zwischen Washington und Peking hin und her. Chinas Außenamtssprecher bezichtigt die USA 10-mal der Verletzung des chinesischen Luftraums mit US-Luftballons allein im letzten Jahr – freilich ohne jeden Beweis. Noch hüllen die Europäer sich in vornehmes Schweigen. Und doch wird auch hierzulande, noch hinter vorgehaltener Hand, gemunkelt: Was nun, wenn die Chinesen Spionageluftballons 20 Kilometer auch über unsere Köpfe hinweg schweben lassen, um, wie die US-Militärs argwöhnen, unsere Militärbasen, sagen wir nahe dem an einen russischen Oligarchen verkauften Flughafen Hahn, auszuspionieren? Was nun, wenn diese Chinesen allen Dementi zum Trotz doch Wladimir Putin beim Aggressionskrieg gegen die Ukraine unterstützen würden – mit Daten gestohlen von jenen mysteriösen Ballons zum Beispiel?

Die Augen rechts und links da hinten stinkt es !

Lasst uns einen „Worst Case“ an die Wand malen: Haben nicht auch Chinesen bereits Supersonic-Raketen, gegen die westliche Militärs noch kein probates Mittel haben, um uns davor zu schützen? Noch weit entfernt von der beunruhigenden Tatsache, dass von den der Ukraine versprochenen Leopard-I-Panzern der deutschen Bundeswehr gleich Dutzende untauglich sind? Sind wir gegen irgendwelche „Generäle“ und „Kriegsminister“, verhöhnt in jenem Lied, gewappnet, wenn sie doch nicht nur Späßchen mit uns im Sinne haben, sondern es bitterernst meinen, siehe Putin?

Über paranoide „Kriegsminister“ lacht heute keiner mehr

Quelle       :         TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Februar 2023

Der Punkt am Himmel über Berlin

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Durch die Woche mit Nina Apin

Ein schwarzes Flugobjekt setzt die Fantasie in Gang: Aliens, Chinesen, oder wird die Berliner Wahl jetzt von ganz oben beobachtet?

Als wir bereits einige Minuten an der Bushaltestelle verbracht hatten und auf den heillos verspäteten 123er warteten, mit der üblichen Körperhaltung der Haupt­stadt­be­woh­ne­r:in­nen (irgendwo zwischen Gereiztheit und tiefer Resignation), sagte mein Sohn plötzlich: „Guck mal, da ist so ein schwarzer Punkt am Himmel!“

Tatsächlich war da ein kleiner, schwarzer kreisrunder Punkt etwa in Flughöhe. Er bewegte sich langsam und merkwürdig flatternd. Für einen Vogel war er zu rund geformt, für ein Flugzeug oder einen Hubschrauber zu lautlos und ruckelig. „Außerirdische“, witzelte ich. Mein Sohn korrigierte fachmännisch: „Extrem unwahrscheinlich. Dann eher die Chinesen.“ Stimmt, selbst in den USA, wo das Pentagon seit Trumps Regierungszeit eine eigene Abteilung für Ufo-Sichtungen unterhält, geht man nicht mehr davon aus, dass die mysteriösen ballonähnlichen Objekte, die in letzter Zeit vermehrt im Luftraum über dem amerikanischen Kontinent unterwegs sind, aus fernen Galaxien kommen, und schießt die Dinger jetzt konsequent vom Himmel.

Doch warum sollten sich die Chinesen ausgerechnet für Berlin interessieren, überlegte ich bitter, während ich weiter auf den 123er wartete: Weder meteorologisches Forschungsinteresse, welches die chinesische Staatsführung zunächst treuherzig vorzuschieben versuchte, kann hier ausschlaggebend sein – der deprimierende Bleideckel, der bis in den Frühling hinein über Berlin hängt, wurde bereits hinlänglich untersucht und geht davon auch nicht weg.

Und welche Geheimnisse aus Forschung, Wirtschaft oder Geopolitik vermag eine Stadt schon verbergen, die so legendär dysfunktional ist, dass es vielleicht noch einen gewissen anarchischen Reiz hat, aber ganz sicher keinen, mit dem sich Politik oder Geld machen ließe?

Aliens in Lichtenberg

Der Bus kam dann doch und das Objekt verschwand aus meinem Blickfeld. Nicht aber aus meinen Gedanken: Wenn es die Aliens und die Chinesen nicht geschickt haben, wer war es dann? Vielleicht schickt die internationale Wahlbeobachtungskommission jetzt schon Kameradrohnen in den Bezirk Lichtenberg, um über die korrekte Auszählung der am letzten Wahlsonntag übersehenen Briefwahlstimmen zu wachen?

Zwei schwarze Fix-Sterne aus einer düsterer Vergangenheit ?

Vielleicht sucht das Objekt auch im Auftrag der Berliner SPD nach weiteren übrig gebliebenen Wahlzetteln im ganzen Stadtgebiet – mehr als der nach derzeitigem Stand magere Vorsprung von 115 Kreuzen vor den Grünen – das könnte die Stimmung der zweitplatzierten Kraft im Roten Rathaus heben. Eine gründliche Suche könnte sich auch für Franziska Giffey persönlich lohnen, um sich einreden zu können, dass die Wäh­le­r:in­nen sie gar nicht soo abgewatscht haben, wie es zunächst aussah.

Auch für die Grünen wäre das Auffinden weiterer Wählerstimmen sicher interessant – könnte doch das dann irgendwann wirklich endgültige End-End-Ergebnis dieser Wiederholungswahl am 27. Februar sie doch noch auf Platz 2 der Berliner Landespolitik hieven und so Bettina Jarasch den grünen Teppich ins Rote Rathaus legen. Den Himmel nach Zeichen abzusuchen, wäre sicher auch eine Strategie für den vorläufigen Wahlsieger von der CDU. Denn was Kai Wegner mit diesem Wahlergebnis jetzt anfangen soll, weiß wahrscheinlich nur der Himmel.

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Umbauen statt schrumpfen

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Februar 2023

Klimaschutz ist ohne Wachstum nicht möglich: 

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Ein Debattenbeitrag von Larl-Martin Hentschel

Eine Auseinandersetzung mit den Degrowth-Thesen aus Ulrike Herrmanns aktuellem Buch. Auch wenn wir den Energie- und Rohstoffverbrauch drastisch senken, wird das Bruttoinlandsprodukt wachsen.

Die taz-Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann hat mit ihrem neuen Bestseller eine wichtige strategische Debatte angestoßen. Doch kann man bei der Analyse, wie Deutschland so schnell wie möglich klimaneutral werden kann, auch zu völlig anderen Ergebnissen gelangen.

Herrmann hält es für entscheidend, das Wachstum zu stoppen. Sie will das Bruttoinlandsprodukt drastisch reduzieren: Wenn die Menschen nur noch halb so viel arbeiteten, fehle ihnen das Geld, um neues Wachstum anzuschieben. Daher sei es konsequent, dass die Degrowth-Bewegung die kommerzielle Lohnarbeit halbieren will. Herrmann argumentiert weiter, dass die erneuerbaren Energien und die Rohstoffe nicht reichen und dass „grünes Wachstum“ nicht funktionieren kann, da der Rebound-Effekt dazu führt, dass alle Einsparungen an Energie und Emissionen durch das Wachstum wieder aufgefressen werden. Da aber der Kapitalismus auf Wachstum angewiesen ist, fürchtet die Autorin, dass Degrowth zu einer Weltwirtschaftskrise führt. Deshalb schlägt sie als Weg aus dem Kapitalismus das Modell der Kriegswirtschaft in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg vor.

Dieser Vorschlag findet erstaunlich viel Zustimmung. Aber erstens wird das, was Herrmann vorschlägt, nicht ausreichen, um die Klimaerwärmung zu stoppen. Und zweitens kann diese Strategie ökonomisch nicht funktionieren. Drittens aber kann das Beispiel Großbritannien trotzdem sehr hilfreich sein.

Zum Ersten: Die Treibhausgas-Emissionen zu halbieren ist viel zu wenig. Nach unseren Rechnungen sollte Deutschland bis 2030 sie um 80 Prozent reduzieren und spätestens 2038 klimaneutral sein. Um das zu erreichen, sollte schon 2035 die Energie zu 100 Prozent erneuerbar erzeugt werden. Das ist möglich. Anders als Ulrike Herrmann behauptet, sind alle damit verbundenen Probleme seit Jahren in umfangreichen Studien analysiert und gelöst worden – von der Stromerzeugung, dem Leitungsbau, dem Import grüner Rohstoffe bis hin zu den Speichern für Strom und Wasserstoff, um auch im Fall einer längeren kalten Dunkelflaute die Stromversorgung zu sichern. Weiter sollten bis 2040 mindestens 80 Prozent der Häuser wärmetechnisch saniert oder sogar zu Nullemissionshäusern gemacht werden. Auch die Rohstofffragen sind ausführlich untersucht worden. Im „Handbuch Klimaschutz“ kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Importe von Roh- und Brennstoffen um rund 80 Prozent bis 2040 zurückgehen können. Entscheidend dafür ist der konsequente Übergang zur Recyclingwirtschaft. Weiter rechnen wir mit einer Verdreifachung des Bahnverkehrs, des öffentlichen Nahverkehrs sowie des Fahrradverkehrs.

Zum Zweiten: Degrowth kann auch ökonomisch nicht funktionieren. Da heute nur noch 20 Prozent der Beschäftigten in der Produktion tätig sind, würde die Zahl der Arbeitsplätze selbst dann nicht wesentlich zurückgehen, wenn die Produktion von Waren und zugleich die Zahl der Geschäfte halbiert würden. Mehr als die Hälfte der Menschen arbeitet bereits in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Pflege, Kinderbetreuung und anderen Dienstleistungen. Dort werden in den kommenden Jahren noch viele neue Arbeitsplätze benötigt. Auch beim Umbau zu einer klimagerechten Gesellschaft werden Millionen neuer Arbeitsplätze entstehen: Die Sanierung der Häuser, der Ausbau der erneuerbaren Energien, der Umbau der Städte, der Ausbau von Bahnen und Stadtbahnen, die Umstellung auf ökologische Landwirtschaft, Renaturierung von Wäldern und Mooren – das alles erfordert viel Arbeit und Arbeitskräfte.

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Ökonomisch bedeutet das: Auch wenn wir die Emissionen von Klimagasen auf fast null reduzieren, den Rohstoffbedarf um 80 Prozent senken und den Energieverbrauch halbieren, wird das Bruttoinlandsprodukt wachsen – wie es auch heute schon wächst, wenn wir Naturschutzgebiete ausweisen oder neue Kran­ken­pfle­ge­r*in­nen einstellen – also scheinbar „unproduktive“ Bereiche ausweiten.

Auch wenn Ulrike Herrmann hier irrt, so ist trotzdem gerade der dritte Teil ihres Buchs inspirierend, in dem sie vorschlägt, die Kriegswirtschaft in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg als Blaupause für die Klimapolitik zu nehmen. Zur Steuerung dieser Politik wurde damals das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erfunden. Da Arbeitskräfte knapp waren, wurde das „Manpower Budget“ zum zentralen Steuerungsinstrument. Auch der Konsum wurde strikt geregelt: Milch und Eier nur für Kinder, Schwangere und stillende Mütter; Fleisch, Käse, Fett, Zucker, Tee und Seife wurden pro Kopf rationiert. Erstaunlicherweise war das System sehr beliebt, weil alle das Gleiche bekamen und die Unterschicht besser versorgt war als in Friedenszeiten.

Nun werden wir hoffentlich nicht so viel rationieren müssen. Trotzdem lässt sich daraus einiges für heute lernen: Um den gewaltigen Umbau zu schaffen, braucht es staatliche Planung und klare gesetzliche Regelungen. Ob dazu erst der Kapitalismus zu Ende gehen muss, wird sich zeigen. Auf jeden Fall aber wird Klimapolitik nur gelingen, wenn die Menschen fühlen, dass es gerecht zugeht. Und das wird auch die Gesellschaft grundlegend verändern.

Quelle       :           TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben        —        Auf Luftverschmutzung, wie beispielsweise hier durch ein Kohlekraftwerk, sind jährlich etwa acht Millionen vorzeitige Todesfälle zurückzuführen[142]

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Doppelmoral des Bündnisses

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Februar 2023

Zur Vorbereitung der Nachbereitung der Sicherheitskonferenz 2023

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :      Klaus Hecker

Im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz hat das Bundesministerium der Verteidigung eine Seite eingerichtet, auf der der neue Leiter der Konferenz, Christoph Heusgen, den Kern und die Bedeutung der Konferenz erläutert.

„Wir sind konfrontiert mit einem Zivilisationsbruch durch Putin“, sagte Heusgen angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine. Ausgehend davon stehe die Frage im Mittelpunkt, wie die Grundlagen der regelbasierten internationalen Ordnung erhalten und gefestigt werden könnten. „Gilt die Stärke des Rechts – oder das Recht des Stärkeren?“ – diese Frage stellte Heusgen bewusst in den Raum. Er verband sie mit dem klaren Votum, dass sich die regelbasierte Ordnung, also die Stärke des Rechts, auch weiterhin durchsetzen müsse. Es dürften sich nicht jene politischen Führer durchsetzen, die das Recht nicht achteten. Straflosigkeit dürfe es in der internationalen Ordnung nicht geben.“[1]Kritische Zeitgenossen merken zu einer solchen Argumentation häufig an:

  • der Jugoslawien Krieg 1999, der von den USA und Deutschland und anderen geführt worden ist, sei doch der erste Krieg und Bruch der europäischen Friedensordnung gewesen, explizit gegen einen russischen Verbündeten, nämlich Serbien, geführt worden. Kriegsfürst und damaliger Kanzler Schröder wies und weist immer wieder daraufhin, dass dieser Krieg ausdrücklich ohne Autorisierung durch die UNO, also somit auch gegen die UNO geführt wurde.
  • Weiterhin werden die beiden Irak-Kriege der USA angeführt und deren dreisten Kriegsbegründungslügenden von angeblichen Massenvernichtungswaffen Husseins eine Absage erteilt.
  • Das Ganze mündet dann bei meinen kritischen Genossen in dem Vorwurf der Doppelmoral an den Westen.
  • Und dieses in der Sache nicht zutreffende Narrativ ist anscheinend von solcher Hartnäckigkeit, dass es mir in Jahren mühsamer Gegenargumentation nicht gelungen ist, auch nur ein wenig Boden gut zu machen. Zu allem Überfluss bin ich auch noch davon überzeugt, dass das nicht an meiner Argumentation liegt.
  • Dieses aber zu prüfen, lieber Leser, sei dir überlassen.

Der Vorwurf der Doppelmoral unterstellt zunächst eine höhere Instanz, einen ausserhalb der Welt hockenden Richter, der wohl und gerecht abwägend beide Positionen vergleicht, prüft und beurteilt.

Diesen Richter gibt es aber nicht und es wird ihn auch nie geben. Es ist nachzuzeichnen und zu verstehen, dass die immanente Logik einer moralischen Argumentation immer den zum Gottvater kreiert, der die moralische Argumentation auf die Tagesordnung setzt. Anders formuliert: Derjenige, der sich zum Moralfürst aufschwingt, hat stets seine Massstäbe inthronisiert und will diese auch in seinem Sinne anwenden. Nun wird alles und jeder andere abgemeiert, immer streng an den eigenen Massstäben gemessen, Krieg verwandelt sich dann schon mal rasch in eine Friedensmission. Eines macht jener Moralfürst aber nie, nämlich als humanistischer, parteiübergreifender Weltgeist antreten und ggf. im Büssergewand die reichlich vorhandenen eigenen Missetaten abarbeiten.

Am Beispiel: Mit der Brandmarkung der Schändlichkeiten gegen den russischen Dissidenten Nawalny ist doch niemals gemeint, dass die hiesigen Opfer, wie etwa Assange oder Muhammad Abu Jamale jemals freigesprochen werden. Im Gegenteil: Sie beschmutzen unser System und gehören bestraft. Irgendwie logisch, oder? Mit der Aussage, dass Putin die eurpäisch Friedensordnung gebrochen habe, ist doch nicht angedacht, jetzt zu überlegen, ob der Westen nicht auch schon, vielleicht sogar öfters oder permanent die so friedliche Friedensordnung gebrochen hat bzw. bricht.

Hier hat keiner was vergessen oder nicht bedacht, wie oft interpretiert. Vielmehr und positiv gewendet: Mit der schlichten Ignorierung der eigenen Taten in der Vergangenheit definiert die neue Konferenzleitung programmatisch,

  • dass sie selbst die Hausherren sind,
  • es demzufolge unsere Ordnung ist,
  • die wir schlechterdings nicht übertreten können, die anderen aber schon und dauernd,
  • d.h., jetzt geht es erst richtig los. Das ist genau genommen die Ankündigung einer gnadenlosen Offensive,
  • Moral dient also – immer dazu – in Freund und Feind zu sortieren und nicht – wie im Bild der Justitia eingemeisselt -, Gleiches gegen Gleiches auszuwiegen

Und wenn dann noch der Ewald-von Kleist-Preis vergeben wird:

„Der Ewald-von-Kleist-Gründerpreis, der traditionell bei der Münchner Sicherheitskonferenz verliehen wird, soll laut Heusgen in diesem Jahr an Schweden und Finnland gehen. Damit werde die Bewerbung der beiden Staaten um die NATO-Mitgliedschaft gewürdigt.“[2]

Den NATO -Gürtel noch weiter um Russland schnallen, also weitere Kriegsgründe schaffen, erhält hier den Rang eines Kulturgutes. Ist das jetzt Doppelmoral, Stichwort Kubakrise? Oder wäre es vorstellbar, dass Mexiko und Venezuela einem russischem Pakt beitreten – plus weiteren 16 USA Anrainerstaaten – könnten, ohne dass die USA aufs Schärfste intervenieren würden.

Nein, natürlich nicht! Dennoch keine Doppelmoral. Vielmehr einsinnig und stringent schwingt sich hier der Westen auf, seine Werte praktisch werden zu lassen. Besser umgekehrt formuliert: Die weltweite Ausbeutung lässt sich ja keiner freiwillig gefallen. Sie muss also militärisch abgesichert werden. Es geht offenbar um gegensätzliche Interessen, denen ein kriegsträchtiges Potential inhärent ist. Und das heisst nichts Gutes.

Die Realität überholt gelegentlich die Satire, bei der ihrerseits angesichts der gegenwärtigen Weltlage nicht wirklich Freude aufkommt. Sonst hätte ich gesagt: Finstere Zeiten, in denen ein Krieg aus Versehen erklärt wird und aus Sicht der Kritiker ein 3.Weltkrieg sich in seinem inneren Kern als auf einer Doppelmoral fussend begründet, was wie gezeigt, nicht einmal den Rang einer Erklärung, sondern eher den einer Entschuldigung für sich beanspruchen kann.

Das ist nicht gut und schon gar nicht hilfreich: Wie eifrig und konsequent dagegen Deutschland seit Jahren auf eine globale militärische Präsenz hinarbeitet, zeige ich in dem angehängten Artikel „Ein kleiner Zwerg will nach oben“[3] verfasst zur Münchner Sicherheitskonferenz 2020.:Vor allem auch – „warum“.

Fussnoten:

[1] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/sicherheitskonferenz-im-zeichen-russischen-angriffs-auf-ukraine-5583370

[2] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/sicherheitskonferenz-im-zeichen-russischen-angriffs-auf-ukraine-5583370

[3] https://www.unsere-zeitung.at/2020/02/26/ein-fleissiger-zwerg-will-nach-oben/

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —     

Description Secretary of State Antony J. Blinken meets foreign ministers of the G7 nations in Munich, Germany, on February 18, 2023. [State Department photo by Ron Przysucha/ Public Domain]
Date
Source Secretary Blinken Meets Foreign Ministers of the G7 Nations
Author U.S. Department of State from United States
Public domain This image is a work of a United States Department of State employee, taken or made as part of that person’s official duties. As a work of the U.S. federal government, the image is in the public domain per 17 U.S.C. § 101 and § 105 and the Department Copyright Information.
U.S. Department of State official seal.svg

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Unten      —       Munich, Germany (February 17, 2023) Homeland Security Secretary Alejandro Mayorkas gave remarks during a lunch with other senior intelligence officials in Munich, Germany, at the HypoVereinsbank. (DHS photo by Sydney Phoenix)

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Droht Gefahr für Taiwan?

Erstellt von DL-Redaktion am 17. Februar 2023

WIE GEFÄHRDET IST TAIWAN WIRKLICH?

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Von Tom Stevenson

Dass die Vereinigten Staaten und die Volksrepublik China globale Konkurrenten sind, steht außer Zweifel. Weniger klar ist, was diese Konkurrenz ausmacht und welche Gefahren sie birgt.

China hat sich in relativ kurzer Zeit das militärische Instrumentarium einer Weltmacht zugelegt. Auf den gigantischen Werften von Dalian, Bohau und Jiangnan laufen serienweise Kriegsschiffe vom Stapel. Das wird von der etablierten Seemacht USA natürlich als Herausforderung wahrgenommen. Anfang 2021 machte die Meldung Furore, dass die chinesische Kriegsmarine seit dem Vorjahr erstmals über mehr Schiffe verfügte als die U.S. Navy – wobei es allerdings, was die Größe, die militärischen Ausstattung und die Aufgaben der Schiffe betrifft, nach wie vor erhebliche Unterschiede gibt.

Auch räumlich rücken die chinesische und die US-amerikanische Kriegsflotte einander immer näher. Die USA entsenden, zusammen mit Großbritannien, Flugzeugträger und andere Kriegsschiffe in die Gewässer rund um Taiwan. Das mutet an wie eine Wiederholung jener Rivalität zwischen der Kaiserlichen Deutschen Marine und der Royal Navy, die 1914 in den Ersten Weltkrieg mündete.

Chinesische Fregatten beschatten US-Zerstörer bei ihrer Durchfahrt durch die Formosa-Straße. Unter Präsident Trump wie unter Präsident Biden haben die USA ihren strategischen Fokus auf Taiwan als den wahrscheinlichsten künftigen Krisenherd gelegt.

Auf taiwanischem Boden ist inzwischen ein kleines Kontingent von US-Soldaten stationiert. Im August 2022 reiste Nancy Pelosi, die damalige Sprecherin des Repräsentantenhauses, zu einem groß angekündigten Besuch nach Taipeh, mit dem sie offenbar die Führung in Peking ärgern wollte, ohne eine allzu heftige Reaktion zu provozieren. Der Besuch Pelosis steht damit sinnbildlich für eine Krise in den chinesisch-amerikanischen Beziehungen, die immer wieder am Horizont zu erahnen war, ohne je richtig sichtbar zu werden.1

Der Gedanke, dass eine Invasion Chinas in Taiwan eine reale Gefahr darstellt, bereitet Washington seit 2020 ständige Sorgen. Bis dahin war man davon ausgegangen, dass sich Peking an die Taiwan-Doktrin des früheren Staats- und Parteichefs Hu Jintao (2003–2013) halten würde, der 2004 das Motto ausgegeben hatte: „Um Verhandlungen bemühen, bereit sein zu kämpfen, keine Angst haben zu warten.“

Diese Leitlinie änderte sich während Trumps Regierungszeit. Damals stellte China eine Antischiffsrakete in Dienst, die selbst US-Flugzeugträger bedrohen konnte, während Washington eine Handelspolitik betrieb, die auf eine Konfrontation zwischen der chinesischen und der US-amerikanischen Industrie hinauslief.

Die Regierung Taiwans war damals der Ansicht, dass das chinesische Militär zu einer Invasion der Insel nicht in der Lage sei. So sah es auch die einschlägige Kommission des US-Kongresses.2 Das hielt gewisse Kreise in Washington nicht von der Behauptung ab, die Führung in Peking hege die „Hoffnung“, Taiwan in den nächsten Jahre erobern zu können.

Im März 2021 machte Admiral Philip Davidson – als damaliger Oberbefehlshaber der US-Truppen in der Indo-Pazifik-Region (USINDOPACOM) – die viel beachtete Voraussage, das könnte bereits 2027 der Fall sein. Anfang Oktober 2021 warnte Taiwans Verteidigungsminister Chiu Kuo-cheng, eine Invasion sei bereits ab 2025 möglich. Und Anfang Februar 2023 sagte CIA-Chef William Burns man verfüge über Informationen, wonach Xi Jinping seinem Militär befohlen habe, sich bis 2027 auf eine Invasion Taiwans vorzubereiten.

All diese düsteren Einschätzungen haben allerdings den Fehler, dass sie allein der militärischen Logik folgen. Was ihnen fehlt, ist eine Analyse der chinesischen Außenpolitik und erst recht eine Einschätzung der taiwanischen Innenpolitik.

Die wahren strategischen Absichten Chinas zu entziffern, ist für den Westen schwierig genug. Und das umso mehr, seit die Clique um Staats- und Parteichef Xi Jinping die Entscheidungsabläufe immer stärker zentralisiert hat. So kann man heute nach Belieben „offizielle“ – und oft genug vage – Äußerungen zitieren, die sich als Beleg für finstere Machenschaften „der Chinesen“ eignen. Dabei sagen selbst Chinas intellektuelle Falken wie der „konservative Sozialist“ Jiang Shigong von der juristischen Fakultät der Universität Peking, China operiere innerhalb des vom amerikanischen Imperium gesteckten Rahmens.

Xi selbst hat sich zur Taiwan-Frage nur selten geäußert. Anfang Januar 2019 erklärte er, die Wiedervereinigung bleibe ein zentrales Ziel auch in der „Neuen Ära“ Chinas. Xi bekannte sich allerdings auch zur Strategie der friedlichen Entwicklung, die sein Vorgänger Hu Jintao verfolgt hatte. Die einzige eindeutige Aussage von Xi lautet, dass die Vereinigung mit Taiwan „unvermeidlich“ vor 2049 stattfinden werde.

Es gibt gute Argumente für die Annahme, dass China zumindest in nächster Zeit nicht versuchen wird, eine Invasion zu starten. Die Strategie Pekings gegenüber Taiwan basierte stets darauf, passiv Druck auszuüben. Es war immer wichtiger, die Möglichkeit einer formellen Unabhängigkeitserklärung Taiwans auszuschließen, als eine Vereinigung zu erzwingen – die freilich seit 1949 das offizielle Ziel aller chinesischen Führer war und ist.

Es gibt auch keine überzeugenden Beweise dafür, dass sich das unter Xi groß geändert hätte. Statt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie China die Position der USA in Ostasien oder den Status Taiwans infrage stellen kann, zielt sein Ehrgeiz auf ein anderes Projekt: den Aufstieg Chinas zur Hightech-Großmacht.

Laut der China-Expertin Bonnie Glaser, die das „Indo-Pazifische Programm“ des German Marshall Fund leitet, besteht die chinesische Strategie eher darin, „bei den Menschen in Taiwan ein Gefühl der Verzweiflung auszulösen und sie zu der Ansicht zu bewegen, dass der einzig gangbare Weg für sie der Anschluss an das chinesische Festland ist“.

Die strategischen Köpfe in Washington treibt eine andere Befürchtung um: dass die globale Vormachtstellung der USA durch den Verlust ihres De-facto-Protektorats Taiwan ins Wanken gebracht werden könnte. So vermutet etwa Rush Doshi, Direktor der China-Abteilung des National Security Council (NSC), dass China letztlich die USA in ganz Ostasien ablösen will. Er befürchtet, Washington könnte seinen hegemonialen Einfluss auf Japan und Südkorea verlieren, der dafür sorgt, dass sich die Eliten dieser Länder – ähnlich wie die Eliten in Europa – an der westlichen Großmacht orientieren.

In den USA geht man davon aus, dass China derzeit über 400 Atomsprengköpfe und 300 Interkontinentalraketen verfügt und dass die sechs chinesischen U-Boote, die mit atomwaffenfähigen Raketen bestückt sind, ständig in den Gewässern Ostasiens unterwegs sind. Die U.S. Navy verfügt über Unterwassersensoren, mit denen die Bewegungen der chinesischen U-Boote an den Einfahrten zum Südchinesischen und im Ostchinesischen Meer verfolgt werden können.

Außerdem verfügen die USA über ein weitaus größeres Atomwaffenarsenal als China. Deshalb setzen einige Washingtoner Strategen nach wie vor auf die Fähigkeit eines Atomschlags gegen China – wie er in den strategischen Planungen vor 2000 vorgesehen war.

Insgesamt fehlt bei vielen Diskussionen um das Thema China/Taiwan die Einsicht, dass die Präsenz des US-Militärs im ostasiatischen Raum nach wie vor dominant und für China bedrohlich ist. In den USA dient die Bedrohung Taiwans durch China zum einen als Rechtfertigung, um Ansprüche bestimmter Waffengattungen an den Militärhaushalt zu rechtfertigen. Zum anderen ist sie auch ein Leitprinzip, an dem sich die langfristige strategische Planung für Ostasien und die Pazifik-Region orientiert.

Die Gefahr einer Invasion in Taiwan war und ist – unter Trump wie unter Biden – die zentrale Begründung für eine neue Strategie der Konfrontation. Wie Bonnie Glaser im Gespräch erläutert, gab es insbesondere in Trumps Amtszeit sogar Anzeichen dafür, dass die USA ihre Ein-China-Politik aufgeben könnten – mit der möglichen Folge einer Krise in der Formosa-Straße.

„Inkonsistente Äußerungen und Aktionen haben zu einer gewissen Verwirrung hinsichtlich der Ein-China-Politik geführt“, meint Glaser. Dennoch kommt sie in ihrer Analyse der politischen Situation in China und Taiwan zu dem Schluss, dass „die Gefahr eines Krieges, zumal in den nächsten fünf Jahren, niedrig bleibt“.

Selbst unter rein militärischen Gesichtspunkten würde China bei einer Taiwan-Invasion vor erheblichen Schwierigkeiten stehen. Die massive US-Militärpräsenz in der Region ist das eine Problem, das andere ist die komplizierte Logistik einer amphibischen Landungsoperation.

Um die Küste Taiwans zu erreichen, müsste die chinesische Kriegsflotte die 180 Kilometer breite Straße von Formosa überqueren, also zwölf Stunden unterwegs sein. Die anschließende amphibische Landung wäre ein riskantes Unternehmen, und zusätzlich erschwert durch die seichten Küstengewässer und die engen Buchten. Schon während der Überfahrt wären die chinesischen Schiffe dem Beschuss durch gegnerische Raketen, Artillerie und Flugzeugen ausgesetzt.

Taiwan hat zwar mit dem Bau von eigenen U-Booten begonnen, verfügt derzeit aber lediglich über zwei Exemplare modernerer Bauart. Und die neuen werden nicht vor 2030 einsatzfähig sein. Doch Chinas Kriegsmarine hätte bei einer amphibischen Invasion mit den US-Atom-U-Booten zu rechnen, denen sie nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat. Und selbst wenn die Landeoperation gelingen sollte, müsste sie den Widerstand der taiwanischen Armee überwinden.

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Die Bevölkerung Taiwans lebt überwiegend im Westen der Insel Formosa. Die Infrastruktur dort ist viel dichter als im Osten, der von einer üppig bewaldeten, fast 4000 Meter hohen Gebirgskette beherrscht wird – ungeeignetes Gelände für eine Invasion und ihren nötigen Nachschub. Es gibt keine Bahnlinien in Ost-West Richtung und nur wenige Straßen.

Die Invasoren wären also auf Schiffe angewiesen, die in der Formosa-Straße den Angriffen feindlicher U-Boote und Raketen fast schutzlos ausgeliefert wären. Ohnehin ist zweifelhaft, ob China über genügend Landungsschiffe verfügt. Nach einer vorsichtigen ­Schätzung müsste seine Kriegsmarine mindestens 300 000 Soldaten nach Formosa übersetzen, derzeit könnte sie pro Landungswelle allenfalls 20 000 schaffen.

Dieses Argument kontern US-Militärexperten mit dem Hinweis, dass China auf seine aus Fischern rekrutierte „Seemiliz“ und auf zivile Fangschiffe zurückgreifen könnte. In seinem jüngsten Report über die chinesische Militärmacht verweist das Pentagon erstmals auf chinesische Manöver, bei denen zivile RoRo-Schiffe3 zum Einsatz kamen.

Taiwans Militärhaushalt macht knapp über 2 Prozent des BIPs aus und beinhaltet erst seit Kurzem Mittel für die Territorialverteidigung. Wenn China sicher sein könnte, dass die USA sich nicht an der Verteidigung Taiwans beteiligen, hätte Taipeh kaum eine Chance auf erfolgreichen Widerstand. Das heißt: Für Peking ist das zentrale Problem nach wie vor die Stärke der US-Kriegsmarine.

Owen Cote jr., Mitarbeiter am Security Studies Program des Massachusetts Institute of Technology (MIT), beschreibt das militärische Problem, das sich für die Chinesen aus dem Zusammenwirken zwischen „unsichtbaren“ US-Atom-U-Booten und von Flugzeugen abgeschossenen Antischiffsraketen (Long Range Anti-Ship Missiles, LRASM) ergibt: Die chinesischen Militärs wissen, dass U-Boote der U.S. Navy ihre Landungsschiffe versenken können; und sie wissen auch, dass ihre Flugabwehr außerstande ist, die von B-1- oder B-52-­Bombern abgefeuerten LRASMs abzufangen.

Laut Cote jr. steht die chinesische Kriegsmarine vor einem Dilemma: Würde sie die Landung mit Schiffskonvois durchführen, die man gegen die US-U-Boote schützen müsste, wären die eskortierenden Kriegsschiffe anfällig für LRASM-Angriffe. Würden sie ihre amphibische Landungsopera­tion dagegen auf einzelne Schiffe verteilen, wären diese nicht vor den U-Boote geschützt.

Obwohl ein kurz bevorstehender chinesischer Angriff vorausgesagt wird: Die Probleme, die sich bei einer Invasion ergeben würden, sind in US-Militärkreisen ein offenes Geheimnis. Aber um eine Taiwan-Krise auszulösen, braucht es nicht unbedingt eine militärische Invasion. Peking könnte mit einer Invasion auch lediglich drohen, um Taipeh gefügig zu machen und den Status der Inseln als De-facto-Protektorat der USA scheibchenweise zu unterminieren. Um eine für China günstigere politische Lösung der Taiwan-Frage zu erzwingen, könnten anstelle einer Invasion schon Maßnahmen wie die Bedrohung der vorgelagerten taiwanischen Inseln bis hin zu einer Seeblockade Formosas ausreichen.

Vor einem solchen Szenario können die USA die Taiwaner nicht so gut schützen, musste Cote jr. auf meine Frage hin zugeben: Das Hauptinstrument der Chinesen wären landgestützte bewegliche Raketen. Um diese aufzuspüren und anzugreifen, müssten die USA ihre Awacs-Flugzeuge einsetzen. Das wiederum wäre nur möglich, wenn sie das chinesische Luftabwehrsystem nicht nur stören, sondern zerstören würden. Deshalb sollten die USA gegenüber Taiwan „keine Sicherheitsgarantien abgeben, die sie womöglich nicht einlösen könnten“, meint Cote.

Eine Seeblockade Taiwans würde in jeder Hinsicht eine Megakrise auslösen. Denn im Gegenzug könnten die USA versuchen, China vom internationalen Handel abzuschneiden – und das nicht nur mittels finanzieller und wirtschaftlicher Sanktionen, sondern auch mit militärischen Mitteln.

China importiert große Mengen von Nahrungsmitteln und fossilen Energieträgern. Um diese Importe zu behindern, könnte die US-Kriegsmarine den Schiffsverkehr durch die Straße von Malakka (zwischen Sumatra und der Malaiischen Halbinsel) unterbrechen, die allerdings in der Reichweite chinesischer Raketen liegt. Aber die USA könnten Öllieferungen nach China auch an ihrer Quelle am Persischen Golf blockieren.

Die Schwächen der chinesischen Marine

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KEINER WARS GEWESEN

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Februar 2023

Corona-Kommandeure: Irre irrten gern

So winkt eine politische Winkerkrabbe ihren Fans zu.

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

„Was Schwachsinn gewesen ist, wenn ich so frei sprechen darf, sind diese Regeln draußen (gewesen)“, sagt der Haupteinpeitscher des profitablen Corona-Schwachsinns, Karl Lauterbach, heute. Er führt eine Riege von Zurückruderern an, die für die Lockdowns, die ungesunden Maskeraden und das Gesangsverbot ebenso verantwortlich waren, wie für die Angstmacherei durch täglich hämmernde Inzidenz-Verkündungen, wie das Verbot, Sterbende zu besuchen. Alles angeblich im Namen der Gesundheit, aber in Wirklichkeit im Auftrag der Pharma-Industrie, die ihre gefährlichen Spritzstoffe in die Arme von Millionen gesunder Menschen drücken wollte und daran blendend verdiente.

Da habe ich mich halt geirrt

In der ZEIT, die in der Zeit der Corona-Repression nie den Mund aufgemacht hat, nichts zu schreiben wußte gegen die Gleichschaltung der Medien oder die Liquidierung der wissenschaftlichen Debatte; in dieser ZEIT „bekannten“ jüngst 25 Menschen „Da habe ich mich geirrt“. Von Ministerpräsidenten über Wissenschaftsjournalisten bis zu Ärztefunktionären tun die 25 heute so, als wären sie damals irrtümlich bei Rot über die Straße gegangen. Dass eine nicht kleine Zahl ihrer Irrtumsopfer heute auf Friedhöfen liegt? Denn die angeblich heilbringenden Stoffe von Biontech oder AstraZeneca oder Moderna wurden hoppla-hopp entwickelt, ohne die notwendigen mehrjährigen Placebo-kontrollierten Studien. Und die EU-Kommission hat im Oktober 2022, an allen gesetzlichen Regeln vorbei, Millionen Menschen als Versuchstiere derPharma-Industrie vor die Spritzen getrieben. Und nur dafür war der „Irrtum“ gut: Mit Panikmache und Hysterie wurde ein profitables Pharma-Marketing betrieben.

Lesen wir jetzt Entschuldigungen?

Der NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) zum Beispiel quasselt von einem anonymen WIR: „Wir haben jede Bewegung in jedem Friseursalon, Kosmetik- und Tattoostudio reglementiert, bis ins allerletzte Detail.“ WIR? Der Feigling kann nicht mal ICH sagen, obwohl er als Ministerpräsident an der Spitze einer Corona-Befehlskette gestanden hat, die jeden Bürger drangsalierte. Der Ministerpräsidentin von Mecklenburg Vorpommern, Manuale Schwesig (SPD) fällt jetzt ein: „Die Schließung der Spielplätze war ein Fehler“. Jetzt, wo in einem „Abschluss-Bericht von Familienministerin Lisa Paus (GRÜNE) und Gesundheitsminister Karl Lauterbach festgestellt wird, dass 73 Prozent aller Minderjährigen noch immer durch Corona psychisch belastet sind, das manche Kinder in der ersten Klasse keinen Stift halten können. Das waren doch die Paus und Konsorten, die im August 2022 ultimativ die Maskenpflicht in Schulen forderten und mit diesen gesundheitsschädlichen Lappen unseren Kinder das Lächeln aus dem Gesicht wischten. Unseren Kinder hat man die Spielplätze mit rotweißem Unfallbändern abgesperrt, unseren Kindern hat man den Kontakt zu ihren Freunden brutal verboten, unseren Kindern hat man drei Jahre lang einen geregelten Schulunterricht gestohlen. Lesen wir jetzt Entschuldigungen? Hat man von Wiedergutmachung gehört? Keineswegs.

RKI-Funktionär Lothar Wieler schummelt bis heute

Bis heute schummmelt der RKI-Funktionär Lothar Wieler: „Es gab nie nur die Alternative: Entweder wenige Tote oder Schulen offen halten“. Die Bande lügt bis heute. Es gab Alternativen: Zum Beispiel den Gouverneur des US-Bundesstaates Florida, Ron DeSantis, der Geschäften, die Kunden ohne Masken, Tests oder Impfungen abwiesen, sogar empfindliche Geldbußen androhte. Seine Philosophie als Gouverneur sei es, die „individuelle Freiheit zu schützen“, sagte er. Jeder solle selbst seiner Gesundheit Schmied sein. Der Präsident von Belarus, Aljaksandr Lukaschenka nannte die angebliche Pandemie sogar eine „Corona-Psychose“ . Und? Gab es in diesen Ländern signifikant mehr Tote als in anderen Ländern? Nein. Aber damit hatte man doch die Menschen weltweit in die Todesangst getrieben, mit dem „Killervirus“.

Kein Killervirus!

Und wenn ein Wissenschaftler, ein Epidemiologe, vor Uli Gellermanns Kamera sagte, dass das Coronavirus eben kein Killervirus sei, dann wurde sein Video auf YouTube gelöscht, und er bekam Berufsverbot. Heute sagt der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar, der damals eine Sendung über die „Pandemie“ nach der anderen machte, in der ZEIT: Es „hätte mich eines noch stutziger machen müssen: wie wenig wir bei den Corona-Toten darüber wussten, wie viele Menschen wirklich an (nicht nur mit) Covid gestorben waren“. Damals zählte jeder Krebstote, jedes Unfallopfer und jeder Schlaganfall als Corona-Toter, wenn man auch nur in seiner Nähe das Virus festgestellt hatte. Wer Obduktionen forderte, um die Todesursachen zweifelsfrei festzustellen, galt als Leichenfledderer. Der angebliche Kampf gegen Corona war in Wirklichkeit nicht nur ein Kampf gegen die Demokratie, sondern auch gegen die medizinische Wissenschaft.

Linke: Mit Corona verstorben

Heute erfährt man vom thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow „Am schlimmsten aber waren für mich die Schulschließungen. Wir hätten die Schulen und Kindergärten während der zweiten Welle offen halten müssen. Da sind wir als Landesregierung von der Hysterie getrieben worden, und Hysterie ist nie ein guter Ratgeber.“ Dass Ramelow die Hysterie unterstützt hat, sieht man nicht nur daran, dass er lieber mit den Wölfen heult statt sie zu jagen, sondern auch an der über alle Medien verbreiteten Verleumdung aller Maßnahmenkritiker: Die seien irgendwie „rechts“. Im Mai 2022 wußte zum Beispiel die „DEUTSCHE WELLE: „Impfgegner, Demokratiefeinde und Verschwörungstheoretiker demonstrieren gemeinsam gegen Deutschlands Corona-Politik“. Wer sich die Demonstrationen selbst anschaute, sah eine Mischung von Menschen, die er auch bei jedem Bundesligaspiel hätte sehen können. Aber selber sehen? Bloß nicht, man hätte ja der Wahrheit ins Gesicht sehen müssen. Und spätestens seit Corona weiß man, dass die Wahrheit krank macht. Und an der Lüge starb dann auch die deutsche Linke.

Es gibt Virologen und Virolügner

Jonas Schmidt-Chanasit ist einer der Virologen, der führend an der Corona-Panikmache beteiligt war. Dem fällt heute in der ZEIT ein: „Vielleicht habe ich mich deshalb in der Folge zu wenig gegen Schul- und Kita-Schließungen engagiert.“ Zu wenig? Gar nicht! Mit dem Mogelwort „vielleicht“ wird immer gern gelogen. Viola Priesemann, 40, ist Physikerin und berechnete viele Corona-Modellierungen. Die wagt, heute zu sagen: „Ich habe mich lange gefragt, woher die Missverständnisse in den Corona- Debatten kommen. Mir war es als Modelliererin wichtig, Faktengrundlagen zu liefern – deren politische Bewertung ist nicht meine Aufgabe. Irgendwann ging mir auf, dass oft Fakten und Wertung vermengt werden“. Vermengt, vermanscht, verdorben: Die Physikerin hat sich zur Dienerin von Pharma-Industrie und Politik gemacht. Dass ihr das heute erst aufgeht, ist billig.

Mein Arm gehört mir!

Andere Präsenter der Coronalügen waren sicher nicht billig. Die Scharf- und Mitmacher in Politik und Kultur wie Frau Wagenknecht, die jämmerlich von ihrem Mann Herrn Lafontaine zu erzählen wusste, dass der schon geimpft sei oder Herr Nideggen von BAP, der zwar von der Kristallnacht zu singen weiß, aber die Nacht nicht sehen kann, wenn sie finanziell gut ausgeleuchtet wird und der seinen Arm für ein Plakat der Pharma-Industrie gern unter die Spritze hielt. Demonstrativ und plakativ gespritzt hat auch Alice Schwarzer, von der man gehofft hatte, dass sie sagen würde: Mein Arm gehört mir! Wie wurde sie für das Spritz-Poster entlohnt? Haben die sich alle irgendwie bloß geirrt? Nein, sie haben mitgemacht. Sie waren Werbeträger, sie haben der unmenschlichen Spritzen-Kampagne ein menschliches Antlitz gegeben, sie alle gehören vor ein ordentliches Gericht. Aber das wird es nicht geben, weil die Gerichte, bis hin zum Bundesverfassungsgericht, das die Bundesnotbremse durchwinkte, Corona-korrupt sind. Es wird ein Volks-Tribunal geben müssen, das dem guten Recht der Bürger zu seinem Recht verhilft.

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Oben      —    Prof. Dr. Karl Lauterbach (Gesundheitspolitischer Sprecher, SPD), Foto: <a href=“http://www.stephan-roehl.de“ rel=“nofollow“>Stephan Röhl</a> Tagung „Wie geht es uns morgen?“ in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin

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Zukunftsfeste Investitionen

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Februar 2023

Und täglich grüßt das Murmeltier…

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Suitbert Cechura

Arbeitsplatzrettung bei Galeria Karstadt-Kaufhof – ein Dauerstress, damit sich Zukunftsinvestitionen rentieren!

Ständig gibt es in Deutschland Entlassungen und damit sehen sich deutsche Gewerkschaftler ständig gefordert, Arbeitsplätze zu retten. Zurzeit ist dies wieder einmal bei Galeria Karstadt-Kaufhof (GKK) der Fall. „Mit der zweiten Insolvenz in Eigenverantwortung innerhalb von zwei Jahren hat die Galeria-Geschäftsleitung bei den rund 17.500 Beschäftigten massive Zukunftsängste ausgelöst“, hieß es aus der Verdi-Gewerkschaft Ende letzten Jahres (ver.di publik, Nr. 8/22). Von der zuständigen Verdi-Kommission hörte man auch, sie habe „viele Ideen, wie die 131 Niederlassungen zukunftsfest werden könnten.“

Da irritiert es auch gar nicht groß, dass das letzte Rettungsprogramm 4.000 Stellen gekostet hat (https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/rene-benko-signa-kaufhaeuser-101.html ). In den Augen der Gewerkschaft heißt das eben, dass auf diese Weise 17.500 Stellen gerettet wurden (https://www.rp-online.de/wirtschaft/warenhauskonzern-verdi-will-mit-galeria-ueber-neuen-tarifvertrag-verhandeln_aid-78655825 ). Und diese Rettungsanstrengungen ziehen sich bereits seit dem Jahr 2000 hin (https://www.manager-magazin.de/unternehmen/handel/galeria-karstadt-kaufhof-wie-aus-konkurrenten-die-kaufhaus-gruppe-galeria-wurde ), mal bei Karstadt, dann bei Kaufhof, wobei im Laufe der Jahre vom GKK-Konzern alle Konkurrenten geschluckt wurden. Dafür wurden immer so viele Arbeitsplätze gerettet, wie die Unternehmen glaubten, für ein lohnendes Geschäft gebrauchen zu können. Das waren übrigens in früheren Zeiten mal einige Hunderttausend…

Das „Unternehmen auf Kurs bringen“

Jetzt ist wieder mal eine Kalkulation nicht aufgegangen und es stehen wieder Arbeitsplätze zur Disposition, damit das nächste Rettungsprogramm an, bei dem klar ist, dass es wieder viele Arbeitnehmer das Einkommen und damit die ökonomische Existenz kosten wird. Denn eins ist in diesem Rettungswesen eine ausgemachte Sache: Beschäftigung gibt es nur dann und zu den Bedingungen, wenn und insofern sich die Investition in Löhne und Gehälter für das Unternehmen lohnt, also bewirkt, dass aus dem investierten Geld mehr Geld wird. Und die Maßstäbe dafür, ob das gelingt, gelten als unverrückbare Sachzwänge, die auch eine Gewerkschaft akzeptieren muss.

So klagt das Unternehmen z.B. über hohe Mieten, die die Gewinnrechnung belasten. Denn dass Immobilienbesitzer aus ihrem Besitz – also aus der Verfügungsmacht über ein Stück Land – einen Gewinn erzielen, ist eine der Bedingungen, dass es überhaupt Beschäftigung im Warenhausbereich gibt. Das Handelsgeschäft muss eben nicht nur die Gewinne der Investoren von GKK erwirtschaften, sondern auch gleich das Gewinninteresse der Immobilienbesitzer befriedigen. Und da trifft es sich gut, dass die Signa-Gruppe von René Benko sowohl Eigentümer von[einigen Immobilien wie auch von Galeria Karstadt-Kaufhof ist. Das gibt ihr die Freiheit, sollte sich das Warenhausgeschäft an einzelnen Orten nicht lohnen, die Immobilien in anderer Weise zu verwerten und zu einer Einnahmequelle zu machen (tagesschau.de, 27.1.21)

Dass die Einkommen und damit die Existenz von Arbeitnehmern an diesen Kalkulationen hängen, ist schlichtweg Fakt. Dagegen haben Gewerkschafter nichts einzuwenden, im Gegenteil, wegen der Abhängigkeit sorgen sie sich in Form von Betriebsräten um nichts anderes als um das Gelingen des Geschäfts und damit um das Aufgehen der Gewinnkalkulation. Dabei behandeln sie die Einkommen ihrer Mitglieder, also der Beschäftigten als eine Masse, die zur Sicherung der Gewinne eingesetzt werden kann. Und so stellen sie bei jeder Rettungsaktion das Einkommen der von ihnen Vertretenen zur Disposition. Insofern unterscheiden sie sich eigentlich nicht von der Geschäftsleitung, der sie immer wieder vorhalten, das Geschäft zu vergeigen. Von der Verdi-Gewerkschaft war z.B. zu hören, Galeria habe eine „motivierte Belegschaft“, die „schon Riesensummen in die Zukunft des Unternehmens investiert“ habe und „die ihr Unternehmen auf Kurs bringen will“ (ver.di publik).

Während das Interesse des Unternehmens, seinen Reichtum zu vermehren, als ein Sachzwang akzeptiert wird, gilt dies für die Arbeitnehmerseite nicht. Dass diese bei der Bestreitung ihres Lebensunterhalts auch mit jeder Menge Sachzwänge – an den Supermarktkassen, Tankstellen oder bei den Mieten … – konfrontiert wird, stellt eine flexible Größe dar, deren Stellenwert jeweils auszutesten ist. Wenn Verdi darauf verweist, dass die Beschäftigten von GKK in der Vergangenheit bereits auf Teile ihres tariflichen Einkommens sowie auf Weihnachts- und Urlaubsgeld verzichtet haben und dies „für eine Galeria-Verkäuferin in Vollzeit einen jährlichen Verlust von rund 5500 Euro bedeute“ (rp-online, 20.10.22), so übt sie damit keineswegs Selbstkritik. Sie will auf diese Weise vielmehr anmahnen, dass die Mitarbeiter mit diesem Verzicht – eigentlich – ein Anrecht auf Weiterbeschäftigung hätten.

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Mit ihrem bisherigen Engagement für einen Sanierungstarifvertrag hat die Gewerkschaft ihren Mitgliedern ein solches Anrecht suggeriert, einen einklagbaren Anspruch haben die Beschäftigten damit aber nicht erworben. Das hindert die Gewerkschaft nicht daran, gleich ihre Verhandlungsbereitschaft für einen neuen Tarifvertrag zu bekunden, da Galeria Karstadt-Kaufhof den Sanierungstarifvertrag gekündigt hat. Das fiel dem Unternehmen nicht schwer, denn diese Möglichkeit war bereits mit dem Abschluss des Vertrages von Verdi für den Fall fehlender Gewinnen zugestanden worden. Trotzdem wird diese Kündigung nun tränenreich beklagt.

Zukunftsfeste Investitionen

Bevor ein neuer Tarifvertrag abgeschlossen wird, hat der Gesamtbetriebsrat schon im Rahmen der Arbeitsplatzrettung die Bedingungen für die anstehenden Entlassungen vereinbart: „Für die zu schließenden Häuser hatte Galeria bereits angekündigt, dass es dort betriebsbedingte Kündigungen geben werde. Als Entschädigung wurden zwei Monatsgehälter, aber maximal 7500 Euro mit dem Gesamtbetriebsrat vereinbart.“(https://www.waz.de/wirtschaft/galeria-amtsgericht-essen-eroeffnet-das-insolvenzverfahren-id237519277 )

Verdi will nun mit Galeria über ein „existenzsicherndes Einkommen“ verhandeln. Wo da die Grenze für die Existenzsicherung verläuft, lässt sich nach oben leicht bestimmen: Sie darf das Geschäft von Galeria nicht belasten. Was dies nach unten bedeutet, ist nur schwer auszumachen; schließlich gilt auch Hartz IV oder das neue Bürgergeld als Existenzsicherung. Und schon der letzte Tarifvertrag hatte ja nicht die Existenz der Beschäftigten von GKK gesichert, schließlich wurde die Inflation in keiner Weise ausgeglichen, also der Reallohn gesenkt. Das hieß für die so Bezahlten, dass sie gezwungen waren, sich weiter einzuschränken – in Zeiten, wo allenthalben die Senkung der Lebensstandards, „wegen Putin“, als nationale Pflicht verkündet und von den Gewerkschaften auch ohne große Gegenwehr hingenommen wird (https://www.gew-ansbach.de/data/2022/08/Bernhardt_Schillo_Auch-das-noch-Putin_verarmt_und_spaltet_uns.pdf).

Und so werden dann wohl bald viele nach gesenktem Lohn in die Arbeitslosigkeit entlassen, wobei der abgesenkte Lohn wiederum die Rechengrundlage für das Arbeitslosengeld bildet. So zahlt sich Arbeitsplatzrettung aus – für einen „Investitionsplan, damit die Standorte für die Zukunft ausgerichtet sind“ (ver.di publik)!

Zuerst erschienen im Overton-Magazin

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Oben      —   Murmeltier auf dem Mount Dana, Yosemite, Kalifornien, USA.

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Blues und Bäume

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Februar 2023

In der Krisenwelt an Schönes denken

Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Die ökologische, die politisch-soziale und die kulturelle Katastrophe verstärken einander. Kann man da noch an etwas denken, was einfach schön ist?

Worüber könnte man nicht alles sinnieren und sprechen in dieser Welt! Zum Beispiel von einer neuen Generation von afroamerikanischen Bluesmusikern, die eine traumhafte Balance zwischen Tradition und Aktualität finden: King Solomon Hicks, Christone Kingfish Ingram, Buffalo Nichols oder auch – white female soul – Veronica Lewis. Oder, ganz was anderes, über kulturelle Vagina-Repräsentationen jenseits von pfui und geil, im „Einfach schön“-Modus vielleicht.

Da könnte man sich einen Abstecher in die Legende eines Gemäldes leisten, welches das Arbeitszimmer von Sigmund Freud geschmückt haben soll, aber beständig verhangen werden musste, zumal, wenn weibliche Besucher zu empfangen waren: Gustave Courbets „Der Ursprung der Welt“ aus dem Jahr 1866, mit 46 mal 55 cm nicht eben eine Miniatur zum Verstecken – und auch der Titel ist ein späterer Euphemismus, während man das Gemälde so beschnitten hat, dass das Gesicht der Frau verloren ging … Welch ein mytho-poetischer Horrorslapstick!

Die Trennung des Geschlechts vom Menschen, die mehr oder weniger gewaltsame Allegorisierung und dann dieses panisch-komische Spiel von Ver- und Enthüllungen im Geburtshaus der Psychoanalyse – als Symptom, vielleicht, der phallomanischen Moderne des mitteleuropäischen Bürgertums. Schließlich könnte man über Gegenwärtigkeit als Kunst-Ziel nachdenken. In unserer Kunst, in Literatur und Film wird die Gegenwart scharf angesehen, doch sie schaut als etwas Fremdes und Fernes zurück. Als wäre der Preis für genauere Darstellung der Gegenwart der Verzicht auf Gegenwärtigkeit.

So führte vielleicht ein Schlenker über Virginia Woolf oder James Joyce – womöglich auf weniger ausgetrampelte Pfade zu Erkenntnis und Glück. Aber ach, die Verhältnisse, sie sind nicht so. Wir leben, wieder einmal, in finsteren Zeiten. Und in denen müssen sich Themen wie diese den Vergleich mit den Bäumen aus Bert Brechts Gedicht gefallen lassen, von denen zu sprechen fast einem Verbrechen gleichkommt, weil es ein Schweigen über so viel anderes bedeutet. Wir leben in einer dreifachen Katastrophen-Erzählung, und kaum einem Gedanken kann und darf es noch gelingen, sich von der Bindung an dieses unheilige narrative Dreieck zu trennen:

Dreiklang der Katastrophe

Die ökologische Katastrophe. Unabwendbar. Offenbar nicht trotz, sondern noch beschleunigt durch eine Teilnahme der Grünen und ihrer Klientel an Regierung und Diskurs. Ist es noch fünf nach zwölf oder doch schon zehn nach? Die politisch-soziale Katastrophe. Offensichtlich ebenfalls unabwendbar. Der Aufstieg der populistischen Autokratien einschließlich ihrer Gewalt- und Kriegslüsternheit und die furchtbare Allianz von Neoliberalismus, Populismus und „Post“-Faschismus … Wenn man sich in Italien umsieht, weiß man nicht, was erschreckender ist, der Aufstieg der Rechtsextremen zur Regentschaft, der desolate, wenn nicht suizidale Zustand der Linken oder die narzisstische Ignoranz der Mainstream-Gesellschaft.

Diesseits der Alpen haben wir statt Meloni, Berlusconi und Salvini ein Trio infernale von Lindner, Söder und Merz, und die Linke … reden wir von was anderem, nämlich von der kulturellen Katastrophe. Das ist eine Bildungskatastrophe, eine semantische Katastrophe und eine Katastrophe der kulturellen Infrastruktur. Die Ver-Bild-ung und Verdschungelcampung hat längst auf die einstigen „bürgerlichen“ Leitmedien übergegriffen, auf die demokratische Utopie vom Zugang zu Bildung, Kultur und Kritik für alle ist das populistische Marketing von Verblödung für alle gefolgt.

Wechselwirkungen

Der Trick der Dreifach-Katastrophe liegt in ihren Wechselwirkungen. Auf der einen Seite verstärkt jede der Krisen die beiden anderen. Verblödete Menschen sind nicht in der Lage, die ökologische oder politische Krise zu bearbeiten; angstzerfressene Menschen sind nicht in der Lage, Kultur als Medium der sozialen Verbesserung zu begreifen; Prekarisierung macht allenthalben erpressbar. Und zum anderen führt jeder Fortschritt an einer der Katastrophen-Fronten, wie es scheint, automatisch zur Verschlechterung der Lage an den anderen. Mit jedem ökologischen oder kulturellen Fortschritt, und sei er noch so bescheiden, lockt man weitere Kräfte von der „konservativen“ auf die faschisierte Seite; für jeden noch so bescheidenen Schritt der sozialen Gerechtigkeit verlangt die politisch-ökonomische Agentur des Kapitals ein ökologisches Opfer.

Quelle        :        TAZ.online        >>>>>        weiterlesen

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Netzneutralität gefährdet:

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Februar 2023

EU-Kommission will Geldhahn für Netzbetreiber öffnen

Graue Haare – krauser Sinn, was könnte hier gutes herauskommen ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

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Netzbetreiber wie Telekom oder Vodafone könnten von Youtube, Netflix & Co. bald Gebühren verlangen, das plant die EU-Kommission mit einem aktuellen Gesetzesvorhaben. Jetzt zeigt ein internes Dokument: Die breite Kritik stößt bei der EU wohl auf Desinteresse.

Geht es nach Plänen der EU, könnten Online-Dienste wie Netflix oder Youtube künftig Geld dafür zahlen, dass ihre Angebote viel Bandbreite benötigen. Das Vorhaben wird nun konkreter: Noch im Februar soll eine öffentliche Konsultation starten, die den geplanten Gesetzentwurf abrunden soll. Im Vorfeld zirkuliert nun ein Entwurf des Fragenkatalogs, über den zuerst die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet hatte. Wir veröffentlichen das Dokument im Volltext.

Insbesondere große Netzbetreiber wie Telekom Deutschland oder Orange wünschen sich solche Zugangsgebühren. Ihnen zufolge müssten sie die hohen Kosten für den Ausbau von Breitbandnetzen tragen, würden aber nur geringe Erträge einfahren. Abhilfe schaffen soll eine Umverteilung, die aus Sicht der Betreiber für mehr Fairness sorgt: Demnach sollen beliebte und Bandbreiten-intensive Internet-Dienste zur Kasse gebeten werden. Das Modell heißt „Sending Party Network Pays“, kurz SPNP. Kritiker:innen warnen hingegen vor der Abschaffung der Netzneutralität, sollte dieses Modell eingeführt werden.

„In Zeiten, in denen Tech-Konzerne die meiste Bandbreite verbrauchen und die Renditen der Netzbetreiber fallen, stellt sich die Frage, wer für die Infrastruktur der nächsten Generation bezahlen soll“, sagte der EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton gestern in Helsinki. Schon die jüngst verabschiedete Erklärung für digitale Grundrechte habe deutlich gemacht, dass alle Marktakteur:innen einen „fairen und angemessenen Beitrag“ leisten sollten, so Breton.

Schäden für Internet-Ökosystem befürchtet

Die Debatte hatte der Branchenverband ETNO im Vorjahr losgetreten. Seitdem wird darüber gerätselt, ob die EU-Kommission tatsächlich ernsthaft das SPNP-Modell erwägt. Diesen Ansatz hatte die Branche in der Vergangenheit wiederholt vorgeschlagen, war damit jedoch stets gescheitert. Zuletzt nahmen europäische Regulierungsbehörden im Herbst das SNPN-Modell unter die Lupe und warnten erneut vor „signifikanten Schäden für das Internet-Ökosystem“, sollte es eingeführt werden. Bereits mehrfach wurde die Vorstellung eines konkreten Gesetzentwurfs oder einer Konsultation verschoben.

Der Entwurf des Fragenkatalogs gibt nun erstmals einen konkreten Einblick, welche Richtung die EU-Kommission einschlagen will. Abgeklopft werden vor allem für die Industrie relevante Fragestellungen, etwa, um wie viel Prozent sich der jährliche Datenverbrauch erhöht hat oder wie die Umverteilung möglichst effizient ausgestaltet sein könnte. In den Katalog hat es auch eine denkbare Fonds-Lösung geschafft, die der Betreiberverband Breko (Bundesverband Breitbandkommunikation) ins Spiel gebracht hatte.

Gefahren für Netzneutralität ausgeblendet

Die Auswahl der Fragen stößt auf Kritik. „Der Fragebogen der Kommission ignoriert die vielen offenen Fragen im Interesse der Nutzer:innen“, sagt Thomas Lohninger von der Organisation für digitale Grundrechte epicenter.works. „Die Gefahren für die Netzneutralität, den Konsumentenschutz oder für Medienvielfalt bekommen keinen Platz.“ Dies sei keine öffentliche Konsultation, um etwas zu lernen und die Sinnhaftigkeit von möglichen Maßnahmen zu diskutieren, sondern nur um etwas bereits Beschlossenes zu rechtfertigen, so der Netzaktivist.

Auch der EU-Abgeordnete Tiemo Wölken (SPD) erkennt eher „Realitätsverzerrung“ als den Versuch, evidenzbasierte Politik zu machen. Die Fragen würden sich vornehmlich an große Tech-Unternehmen und große Netzanbieter richten. „Das erzeugt den Eindruck, dass es hier um einen Interessensausgleich zwischen zwei Parteien gehe“, so Wölken.

Tatsächlich kritisieren Organisationen aus unterschiedlichen Bereichen den geplanten Vorschlag, von Verbraucherverbänden über Medienunternehmen bis hin zu den Netzregulierern selbst. Das Resultat sei erdrückend, so Wölken: „Außer den großen Netzanbietern scheint niemand viel von den Netzgebühren zu halten.“ Dass die Mehrheit der Kritiker:innen jetzt in der Konsultation durch tendenziöse Fragen mehr oder weniger ausgeschlossen werde, sei bedauerlich.

EU-Kommission will internationale Konzerne stärken

Offenkundig hat die EU-Kommission ein Interesse an möglichst großen, europaweit operierenden Netzbetreibern. In Helsinki kritisierte Breton die „Fragmentation in Europa mit suboptimalen Geschäftsmodellen, die auf nationalen Märkten basieren“. Das hemme das „kollektive Potenzial“ im Vergleich mit anderen Kontinenten.

Breton glaubt an einen „echten Binnenmarkt für Telekommunikationsdienstleistungen“. Dazu seien aber neue Geschäftsmodelle und eine grenzüberschreitende Konsolidierung notwendig, ohne den Wettbewerb zu beschädigen. In anderen Worten: Betreibern wie der Telekom Deutschland soll es einfacher gemacht werden, Wettbewerber aufzukaufen und weiter zu wachsen.

Für Lohninger ergeben viele der Fragestellungen nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass der wirtschaftliche Profit der Telekomindustrie überhaupt ein zentrales Anliegen der EU sein sollte. „Jedoch werden die Netze hauptsächlich von den kleineren Internetanbietern ausgebaut und eben nicht von den großen Multi-Milliarden-Konzernen, die als Aktienunternehmen jedes Jahr enorme Gewinne schreiben“, sagt Lohninger.

EU-Kommissar Breton war ehemals Chef von France Télécom – heute heißt der Konzern Orange und wäre einer der Profiteure des neuen Gesetzes. Lohninger kritisiert: Breton scheine das Interesse einer Multi-Milliarden-Industrie weitaus wichtiger zu sein als das aller anderen Stakeholder. Noch sei es aber nicht zu spät. „Breton braucht für sein Vorhaben Einstimmigkeit innerhalb der EU-Kommission und damit wäre es an allen anderen Kommissar:innen, ihn noch zu stoppen, ein Gesetz vorzuschlagen.“

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben      —         Thierry Breton à la Global Conference

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Februar 2023

Scholz durch Südafrika, FPÖ und Bali – Wien ist immer noch Wien

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Hasnain Kazim

In Brasilien steht Scholz bedröppelt da, Gottfried Waldhäusl von der FPÖ gibt sich fremdenfeindlich – und die Letzte Generation ist geflogen.

Frau Dr. Bohne, meine Hündin und Assistentin, fragt mich: „Was bedeutet eigentlich der Spruch ‚Gute Miene zum bösen Spiel machen‘?“ Ich antworte ihr: „Es bedeutet, etwas Unangenehmes notgedrungen und widerwillig hinzunehmen, ohne es sich anmerken zu lassen.“ Bohne ist irritiert. „Warum sollte man so etwas tun?“, fragt sie. Das war mir klar, dass sie das nicht versteht. Impulskontrolle ist nicht so ihr Ding. Menschen haben das besser drauf als Hunde.

Olaf Scholz zum Beispiel. Ich erzähle ihr, dass der deutsche Bundeskanzler diese Woche auf Südamerika-Tour war. Dort traf er unter anderem den brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Der Brasilianer schien bald ein Jahr nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine immer noch nicht ganz kapiert zu haben, wer schuld an diesem Konflikt ist. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz sagte Lula allen Ernstes: „Ich habe nicht ganz verstanden, wer diesen Krieg angefangen hat.“ Scholz stand ziemlich bedröppelt da. „Bedröppelt?“, fragt Bohne. „Ja, bedröppelt. Das sagt man so, wenn man unerwartet in Verlegenheit gebracht wird.“

Jedenfalls machte Scholz da gute Miene zum bösen Spiel. Er beschwor, und das wirkte dann etwas bizarr, ständig eine „klare gemeinsame Haltung“ Deutschlands mit Brasilien und umarmte Lula umso herzlicher. „Warum tat er sowas?“, will Bohne wissen. „Ganz einfach: Scholz will Fortschritte beim Freihandel, außerdem sucht Deutschland neue Rohstoffquellen, und deshalb musste das Treffen unbedingt ein Erfolg werden, Ukraine hin, Russland her.“ Bohne staunt. „Ihr Menschen seid wirklich merkwürdige Wesen“, sagt sie. „Fast möchte ich sagen: charakterlos.“

„Den Eindruck kann man in der Tat haben“, antworte ich. Ich erzähle ihr von dem österreichischen Politiker Gottfried Waldhäusl von der in Teilen rechtsextremistischen FPÖ, der diese Woche in einer Talkshow von einer Schülerin gefragt wurde, wie er eigentlich die Schließung der EU-Außengrenzen bewerkstelligen wolle, was die FPÖ ständig fordere.

Was für a deppata Oasch

„Wenn Sie Ihre Maßnahmen schon vor Jahren umgesetzt hätten, würde die Hälfte dieser Klasse das Gymnasium in Wien heute nicht besuchen. Was sagen Sie dazu?“, fragte die Schülerin. Waldhäusl antwortete: „Wenn das schon lange geschehen wäre, dann wäre Wien noch Wien.“ Bohne schaut mich schockiert an. „Was für a deppata Oasch, Volltrottl, bleeder“, sagt sie und lässt die Wienerin raushängen. „Und wieder ‚gute Miene zum bösen Spiel‘?“

„Nein, zum Glück nicht“, sage ich. Und zähle auf, dass doch Menschen aus allen Richtungen diesen Typen kritisiert haben: Seine Aussage sei rassistisch, menschenverachtend, eine Unverschämtheit, vor allem und gerade gegenüber einer Schülerin, der Typ sei untragbar und spreche Menschen mit Migrationsgeschichte pauschal die Existenzberechtigung in Wien ab. Eine konservative Ministerin sagte, sie sei „fassungslos“. Ihr fehlten „eigentlich die Worte“, weil sie das „an die dunkelsten Kapitel in der Geschichte dieses Landes“ erinnere. Ich sage zu Bohne: „Eine gute Miene hat da zum Glück niemand gemacht.“

Qielle       :       TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Das Leben im FDP – Clan

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Februar 2023

Tamedia überspielt Strack-Zimmermanns Interessenkonflikte

Strack-Zimmermann.jpg

Nur ein munteres Farbenspiel? Das Grau verdeckt das Republikanische Braun ?

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Von       :    Urs P. Gasche /   

Tages-Anzeiger, Bund etc. portraitierten die FDP-Politikerin, ohne ihre militärpolitischen Engagements beim Namen zu nennen.

Sie sei «Scholz’ mächtigste Gegenspielerin», titelten die Tamedia-Zeitungen am 3. Februar. Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann kritisiere «des Kanzlers Zögerlichkeit schärfer als jede Opposition». Der Berliner Korrespondent Dominique Eigenmann bezeichnete die 64-Jährige als «schlagfertig und streitbar, sachlich und kompetent». Kritiker meinen, dass Strack-Zimmermann weniger sachlich als emotionalisierend rede.

Wer die Meinung äussere, schrieben die Tamedia-Zeitungen weiter, Strack-Zimmermann würde Deutschland «in eine militärische Auseinandersetzung hineinreden», wie es etwa der «bekennende Pazifist Rolf Münzenich» tue, der kritisiert die FDP-Frau nicht etwa, sondern er «ätzt».

Ihr Engagement in militärpolitischen Organisationen übergehen die Tamedia-Zeitungen. Lediglich in einem einzigen Satz erwähnte Eigenmann, dass «andere» versuchen würden, «sie als Lobbyistin der Rüstungsindustrie zu diffamieren».

Einen Tag nach dem Tamedia-Zeitungen titelte der Blick ebenfalls: «Sie ist Kanzler Scholz’ gefährlichste Gegenspielerin». Auch der Blick erwähnte nur kurz, viele würden Strack-Zimmermann für eine Rüstungslobbyistin halten: «Beweise dafür gibt es allerdings nicht.»

Ob Lobbyistin oder nicht: Es geht um mögliche Interessenkonflikte. Um welche es sich handelt, erfahren die Leserinnen und Leser der Tamedia-Zeitungen und des Blick nicht. Deshalb sei dies hier nachgeholt.

Der militärisch-industrielle Komplex

Eigentlich müssten Medien bei Militär- und Rüstungsfragen besonders scharf auf mögliche Interessenkonflikte schauen und Verbindungen zu Lobby-Organisationen offenlegen. Denn in Ländern mit einer starken Rüstungsindustrie ist kaum eine Lobby mächtiger und einflussreicher als die Rüstungslobby. Sie finanziert Think-Tanks und sponsert zahlreiche Organisationen und Universitäts-Fakultäten. Sie neigt dazu, militärische Gefahren hochzuspielen, um Parlamentarier zu möglichst hohen Rüstungsausgaben zu verleiten und ihr lukratives Geschäft anzukurbeln. Ihr Informationsvorsprung ist enorm.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist in drei wichtigen Lobby-Organisationen der Rüstungsindustrie aktiv:

  1. In der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik DWT
  2. In der Deutschen Atlantischen Gesellschaft DAG
  3. Im Förderkreis Deutsches Heer FKH

1. Die Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik DWT

Strack-Zimmermann ist Mitglied des Präsidiums der DWT.

Diese Organisation der Rüstungs-Lobby knüpft Kontakte zu Mitgliedern des deutschen Bundestags. Lobbypedia schreibt über die DWT: «Die Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik (DWT) ist ein von der Rüstungsindustrie dominierter Verein, bei dessen Treffen und Diskussionsrunden Vertreter der Rüstungsindustrie, Bundestagsabgeordnete sowie Mitarbeiter des Bundesverteidigungsministeriums Fragen der Rüstungspolitik und Wehrtechnik erörtern […] Der Rahmen der DWT erlaubt der Rüstungsindustrie, bereits im Vorfeld parlamentarischer Entscheidungsprozesse, informell Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Dabei werden die Rüstungsunternehmen neben ihrem Sachverstand zwangsläufig auch ihre Interessen an aufwändigen Rüstungsprojekten einbringen. Das dauerhafte Zusammenwirken von Rüstungsunternehmen und Parlamentariern birgt die Gefahr, dass rüstungspolitische und wehrtechnische Entscheidungen von den zuständigen parlamentarischen Gremien faktisch in intransparente Gesprächsrunden verlagert werden, in denen es an der gebotenen Distanz zwischen den Abgeordneten und der Rüstungsindustrie mangelt.»

«Themen der Zeit» schreibt über den «Rüstungs-Lobbyismus im Ukraine-Krieg»:

«Im Vorstand der ‹Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik› ist der Rüstungskonzern Rheinmetall durch den Technologie-Chef Klaus Knappen vertreten. Als leitender Beamter der Bundeswehr ist Wolfgang Gäbelein im Vorstand eingebunden, seines Zeichens Amtschef des Planungsamts der Bundeswehr. Des Weiteren ein Unternehmensberater für Militär und eine Führungskraft des Weltraumlagezentrums für die Bundeswehr sowie ein IT-Spezialist für Streitkräfte und der Generalbeauftragte einer Container-Firma für das Militär.»

Im Beirat der DWT sind nach Angaben von lokalkompass.de Vertreter von Rheinmetall, Daimler und IVECO-Magirus (Militärfahrzeuge), Lockheed Martin International, Kraus Maffei Wegmann, Diehl und Airbus (Militärhubschrauber, Trägerraketen etc.), aber auch von Thales (Radaranwendungen, Satellitensysteme und Sicherheitstechnik), der Flensburger Fahrzeugbau (Panzer und Militärfahrzeuge), Dr. Müller-Elektronik (Luftfahrt und Raumtechnik, Kabeltechnologie), Rohde und Schwarz (Flugsicherung und Funkkommunikationssysteme), Plath (Funkaufklärung für die Rüstungsindustrie) sowie der Mönch-Verlag für Waffen- und Militärzeitschriften.

2. Der Förderkreis Deutsches Heer FKH

Strack-Zimmermann ist Mitglied des Präsidiums.

Zweck des FKH ist nach eigenen Angaben «das gemeinsame Bemühen um eine leistungsfähige nationale Industriebasis für die Ausrüstung des Deutschen Heeres und der deutschen Landstreitkräfte insgesamt» sowie «die Förderung der transatlantischen Zusammenarbeit».

Präsident ist Wolfgang Köpke, Generalmajor a.D. Die beiden Vizepräsidenten sind Ralf Ketzel, Vorsitzender der Geschäftsführung des Waffenkonzerns Krauss-Maffei Wegmann und Henning Otte, CDU-Bundestagsabgeordneter.

Die weiteren Mitglieder sind auf der Webseite nicht veröffentlicht.

Laut Lobbycontrol zählt der Förderkreis Deutsches Heer (FKH) neben der «Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.» (GSP) und der «Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik e.V.» (DWT) zu den wichtigsten Lobby-Verbänden der deutschen Rüstungsindustrie.

3. Die Deutsche Atlantische Gesellschaft

Seit Mai 2022 ist Strack-Zimmermann Vizepräsidentin der DAG.

Nach eigenen Angaben verfolgt die Gesellschaft folgende Ziele:

«Die Deutsche Atlantische Gesellschaft hat sich zur Aufgabe gemacht, das Verständnis für die Ziele des Atlantischen Bündnisses zu vertiefen und über die Politik der NATO zu informieren. Sie setzt sich für eine Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO und eine enge Bindung zu den beiden nordamerikanischen Demokratien ein.»

Präsident ist Christian Schmidt, bis 2021 CSU-Bundestags-Abgeordneter. Im Vorstand sitzen neben etlichen Bundestagsabgeordneten auch ehemalige Generäle und andere hohe Militärs, pensionierte Manager der Rüstungsindustrie wie beispielsweise Werner Dornisch und der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs, dessen SPD-Kreisverband in Hamburg Spenden der Rüstungskonzerne Rheinmetall und Krauss-Maffei entgegennahm. Im Vorstand sitzt ebenfalls Veronika Fucela, Präsidentin der «Youth Atlantic Treaty Association Germany». Diese hat nach eigenen Angaben zum Ziel, «den öffentlichen Dialog über die NATO und die transatlantischen Beziehungen in der jüngeren Generation in Deutschland zu fördern.» Im Vorstand ist ebenfalls Jana Puglierin, Leiterin des «European Council on Foreign Relations» (ECFR). Dieser «Think-Tank» wird finanziert von Aussenministerien verschiedener Länder Europas, dem deutschen Verteidigungsministerium und von Privaten wie den Open Society Foundations, dem Bundesverband der deutschen Industrie, verschiedenen Konzernen und der Bill & Melinda Gates Foundation. Der ECFR ist Partner der Mercator-Stiftung.

Medien machen mögliche Interessenkonflikte nicht transparent

Bei Strack-Zimmermann geht es nicht um Bestechlichkeit, aber um fehlende Sensibilität für Befangenheit und offenkundige oder mögliche Interessenkonflikte. Als führendes Mitglied dieser Organisationen verpflichtet sich Strack-Zimmermann, sich für deren Zwecke einzusetzen.

Darauf weisen die für Transparenz und Demokratie eintretende Initiative «Lobbycontrol» mit ihrer Internetplattform «Lobbypedia» sowie die Internetplattform «Abgeordnetenwatch» und die internationale Antikorruptionsorganisation «Transparency International» hin. Die Rüstungsindustrie verfüge über «sehr enge und privilegierte Zugänge ins Parlament».

Auch im ARD-Faktencheck heisst es: «Die Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik und der Förderkreis Deutsches Heer zählen neben der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V. (GSP) zu den wichtigsten Lobby-Verbänden der deutschen Rüstungsindustrie.» Die Antikorruptionsorganisation Transparency International warnte in den vergangenen Jahren immer wieder vor einer möglichen Einflussnahme der Rüstungsindustrie auf politische Entscheidungsprozesse.

Im deutschen Bundestag nahm Strack-Zimmermann wie folgt Stellung:

«Selbstverständlich bin ich als ehemalige Sprecherin für Verteidigungspolitik und nun als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses ständig im Austausch mit der Bundeswehr, der Rüstungsindustrie und daran angeschlossenen Verbänden. Das gehört zu meinem Job, und sofern alles transparent ist, ist daran auch nichts Anstössiges.»

Auf ihrer Webseite deklariert Strack-Zimmermann die Mitgliedschaften in den drei oben genannten Organisationen. Sie seien «ehrenamtlich».

Ob Lobbyistin, Interessenvertreterin oder Interessenkonflikte: Viele Leserinnen und Leser erwarten, dass grosse Medien wie Tages-Anzeiger, Der Bund, Berner Zeitung oder Blick über die engen Beziehungen von Marie-Agnes Strack-Zimmermann mit der Rüstungsindustrie nicht so oberflächlich oder bagatellisierend hinwegsehen, sondern sie transparent machen.

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Oben      —    Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Stell­vertretende Vorsitzende FDP, Bürgermeisterin Düsseldorf

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Der Holzbetrieb

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Februar 2023

Im Hamster-modus: „Brennholz ist das neue Klopapier“

Von Thomas Vogel

Putin eine lange Nase machen, soll er doch sein Gas behalten. Ersatz wächst auch bei uns vor der Türe. Wenn die Sache mit dem Brennholz nur so einfach wäre.

Die Deutschen und ihr Wald. Ein Thema, bei dem ganz, ganz viele Emotionen mitschwingen. „Wenn du ein tiefes Leid erfahren/Tief schmerzlich, unergründlich bang/Dann flüchte aus der Menschen Scharen/Zum Walde richte deinen Gang“, empfiehlt der Arzt und Dichter Ludwig August Frankl (1810-1894). Der Wald ist Trost, Zufluchtsort und in der deutschen Geschichte immer wieder Stoffspender für nationale Mythen, auch ganz fürchterliche. Vom Fällen der Baumstämme ist dabei ausdrücklich nie die Rede.

Dafür hat inzwischen sogar die russische Propaganda dieses Thema für sich entdeckt. Vergangenen November lancierte sie die Meldung in den medialen Raum, wonach die in bitterer Kälte darbende Berliner Bevölkerung bereits Hand an den Stadtpark Tiergarten lege, um ihn zu verfeuern.

Blanker Unsinn wieder mal. Zumal gutes Brennholz mindestens zwei Jahre lagern muss, um gut auszutrocknen, wie jeder Freizeitheizer mit Kaminofen-Expertise weiß. Besuch bei Gewährsmann Michael Mayr, Vollbart, verschmitzes Lächeln, verschmutzer Dienstwagen mit Waldbodenspritzern rundherum. Er ist Revierleiter in der Marktgemeinde Pfaffenhofen an der Roth in Bayrisch-Schwaben. Die Gegend ist waldreich, etwa ein Drittel der Waldflächen gehören privaten Besitzern. Mehr als 1.000 von ihnen steht er beratend zur Seite und ebenfalls fünf Gemeinden mit ihren Kommunalwäldern. Insgesamt ist er für 3.800 Hektar zuständig. Zwei Hektar beträgt die durchschnittliche Größe im Privatwald.

Das Brennholz, das aus Mayrs Beritt in den Verkauf kommt, reißen sie ihm derzeit förmlich aus der Hand. In den Wintermonaten, wenn die Bäume weniger Wasser führen, ist Hochsaison bei Waldarbeiten. Statt lieblichen Vogelstimmen hören Spaziergänger, die Erholung und Erbauung suchen, dann den grellen Aufschrei der Kettensägen und das Prasseln fallender Bäume.

Mit Beginn der Saison stand bei Mayr zeitweilig das Telefon nicht mehr still vor lauter Anfragen nach Brennholz. Mancher Private orderte unversehens die dreifache Menge. Anfragen von gewerblichen Interessenten trudelten ein, die weit außerhalb des üblichen Kundenradius ansässig sind. Die Leute, sagt Mayr, seien erneut im Hamstermodus wie in besten Coronazeiten: „Brennholz ist das neue Klopapier.“

Horten aber sei gar nicht so sinnvoll. „Holz hat zwar kein Haltbarkeitsdatum, aber es hält auch nicht ewig“. Nach ein paar Jahren, so Mayr, verliere es stark an Brennwert.

Eine zehnminütige Autofahrt oder acht Kilometer Luftlinie entfernt findet sich der nächste Stützpunkt der Waldbetreuung. Der Forstbetrieb Weißenhorn, zum staatlichen Unternehmen der Bayerischen Staatsforsten gehörend, residiert in einem historischen Forsthaus aus den 1920er Jahren am Rande der Altstadt. Ihm unterstehen die über 14.500 Hektar Staatswald in der Umgebung, was grob gerechnet mindestens ebenso vielen Fußballfeldern entspricht. Hier empfangen Forstbetriebsleiter Martin Eggert und sein Stellvertreter Christoph Kohler zum Gespräch.

Energiekrise? Aus Anlass des russischen Überfalls auf die U-kraine? Ganz weit weg, und doch ganz nah. Denn in Folge setzte auch bei ihnen ein bislang unbekannter Run auf die Holzscheite ein.

Eggert und Kohler, unprätentiöses Auftreten, dialektfreie Sprache, druckreife Ausdrucksweise, wären auch vorstellbar als Seminarleiter an einer Hochschule. Als Manager des Waldes jonglieren sie zwischen Naturbegeisterung und Zahlenwerk. Die Holzmenge, die „ihr“ Betrieb alljährlich dem Markt zur Verfügung stellt, ist imposant. Es sind insgesamt 131.000 Festmeter, wie es in der Fachsprache heißt. Einer ist ein Kubikmeter mit gestapeltem Holz. 11.000 Festmeter davon werden als Brennholz abgegeben. Doch wer als Neukunde nach einem Häppchen davon heischte, hatte zuletzt schlechte Karten. Selbst wenn die Nachfrage explodiere, werde nicht mehr Holz eingeschlagen, verlautet es aus beiden Forsteinrichtungen.

Wem gehört der Wald?

Unser Wald

Was für Wälder gibt es eigentlich? Sie lassen sich nach ganz unterschiedlichen Kategorien einteilen, zum Beispiel nach den Klimazonen, in denen sie natürlicherweise wachsen. Oder eben auch nach den Besitzverhältnissen. Und die kann man unseren Wäldern unter Umständen sogar ansehen. In den professionell gemanagten Staatswäldern, die dem Bund oder den Ländern gehören, führen im regelmäßigen Abstand von 30 Metern Rückegassen ab von den Haupterschließungswegen. Darauf verkehrt das schwere Gerät aus Harvestern und anderen Vollerntern, die mit ihrem langen Arm die Stämme von der Fläche holen können.

Die Besitzer

In Privatwäldern ist die Erschließung oft ein von den Besitzern vor sich hergeschobenes Problem. Es gibt Kleinwaldprivatbesitz und Großwaldbesitzer, darunter häufig Adelige und neuerdings vermehrt Investoren aus der Wirtschaft, darunter Aldi. Auch die Kirchen halten Waldbesitz und manche Gemeinden und Städte. So genannte Realwälder bilden eine Sonderbesitzform und eine sehr alte; dabei haben Besitzer von agrarischen Hofstellen verbriefte Rechte zur Waldnutzung: Zum Bezug von Brenn- und Bauholz ebenso wie zur Entnahme von Laub und Gras als Einstreu für die Ställe.

„Niemand plündert wegen eines momentanen Trends seinen Wald“, sagt Mayr. Wobei Privatwäldler da mehr Spielräume hätten. Doch die Waldgesetze, die etwa einen Waldfrevel verhindern sollen, gelten auch für sie.

Wenn man seine Kollegen in Weißenhorn auf das Thema Brennholz anspricht, bekommt man erst einmal einen Einführungskurs zum Thema Waldstrategie. Brennholz spielt darin nur insofern eine Rolle, dass es eben anfällt. Sei es bei der „Ernte“ von Bäumen aus dem Altbestand, sei es bei der „Durchforstung“ (Auslichtung) von dichten Jungbeständen. Dabei werden gezielt Jungbäume „entnommen“, damit es die anderen besser haben und auch Arten hochkommen können, die mehr Licht brauchen, langsam wachsen und erwünschter sind: Eichen zum Beispiel.

Rund zehn Kubikmeter Holz dürfen den Wäldern in der Region der beiden Reviere pro Hektar und Jahr entnommen werden, wenn die Nachhaltigkeitsformel Gültigkeit behalten soll. Das ist so viel, wie in dem Zeitraum auf der Fläche mit Altbestand auch wieder nachwächst. Gewähr, dass sie staatlicherseits eingehalten wird, liefert die alle zehn Jahre stattfindende Wald-inventur, nach der gegebenenfalls auch nachjustiert werden kann.

„Unser Spielraum ist allein durch gesetzliche Auflagen stark eingeschränkt“, sagt der Weißenhorner Forstbetriebschef. Anspruch sei kein geringerer, als „vorbildliche Wälder“ zu entwickeln. Im Betrieb läuft seit über drei Jahrzehnten der Waldumbau hin zu klimaresistenteren und stabilen Mischwäldern. Weg von den stark gefährdeten Fichtenmonokulturen, lautete seither die Parole, die heute im Zuge des Klimawandels aktueller denn je ist. Wenigstens fünf Baumarten sollen jetzt auf der Fläche vorkommen und möglichst alle Altersklassen. Die Strategie trägt längst Früchte.

Weiteres Ziel ist ein werthaltiges Holz aus ebenmäßigen und astlosen Stämmen. In den Sägewerken werden daraus Balken, Bretter oder Latten geschnitten, Material für Möbel, Dachstühle und vieles mehr. Zu Brennholz werde allein jenes Material, das für eine höherwertige Nutzung ausscheidet, versichert Eggert. Man kann das im Handel ofenfertig erwerben oder selbst mit Genehmigung und auf Zuteilung im Wald aufarbeiten. Die Zahl derer, die dieses Holz mit eigener Kräfte Arbeit aus dem Wald holen, sei zuletzt auffallenderweise gestiegen.

Laubbäume sind als Quelle für Brennholz ergiebiger als Nadler und für diesen Zweck eindeutig beliebter. Betriebswirtschaftlich fällt dieses ins Segment „Industrieholz“, das eine völlig unterschiedliche Verwendung findet. In der Papier- und Spanplattenindustrie ebenso wie bei der „thermischen Verwertung“.

Sowieso werden bei der Holzverbrennung die Schlünde immer gieriger. Da sind zum einen die privaten Kaminöfen, die das Heizen zu Hause mit der Gemütlichkeitssteigerung verbinden. Dazu kommen aber viele weitere Verbrenner, von Zentralheizungen, die Pellets verschlingen, über Hackschnitzelanlagen für Blockheizkraftwerke bis hin zu Großanlagen im Fernwärmebereich.

Die zur Verfeuerung genutzte Holzmenge habe sich seit 1990 glatt verdreifacht, führt der Bund Naturschutz in Bayern (BUND) an.

Quelle         :        TAZ-online             >>>>>         weiterlesen

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Oben       —     Beseitigung der Fichte am Rande eines Naturschutzgebietes in Form eines Kahlschlags

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Agora statt Sneakerladen

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Februar 2023

Für Städte könnte das eine Chance sein

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Ein Debattenbeitrag vin Svenja Bergt

Galeria Karstadt Kaufhof ist mal wieder in der Krise und die Einkaufsmeilen klagen zunehmend über Leerstand. Manche Einkaufsstraßen bieten nicht einmal in nennenswertem Umfang attraktive Sitzgelegenheiten.

An Feiertagen und eigentlich schon an einem ganz gewöhnlichen Sonntag könnte man in vielen Innenstädten, Fußgängerzonen oder Shoppingmalls einen Science-Fiction-Film drehen. Eine von diesen Weltuntergangsdystopien, in denen sich böse Roboter, Aliens oder Lavamassen durch die Straßen schieben. Doch weit und breit kein Mensch. Die Rollgitter des Mode-Flagshipstores heruntergelassen, das Innere des Kaufhauses dunkel und die Bildschirme des Elektronikmarkts blinken ihre Werbung einsam in die Winterdämmerung. Konsumorte, die ohne Konsum ihre Daseinsberechtigung verloren haben.

Das jüngste Wiederaufflammen der Dauerkrise beim Warenhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof – alleine das Namenskonglomerat erzählt die Geschichte des Desasters – bringt es wieder in Erinnerung: das Sterben der Innenstädte. Lange schon wird beklagt, dass die betroffenen Einkaufszonen nicht nur längst mausetot, sondern bereits zu Fossilien geworden sind und wieder ausgegraben werden müssten.

Und so finden die Pa­lä­on­to­lo­g:in­nen bei der Untersuchung der Fossilien gleich eine Reihe an Todesursachen. Da wären: Die weitgehende Vereinheitlichung der Einkaufsstraßen mittels immer gleicher Ketten, so dass man, mit verbundenen Augen ausgesetzt, nach dem Abnehmen der Augenbinde auf Anhieb kaum sicher sagen könnte, ob man sich nun in Essen, Ulm oder Leipzig befindet. Die Verlagerung des Einkaufserlebnisses auf die grüne Wiese, was leider weder zu Vielfalt noch zu alternativen Konzepten in den Stadtzentren führte. Die Profitgier der Investor:innen, die auf eine zu vermietende Innenstadtfläche lieber den vierten Flagshipstore setzen, weil der mehr Umsatz und damit mehr Profit für die Im­mo­bi­li­en­ei­gen­tü­me­r:in­nen bringt als ein Café oder eine Bücherei. Der Online-Handel, der die Parameter Verfügbarkeit, Auswahl und Bequemlichkeit viel besser adressieren kann als jeder Laden vor Ort.

Schauen wir uns einmal um: Orte zum Verweilen? Zum Zusammenkommen? Orte ohne Konsumdruck? Manche Einkaufsstraßen bieten nicht einmal in nennenswertem Umfang attraktive Sitzgelegenheiten. Und wenn, dann gerne diese Bänke mit Armlehnen in etwa 40 Zentimetern Abstand, auf dass ja niemand auf die Idee kommt, sich dort hinzulegen. Von Orten mit Aufenthaltsqualität jenseits der Zehn-Minuten-Fast-Food-Pause zwischen Schuhladen und Drogeriekette ganz zu schweigen.

Und nun die beiden Meteoriten, die ultimativ für das Aussterben der shoppingzentrierten Monokulturen sorgen könnten: die Pandemie. Und die Inflation. Zwar zeigten die Januar-Zahlen des GfK-Konsumbarometers eine leichte Steigerung der Kauflaune. Doch das Niveau bleibt niedrig. Viele Menschen halten ihr Geld zusammen – freiwillig oder gezwungenermaßen. Die Marktforschung konstatiert, dass der Preis als Kaufargument in einem Rutsch auf Platz eins gelandet ist – Geschmack oder Qualität sind abgestiegen. Rund 70 Prozent der Kommunen klagen laut dem EHI Retail Institute über Leerstand in den Einkaufszonen. Und Galeria Karstadt Kaufhof plant einen massiven Stellenabbau und Filialschließungen.

Doch vor diesen Entwicklungen und den Folgen schließen viele Beteiligte lieber die Augen. Galeria Karstadt Kaufhof soll – nach einem ordentlichen Schrumpfungsprogramm – in einigen Jahren wieder schwarze Zahlen schreiben. Aus Unternehmensperpektive ist diese Strategie nachvollziehbar, auch Firmen haben systemische Selbsterhaltungsbestrebungen.

Was nicht nachvollziehbar ist, ist die Weigerung in weiten Teilen der Politik, jenseits punktueller Projekte darüber nachzudenken, was für die Konsumorte jenseits des Bekannten möglich wäre. Wie es weitergehen soll, wenn an die Stelle des Überkonsums etwas anderes treten muss. Was es bedeutet, wenn die über Jahrzehnte festgefahrene Funktion der Innenstadt als kommerzielles Zentrum zunehmend obsolet wird.

Denn aus kapitalistischer Sicht kann man die Veränderungen zwar bedauern – aus gesellschaftlicher Sicht sind sie begrüßenswert. Schließlich wird so Raum frei. Nicht nur physischer Raum. Sondern auch Raum, darüber nachzudenken, welche Funktionen, welchen Sinn eigentlich solche stadtpolitisch attraktiven Orte erfüllen sollten. Von Kultur über Wohnen bis zur Nahversorgung gibt es da einiges, was für eine Gesellschaft gewinnbringender wäre als eine Abfolge exklusiver Sneakers-, Elektronik-, und Interiorläden.

Quelle      :      TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —       Galeria Kaufhof Köln. Hohe Str./Ecke Gürzenichstr. Ehemals „Warenhaus Leonhard Tietz“ Architekt: Wilhelm Kreis.

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Lücken im Gesetz

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Januar 2023

Neues Lieferkettengesetz

Ein Debattenbeitrag der Gastkommentarin  JULIANE KIPPENBERG

Ausgerechnet Deutschland will zertifizierte Unternehmen nicht für Fahrlässigkeit haften lassen. Doch auch die Zertifikate selbst sind problematisch.

Anfang des Jahres ist das Lieferkettengesetz in Deutschland in Kraft getreten – ein wichtiger Schritt, um Menschenrechte in globalen Lieferketten zu schützen. Aber das Gesetz hat einen entscheidenden Schwachpunkt: Ihm fehlt eine Regelung, nach der Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen haften, die sie durch Missachtung ihrer Sorgfaltspflichten verursacht haben.

Das in der Europäischen Union geplante Lieferkettengesetz, das 2023 in die entscheidende Phase der Verhandlungen kommt, soll laut Entwurf der EU-Kommission weitergehen und Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen haftbar machen. Doch ausgerechnet Deutschland setzt sich für eine massive Verwässerung ein. Die Bundesregierung plädiert nämlich dafür, dass Unternehmen, die zertifiziert sind, von der Haftung für Fahrlässigkeit ausgenommen werden.

Sozialaudits, Prüfungen der Richtlinien und Norm­anforderungen, und Zertifizierungssyste­me haben in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen; jedoch zeigt sich immer wieder, dass Audits für Zertifizierungen nicht selten gravierende Probleme übersehen oder missachten. So können sich Unternehmen mit Zertifizierungen und Siegeln schmücken, obwohl sie sich fahrlässig oder unverantwortlich verhalten.

Ein Fall aus Brasilien illustriert dies: Am 25. Januar 2019 brach der Staudamm einer Eisenerzmine in Brumadinho, mehrere Millionen Kubikmeter giftiger Minenschlamm töteten mindestens 270 Menschen. Nur vier Monate zuvor hatte das brasilianische Tochterunternehmen des deutschen Zertifizierers TÜV SÜD den Damm für stabil erklärt. Das Bergbauunternehmen hatte die Prüfer unter Druck gesetzt, die Sicherheit des Staudamms trotz offensichtlicher Risiken zu bescheinigen. Das ergab eine Untersuchung durch den brasilianischen Kongress.

Schlupfloch „Safe Harbour“

Ende 2022 hat sich der Ministerrat der Europäischen Union auf eine gemeinsame Position für das EU-Lieferkettengesetz geeinigt. Deutschland hatte sich im Vorfeld für eine „Safe Harbour“-(Sicherer Hafen)-Klausel eingesetzt. Diese würde die zivilrechtliche Haftung für Unternehmen abschwächen, die sich an freiwilligen Branchen- oder Industrieinitiativen beteiligen. Der Vorschlag stieß auf wenig Gegenliebe bei den anderen EU-Staaten und wurde schließlich abgelehnt.

Damit ist das Thema indes nicht vom Tisch: In einer vertraulichen Protokollnotiz hat die Bundesregierung angemerkt, dass sie weiter an ihrer Forderung festhält und beabsichtigt, dem Gesetz in den entscheidenden Verhandlungen am Ende des EU-Gesetzgebungsprozesses nicht zuzustimmen, wenn es keine „Safe Harbor“-Regelung beinhaltet. Damit stellt die Bundesregierung die Interessen von Unternehmen über die der Opfer von Rechtsverletzungen entlang globaler Lieferketten – und bricht Wort mit dem Bekenntnis des Koalitionsvertrags zu einem wirksamen Lieferkettengesetz.

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Die zivilrechtliche Haftung ist ein wichtiges Mittel, mit dem Betroffene vor nationalen Gerichten in Europa ihr Recht einklagen können und mit dem Katastrophen, wie sie in Brasilien geschehen ist, verhindert werden können. Aber sie muss auch für Unternehmen gelten, die auditiert und zertifiziert sind. Audits haben oft massive Mängel: Sie werden innerhalb weniger Tage vorgenommen, sind oft oberflächlich und geben keine Gelegenheit zu vertieften Untersuchungen oder vertraulichem Kontakt mit Betroffenen.

Wenn Firmen die Audits selbst bezahlen, besteht die Gefahr, dass „wohlgesonnene“ Prüfer den Auftrag bekommen. In einigen Fällen haben Firmen darauf gedrängt, dass Auditberichte geschönt und Informationen über unternehmerisches Fehlverhalten weggelassen wurden. Hunderte von Menschen sind bei vermeidbaren Katastrophen an Arbeitsplätzen ums Leben gekommen, an denen zuvor Sozialaudits und Zertifizierungen vorgenommen wurden.

Der Dammbruch in Brumadinho in Brasilien ist nur ein Beispiel. Ein Fabrikbrand bei Ali Enterprises in Pakistan im Jahr 2012 und der Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes in Bangladesch im Jahr 2013 sind weitere Beispiele für verheerende Tragödien an Standorten, die geprüft oder zertifiziert wurden. Kinderarbeit und andere gravierende Menschenrechtsverletzungen werden ebenfalls von Audits sehr häufig nicht aufgedeckt – unter anderem weil Audits oft nur ein paar Tage lang sind.

160 Millionen Kinder arbeiten

Quelle         :       TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Khaleda was working in the Rana Plaza building when it collapsed on 24 April 2013. “There were 10 to 12 of us trapped under the rubble, we thought that we were going to die,“ says Khaleda. „We were saying goodbye to each other. I was rescued from the collapse after being buried for 16 hours.“ Khaleda was treated for her injuries and later on received rehabilitation support from the UK aid funded Centre for the Rehabilitation of the Paralysed (CRP). She was also able attend a 3-month vocational skills training by the UK funded ILO programme and now works as a dress maker. “I want to open my own tailoring shop in the future; ultimately I would like to become self-employed. After the training, my confidence has increased and I have enough courage and experience to manage a shop.” For more details of the UK’s work on improving safety and working conditions in the ready made garment sector in Bangladesh read our news story: www.gov.uk/government/news/rana-plaza-one-year-on-uk-aid-… Picture: Narayan Debnath/DFID

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Die Armen zahlen für Reiche

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Januar 2023

Für ihre Superjachten zahlen Milliardäre keine CO2-Abgaben

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Quelle      :        INFO Sperber CH.

Von      :          Pascal Derungs /   

Die EU weitet den CO2-Emissionshandel aus, auch der Schiffsverkehr wird künftig einbezogen. Doch die Superreichen werden verschont.

Ein Mensch in Deutschland verursacht im Schnitt etwa elf Tonnen Treibhausgase pro Jahr, dieselbe Menge produziert eine Superjacht bereits nach einem Dutzend Fahrstunden. Im Jahr können es mehrere Tausend Tonnen CO2 werden. Dennoch sollen die Besitzer oder Mieter von Jachten nach NDR-Informationen weiterhin von einer Ausnahmeregel im CO2-Emissionshandel profitieren. Infosperber fasst im Folgenden die relevantesten Fakten und Erkenntnisse des NDR-Berichts zusammen.

Stossende Ungleichbehandlung im Emissionshandel

Seit 2005 müssen einige grosse Industriebetriebe Zertifikate für ihren Treibhausgas- Ausstoss kaufen, seit 2012 auch Luftfahrtunternehmen für innereuropäische Flüge. Nun wird die EU dieses System ausweiten. Auch der Strassenverkehr und Gebäude sollen erfasst werden, ebenso der Schiffsverkehr. Allerdings müssen ab 2024 nur für sehr grosse Passagier- und Frachtschiffe ab 5000 Bruttoregistertonnen CO2-Zertifikate erworben werden. Für «nicht-gewerbliche Betreiber oder reine Freizeitboote» gelte das nicht, unabhängig von der Grösse. Das teilte die EU-Kommission auf Anfrage des NDR mit. Davon profitieren selbst Milliardäre mit ihren riesigen Schiffen, wenn sie sie selber nutzen. Dabei sind die Emissionen gigantisch.

Superjachten sind wahre Treibhausgas-Schleudern

Das haben unter anderem die beiden US-Wissenschaftler Beatriz Barros und Richard Wilk untersucht. Sie haben die Emissionen von 20 Milliardären weltweit analysiert. «Unter den zahlreichen Besitztümern von Milliardären sind grosse Superjachten die mit Abstand grössten Verursacher von Treibhausgasen», schreiben Baros und Wilk. «Superreiche Jachtbesitzer verursachen an einem Sommertag mehr Umweltverschmutzung als die Mehrheit der Menschen in ihrem ganzen Leben, doch die Politiker lassen sie weiterhin ungeschoren davonkommen», kritisiert auch Jacob Armstrong von der Nichtregierungs-Organisation «Transport & Environment». Er hat analysiert, für welche Mengen an Treibhausgasen Jachten insgesamt verantwortlich sind. Demnach gibt es etwa 1500 grössere Jachten in Europa, die im Schnitt je etwa 725 Tonnen CO2 pro Jahr ausstossen. Sie würden weiter vom Emissionshandel ausgenommen bleiben, so Armstrong. Die EU-Kommission verweist darauf, dass grosse gewerbliche Charter-Jachten unter das EU-Emissionshandelssystem fallen, doch das dürften nur sehr wenige sein. In den Top-Listen der grössten Jachten der Welt finden sich vielleicht fünf Schiffe in dieser Grösse (ab 5000-Bruttoregistertonnen), die zum Chartern angeboten werden.

«Bürokratischer Aufwand zu gross»

Als Begründung dafür, warum die meisten Schiffe beim Emissionshandel aussen vor bleiben dürfen, heisst es von der EU, die grossen Fracht- und Passagierschiffe jenseits der 5000-Bruttoregistertonnen-Grenzen seien für 90 Prozent der Emissionen im Schiffsverkehr verantwortlich. Um kleinere Schiffe ebenfalls zu erfassen, sei der bürokratische Aufwand zu gross.

Laut NDR-Bericht hatte das Europäische Parlament vorgeschlagen, den CO2-Preis einfach auf den getankten Treibstoff aufzuschlagen, ähnlich wie es auch jetzt schon in Deutschland im Strassenverkehr geschieht. Aber das hätten die anderen Institutionen der EU, der Rat und die Kommission, wegen «zu grossem administrativem Aufwand» abgelehnt. Es sei offenbar das Ziel, Besitzern von kleineren Privatbooten, Fischern oder etwa Betreibern von Inselfähren keinerlei zusätzlichen Kosten aufzubürden.

Auch Privatjet-Besitzer bleiben verschont

Auch bei Privatjets werden Ausnahmeregeln weiter bestehen bleiben, besagt ein weiterer NDR-Bericht. Viele Betreiber bleiben unter den festgesetzten Schwellenwerten, ab der sie Emissionsrechte erwerben müssten. Wer privat oder für die eigene Firma einen Jet nutzt, darf bis zu tausend Tonnen CO2 kostenfrei ausstossen. Bei gewerblichen Betreibern, also etwa Charterfirmen, liegt die Grenze sogar bei Zehntausend Tonnen.

Verhöhnung des Verursacherprinzips

Einige reiche Menschen können sich also weiterhin extrem CO2-intensiv fortbewegen, ohne dafür zusätzliche Kosten zu bezahlen, wohingegen etwa der Strassenverkehr künftig europaweit in den Emissionshandel eingebunden sein wird. «Diese Ungleichbehandlung ist wirklich verblüffend und sehr unfair», sagt dazu Armstrong von der NGO «Transport & Environment».

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Oben      —      The port of Saint-Tropez (Var, France).

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Januar 2023

Beyoncés Konzert in Dubai – Ein Ständchen für Autokraten

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Kolumne von Fatma Aydemir

Beyoncé sang bei einer Hoteleröffnung in Dubai. Dabei gab es olle Liebesnummern und viel neoliberalen Girlboss-­Feminismus.

Es ist immer so eine Sache mit Pop und Moral. Nichts ist langweiliger als tugendhafter, sittlicher Pop. Niemand will aalglatten Charity-Sound, Ambivalenz ist das Kapital eines jeden Popstars. Im Auftrag von autoritären Regimes aufzutreten, hatte trotzdem schon immer ein Geschmäckle, wie nicht nur Shakiras Absage der WM-Eröffnung kürzlich in Katar zeigte. JLo sang einst „Happy Birthday“ für den turkmenischen Diktator Berdimuhamedow und gab an, nichts von dessen Menschenrechtsverletzungen gewusst zu haben.

Nelly Furtado performte für den Gaddafi-Clan und spendete die 1 Million US-Dollar Gage danach angeblich an eine Hilfsorganisation, ohne je anzugeben, an welche. Alle mussten sich entschuldigen, sind letztlich aber damit durchgekommen, weil es ebendiese kleinen und großen Skandale sind, die einen Popstar im Gespräch halten, im Sinne von: Es gibt keine schlechte Presse, wenn es nur noch um das Generieren von Aufmerksamkeit geht, ergo Profit.

Als Beyoncé vergangene Woche bei einer Hoteleröffnung in Dubai sang, staunte man dennoch nicht schlecht. Zum einen, weil Be­yon­cé einer der größten Popstars unserer Zeit ist, seit vier Jahren kein Konzert mehr gegeben hat und das Comeback als Hotelanimateurin ihrer einfach nicht würdig schien. Zum anderen aber, weil der Skandal um die WM in Katar noch nicht lange genug her ist, als dass man Dubai als Veranstaltungsort ganz kommentarlos erwähnen könnte.

Auch wenn Tourist_innen aus aller Welt in Dubai gern gesehen sind, solange sie möglichst viel Geld dalassen, unterliegen die Vereinigten Arabischen Emirate dem Scharia-Gesetz, das gerade für Frauen und Queers Gewalt und Unterdrückung bedeutet. Mit einem seltsam bedeckten Outfit und ohne Tanzeinlagen trällerte Beyoncé dort 19 Songs runter und soll dafür 24 Millionen US-Dollar eingestrichen haben. Fans empörten sich ein paar Tage lang, aber viele werden sich irgendwann fragen müssen: Are we surprised?

Explizit politisch äußern Beyoncés Bildsprache und Songs höchstens ein paar Solidaritätsbekundungen mit Black Lives Matter, ansonsten eher viel neoliberalen Girlboss-­Feminismus. Zwar kokettiert die Sängerin immer wieder mit radikalen Referenzen wie in Wasser ersaufenden Polizeiautos oder einer Show-Hommage an die Black-Panther-Bewegung.

Doch ist auch hinlänglich bekannt, dass ihr Modelabel unter menschenunwürdigen Bedingungen in srilankischen Sweatshops produziert und dass sie trotz eines Streiks der Belegschaft in einem Hotelrestaurant ihre dortige Oscar-Party nicht absagen wollte. Es gibt immer genug Empörungspotenzial für einen kleinen Shitstorm und ein paar Schlagzeilen, aber hat irgendwas davon Beyoncé jemals geschadet? Man könnte sagen: Beyoncé ist einer der reichsten Menschen der Welt, und genauso verhält sie sich. Manche hassen sie dafür, manche bewundern es, andere versuchen darüber hinwegzusehen, weil Beyoncé eines kann, was viele andere Milliardäre nicht können: krass gute Kunst machen.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Kolumne-Fernsicht-Uganda

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Januar 2023

Streit über Billigware aus Brasilien und den Kilimandscharo

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Von Joachim Buwembo

Noch liegt die Ostafrikanische Gemeinschaft (EAC) nicht im Sterben, aber die politisch-ökonomische Union aus Burundi, Kenia, Kongo, Ruanda, Südsudan, Tansania und Uganda ist im Niedergang. Das Jahr 2023 hat ganz schlecht begonnen.

Am 24. Januar wurde ein kongolesischer Kampfjet von Ruanda im Grenzgebiet beschossen. Eine Rebellion im Ostkongo breitet sich weiter aus, Kongo wirft Ruanda deren Unterstützung vor, und Ruanda bezichtigt Kongo, durch ethnische Verfolgung Menschen in die Rebellion zu treiben. Im Kriegsgebiet steht eine EAC-Eingreiftruppe, geführt von Kenia, aber nun ärgern sich die Bewohner, dass sie den Kämpfen kein Ende setzt.

Auch die ökonomische Integration ist ins Stocken geraten. Es entstehen in Ostafrika mehr Handelsbarrieren, als verschwinden. Kenia und Tansania streiten sich über Touristen: Beide beanspruchen Afrikas höchsten Berg, den Kilimandscharo, als den eigenen. Der Berg liegt in Tansania, aber die beste Aussicht auf ihn gibt es von Kenia aus, wo sich auch die besseren Hotels befinden und wo der Kiliman­dscharo besser vermarktet wird: „Erobern Sie den Kilimandscharo von Ihrem Schlafzimmerfenster!“.

Die beiden Küstenstaaten Kenia und Tansania streiten sich auch um den Handel mit ihrem Binnennachbarn Uganda, über den Südsudan, Ruanda, Burundi und Kongo erreichbar sind. In der Amtszeit des nach innen gekehrten Präsidenten Jakawa Kikwete von 2005 bis 2015 war Tansania regional isoliert und Uganda wählte Kenia als zukünftiges Transitland für den Verlauf der geplanten Ölpipeline aus Uganda zum Indischen Ozean. Doch 2015 kam John Magufuli an die Macht in Tansania und in seiner kurzen, aber hektischen Amtszeit verdrängte er Kenia: In Tansania gehört Grund und Boden dem Staat, anders als in Kenia, also muss in Tansania niemand entschädigt werden, wenn Land für eine Pipeline gebraucht wird. Als Magufuli 2021 starb, beeilte sich Nachfolgerin Samia Suluhu, Tansanias Pipelinedeal mit Uganda zu unterschreiben.

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Mit Tansania hat Ugandas Präsident Yoweri Museveni alte Verbindungen: Er studierte dort und baute dort die Guerilla auf, an deren Spitze er 1986 die Macht in Uganda eroberte. Einige Jahre zuvor hatte Tansania viele Opfer gebracht, um 1979 in Uganda zu helfen, Diktator Idi Amin zu stürzen.

Nun ist Kenia beleidigt und es mehren sich Streitpunkte. Kenia wirft Uganda vor, Ostafrika mit Billigwaren zu überfluten: Zucker aus Brasilien, kostengünstige Milch und Eier – Uganda hat dank seines Klimas einen Wettbewerbsvorteil in der Landwirtschaft. Gemeinsame Wirtschaftsprojekte mit Geld aus China, etwa eine kenianisch-ugandische Eisenbahnlinie, kommen nicht voran.

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Merz – Er kann nicht anders

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Januar 2023

Die CDU unter Friedrich Merz

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So sind die Republikaner – ein Stuhl ersetzt auch manchmal die Fahne!

Ein Artikel von Sabine am Orde

Merz ist seit einem Jahr Chef der Christdemokraten. Wie läuft es, wenn jemand mit dem Hang zum Polarisieren eine Partei einen soll?

s ist früher Nachmittag, als Friedrich Merz am zweiten Samstag im Januar in einem Hotel am Weimarer Goethepark vor die Presse tritt. Im Nebenraum räumen Servicekräfte die Reste des Mittagessens ab, mit dem die Klausur des CDU-Bundesvorstands gerade zu Ende gegangen ist.

Zwei Tage lang hat sich die CDU-Spitze mit den Themen Wirtschaft, Energie und Klima beschäftigt, mit dem Ökonomen Clemens Fuest vom Ifo-Institut und der Bremer Meeresbiologin Antje Boetius waren hochkarätige Gäste geladen. In der Wirtschaftspolitik, traditionell eigentlich ein Kernthema der Partei, sind die Kompetenzwerte der CDU eingebrochen. Bei der Klimapolitik waren sie noch nie sonderlich hoch.

Das Treffen soll Abhilfe schaffen, und natürlich soll darüber berichtet werden. Deshalb steht der CDU-Parteivorsitzende nun vor dem Mikrofon. Doch schon der zweite Journalist, der das Wort erhält, fragt nicht nach Wirtschafts- oder Klimapolitik. Es habe doch eine Diskussion über den integrationspolitischen Kurs und Kritik an seiner Wortwahl gegeben: „Werden Sie an diesem Kurs etwas ändern, werden Sie sich zusammenreißen?“

Merz hatte vier Tage zuvor in der Talkshow von Markus Lanz im Zusammenhang mit der Silvesterrandale pauschalisierend arabische Jungen „kleine Paschas“ genannt und von Menschen gesprochen, „die nicht in unser Land gehören“. Das hat für Wirbel gesorgt, auch in der Partei. Migration ist für die CDU ein schwieriges Thema, nicht erst seitdem der Flüchtlingsherbst 2015 die Union fast zerrissen hat. Hier stehen sich Modernisierer und Konservative besonders unversöhnlich gegenüber – auch wenn inzwischen jeder in der Partei weiß, dass es ohne Fachkräftezuwanderung nicht mehr gehen wird.

Im dritten Anlauf

Merz wiegelt ab. Diskussionen dazu habe es keine gegeben, nur einige wenige Wortmeldungen, sagt er auf der Hotelbühne. Und ohnehin: Die Partei sei sich weitgehend einig. Doch da war die Mahnung von CDU-Generalsekretär Mario Czaja, man möge Menschen mit Migrationsgeschichte gegenüber sensibel mit Sprache umgehen, schon längst aus der Klausur nach außen gedrungen. Und die kritischen Äußerungen der Vorstandsmitglieder Hermann Gröhe und Serap Güler ebenfalls. Die Auseinandersetzung überlagerte die Berichterstattung verhagelte der CDU den Jahresauftakt und sagt viel über die Schwierigkeiten von Friedrich Merz als Parteichef.

Seit gut vier Jahren ist der Sauerländer, Millionär und ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende von Blackrock Deutschland zurück in der Politik. Seither hat es viele polarisierende Einwürfe von Friedrich Merz gegeben. Als er erst gegen Annegret Kramp-Karrenbauer und dann gegen Armin Laschet um den CDU-Vorsitz kämpfte, haben ihn seine kernigen Aussagen zum vermeintlichen Heilsbringer für all jene gemacht, die eine Kehrtwende der Partei und ein stärker konservatives Profil wollten, möglichst weit weg vom mittigen Kurs Angela Merkels. Verloren hat Merz die Wahlen trotzdem.

Doch im dritten Anlauf hat die Partei Merz schließlich doch noch zu ihrem Vorsitzenden gewählt, nach einer Mitgliederbefragung, die eindeutig ausging: 62 Prozent stimmten für ihn, beim Parteitag wurden über 94 Prozent daraus. Selbst Merz-Gegner*innen konnten das Mitgliedervotum nicht ignorieren. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen dachte manch einer aber wohl auch: Dann soll er es halt selbst versuchen.

Als Merz im Januar 2022 die CDU übernimmt, gleicht sie einem Trümmerfeld. Zwei Parteivorsitzende hat sie in kürzester Zeit verschlissen, das Verhältnis zur Schwesterpartei ist zerrüttet, die Bundestagswahl ging verloren, das Kanzleramt an die SPD. Niemand weiß mehr, wofür die CDU steht und wohin sie will. Es ist eine Herku­les­aufgabe: Der neue Vorsitzende muss die Partei einen, inhaltlich neu aufstellen und mit der CSU versöhnen.

Er beteuert, wie wichtig Klimaschutz für die CDU sei, und jettet mit seinem Privatflieger nach Sylt zur Hochzeit von Christian Lindner

Anfangs scheint es, als hätte der heute 67-Jährige bei seinem langen Weg an die Spitze der Partei gelernt. Mit zugespitzten Äußerungen hält er sich zurück, stattdessen sagt er Sätze wie „Die CDU muss modern werden“. Er verspricht, mit ihm werde es keinen Rechtsruck geben, und beteuert die Bedeutung von sozialer Gerechtigkeit. Es scheint, als wolle Friedrich Merz sich neu erfinden. Weg von dem neoliberalen Anti-Merkel mit viel Arroganz und wenig Empathie.

Zum Generalsekretär macht er Mario Czaja, Mitglied in der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), dem Arbeitnehmerflügel der Partei – und damit parteiintern weit entfernt von Merz. Auffällig oft spricht Merz vom „Team“ und davon, dass eine Partei wie die CDU viele Köpfe brauche. Auch Karin Prien, die liberale Bildungsministerin aus Schleswig-Holstein, und der Klimaexperte Andreas Jung werden stellvertretende Parteivorsitzende.

Seitdem aber sendet Merz widersprüchliche Signale: Er hat eine parteiinterne Frauenquote durchgesetzt und sich bei einer Rede von Außenministerin Annalena Baerbock mit theatraler Geste ans Herz gefasst, um ihre Ausführungen über feministische Außenpolitik ins Lächerliche zu ziehen. Er hat beteuert, wie wichtig der Klimaschutz für die CDU sei, und ist im Privatflieger zu Christian Lindners Hochzeit nach Sylt gejettet. Er ist früh in die Ukraine gereist, um Solidarität zu bekunden, und hat ukrainische Geflüchtete als „Sozialtouristen“ beschimpft. Für Letzteres hat er sich später halbherzig entschuldigt.

Das eine und das andere Ende der Partei

Was die Frage aufwirft, ob er sich wirklich verändert hat. Kann einer, der immer „ich“ gesagt hat, plötzlich im „Wir“ denken? Kann einer, der so oft polarisierte und ausgrenzte, plötzlich zusammenführen? Wo also steht Friedrich Merz – und wo steht seine Partei nach einem Jahr mit ihm als Vorsitzenden?

Anrufe bei zwei CDU-Kennern, die es wissen könnten. Beide haben die Partei professionell im Blick und sind auch eng mit ihr verbandelt. Der eine, Andreas Püttmann, Politikwissenschaftler und Publizist aus Bonn, nennt sich selbst „ideeller Christdemokrat ohne Parteibuch“. Er ist dem sozialliberalen Parteiflügel zugetan und hat aus seiner Gegnerschaft zu Friedrich Merz nie einen Hehl gemacht. Rechtspopulistische Abwege sind Püttmann ein Graus. Er sagt: „Friedrich Merz ist zu der notwendigen geistigen Führung der Partei nicht in der Lage.“

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Die Jagd wird eröffnet in der richtigen Umgebung

Der andere: Andreas Rödder, Geschichtsprofessor in Mainz, gilt als konservativer Vordenker. Seit Merz CDU-Chef ist, leitet Rödder die Grundwertekommission der Partei und wollte prompt den Begriff Gleichstellung aus ihrer Grundwertecharta streichen. Identitätspolitik hat er als zentrale Gefahr für die Demokratie ausgemacht. Rödder, der eigentlich Merz-Fan ist, sagt: „Ich habe Hoffnungen, die sich noch erfüllen lassen.“

Püttmann steht also für das eine, Rödder für das andere Ende der CDU, zufrieden ist keiner der beiden mit dem Vorsitzenden – und manche ihrer Begründungen ähneln sich. Beide finden gut, wie Merz im Bundestag den Kanzler herausfordert. Beide sind der Ansicht, dass er sich zu sehr auf die Fraktion konzentriert und die Partei vernachlässigt. Dass der CDU weiterhin eigene Konzepte fehlen, ein echtes Manko. Und dass Merz im ersten Jahr einige gravierende Fehler gemacht hat.

Parteichef, Fraktionschef, Oppositionschef – Kanzlerkandidat?

Es ist Anfang Juni, Generaldebatte im Bundestag, als Merz den Kanzler zum ersten Mal aus der Reserve lockt. Lässig steht er mit seinen 1,98 Metern am Rede­pult. Warum Olaf Scholz nicht endlich sage, dass die Ukraine den Krieg gewinnen müsse, fragt Merz. Welche Waffen er wirklich liefern wolle. Und wie der Kanzler abstimmen werde, wenn es im Europäischen Rat um einen EU-Kandidatenstatus für die Ukraine geht. 20 Minuten läuft das so. Der CDU-Mann macht klar: Der Kanzler wird dem Begriff Zeitenwende nicht gerecht.

Olaf Scholz liest seine Reden gewöhnlich vom Blatt ab, fürs Zuhören ermüdend. Doch an diesem Tag lässt er sein Manuskript liegen – und koffert zurück. „Sie sind hier durch die Sache durchgetänzelt und haben nichts Konkretes gesagt.“ Merz stelle nur Fragen und positioniere sich nicht. „Damit werden Sie nicht durchkommen.“ Dann listet er, sogar mit einer gewissen Leidenschaft, auf, wie Deutschland die Ukraine unterstützt. Ein Moment, in dem auch Geg­ne­r*in­nen der Union einräumen: Für die Debatte im Bundestag ist Merz ein Gewinn.

Dem CDU-Mann gefallen Auftritte wie dieser – wenn er auf großer Bühne auf einer Stufe mit dem Kanzler agieren kann. Mitte Februar hat er dafür Ralph Brinkhaus geschasst und den Fraktionsvorsitz selbst übernommen. Sein Teamgeist hat Grenzen, wenn es um die eigenen Pläne geht. Merz hat damit die beiden Top-Posten der CDU besetzt – und die Pole-Position für die Kanzlerkandidatur. Geht es in der Presse um die Bundes-CDU, kommt vor allem einer vor: Friedrich Merz.

In Zeiten des russischen Angriffkrieges muss die Union staatstragend sein, aber sich gleichzeitig gegen die Regierung profilieren. Beim Sondervermögen für die Bundeswehr und beim Bürgergeld gelingt ihr diese Gratwanderung, manchmal, wie beim Mindestlohn, geht es daneben.

Merz konzentriert sich auf die öffentlichkeitswirksamen Auftritte und auf die Fraktion, das hat seinen Preis: Für die Partei hat er wenig Zeit, dabei soll hier die CDU inhaltlich neu aufgestellt werden. Carsten Linnemann, Parteivize und ehemaliger Chef der Mittelstandsvereinigung, schiebt zwar das neue Grundsatzprogramm an, doch das ist ein zäher Prozess. 2024, zur Europawahl, soll es fertig sein. „Innerparteilich sind stärkere Akzente nötig, um diese heterogene Partei zu führen“, urteilt Historiker Andreas Rödder.

In der CDU-Zentrale laufen die Dinge alles andere als rund. Merz hat den alten Bundesgeschäftsführer spät ausgetauscht, aber bereits zwei Bü­ro­lei­te­r*in­nen verschlissen, die neue Kommunikationschefin wurde groß angekündigt und war dann schnell wieder weg. Der Generalsekretär wird quer durch die Parteilager als schwach kritisiert, die stellvertretende Generalsekretärin gilt als noch schwächer. Deren Posten hat Merz extra geschaffen, damit er beim Kampf um den Parteivorsitz zumindest eine Frau vorweisen kann. „Wenn die anderen nicht glänzen, kann Merz besser strahlen“, kommentiert ein Parteifunktionär Merz’ Personalauswahl.

Dass Mario Czaja es nicht schafft, so richtig zu punkten, könnte aber auch an seiner Rolle liegen. Generalsekretäre sind meist dazu da, die Position des Parteivorsitzenden zuzuspitzen. Sie testen, wie Aussagen wirken. Und greifen an. Manchmal macht Czaja das auch, wie zuletzt mit der Forderung, eine Deutschpflicht auf Schulhöfen einzuführen. Aber er ist als liberales und soziales Korrektiv zu Merz ins Amt gekommen, sollte parteiintern für Zustimmung jenseits der eigenen Fanbase sorgen. Jetzt setzt Czaja sich mitunter merklich von seinem Chef ab.

Czaja weiß, dass die CDU andere Wählergruppen ansprechen muss, will sie zurück an die Macht. Der Unmut über die Bundesregierung ist derzeit groß, doch in Umfragen ist die CDU bei knapp 30 Prozent wie festgenagelt, sie überzeugt nur ihre Kernklientel. Der Generalsekretär will Frauen, junge Familien, Menschen mit Migrationsgeschichte für die CDU ansprechen. Und weiß natürlich, wie schädlich dafür Merz’ „kleine Paschas“ sind oder auch die Frage des Berliner Landesverbandes nach den Vornamen der Tatverdächtigen mit deutscher Staatsbürgerschaft aus der Silvesternacht.

Die Gesellschaft ist weiter

Schaut man sich Merz’ Auftritt bei Lanz genau an, sieht man einen Mann, der sich in Fahrt redet. Der immer schneller spricht und im Ton bestimmter wird. Merz wirkt nicht so, als wolle er nur rein strategisch an den Stammtischen punkten. Sondern wie einer, der meint, was er sagt. Der nicht wirklich versteht, was Aladin El-Mafaalani, der Integrationsforscher, der im TV-Studio neben ihm sitzt, überhaupt von ihm will. Merz wirkt wie einer, der nicht anders kann.

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Seine Fahnen weisen auf  die Herkunft seiner Ahnen ?

Am Abend darauf ist Carlo Masala, Sohn eines italienischen Gastarbeiters und Militärexperte von der Universität der Bundeswehr, in Lanz’ Talkshow zu Gast, er wird auch von der Union geschätzt. „Ich bin über die Maßen erzürnt“, sagt Masala zu den Äußerungen von Merz und die Debatte rund um die Silvesternacht. „Man spuckt all denen, die seit zwei oder drei Generationen hier leben, ins Gesicht.“

Merz wird Masalas Auftritt gesehen haben, kurze Clips davon schwirren tagelang durch die sozialen Netzwerke. Doch eine Irritation, ein Innehalten sind ihm nicht anzumerken. Das mag auch daran liegen, dass in der CDU-Zentrale auch Zustimmung für den Parteichef ankommt. Immer wieder verteidigt Merz seine Äußerungen. „Ich habe dem Volk aufs Maul geschaut“, sagt er etwa dem Tagesspiegel, und das sei Demokratie. Dass große Teile des Volkes inzwischen längst anders ticken, dass sich die Gesellschaft in den Jahren, die er jenseits der Politik verbracht hat, weiterentwickelt hat, das sieht Merz nicht. Oder er will es nicht sehen.

Wie gespalten die CDU beim Thema Migration ist, zeigt sich im Dezember in der Bundestagsfraktion, bei der Abstimmung über das Aufenthaltsrecht. Die In­nen­po­li­ti­ke­r*in­nen wollten die Fraktion auf ein Nein einschwören, dass es zum internen Konflikt kommen würde, war vielen Beteiligten klar. Nach allem, was man aus der Fraktion hört, ließ Merz, in dieser Frage selbst Hardliner, das Problem schleifen. Erst kündigte er einen eigenen Antrag der Union an, hinter dem sich die ganze Fraktion versammeln könnte, dann war dieser plötzlich wieder vom Tisch. 20 Abgeordnete scherten schließlich aus der Mehrheitsmeinung aus. Sie enthielten sich bei der Abstimmung und gaben dazu eine Erklärung ab. Gröhe und Güler waren dabei, auch Armin Laschet, Helge Braun und Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas.

Es ist ein Abwehrkampf, klar, aber man darf dies wohl auch als Warnzeichen verstehen, dass die Liberalen in der CDU ihre Grenzen haben.

Am Rande des Plenums beobachten mehrere Politiker*innen, wie Merz mit erhobenem Zeigefinger auf Serap Güler eingeredet. Der Eindruck der Beobachter*innen: Der Fraktionschef staucht eine Abgeordnete zusammen, die nicht hinter ihre Positionen als NRW-Integrationsstaatssekretärin zurückfallen will. Am 24. Januar soll es eine offene Fraktionssitzung geben, in der das Thema Migration auch mit Experten von außen besprochen wird.

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>>          weiterlesen  

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Oben      —       Der Struwwelpeter: Die Geschichte vom bösen Friederich Tafel 1

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2.) von Oben     —  Die USA und ihre Verbündeten proben mit willkürlichen Raketenangriffen den Weltuntergang

Author Markusszy      /     Source      :     Own work       /       Date     :  15. 04. 2918
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Unten         —         BlackRock Group

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Neuköllner Silvester Kids

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Januar 2023

Seit der Silvester-Randale haben Schuld­zu­wei­sun­gen Konjunktur.

Von Oskar Paul

 Berlin steht im Fokus. Aber wie schaut es tatsächlich in Neukölln aus, und was kann man dort besser machen?

Tevfik Ari ist wütend. Wütend auf die Jugend in Neukölln. Wütend wegen dem, was er an Silvester erlebt hat. Die Scheiben seines Imbisses sind auch zehn Tage später noch zersplittert, Klebeband kittet die Sprünge. Ari, klein, breite Schultern, Bart, fuchtelt mit den Händen beim Reden. „Die Kids hier sind richtig frech“, sagt er. Über diese „Kids“ in Neukölln redet gerade die halbe Republik.

Gemeinsam mit seinem Cousin betreibt Tevfik Ari einen Döner-Laden auf dem Platz vor dem Einkaufszentrum Wutzky-Center. Am 31. Dezember um halb neun Uhr abends schließt er die Rollläden. Er bleibt. Zusammen mit ein paar Freunden passt er auf seinen Imbiss auf, er hat schlechte Erfahrungen mit Silvester gemacht.

Gegen Mitternacht wird sein Laden mit Pyrotechnik beschossen. Auch Ari und seine Freunde werden mit Böllern beworfen, erzählt er, zwei von ihnen müssten jetzt operiert werden. Gemeinsam rufen sie die Polizei. Als die ankommt, werden auch die Beamten beschossen. Ein Polizist wird von einem Böller getroffen, der zwischen Helm und Schutzweste rutscht und dort explodiert. Im Imbiss reißen Ari und seine Kollegen dem Polizisten die Uniform vom Leib, kippen kaltes Wasser über die verbrannte Haut.

38 Personen sind nach den Silvesterkrawallen in Neukölln festgenommen worden, weil ihnen Angriffe auf Einsatzkräfte von Polizei und Feuer­wehr vorgeworfen wird. Viele von ihnen sind unter 21 Jahre alt. Insgesamt kommt es in Berlin zu 145 Festnahmen. Die Verdächtigen besitzen 18 verschiedenen Nationalitäten. Die Debatte ist da – über Jugendgewalt, Integration, Migration.

Am Mittwoch dieser Woche veranstaltete Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) einen Gipfel. Sie kündigt eine „konzertierte Aktion“ gegen Jugendgewalt an. Dafür wolle der Berliner Senat weitere Ausgaben für Sozialarbeit in Millionenhöhe ermöglichen. „Wir haben nicht nur Redebedarf, sondern wir haben auch Handlungsbedarf“, sagte Giffey. Ist das nur Show für den Wahlkampf, oder hat Neukölln wirklich ein Problem mit gewalttätigen Jugendlichen?

Vom Wutzky-Center und Tevfik Aris’Imbiss sind es nur ein paar Gehminuten bis zur Gemeinschaftsschule Campus Efeuweg. Hochhäuser ragen in den Himmel, von Wahlplakaten lächelt Franziska Giffey. Im ersten Stock der Schule hat die siebte Klasse von Lehrerin Janina Bähre ihren Klassenraum. Neun Tage nach der Silvesternacht bilden die Schü­le­r:in­nen einen Stuhlkreis, sie wuseln durch das Klassenzimmer, wollen neben ihren Freun­d:in­nen sitzen. Die Mädchen und Jungen tragen Nike-Sneaker mit dicken Sohlen, Gelnägel, Kopftücher. Jasmin führt eine Red­ne­r:in­nen­lis­te – sie schreibt auf, wer sich gemeldet hat. Joel hat die Liste im Blick und ruft auf, wer dran ist. Es gibt eine Strafliste für diejenigen, die zu oft dazwischenrufen.

Frau Bähre schlägt gegen eine Klangschale, dann ist es still im Klassenraum. „Was soll ich noch mal sagen?“, fragt Nina. „Wie es dir an Silvester ergangen ist. Was du gesehen hast. Was du gut fandest, was du schlecht fandest“, sagt Janina Bähre.

Tarik war an Silvester draußen unterwegs, wie er erzählt. Er habe mit Freunden zusammen gezündelt, sein Kumpel habe eine Kugelbombe gezündet und sich dabei schwer verletzt. „Seine Arme sind jetzt so“, sagt Tarik, knickt die Hände ab und streckt sie aus wie ein Zombie.

Marko meldet sich, er will es ganz genau wissen. Aber er muss noch warten – die Redne­r:in­nen­liste. Erst sind andere dran. Dann fragt Marko: „Es gibt doch auch Kugelbomben, die hochfliegen?“ „Ja, du musst die in ein Rohr packen“, sagt Tarik. „Die fliegt doch dann hoch?“ „Ja, aber wir hatten kein Rohr.“

„Digga.“

Lachen.

Andere Kinder erzählen ähnliche Geschichten. Der Cousin und der Onkel von Efe haben sich durch Zünden einer Batterie im Gesicht verletzt, Joel an der Rippe. Jugendlicher Leichtsinn, ja. Gefährlich, ja. Aber Menschen absichtlich verletzen, das versteht hier niemand. Janina Bähre fragt die Klasse, warum manche mit Böllern und Raketen auf Menschen schießen.

„Einfach so!“

„Aus Spaß!“

„Die fühlen sich cool.“

„Das ist so ehrenlos

Amalia war an Silvester nicht in Berlin, sie sagt: „Warum zünden die was an? Das ist richtig unnötig!“ So würden Menschen ihren eigenen Kiez abfackeln.

Albrecht Lüter ist schon seit 2015 Leiter der Berliner Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention. Er hat in den letzten zehn Jahren einen Rückgang der Jugendgewalt beobachtet. „International, in Deutschland und in Berlin“, sagt Lüter. Gemeinsam mit Kol­le­g:in­nen hat er 2021 ein Gewaltmonitoring veröffentlicht, in dem auch ganz gezielt die Berliner Bezirke untersucht wurden. Auch in Neukölln zeigt sich: Die Zahlen sind seit 2010 rückläufig. Weniger Raubtaten, weniger Körperverletzungen und weniger Delikte gegen die persönliche Freiheit wurden von Jugendlichen begangen – auch wenn die Zahl der Delikte zwischenzeitlich wieder gestiegen war. Im Coronajahr 2020 wurden insgesamt 799 solcher Straftaten in Neukölln, begangen von Jugendlichen, von der Polizei erfasst, 2010 waren es noch 1.057.

Trotzdem ist die Jugendgewalt in Neukölln im Vergleich zu gesamt Berlin erhöht. Warum? „Es gibt einen hohen Zusammenhang zwischen Jugenddelinquenz und einer prekären sozialen Lebenslage“, sagt Lüter. Die Jugendlichen in Neukölln seien häufiger von Arbeitslosigkeit und Kinderarmut betroffen als solche in anderen Berliner Bezirken. Sie hätten häufiger Sprachdefizite und schwänzten häufiger die Schule. „Unter ähnlichen prekären Lebensbedingungen finden wir dann auch Jugendliche, die ähnliches Problemverhalten an den Tag legen.“ In Marzahn-Hellersdorf ganz im Osten der Stadt zum Beispiel, einem Bezirk, der viel weniger von Mi­gran­t:in­nen geprägt ist als Neukölln. So viel zur Migrationsdebatte.

Die Lehrerin Janina Bähre kennt das. Sie erzählt von Eltern, die trotz Jobs mit Hartz IV aufstocken müssen. Sie berichtet von Kindern, die Ausflüge verpassen, weil kein Geld dafür da ist. Sie spricht von Hunger, Drogen, Wohnungslosigkeit und Abschiebung. „Das können wir uns gar nicht vorstellen“, sagt Bähre.

Und die Lehrerin berichtet von Eltern, die sich schämen, wenn ihre Kinder „Scheiße bauen“. Sie sagt: „Allen ist klar, dass man Polizisten und Feuer­wehrleute nicht angreift.“ Bähre glaubt, dass Gewalt immer einen Grund hat. „Wenn es nicht Langeweile oder pubertierender Leichtsinn ist, ist es Wut, Aggression, Frust.“ Sie wirbt für Verständnis für das, was Kinder und Jugendliche im Kiez erleben. „Wir haben hier wie überall ganz tolle Kinder, die halt einfach nur schlechtere Startchancen haben, weil wir halt ein ungerechtes Bildungssystem haben“, sagt sie.

Diese schlechten Startchancen auszugleichen, kostet Kraft. Bähre, blauer Pulli, Tattoo am Unterarm, ist schon ein bisschen heiser. Die Klasse ist heute unruhig, immer wieder muss sie Kinder hin­aus­schicken und für Ruhe sorgen.

„Lukas warte jetzt mal fünf Minuten draußen.“

„Hamza geh auch mal raus.“

„Da stehen jetzt schon drei draußen.“

Seit 2013 ist Bähre an der Gemeinschaftsschule Campus Efeuweg, Sie wollte an diese Schule. „Als ich die Schule das erste Mal gegoogelt habe, wusste ich nicht, ob ich das schaffe. Damals hatte sie noch einen schlechten Ruf“, sagt sie. „Aber ich habe mich dann gefragt, wer sonst? Ich bin gut ausgebildet! Hier muss ja auch wer arbeiten!“

Es mangele an Personal und Stunden in Schulen wie dem Campus Efeuweg, die Schü­le­r*in­nen hätten unter Corona gelitten, schulisch und sozial, sagt Bähre. Das alles müssten Leh­re­r*in­nen und So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen jetzt auffangen, aufarbeiten, aufholen. Janina Bähre fordert eine bessere Aufstellung der Sibuz. Die Abkürzung steht für schulpsychologische und inklusionspädagogische Beratungszentren, wo Lehrkräfte, Schul­psy­cho­lo­g*in­nen, So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen und Son­der­päd­ago­g*in­nen mit Schü­le­r*in­nen und Eltern zusammenarbeiten.

Janina Bähre wirbt zwar für Verständnis, betont aber auch, dass Kinder Grenzen brauchen. „Wenn Regeln gebrochen werden, versuchen wir schnell mit Konsequenzen zu kommen, die dann aber auch – wie im Strafrecht – ein Bündel sind, aus Grenzsetzung, Strafe, Wiedergutmachung und Unterstützung“, sagt sie. Und auch im Bereich Gewaltprävention unternehme die Schule viel: Klassenrat, Schülermediator*innen, Mobbing-Vereinbarungen, Workshops zu Recht und Gerechtigkeit. Und Workshops mit der Polizei.

Gerade die Zusammenarbeit mit der Polizei scheint wichtig, denn viele Kinder haben schlechte Erfahrungen mit den Beamten gemacht. Jasmin erzählt von einem Video, das sie auf Tiktok gesehen hat, in dem ein Polizist zu einem Mann vor dessen Kindern sagt: „Ihr seid nur zu Besuch in Deutschland.“ Sie sagt: „Würde das jemand zu meinem Vater sagen …“

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Oben        —         Nach Auskunft der Anwohner: Junge männliche Erwachsene und männliche Jugendliche schlugen während des Neujahrsfeuerwerks 2023 in Berlin die Fenster ein und warfen Feuerwerkskörper hinein. Der Reisebus brannte vollkommen aus.

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Spiele der Politiker-innen

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Januar 2023

Polens Spiel um Macht und Geld

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Zählte für Politiker-innen nicht immer nur, in welche Taschen das Geld wanderte ? 

Ein Debattenbeitrag von Gabriele Lesser

Der Einsatz ist hoch: Für Polen geht es um 35,4 Milliarden Euro, für Polens regierende Politiker um Sieg oder Niederlage in den Herbstwahlen.

Polens mächtigster Mann, Jarosław Ka­czyń­ski, steht kurz davor, erneut eine polnische Regierung an die Wand zu fahren. 2007 hatte er als Premier und Parteivorsitzender der Recht und Gerechtigkeit (PiS) die linksradikale Bauernpartei Samoobrona in eine Korruptionsfalle locken wollen. Als die jedoch, misstrauisch geworden, die Falle entdeckte und türeschlagend die Koalition verließ, setzte Ka­czyń­ski alles auf eine Karte: Neuwahlen. Diese sollten die PiS gestärkt an die Macht bringen.

Doch Ka­czyń­ski verlor die Wahlen krachend. Acht Jahre lang verlor die PiS alle Parlaments-, Kommunal- und Präsidentschaftswahlen. Erst 2015 kam sie zurück an die Macht, erneut in einer Koalition mit zwei Splitterparteien. 2021 gelang es der PiS, den einen Koalitionspartner, die Partei Verständigung, vollständig zu zerschlagen und den Großteil ihrer Abgeordneten zu übernehmen. Der andere Koalitionspartner, das Solidarische Polen, stellt heute so radikale Forderungen, dass Ka­czyń­ski vor dem Dilemma steht, entweder Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbautopf der EU für Polen zu bekommen oder die Macht von PiS & Konsorten in Polen weiter auszubauen – ohne die dringend benötigten EU-Gelder. Das eine geht nur ohne Zbigniew Ziobro, den Chef der rechtsextremen Koalitionspartei Solidarisches Polen, das andere nur mit ihm. Bislang war Ka­czyń­ski die Macht immer wichtiger als das Geld.

Ein Bruch der Koalition würde vorzeitige Neuwahlen nach sich ziehen. Die aber fürchtet Ka­czyń­ski inzwischen wie der Teufel das Weihwasser. Im Herbst stehen reguläre Neuwahlen an. So lange zumindest muss die Koalition halten, auch wenn die PiS die Schuld am erneuten politischen Desaster Ka­czyń­skis voll auf Ziobro abschiebt. Auch Oppositionspolitiker und liberale Medien übernehmen dieses PiS-Narrativ bereitwillig: Zio­bro sei als Justizminister und Generalstaatsanwalt Polens der Vater vieler Rechts-„Reformen“, die Polens Rechtsstaat weitgehend demoliert hätten. So habe Ziobro das seit Jahren unter PiS-Kontrolle stehende Verfassungsgericht dazu gebracht, polnisches Recht über EU-Recht zu stellen, auch wenn dies gar nicht in Polens Verfassung stehe.

Besonders oft ignorieren PiS-Politiker und seine „Ziobristen“ genannten Anhänger EU-Entscheidungen oder Urteile, die für Polen ungünstig sind. Seit einiger Zeit kostet das jedoch Geld. Seit alle Mitgliedstaaten der Klausel „Geld nur bei Rechtsstaatlichkeit“ zustimmten, kann Brüssel den Geldhahn zudrehen, wenn ein Mitgliedstaat sich nicht mehr an gemeinsames EU-Recht gebunden fühlt.

Die Goldbüste eines zynisch lächelnden Ziobro auf der tiefschwarzen Titelseite des linksliberalen Nachrichtenmagazins Polityka mit der Schlagzeile „Der teuerste Minister der Welt“ greifen das PiS-Narrativ auf, geben aber auch die Stimmung im Land gut wieder. Der Titel entstand anlässlich des vierten Misstrauensantrags gegen Ziobro, den die demokratische Opposition Ende 2022 ins polnische Abgeordnetenhaus eingebracht hatte. Ziobro, so heißt es in der Polityka, habe Polens Steuerzahler bereits über 100 Milliarden Zloty (rund 21 Milliarden Euro) gekostet haben. Dabei geht es vor allem um EU-Strafen und entgangene EU-Zuschüsse. Für Ka­czyń­ski wäre der Misstrauensantrag eine Chance gewesen, den unbequemen Zio­bro loszuwerden. Doch er entschied sich wie immer für die Macht. Ziobro bleibt im Sattel.

Ach wie schön – haben wir doch alle daran verdient.

Zu den Kosten für die Steuerzahler kommt täglich 1 Million Euro Strafe, die die Europäische Kommission nach einem Schuldspruch des EuGH im Juli 2021 gegen Polen verhängte. Das Urteil samt Strafgeld sollte Polens Regierung dazu zwingen, die von der PiS gegründete Disziplinarkammer am obersten Gericht abzuschaffen, da diese nach europäischen Rechtsgrundsätzen weder ein Gericht sei, noch ihre Mitarbeiter ordentlich ernannte Richter seien, deren „Urteile“ somit nicht rechtsgültig. Solche Reformforderungen der EU an Polen stehen im Vertrag über den Corona-Wiederaufbauplan Polens, den die PiS-Regierung mit der Kommission ausgehandelt und unterschrieben hatte. Statt nun aber die fast 280 Meilensteine zügig umzusetzen, um nach und nach 35,4 Mil­liar­den Euro Zuschüsse und niedrig verzinste Darlehen beantragen zu können, versuchte Polen bislang, die Kommission auszutricksen.

So wurde die Richter-Disziplinarkammer zwar Ende Mai 2022 unter großen Getöse abgeschafft. An ihre Stelle trat aber eine „Kammer für berufliche Verantwortung“, die fast die gleichen Aufgaben hat wie die bisherige. Zudem weigerte sich Zio­bro, die durch den Neo-Landesjustizrat (Neo-KRS) politisierte Richterwahl rückgängig zu machen. Während der alte KRS gemäß dem Prinzip der Gewaltenteilung ein Selbstverwaltungsorgan der Richter war, das über Einstellungen, Versetzungen, Karriereschritte aller Richter im Land entschied, tut dies seit einigen Jahren ein Politikergremium, in dem vor allem PiS-Politiker sitzen – der sogenannte Neo-KRS.

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Oben       —      Jarosław Kaczyński po spotkaniu ze studentami na Uniwersytecie Warszawskim w dn. 19 marca 2008

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Japan in der Krise :

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Januar 2023

Mehr Alkoholismus wagen!

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Nach Jahrzehnten der Stagnation stemmt sich die Notenbank der überschuldeten Industrienation trotz anziehender Inflation verzweifelt gegen die geldpolitische Wende (Dritter Teil einer Serie zum derzeitigen Krisenschub).

Und täglich grüßt das keynesianische Murmeltier: Auf umgerechnet 200 Milliarden Dollar beläuft sich das Konjunkturpaket, das die japanische Regierung unter Premier Fumio Kishida im vergangenen Oktober verabschiedete, um die sozialen Folgen der konjunkturellen Misere und der anziehenden Inflation zu mildern. Das Maßnahmenpaket umfasst vor allem Energiesubventionen, mit denen die Teuerungsrate, die zuletzt – für westeuropäische Verhältnisse moderate – 3,6 Prozent erreichte,1 um rund 1,2 Prozentpunkte verringert werden soll. Das Konjunkturprogramm werde das Bruttoinlandsprodukt Japans um 4,6 Prozent wachsen lassen, hoffte der Regierungschef anlässlich dessen Verabschiedung bei einer Pressekonferenz in Tokio.2

Insofern scheint sich in der exportorientierten Industrienation, die jahrzehntelang, ähnlich der Bundesrepublik, Exportüberschüsse aufwies,3 nicht viel geändert zu haben. In den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts galt Japan im Westen, ähnlich dem heutigen China, gar als eine aufsteigende Wirtschaftsnation, die mit ihrer Exportindustrie und ihren Auslandsinvestitionen zur dominanten Großmacht aufsteigen würde. Auf den exportfixierten Industrieboom der 70er und 80er folgte eine Phase des finanzmarktgetriebenen Wachstums in den späten 80ern und frühen 90ern, in dem Japan gigantische Spekulationsblasen auf dem Immobilien- und Aktienmarkt ausbildete.4

Nach dem Platzen dieser Blasen verfestigte sich in Nippon eine lang anhaltende konjunkturelle Stagnation mit deflationären Tendenzen.5 Die Wirtschaft wuchs kaum noch, während die Preise eher im Fallen begriffen waren, was die Binnennachfrage wegen der in Deflationen üblichen Zurückhaltung der Konsumenten abwürgte. Zugleich stagnierte das reale Lohnniveau in Japan, um die Lohnstückkosten in der Exportnation niedrig zu halten. Es war somit eine typische deflationäre Abwärtsspirale, bei der Konjunkturmisere, sinkende Preise und zurückgehende Nachfrage in Wechselwirkung treten, gegen die Japans Wirtschaftspolitik seit Jahrzehnten ankämpfte.6 Und Tokio tat dies durch unzählige keynesianische Konjunkturprogramme, mit denen die Wirtschaft belebt werden sollte.

Seit den 90er-Jahren haben japanische Regierungen mit massiven Investitionsprogrammen immer wieder die Wirtschaft zu beleben versucht, wobei die kurzen konjunkturellen Strohfeuer es nicht vermochten, die langfristige Tendenz zur Stagnation und Deflation zu beenden.7 Der Inselstaat wurde mit immer neuen Infrastrukturprojekten überzogen, mit Autobahnen, Brücken und sonstigen Großprojekten, um an die Boomperiode der japanischen Wirtschaft wieder anzuschließen.8 In der Tendenz nahm die Wirksamkeit dieser Konjunkturprogramme immer weiter ab, während die Industrienation in der Malaise der „verlorenen Jahrzehnte“ versank:9 Das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum betrug zwischen 1991 und 2010 kaum mehr als ein Prozent, während die Löhne im Schnitt um fünf Prozent zurückgingen.

Diese japanische Misere aus Stagnation und Deflation trat ab 2008 mit den globalen Krisentendenzen in Wechselwirkung. Die Weltfinanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und 2009, ausgelöst durch das Platzen der Immobilienblasen in den USA und Europa, führte zu einem massiven Wirtschaftseinbruch in der Exportnation Japan,10 der durch ein entsprechendes Konjunkturprogramm im Umfang von umgerechnet 154 Milliarden Dollar abgefangen werden musste.11

Geht es noch größer? Nach den gigantischen keynesianischen Pyramidenprojekten in der letzten Dekade des 20. und dem Krisenkeynesianismus im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war es die Regierung von Ministerpräsident Shinzo Abe, die ab 2013 mittels einer Mischung aus Konjunkturprogrammen und neoliberalen „Strukturreformen“, wie der Erhöhung der Mehrwertsteuer, die deflationäre japanische Wirtschaft auf einen soliden Wachstumskurs führen wollte. Rund 224 Milliarden Dollar investierte Tokio damals, um das Land aus der Stagnation zu führen – mit flüchtigem, bescheidenem Erfolg. Zugleich ging die japanische Notenbank unter Abe dazu über, ihre Aufkaufprogramme für Anleihen massiv auszuweiten.12

Doch all diese Konjunkturspritzen, die den anhaltenden Burnout der japanischen Arbeitsgesellschaft überwinden sollten, verblassen gegenüber dem Programm, das Tokio 2021 in Reaktion auf die Pandemie auflegte: Rund 490 Milliarden Dollar betrugen die Maßnahmen, mit denen die Folgen des Lockdowns und der Zerrüttung der globalen Lieferketten in der hochgradig international vernetzten japanischen Volkswirtschaft abgefedert werden sollten.13 Schon ein Jahr später legte Premier Fumio Kishida das eingangs erwähnte Konjunkturpaket im Umfang von 200 Milliarden Dollar auf, was auf den sinkenden konjunkturellen Effekt der im Umfang wachsenden Konjunkturpakete in einer kriselnden spätkapitalistischen Wirtschaft verweist. Immer größere Beträge müssen zwecks Stabilisierung in immer kürzeren Abständen in Nippon „verbrannt“ werden, um die stotternde Verwertungsmaschine des Kapitals am Laufen zu halten.

Und es zeichnet sich eine ganze Reihe von Faktoren ab, die darauf hindeuten, dass diese dekadenlange Praxis, mittels immer größerer Konjunkturpakete die Wirtschaft zu stützen, kaum noch aufrecht erhalten werden kann. Ein Umschlag in eine neue Krisenqualität scheint in Nippon möglich. Das Ende der keynesianischen Fahnenstange scheint in Japan erreicht, wie es nicht zuletzt die zunehmende Inflation14 samt der schwindsüchtigen japanischen Währung15 nahelegen. Die große Zinswende der Geldpolitik, die in den USA und der EU vor rund einem Jahr eingeleitet worden ist, bringt das auf Rohstoffimporte hochgradig angewiesene Japan immer stärker unter Druck, da Nippon als einzige große Wirtschaftsnation im Zentrum des Weltsystems sich dieser Zinswende verweigert und an einer lockeren, expansiven Geldpolitik festhält.

Nippons Vabanque

Da die Zinsen im Dollar- und Euroraum steigen, fließt Kapital aus dem Yen ab, was zur Abwertung der japanischen Währung führt – vor allem gegenüber der Weltleitwährung Dollar. Damit importiert aber Japan zugleich Inflation. Importe von Rohstoffen und Energieträgern, die im Greenback abgerechnet werden, werden folglich in Japan immer teurer, was der seit Jahrzehnten im „deflationären“ Japan unbekannten Inflation Auftrieb verschafft. Der Wertverlust der japanischen Währung ist dramatisch: Anfang 2020 kostete der Dollar etwas mehr als 100 Yen, während es im Oktober 2022 schon knapp 150 Yen waren. Nach einer massiven Intervention der japanischen Notenbank im Oktober, bei der die Rekordsumme von 42,8 Milliarden Dollar verfeuert wurde,16 konnte der Yen bei rund 135 Dollar stabilisiert werden. Insgesamt soll die japanische Notenbank seit der Zinswende in den USA und der EU schon 62 Milliarden Dollar zur Stützung des Yen verwendet haben.17 Die Währungsreserven Tokios sind aber mit rund 1,2 Billionen Dollar immer noch ausreichend, um den Yen auch mittelfristig stützen zu können.18

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Diese Währungsabwertung spiegelt sich auch in der japanischen Handelsbilanz wider, da die einstmalige Exportwirtschaft, die seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts über drei Dekaden Ausfuhrüberschüsse verzeichnete, nun immer neue Rekorddefizite einfährt. Zwischen 1981 und 2010 konnte Japans Exportwirtschaft zuverlässig einen Handelsüberschuss Nippons von einem bis zwei Prozentpunkten generieren, was erst im Gefolge des Krisenschubs von 2008/2009 ein Ende fand.19 2012 verzeichnete Japan ein Rekorddefizit von umgerechnet 78 Milliarden Dollar, nachdem krisenbedingt die japanischen Exporte eingebrochen waren und die Nuklearkatastrophe von Fukushima den durch Importe gedeckten fossilen Energiebedarf der japanischen Wirtschaft ansteigen ließ.20 Nach einer kurzen Stabilisierung der Handelsbilanz ab 2015, die bis 2021 mehr oder weniger ausgeglichen war, scheint es nun abermals steil abwärtszugehen: Im November 2022 wurde ein Negativrekord erreicht, als das Defizit auf rund 13 Milliarden Dollar anschwoll – doppelt so hoch wie im Vorjahresmonat.

Die Zinserhöhungen insbesondere durch die Fed, der die EZB folgte, nötigen somit fast alle kapitalistischen Zentrumsländer dazu, sich dieser Zinswende anzuschließen, um Währungsabwertungen und anschließenden Inflationsimport zu minimieren. Die japanische Notenbank legitimiert ihr Festhalten an der Nullzinspolitik mit der miserablen Konjunkturentwicklung in Japan,21 da Nippos Wirtschaftsleistung im dritten Quartal 2022 um 0,8 Prozent schrumpfte.22 Angetrieben wurde diese Konjunkturmisere vor allem von der Industrieproduktion, die zur Jahresmitte besonders stark zurückging.23 Noch Mitte 2022 hoffte Tokio, dass Japans Wirtschaft angesichts der gigantischen Konjunkturprogramme im laufenden Fiskaljahr ein Wachstum von zwei Prozent erreichen würde.24 Für das kommende, im April beginnende Fiskaljahr wird ein Wachstum des BIP von 1,5 Prozent prognostiziert – während die Wachstumsprognose für das laufende Fiskaljahr 2022 auf 1,7 Prozent reduziert wurde.25

Damit wird auch die strukturelle Erschöpfung der besagten keynesianischen Konjunkturpolitik in Japan evident: rund ein Jahr nach der Verabschiedung eines 490 Milliarden Dollar umfassenden Konjunkturpakets droht Japan abermals in eine Rezession abzudriften, was die eingangs erwähnte, abermalige Konjunkturspritze von 200 Milliarden erforderlich mache. Zugleich wird offensichtlich, dass die positiven Effekte von Währungsabwertungen, die im Zeitalter der neoliberalen Globalisierung exportorientierten Ökonomien wie der BRD massive Vorteile verschaffen konnten, längst von den negativen Effekten, den steigenden Rohstoff- und Energiepreisen, überlagert werden. Die Abwertungswettläufe des neoliberalen Zeitalters, bei dem Nationalstaaten durch Währungsabwertungen sich Exportvorteile zu verschaffen versuchten, sind in der neuen Krisenphase26 in Aufwertungswettläufe übergegangen, bei denen die Inflation auf die Konkurrenten abgewälzt werden soll.27

Nur Japans Notenbank stemmt sich gegen den globalen Trend, gegen die Zinswende. Die Financial Times (FT) beschrieb in einem Hintergrundbericht das riskante Vabanque-Spiel, das die japanische Krisenpolitik spielt, um das stagnierende Land durch den aktuellen Krisenschub zu bringen.28 Es ist eine Art volkswirtschaftlicher Spekulation, ein Vabanquespiel, bei dem Japans Funktionseliten auf einen sehr spezifischen Krisenverlauf spekulieren, um größere sozioökonomische Verwerfungen zu vermeiden. Die Aufkäufe von Staatsanleihen durch die Japanische Notenbank, die inzwischen Staatsschulden im Nennwert von umgerechnet 3,6 Billionen Dollar akkumuliert hat, die Konjunkturprogramme Tokios, die Stützungsmaßnahmen der Notenbank für den Yen, die Japans Devisenreserven schrumpfen lassen – diese Krisenmaßnahmen kämen faktisch einem „Kampf gegen die globalen Marktkräfte“ gleich, so die FT.

Und die Bank of Japan setze alles auf eine Strategie, bei der ein „Royal Flush nationaler und internationaler Entwicklungen“ es Nippon erlauben solle, die konjunkturbelebende, expansive Geldpolitik beizubehalten und die Phase einer Hochzinspolitik zu umschiffen. Die Financial Times nennt in diesem Zusammenhang unter anderem einen Anstieg des Lohnniveaus in Japan, eine Stabilisierung des schwindsüchtigen Yen, eine „weiche“, kurzfristige Rezession in den Vereinigten Staaten und ein baldiges Ende der monetären Straffung in den USA, die derzeit den geldpolitischen Aufwertungsdruck global ansteigen lässt. Mit anderen Worten: Tokio spekuliert auf ein baldiges Ende des gegenwärtigen Krisenschubs.

Japans Schuldenberge

Sollte diese Spekulation nicht aufgehen, dann scheint ein geordneter Kurswechsel zur restriktiven Geldpolitik, der ohne schwere ökonomische Erschütterungen vollzogen würde, kaum noch machbar. Wie tief sich die Bank of Japan in ihrer expansiven geldpolitischen Strategie festgerannt hat, machten Bemerkungen von Analysten in der Financial Times deutlich, wonach es kaum noch einen normalen Markt für japanische Staatsanleihen gebe. Demnach sei die Notenbank Nippons dabei, in ihrem Bemühen, die Zinsen für japanische Staatsanleihen niedrig zu halten, die „volle Eigentümerschaft“ über den Markt zu übernehmen, der „bereits beschädigt“ sei und perspektivisch „aufhören wird, zu existieren“. Im Klartext: Die Bank of Japan kauft massiv japanische Staatsschulden auf, um die Zinslast für den japanischen Staatshaushalt aufrecht zu erhalten. Inzwischen hält der japanische Staat vermittels seiner Notenbank rund 45 Prozent der japanischen Staatsschulden.29

Es gibt nämlich einen weiteren Faktor, der Japans Geldpolitiker von einer Hochzinspolitik abhält: es sind die in absurde Dimensionen getriebenen japanischen Schuldentürme. Und die Bedienung dieser Schuldenberge muss möglichst „günstig“ vonstattengehen, soll das traditionelle Haushaltsdefizit Tokios nicht vollends entgleisen.30 Die schier endlose Abfolge von Konjunkturprogrammen, d