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Archiv für die 'Feuilleton' Kategorie

Die German Angst

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Mai 2023

 Erst die German Angst macht die USA stark 

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Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Mevlüde Genc hat gelehrt, dass Hass als Reaktion auf Hass keine Lösung ist. Im politischen Alltag findet sich aber weiter das alte Spiel mit Stereotypen.

Diese Woche gedachten geschichtsbewusste Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik der fünf Menschen, die vor 30 Jahren rechtsradikalen Anschlägen zum Opfer fielen: Hülya Genç, Saime Genç, Hatice Genç, Gürsün İnce und Gülüstan Öztürk. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte die Ereignisse „Terror“. Und: „Dieser rechte Terror ist verantwortlich für die Toten in Solingen.“

Wichtiger als die Worte aller Präsidenten in dieser Sache waren für mich immer die Worte von Mevlüde Genç, hinterbliebene Mutter dreier Kinder, die nicht einmal Zeit zu trauern hatte: „In der Nacht habe ich geweint. Aber am Tag habe ich meinen überlebenden Kindern ins Gesicht lächeln müssen, um dafür zu sorgen, dass der Hass nicht Eingang findet in ihre Herzen.“

Bis heute halte ich bei diesem Satz die Luft an. Wichtiger als ihre Wut und ihre Trauer war es, dass ihre Kinder nicht von demselben Hass erfüllt werden wie die Mörder ihrer toten Kinder. Versöhnung war ihre lebenslange Botschaft: „Seid vernünftig. Weder Geschrei noch Bösartigkeit haben einen Sinn. […] Nur wenn sich alle gut verstehen und mit Toleranz begegnen, kann der Mensch ein glückliches Leben leben.“ Mevlüde Genc lebte „when they go low, we go high“ – lange vor Michelle Obama. Auch die Familie von George Floyd forderte von den Menschen, die sich gegen Rassismus einsetzen, für ihre Community zu arbeiten, statt diese mit ihrer – wenngleich gerechten – Wut zu zersetzen.

Die Hinterbliebenen und ihr Anspruch an uns Mithinterbliebene im gesellschaftlichen Sinn sollten unser Kompass sein: Menschenrechte einfordern, Behörden zur Aufklärung verpflichten, wo sie Menschen wie Menschen zweiter Klasse behandeln, aber den Hass nicht einsickern lassen in den Körper, das Geschrei in sich drosseln, bis man sein Anliegen so vorbringen kann, dass man einander hört. Mevlüde Gençs Wunsch, ihre Kinder vor dem Hass in sich zu schützen, war auch der Wunsch, dass die deutsche Gesellschaft sich nicht in ihrem Hass verlieren möge. Weder jene, die gute Gründe hätten zu hassen, noch jene, die sich für ihre Menschenfeindlichkeit die schlechten Gründe selbst liefern.

Nach solchen Gedenkfeiern die Frage: Was haben wir wirklich gelernt? Verdammt sich die deutsche Gesellschaft selbst dazu, mit diesem ewigen Hass umgehen zu müssen? Seit einigen Jahren wird der Kampf auch in deutschen Parlamenten gekämpft, nichts von dem Erinnern hat uns immunisiert. Es diskutieren gerade wieder viele – oder besser schreien und streiten –, wie sich die hohen Umfragewerte der AfD eher erklären lassen (aus sich selbst heraus scheint das wohl für die meisten nicht begründbar zu sein). Die einen sehen in der CDU/CSU und ihrem postmerkelschen Spiel mit dem rechten Rand den Dammbruch: Hier normalisiert eine Partei der Mitte den Tabubruch als Taktik: etwa wenn Friedrich Merz bei ukrainischen Kriegsflüchtlingen von „Sozialtourismus“ spricht und erst nach öffentlicher Empörung zurückrudert. Die Silvesterkrawalle in Berlin und eine unsägliche Berliner Wahlkampfdebatte im Anschluss, die geprägt war durch rassistische Klischees, die ihren Teil dazu beitrug, Kai Wegner von der CDU das Bürgermeisteramt zu sichern.

In Deutschland lassen sich mit rassistischen Parolen immer noch ein paar Prozentpunkte mehr holen, zumal in schwierigen Zeiten. Die CDU/CSU muss es schaffen, das Konservative in der Mitte zu halten, sie muss den Rand nach rechts schließen, eindeutige Botschaften senden, wo demokratischer Boden verlassen wird und Menschenfeindlichkeit beginnt. Das musste Markus Söder in Bayern schmerzhaft lernen; es wäre dumm, wenn Merz in diesem Fall nichts vom Bayernkönig Söder lernt. Söders Kampagne, mit der er damals sowohl Merkel als auch die humanitären Helfer der Asylsuchenden angriff, zahlte sich nur für den rechten Rand aus, nicht für ihn.

Auch die Grünen tragen ihren Teil bei, weil sie als selbsterklärte Klima- und Zukunftspartei die German Angst nicht mitdenkt. Große Teile der Deutschen haben Angst, zu kurz zu kommen. Manchmal wirkt das lächerlich, in manchen Bereichen jedoch lässt sich die Prekarisierung bis in die Mitte der Gesellschaft belegen.

Doch es ist momentan nicht nur die German Angst; auch in Spanien verlor die sozialistische Partei bei den Kommunalwahlen, sodass der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez nun Neuwahlen ansetzt. Linke machen oft den Fehler, in Zeiten der Macht auf eine Art durchzuregieren, dass sie schneller abgewählt werden, als sie Wandel bringen können. In Spanien wartet Isabel Diaz Ayuso von der Konservativen Volkspartei auf ihre Chance, manche nennen sie den spanischen Trump.

Quelle        :            TAZ-online        >>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —     Abbildung in Charles Darwins Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren

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Das Ende des Kapitalismus

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Mai 2023

Funktionsweise und Abschaffung

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :      Gerd Stange

Das Buch von Ulrike Herrmann mit diesem Titel macht Hoffnung, denn es trifft auf grosses Interesse. Leider ist ihre Analyse unzulänglich, auch wenn sie sich auf Karl Marx beruft.

Die Produktion braucht:1. Menschen
2. Natur (Boden, Rohstoffe)
Sie sind die einzigen Quellen von Reichtum. Für den Produktionsprozess brauchen wir ausser Menschen und Natur noch 3. Produktionsmittel
3.1. Boden
3.2. Gebäude
3.3. Arbeitsmittel und Maschinen

Voraussetzungen für kapitalistische Produktion sind zusätzlich

4. Privateigentum an Produktionsmitteln
5. Bürgerliche Freiheit : Mittellose freie Arbeitskräfte
6. Marktwirtschaft
7. Reichtum und Armut: Ursprüngliche Akkumulation
8. Konkurrenz um Profit

In der Feudalgesellschaft am Ende des Mittelalters beruhte die Herrschaft des Adels auf nackter physischer Gewalt. Der Ritter war der Reiter mit Dolch, Schwert und Lanze. Ihm beiseite stand die geistige Macht der Kirche mit ihrem Geheimwissen (Bibel auf Latein) und dem Analphabetismus der Landbevölkerung. Die arbeitende Bevölkerung waren Leibeigene oder Sklaven.

Ausser den Produktionsmitteln Boden und Gebäuden musste der Kapitalist also genügend Geld haben, um sich die Produktionsmittel zu kaufen oder zu mieten. Im letzteren Fall musste er kreditwürdig sein, also genügend Geld zur Absicherung haben. Das bedeutet heute: Sein monatlicher Überschuss muss dauerhaft das Dreifache seines Darlehens betragen, sonst gibt die Bank keinen Kredit.

Seit Abschaffung der Leibeigenschaft und der Sklaverei muss die Arbeitskraft gemietet werden. Dafür mussten die Menschen befreit werden und mittellos sein. Die formale Freiheit warf sie auf den Arbeitsmarkt, denn gleichzeitig wurde das Land, von dem sie bis dahin gelebt hatten, privatisiert. Die gemeinschaftliche Verfügung über den Boden (Allmende) wurde mit Gewalt beseitigt und war ein entscheidender Schritt der ursprünglichen Akkumulation, der zuerst in der feudalen englischen Gesellschaft geschah (vor dem Kapitalismus). Freiheit und Mittellosigkeit bedeutet bis heute weiterhin Arbeitszwang, auch wenn die körperliche Arbeit überwiegend von Ausländern oder im Ausland gemacht wird.

Das machte es damals den Kapitalisten möglich und macht es heute immer noch, nicht die geleistete Arbeit zu bezahlen, sondern den Lebensunterhalt − wie in anderen Gesellschaften den Sklaven oderLeibeigenen. Die Länge und Intensität der Arbeit bestimmt das Kapital. Durch die gewerkschaftliche Organisierung wurde der tödlichen Ausbeutung im Raubtierkapitalismus eine Grenze gesetzt, aber auch die gebildeteren Mittelschichten übersehen, dass sie ihre Arbeit nur notwendigerweise machen. Die Identifikation mit dem Beruf (Frage: „Was bist du? Ich meine: von Beruf?“ täuscht darüber hinweg, dass erst im Rentenalter die Freiheit beginnt, falls das Rentenalter erreicht wird und die Rente zum Leben reicht.

Die Arbeitszeit ist nicht bestimmend für die Bezahlung, sondern ihr Wert, der sich nach den Kosten des Lebensunterhaltes der „Besitzer“ der Arbeitskraft richtet. Früher war das klassisch eine Arbeiterfamilie. Heute kann sich der Kapitalismus nicht mehr leisten, auch noch die Frau des Arbeiters zu bezahlen, weil sie eine billigere „Ressource“ in vielen Bereichen ist, wo die Männer ungeübt sind.

Der Gewinn des Kapitalisten entsteht daraus, dass er die geleistete Arbeit nicht bezahlt, sondern nur die Miete der Arbeitskraft.

Kredit ist keine Voraussetzung für den Kapitalismus, sondern ein teures Accessoire, das es schon lange zuvor gab, wie Ulrike Herrmann gut beschreibt. Geld kann nur zu Kapital werden, wenn es die Voraussetzungen erfüllt und in die Produktion gesteckt wird. Und Kredit kann es nur geben, wenn schon Kapital vorhanden ist. Deshalb ist Finanzkapital kein Kapital im Sinne des Kapitalismus, denn es bestand schon vor ihm. Es gehört zur Voraussetzung der ursprünglichen Akkumulation von Reichtum. Anders gesagt: Der Feudalismus ist nicht abgeschafft. Der Adel hat nicht nur Schlösser und Geld, sondern auch Wälder, Bodenschätze und einen Hang zum Militär, wo er im 2. Weltkrieg eine grosse Rolle spielte. Durch den Schutz des Privateigentums ist sein Weiterbestand gesichert.

Das Finanzkapital wächst in der Regel auch dann, wenn es nicht in Kapitalunternehmen angelegt wird, aber es ist verwundbarer, es kann durch Inflation oder staatliches Handeln wertlos gemacht werden. Seitdem Geld an keine Materie mehr gebunden ist, kann es nach Belieben auf und abgewertet werden und sehr flüchtig sein. Geldvermögen können innerhalb von Minuten vernichtet werden.

Kapitalismus ist also, dass Geld mit den oben genannten Produktionsmitteln in die Herstellung von Waren gesteckt wird. Dabei interessiert der Kapitalismus sich nicht ernsthaft für den Gebrauchswert (China macht es besonders deutlich), sondern nur für den Tauschwert der Produkte. Er will sie als Ware verkaufen, mehr nicht. Zu seinen Voraussetzungen zählen also frei Märkte ohne Beschränkungen. Die liberalen Parteien, die für bürgerliche Freiheit kämpfen, haben also auch noch den freien Markt im Forderungskatalog. Sie haben die Globalisierung vorangetrieben – insbesondere für die nationalen Monopole, die auf den Weltmarkt angewiesen sind. Zölle sind eine Reduzierung des Gewinns.

Konkurrenz

Sie ist der Motor und das Verhängnis kapitalistischer Produktion. Die Aussicht auf Profit kurbelt die Produktion an, solange die Nachfrage wächst. Am Ende bleiben die Waren mit der geringsten Profitspanne unverkäufliche und einige Wettbewerber scheiden in der Krise aus. Arbeitskräfte werden entlassen, technische Neuerungen entwickelt, so dass die verbleibenden Konkurrenten profitabler mit weniger Menschen weitermachen können. Dieser Prozess hat in einigen Branchen (von der Automobilindustrie bis zur Agrikultur) zur Einführung von Robotern und Monopolähnlichen Strukturen auf Weltniveau geführt.

Die Planwirtschaft hat seit 1918 in zahlreichen Ländern immer wieder gezeigt, dass sie dem Kapitalismus unterlegen ist, weil sie das Konkurrenzprinzip aufgibt und die gesellschaftlichen Bedürfnisse von oben bestimmt. Zuletzt hat die VR China ihren Kurs gewechselt und den Kapitalismus zugelassen, bevor sie den USA unterlegen und untergegangen wäre. Mit dem Einzug des Kapitalismus kam es dort schliesslich auch zu einer Überproduktions und Gesundheitskrise trotz Planwirtschaft.

Entstehung von Profit

Wert Wenn alle Produktionsmittel gekauft sind und die Arbeit gemacht ist, ergeben sich zwei Werte des Produktes. Der erste ist der Gebrauchswert, der nicht quantitativ zu bemessen ist, weil er die Qualität des Produktes für den Gebrauch meint. Für den Tausch jedoch, also den Verkauf als Ware erhält das Produkt einen Tauschwert, der den eigentlichen Wert des Produktes übersteigt, weil der Kapitalist einen Profit aufschlägt. Sonst würde er sich nicht auf diesen Prozess einlassen. So wird aus dem Tauschwert der Preis. Der ganze Produktionsprozess könnte also ohne den Kapitalisten billiger sein, zumal er in der Regel die Produktionsleitung nicht selbst macht. Facebook sähe anders aus, wenn kein Zuckerberg mehr Hass predigen würde, weil Hass den optimalen Profit bringt, und wäre preiswerter. Der Einsatz von Geld in die Produktion hat zwei Stellschrauben:

1. Wert der Ware Arbeitskraft
2. Einsatz von Technik

Bei gleichem Stand der Technik kann nur durch Verbilligung der Arbeitskraft ein höherer Preis erzielt werden. Das hat die Auslagerung vieler Industriezweige nach Asien gezeigt. Aber irgendwann ist das ausgereizt. Also gibt es einen immanenten Druck, Arbeitskraft durch Technik zu ersetzen, die Produktionssteigerung möglich macht und damit den Tauschwert senkt. Dieser Druck hat letztlich zur Roboterisierung der Produktion geführt. Der Mensch in der Produktion wird abgeschafft und hört auf, neben der Natur eine Quelle des Reichtums zu sein.

Krisen

Es gibt Wirtschafts und FinanzKrisen.

Jede Wirtschaftskrise ist eine Überproduktionskrise und eliminiert alle Unternehmen, die nicht auf dem technischen Stand sind oder zwingt sie zur weiteren Technisierung. Zugleich entlässt sie die überflüssig werdenden Arbeitskräfte und erzeugt Arbeitslosigkeit bei den Menschen. Jede Wirtschaftskrise bedeutet Produktionsrückgang, Entwertung und Vernichtung von Gebrauchswerten.

2008ff war eine Wirtschaftskrise, die durch Überproduktion entstanden ist. Vor allem Wohnraum in den USA, aber auch Automobile weltweit. Die Bankpleite von Lehmann Brothers hätte vermieden werden können, das war anscheinend nicht gewollt.

Die Überproduktion in der ökonomischen Krise ist systemimmanent, weil jedes einzelne Kapitalunternehmen maximalen Absatz sucht und es dafür keine Grenze gibt, denn die Konkurrenz würde sonst obsiegen. Der Raubbau an der Natur ist also ebenso zwangsläufig wie die Vernichtung von Gebrauchswerten durch Überproduktion. Diesen Wettkampf verlieren die Unternehmen, die den geringsten Profit erwirtschaften, so dass eine Kapitalkonzentration Richtung Monopol zwangsläufig ist. Am deutlichsten in der Luftfahrt und der Automobilindustrie zu sehen. Weitermachen dürfen die Firmen mit der grössten Gewinnspanne (Beispiel: Tesla). Wenn die Roboterisierung in allen Produktionsbereichen durchgesetzt sein wird, steht eine immer grössere Menschenmasse weltweit ohne Einkommen da, was die Migrationsströme und Verteilungskriege brutal verschärft. Für 8 Milliarden Menschen ist Flucht und Krieg keine Lösung. Das ist aber die logische Folge von Roboterisierung und Einsparung von Arbeitskräften. Vorübergehend wird der Profit für Musk & Co steigen, weil er Arbeitskräfte eingespart hat. Aber wenn alle Konkurrenten nachziehen und automatisieren, gibt es nichts mehr zu sparen für ExtraProfite.

Finanzkrisen hingegen sind Spekulationsfolgen, die wie in einem riesigen Casino die Geldbesitzer beschäftigen. Sie sind die Folge von Geldreichtum und können durch Geldentwertung gelöst werden. Finanzkrisen ziehen nicht zwangsläufig Wirtschaftskrisen nach sich, weil sie nur Geld entwerten, kein Kapital. Sie betreffen nur die mit Finanzen.

Abschaffung des Kapitalismus

Die Abschaffung des Kapitalismus kann nur gelingen, wenn seine Voraussetzungen und darüber hinaus seine Funktionsprinzipien abgeschafft werden.

Funktionsweise des Kapitalismus

Kapital ist Geld, das in die Produktion von Gebrauchswerten investiert wird, damit es mehr Geld wird. Es geht ihm ausschliesslich um Quantität, weil es selbst nur Quantität ist. Wachstum ist seine Zauberformel. Deswegen muss das Bruttosozialprodukt selbst dann immer wachsen, wenn ein Land im Überfluss schwimmt. In kaum einem Land ist der Wachstumsdruck höher als in der Schweiz.

Der kapitalistische Produzent ist also nur so weit an der Qualität des Gebrauchswerts seines Produktes interessiert, als er es auf dem Markt in Warenform verkaufen will. Für ihn ist es eine TauschwertProduktion zwecks Gewinnerzielung. Der Gewinn entsteht dadurch, dass er sich die Arbeit bezahlen lässt, die seine Arbeitskräfte in der Produktion hineingesteckt haben. Das ist seine einzige Stellschraube, denn der Stundenlohn verschleiert, dass nur ein Bruchteil des Wertzuwachses durch Arbeit bezahlt wird.

Schon lange ist die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse nicht mehr das Ziel, denn das wäre erreichbar, jedoch würde es Stillstand bedeuten. Stattdessen müssen ständig neue Bedürfnisse kreiert werden, um die Produktion am Laufen zu halten. Die Ausgaben für Werbung sind zu lästigen, aber notwendigen Kosten der Produktion geworden. Es gibt einen Überfluss an Überflüssigem und trotzdem nicht das Notwendige für alle. Eine Abkehr vom Kurzlebigen, Nutzlosen und Überflüssigen ist Voraussetzung für eine Gebrauchswertproduktion:

Die quantitative Tauschwertproduktion muss in eine qualitative Gebrauchswertproduktion verändert werden. Das Sozialprodukt darf nicht mehr am Tauschwert der Waren (folglich dem Preis) gemessen werden. Bestimmendes Kriterium für die Produktion muss die Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse durch entsprechend gebrauchsorientierte Waren sein. Den Gebrauchswert kann man nicht messen, nur erfragen und ständig verbessern: den Nährwert von Nahrungsmitteln, die Haltbarkeit von Kleidung, die Umweltverträglichkeit…

Für eine Gebrauchswertorientierung bedarf es gesellschaftlicher Diskussionsprozesse, also einer Neuerfindung und Erweiterung der Demokratie. In diesem Bereich könnten soziale Medien ihrem Namen gerecht werden. Keine Planwirtschaft von oben kann ernsthaft die Bedürfnisse bestimmen. Sie hat in England im Krieg funktioniert, weil es eine nationale Angelegenheit war, in der es um das Überleben ging.

In einer nachkapitalistischen Gesellschaft muss sich unser ausbeuterisches Verhältnis zur Umwelt verändern, das den Menschen und die Natur gleichermassen unterwirft, missbraucht, vernichtet, mit Krieg und Forstwirtschaft die Erde verwüstet, mit Verkehrsmitteln und Agroindustrie uns die Luft zum Atmen nimmt. Es geht nicht darum, einen bestimmten erreichten Standard zu bewahren, sondern unser Verhalten und die Verhältnisse zu verändern. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, die sich die Natur zum eigenen Nutzen unterwerfen soll. Er muss sich als Teil der Natur begreifen, die dabei ist, sich massiv gegen sein Schmarotzertum zu wehren. Es ist Konsens in der Wissenschaft, dass die Pandemien weiter zunehmen werden, und sie betreffen vor allem die sogenannte zivilisierte Welt.

Vergesellschaftung der Produktionsmittel: Die Enteignung zum Wohle der Gemeinschaft ist im Grundgesetz enthalten. Sie müsste ersatzlos sein, denn dieses Privateigentum basiert historisch auf Raub oder anderer gewaltsamer Aneignung. Das gilt insbesondere für adligen Grossgrundbesitz (zum Teil aus dem Mittelalter) und für Kolonien, in denen viele Bodenschätze Westeuropas lagern.

Geldreichtum müsste begrenzt und von einer Währungsreform begleitet werden, um die extreme Ungleichheit nicht fortzusetzen.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —   Alleestraße 144 in Bochum

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Mit Mut: „Letzte Generation“

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Mai 2023

Solidarität mit der Letzten Generation

Wo denn sonst könnte ein „Demokratisch“ sich nennender Staat, schöner seine politische Unfähigkeit unter Beweis stellen ? Er hat doch nicht einmal seine eigene Gewalt unter Kontrolle.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Hans Christoph Stoodt

Die Razzien gegen die Aktivisten von „Letzte Generation“ zeigen einmal mehr, wo sich Staat und Justiz derzeit positionieren.

Razzien gibt es nicht wegen des sehr wahrscheinlichen Bruchs der Verfassung und ihres Artikels 20a GG im Rahmen der derzeitigen Verkehrs- oder Energiepolitik.

Kein Manager irgendeiner der betrügerischen Autofirmen, die im Zusammenhang der „Dieselgate“-Affäre nicht etwa, wie es verharmlosend hieß, „geschummelt“, sondern wissentlich und mit voller Profitabsicht Menschen und Mitwelt massiv geschädigt haben, wurde in der heute zu erlebenden Art und Weise drangsaliert, Razzien gibt es auch nicht gegen die RWE-Manager, die Landesregierungen von NRW und anderen Bundesländern, die ebenfalls wissentlich für das Profitinteresse großer Energiekonzerne riesige und nicht wieder gut zu machende Schäden angerichtet haben, auch nicht gegen die Autobahn-GmBH, die DEGES und die schwarzgrüne Landesregierung von Hessen, die beim Bau der A49 mitverantwortlich für die nun zu befürchtende Trinkwasservergiftung mit krebserzeugenden Rückständen der Sprengstoffproduktion bei Stadtallendorf für die frühere Nazi-Wehrmacht ist, und von der sie seit Jahren wissen konnten.

Nein. Razzien gibt es gegen Menschen, die mit fast schon religiösem und oft genug auch verzweilfeltem Eifer die Gewaltfreiheit ihrer Aktionen Zivilen Ungehorsams betonen und penibel praktizieren, auch wenn sie von wütenden Autofahrer:innen getreten, geschlagen, beschimpft, bespuckt, angezeigt wurden. Solch ein Verhalten soll den Tatbestand der Bildung einer „Kriminellen Vereinigung“ erfüllen.

Die Flut der Anzeigen von in ihrer Mobilitäts-Freiheit sich eingeschränkt fühlenden Büger:innen hat nun, so hört man es aus München, zu den heutigen Razzien gegen „Letzte Generation“ geführt.
Gegen sie wird als mögliche „kriminelle Vereinigung“ ermittelt.

Das ist bodenlos, absurd, das ist staatliche Gewalt. Das ist zutiefst irrational – denn kein Milligramm CO2 weniger wird durch diese Aktion in die Atmosphäre gegast, nichts ändert sich in der Sache, um die es geht, zum Besseren. Das ist die in der Klimafrage in Wahrheit hilflos mit ihren Machtmitteln fuchtelnde Demonstration eines um sich schlagenden Staats, der diejenigen bestraft, die ihn, leider wohl allzu illusionär, an seine Amtspflichten erinnern.

File:Letzte Generation Friedlicher Protestmarsch 04 2023 Berlin.jpg

Ich möchte, anstatt vieles andere zu zitieren, einfach nur daran erinnern, daß der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau, Pfarrer Dr. Volker Jung, vor nicht allzulanger Zeit seine Solidarität mit „letzte generation“ bekundet und sie ausdrücklich gegen Kriminalisierungsversuche in Schutz genommen hat (https://www.ekhn.de/aktuell/detailmagazin/news/tempolimit-kirchenpraesident-drueckt-fuers-klima-auf-die-bremse.html).

Es bedarf schon eines CSU-Verständnisses von Christentum und Schöpfung, staatliche Machtmittel im heute zu erlebenden Ausmaß gegen Klimagerechtigkeitsaktivist:innen in Marsch zu setzen.

Alle, die die Hoffnung auf eine Welt nicht aufgegeben haben, in der soziale Gerechtigkeit, Frieden und ein rationaler, zukunftsfähiger Umgang mit den natürlichen Grundlagen der menschlichen Zivilisation als Möglichkeit in Blick und Reichweite bleiben, sind aufgerufen, sich lautstark und deutlich mit „Letzte Generation“ zu solidarisieren – völlig gleichgültig, ob man mit dieser oder jener Aktion der Gruppe voll und ganz einverstanden ist.

Urheberrecht
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Oben       —       Caris und Solvig, zwei Mütter vom Aufstand der Letzten Generation, haben sich im Naturkundemuseum festgeklebt. Caris hat einen Sohn und Solvig vier Kinder. Hier löst die Polizei den Kleber. Ein Knochen des Sauriers, ein Imitat, ist abgebrochen. Berlin, 30.10.22

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Kolumne-La dolce Vita

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Mai 2023

Kümmert euch um das Problem selbst!

Aber Pollitiker haben noch nicht einmal das gelernt und sind auf ihre Knüppelbarden angewiesen.

Von    :    Amina Aziz

Debatte über Rassismus in der Polizei. – Nach der Kritik der Dozentin Bahar Aslan am Rassismus in der Polizei diskutieren alle über die Art der Diskussion – doch viel zu selten über die Sache.

Als Horst Seehofer vor zwei Jahren Hengameh Yaghoobifarah mit einer Anzeige gedroht hat, habe ich ihm Yaghoobifarahs Roman „Ministerium der Träume“ geschickt. Es war unfassbar für mich, dass ein deutscher Innenminister so gegen ihm unliebsame Jour­na­lis­t*in­nen vorgehen will.

Jetzt wurde mal wieder durch eine rassifizierte Person eine Polizeidebatte ausgelöst. Bahar Aslan hat als Dozentin für interkulturelle Kompetenz bei der Polizei in einem Tweet vom „braunen Dreck bei den Sicherheitsbehörden“ gesprochen und ist ihren Job los. Dagegen klagt sie. Aus Solidarität mit ihr haben Hunderte einen offenen Brief unterzeichnet.

Während es in anderen Ländern völlig normal ist, auf Polizei und Politik zu schimpfen, verzeiht man in Deutschland so eine Wortwahl nicht. Der Ton macht die Musik und ist bisweilen wichtiger als das Anliegen. Die Anfeindungen gegen Aslan sind nur ein Beispiel für eine intolerante Rechte, die alles noch so Banale zum Anlass nimmt, ihren Rassismus so auszuleben, dass migrantische Personen gecancelt werden und eine Öffentlichkeit glauben gemacht wird, dass so eine Aussage tatsächlich schlimm sei.

Die Debatte, die das entfachte, ist gesellschaftspolitisch und intellektuell armselig. Das liegt auch an dem offenen Brief. Darin wird sich von der Wortwahl Aslans distanziert. Dieser Wortwahl stehen die im Brief selbst erwähnten Beamten gegenüber, die Nazis sind, aber nicht beleidigt werden sollen. Wo kämen wir da hin, Nazis zu beleidigen?

Der Streit um den Knochen?

Der Brief beginnt mit dem Satz: „Wir stehen hinter der Polizei.“ Es ist erschreckend, wie viele Menschen diese Aussage unterzeichnet haben, als ob es der einzige Weg ist, Solidarität mit Aslan zu äußern. Es gibt keinen Grund, hinter einer Staatsgewalt zu stehen.

Als seien migrantische Cops cooler

In Brief und Debatte werden auch weder die Opfer von Polizeigewalt erwähnt, noch problematisiert man Antirasissmus-Workshops bei der Polizei. Als ob es eine rassimussensible Polizei geben könnte und migrantische Cops cooler wären.

Der Brief zeigt, dass die Kritik an der Polizei, die seit dem Mord an George Floyd und der Debatte mit Seehofer geäußert wurde, in der Breite nicht angekommen ist.

Stattdessen wird über die Art und Weise diskutiert, wie man Kritik äußern sollte. Als wäre dieses Land Herr von Knigge persönlich und nicht eins, über dessen Bevölkerung es Studien zu ihrem autoritären Charakter gibt.

Quelle      :    TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben     —    Kostüm von Danilo Donati für „Il Casanova“, Film von Federico Fellini en 1976, Schauspieler Donald Sutherland. – Anita Ekberg – Giulietta Massina et Marcello Mastroianni / Kostüme, Accessoires, Dessins, Dekore, Scénarios, Fotografien, Montage, Postproduktion.

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Ohne Bündnispartner

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Mai 2023

Wahlniederlage der griechischen Syriza

Ein Debattenbeitrag von Ferry Batzoglou

Eine einsame Partei in Athen. – Die linke Syriza hat versäumt, für die Zeit nach der Wahl eine Koalition vorzubereiten. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft zutiefst konservativ ist.

Schock, Trauer, Enttäuschung. Die radikal-linke Partei Syriza unter Ex-Premier Alexis Tsipras, die einst einen rasanten Aufstieg von einer Kleinpartei zur Regierungspartei schaffte, verlor bei den Parlamentswahlen am 21. Mai in Griechenland ein Drittel ihrer Wähler. Ein Desaster, eine Schmach.

Fast 41 Prozent stimmten für den Wahlsieger, die konservative Nea Dimokratia (ND). Die seit 2019 allein regierende ND legte im Vergleich zu ihrem letzten Wahltriumph um einen Prozentpunkt zu, Syriza verlor hingegen fulminante 11,5 Prozentpunkte.

Die ND hat jedoch ihr Ziel verfehlt, weiter allein zu regieren. Daher werden die Griechen am 25. Juni wieder wählen. ND-Premierminister Kyriakos Mitsotakis setzt beim nächsten Urnengang auf ein Mandate-Bonus von bis zu 50 Mandaten für den Erstplatzierten, der früher bei Wahlen bereits galt und im Juni erneut. So will Mitsotakis am Zepter in Athen bleiben.

Weshalb triumphierte die ND? Wieso ging Syriza krachend unter? Zum Verhängnis wurde Syriza in erster Linie, dass sie im Wahlkampf keine Bündnispartner präsentieren konnte. Gebetsmühlenartig sprach sich Parteichef und Ex-Premier Alexis Tsipras vor der Wahl für die Bildung einer Koalitionsregierung „der fortschrittlichen Kräfte“ aus. Sein Lieblingspartner: die Pasok. Doch die Sozialdemokraten wollten nicht. Ebenso fiel für Tsipras die linke Mera25 unter dem Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis als potenzieller Koalitionspartner aus. Pudelwohl fühlt sich ferner die Kommunistische Partei (KKE) in der Rolle der ewigen Opposition.

Ein selbstgesetztes Ende

Mitsotakis setzt auf den „Trickle-down-Effekt“, der in der Mittelschicht aber kaum angekommen ist

Sachthemen traten bei der Wahlentscheidung in den Hintergrund. Dabei sprach Syrizas Regierungsprogramm mit seinen Kernzielen „Erhöhung der Löhne und Gehälter“, „Senkung der Preise“, „Regelung der Privatschulden“ und „Demokratie überall“ durchaus die breite Bevölkerung an. Das trat im öffentlichen Diskurs jedoch völlig in den Hintergrund. Wegen der koalitionsstrategisch schwierigen Situation für Syriza wollten die Wähler folgerichtig nur eines: die Regierbarkeit in Griechenland. ND bot dies, Syriza nicht.

Den Todesstoß versetzte sich Syriza selbst. Vier Tage vor der Wahl verschreckte eine Äußerung des früheren Syriza-Arbeits- und Sozialministers Georgios Katrougalos die Wähler. Er sinnierte über höhere Sozialbeiträge für Freiberufler. Er hatte sie 2016 exorbitant erhöht, die Regierung Mitsotakis hatte sie wieder gesenkt.

Ein „Eigentor in letzter Minute“, wie Politanalysten in Athen unisono befanden. Die Freiberufler, Bauern und sogar Jungwähler votierten in Scharen für die ND. Ferner konnte die ND einen großen Teil der rechtsextremen Wähler für sich gewinnen. Die ND profitierte dabei von dem von ihr initiierten Wahlausschluss der rechtsradikalen Partei Ellines. Enttäuschte Syriza-Anhänger blieben zudem der Wahl fern: Die Wahlbeteiligung lag bei nur 61 Prozent.

Die Jubelarien über die ND in deutschen Medien indes sind mit Vorsicht zu genießen. „Griechische Wiedergeburt“ schrieb die FAZ, und das Handelsblatt meinte: „Premier Mitsotakis hat gezeigt, dass Fiskaldisziplin auf lange Sicht wachstumsfördernd sein kann. Das einstige Krisenland steht so stabil da wie lange nicht.“

Das ist eine schöne Erzählung, sie ist aber leider falsch. Wer genauer hinschaut, sieht, dass es mit der vermeintlichen Erfolgsstory mit der Handschrift von Mitsotakis nicht so weit her ist.

Das Post-Corona-Wachstum in Hellas, auf das die Mitsotakis-Fans gerne verweisen, folgte einem brutalen ökonomischen Einbruch von 9 Prozent im Coronajahr 2020. Von 2020 bis 2022 wuchs die griechische Wirtschaft in Summe nur um 5,2 Prozent. Die ohnehin exorbitant hohe griechische Staatsschuld kletterte in der Ära Mitsotakis auf ein Allzeithoch von 401,5 Milliarden Euro. Dies sind genau 45 Milliarden Euro mehr als zu Beginn der Regierung Mitsotakis. Es gab unter Mitsotakis schlicht keinen Sparkurs in Athen, sondern neue Schulden.

Starker Reallohnverlust in Griechenland

Die Arbeitslosenrate sank zwar von 17,3 Prozent 2019 auf 12,4 Prozent im Jahr 2022. Der Rückgang geht aber maßgeblich auf die Schaffung von schlecht bezahlten Teilzeitjobs zurück: Hellas ist zu einem Land der billigen Arbeit verkommen. Das gilt in großen Teilen auch für Vollzeitjobs: Ein Paar mit zwei Kindern brachte 2021 im Schnitt 33.044 Euro netto nach Hause, so wenig wie 2003 und gut 20.000 Euro weniger als der EU-Durchschnitt (53.397 Euro). Mitsotakis setzt auf den neoliberalen „Trickle-down-Effekt“, der in der Mittelschicht aber bislang kaum angekommen ist.

Quelle         :         TAZ-online         >>>>>      weiterlesen

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Oben     —   Alexis Tsipras während der Münchener Sicherheitskonferenz 2019

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Podemos kämpft + verliert

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Mai 2023

Spanien wählt gegen den Separatismus

Reparto de concejales en la Elecciones municipales de 2023 en Alcalá de Henares (Comunidad de Madrid – España):   PSOE: 11 concejales   PP: 11 concejales   Vox: 3 concejales   Más Madrid-Verdes Equo: 2 concejales.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Siegfried Buttenmüller

In Spanien fanden am Pfingstsonntag 2023 Kommunalwahlen und zugleich Wahlen zu den meisten Parlamenten der autonomen Regionen (Bundesländern) statt.

Den vorläufigen Ergebnissen nach haben die separatistischen Parteien überall erheblich an Einfluss und Stimmen verloren. Erheblich gewonnen haben die konservativen und republikanischen Parteien, die vor allem den Erhalt des Spanischen Staates proklamierten. Die Autonomen Provinzen waren unter starkem Einfluss der Separatisten und Lokalchauvinisten unter anderem so weit gegangen, lokale Dialekte und Sprachen als Amtssprachen einzuführen und den spanischen Staat in Frage zu stellen. Wobei Sie ebenfalls konservative und neoliberaler Richtung sind und entsprechende Politik gemacht haben, aber eben nur in Abgrenzung und Ablehnung zum spanischen Staat.

Seit den „Erfolgen“ der Separatisten bei den letzten Regionalwahlen hat sich der Wind allerdings stark gegen den Separatismus gedreht. Man hat den Niedergang von Großbritannien durch den sogenannten Brexit vor der Haustüre, aber auch Syrien, wo es den reaktionären Kräften gelungen war die Menschen in den Provinzen gegeneinander aufzuhetzen und in den verheerenden Bürgerkrieg zu treiben. Auch die Sowjetunion und vor allem Jugoslawien sind Beispiele wie verheerend sich der Separatismus auf die Lebensbedingungen der Menschen auswirkt.

Die Angst vieler Menschen vor einem Zerfall des spanischen Staates hat die sehr gute Sachpolitik, von Podemos vor allem, überlagert. Podemos tritt für Basisdemokratie, Komunalismus, soziale, demokratische und umweltgerechte Politik ein, was nichts mit dem Separatismus und Lokalchauvinismus gemein hat. Der Wahlkampf von Podemos war mit geringen Mitteln aber bestens geplant und vorbereitet gewesen, so dass die Organisation einen großen Kampf geliefert hat und hierdurch gestärkt worden ist. Die überall vorhandene Korruption wurde überall radikal angeprangert, in der Hauptstadt Madrid etwa durch ein Plakat das 5 Stockwerke eines Hauses und die Breite des Hauses groß war. T-Shirts mit dem Abdruck eben dieses Plakates, das den Bruder der Madrider Regionalpräsidentin Ayuso zeigt, dem in der Pandemie Hunderttausende Euro Gewinn zugeschanzt worden waren. Auch die Kriminalität und Korruption des Königshauses wird von Podemos hart angeprangert und eine Volksabstimmung zur Abschaffung der Monarchie gefordert. Außerdem tritt Podemos für radikale Sozialreformen ein, etwa wie das Recht auf eine eigene Wohnung und auf genügend und Bedingungslose Einkommen, Nulltarif im öffentlichen Personenverkehr sowie für radikale Maßnahmen zum Schutz der Umwelt, um die Trockenheit, Dürre, Wassermangel und gefährliche Hitzewellen einzudämmen. Auf Kommunaler Ebene hat Podemos versucht das alles umzusetzen und dafür auch außerparlamentarisch mobilisiert. So konnten Räumungen von Wohnungen oder Stromsperren durch die reaktionären Regionalregierungen und ihre Mossos (Landespolizei) durch Massenmobilisierungen verhindert werden.

Zudem konnte Podemos kompetente und fähige Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl aufstellen. In Madrid kämpfte etwa der bekannte Spitzensportler Roberto Sotomayor immer schlagfertig an der Spitze der Liste für den Stadtrat. Für das Regionalparlament Madrid hatte Podemos die junge Aktivistin aus sozialen Bewegungen, praktizierende Menschenrechtsanwältin und studierte Verwaltungsspezialistin Alejandra Jacinto als Spitzenkandidatin und Regionalpräsidentin aufgestellt, die an vorderster Front für die Menschen und das Programm von Podemos stritt.

Ebenso mutig und Entschieden wurde in den Provinzen für die Menschen und radikale Reformen gestritten. In der autonomen Region Murcia etwa unter Maria Marin, in Valencia Pilar Lima und Hector Illueca, um nur einige wenige von den unzähligen Podemos Aktivisten vor Ort zu nennen. Die Frauenbewegung, unter Führung der unermüdlich kämpfenden Podemos Ministerin Irene Montero, steht hinter Podemos sowie auch die stärker werdende antifaschistische Bewegung. Außerdem schaltete sich der Programmsekretär Pablo Echenique immer wieder effektiv in die Debatten und Diskussionen ein. Allgemein höchste Anerkennung wurde auch der Generalsekretärin von Podemos und Sozialministerin Ione Belarra zuteil, die für die sehr gute Planung und Durchführung der Wahlkämpfe hauptverantwortlich war und auch stets in vorderster Front war. Nicht zu vergessen natürlich auch Pablo Iglesias, der mit seinen Internetkanälen wie Canal Red als Medialer Leuchtturm von Podemos gilt und in den Wahlkämpfen ebenso stets präsent gewesen ist.

Podemos hat mehrere und kleinere Bündnispartner, unter anderem Izquierda Unida (Vereinigte Linke) und Alianza Verde (Ökosozialisten) und trat in der Regel in Listengemeinschaften mit diesen an.

Trotz alledem hat Podemos die Wahlziele nicht erreicht, wofür es andere Gründe gibt. Zum einen sind natürlich die TV und Printmedien zu nennen, die meist unter Kontrolle der Konservativen und der „Sozialistischen“ Partei stehen oder noch schlimmer zu Rechten Medienkonzernen wie der von Berlusconie gehören und Podemos entweder ignorieren oder primitive Lügen und Fälschungen verbreiten. Zum Anderen hat der Bündnispartner Izquierda Unida auch Probleme mit seiner eigenen Arbeitsministerin Yolanda Diaz, die im Parlament schon mal mit Konservativen und Faschisten gegen die Linken stimmt und auch öffentlich mit diesen einen herzlichen Umgang pflegt. Außerdem hat sich Diaz von Unidas Podemos distanziert und wirbt im Wahlkampf für ein „neues Bündnis“ Namens Sumar, das eine deutliche Abkehr von der Linken Podemos darstellt. Sie beleidigte auch öffentlich die Spitzenkandidatin Pilar Lima in Valencia, als Sie sich für den Amtsinhaber und gegen sie aussprach und damit an die extreme Medienhetze gegen Pilar Lima anknüpfte.

Der Hintergrund des ganzen ist die ökonomische Entwicklung Spaniens, die sozusagen von einem lang anhaltenden Aufschwung seit der Ära des faschistischen Diktators Franco 1975 geprägt ist. Das einstmals rückständige Land hat Jahrzehnte starkes Wachstum beim Tourismus, der Agrarproduktion, der Industrie, dem Bausektor mit den größten Baukonzernen Europas und vor allem dem Finanzsektor mit gleich 4 der größten Banken Europas, hinter sich.

Von diesem extremen „Wachstum“ haben größere Teile der Mittel und Oberschichten profitiert, die sich aber nun vor allem durch separatistische Kleinstaaterei einerseits aber auch durch Podemos und Verbündete eingeschränkt und bedroht sehen, deren Programm und Gesetze eben auf mehr soziale Gleichheit, mehr Demokratie und Basisdemokratie, mehr Schutz der Umwelt, mehr Rechte für Frauen und Minderheiten, abzielen.

Momentan wird behauptet das der spanische Bankensektor stabil sei doch ist mit einem platzen dieser riesigen Blasen spätestens nach den Parlamentswahlen gegen Ende des Jahres und nächstes Jahr zu rechnen, was das Land und ganz Europa erschüttern wird. Podemos und die anderen Linken müssen sich auf dieses Szenario vorbereiten und ein Übergangsprogramm zur gänzlichen Ersetzung und Überwindung des zusammenbrechenden kapitalistischen Wirtschaftssystems in die Diskussion bringen.

Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft hat schon verloren. Podemos hat sehr gut gekämpft und mit diesem Kampf die Grundlage für zukünftige Siege der spanischen Linken für die Menschen geschaffen.

https://www.antikapitalist.eu/

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Oben       —   Reparto de concejales en la Elecciones municipales de 2023 en Alcalá de Henares (Comunidad de Madrid – España):   PSOE: 11 concejales   PP: 11 concejales   Vox: 3 concejales   Más Madrid-Verdes Equo: 2 concejales.

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Mai 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

BVB, Verfassungsschutz und Netflix:Vaterländische Flatulenz.Nemand fragt, wer künftig Scholz umarmt. Erdbeeren haben mehr Vitamin C als Orangen. Und dann wären da noch die Borussen.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Die 96. Minute im Westfalenstadion.

Und was wird besser in dieser?

Wir können schweigen.

Unser Inlandsgeheimdienst nennt sich Verfassungsschutz. Wie könnten wir Personenschützer nennen, die dafür verantwortlich sind, dass sich in Frankfurt ein Autofahrer mit seinem Privatwagen dem Konvoi von Bundeskanzler Olaf Scholz anschließen und diesen auf dem Rollfeld umarmen konnte?

Tendenziell arbeitslos. Die Behördenchefs bis rauf zur Innenministerin kündigen Konsequenzen an, also bei der Bundespolizei, zuständig für den Flughafen, und beim BKA, zuständig für die Bodyguards. Irgendwer hat nicht in den Rückspiegel geschaut, jemand anderes die Nummernschilder nicht kontrolliert. Aber niemand fragt, wer künftig Scholz umarmt und ihm einen guten Tag wünscht. Traurig.

Account-Teilen wird teurer. Netflix will seine Umsatzeinbrüche mit Zusatzkosten für Nut­ze­r*in­nen ausgleichen. Gehen Sie da mit?

Klassiker. Der Dealer gibt den ersten Schuss umsonst, und hängt man dran, wird’s teuer. Interessant, dass ein Standard-Abo plus 1 Gast haarscharf bei der öffentlich-rechtlichen Haushaltsgebühr landet, ein komfortableres Angebot deutlich drüber. Klar, Netflix ist kein Zwang, doch was alles gegen die ÖR-Gebühr polemisiert wird, läuft in diesem Vergleich schwungvoll ins Leere. Fernsehen kostet, Punkt. In den frühen TV-Jahren rüstete man sich mit Bier und Kartoffelsalat, um Nachbarn zu überfallen, die bereits ein Empfangsgerät hatten. Das hatte eine sehr vorübergehende soziale Wirkung. Mein Schwager könnte damit handeln inzwischen.

CDU und CSU möchten ein „Bundesprogramm Patriotismus“ einführen, das die Sichtbarkeit nationaler Symbole im öffentlichen Raum und den 3. Oktober als „verbindenden nationalen Erlebnismoment“ stärken soll. Ein Ziel: das „Integrationspotential“ von Patriotismus nutzen. Kann das funktionieren?

Ein auch in dieser Höhe verdientes 3 zu 0 gegen England; ein ausnahmsweise mal authentischer deutscher Beitrag zum ESC und ein paar pünktliche ICEs: Das täte mehr Wirkung als der 60er-Jahre-Souvenirshop von Friedrich Merz. Kohls 3. Oktober wie auch der zufällige 23. Mai als Verfassungstag sind nicht durchblutet, ein deutscher Schicksalstag wäre eher der 9. November. Kernsatz der vaterländischen Flatulenz ist die Warnung, das schlaaandige Potenzial „keinesfalls den gesellschaftlichen Rändern zu überlassen“. Hinterm patriotischen Schaum dräut Angst vor AfD und Linksnationalen wie Wagenknecht. Patriotismus entsteht, wenn es so okay läuft, dass man keinen braucht.

Ist es Ihnen noch wichtig zu wissen, wer nun die Nord-Stream-Gaspipeline hat explodieren lassen?

Ja, wegen des Schwejk-Faktors. „Nach dem Krieg um halb sechs“ treffen sich alle Überlebenden im Wirtshaus und finden, Nord Stream war eigentlich eine gute Idee. Geboren in der Ära Jelzin, dessen knallkorrupte Oligarchie auch von den USA durchgefüttert wurde, auch mit klarem Blick auf gute Geschäfte mit russischem Gas und Öl. Nach Putin mag das dann wieder so sein. Regime-Change in Moskau ist ein Ziel der aktuellen Choreo, und ob nun westliche, russische, ukrainische Täter es waren: Es wird eine fein absurde Pointe werden, wenn es je rauskommt. So schimpft der Rohrspatz.

Orangensaft wird immer teurer. Grund dafür sind schlechte Ernten in Brasilien, wo 90 Prozent der Orangen für Säfte angebaut werden. Auf welches Produkt auf O-Saft-Basis können Sie diesen Sommer verzichten?

Quelle        :         TAZ-online        >>>>>      weiterlesen

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FREIRAUM FÜR PROJEKTE

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Mai 2023

Hausdurchsuchung im Projekthaus Amsel44 in Wolfsburg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von      :     Von Amsel 44

Die Repressionswelle gegen die Klimabewegung geht weiter. Am Donnerstag hat die Polizei in Wolfsburg das Offene Projekthaus Amsel 44 in Abwesenheit durchsucht. Laut einer Nachfrage der Lokalpresse bei der Polizei Wolfsburg begründet sich die Maßnahme auf Ermittlungenverfahren wegen mutmaßlicher Graffitis in Wolfsburg und die mutmaßliche Nutzung eines VW-Logos auf einem Flyer.

Sascha Bachmann, Aktivist aus dem Projekthauses Amsel 44, sagt: „Solch grundrechtsverletzende und unverhältnismäßige Maßnahmen wegen Lappalien zeigen ganz klar, dass es nicht um Strafverfolgung, sondern um gezielte Ausschnüffelung, Ausforschung und Einschüchterung von Klimainitiativen geht.“

Seit fast einem Jahr organisieren Aktivist*innen in und um Wolfsburg eine spektakuläre Kampagne mit dem Ziel, Wolfsburg zu einer Verkehrswendestadt umzubauen und das Volkswagen-Stammwerk zu einem gemeinwohlorientierten Kollektivbetrieb umzubauen, in dem Straßenbahnen produziert werden. Das ist dem wirtschaftlich-staatlichen Komplex offenbar ein Dorn im Auge.

„Der Volkswagen-Konzern dominiert die Region Südostniedersachsen, die Stadt Wolfsburg fungiert als Bettvorleger des Konzerns, Polizei und Justiz agieren – wie man an der Durchsuchung sieht – als verlängerter Arm des Autoherstellers. Diese Aktion zeigt wieder wie wichtig es ist, den Filz zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei und Volkswagen zu entflechten, die momentan einer mafiösen Struktur näher kommen als einem demokratischen Staatsapparat“, so Sascha Bachmann.

Die Hausdurchsuchung reiht sich in die unverhältnismäßigen Repressionen der letzten Wochen ein. „Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiter verfolgt. Sie müssen geschützt werden und wir brauchen sie jetzt mehr denn je«, sagte der Sprecher von Uno-Generalsekretär António Guterres, Stephane Dujarric, in New York angesichts der Versuche des deutschen Staates, Umweltschutzorganisationen zu kriminalisieren.

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Oben       —     Wolfsburg

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Städteumbau in Spanien

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Mai 2023

Auf heißen Sohlen in Madrid

Puerta del Sol (Madrid) 17.jpg

Kolomne Stadtgespräch von Reiner Wandler aus Madrid

Ein zentraler Platz der Hauptstadt ist wohl zur teuersten Bratpfanne Spaniens geworden. Schatten gibt es keinen mehr. Über eine heiße Diskussion.

Die Puerta del Sol – das „Sonnentor“ – ist der zentrale Platz Madrids. Hier befindet sich die Turmuhr, die im spanischen Fernsehen alljährlich das neue Jahr einläutet, hier ist der Kilometer null des radialen spanischen Straßennetzes.

Jetzt sorgt der Platz für Diskussionen. Denn seit über einem Jahr lässt der konservative Bürgermeister José Luis Martínez-Almeida die 12.000 Quadratmeter große Fläche umbauen.

Brunnen und Kioske wurden entfernt, eine Statue an den Rand versetzt. So entstand eine riesige, mit Granitplatten gepflasterte Freifläche, ohne Bäume, ohne Sonnenschutz. Als Sitzgelegenheiten wurden ein paar Granitblöcke aufgestellt. Und selbst der Eingang zur Metro, der früher etwas Schatten bot, ist jetzt mit Glas überdeckt.

„Die Sonne brennt“, erklärt Miguel, der im spärlichen Schatten einer Werbetafel Schutz vor der Hitze sucht. Der junge Mann schlägt die Zeit vor einem Vorstellungsgespräch tot. „So lange bauen sie hier schon. Für das?“, wundert er sich.

„Sterben oder Einkaufen“

Auch Akram, Arabistikprofessor an der Universität Granada, kann es kaum glauben. Der Mann, der vor 40 Jahren aus Nordirak nach Spanien kam, hat sich in den Eingang eines Buchladens gedrückt. Als „aggressiv, unfreundlich, ja unmenschlich“ bezeichnet er die neue Puerta del Sol. „Sol“, wie der Platz nur genannt wird, kennt er seit Langem, die Arbeit führt ihn oft nach Madrid. „Ein Platz ist ein Ort zum Verweilen, um sich mit Leuten zu treffen – und nicht das hier“, meint Akram.

Nicht alle sehen das so. „Schatten, Bäume, wozu?“, fragt der Rentner Juan, der mit seiner Frau über die „Sol“ eilt. „Dieser Platz ist nicht zum Verweilen da, sondern ein Durchgangsort“, sagt er. So begründet auch die Stadtverwaltung die Baumaßnahmen.

Die angrenzenden Fußgängerzonen hingegen werden im Sommer mit riesigen Markisen abgedeckt. In allen Läden und Kneipen laufen bereits jetzt im Mai pausenlos die Klimaanlagen. „Sterben oder Einkaufen“ – so fassen Kommentare in den sozialen Netzwerken die beiden Alternativen für Passanten zusammen.

Fast nur Touristen halten sich in der prallen Sonne der Puerta del Sol auf – während die meisten Einheimischen den Platz nur rasch überqueren oder sich an eine der schattenspendenden Hauswände stellen. Carmen ist eine der wenigen Ausnahmen. Mit einer Sonnenbrille auf der Nase steht sie mitten in der Hitze. „Mir gefällt ‚Sol‘ so, ich kann sehen, wohin ich gehe, ich mag offene Plätze“, sagt die Rentnerin. Nach der Hitze gefragt, winkt sie ab. „Daran sind wir gewöhnt!“

„Offen“, das ist ein weiteres Argument, mit dem die Stadtverwaltung den umstrittenen Umbau begründet. Der Platz sei damit sicherer und von der Polizei überall einsehbar. „Außerdem haben wir keine Bäume gepflanzt, weil dies vom Amt für Kulturerbe nicht genehmigt wurde“, erklärt Rentner Julian und zeigt, dass er die mediale Debatte verfolgt hat.

Der ehemalige Bankangestellte ist extra gekommen, um zu sehen, wie die letzten Arbeiten vorangehen. „Zehn Millionen haben sie ausgegeben. Ich verstehe nicht, wofür“, sagt er. Die Opposition im Stadtrat hat eine Antwort: „Die teuerste Bratpfanne Spaniens“ nennen sie die „Sol“. Bereits Ende April heizten sich die Granit-Bodenplatten auf bis zu 50 Grad auf. Rentner Julian hingegen gefällt zwar „der offene Blick auf all die alten Gebäude“. Aber mit vielen Details ist er nicht einverstanden. Die neuen gläsernen Kioske seien einfach „nichtssagend“. Und die Granitblöcke zum Sitzen sind ohne Schatten unnütz, findet der alte Mann.

Quelle       ;        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Oben     —       Partial view of Puerta del Sol (square) in Madrid (Spain). Background: Real Casa de Correos.

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Die ungleichen Partner

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Mai 2023

Der Krieg hat China und Russland zusammenrücken lassen.

VON    :       SUSANNE WEIGELIN-SCHWIEDRZIK

Doch unter der Oberfläche zeigen sich grundverschiedene Weltbilder. Europa sollte die strategischen Chancen nutzen. In der Volksrepublik China wird interessengeleitet entschieden. Radikale Kehrtwendungen sind jederzeit möglich.

Am 10. und 11. Mai 2023 fanden in Wien unter strenger Geheimhaltung Gespräche zwischen dem amerikanischen Sicherheitsberater Jake Sullivan und dem für internationale Fragen zuständigen Mitglied des Politbüros der KP Chinas, Wang Yi, statt. Sullivan und Wang Yi redeten an diesen beiden Tagen insgesamt über acht Stunden miteinander. Chinesischen Berichten zufolge hat Wang Yi das Angebot wiederholt, ein Entgleisen der Konkurrenz zwischen den beiden größten Wirtschaftsmächten in einen offenen Konflikt zu vermeiden – anknüpfend an die zwischen Xi Jinping und Präsident Biden getroffenen Vereinbarungen in Bali.

Seit dem Zwischenfall um den „Spionageballon“ im Februar 2023 waren die Gesprächskanäle zwischen den USA und der Volksrepublik China eingefroren. Die chinesische Seite betrachtete den Abschuss des Ballons als völlig unangemessen: Er zeige, dass Washington in einer Krisensituation nicht bereit sei, mit China einen Weg zu beschreiten, der rational, angemessen und lösungsorientiert sei. Mehrere Versuche der amerikanischen Seite, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, scheiterten, bis schließlich Anfang Mai der amerikanische Botschafter in Peking von Außenminister Qin Gang empfangen wurde.

Peking lässt Washington zappeln, denn in Peking meint man zu wissen, warum US-Außenminister Antony Blinken so dringend mit der chinesischen Seite verhandeln möchte: China soll helfen, die große Verlegenheit, in der die Biden-Regierung steckt, zumindest abzuschwächen, auf keinen Fall aber zu verschärfen. Es ist die lodernde Finanzkrise in den USA und – damit verbunden – das schwindende internationale Vertrauen in den US-Dollar als Leitwährung.

In Peking weiß man, dass man hier einen wichtigen Hebel in der Hand hält. Wenn man sich nur genügend Zeit lässt, werden die USA nicht anders können, als ihre Politik gegenüber China zu ändern. Die Tatsache, dass seit geraumer Zeit allenthalben US-amerikanische Staatsanleihen verkauft werden, bereitet der Regierung Biden erhebliche Probleme und erschüttert das amerikanische Finanzsystem. Sollte China aus seinen immer noch großen Beständen weiter amerikanische Staatsanleihen verkaufen und seine Dollarreserven schneller als bisher abstoßen, würde dies die Krise in den USA erheblich verschärfen und gleichzeitig die schwelende Vertrauenskrise gegenüber dem Dollar als internationale Leitwährung vertiefen. Andersherum würde ein Verzicht auf weitere Veräußerungen von US-Staatsanleihen oder der Ankauf weiterer Staatsanleihen die Situation in den USA entspannen. Blinken wollte deshalb bereits im Februar nach China reisen, aber seit dem Abschuss des chinesischen Ballons klopft er vergeblich an die Türen des chinesischen Außenministeriums.

File:The President of Russia arrived in China on a state visit. 02.jpg

In der Zwischenzeit hat sich Peking an Moskau angenähert. Chinas Staatsführung sieht sich offenbar gezwungen, von der Wunschvorstellung einer einvernehmlichen Lösung mit den USA, ja einer erhofften geteilten Verantwortung bei der Führung der Welt Abstand zu nehmen. Die logische Konsequenz waren Xi Jinpings Reise nach Moskau und seine offen bekundete Freundschaft mit Wladimir Putin, der sich als Bewunderer des chinesischen Entwicklungsmodells bereitwillig den wirtschaftlichen Plänen öffnete, die Xi Jinping im Gepäck hatte.

China fühlt sich vom Westen, insbesondere von den USA, bedroht und bereitet sich auf eine früher oder später einsetzende – und von beiden Seiten betriebene – Abkoppelung seiner Wirtschaft vom Westen vor. Die vielen Projekte, die im Zuge der „Neuen Seidenstraße“ entstanden sind, haben Chinas Einfluss auf den Globalen Süden vermehrt, aber wirtschaftlich nur bedingt einen positiven Effekt gehabt. Nun stellt man sich in Peking vor, dass Russland nicht nur viele der Rohstoffe liefern wird, die man für die chinesische Wirtschaft benötigt. China kann sich auch als Modernisierungsmotor in Russland betätigen. So, wie das Engagement der europäischen, japanischen und amerikanischen Wirtschaft seinerzeit nicht nur China, sondern auch den jeweiligen Ländern genutzt hat, so soll Chinas Engagement für die Modernisierung Russlands der chinesischen Wirtschaft einen neuen Wachstumsschub ermöglichen.

Chinas neue Allianz mit Russland hat also nichts mit ideologischer Übereinstimmung zu tun. Ganz im Gegenteil zu dem, was man in Brüssel und Berlin wertegeleitete Außenpolitik nennt, wird in China interessengeleitet entschieden. Radikale Kehrtwendungen sind jederzeit möglich. Chinas Eintreten dafür, dass der Ukrainekrieg so schnell wie möglich endet, ist auch in diesem Sinne zu verstehen. Sein sogenannter Friedensplan ist deshalb auch eine Interessenbekundung: Nur wenn der Krieg baldmöglichst endet, kann China damit beginnen, seine Modernisierungspläne für Russland umzusetzen.

Auch befürchtet es bei einem längeren Krieg, dass die bisherige Resilienz des wirtschaftlichen und politischen Systems in Russland ausgelaugt wird und Russland womöglich in eine Systemkrise hineinschlittert. Diese wäre für China höchst bedrohlich, würde doch ein mögliches Auseinanderbrechen Russlands dem Westen die Möglichkeit eröffnen, durch seinen Einfluss auf die dann eventuell entstehenden Staaten in der russischen Peripherie bis an die chinesische Nordgrenze vorzustoßen. Xi Jinping hat seit dem letzten KP-Parteitag wiederholt Reden gehalten, in denen er von der „Einkreisung“ Chinas durch den Westen gesprochen hat: ein Horrorszenario für die chinesische Führung, die in Xinjiang, Tibet, Hongkong und Taiwan Destabilisierungsversuche des Westens zu erkennen meint. Aus chinesischer Sicht ist es also dringend geboten, Russland so weit zu unterstützen, dass es nicht auseinanderbricht.

Aber klar ist: Strategisch sind Russland und China nur bedingt auf einer Linie. Sie sind sich einig in ihrer Gegnerschaft zu den USA und ihrer Forderung nach einer sogenannten Demokratisierung des Systems der internationalen Beziehungen. In der Frage der zukünftigen Weltordnung sprechen beide von „Multipolarität“. Doch zeigt sich, dass ihre Vorgangsweise nicht wirklich abgestimmt ist. Während sich Chinas KP die Führung in der Welt am liebsten mit den USA teilen würde – und die wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen so weit wie möglich aufrechterhalten möchte –, meldet Wladimir Putin mit dem Angriff auf die Ukraine den Anspruch Russlands an, als Dritter im Bunde Weltmacht zu sein.

Putin macht immer wieder deutlich, dass man die Weltordnung grundsätzlich infrage stellen muss. Er agiert als klassischer Revisionist und betont stärker als Xi Jinping die Notwendigkeit der Neuordnung der Welt im Sinne der Multipolarität. Auch an der Frage der Stationierung von Atomwaffen gibt es deutlich Unterschiede in der Haltung Pekings und Moskaus. Während Xi Jinping bei seinem letzten Besuch in Moskau meinte, sich mit Putin darauf geeinigt zu haben, dass keinerlei Nuklearwaffen außerhalb des jeweils eigenen Landes stationiert werden dürften, veranlasste Putin einen Tag nach der Abreise Xis, dass auf dem Boden von Belarus ein Raketensystem stationiert werde, das mit Nuklearwaffen bestückt werden kann.

Anders sieht das Kalkül der politischen Führung Chinas aus. Sie sieht die Möglichkeit und Notwendigkeit, das System der internationalen Beziehungen schrittweise von innen her umzugestalten. Dabei stört Russlands revisionistischer Eifer, und der Krieg in der Ukraine hat in diesem Sinne China einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Chinas schöne neue Welt ist eine Welt, in der die USA China als Weltmacht auf Augenhöhe anerkennen und sich die Welt mit China teilen. Der Westpazifik wird von China kontrolliert und damit der gesamte Warenverkehr zwischen Asien, dem Nahen und Mittleren Osten sowie Europa. Den Ostpazifik dürfen die USA beherrschen. In allen anderen Teilen der Welt gibt es in diesem Szenario lebhafte Konkurrenz, die von den beiden Supermächten so weit kontrolliert werden muss, dass diese nicht in eine kriegerische Auseinandersetzung ausartet. In dieser Zukunftsvision hat Russland keine Weltmachtfunktion. Es wird in den zweiten Rang eingeordnet – dort, wo man auch Europa, Japan und Indien sieht.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —       After Russian-Chinese talks

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Unten      —       Председателем КНР Си Цзиньпином.

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Die Visionen eines Arzt

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Mai 2023

Deutscher Ärztechef liest Karl Lauterbach die Leviten

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :      Red. /   

Klaus Reinhardt frotzelte, der Gesundheitsminister soll «mit seinen Visionen zum Arzt gehen». Sein Tun sei demokratiegefährdend.

upg. Die deutsche Bundesregierung habe in den letzten vier Jahren nicht weniger als 264 gesundheitspolitische Verordnungen erlassen, zu denen die Bundesärzteschaft Stellung nehmen konnte. Das erklärte Ärztepräsident Klaus Reinhardt am deutschen Ärztetag. Das Ministerium habe der Ärzteorganisation und anderen Lobbys zusätzlich zahlreiche Positionspapiere ebenfalls zur Stellungnahme unterbreitet.

Die demokratische Ordnung sei dabei manchmal nicht eingehalten worden, ja Karl Lauterbachs Handeln sei «demokratiegefährdend». Der Präsident der Bundesärztekammer nannte beispielhaft die extrem kurzen Fristen, die Lauterbach für eine Stellungnahme gewährte:

  • Eine Verordnung zugestellt am 21.11.2022 um 11.00 Uhr.
    Frist zur Stellungnahme: 21.11.2022 bis 19.00 Uhr.
  • Andere Verordnung zugestellt am 24.6.2022 um 13.45 Uhr.
    Frist zur Stellungnahme: 24.6.2022 bis 18.00 Uhr.
  • Weitere Verordnung zugestellt am 9.3.2023 um 01.08 Uhr.
    Frist zur Stellungnahme: 9.3.2023 bis 10.00 Uhr.

Es gebe noch viele solche Beispiele, sagte Ärztechef Klaus Reinhardt.

Lauterbach habe zwar viele Visionen, meinte Reinhardt. Aber wie schon Helmut Schmidt gesagt habe: «Wer Visionen hat, soll mit seinen Visionen zum Arzt gehen.»

Der Präsident der deutschen Ärzteschaft erntete eine Standing Ovation. Auch der heftig kritisierte Lauterbach applaudierte verhalten.

«Seien Sie nicht eingeschnappt», erwiderte Gesundheitsminister Lauterbach am Schluss seiner anschliessenden Rede: «Wir werden die Baustellen gemeinsam anpacken.» Für seine geplanten grundlegenden Reformen werde er mit allen Kreisen zusammenarbeiten und alle guten Vorschläge aufnehmen.

Bei seiner Problemanalyse nahm es Lauterbach – wie schon öfter in der Vergangenheit – mit den Fakten nicht so genau. So behauptete er, die anderen Länder Europas würden den Pharmafirmen höhere Medikamentenpreise zahlen als Deutschland, und begründete damit die Engpässe bei bestimmten Arzneien in Deutschland. Tatsächlich zahlen die Krankenkassen in praktisch allen Ländern Europas mit Ausnahme der Schweiz den Pharmafirmen tiefere Preise als in Deutschland.

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Oben      —     Klaus Reinhardt (2019)

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Mai 2023

Börse und Realität entkoppeln sich

Von Ulrike Herrmann

DAX feiert Rekordhoch. – Während die Wirtschaft schwächelt, ist an den Börsen Party. Anleger fühlen sich immer reicher, doch das ist eine Illusion.

Der deutsche Aktienindex DAX hat einen neuen Rekord gefeiert: Am Freitag nach Christi Himmelfahrt stieg er auf 16.331 Punkte. Inzwischen bröckeln die Kurse zwar etwas, aber seit Jahresanfang hat der Index um fast 16 Prozent zugelegt.

Dieser Anstieg mutet etwas seltsam an, denn die deutsche Wirtschaft schwächelt derzeit. 2023 dürfte das Wachstum bei ganzen 0,4 Prozent liegen, wie die Bundesregierung schätzt. Die Unternehmen machen also keine höheren Umsätze, aber ihr Aktienwert explodiert. Wie passt das zusammen?

Was wie ein Gegensatz aussieht, ist keiner. Die Anleger interessieren sich nur am Rande für die Firmenerträge, haben sie doch längst ein neues Angstthema entdeckt: die Inflation. Die Geldentwertung dürfte in der Eurozone in diesem Jahr bei 5,8 Prozent liegen, prognostiziert die EU-Kommission.

Aus der Sicht der Anleger ist klar: Nichts ist so schlimm, wie sein Geld auf den Konten verschimmeln zu lassen und beim Wertverlust zuzusehen. Die Zinsen sind zwar gestiegen, gleichen aber die Inflation bei Weitem nicht aus. Also rein in die Aktien! Dort besteht zumindest die Hoffnung, dass die Kurse zulegen und die Geldentwertung mehr als kompensieren.

Börsenkurse aufzupumpen ist ziemlich einfach

Allerdings kann die Inflationsangst nur zum Teil erklären, warum die Kurse nach oben schießen. Denn die Inflationsraten sind erst ab 2021 nennenswert gestiegen, aber die Börsenkurse legen schon seit 2009 zu. Seit der letzten Finanzkrise pumpt sich also wieder eine Aktienblase auf.

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sich der DAX mehr als verdoppelt. Die Realwirtschaft ist in dieser Zeit keineswegs um mehr als 100 Prozent gewachsen, sondern nur um schlappe 12 Prozent. Die Börsen haben sich von der echten Welt komplett entkoppelt und mit der Realität nichts mehr zu tun.

Börsenkurse aufzupumpen ist nämlich ziemlich einfach. Es ist nur relativ wenig zusätzliches Kapital nötig, um den DAX nach oben zu treiben, weil es zu einem ewigen Kreislauf des Geldes kommt. Der Zusammenhang ist schlicht: Wenn jemand eine Aktie kaufen will, muss ein anderer sie verkaufen.

Quelle       :          TAZ-online         >>>>>      weiterlesen

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Oben      —     Left: „Um, gee… how many people came up trying to pass off little scribbled notes saying, „I.O.U. $3.00. Sincerely, Jon Doe?!“ Well, at least I thought it was funny.

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Die »Zukunftskoalition« ?

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Mai 2023

Bis zur Kenntlichkeit entstellt

Von Albrecht von Lucke

Manche Gesichter werden im Streit bis zur Kenntlichkeit entstellt. Bei Koalitionen gilt das gleiche in Krisen. Wenn daher eines Tages gefragt werden sollte, wann aus der angeblichen Zukunftskoalition eine Koalition der Vergangenheit geworden ist, dann dürften die nächtelangen Koalitionsausschusssitzungen von Ende März 2023 dabei eine ganz entscheidende Rolle spielen.

Wer noch irgendeinen Zweifel daran hatte, wie die Machtverhältnisse in dieser Koalition wirklich aussehen, ist seitdem eines Schlechteren belehrt. Die von der FDP kreierte Vorstellung, hier stünden zwei Linksparteien gegen sie, den letzten Hort der bürgerlichen Vernunft, entpuppte sich endgültig als Chimäre: Faktisch agieren zwei Parteien, nämlich FDP und SPD, strikt in Verteidigung der materiellen Gegenwartsinteressen, während die Grünen versuchen, auch die Interessen der zukünftigen Generationen zu vertreten – genau wie es das Bundesverfassungsgericht jeder Regierung mit seinem historischen Urteil vom März 2021 ins Stammbuch geschrieben hat.

Das Dilemma der Grünen wie der Klimabewegung: Die ganz jungen wie die kommenden Generationen haben bei Wahlen keine Stimme. Dadurch gibt es eine strukturelle Dominanz der Älteren und ihrer Interessen. Dieses Dilemma wird noch dadurch verstärkt, dass die Grünen strategisch ungeschickt agierten und zudem ihre Gesetzesvorhaben immer wieder frühzeitig an die Medien durchgestochen wurden – insbesondere der nur halbfertige Entwurf zum Einbau von Wärmepumpen.

Zum ersten Mal wurde hier dramatisch deutlich, dass die Transformation keineswegs eine reine Gewinnangelegenheit für alle sein wird, sondern dass viele Bürgerinnen und Bürger erhebliche Opfer für das Gemeinwohl werden bringen müssen. Opfer, die nun ganz ausschließlich dem grünen Klima- und Wirtschaftsminister Robert Habeck angelastet werden. Die Konsequenz ist ein massiver Backlash – zulasten der ökologischen Anliegen wie auch der grünen Partei, der sich auch in den Ergebnissen der schon heute historisch zu nennenden Koalitionsausschusssitzungen manifestierte.

Offensichtlich waren die grünen Änderungswünsche vom Kanzleramt gar nicht mehr berücksichtigt und eingearbeitet worden, weshalb das Papier letztlich erst nach Verhandlungen von 30 Stunden beschlossen werden konnte.[1] Mit dennoch fatalen Folgen: Ausgerechnet beim Verkehrssektor wird nun nicht mehr Jahr für Jahr geprüft, wieviel CO2 er eingespart hat, wie noch im alten, bereits zu schwachen Klimagesetz der großen Koalition vorgesehen. Damit wäre das von der FDP verantwortete Verkehrsministerium von der Pflicht für ein Sofortprogramm zum Klimaschutz befreit und die Einhaltung der Zielvorgaben für 2030 in weite Ferne gerückt.

Hier zeigte sich einmal mehr: In dieser Koalition wedelt der Schwanz mit dem Hund. Obwohl die FDP prozentual klar der schwächste Koalitionspartner ist, gibt sie in der Regierung allzu oft den Ton an. Und zwar dank bewusster Duldung des Kanzlers: Von einem „sehr, sehr, sehr guten Ergebnis“ sprach denn auch Olaf Scholz. Aus rein parteitaktischer Perspektive ist dies auch durchaus der Fall: Der Kanzler braucht aus zwei Gründen eine starke FDP – erstens, um damit CDU/CSU zu schwächen, und zweitens, weil nur eine zufriedene FDP ihm 2025 die Chance auf eine zweite Ampel-Legislatur eröffnet. Dagegen hat er weit weniger Interesse an starken Grünen, die ihm als Führungspartei der linken Mitte Konkurrenz machen könnten.

Nach dieser ur-neoliberalen Devise – „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ – kann jedoch keine Koalition auf Dauer funktionieren. Derzeit existiert in der Ampel keinerlei Vorstellung, wie sich die Zukunft gemeinsam gestalten lässt. Und, fataler noch, die FDP sieht sich in ihrer rein destruktiven Logik nach diesem Koalitionsausschuss noch bestärkt. Folgerichtig hat FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner bereits die nächste Oppositionsoption in der Regierung ausgemacht und per Twitter das Ende „der Zeit der reinen Verteilungspolitik in unserem Land“ verkündet.[2]

Anstatt die gemeinsam gefällten Beschlüsse der Koalition auch offensiv zu vertreten, macht sich die FDP auch bei der Atomkraft einen schlanken Fuß: „Würde es nach mir gehen, würden wir bestehende Kernkraftwerke in der Reserve behalten & den Rückbau verhindern“, teilte Lindner am Tag des Atomausstiegs[3] mit, um auf diese Weise seine Hände in Unschuld zu waschen und mit der Drohung eines zukünftigen Energiemangels auch weiter gegen die Grünen als angebliche Verbotspartei agitieren zu können. „Die Zeit des Appeasements ist vorbei“, lautet denn auch die unsägliche Ansage von FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der nicht einmal davor zurückschreckte, Robert Habeck mit Wladimir Putin zu vergleichen.[4]

FDP-Egoismus von Döpfners Gnaden

Massiv unterstützt wird die FDP durch eine seit Monaten anhaltende Kampagne der „Bild“-Zeitung, die den Klimaminister Tag für den Tag wie eine Sau durchs mediale Dorf treibt – offenbar nicht zuletzt auf Weisung von Springer-Chef Mathias Döpfner, dessen Geisteshaltung soeben offengelegt wurde.[5] Beredter noch als dessen unsägliche Entgleisungen zu Ostdeutschen und Migranten sind dessen Einlassungen zum Klimaschutz.

„Umweltpolitik – ich bin sehr für den Klimawandel. Zivilisationsphasen der Wärme waren immer erfolgreicher als solche der Kälte. Wir sollten den Klimawandel nicht bekämpfen, sondern uns darauf einstellen“, so der Springer-Chef. Wenn es eines gebe, was er hasse, dann seien es Windräder. Die einzige Kraft zur Zurückdrängung des ökologischen Ungeistes sind für ihn die Liberalen. „Unsere letzte Hoffnung ist die FDP. Nur wenn die sehr stark wird – und das kann sein – wird das grün rote Desaster vermieden. Können wir für die nicht mehr tun. […] It’s a patriotic duty“, so Döpfner im Wahlkampf 2021 in einer Rundmail an die verantwortlichen Redakteure seines Verlags. Noch zwei Tage vor der Wahl schrieb er seinem (damaligen) „Bild“Chef Julian Reichelt: „Please Stärke die FDP. Wenn die sehr stark sind können sie in Ampel so autoritär auftreten dass die platzt. Und dann Jamaika funktioniert.“

FDP und Springer-Verlag treffen sich in einem entscheidenden Punkt: ihrer Staatsablehnung bis hin zur Staatsfeindschaft. „Staatsgläubigkeit geht einher mit einem Menschenbild, das vor allem kollektivistischen, latent oder akut unfreiheitlichen Systemen eigen ist: Der Bürger brauche Aufsicht – einen Vormund. In diesem Fall, den vormundschaftlichen Staat“, so Döpfner bereits 2021 in seinem Buch „Die Freiheitsfalle“ über die angeblich nach wie vor herrschende deutsche Untertanenmentalität.[6] Im Verständnis des Springer-Chefs wie dem seiner leitenden Angestellten, am ausgeprägtesten bei „Welt“-Chef Ulf Poschardt, ist Freiheit immer nur gegen den Staat zu denken.[7] Aus dieser Staatsverachtung resultiert letztlich auch Döpfners absolute Diskreditierung der Ostdeutschen: „Von Kaiser Wilhelm zu hitler zu honnecker ohne zwischendurch us reeduction genossen zu haben. Das führt in direkter Linie zu AFD.“ Diese Ablehnung jedes Kollektivgedankens – und seines angeblichen Agenten, sprich: des Staats – geht einher mit einer narzisstisch grundierten Vergötzung des als großartig imaginierten Individuums (und des eigenen Egos). Mit dieser Verachtung jeglicher Autorität jenseits des Ichs stehen die neuen Superegos vom Schlage Döpfner, Poschardt oder Kubicki keineswegs allein: Wie die Studien von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey zeigen, wächst in dieser Gesellschaft ein „libertärer Autoritarismus“ mit einer enorm narzisstischen Seite heran, der nur eine Autorität anerkennt, nämlich sich selbst.[8]

Der anhaltende Koalitionsstreit zwischen FDP und Grünen verläuft also vor allem entlang zweier großer Konfliktlinien: Individual- versus Gesellschaftsinteresse und Gegenwart versus Zukunft – wobei sich die Scholz-SPD fatalerweise zumeist auf die Seite der FDP schlägt. Wenn aber die angekündigte große sozial-ökologische Transformation tatsächlich gelingen soll, dann braucht es eine materielle wie eine „geistig-moralische Wende“ im Verhältnis von Öffentlichem und Privatem, von Zukunft und Gegenwart. Dann gilt es, von der rein individual-egoistischen Haltung Abschied zu nehmen, die mindestens die letzten 30 Jahre, seit der Zäsur von 1989/90, dominiert hat – nämlich von der neoliberalen Devise: „Privat vor Staat“.

Mehr Investitionen in die Zukunft

Quelle       :       Blätter-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben           —         Signing of the coalition agreement for the 20th election period of the Bundestag (Germany) at 7 December 2021

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#Missingmails : Der EU

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Mai 2023

Wie die EU-Kommission ihr Transparenzversprechen bricht

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von              :         

Das große Löschen nimmt seinen Anfang mit einer knappen Mitteilung. Am 16. Januar 2015 geht ein Brief an Führungskräfte in der Europäischen Kommission. Es dauere oft zu lange, wichtige Dokumente zu finden, klagt darin Catherine Day, da diese nicht ordentlich abgelegt und archiviert würden.

Die damals höchste Beamtin der Kommission kündigt in der Mitteilung auf einer Seite Maßnahmen an, die das Chaos beim Aktenmanagement beenden sollen. Ab Juli 2015 werde die Kommission alle E-Mails automatisch nach sechs Monaten löschen. Seither gilt: Was nicht zuvor veraktet wird, ist weg.

In derselben Mitteilung ordnet Day an, den Zugriff Außenstehender auf Dokumente einzuschränken. Bei Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz der EU dürften nur Akten herausgegeben werden, die zuvor im Dokumentenverwaltungssystem Ares oder einem anderen Kommissionsarchiv abgelegt wurden. Days Mitteilung steht durch eine Informationsfreiheitsanfrage schon längere Zeit im Internet, außerhalb der Kommission ist sie jedoch so gut wie unbekannt.

Das massenhafte Löschen von E-Mails ist Teil einer Reihe fragwürdiger Praktiken, mit denen die Kommission und EU-Regierungen systematisch die öffentliche Kontrolle ihrer Arbeit behindern. Das Recherchekollektiv #Missingmails hat gemeinsam zu diesen Praktiken recherchiert. Daran beteiligten sich neben Alexander Fanta von netzpolitik.org Journalist:innen von Follow the Money in den Niederlanden, Le Monde in Frankreich, De Tijd und Apache in Belgien, Deo.dk in Dänemark, Die Welt in Deutschland, Context in Rumänien, The Journal & Noteworthy in Irland.

Unsere Recherchen zeigen, wie der schlampige Umgang mit E-Mails und Chatnachrichten den Informationszugang auf rechtlich zweifelhafte Art behindert. Die Verantwortlichen brechen dadurch ihre eigenen Transparenzversprechen und erschweren die Aufarbeitung von Skandalen.

Absprachen mit Uber

Wie das zu einem Problem werden kann, macht der Fall von Neelie Kroes deutlich. Die Niederländerin war zehn Jahre lang EU-Kommissarin, zunächst zuständig für Wettbewerb, dann für digitale Themen. Als Uber 2014 in Europa darum kämpft, seine Taxi-App anbieten zu dürfen, springt die liberale Politikerin für den US-Konzern in die Bresche. Dass ein Brüsseler Gericht Uber das Fahren ohne Taxi-Lizenz verbiete, sei eine „verrückte Entscheidung“. Sie twittert den Hashtag #Uberiswelcome.

Eineinhalb Jahre später, im Mai 2016, verkündet Uber, dass Kroes den Konzern künftig in politischen Fragen berate. Interne Dokumente zeigen, dass die Politikerin schon Monate vor Ende ihrer Amtszeit heimlich mit Uber in Kontakt stand. Der Konzern bot ihr dabei offenbar einen Job an. „Wir holen Neelie Kroes in unser Advisory Board (streng geheim)“, schreibt ein Uber-Manager in einer Mail. Ihre Existenz wird durch die UberFiles-Enthüllungen unseres Recherchepartners Le Mondedes Guardian und weiterer Medien öffentlich. Die Mail datiert auf 25. September 2014, gut ein Monat vor Kroes‘ Ausscheiden aus der Kommission.

Ob Kroes dem Konzern zusagte, geht aus den Dokumenten nicht eindeutig hervor. Dennoch sind die Enthüllungen rechtlich delikat. Sie legen nahe, dass die niederländische Politikerin direkt nach Ende ihrer Amtszeit heimlich für den Konzern lobbyiert hat. Dies wäre ein klarer Verstoß gegen die Ethikregeln der Kommission. Denn für EU-Kommissar:innen ist nach dem Ausscheiden aus dem Amt für die folgenden 18 Monate eine bezahlte Lobby-Tätigkeit untersagt. Die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF ermittelt deshalb.

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Erst Kommissarin, dann Lobbyistin: Neelie Kroes

Der Fall wirft jedenfalls Transparenzfragen auf. Die UberFiles enthüllten E-Mails und Chatnachrichten zwischen dem Konzern, Kroes und ihrem Kabinett. Eigentlich hätten diese Unterlagen im Kommissionsarchiv landen müssen – doch dort sind sie unauffindbar. Gegenüber der Lobbytransparenzorganisation Corporate Europe Observatory erklärte die Kommission, ihr lägen keine E-Mails oder andere Korrespondenz zwischen Kroes und Uber vor.

Hat die Kommissarin ihre Nachrichten mit Uber einfach gelöscht? Auf unsere Anfrage heißt es von der Kommission, sie prüfe die Sache und tausche sich dazu mit OLAF aus.

Interne Kritik an „vagen“ Regeln

In ihren Leitlinien für die Dokumentenverwaltung hat die Kommission festgelegt, dass Dokumente aufbewahrt werden müssen, wenn sie „wichtige Informationen enthalten, die nicht flüchtig sind oder die zu Maßnahmen oder Folgemaßnahmen der Kommission führen können“.

Doch wer entscheidet, was wichtig ist und aufbewahrt werden muss? Selbst innerhalb der Kommission herrscht Verwirrung. Als eine Nachfolgerin von Catherine Day, die amtierende Generalsekretärin Ilze Juhansone, vor zwei Jahren intern um Feedback für eine mögliche Neufassung der Regeln für die Dokumentenverwaltung bat, bezeichnete eine Rückmeldung die geltenden Leitlinien für die Aufbewahrung von Dokumenten als „vage“. Das geht aus internen Diskussion hervor, über die unser niederländischer Recherchepartner Follow the Money berichtet hat. Der juristische Dienst der Kommission hinterfragte demnach insbesondere das Wort „kurzlebig“ in den Leitlinien. „Ist dieser Begriff irgendwo definiert?“

Welche Dokumente in der EU-Kommission archiviert werden, bleibt den handelnden Personen bislang selbst überlassen, sagt Sofia Heikkonen. Die finnische Juristin forscht an der Universität Helsinki zur Dokumentenverwaltung der EU-Kommission. Ihren Recherchen zufolge gibt es keinerlei Kontrolle darüber, ob wichtige Dokumente tatsächlich archiviert werden – eine „problematische“ Aufsichtslücke, sagt Heikkonen.

Heikkonens Chefin Päivi Leino-Sandberg hält die verschwundenen Nachrichten von Neelie Kroes nicht für einen Einzelfall. Die Jura-Professorin spricht aus eigener Erfahrung. Vor einigen Jahren bat sie die Kommission um interne Rechtsgutachten über die Einrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft. Zunächst wurde ihr gesagt, es gäbe keine solchen Gutachten, doch später „fand“ die Kommission auf Nachfrage zehn Dokumente. Leino-Sandberg sagt, das Dokumentensystem der Kommission sei unzureichend und müsse überarbeitet werden.

Auf unsere Anfrage betont ein EU-Kommissionssprecher, die Archivierung von Dokumenten stehe „im Einklang mit der langjährigen Praxis in allen europäischen öffentlichen Verwaltungen und mit internationalen Standards für die Archivverwaltung“. Demnach müsse weg, was nicht mehr bedeutend sei. „Die automatische Löschung von E-Mails, die keinen oder einen geringeren Wert haben und oft sehr flüchtige Informationen enthalten, geschieht daher sowohl aus archivarischen als auch aus IT-Management-Gründen.“

E-Mails von Scholz schwer auffindbar

Massenhafte Löschung von E-Mails gibt es nicht nur in den EU-Institutionen. Deutsche Ministerien und das Bundeskanzleramt tilgen Mail-Konten von ihren Servern, wenige Monate nachdem der oder die Benutzer:in aus dem Amt scheidet – egal, ob es sich um die Kanzlerin oder einen kleinen Beamten handelt. Das Postfach von Angela Merkel dürfte demnach Mitte 2022 gelöscht worden sein, ebenso jenes von Olaf Scholz aus seiner Zeit als Finanzminister. Eine gesetzliche Regelung oder Entscheidung, die die massenhafte Löschung vorschreibt, gibt es nicht. Eine solche ist nach Angaben des Bundesinnenministeriums auch nicht nötig, da sich in Postfächern ausgeschiedener Mitarbeiter:innen „keine aktenrelevanten Informationen mehr befinden“.

Politisch heikel ist das im Fall des Mailverkehrs von Scholz im Zuge der Cum-Ex-Affäre. Die Nebenrolle des damaligen Hamburger Bürgermeisters und heutigen Kanzlers in dem gigantischen Steuerbetrugsfall ist nicht restlos geklärt. Es geht um die Frage, ob Scholz sich zugunsten einer umstrittenen Privatbank politisch eingemischt hatte. Während seiner Zeit im Bundesfinanzministerium schickte sein Büro E-Mails und Faxe, die seine Rolle in dem Fall erklären sollen.

Könnten die Mails aus Scholz‘ Büro Licht ins Dunkel bringen? Das ist zumindest theoretisch möglich. Nachfragen unseres Recherchekollektivs ergaben, dass in Scholz’ früherem Ministerium selbst gelöschte Mails noch jahrelang auf Speicherbändern verwahrt werden. Von dort sind sie grundsätzlich wieder herstellbar. Jedoch ist das laut dem Bundesinnenministerium, wo eine ähnliche Technologie verwendet wird, sehr aufwändig und sei „tatsächlich kaum durchführbar“. Genauer erläutern, warum das so schwierig sein soll, will das Ministerium aber nicht.

Tote Nerze und ein altes Nokia-Handy

Für Skandale sorgen nicht nur gelöschte E-Mails, sondern auch verschwundene Chat-Nachrichten. In Dänemark ließ die Regierung zu Beginn der Coronapandemie 15 Millionen Nerze töten. Damit sollte eine Ausbreitung des Virus in Zucht-Farmen verhindert werden.

Für die Massentötung der Tiere fehlte allerdings die rechtliche Grundlage, befand später eine vom Parlament eingesetzte Untersuchungskommission. Regierungschefin Mette Frederiksen habe die Öffentlichkeit wissentlich in die Irre geführt.

„Lösch-Mette“ Frederiksen

Chatnachrichten, die den Fall aufklären hätten können, ließ die Regierungschefin automatisch löschen. Der Fall trug Frederiksen in dänischen Medien den Spitznamen „Slette Mette“ ein, die „Lösch-Mette“. Die Affäre ist sogar Vorbild für ein Jump-n-Run-Spiel. Eigentlich müssten wichtige Nachrichten nach dänischem Recht aufbewahrt werden – das gilt auch für SMS und Chats. Doch Frederiksen kommt in der Nerz-Affäre mit einer Rüge des Parlaments davon.

Ähnlich ungeschoren bleibt der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. Vor einem Jahr enthüllte eine niederländische Zeitung, dass Rutte seit Jahren täglich seine SMS löscht. Sein altes Nokia-Handy habe einfach nicht genügend Speicher, erklärte Rutte. „Nokiagate“ nennen das niederländische Medien. Ein Untersuchungsbericht kommt zu dem Schluss, dass Rutte rechtswidrig gehandelt habe. Dennoch perlt die Affäre an Rutte ab.

An der Relevanz der Nachrichten gibt es unterdessen wenig Zweifel. Selbst auf höchster politischer Ebene sind E-Mails und Chatnachrichten zum Standardkommunikationsmittel geworden. Das verdeutlicht ein Bericht über einen EU-Gipfel im Sommer 2015, bei dem über einen weiteren Schuldendeal für Griechenland gestritten wurde.

Nach stundenlangen, ergebnislosen Verhandlungen habe der niederländische Premier Rutte spätnachts einen Kompromissvorschlag geschickt. Er habe die Gespräche – und damit womöglich den Euro – gerettet, meldete damals die Nachrichtenagentur AP. Was Rutte schrieb, ist bis heute unbekannt

In Deutschland hat Angela Merkel 16 Jahre lang praktisch per SMS regiert. „Handy-Jahre einer Kanzlerin“, fasst ein Bericht im Magazin der Süddeutschen Zeitung ihre Vorliebe für direkte Kommunikation zusammen. Dennoch landete bis heute keine ihrer Nachrichten im Bundesarchiv.

Die eigenwillige Logik der Kommission

Die Bedeutung des direkten Austausches unterstreicht auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Der New York Times erzählt sie in einem Interview von ihren Telefonaten und Nachrichten mit dem Konzernchef von Pfizer, Albert Bourla. Mit diesem habe sie persönlich einen Deal über 1,8 Milliarden Dosen Covid-Impfstoff eingefädelt. Doch auf eine Anfrage von netzpolitik.org sagt die Kommission, dass sie die Nachrichten nicht herausgeben könne.

Die Begründung folgt einer eigenwilligen Logik der Kommission. Demnach seien SMS und Chatnachrichten „kurzlebig“ und landen daher grundsätzlich nicht ein einem Archiv der Kommission. Zugleich besagen die internen Regeln, wie oben beschrieben, dass nur Dokumente herausgegeben werden, die zuvor archiviert wurden. Im logischen Zirkelschluss bedeutet das: Zu unwichtig fürs Archiv, ergo irrelevant für die Öffentlichkeit. Das soll selbst für Chats gelten, in denen nach eigenen Angaben ein milliardenschweres Geschäft vereinbart wurde.

Im Wege steht dieser Logik allerdings der Buchstabe des Gesetzes. In der EU-Verordnung über den Dokumentenzugang heißt es wörtlich: „Diese Verordnung gilt für alle Dokumente eines Organs“. Also nicht bloß für die, die auch im Archiv liegen. Die Europäische Ombudsfrau Emily O’Reilly erklärt nach einer Beschwerde von netzpolitik.org, die Kommission müsse die Herausgabe der Nachrichten Von der Leyens prüfen, selbst wenn diese nicht archiviert seien. Doch die Kommission weigert sich – und gibt weiterhin keine einzige Chatnachricht heraus.

Ob Von der Leyen und ihre Beamten damit durchkommen, entscheidet bald das Gericht der Europäischen Union. Die New York Times und ihre Brüsseler Bürochefin Matina Stevis-Gridneff klagen dort auf Herausgabe der Chats. „Amtsträger sollten nicht in der Lage sein, die Gesetze zur Informationsfreiheit zu umgehen, indem sie einfach von E-Mails auf Textnachrichten umsteigen“, sagt eine Pressesprecherin der Zeitung. Die Öffentlichkeit müsse in der Lage sein, „demokratische Kontrolle über die Regierung“ auszuüben.

Abgeordnete: Regeln an Realität anpassen

Obwohl der Spiegel bereits Ende 2021 über die umstrittene Löschpraxis der Kommission berichtete, hat sie bislang kaum Proteste ausgelöst. Doch inzwischen machen einige EU-Abgeordnete Druck auf die Kommission, transparenter zu werden. Die Weigerung der Kommissionschefin, sich an die Transparenzgesetze zu halten, zeigten „eine tiefe Verachtung für Demokratie und Rechenschaftspflicht“, kritisiert die niederländische Liberale Sophie in ‚t Veld gegenüber dem Recherchekollektiv #Missingmails. Die Kommission stehe nicht über dem Gesetz.

Die aktuellen Regeln stammten aus einer Zeit vor dem Internet, sagt der Grünenpolitiker Daniel Freund. „Wir müssen uns hier den Realitäten anpassen. Wenn heute per SMS oder WhatsApp über Milliardenverträge verhandelt wird, dann kann man sich nicht rausreden und behaupten, das seien keine relevanten Dokumente.“

Dass das Dokumentenmanagement der Kommission nicht auf der Höhe der Zeit ist, gesteht selbst Vizepräsidentin Věra Jourová ein. Ihr sei spätestens während der Covidpandemie klar geworden, „dass die Art, wie wir kommunizieren, sich verändert hat“. Die Kommission werde ein neues Gesetz vorschlagen, oder zumindest interne Regeln schreiben, verspricht Jourová. Darin werde sie klarstellen, welche Nachrichten archiviert werden müssen.

Dieses Versprechen Jourová liegt inzwischen eineinhalb Jahre zurück. Getan hat sich bislang wenig. Auf unsere Anfrage hin verweist der Pressesprecher auf das Arbeitsprogramm der Kommission für 2023. Darin steht, die EU-Behörde werde sich mit „Instrumenten zur Stärkung ihres Transparenzrahmens befassen, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu Dokumenten“. Was konkret geplant ist, lässt er offen.

Von der Leyen schweigt

Jourovás Chefin Von der Leyen schweigt inzwischen. Als sie wegen ihrer Rolle in den milliardenschweren Impfstoffkäufen Europäischen Parlament vorgeladen wird, setzen ihre Verbündeten durch, dass ihre Befragung hinter verschlossenen Türen stattfindet.

Für Von der Leyen sind Ausweichmanöver in Sachen SMS nichts Neues. Noch als deutsche Verteidigungsministerin gerät sie wegen Rüstungskäufen unter Druck. Als ein Untersuchungsausschuss im Bundestag die freihändige Vergabe von Beratungsverträgen kritisiert und Einblick in ihre SMS fordert, lässt sie bei ihrem Diensthandy eine „Sicherheitslöschung“ vornehmen. Ob Kriegswaffen oder Impfdosen, Von der Leyen lässt sich nicht in die Karten schauen. Kritik lässt sie, wie Rutte oder Frederiksen, an sich abperlen.

Als Von der Leyen Kommissionspräsidentin wird, veröffentlicht sie „politische Leitlinien“ für ihre Amtszeit. Ein Satz daraus sticht heute besonders hervor: „Wenn die Europäer Vertrauen in unsere Union haben sollen, müssen ihre Institutionen offen und über jeden Vorwurf in Bezug auf Ethik, Transparenz und Integrität erhaben sein.“

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Oben           —     202* 9.30 delovna seja članov in članic Evropskega sveta; stavba Evropa, BRUSELJ Foto: Nebojša Tejić/STA

NOG Brussel: Neelie Kroes

Unten           —         Danmarks statsminister Mette Frederiksen (S) håller sitt partiledartal vid Folkemødet i Allinge på Bornholm. Photo: News Øresund – Johan Wessman © News Øresund – Johan Wessman (CC BY 3.0). Detta verk av News Øresund är licensierat under en Creative Commons Erkännande 3.0 Unported-licens (CC BY 3.0). Bilden får fritt publiceras under förutsättning att källa anges. .The picture can be used freely under the prerequisite that the source is given. News Øresund, Malmö, Sweden News Øresund är en oberoende regional nyhetsbyrå som är en del av det oberoende dansk-svenska kunskapscentrat Øresundsinstituttet.. <a href=“http://www.newsoresund.org“ rel=“noreferrer nofollow“>www.newsoresund.org</a>. <a href=“http://www.oresundsinstituttet.org“ rel=“noreferrer nofollow“>www.oresundsinstituttet.org</a>

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Mai 2023

Symbolschwere Gruppenbilder mit und ohne Dame

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Das erste Fotopaar der Tage rund um den 19. Mai 2023: In Hiroshima posieren Staatsoberhäupter der sieben Industrienationen für ein Gruppenfoto. Im Hintergrund ein Blick auf einen ruhigen See.

In Xi’an tun die Staatsoberhäupter der fünf zentralasiatischen Staaten mit Chinas Parteichef Xi Jinping in der Mitte dasselbe; auf einer Bühne, gesäumt von Staatsfahnen, im Hintergrund eine traditionelle chinesische Malerei, die schroffe Bergketten im Wolkenmeer zeigt. Steht das symbolisch für sieben maritime Na­tio­nen plus die EU gegenüber einer neuen Weltmacht mit fünf kontinentalen Nachbarn als potenziellen Verbündeten?

Das zweite Fotopaar: Die G7- SpitzenpolitikerInnen, zwei Frauen sind dabei, sitzen um einen runden Konferenztisch, dicht an dicht, auf Holzstühlen. Drei Männer, Joe Biden, ­Fumio Kishida und Emmanuel Macron, drehen sich zur Kamera und spenden so alle zusammen einem imaginären Publikum hinter der Kamera ihr pflichtbewusstes Lächeln.

Zum Vergleich: eine geräumige runde Tischreihe mit sechs schweren, wohlgepolsterten Sofas, ebenso geräumig voneinander getrennt. Frontal in die Kamera, also in eine imaginäre Weltöffentlichkeit, blickt nur Xi Jinping, Chinas starker Mann. Alle fünf Staatsführer sitzen mit dem Rücken zum Publikum. Niemand sieht ihre Mimik, vielleicht nur angedeutet, wie sie ihren Blick auf Xi richten. Steht das symbolisch für ein demokratisch gleichberechtigtes Miteinander gegenüber einem ehrerbietigen Audienzkreis?

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Das dritte Fotopaar: hier ein Arbeitsessen zu Abend – jede und jeder hat seine und ihre Portion vor sich, zu sehen sind noch Mikrofone –, da eine lange Tischreihe, reichlich gedeckt, Blumengesteck und allerlei Leckerbissen, im Hintergrund ein weitläufiger Vorhof, wo für die Tischgäste Tänze und Lieder dargeboten werden. Wie der chinesische Begleittext berichtet, sind die Darbietungen allemal in der Pracht der Tang-Dynastie, die nach offizieller Geschichtsschreibung die Blütezeit der chinesischen Zivilisation repräsentiert – mit blühendem Handel durch die Seidenstraße, deren Anrainer alle zentralasiatischen Staaten heute sind. Sie sind Geldempfänger aus Peking für das Projekt der chinesischen Weltstrategie One Belt One Road. Auch diesmal klingelte es wieder vielversprechend in der Kasse: 26 Milliarden Dollar als Darlehen, wenn die fünf in Zentralasien Pekings Willen Folge leisten.

Was die Fotos erzählen, mag der Fantasie eines jeden Einzelnen überlassen bleiben. Und: Peking will offiziell noch nicht gelten lassen, der Gipfel in Xi’an sei eine Gegendarstellung zu Hiroshima. Dennoch ist der Kontrast unübersehbar: In Hiroshima dreht sich alles darum, Russlands Aggressionskrieg bald zu beenden. Der Verlierer ist Moskau. Kein Wort davon in Xi’an. In Hiroshima betonten die G7 den Entschluss, auch Chinas erpresserischem Vorgehen gegen wirtschaftlich schwächere Staaten entgegenzutreten. Genau das wird in Xi’an dargeboten, wenn auch versüßt mit feudalem Prunk. Mit einer vielsagenden Fußnote: In Xi’an ist Chinas Verbündeter Russland abwesend. Moskau hat bis dato nie gefehlt, wenn es um Zentralasien, also um Russlands Hinterhof ging. Nutzt China Russlands Schwäche aus, um die eigene Einflusssphäre auszuweiten als ein neuer Hegemon, dem sich der Westen stellen will?

Quelle         :        TAZ-online            >>>>>           weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Die „Klimakleber“

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Mai 2023

Tanz um die goldene Radkappe

Ein Debattenbeitrag von Claus Leggewie

43 Millionen Privat-PKW sind in Deutschland zugelassen, der Individualverkehr hat Fetischcharakter angenommen. Das Auto ist der Elefant im Raum der Klimawende.

Der als eher konservativ geltende Soziologe Niklas Luhmann hatte ein Faible für den Protest und Protestierende, ohne dabei den aufrührerischen Theorieschulen sozialer Bewegungen wie Anarchismus oder Marxismus anzugehören. Der Studentenbewegung um 1968 bescheinigte der Systemtheoretiker, sie nehme zu Recht Anstoß am Status quo, an dem der CDU-Staat damals krampfhaft festgehalten hatte, denn es bedürfe einer außerparlamentarischen Opposition, wenn die staatstragende Opposition wie das Establishment unfähig seien, „Alternativen zur Entscheidung zu bringen“.

Dem Protest, auch dem wilden, radikalen, system­oppositionellen, wies er die Rolle zu, die Gesellschaft ins Lot der Selbststeuerung und Systemerneuerung zurückzuversetzen. Dieser Stabilisierungsauftrag gefiel 68ern natürlich weniger; es war aber eine durchaus treffende Diagnose ihrer tatsächlichen Leistung, nämlich der Gesellschaft der Bundesrepublik jene „Fundamentalliberalisierung“ zu verschaffen, die ihnen Luhmanns Gegenspieler Jürgen Habermas rückblickend bescheinigte.

Neue soziale Bewegungen vermögen damit, was den Teilsystemen der Gesellschaft abgeht: „Sie beschreiben die Gesellschaft, als ob es von außen sei.“ Und in dieser Totale entdecken sie auch, was alten sozialen Bewegungen verborgen geblieben war: „Gesellschaft nicht mehr bloß vom Kapitalismus her zu sehen, sondern in Bezug auf die Tatsache, daß manche etwas für ein lebbares Risiko halten, was für andere eine Gefahr ist“.

Früher als andere interessierten Luhmann ökologische Risiken, die den neuen Typ „grün-alternativer“ Proteste hervorriefen: „in der Ablehnung von Situa­tio­nen, in denen man das Opfer des riskanten Verhaltens anderer werden könnte.“ Besser sind die Sorgen von Fridays for Future, Extinction Rebellion und Letzter Generation kaum zu beschreiben. Luhmann antizipierte allerdings auch deren Schwächen: „Das Geheimnis der Alternativen ist, dass sie gar keine Alternative anzubieten haben“ – weil sich ja stets die anderen bewegen, ändern, korrigieren müssten.

Hysterischer Reflex

Das macht Protest wenig anschlussfähig, zumal, wenn er im Kern Angst thematisiert und moralisierend auftritt, wie seinerzeit die Atomkraftgegner. Es ist zu früh zu entscheiden, ob die Klimaschützer in die Ahnenreihe der neuen sozialen Bewegungen von der Studentenrevolte und die Frauenemanzipation über die Anti-AKW-Bewegung und den Antirassismus gehören oder ihr Protest eine neue Qualität annehmen wird.

Ein wesentlicher Unterschied besteht schon darin, dass sie anders als die Vorläufer etwas fordern, was auch die Mehrheit wünscht (wenn auch nicht praktiziert): Gefährlicher Klimawandel und Artensterben beunruhigt auch den Mainstream, und einschneidende Änderungen von Lebensstilen und Gewohnheiten propagiert keineswegs nur eine zukunftsängstliche, apokalyptisch getönte „Letzte Generation“.

Erst die in Protestnischen stets angelegte Selbstradikalisierung und der hysterische Reflex gegen den vermeintlichen Ökoterror polarisiert, aber nicht das von „Klima­klebern“ geforderte 9-Euro-Ticket oder eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen. Die Blockadeaktionen der Letzten Generation, in deren Windschatten die konzilianteren und konsensorientierten Fridays for Future geraten sind, stoßen auf breite Ablehnung.

Protest am Genfer Flughafen

Man kann eine Gesellschaft nicht frontal attackieren, die anders als 1968 und in den 1980er Jahren mit den Protestzielen im Prinzip übereinstimmt. Die „Klimakleber“ überdehnen die legitimen Mittel zivilen Ungehorsams wie Blockaden und Boykotts. Andere Teile der Klimaschutzbewegung kali­brie­ren das wesentlich besser. Ein jüngstes Beispiel sind die 100 Aktivisten, die sich an die Zugänge von Privatjets ketteten, die bei einem Business-Event am Genfer Flughafen ausgestellt waren, und den Haupteingang der Jet-Show versperrten, um die Kundschaft am Betreten zu hindern.

Jets gelten zu Recht als äußerst schädliche Produkte, „die unseren Planeten zerstören, unsere Zukunft verheizen und Ungleichheit befeuern“. Die NGO „Stay Grounded“ erweiterte den Kreis der Zielpersonen: „Während viele sich Essen und Miete nicht mehr leisten können, zerstören die Superreichen unseren Planeten, damit muss endlich Schluss sein.“

Quelle      :         TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben      —   Strangely satisfying seeing this old barge floating towards me- I don’t see too many surviving from this period outside shows. For some reason, Google car insurance tells me this is a very rare Rolls Royce Camargue, but they look nothing like this, plus were only released the next year. Registration number: HSU 668 ✔ Taxed Tax due: 01 April 2015 ✔ MOT Expires: 22 April 2015

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Mai 2023

Schluss mit stiller Post und auf nach Mainz!

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

25 Medienverbände, Institute und Initiativen haben den offenen Brief #UnsereMedienMitgestalten zur Reform der Öffentlichen-Rechtlichen veröffentlicht.

Offene Briefe haben ja eine lange Tradition. Luther hat seine Thesen an die Kirchentür genagelt und damit die Reformation ausgelöst. Bismarck sorgte mit der Emser Depesche für den Deutsch-Französischen Krieg anno 1870/71. Vor ein paar Wochen schrieben Kin­der­ärz­t*in­nen wegen des Medikamentenmangels offen an Karl Lauterbach. Und die Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen kommen aus der Poststelle gar nicht mehr raus.

Zum Schicksal offener Briefe gehört leider auch, dass sie gerne mal kalt weggelächelt werden. Das passiert regelmäßig, wenn sie den Adres­sa­t*in­nen nicht so passen und niemand „Stimmt aber trotzdem“ ruft. Von daher bleibt abzuwarten, was aus dem offenen Brief „#UnsereMedienMitgestalten“ von über 25 Medien- und Branchenverbänden, Instituten und Initiativen zur Reform der Öffentlichen-Rechtlichen wird. Entstanden ist er unter Federführung der Deutschen Akademie für Fernsehen (DAFF) und meldet bei der zuständigen Rundfunkkommission der Länder Bedarf an einem „ständigen Medienkonvent“ an.

Der will parallel zum bereits eingesetzten Zukunftsrat bei den Reformen mitmachen. „Und warum dürfen die nicht alle in der gleichen Liga mitspielen?“, fragt die Mitbewohnerin. „Sonst kommen doch nur Gelaber und Forderungen auf so vielen und unterschiedlichen Inseln raus.“

Perspektive der Ma­che­r*in­nen und Nut­ze­r*in­nen

Un­ter­zeich­ne­r*in­nen sind die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Redakteursausschüsse (AGRA), die Neuen Deutschen Medienmacher*innen, die ARD-Freien, Verbände der Gewerke von Drehbuch und Casting übers Maskenbild bis zur German Stunt Association. Der Verband der Deutschen Filmkritik ist genauso dabei wie die Freunde des Grimme-Preises (Transparenzhinweis: Ich war da bis letztes Jahr Vorsitzender). Das Grimme-Institut selbst fehlt, aber dessen Leitung hat es mit der Diskussion eh nicht so dolle und will lieber tief schürfen.

Quelle       :          TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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(Weiter-) Bildungsauftrag

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Mai 2023

Das Recht auf Aus- und Weiterbildung fristete lange ein Schattendasein.

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Ein Debattenbeitrag von Andreas Gran

Jetzt will die Ampelregierung durch ein neues Gesetz endlich mehr dafür tun. Mehr Geld soll in Bildung fließen, dies ist in einer Zeit hoher Militärausgaben ein wichtiges Signal.

Wer Zeit, Mühe und Geld in die eigene Ausbildung investiert, handelt vernünftig. Selbstvertrauen und soziale Anerkennung sprechen für lebenslange Bildung, neben verbesserten Chancen am Arbeitsmarkt. Die Bedeutung von Bildung ist bereits deshalb immens. Allerdings gibt es bekanntermaßen erhebliche Ungleichheit beim Zugang zu Bildung, obwohl dieser sogar in unseren Grundrechten hervorgehoben wird. Es ist ein wirklichkeitsferner Trugschluss zu glauben, dass Bildungschancen gleich seien, denn die erheblichen Unterschiede sind in Deutschland immer noch das Ergebnis der sozialen Herkunft.

Allerdings hat unser Staatswesen die Pflicht, allen eine Bildung zu ermöglichen – das ist der so genannte Bildungsauftrag. Vor diesem Hintergrund besteht die Schulpflicht. Mit dem Ende der nicht immer alltagstauglichen Schulbildung sind aber viele junge Leute keineswegs ausreichend qualifiziert für das Berufsleben – und deshalb endet die staatliche Verpflichtung, Bildung anzubieten, nicht bereits mit Erlangen irgendeines Schulabschlusses. Sie muss vielmehr die berufliche Aus- und Weiterbildung in weitaus stärkerem Maße im Blick haben. Alarmierend ist dabei, dass zahlreiche Bewerberinnen und Bewerber keinen Ausbildungsplatz finden, woraus eine sogenannte Ungelerntenquote von etwa 14 Prozent im Alter von 20 bis 34 Jahren resultiert. Arbeitslosigkeitsrisiken liegen auf der Hand.

Vor diesem Hintergrund will die Ampelregierung das „Gesetz zur Stärkung der Aus- und Weiterbildungsförderung“ auf den Weg bringen. Im Entwurf sind die Probleme und Ziele erläutert, insbesondere Herausforderungen durch die Digitalisierung und die angestrebte Klimaneutralität, die wiederum verschärft werden durch die Energiekrise, Lieferkettenprobleme und einen erhöhten Ausbildungsbedarf. In Ergänzung zum „Qualifizierungschancengesetz“ und zum „Arbeit-von-Morgen-Gesetz“ erhofft sich die Regierung durch den weiteren Schritt mehr „Verständnis von Weiterbildung als präventive Investition zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit“.

Hierzu werden konkrete Maßnahmen versprochen: Die Beschäftigtenförderung soll vereinfacht werden. Diese soll nicht länger auf Berufe, die vom Strukturwandel betroffen sind, und sogenannte Engpassberufe begrenzt werden. Dabei soll die Planungssicherheit für die Arbeitgeber verbessert werden. Auch soll ein Qualifizierungsgeld eingeführt werden für Beschäftigte, denen „im besonderen Maße durch die Transformation der Arbeitswelt der Verlust von Arbeitsplätzen droht“, bei denen Weiterbildungen jedoch eine „zukunftssichere Beschäftigung im gleichen Unternehmen ermöglichen können“. Das Qualifizierungsgeld wäre ein Lohnersatz in Höhe von bis zu zwei Dritteln des Nettogehalts. Außerdem soll eine Ausbildungsgarantie eingeführt werden, die allen jungen Menschen ohne Berufsabschluss zu einer Berufsausbildung verhilft. Das folgt aus der EU-Initiative „Jugendgarantie“, wonach allen Angebote für Beschäftigung, Ausbildung oder Weiterbildung gemacht werden sollen, ohne in die Ausbildungsverantwortung der Wirtschaft einzugreifen. Ein Bestandteil davon ist die Einführung kurzer betrieblicher Praktika, etwa nach Abbruch von Studium oder Berufsausbildung. Und schließlich sollen finanzielle Anreize verlängert werden, damit berufliche Weiterbildung während einer Kurzarbeit möglich ist. Für die Arbeitgeber werden dazu Erleichterungen bei den Sozialversicherungsabgaben in Aussicht gestellt.

Das neue Gesetz führt dazu, dass mehr Geld in die Bildung fließt, und genau dies ist in einer Zeit hoher Militärausgaben ein wichtiges Signal – aus verschiedenen Gründen: Nur mit sozial ausgewogenen Maßnahmen für mehr Bildung kann gesellschaftlichen Spannungen durch die ohnehin bestehende Chancenungleichheit begegnet werden. Der sich verstärkende Rechtsextremismus ist nicht zuletzt die Folge von sozialen Konflikten und kruden Sündenbock-Theorien – Migrantinnen und Migranten sind demnach schuld an der eigenen Lage. Anstatt anderen Menschen die Schuld an der eigenen Situation zu geben, kann diese durch eigene Bildungserfolge verbessert werden.

In einem Sozialstaat und in einer Solidargemeinschaft ist zudem geboten, diejenigen zu unterstützen, denen Ausbildung – aus welchem Grund auch immer – nicht leichtfällt. Wenn finanzielle Aspekte problematisch sind, muss sozialstaatlich gefördert werden. Wer in der glücklichen Lage ist, selbst guten Zugang zur Bildung zu haben, sollte anerkennen, dass Mitmenschen solidarische Hilfe benötigen. Letztlich ist eine solche Investition sinnvoller, als später Missstände auszugleichen, denn es müssen die Ursachen angegangen werden, nicht nur Symptome.

Quelle      :           TAZ-online            >>>>>          weiterlesen     

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Razzia auf Letzte Generation

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Mai 2023

Razzia bei der Letzten Generation ist ein Anschlag auf den Rechtsstaat

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Wer sich als Freistaat bekennt, sollte auch der „Letzten Generatin“ den Freistaat bieten ! Im anderen Fall strecken die Bürger-innen den Freistaat die Zungen heraus.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Kommentar von Edith Bartelmus-Scholich

Heute fand eine bundesweite Razzia gegen Aktivist*innen der Letzten Generation statt. Den Aktivist*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung wird vorgeworfen eine kriminelle Vereinigung gegründet und Geld für Straftaten gesammelt zu haben. Beschlagnahmt wurden Konten und die Homepage der Letzten Generation. Auf der Webseite der Letzten Generation war über Stunden folgender Text zu lesen: „Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung nach § 129 StGB dar!“

Offenbar wurde im Freistaat Bayern die Gewaltenteilung aufgehoben. Kein Gericht hat nämlich jemals geurteilt, dass die Letzte Generation eine kriminelle Vereinigung ist. Dennoch maßt sich das bayerische LKA an, dies als Feststellung zu veröffentlichen.

Die Razzia gegen die Letzte Generation ist durch nichts zu rechtfertigen. Der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung greift ins Leere. Die Aktivist*innen der Letzten Generation begehen keine Verbrechen, sondern leisten zivilen Ungehorsam um Aufmerksamkeit auf die Folgen des Klimawandels zu lenken. Mit symbolischen Aktionen fordern sie die Politik auf, endlich wirksame Maßnahmen gegen die Erd-Erhitzung zu ergreifen. Selten war eine politische Basisbewegung friedfertiger und defensiver in ihren Aktionsformen.

Die Aktivist*innen der Letzten Generation nehmen große Nachteile und ihre Kriminalisierung in Kauf damit unsere Kinder und Enkel auch zukünftig noch in einem erträglichen Klima leben können. Wie traumatisierend die heutige Razzia für die direkt Betroffenen war, zeigt ein Video, in dem Carla Hinrichs ihre heutigen Erlebnisse schildert:

https://twitter.com/i/status/1661360741893517313

Hinrichs schildert die Angst, als die Polizei mit gezogener Waffe ihre Wohnung stürmte. Noch größer ist jedoch ihre Angst vor der kommenden Klimakatastrophe. Diese viel größere Angst teilen viele tausende Aktivist*innen. Deswegen sind Einschüchterung, Gewalt und Repression keine Mittel die Klimaproteste einzudämmen.

Das Mittel gegen Klimaproteste ist wirksame Klimapolitik. Hier jedoch versagen diejenigen, die politische Verantwortung tragen. Der Planet steuert auf eine Temperaturerhöhung von 4 Grad Celsius zu. Überall sind dadurch die Ökosysteme gefährdet, das Artensterben wird vorangetrieben, Katastrophen wie Dürren oder Überschwemmungen nehmen zu – bei gleichzeitiger Verknappung des Süßwassers. Milliarden Menschen, vor allem im globalen Süden, werden durch die Folgen des Klimawandels ihrer Lebensgrundlagen beraubt und die meisten dieser Menschen werden sterben, ebenso wie übrigens viele Kranke und Ältere in den sich überhitzenden Städten auf der Nordhalbkugel.

Dass dennoch die Bundesregierung keine wirksamen Maßnahmen gegen den Klimawandel beschließt, ist unverantwortlich. Weder kann die Wärmewende länger aufgeschoben werden, noch kann weiter so gewirtschaftet werden wie bisher. Der Ausstieg aus der von fossilen Energien angetriebenen Profitmaschine und der Einstieg in eine klimaneutrale, nachhaltige Kreislaufwirtschaft ist überfällig. Politische Realität ist jedoch, dass die Bundesregierung selbst Maßnahmen wie ein Tempolimit auf Autobahnen und ein Verbot von Inlandsflügen nicht anpackt.

Wenn sie nun statt auf wirksame Klimapolitik auf brutale Repression gegen Menschen, die zivilen Ungehorsam leisten, setzt, verlässt sie zusätzlich den Boden des Grundgesetzes. Deswegen ist die Solidarität mit der Letzten Generation auch ein Kampf um den Rechtsstaat.

Edith Bartelmus-Scholich, 24.5.2021

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Mai 2023

Eine große Woche für den Antisemitismus geht zu Ende

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Adriane Lemme

Das Prinzip Antisemitismus funktioniert – immer anders, aber zuverlässig. Das haben diese Woche Elon Musk und Roger Waters vorgeturnt.

„A Great Day for Freedom“ heißt ein Song von Pink Floyd. Ein ziemlich guter, wie viele ihrer Songs. Diese Woche war leider eher a great week for Antisemitismus. Auch und vor allem dank Roger Waters, einst Mitgründer und Chef-Songschreiber von Pink Floyd, heute eher singender Reichsbürger.

Okay, den Davidstern auf dem Schwein lässt er inzwischen weg. Und er hat – sicher ist sicher – vorher per Durchsage kundgetan, kein Antisemit zu sein. Puh, ach so, na dann. Rock on. Die Show in Berlin war dann aber, nach allem, was kolportiert wird, doch nur eine seiner Weltanschauung. Die ist as plump as possible, Gut gegen Böse. Und böse ist nicht etwa Putin, sondern Biden und Obama. Und wenn man schon nichts gegen Juden oder Israelis sagen darf, buhu, dann halt: „Fuck Krieg gegen den Terror“, hehe, immer schön quergeschnitten mit dem Leid der Palästinenser. Da versteht auch jeder, wer und was gemeint ist. Das ist Gehirnwäsche, keine Kunst.

Deshalb sind auch alle Verteidigungen à la „Freiheit der Kunst“ bei solchen Typen unangebracht. Klar, Kunst muss frei und in ihrer Freiheit geschützt sein, das steht außer Frage. Aber sie muss halt den Anspruch von Kunst erfüllen, um solche zu sein: Ein Mindestmaß an Transzendenz. Denn, sorry, ein politisches Statement ist genau das – aber eben noch lange keine Kunst. Aber genau deshalb kann natürlich Kunst selbst von solchen Firecrackers wie Waters – sprich seine alten Songs – weiter Kunst und als solche geschützt sein. Aber dazu haben sich diese Woche ein paar klügere Leute als ich im Haus der Wannseekonferenz Gedanken gemacht.

Aber ganz ehrlich: In jüngster Zeit habe ich persönlich ziemlich viel Agitprop gesehen, die sich einfach das Label Kunst aufgeklebt hat. Ja, ich denke da auch an die vergangene documenta. Aber hey, in Berlin störte sich anscheinend niemand an Waters’ Judenhass-Show – zumindest gab’s keinen großen Protest. Aber vielleicht ist er in guter Gesellschaft.

Israels Politik vergleichbar mit die der Nazis?

36 Prozent der Deutschen finden einer Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge, dass Israels Politik mit der der Na­tio­nal­so­zia­lis­t:in­nen verglichen werden kann. Und die Amadeu Antonio Stiftung hat am Mittwoch ihr jüngstes „Zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus“ vorgestellt.

Kabinett Hitler

Darin geht’s unter anderem um die enge Verbindung des durchaus auch in linken Kreisen verbreiteten Antiamerikanismus zu antisemitischen Wahnvorstellungen; und darum, wie sich infolge des Ukrainekriegs, auch getrieben von diesem Antiamerikanismus, eine neue „Friedens“-Querfront bildet. Klar, der wahre Feind ist kein russischer Kriegsverbrecher, sondern der Kapitalismus und dieser ganze modernistische Materialismus.

Wie absurd derlei Logiken sind, wurde die Woche perfekt vorgeturnt von Elon Musk – einem, vorsichtig ausgedrückt, prominenten Vertreter des Kapitalismus. Über den Finanzier und Holocaustüberlebenden George Soros twitterte der Twitter-Chef, dieser hasse die Menschheit und wolle „die Struktur der Zivilisation zersetzen“.

Antisemitische Bilder immer zurechtgehauen

Er erinnere ihn an den ­Marvel-Schurken ­Magneto – in den Comics ebenfalls ein Holocaustüberlebender und später selbst Massenmörder. Soros ist immer wieder Angriffsziel von US-Rechten – denen Musk nahesteht. Einer ihrer Vorwürfe: Soros unterstütze bei Wahlen eher tendenziell linke Staatsanwälte.

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Vom täglichen Leid

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Mai 2023

Wir lalle eben auf Kosten von anderen

Ein Schlagloch von Ilija Trojanow

Während der Bundespräsident die üblich einschläfernde Rede in der Paulskirche hält, treffen sich aktive Menschen gleich nebenan zur Global Assembly.

Vielleicht war das wichtigste Ereignis in unserem Land letzte Woche ein Treffen in der Evangelischem Akademie in Frankfurt. Direkt am herausgeputzten Römer, wo am Tag darauf der Bundespräsident eine gewichtige Rede mit einschläferndem Potenzial hielt zu Ehren des ersten deutschen demokratischen Parlaments vor 175 Jahren in der Paulskirche. Die knapp fünfzig Aktivistinnen, die in einem hellen, nüchternen Raum vier Tage lang debattierten, waren sich des deutschen Jahrestags zwar bewusst, aber sie wollten nicht Vergangenheit abfeiern, sondern Zukunft einfordern. Mit robuster Leidenschaft und unerbittlicher Zärtlichkeit.

„Global Assembly“ heißt das Ereignis, und es lockte Menschen aus allen Ecken und Enden der Welt nach Frankfurt, divers in Herkunft, Aussehen und Zungenschlag. Eingeladen von zivilgesellschaftlichen Kräften hierzulande, von engagierten Bürgerinnen. Ohne Bürokratie. Ohne staatliche Kontrolle. Ohne ideologische Einfärbung. Mit klarer Sehnsucht, aber ohne feste Absicht.

Denn die Gäste aus aller Welt sollten selbst ausloten und aushandeln, welche Schritte und Forderungen für sie zentral sind, um die vielen Krisen der Gegenwart im Sinne aller zu überwinden. Was mitten in Deutschland letzte Woche stattfand, war ein kleines Wunder: ein selbst organisiertes Treffen, eine offene Struktur, ein ebenbürtiges Miteinander, ein Reden auf Augenhöhe, ohne Vorgaben, ohne Einschränkungen, ohne Tabus.

Schon am ersten Tag fiel auf, wie angemessen miteinander geredet wurde. Menschenwürde wurde nicht vollmundig vor einem großen Buffet beschworen, sondern im Umgang miteinander gelebt. Der gegenseitige Respekt sowie die Fähigkeit, zuzuhören und einander ausreden zu lassen, beweisen, dass es durchaus Alternativen gibt zu dem hasserfüllten kommunikativen Masturbieren in den sozialen Medien, das teilweise auch unsere professionellen Medien infiziert hat. Vielleicht erstrahlte die Würde jedes Einzelnen so sehr, weil es sich um Menschen handelt, die Schreckliches erlebt haben. Der Kampf um Menschenrechte und Gerechtigkeit provoziert nicht nur leere Versprechen und hohle Zusicherungen, sondern auch Gewalt. Nicht nur in Diktaturen.

Unvermittelt sprach jemand von Unfassbarem. Vom Morden der Generäle in Myanmar, von einer Bombe in Afghanistan, die den eigenen Bruder zerfetzt hat, von Nickelförderung und -veredelung in Indonesien, für die es viel Energie und wenig Menschen braucht, weswegen die örtliche Bevölkerung brutal vertrieben und ein Kraftwerk errichtet wurde. „Für eure E-Autos“, so endete die Geschichte. Ohne Vorwurf in der Stimme. Ohne Agitation. Einfach so, als eine Wahrheit, die wir weiterhin nicht wahrhaben wollen: Dass wir auf Kosten anderer leben und technologische Lösungen die ökologische Zerstörung nicht aufhalten.

Darin bestand für einen aufmerksamen Chronisten aus Mitteleuropa die enorme Stärke dieser Global Assembly: Bei der Diagnose wurde nicht von Theorien oder ideologischen Positionen ausgegangen, sondern von dem täglich erlittenen Leid. Das hat eine zwingende Prägnanz. Wer selbst auf einer Müllhalde lebt, lässt sich nicht vorgaukeln, Müll wäre eine feine Sache. In diesem Zusammenhang wurde von fast allen Anwesenden die Doppelmoral des Westens, die atemberaubende Heuchelei des herrschenden kapitalistischen Weltsystems hervorgehoben.

Zwei Könige im Austausch.

Als Navid Kermani bei der Eröffnungsveranstaltung in der Paulskirche von seinen Recherchen im äthiopischen Tigray berichtete, von den unzähligen Abgeschlachteten, von den vergewaltigten Frauen (weit über hunderttausend), dürfte jedem klargeworden sein, wie unsere Wahrnehmung und unser Mitgefühl hierzulande Konjunkturen des Selbstinteresses unterliegt, wie entfernt wir von einer universellen Haltung sind, von einem Weltethos, von einer kosmopolitischen Praxis.

All das soll die Global Assembly fördern. In dem schon erfolgten Treffen wurden die Rahmenbedingungen und Themenschwerpunkte diskutiert und definiert, teilweise in Arbeitsgruppen: Frauenrechte, Klimawandel, autoritäre Herrschaft, unternehmerisches Handeln verpflichtend an die Menschenrechte binden. In einem nächsten Schritt, der eigentlich aus vielen kleineren Schritten besteht, werden die Teilnehmerinnen einerseits die formulierten Themen bis zum nächsten März hinsichtlich der Herausforderungen und Aufgaben präzisieren, zum anderen aber exemplarische Geschichten sammeln. Denn immer wieder kam zur Sprache, wie wichtig Geschichten seien, als Vergewisserung der eigenen Erfahrung und als neue Narrative für eine bessere Welt. Als Visionen, als Utopien.

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Die Menschenrechtsliga

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Mai 2023

GRUNDRECHTE-REPORT 2023 der Öffentlichkeit vorgestellt

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Internationale Liga für Menschenrechte

Heute, am 23. Mai 2023, dem Tag des Grundgesetzes, wurde der diesjährige „Grund­rechte-Re­port. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ im Haus der Demokratie in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt.

Der 27. Grundrechte-Report wirft unter dem Titel „Krieg, Klima, Krise“ einen Blick auf die aktuellen Gefährdungen der Grundrechte und zentraler Verfassungsprinzipien an­hand konkreter Fälle des Jahres 2022. Der Report analysiert und kritisiert Entschei­dun­gen von Parlamenten, Behörden und Gerichten, aber auch von Privatunternehmen.

Hierzu gehören für das Jahr 2022 grundrechtliche Auswirkungen der Maßnahmen an­läss­lich des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und die wachsende Armut in Deutschland. Darüber hinaus werden im Report tödliche Polizeigewalt, rassistische Poli­zeikontrollen und Grundrechts­ver­letzungen an geflüchteten Menschen thematisiert so­wie Einschnitte in die informationelle Selbstbestimmung und Probleme in der deutschen Justiz besprochen.

Susanne Baer, ehemalige Richterin des Bundesverfassungsgerichts und Professo­rin für Öf­fent­liches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin, präsentierte den Grundrechte-Report in diesem Jahr: „Der Krieg in der Ukraine, die wirtschaftliche Lage, die viele Menschen belastet, und die Klimakrise fordern Politik und Gesellschaft – und sie fordern auch die Grundrechte heraus. Gerade wenn es eng wird, kommt es auf diese Rechte an. Der Grundrechte-Report deckt da Probleme auf. (…) Klar ist jedenfalls: Grund­rechtsfragen gehen alle an – und um überzeugende Antworten müssen wir ringen“.

Simon Lachner, Aktivist der „Letzten Generation“, berichtete bei der Pressekon­ferenz von seinen Erfahrungen mit dem staatlichen Umgang mit Aktionen der Klimaak­tivist*innen. Er sagt: „Wie die Engagierten bei der Letzten Generation vom Rechtsstaat behandelt werden ist teils erschreckend. Immer wieder sehe ich meine Freunde, wie sie mit Schmerzgriffen von der Straße gezerrt werden oder in die Justizvollzugsanstalt ge­sperrt werden – teils ohne Gerichtsverfahren, sondern auf Grundlage des Polizeiauf­ga­bengesetzes in Bayern. Auch ich war für zwei Nächte in der Justizvollzugsanstalt in München.“

Benjamin Derin, Rechtsanwalt und Mitglied des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte­vereins e.V. (RAV), resümiert stellvertretend für die gesamte Redaktion des Grund­rechte-Reports: „Ob staatliche Überwachung, Ausweitung von Straf- und Polizei­gesetzen oder Abbau von sozialen Sicherungen, wir weisen immer wieder darauf hin, wo die Grundrechte in Gefahr sind. Teile von Staat und Politik scheinen aber umgekehrt die Grundrechte mancher Menschen als Gefahr zu betrachten. Das Beharren auf diesen Rechten ist deshalb ein wichtiger Teil des Einsatzes für eine freiheitliche und soziale Gesellschaft für alle.“

Seit 1997 widmet sich der Grundrechte-Report der Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Als »alternativer Verfassungsschutzbericht« dokumentiert er die vielfachen Bedrohungen, die von staatlichen Institutionen für diese Rechte ausgehen. Der aktuelle Report nimmt mit dem Jahr 2022 unter anderem die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine, die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und die intensivierten Auseinandersetzungen um den  Klimawandel in den Blick. Zu den rund 40 behandelten Themen gehören daneben auch die Versammlungsfreiheit, Überwachungsmaßnahmen durch Polizei und Geheimdienste, die Kriminalisierung von Armut, menschenrechtswidrige Abschiebungshaft und die Entwicklungen um das Abtreibungsverbot in Deutschland.

  • Grundrechte-Report 2023 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland (FISCHER Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M.),
    Juni 2023, ISBN 978-3-596-70882-6, 224 Seiten, 14.00 Euro / http://www.grundrechte-report.de/2023/
  • Herausgegeben von: Rolf Gössner, Rosemarie Will, Britta Rabe, Benjamin Derin, Wiebke Judith, Sarah Lincoln, Lea Welsch, Rebecca Militz, Max Putzer, Rainer Rehak.
  • Der Grundrechte-Report ist ein gemeinsames Projekt von: Humanistische Union, verei­nigt mit der Gustav Heinemann-Initiative • Bundesarbeitskreis Kritischer Juragrup­pen • Internationale Liga für Menschenrechte • Komitee für Grundrechte und Demokratie • Neue Richtervereinigung • PRO ASYL • Republikanischer Anwältinnen-und Anwälte­ver­ein • Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen • Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verant­wor­tung • Gesellschaft für Freiheitsrechte
  • Inhaltsverzeichnis und Vorwort („Krieg, Klima, Krise“): https://www.book2look.com/book/9783596708826
    Info zur Präsentation des „Grundrechte-Reports“: http://www.grundrechte-report.de/2023/praesent/
  • Bezugsmöglichkeiten: Das Buch ist ab sofort über den Buchhandel oder die Webseite der Herausgeber zu beziehen (http://www.grundrechte-report.de/quermenue/bestellen/ ).
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Unten      —       Ceremony for the conferment of the Carl von Ossietzky Medall 2014 to Edward SnowdenLaura Poitras and Glenn Greenwald. Opening Speech by ILMR President Fanny-Michaela Reisin.

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Wenn Cancel Culture wirkt

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Mai 2023

Rechter Shitstorm nach Kritik an Polizei

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Die Bundespolizeiakademie in Lübeck

Von Carolina Schwarz

Die Dozentin Bahar Aslan kritisierte Rechtsextremismus in der Polizei und verlor daraufhin ihren Lehrauftrag an der Polizeihochschule. Ein Armutszeugnis.

Er warnte vor einer „Afrikanisierung und Islamisierung“ europäischer Städte, hetzte gegen die Ehe für alle, schrieb für die rechte Zeitung Junge Freiheit, hielt Vorträge vor Menschen aus dem NSU-Umfeld und gründete einen rechtsextremen Verein. Klingt alles ziemlich rechts? Ist es auch. Trotzdem konnte Stephan Maninger mehrere Jahre als Professor an der Bundespolizeiakademie Lübeck lehren.

Als sein Hintergrund 2021 öffentlich bekannt wurde, setzte die Akademie seine Lehrveranstaltungen kurzzeitig aus und überprüfte den Fall. Das Ergebnis: Sie konnten kein „straf- und/oder disziplinarrechtlich relevantes Fehlverhalten“ feststellen.

Erst auf Druck der Landesregierung wurde ihm der Lehrauftrag entzogen, doch Maninger ist bis heute Professor an der Bundespolizeiakademie. Siehe auch die Wikipedia 

Maninger ist kein Einzelfall. Im rechten Wirrwarr der Sicherheitsbehörden den Überblick zu behalten ist schwer. Ständig legen Recherchen neue Missstände offen: Rechtsextreme Chatgruppen, Polizist_innen, die andere rassistisch, sexistisch oder antisemitisch beleidigen oder bedrohen, die aktiv sind in rechtsextremen Netzwerken. Konsequenzen bleiben meist aus, viele von ihnen sind noch im Amt: auf Streife, als Kommissar_innen oder in Polizeihochschulen.

Auf den Tweet folgte der Shitstorm

Bahar Aslan dagegen hat ihren Job verloren. Seit 2022 hat die 38-jährige Lehrerin „interkulturelle Bildung“ an der Hochschule für Polizei und Verwaltung (HSPV) in NRW gelehrt. Doch jetzt beendet die Hochschule die Zusammenarbeit mit Aslan. Auslöser ist ein Tweet vom Samstag, in dem Aslan rechte Polizeipraktiken kritisiert hatte. Darin bezeichnete sie rechtsextreme Polizist_innen als „braunen Dreck“. Die HSPV begründet ihre Entscheidung gegenüber der taz damit, dass Aslan ungeeignet dafür sei, eine „vorurteilsfreie, fundierte Sichtweise im Hinblick auf Demokratie, Toleranz und Neutralität zu vermitteln“.

Die Argumentation, dass wer rechte Missstände anprangert, keine Demokratie und Toleranz vermitteln könne, ist dabei an Absurdität kaum zu überbieten. Die Gleichzeitigkeit, dass rechte Po­li­zis­t_in­nen über Jahre im Amt bleiben, während eine An­ti­ras­sis­tin ihren Job wegen eines Tweets verliert, ist ein Armutszeugnis für die Sicherheitsbehörden.

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Seit Samstag ist Aslan mit einem Shitstorm konfrontiert, in dem auch Politi­ker_in­nen der CDU und Mitglieder der Po­li­zei­ge­werkschaft GdP mitmischen. Dieser zieht sich vor allem an dem Begriff „brauner Dreck“ hoch. Klar könnte man darüber diskutieren, ob es legitim ist, rechtsextreme Menschen als Dreck zu bezeichnen. Aslan selbst hat gesagt, es sei eine unglückliche Wortwahl gewesen, und sie hat sich bei nicht rechten Polizist_innen entschuldigt. Damit könnte man den Nebenschauplatz abhaken und sich dem Hauptaspekt zuwenden.

Nämlich dass wir in Deutschland ein strukturelles Problem mit Rechtsextremen und Rassist_innen in den Sicherheitsbehörden haben. Doch anstatt den „braunen Dreck“ zu thematisieren, sollen diejenigen verschwinden, die ihn sichtbar machen. Die Beendigung des Lehrauftrags an der Polizeihochschule und die fehlende Unterstützung aus dem Innenministerium NRWs zeigen: Es liegt ihnen mehr daran, Kritiker_innen mundtot zu machen, als rechte Netzwerke und Praktiken in den eigenen Reihen aufzudecken und zu unterbinden.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Haupttor der Bundespolizeiakademie Lübeck

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Unten     —       Vorstellung des neuen blauen Uniformmodells

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Respekt bis zum Tod

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Mai 2023

Recht auf freiverantwortliches Sterben

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Ein Debattenbeitrag vin Michael de Ridder

Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft setzt voraus, den Menschen auch und gerade die Vorstellung  vom eigenen Lebensende selbst zuzugestehen.

Unter den nicht wenigen Menschen – in der Regel schwer und aussichtslos körperlich erkrankt –, die sich an mich wenden, um ihr Leben selbstbestimmt zu beenden, finden sich – in steigender Zahl – auch hochaltrige Menschen mit dem Anliegen eines proaktiven, präventiven Suizids.

Was verbirgt sich hinter einem solchen Verlangen? Ohne Zweifel kann der Lebensweg im hohen Alter zunehmend zum Leidensweg werden, der durch vielfältige Krankheiten, Beschwerden und Einbußen gekennzeichnet ist: chronischer Schmerz, Atemnot, Bewegungseinschränkungen, Lähmungen, Inkontinenz, Abnahme des Hör- und Sehvermögens, Gleichgewichtsstörungen, Stürze und Sturzangst.

Dazu können nachlassende geistige Fähigkeiten bis hin zur Demenz sowie brüchiger werdende und sich auflösende soziale Beziehungen kommen. Das Vermögen, ein selbstständiges Leben zu führen schwindet, vice versa nehmen Hilfs- und Pflegebedürftigkeit zu und sind letztendlich unausweichlich. Für manch hochaltrigen Menschen stellt sich daher die Frage: Will ich das alles erleben und ertragen? Will ich den mir drohenden, unabänderlichen Autonomieverlust hinnehmen?

Die übergroße Mehrheit kranker, alter, gebrechlicher und pflegebedürftiger Menschen bejaht bewusst oder unbewusst diese Frage und überantwortet sich privater oder institutioneller Pflege, palliativmedizinischer und hospizlicher Behandlung, Versorgung und Zuwendung. Dieses etablierte System der Versorgung leistet enorm viel und ist unverzichtbar. Es quantitativ und qualitativ auszuweiten ist dringend geboten, gerade angesichts des demografischen Wandels, weil es – trotz aller bekannten Mängel – vielen Menschen ein ihnen gemäßes und friedliches Lebensende sicherstellen kann.

„Zum Schatten meiner selbst werden“

Und doch muss niemand diese Versorgungsangebote wahrnehmen. Eine wachsende Zahl alter Menschen erwägt aus unterschiedlichen Gründen – gänzlich unabhängig von der Güte und Qualität ihrer künftigen Versorgung –, über die Umstände, die Zeit und den Ort ihres Todes selbst verfügen zu wollen.

Letzteres wünscht eine meiner Patientinnen. Frau S. ist 84 Jahre alt, promovierte Philologin, verwitwet und kinderlos. Sie ist gebrechlich, leidet aber nicht an einer schweren Erkrankung. Allerdings sind Frühsymptome einer dementiellen Entwicklung ärztlicherseits attestiert, die ihr Denk- und Urteilsvermögen (noch) nicht beeinträchtigen.

Umfassend legt sie mir dar, dass sie immer ein selbstbestimmtes und glückliches Leben geführt habe, sie jedoch ihrer eigenen Hinfälligkeit, insbesondere dem Vollbild einer Demenz, an der auch ihre Mutter und ihr Bruder litten, unbedingt zuvorkommen wolle: „Zum Schatten meiner selbst zu werden entspricht nicht den Vorstellungen von dem Wert und der Würde meines Lebens. Noch bin ich in der Lage, selbstbestimmt und freiverantwortlich über mein Leben zu entscheiden – doch wie lange noch?“

Als Arzt muss man sich um Empathie bemühen

Keineswegs sollten sich Ärzte als Dienstleister empfinden, die Suizidwilligen nur Medikamente zur Selbsttötung bereitstellen. Als Arzt muss man sich um Empathie bemühen und dem ganz persönlichen ärztlichen Gewissen und ethischen Koordinatensystem verpflichtet sein. Entscheidend ist, gemeinsam mit den Patienten einen ergebnisoffenen Dialog zu suchen.

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Es geht um eine unwiderrufliche Entscheidung, die Zeit braucht, aufseiten der Patienten wie des Arztes

Suizidhilfe muss plausibel und nachvollziehbar sein, gerade dann, wenn der Sterbeprozess, wie im Fall von Frau S., nicht absehbar ist. Es geht um eine unwiderrufliche Entscheidung, die Zeit braucht und reifen muss, aufseiten der Patienten wie des Arztes. Zwischen Frau S. und mir ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 2. 2020, das Suizid und Suizidhilfe zu Grundrechten erklärte, ebnet auch Frau S. den Weg, mit ärztlicher Hilfe ihr Leben autonom zu beenden. Die Entscheidung, so das Verfassungsgericht, „muss freiverantwortlich, von festem Willen getragen und ohne äußeren Druck zustande gekommen sein und sich zudem als zeitkonstant erweisen“.

Es darf keine Hierarchie geben

Autonomie bezeichnet das Vermögen, auf Grundlage eigener Werte und Überzeugungen authentisch, also nach kritischer Selbstreflexion, zu entscheiden. Dies im Falle eines Suizidverlangens zu prüfen obliegt dem zuständigen Arzt, im Zweifel einem Arzt für Psychiatrie. Es geht dabei allein um die mentale Verfasstheit des Suizidanten, seine Einwilligungsfähigkeit also, nicht um die Inhalte seiner Entscheidung. Die muss er nicht rechtfertigen.

Quelle        :        TAZ-online            >>>>>      weiterlesen

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Oben           —     Valentine Godé-Darel am Tag vor ihrem Tod (Gemälde von Ferdinand Hodler, Januar 1915)

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Leben als Vasall der USA?

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Mai 2023

Wollen wir wirklich zum Vasallen der USA verkommen?

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Spätestens seit dem offenen Ukraine-Krieg ist klar, dass die USA dahinter stehen und vom Rest der Welt erwarten, gemeinsam Russland zu schwächen. In ihrer militärisch-simplen Denke haben sie aber offensichtlich übersehen, dass die Mehrheit der Länder und somit der Weltbevölkerung sich von den US-Hegemonialvorhaben abwendet und eigene Wege zur Entwicklung des Volkswohles sucht.

Also bleiben den USA nur die von ihnen geführte NATO mit ihren europäischen Mitgliedern, um ihre Politik unter den Vorwand des Ukraine-Krieges durchzuziehen. Getreu ihrem bisherigen Gehabe sind dabei Länder, die ihrer militärischen Macht unterworfen oder wirtschaftlich untergeordnet sind, keine Partner auf Augenhöhe, sondern Staaten in einem unbedingten Treueverhälnis zu den USA und unter deren Führung. Ein Paradebeispiel dafür liefert Olaf Scholz höchstpersönlich in einer Pressekonferenz von Biden am 7.2.2022, auf der erim heiklen Zusammenhang mit der Nord-Stream-Sabotage unterwürfig erklärte, dass „wir (die Deutschen) absolut einig (mit den USA) sind und keine anderen Schritte unternehmen werdeb)“. (White House Press Conference).

In Hiroshima ging es in derselben Tonart weiter. Er konnte zwar keine F16 zusagen, weil wir keine haben, aber mindestens Beihilfe zum Krieg der USA gegen Russland durch Pilotenausbildung, wobei die USA dann das Gerät liefern. Ach wie gut dass niemand weiß, dass er eigentlich Rumpelstilchen heißt. Er will nicht wahrhaben, dass die Politik in Europe seit dem Ukraine-Krieg offen von den USA bestimmt wird, während über 90 Proznt unserer Bevölkerung Frieden will. Aber da ist ja Ramstein, das exterritoriale Sprungbrett der USA für die Steuerung des Krieges in der Ukraine. Welche Absurdität und Respektlosigkeit gegenüber der Souveränitäteines angeblichen Partnerlandes! So behadelt man Vasallen.

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Und dann das Geschwurberl unserer Außenministerin von ihrer regelbasierte Ordnung, die sie sich von den USA überstülpen lässt. Dabei warnt sogar Henry Kissinger vor einem Regime Change. Bis 2020 hatte sich die EU trotz vieler Schwierigkeiten gut und zum Wohl von 400.000 Mernschen entwickelt. Mit der Corona-Pandemie gab es dann erste Risse und mit dem Ukraine-Krieg war es dann
zappenduster. Europa darf nur noch machen, was die USA vorgeben. Allen voran Deutschland, das zwar erst seine Friedenspolitik an den Nagel hänhen musste, umab sofort auf allen Gebieten der Aussenpolitik im Tarnazug aufzutreten.

Nein, unser Volk will diese Vasallengebahren unserer Politiker gegenüber den USA mehrheitlich nicht. Das Volk wünscht sich eine im europäischen Rahmen eigenständige, ökologisch sinnvolle und humane Zukunft. Die Vielfalt der Völker und Kulturen in Europa ist dafür eine gute Basis. Selbstbestimmt, eigenverantwortlich und in Harmonie mit der Welt, in der wir leben. Während die USA seit Beginn ihrer Existenz mit Krieg und Unterdrückung herrschen, sollten gerade wir Deutschen aus zwei stolz begonnenen aber elend verlorenen Kriegen gelernt haben, dass Krieg nie Probleme löst, sondern nur neue schafft. Andere Länder wie Indien, Brasilien, der mittlere Osten und in Afrika machen uns gerade vor, dass und wie man sich aus dem US-Vasallentum lösen kann. Sind wir dazu zu schwach oder zu dumm?

Urheberrecht
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Oben       —   Commemorative medallion for the 2018 North Korea–United States summit issued by the White House Communications Agency.

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Spargel- + Erdbeerernte

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Mai 2023

Bundesregierung muss eingreifen

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Solche Lieder hötrn wir jrdes Jahr aufs Neue. Es wird sich aber nichts ändern, da sich Polutik nicht ändert.

Von Jost Maurin

Viele ErntehelferInnen aus Osteuropa werden ausgebeutet. Die Ampel muss endlich dafür sorgen, dass sie eine ausreichende Krankenversicherung bekommen.​

Immer noch werden in Deutschland viele ErntehelferInnen aus Osteuropa ausgebeutet. Wer Spargel, Erdbeeren oder Gemüse vom Feld holt, bekommt teils weniger als den Mindestlohn, muss an seinen Arbeitgeber Wuchermieten bezahlen und ist schlecht krankenversichert. Das hat zuletzt eine Studie der Organisation Oxfam gezeigt.

Doch nach fast eineinhalb Jahren Ampelkoalition ist kaum Besserung in Sicht. Zwar haben SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag versprochen: „Für Saisonbeschäftigte sorgen wir für den vollen Krankenversicherungsschutz ab dem ersten Tag.“ Denn viele ArbeiterInnen haben nur eine private Gruppenversicherung, die weit weniger Leistungen übernimmt als die gesetzliche. Manche Beschäftigte berichten, sie hätten ihre Behandlung selbst bezahlen müssen.

File:Bundesarchiv Bild 183-R0312-500, Mark Brandenburg, Spargelernte.jpg

Bisher aber hat die Koalition keinen Gesetzentwurf vorgelegt, um diesen Missstand zu beheben. Aus den beteiligten Ministerien heißt es seit Monaten, sie würden sich noch untereinander abstimmen. Staatssekretäre schicken sich gegenseitig Briefe – weiterhin stehen manche ArbeiterInnen im Notfall ohne ausreichende Krankenversicherung da.

Der Grund für dieses Verzögerungstaktik ist klar: Die Agrarlobby scheut höhere Kosten durch ordentliche Versicherungen. Der Gesamtverband der deutschen Land- und Forstwirtschaftlichen Arbeitgeberverbände hält es für nicht nachvollziehbar, dass Saisonkräfte in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen sollen – obwohl sie während ihres vergleichsweise kurzen Aufenthalts in Deutschland in der Regel nur wenige Leistungen in Anspruch nehmen könnten.

Quelle        :      TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Erdbeerpflücker bei Tettnang ernten Früchte von Fragaria × ananassa

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Vereint im Schwulenhass

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Mai 2023

LGBTQ-Feindlichkeit in Belarus

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Ein Debattenbeitrag von Alexander Friedmann

Lukaschenko folgt Putin in seinem Feldzug gegen Homosexualität und sexuelle Vielfalt. Beiden dient die antiwestliche Propaganda zur Machtsicherung.

Seit Ende März steht Belarus wieder mal im Mittelpunkt der internationalen Öffentlichkeit. Dort sollen russische taktische Atomwaffen stationiert werden. Wie konkret die Pläne sind, ist umstritten. Fest steht: Um die im Westen verbreiteten Ängste zu schüren, arbeitet sich der belarussische Machthaber und Putin-Vertraute Alexander Lukaschenko am Thema Atomwaffen ab. Mal bringt er sich als Visionär ins Spiel, der die Atomwaffen am liebsten vernichten würde, mal stellt er die Stationierung strategischer Atomwaffen in Belarus in Aussicht und räumt sich das Mitspracherecht bei einem Einsatz russischer Raketen ein.

Lukaschenkos abenteuerliche Atom-Rhetorik macht die westliche Öffentlichkeit rat- und fassungslos. Die Tatsache, dass Lukaschenko in diesem Kontext auch radikale antiwestliche Parolen verbreitet, mit liberalen Werten abrechnet und seine Homophobie explizit zur Schau stellt, wird übersehen. Handelt es sich dabei um spontane Entgleisungen eines unverbesserlichen Schwulenhassers oder steckt dahinter vielmehr ein ideologisches Bekenntnis zu Putins Russland und vor allem eine perfide Strategie der Machtsicherung?

Bei seiner Ansprache an die Nation am 31. März stellte Lukaschenko seine Sicht auf Homosexualität dar: Wenn eine Frau eine gleichgeschlechtliche Beziehung führe, seien Männer daran schuld, denn sie hätten versagt. Für die männliche Homosexualität gebe es hingegen keine Entschuldigung. Diese sei eine verachtenswerte Perversion, deren „Propaganda“ nicht akzeptabel sei. Bei schwulen Männern in höheren Ämtern sei grundsätzlich Vorsicht geboten; ihre Tätigkeit im belarussischen Machtapparat sei zwar nicht zu beanstanden, sie würden sogar „besser“ als „normale Männer“ arbeiten. Als Staatschef wisse er jedenfalls genau, wer in seinem Umfeld homosexuell sei. Konkrete Namen? Diese würde er nicht nennen, noch nicht.

Von schwulenfeindlichen Ressentiments aus der Sowjetzeit geprägt, kommt Lukaschenkos Auftritt beim anwesenden Publikum – die gesamte Elite des Regimes – gut an. Es wird gelacht. Der Staatschef erntet Applaus.

In puncto Schwulenhass ist Lukaschenko ein Wiederholungstäter. Aus seiner homophoben Einstellung hat er nie einen Hehl gemacht. Seine an den früheren Bundesaußenminister Guido Westerwelle gerichtete Bemerkung „lieber Diktator als schwul“ sorgte in den früheren 2010er Jahren für Schlagzeilen. Heute gehört Belarus zu Europas LGBTIQ+-feindlichsten Ländern.

Im Gegensatz zu Russland, wo die homophobe Rhetorik gesetzliche Verbote der „Homo-Propaganda“ flankierte, sah Minsk allerdings lange Zeit von derartigen, im Westen scharf kritisierten Maßnahmen ab, aus pragmatischen Gründen. Als sich Belarus und die EU in der zweiten Hälfte der 2010er angenähert hatten, griff der Machthaber das heikle Thema nicht mehr auf. Der Propaganda-Knüppel „Schwulenhass“ wurde allerdings im Kontext der demokratischen Proteste in Belarus 2020 wieder ausgepackt. Das Regime orientiert sich dabei an Russland, das homophobe Narrative verbreitet und seinen Einfluss im Nachbarland ausbaut.

Seit den späten 2000er Jahren predigt Wladimir Putin den „russischen Sonderweg“, setzt auf die gesellschaftliche Konsolidierung auf Grundlage traditioneller „russischer Werte“ und treibt die „Entwestlichung“ Russlands voran. Im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine verstärkten sich diese Tendenzen erheblich.

Die liberalen demokratischen Werte werden inzwischen als „nicht russisch“ zurückgewiesen und mit der verachteten Homosexualität in Verbindung gebracht. Der von Moskau behauptete Untergang der westlichen Zivilisation wird nicht zuletzt auf einen offenen Umgang mit der Homosexualität zurückgeführt. Die Vorherrschaft von Homosexuellen im Westen wird suggeriert. Der Hass gegen LGBTIQ+-Menschen ist virulent und Gewaltangriffe werden stillschweigend geduldet. Von einer Kriminalisierung homosexueller Beziehungen wie in der UdSSR ist zwar noch keine Rede, man will jedoch Homosexualität als „Krankheit“ oder „Perversion“ aus der Öffentlichkeit verdrängen.

Der Kreml ist bemüht, sich zum Vorreiter eines Kampfes für „wahre Werte“ zu stilisieren. Da der russische Druck auf ihn wächst und die Hoffnung auf Verbesserung der Beziehungen zum Westen sinkt, will Lukaschenko nun ebenfalls „Homo-Propaganda“ verbieten und Putin auf seinem „Sonderweg“ begleiten.

Die homophobe Wende in Russland wurde im Westen verurteilt. Zunächst ging man von einer spezifischen „Wachstumskrankheit“ aus, von einem „Überrest der sowjetischen Vergangenheit“ und wies auf den eigenen langen wie steinigen Weg zu Akzeptanz und Gleichstellung hin. Inzwischen nimmt man Putins Werte-Rhetorik ernst.

Quelle        :     TAZ-online        >>>>>        weiterlesen   

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Oben        —     Rzeszów Pride

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Mai 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Warnblink, Auto kaputt, Nato-Fall und das Zittern kurz vor Redaktionsschluss, Links und rechts gleichzeitig nicht nur beim „Vice“.  Die Stichwahl in der Türkei zeugt von bipolarer Demokratie, und F16-Jets fliegen bis tief in Russland hinein.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Bachmut. Und weiter Eskalationsrhetorik.

Und was wird nächste Woche besser?

Vielleicht Lula.

Im Zuge der Graichen-Affäre spricht Alexander ­Dobrindt (CSU) von „grünen Clan-Strukturen“, der CDU-Bundestagsabgeordnete Erwin Rüddel teilt auf Twitter einen Post, der die Grünen als „deutsche Mafia“ darstellt. Übertrieben?

Rüddels Erwin ist jecker Multifunktionär, beim Rotkreuz, Fußballpräsident, im Lions-Club, bei den Leichtathleten und Sohn des legendären Rüddel Jupp, der stramme 56 Jahre ortsbürgermeisterte. Da mag er sich die Grünen so vorstellen, wie es bei ihm daheim schließlich auch zugeht. Dobrindt gilt – etwa im „Schwarzbuch Autolobby“ von Greenpeace – als wandelnde Clanstruktur. Ich nehme den Grünen übel, dass solche unreflektierten Filzhüte nicht mal mehr fantasieren müssen, um ihr Elend in anderen anzuprangern.

Als erster US-Bundesstaat will Montana Tiktok verbieten, um seine Bür­ge­r*in­nen „vor der Überwachung durch die Kommunistische Partei Chinas“ zu schützen. Zieht die EU bald nach?

In der NSA-Affäre enthüllte Edward Snowdon, dass so ziemlich alle US-Digitalkonzerne beflissen „backdoors“ für Geheimdienste eingerichtet hatten. Das führte im deutschen Wahlkampf 2013 zu allerhand Empörung, die sich als geheuchelt erwies – die europäischen Dienste machten allesamt mit. Und zu frommen Ankündigungen, die verwehten. In Montana klagen nun InfluencerInnen, die ihren Lebensunterhalt mit Tiktok-Clips verdienen. Das kann, paradox genug, zu einem höchstrichterlichen Urteil führen: Dürfen Dienste in Microblogs spionieren? Und: Will das irgend jemand wissen in den USA? Das Postprivileg der Thurn und Taxis bestand 200 Jahre, weil Fürstens die Briefe gesammelt dem kaiserlichen Zensor in den Hof kippten. Erst nach sorgfältiger Lektüre durch die Obrigkeit wurde zugestellt. Geben wir uns also noch ein paar Jahrhunderte.

Laut Ifo-Institut bleiben in Deutschland aufgrund von Homeoffice durchschnittlich dreimal so viele Büroarbeitsplätze leer wie vor der Pandemie. Wie sähe eine nachhaltige Bewirtschaftung dieser Brachen aus?

Wohnraum. Schon vor Corona förderten etwa Frankfurt, Düsseldorf und Berlin Projekte, Jobsilos in Heime zu verwandeln. Große Flächen, lange Flure, wenig Toiletten – Investoren müssen spitz rechnen, ob ein Abriss günstiger kommt als ein Umbau. Viele Innenstädte sind nachts tot, mit dem Homeoffice stirbt der Tag hinterher. Hier bietet sich der Mieter als Retter des Investors an – dem natürlich unsere erste Sorge gilt.

Erdoğan und Kılıçdaroğlu müssen in die Stichwahl. Besteht noch Hoffnung für die Demokratie in der Türkei?

Kaum für Flüchtlinge. Kılıçdaroğlu will sie „alle nach Hause schicken. Punkt!“ – um die Wähler des rechtsextremen drittplatzierten Ogun abzufangen. Die wähnt man unterwegs zu Erdoğan. In dieser Wirrnis hat Kılıçdaroğlu einen Punkt, wenn er den Europäern vorwirft, dem Krieg in Syrien tatenlos zuzuschauen. Aber er blinkt rechts und links gleichzeitig, vulgo Warnblink, vulgo Auto kaputt.

In München machen CSU und AfD gegen eine Kinderbuchlesung von zwei Dragqueens und einer transgeschlechtlichen Jungautorin mobil. Wird das Thema zum inhaltlichen Bindeglied der Rechten?

Quelle        :       TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Gefährlicher Stimmenfang

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Mai 2023

CDU, FDP, AfD und die Wärmewende

Von Johanna Henkel-Waidhofer

Union und FDP setzen auf billige Geländegewinne, indem sie die Gesellschaft verunsichern, speziell bei Migration und Klimaschutz. Dafür nehmen sie nicht zum ersten Mal die Stärkung des rechten Rands kalt lächelnd in Kauf.

„In blanker Panik“, so der Schwäbisch Gmünder AfD-Abgeordnete Ruben Rupp neulich im baden-württembergischen Landtag, werde das Programm seiner Partei abgeschrieben. Die Behauptung hat leider einen wahren Kern. Denn einerseits kritisieren Christdemokrat:innen und Liberale die „Alternative für Deutschland“ als nicht an Lösungen und nur an Stimmungen interessiert. Andererseits aber haben sie etliche der Positionen tatsächlich übernommen: vom Grenzschutz samt -kontrollen bis zu Fragen von Abschiebung und Duldung. Aktuell wird sogar, mit angestoßen von der FDP, wieder darüber diskutiert, an Asylbewerber:innen nur noch Sachleistungen auszugeben.

Alle Vor- und Nachteile sind seit Langem gründlich untersucht und vielerorts weite Teile der Versorgung ohnehin bereits umgestellt. Wenn die Betroffenen aber gar kein eigenes Bargeld mehr bekommen, muss bis hin zum ÖPNV-Fahrschein oder der Empfängnisverhütung der Staat als Beschaffer auftreten und jede Kleinigkeit individuell aushändigen. 2015 hatte der damalige CDU-Bundesinnenminister Thomas de Maizière eine erste Ausweitung des Sachleistungsprinzips auf den Weg gebracht. Unter anderem der Deutsche Kinderschutzbund lief Sturm dagegen, weil es nicht integrationsfördernd sei, wenn Eltern keine Chance hätten, mit ihren Kindern wenigstens im Ansatz ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Annelie Buntenbach (Grüne), bis 2020 im DGB-Bundesvorstand, kritisierte solche Ideen als „Wasser auf die Mühlen von Rechtspopulisten und Rechtsextremen“. Der Paritätische Wohlfahrtsverband warf dem Minister „gefährliche Stimmungsmache“ vor und verwies auf das Bundesverfassungsgericht, das klare Vorgaben gemacht habe.

Wie die AfD: Gefühle statt Fakten

Die Situation 2023 ist aber auch deshalb speziell, weil die Themen Asyl und Flucht vorsätzlich vermengt werden. Den rund 33.000 Asylbewerber:innen, die seit März 2022 in Baden-Württemberg aufgenommen wurden – etwa 9.000 davon in den vergangenen vier Monaten –, stehen 162.000 geflüchtete Ukrainer:innen gegenüber. Selbst bei den Letzteren würde CDU-Landtagsfraktionschef Manuel Hagel gern die Geldleistungen „an das europäische System angleichen“, spricht von einem „deutschen Sonderweg“ und davon, dass dieser Ukrainer anzieht, die bereits in anderen europäischen Ländern untergekommen seien. Belastbare Zahlen dafür gibt es nicht. Sein Bundesvorsitzender Friedrich Merz hatte ukrainischen Geflüchteten schon im Herbst „Sozialtourismus“ unterstellt, sich später entschuldigt, aber der Stein war ins Wasser geworfen. Und zieht seither seine Kreise. „Wir haben die falschen Anreize – Bürgergeld, hohe Asylleistungen –, und das ist der Magnet“, sagt der Schwäbisch Haller AfD-Abgeordnete Udo Stein im Stuttgarter Patlament. Justizministerin Marion Gentges (CDU) widerspricht nicht.

Dabei läuft vor allem die Union Gefahr – nicht zum ersten Mal –, in die Falle falscher Inhalte und einer allzu populistischen Tonlage zu tappen. Der Duden präsentiert übrigens eine leicht zu erfassende Lektüre zum Thema. Populismus sei eine „von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen (…) zu gewinnen“. Baden-Württembergs Landeszentrale für politische Bildung wird besonders deutlich: „Populismus verkürzt, dramatisiert und emotionalisiert bewusst komplizierte gesellschaftliche Fragen und behauptet, dass die Lösung dieser Fragen im Grunde ganz einfach wäre.“ Der damalige Spitzenkandidat Guido Wolf (CDU) hatte 2016 jedenfalls mit seinem rabiaten Kurs in der Flüchtlingspolitik der noch im Herbst 2015 bei drei Prozent darniederliegenden AfD mit zu neuem Auftrieb verholfen.

„Wo können wir gegen Ausländer unterschreiben?“

Die Lektion hätte schon in den Neunziger Jahren sitzen müssen, als die aufgeheizte Debatte um die Änderung des Grundrechts auf Asyl die rechten Republikaner in die Parlamente schwemmte. Statt innezuhalten und nachzudenken, reagierten die beiden Parteien mit dem C im Namen mit einem weiteren Rechtsruck. Sogar Günther Oettinger, damals CDU-Landesfraktionschef, warnte seine Partei, sich nach rechts zu öffnen, weil Populisten und Nationalisten mit immer noch schärferen Parolen („Das Boot ist voll“) Stimmen holen könnten. Er hatte recht.

Bis heute hängt Deutschland insbesondere bei der Suche nach Fachkräften die damalige Kampagne der CDU in den Kleidern. Vor der hessischen Landtagswahl 1999 war mit einer bundesweiten Unterschriftensammlung die Stimmung angeheizt worden gegen die eigentlich schon lange überfällige Einführung der doppelten Staatbürgerschaft durch die neue rot-grüne Landesregierung. Der Coup gelang: Roland Kochs CDU, noch kurz zuvor demoskopisch deutlich hinter der mit den Grünen koalierenden SPD, drehte den Trend und gewann mit gut 43 Prozent und vier Punkten Vorsprung. Und regiert bis heute. „Wir wollen“, so damals der neue Ministerpräsident, „dass in Deutschland weiter Kirchenglocken läuten und nicht Muezzine rufen.“ Gut ausgebildete Türk:innen gingen zurück in die Heimat ihrer Eltern. Und hierzulande ist eine neue Klassengesellschaft entstanden, in der sich immer neue Jahrgänge aus Milieus mit nichtdeutschen Wurzeln immer weniger integrieren wollen.

Vier Millionen Unterschriften wurden schlussendlich bundesweit gesammelt, an vielen Ständen bildeten sich lange Schlangen. Nur zu oft mündete die vielleicht gerade noch akzeptable Abwägung der Pros und Contras für zwei Pässe in die schlicht falsche und zudem bösartige Frage: „Wo können wir gegen Ausländer unterschreiben?“

„Und wo gegen Klimaschutz?“

Fast ein Vierteljahrhundert danach werden wieder Unterschriften gesammelt: gegen die Erneuerbare-Wärme-Pläne der Bundesregierung, personalisiert und zugespitzt auf Robert Habeck. 16 Jahre lang hat die Union zentrale Entscheidungen im Kampf gegen die Erderwärmung gescheut. Nun stilisiert die Union diejenigen, die jetzt handeln, zum Feind des Volkes und sammelt Unterschriften gegen das geplante Wärmewendegesetz. Diese Kampagnen der Union im Saarland, in Sachsen, in Bayern und auf der Bundesebene könnten zu ähnlichen Reflexen Unterschriftswilliger führen wie bei denen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, nämlich: „Wo können wir gegen den Klimaschutz unterschreiben?“

Schließlich spricht die stellvertretende CDU-Generalsekretärin Christina Stumpp aus Waiblingen von einer „Mobilisierungskampagne“, nicht nur Spaltung und Desinformation in Kauf nehmend, sondern sogar munter vorantreibend: „Wir brauchen eine Wärmewende ohne soziale Kälte.“ Jetzt auf einmal, nachdem sich die Schere zwischen Arm und Reich in der Republik seit vielen Jahren durch politisches Nichtstun immer weiter öffnet. Erst recht mobilisieren will Markus Söder (CSU), hat er doch im Herbst bayerische Landtagswahlen zu bestehen. Unter dem Motto „Lassen Sie sich nicht von der Ampel kaltstellen“ werden hier ebenfalls Unterschriften gesammelt. Unter anderem für den „Schutz des Privateigentums“ und dafür, „dass Eigentümer selbst entscheiden können, wie sie heizen wollen“.

Acht Jahren später sind diese Argumente alles anders als entkräftet. Gerade Liberale hindert das aber nicht daran, die alte Leier anzuschlagen. „Wir müssen auch darüber nachdenken, den Flüchtlingen weniger Geld, sondern mehr in Sachleistungen zu geben“, sagt der Böblinger Landtagsabgeordnete Hans Dieter Scherer, seines Zeichens migrationspolitische Sprecher. Christian Dürr („Wir dürfen nicht blauäugig sein“), FDP-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, wird noch deutlicher und fabuliert vom immer und immer wieder bemühten Pull-Faktor. Gut könne sein, dass Menschen wegen der Geldleistungen in die sozialen Sicherungssystem einwandern, lässt er die Republik über „Bild“ wissen und dass zur Entlastung der Kommunen in den Erstaufnahmen Kleidung, Nahrung und Hygieneartikel ausgegeben werden könnten. Sein zu kurzer Schluss: Deutschland müsse weniger attraktiv für Asylbewerber werden. Wie ein schlechter Witz liest es sich da, dass dieselben Liberalen die Ausbildungssituation und den Fachkräftemangel beklagen. Wäre 2015, 2016, 2017 und danach der Umstieg von der Duldung hin in Ausbildung und Arbeit ermöglicht worden, müssten Unternehmen oder Wirtschaftsverbände heute nicht jammern und klagen.

Quelle          KONTEXT: Wochenzeitung-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben       —   Impresionen aus der Fraktionssitzung der CDU des Landtages Baden-Württemberg

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Unten     —       “Without food, our family would not survive. I thank the UK for helping me and my children in our time of need. Many, many thanks!” Hawa Maiga, 45, is just one of thousands of people that have been directly affected by this crisis. Britain and others countries are working hard to ensure everyone that needs help receives it. Hawa comes from Gao, one of Mali’s northern towns that has been acutely affected by conflict in recent times. Even in February this year, violent clashes occurred between rebel fighters and French and Malian forces, making life in Gao unbearable. “I really want to return to my home but I cannot“, she says. Fighting is continuing, even to this day – it is too dangerous. The protection of my loved ones is my only priority.” Out of approximately 61,000 internally displaced people (IDPs) that are currently registered in Bamako, WFP is helping support 12,000 of the most vulnerable. Photo: Derek Markwell/DFID

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Fünf Jahre silence-ein O.Ton

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Mai 2023

Die Stimme von Julian Assange ist wieder zu hören

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Craig Murray, 7. Mai 2023  (übersetzt von Daniela Lobmueh)

Obwohl er wegen nichts verurteilt wurde und sich lediglich in „Verwaltungshaft“ befindet, für die die Unschuldsvermutung gilt, ist Julian Assanges Stimme seit fünf Jahren praktisch zum Schweigen gebracht worden.
Der Ort des Schreckens und der unmenschlichen Haft, das Londoner Belmarsh-Gefängnis, in dem Terroristen inhaftiert werden, hat verhindert, dass die Welt seine Stimme hören kann. Journalisten dürfen ihn nicht besuchen – selbst Nichtregierungsorganisationen wurden daran gehindert, mit der fadenscheinigen Begründung, sie seien Journalisten und könnten seine Gedanken an die Außenwelt weitergeben.
Ich weiß nicht wie, aber irgendwie hat Julian es geschafft, einige Gedanken unter dem Vorwand eines Appells an König Karl wegen der Haftbedingungen zu verschicken. Der Text ist natürlich stark sarkastisch, und das Thema ist begrenzt, aber zumindest kann er die Welt an Julians schreckliches Schicksal erinnern.
Ich kenne die furchtbare, sinnlose Unmenschlichkeit, von der er spricht, die dummen Regeln, die Isolation, die völlige Verschwendung von Geld und menschlichem Potenzial ohne nützliches Ergebnis. In der Woche, in der ich das Gefängnis von Saughton verließ, starben zwei Menschen. Wenn Sie die Augen schließen, können Sie vielleicht die schöne Tenorstimme von Julians Freund hören, der Selbstmord beging.

An Seine Majestät König Charles III,
Anlässlich der Krönung meines Lehnsherrn hielt ich es für angemessen, Euch herzlich einzuladen, diesen bedeutenden Anlass mit einem Besuch in Eurem eigenen Königreich im Königreich zu begehen: dem Gefängnis Seiner Majestät in Belmarsh.
Sicherlich erinnern Sie sich an die weisen Worte eines berühmten Dramatikers: „Die Qualität der Barmherzigkeit ist nicht angestrengt. Sie tropft wie der sanfte Regen vom Himmel auf den Ort darunter.“
Aber was wüsste dieser Barde von Barmherzigkeit angesichts der Abrechnung, die zu Beginn Eurer historischen Herrschaft ansteht? Schließlich kann man das wahre Maß einer Gesellschaft daran erkennen, wie sie ihre Gefangenen behandelt, und Euer Königreich hat sich in dieser Hinsicht sicherlich hervorgetan.
Das Gefängnis Belmarsh Eurer Majestät befindet sich an der prestigeträchtigen Adresse One Western Way, London, nur eine kurze Fuchsjagd vom Old Royal Naval College in Greenwich entfernt. Wie reizvoll muss es sein, dass eine so angesehene Einrichtung Ihren Namen trägt.
Hier sind 687 Ihrer treuen Untertanen inhaftiert, die das Vereinigte Königreich als die Nation mit der größten Gefängnispopulation in Westeuropa ausweisen. Wie Ihre edle Regierung kürzlich erklärt hat, erlebt Ihr Königreich derzeit „die größte Erweiterung von Gefängnisplätzen seit über einem Jahrhundert“, wobei ihre ehrgeizigen Prognosen einen Anstieg der Gefängnispopulation von 82.000 auf 106.000 innerhalb der nächsten vier Jahre vorsehen. Das ist in der Tat ein großes Erbe.
Als politischer Gefangener, der nach dem Willen Eurer Majestät im Auftrag eines beschämten ausländischen Souveräns festgehalten wird, ist es mir eine Ehre, in den Mauern dieser erstklassigen Einrichtung zu leben. Wahrlich, Euer Königreich kennt keine Grenzen.

Während Ihres Besuchs werden Sie Gelegenheit haben, sich an den kulinarischen Köstlichkeiten zu laben, die für Ihre treuen Untertanen mit einem großzügigen Budget von zwei Pfund pro Tag zubereitet werden. Genießen Sie die gemischten Thunfischköpfe und die allgegenwärtigen rekonstituierten Formen, die angeblich aus Huhn hergestellt werden. Und keine Sorge, anders als in weniger bedeutenden Anstalten wie Alcatraz oder San Quentin gibt es kein gemeinsames Essen in einer Kantine. In Belmarsh speisen die Gefangenen allein in ihren Zellen, was die größtmögliche Intimität der Mahlzeit gewährleistet.
Abgesehen von den geschmacklichen Genüssen kann ich Ihnen versichern, dass Belmarsh Ihren Untergebenen reichlich Gelegenheit zur Bildung bietet. In Sprüche 22:6 heißt es: „Erziehe ein Kind in dem Weg, den es gehen soll, und wenn es alt ist, wird es nicht davon abweichen.“ Beobachten Sie die Warteschlangen an der Medikamentenausgabe, wo die Insassen ihre Rezepte nicht für den täglichen Gebrauch, sondern für die horizonterweiternde Erfahrung eines „großen Tages“ sammeln – und das alles auf einmal.
Sie werden auch die Gelegenheit haben, meinem verstorbenen Freund Manoel Santos die letzte Ehre zu erweisen, einem schwulen Mann, dem die Abschiebung nach Bolsonaros Brasilien drohte und der sich nur acht Meter von meiner Zelle entfernt mit einem kruden Seil aus seinem Bettlaken das Leben nahm. Seine exquisite Tenorstimme ist nun für immer verstummt.
Wenn Sie weiter in die Tiefen von Belmarsh vordringen, werden Sie den isoliertesten Ort innerhalb der Mauern finden: Das Gesundheitswesen, oder „Hellcare“, wie es seine Bewohner liebevoll nennen. Hier werden Sie sich über vernünftige Regeln wundern, die der Sicherheit aller dienen, wie z. B. das Verbot von Schach, während das weit weniger gefährliche Spiel Dame erlaubt ist.
Tief im Inneren von Hellcare befindet sich der herrlichste Ort in ganz Belmarsh, ja im ganzen Vereinigten Königreich: die Belmarsh End of Life Suite mit ihrem erhabenen Namen. Wenn Sie genau hinhören, werden Sie vielleicht die Schreie der Gefangenen hören: „Bruder, ich werde hier drin sterben“, ein Zeugnis für die Qualität des Lebens und des Todes in Ihrem Gefängnis.
Aber keine Angst, in diesen Mauern gibt es auch Schönes zu entdecken. Erfreuen Sie sich an den malerischen Krähen, die im Stacheldraht nisten, und an den Hunderten von hungrigen Ratten, die Belmarsh ihr Zuhause nennen. Und wenn Sie im Frühjahr kommen, können Sie vielleicht sogar einen Blick auf die Entenküken erhaschen, die von verirrten Stockenten auf dem Gelände des Gefängnisses als Eier abgelegt wurden. Aber zögern Sie nicht, denn die gefräßigen Ratten sorgen dafür, dass ihr Leben nur von kurzer Dauer ist.
Ich beschwöre Euch, König Charles, das Gefängnis seiner Majestät Belmarsh zu besuchen, denn es ist eine Ehre, die einem König gebührt. Möget Ihr Euch zu Beginn Eurer Regentschaft immer an die Worte der King James Bibel erinnern: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Matthäus 5:7). Und möge die Barmherzigkeit die Richtschnur Deines Reiches sein, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mauern von Belmarsh.
Ihr ergebenster Untertan,
Julian Assange (A9379AY)

Ich denke, dass meine eigene Aussage, als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, hier einen weiteren Blick wert ist, da ich ähnliche Dinge über die Haftbedingungen gesagt habe. Ich habe damals auch erklärt: „Ich werde mich erst dann wirklich frei fühlen, wenn auch mein Freund und Kollege Julian Assange frei ist“.
Das ist nach wie vor absolut der Fall.

Craig Murray (übersetzt von Daniela Lobmueh mit Deepl.com)
PS. Verzeihen Sie mir, wenn ich darauf hinweise, dass meine Berichterstattung völlig von Ihren freundlichen freiwilligen Abonnements abhängt, die diesen Blog am Laufen halten. Dieser Beitrag darf von jedermann frei reproduziert oder neu veröffentlicht werden, auch in Übersetzungen. Sie können ihn aber auch gerne ohne Abonnement lesen.
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Siehe auch:

Assange: 3sat verschweigt Menschenrechtsverletzung

Warum der Assange-Unterstützer Craig Murray in Haft sitzt

Assange-Ankäger Kromberg in der Kritik

Zeuge der Anklage gegen Assange gesteht Falschaussage

Solidarität mit Julian Assange

Assange-Schauprozess-Chronik

(meist nach Craig Murray von Hannes Sies & Daniela Lobmueh)

Snowden: Es ist ein Schauprozess gegen Assange -Bericht von Craig Murray 8.9.2020

http://scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[pointer]=14&tx_ttnews[tt_news]=74949&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=3f2a117e6b

Assange-Schauprozess: Unrechtsstaat wirft Nebelkerzen  09.09.20

http://scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews[pointer]=14&tx_ttnews[tt_news]=74963&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=21478b711c

Assange-Prozess Mittwoch: Friedensforscher und Presse-Experte pro Assange 11.9.20

http://scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews[pointer]=12&tx_ttnews[tt_news]=74996&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=151cc821c0

Assange-Prozess: Daniel Ellsberg und John Goetz („Spiegel“) vernommen  17.09.20

http://scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews[pointer]=9&tx_ttnews[tt_news]=75063&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=a256a7078e

Assange-Schauprozess: CableGate & Geheimnisverrat -aber von wem?  23.09.20

http://scharf-links.de/45.0.html?&tx_ttnews[pointer]=6&tx_ttnews[tt_news]=75131&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=67845c3b8e

Assange-Schauprozess: Jakob Augstein pro Assange 27-9-2020

http://scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews[pointer]=4&tx_ttnews[tt_news]=75173&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=b9ea801c43

Assange-Schauprozess: Unrechtsjustiz leugnet Psycho-Folter, John Young (Cryptome), Chris Butler (blog.archive) 28.09.20

http://scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[pointer]=4&tx_ttnews[tt_news]=75182&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=2bad4a88cb

Assange-Schauprozess: Unrechtsjustiz, Folterhaft und aufgedeckte CIA-Verbrechen 02.10.20

http://scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews[pointer]=1&tx_ttnews[tt_news]=75227&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=a04f56fde9

Julian Assange ist Träger des Karlspreises 2020 7.10.20

http://scharf-links.de/45.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=75266&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=453b78ef46

Assange-Schauprozess: Nahost-Korrespondenten packten aus 8.10.20

http://scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=75282&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=7ac3327ffb

Assange-Schauprozess: Weitere Beweisaufnahme verweigert, Schlussplädoyer

http://www.scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[swords]=lobmueh%20murray&tx_ttnews[tt_news]=75294&tx_ttnews[backPid]=65&cHash=d89b649ef9

Freiheit für Julian und Roman!

https://www.telepolis.de/features/Freiheit-fuer-Roman-und-Julian-6070802.html?seite=all

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Grafikquellen       :

Oben       —   Londres (Reino Unido), 18 de Agosto 2014, Canciller Ricardo Patiño y Julian Assange ofrecieron una rueda de prensa con presencia de medios internacionales. Foto: David G Silvers. Cancillería del Ecuador.

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Mai 2023

Stichwahl in der Türkei: Wahlkampf gegen Geflüchtete

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Kolumne von Fatma Aydemir

Auch die Opposition betreibt in der Türkei Hetze auf Geflüchtete. Kemal Kılıçdaroğlu hofft auf diese Weise, in der Stichwahl besser abzuschneiden.

Können in einem undemokratisch regierten Land demokratische Wahlen abgehalten werden? Bei den am nächsten Wochenende in die Stichwahl gehenden Präsidentschaftswahlen in der Türkei gibt es immer noch Hoffnungen auf einen Regierungswechsel – auch wenn die Voraussetzungen für die Kandidaten alles andere als gleich sind. Im April sollen laut einer Erhebung im Staatsfernsehen TRT dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan rund 32 Stunden Sendezeit gewidmet worden sein – dem Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu dagegen 32 Minuten.

Dass die Pressefreiheit im Land seit Jahren schon dramatisch eingeschränkt wird, hat zur Folge, dass es zudem kaum Zugänge gibt zu kritischen, faktenbasierten Nachrichten in der eigenen Sprache über die politische Realität im Land. Wie überall auf der Welt wirken sich natürlich auch in der Türkei vor allem Social-Media-Bubbles auf das Wahlverhalten vieler Bürger_innen aus.

Doch im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, existiert so gut wie keine unabhängige Presse mehr, an der Fake News und Propaganda abgeglichen werden könnten. Sprich: Fake News sind die News. Kritische Berichterstattung ist dagegen – sobald sie ein größeres Publikum erreicht – ein Fall fürs Gericht.

Dass Propaganda sich am besten durch dokumentierte Zahlen und Fakten zerlegen lässt, daran glaubt in der Türkei also niemand mehr. Und so verstrickt sich auch die Opposition zunehmend in frisierten Wahrheiten im Zuge plumper Wahlversprechen, die bei der Stichwahl am 28. Mai ins Gewicht fallen könnten.

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In einer Rede am Donnerstag etwa versprach Kı­lıç­dar­oğlu, er werde, sollte er im zweiten Wahlgang gewählt werden, „alle Flüchtlinge nach Hause schicken. Punkt.“ Im Satz vorher behauptete er, Erdoğan habe 10 Millionen Geflüchtete ins Land gelassen, eine Zahl, die die ohnehin rassistische Stimmung in der Gesellschaft weiter anheizen soll. Fakt ist: Die ­UNHCR geht von derzeit 3,9 Millionen Geflüchteten aus, die in der Türkei leben sollen, allein 3,6 Millionen von ihnen aus dem Nachbarland Syrien. Sicherlich wird es eine Dunkelziffer undokumentierter Geflüchteter geben, 10 Millionen erscheint aber unrealistisch.

Seit Jahren schon wendet sich der Unmut der Bevölkerung über Wirtschaftskrise, Korruption und Arbeitslosigkeit mehr gegen geflüchtete Menschen, als gegen die politisch Verantwortlichen für diese Probleme. Die Rhetorik der Opposition verbindet nun das Potenzial dieser rassistischen Grundstimmung mit der Kritik an der AKP-Regierung: Erdoğan hat euch die Flüchtlinge gebracht, ich werde euch von ihnen befreien, geht der Duktus.

Es geht um 5,1 Prozent

Quelle         :         TAZ-online       >>>>>       weiterlesen

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —   Ein 80 km von Aleppo entferntes Flüchtlingslager in der Türkei (September 2012)

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Kolumne FERNSICHT Uganda

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Mai 2023

Wenn im Schlafzimmer die Frösche quaken

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Von Joachim Buwembo

Ugandas Staatsgebiet besteht zu 20 Prozent aus Wasser, und mit Lake Victoria besitzt das Land die Hälfte des zweitgrößten Süßwassersees der Welt; aber Wasser als Verkehrsweg ist praktisch unbekannt. Auf Ugandas 28 Seen sind fast nur Fischkutter unterwegs, ein paar wenige Inselfähren und Militärboote, die Fischer jagen, wenn sie ­illegalerweise zu junge Fischbestände fangen.

Nun aber zwingt das Wasser die Regierung dazu, Wasser als Verkehrsweg zu nutzen, und das verdanken wir dem Klimawandel. Am Donnerstag, 11. Mai, wachten die Ugander zu der Nachricht auf, dass eine wichtige Brücke und eine erhebliche Strecke der wichtigen Fernstraße aus Kampala nach Südwesten Richtung Tansania und Ruanda und damit in die gesamte Region der Großen Seen unter Wasser standen. Das ist auch der Verkehrsweg, der von Tansania durch Uganda hoch nach Südsudan führt, und Südsudan importiert gerade immer mehr tansanisches Getreide.

Es war nämlich der Katonga, der aus Lake Victoria westwärts Richtung Lake Edward an der kongolesischen Grenze fließt, über die Ufer getreten. Der Süden und Südwesten Ugandas waren damit komplett von der Hauptstadt abgeschnitten. So mietete Ugandas Verkehrsministerium eine Passagierfähre an, um Menschen aus Kampala in die südwestliche Stadt Masaka reisen zu lassen – eigentlich nur 128 Kilometer auf dem Landweg, aber nun mussten die Leute aus Kampala erst mal nach Entebbe und von dort per Schiff weiter. Die Reise wird subventioniert.

Nun merken die Leute plötzlich, dass vier der wichtigsten ugandischen Städte – Kampala, Entebbe, Jinja und Masaka – alle mehr oder weniger am Wasser liegen und man eigentlich ganz einfach über den Lake Victoria von einer Stadt zur nächsten fahren könnte. Die Straßen sind nämlich permanent verstopft, auch kurze Strecken dauern viele Stunden.

Aber diese positive Wendung steht im Schatten der schweren Überschwemmungen und Erdrutsche der vergangenen Wochen – von den Hängen des Mount Elgon an Ugandas Grenze zu Kenia, wo jedes Jahr wegen Abholzung und Erosion Menschen auf ihren Feldern und in ihren Gärten lebendig begraben werden, bis zu den katastrophalen Schlammlawinen in Teilen der Demokratischen Republik Kongo mit Hunderten Toten. Steigende Wasserpegel richten ebenfalls schwere Schäden an. Schon während der Pandemie mussten Anwohner des Lake Victoria in allen drei Anrainerstaaten – Uganda, Kenia und Tansania – im Lockdown mit Fröschen im Schlafzimmer und Fischen im Wohnzimmer leben, viele teure Häuser mit Seeblick wurden verlassen. Im kenianischen Kisumu verklagten Menschen Ugandas Regierung wegen mutmaßlicher Mängel bei der Regulierung der Wasserströme des Nils, die den Wasserpegel des Sees ansteigen ließen. Die Regierung sagt dazu, dass der Fluss versande, was Fluten begünstige. Ein weiteres und immer häufigeres Phänomen sind die durch Wasser verbreiteten Seuchen, wogegen es weder Planungen noch Haushaltsreserven gibt.

Quelle      :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Offen nach ganz rechts

Erstellt von DL-Redaktion am 19. Mai 2023

Spanien vor entscheidenden Wahlen

Das Parlamentsgebäude von Spanien in Madrid

Ein Debattenbeitrag vin Reiner Wandler

Spaniens Konservative haben keine Hemmungen, mit Rechtsextremen wie der VOX zu kooperieren. Aber das überrascht nicht, schaut man auf ihre Geschichte.

Spaniens Partido Popular (PP) sieht sich vor einem neuen politischen Zyklus. Die stärkste rechte Oppositionspartei, der seit einem Jahr der Galicier Alberto Núñez Feijóo vorsteht, hofft bei den Regional- und Kommunalwahlen am kommenden 28. Mai, stärkste Kraft zu werden.

VOX sagt offen, was die meisten PP-WählerInnen bloß denken. In mehreren Regionen ist sie damit hoffähig geworden

Die Konservativen wollen ihre kommunale und regionale Macht ausbauen und den Grundstein für einen Sieg bei den Parlamentswahlen Ende des Jahres legen. Die Regierungsbeteiligung scheint zum Greifen nahe. Doch dazu braucht Feijóo die Unterstützung der rechtsextremen VOX.

Bislang schwankt Feijóo zwischen Zentrum und rechtem Rand hin und her. Zum einen umwirbt er die politische Mitte, zum anderen versucht er, die extreme Rechte zu bedienen, mit deren Unterstützung seine PP bereits in mehreren Regionen und Gemeinden regiert – im zentralspanischen Castilla y León gar in einer gemeinsamen Koalition.

Ziel ist, die verlorene Hegemonie im rechten Spektrum zurückzugewinnen. Zumindest so weit, dass eine Aussicht auf eine starke Minderheitsregierung ohne Minister aus der VOX besteht.

Resistenter als gedacht

Lange vereinte die PP das gesamte rechte Spektrum Spaniens unter ihrem Dach. Die PP bzw. ihre Vorgängerorganisation Alianza Popular entstand nach Ende der Franco-Diktatur 1975 aus einem Teil der franquistischen Eliten. Sie sahen in Europa weniger ein politisches als ein wirtschaftliches Vorbild.

Die AP unter dem Vorsitz eines ehemaligen Ministers der Diktatur ging pragmatisch vor, nahm die Reste gescheiterter liberaler und christdemokratischer Kräfte auf und ließ die PP dann zur alleinigen Kraft rechts der Mitte werden.

Mit starker territorialer und unter José María Aznar und Mariano Rajoy staatlicher Macht hatte die PP allen etwas zu bieten. Im wahrsten Sinne des Wortes: Keine Partei bediente sich so wie die PP.

Mit Korruption und Eurokrise kam dann auch die Krise des spanischen Zweiparteiensystems. Auf der Linken bekamen die Sozialisten Konkurrenz von Podemos, auf der Rechten geriet die PP zuerst durch Ciudadanos, dann durch die rechtsextreme VOX unter Druck. Aus dem Zweiparteiensystem wurde das System zweier Blöcke.

Ciudadanos ist nach einer Reihe strategischer Fehlentscheidungen – unter anderem, sich von der Mitte weg ebenso zum rechtem Rand hinzubewegen – kein Jahrzehnt nach größter Ausbreitung schon wieder so gut wie Geschichte. Die meisten ihrer Wähler fanden den Weg zurück zur PP, andere zur rechtsextremen VOX, die sich als resistenter erweist, als viele dachten.

Alberto Núñez Feijóo

VOX, im Grunde ein Stiefkind der PP, mit Politikern wie Santiago Abascal, die schon bei der PP Karriere gemacht hatten und von parteinahen Stiftungen lebten, eroberte nach dem Einzug ins andalusische Regionalparlament 2018 die spanische Politik im Handumdrehen. Mittlerweile ist sie im Parlament die drittstärkste Kraft.

Sie besetzt die üblichen rechtspopulistischen Themen: Anti-Feminismus, Kampf gegen Abtreibung und sexuelle Minderheiten, Verteidigung der Traditionen, hier mit den spanischen Besonderheiten wie Jagd und Stierkampf. Hinzu kommt ein aggressiver, zentralspanischer Nationalismus, der sich gegen die Regionen richtet, die mehr Eigenständigkeit oder gar die Unabhängigkeit wollen.

Seit dem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien 2017 macht VOX erfolgreich Stimmung gegen alles, was ein homogenes Spanien in Frage stellt.

Entstanden ist sie aus einem Konglomerat von kleineren rechten, oft ultrakatholischen Organisationen, die jahrelang von der herrschenden PP benutzt wurden, um die Ablehnung eines Friedensdialogs mit der baskischen ETA oder den Widerstand gegen unliebsame linksliberale Inhalte wie ein modernes Familienkonzept, mehr Frauenrechte oder die Homoehe auf die Straße zu bringen. Diese Gruppen waren es irgendwann leid, nur ein Spielball der PP zu sein. Sie wollten Resultate sehen.

„Kleine, feige Rechte“ schimpfen VOX-Politiker die PP mittlerweile gerne. Mit zwei – wenn auch gescheiterten – Misstrauensanträgen gegen die Linkskoalition unter dem Sozialisten Pedro Sánchez gelang es ihnen, innerhalb der Rechten die Initiative zu ergreifen und der PP den Rang abzulaufen.

Bei vielen Themen gibt VOX inzwischen den Ton an, PP und Ciudadanos laufen nur noch hinterher. VOX sagt offen, was die meisten PP-WählerInnen bloß denken. In mehreren Regionen ist die Partei damit längst hoffähig geworden.

Quelle          :       TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben      —   El congreso de los diputados el 9 de junio de 2011

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KRIMINELLE TAGESSCHAU

Erstellt von DL-Redaktion am 19. Mai 2023

Bandenkriminalität bei der ARD

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Kriminalität wird gern in düsteren Ecken gesucht. Die ARD, die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland, scheint gut ausgeleuchtet zu sein. In Wahrheit wird sie von kriminellen Parteien-Clans und der Karrieregeilheit ihres Personals beherrscht.

Öffentliche Verlautbarungen statt Jorunalismus

Die ARD-Bande produziert ständig kriminell verkürzte Nachrichten und betrügt so ihre Zuschauer um wesentliche Inhalte. Mit klassischem Journalismus hat diese Sorte öffentlicher Verlautbarungen kaum noch etwas zu tun.

Kriminelle Nachrichten-Verkürzung

Ein typisches Beispiel für die kriminelle Nachrichten-Verkürzung ist diese angebliche Nachricht: „USA schalten russische Spionagesoftware ab“. Mit vielen Verschleierungsvokabeln wie „soll“ und „offenbar“ macht die Tagesschau Reklame für das US-Justizministerium. Statt zu sagen, dass Spionage eine übliche Praxis diverser Staaten ist und das US-Justizministerium natürlich nur die Interessen der USA im Wettbewerb der Spione wahrnimmt.

Den Chinesen geht die Baerbock auf die Nerven

Die Tagesschau-Überschrift „Chinas Außenminister in Berlin – Nur begrenztes gegenseitiges Verständnis“ ist ein Klassiker der Vertuschung nachrichtlicher Wahrheit. Natürlich hätte die Überschrift eigentlich „Null Verständnis“ lauten müssen, denn den Chinesen geht die Schulmeisterei der Außenministerin Baerbock gewaltig auf die Nerven. Aber da sendet man in der ARD lieber an der Wahrheit vorbei. Etwas anderes könnte die Karriere kosten.

Neuanschaffung eines israelischen Raketen-Systems

Mit der Überschrift „Absicherung des NATO-Gipfels – Noch mehr Arbeit für die Luftwaffe?“ ist der Redaktion eine schwerst kriminelle Verbiegung der Wahrheit gelungen. Es geht tatsächlich um die Bedrohung des russischen Nachbarn und die Neuanschaffung des israelischen Arrow-3-Raketen-Systems. Aber warum die Wahrheit sagen, wenn Lügen doch so schön glatt geht?

Zuschauer machen mit

Auch diese Ausgabe der MACHT-UM-ACHT stützt sich auf eine Vielzahl von Zuschauer-Zuschriften, die an diese Adresse gesandt wurden: DIE-MACHT-UM-ACHT@apolut.net Dafür bedankt sich die Redaktion ganz herzlich.

Hier geht es zum Video:

https://apolut.net/die-macht-um-acht-129/

Urheberrecht

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Oben      —     Blick in das Studio der Tagesschau in Hamburg. Das Bild enstand beim Besuch des Wikimedia-Projekts Wiki Loves Broadcast (WLB) am 14. Januar 2023.

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Politik: Jeder gegen jeden

Erstellt von DL-Redaktion am 19. Mai 2023

Desaster im Intrigantenstadl

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :     Rainer Stadler /   

Medienleute demontieren ihre Branche – durch peinliche gegenseitige Bezichtigungen. Selbstkritik wäre etwas anderes.

Wer ein Flair für Zynismus und Klatsch hat, wird derzeit gut versorgt von Medienleuten, die über andere Medienleute öffentlich tratschen und die Bösartigkeit der ehemaligen Kollegen skandalisieren wollen. Der «Spiegel», der vor zwei Jahren den damaligen «Bild»-Chefredaktor, Julian Reichelt, unter dem Titel «Vögeln, Fördern, Feuern» angriff und diesem internen Machtmissbrauch vorwarf, bot Anfang Februar der ehemaligen «Magazin»-Redaktorin Anuschka Roshani eine Plattform, welche diese nutzte, um ihren ehemaligen Chef, Finn Canonica, in schlechtestem Licht darzustellen. Sensibilisiert durch die in den USA gestartete Me-Too-Bewegung, griffen Redaktionen in der Schweiz und Deutschland den Fall kritiklos auf, bis Roger Schawinski dagegenhielt und darauf aufmerksam machte, dass Roshanis Behauptungen wenig glaubwürdig seien. Doch davon später.

Jeder gegen jeden

In Deutschland zielte die «Zeit»-Redaktion Anfang April auf den Springer-Chef Mathias Döpfner und publizierte interne Botschaften, in denen Döpfner mit teilweise derben Worten über Ostdeutsche, Politiker und intolerante Muslime herzog. Die Konkurrenz und das politische Milieu reagierten empört. Die vertraulichen Äusserungen des mächtigen Medienmanns brachte offenbar Julian Reichelt in Umlauf, wie sich bald herausstellte. Denn es wurde bekannt, dass die Döpfner-Zitate auch zum Verleger der «Berliner Zeitung», Holger Friedrich, gelangt waren. Dieser hielt sie für publizistisch wertlos. Er unterrichtete darauf den Springer-Chef über die Indiskretionen seines ehemaligen Chefredaktors, worauf Springer Reichelt wegen Verletzung der vertraglichen Abgangsregeln verklagte.

Die Indiskretion von Friedrich trieb wiederum einige Journalisten auf die Palme, denn sie erkannten eine Verletzung des journalistischen Quellenschutzes, der unter allen Umständen gewahrt werden müsse. Die Frage ist allerdings, ob die Quellenschutz-Norm für einen Verleger gleichermassen gilt, zumal dieser eigentlich nicht zur Redaktion gehört und abgesehen von publizistischen Grundsatzfragen nur für geschäftliche Belange zuständig sein sollte. Wie auch immer – der Deutsche Presserat will nun prüfen, ob Friedrich den Quellenschutz verletzt hat. Dabei müsste wohl in Betracht gezogen werden, auf welche Art der Kontakt zwischen Friedrich und Reichelt verlief. In dieser Sache hat der Presserat weiteres zu tun. Er klärt nämlich ab, ob die «Zeit» mit ihrem Artikel über Döpfner den Berufskodex verletzt hat. Teilweise schon, denn interne derbe Äusserungen eines Chefs über andere Personen sind kein Gegenstand von öffentlichem Interesse.

Schawinskis Buch-Intervention in Rekordzeit

Zurück in die Schweiz. In einem Rekordtempo – in nur einem Monat – hat Roger Schawinski im Eigenverlag ein 170-seitiges Buch über Anuschka Roshanis Angriff auf Finn Canonica geschrieben («Anuschka und Finn. Die Geschichte eines Medienskandals»). Schawinski hat dafür geschaut, dass sein Werk übers vergangene Wochenende in den Zeitungen Aufmerksamkeit gefunden hat. Sein Buch vertieft die Enthüllungen, die er zuvor auf seinem Radio1 gemacht hat. Sein Verdienst ist es, dass er dem Medienskandal eine neue Richtung gab, indem er die vorschnellen Verurteilungen von Canonica, die diesem erheblich schadeten, ausbremste. Er konnte sich dabei nicht zuletzt auf Auszüge eines ausführlichen Untersuchungsberichts stützen, den einst Tamedia in diesem Zusammenhang bei Rechtsanwälten (Rudin Cantieni) in Auftrag gegeben hatte. Dieser entlastete Canonica in vielen Aspekten. Wer Schawinski die Auszüge des Berichts verschafft hat, ist nicht bekannt – es gilt auch hier der Quellenschutz.

Allerdings stellen sich da ein paar Fragen. Wie Schawinski schreibt, waren Teile des vertraulichen Papiers eingeschwärzt. Doch diese Einschwärzungen waren offenbar durch einen Mitarbeiter von Schawinski leicht zu entfernen. Hat der Überbringer dieser Papiere einkalkuliert, dass die Hürden leicht überwindbar wären? Man darf mutmassen. Jedenfalls sind durch die Indiskretion auch zwei Namen bekanntgeworden, die im internen Verfahren als Zeugen von Roshani aussagten. Unabhängig vom Wert ihrer Zeugenschaft – ihre nachträgliche Blossstellung auf Grund einer Untersuchung, die eigentlich auf Vertraulichkeit basierte, ist fragwürdig. Ein gewisses Verständnis kann man nur darum aufbringen, dass die Heftigkeit, mit der Roshani ihren ehemaligen Chef öffentlich angriff, eine starke Gegenreaktion provozierte.

Beschädigte Glaubwürdigkeit

Auch wenn noch nicht alle Umstände dieses Skandals bekannt sind, kann man jetzt schon festhalten: Roshani hat ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem. Das Landgericht Hamburg verlangte denn auch vom «Spiegel», dass er neun Passagen des Roshani-Textes kürzen muss; dagegen will das Magazin aber Einspruch erheben. Gegenüber Schawinski wollte sich Roshani zur Sache nicht äussern, was kaum verwundert. Denn sie ist nun in rechtliche Verfahren verwickelt, wodurch öffentliche Äusserungen heikel werden. Die «Süddeutsche Zeitung» konnte ihr schliesslich doch noch ein paar Worte entlocken. Sie sagte dem Blatt, sie habe Schawinski nicht geantwortet, weil sie sich durch seine Radiosendungen vorverurteilt fühlte – nach ihrem heftigen Angriff auf Canonica wirkt diese Äusserung etwas kurios.

Wie auch immer, die seltsamen Affären werden nun Gerichte, Rechtsanwälte und Selbstkontrollorgane beschäftigen und früher oder später weitere Schlagzeilen hervorrufen. Klar ist bereits: Die gegenseitigen Indiskretionen, Klagen und Skandalisierungen werfen ein schlechtes Licht auf die Medienbranche. Für Aussenstehende muss sie einem grossen Intrigantenstadl gleichen, wo die Beteiligten offensichtlich nicht mehr zu erkennen vermögen, was von öffentlichem Interesse ist und was nicht. Die von Rache geprägten Aktionen schaden überdies der Sache, der ernsthaften Diskussion über Machtmissbrauch in Redaktionen und Chefetagen. Den gibt es nämlich.

Weiterführende Informationen

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Yohanan Lakicevic
Isareli, born Yugoslavia, 1943      /     Title   :    Blabla

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Nachrichten aus Österreich

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Mai 2023

Der Bernie-Moment der SPÖ

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Ein Debattenbeitrag von Robert Misik

Ein ehemaliger Fabrikarbeiter will die Sozis aufmischen. Er zeigt, dass Sozialdemokratie proletarisch, linksliberal und öko zugleich sein kann.

Aus Österreich kommen selten erbauliche Nachrichten. Die meisten handeln von Nazis, manche auch von Verbrechen, die in Kellern geschehen, gelegentlich von beidem, weshalb hier der schöne Begriff „Kellernazis“ einen fixen Platz im Sprachgebrauch hat. Neuerdings sind wir auch für Korruption berühmt, was liebevoll „Freunderlwirtschaft“ genannt wird. Kurzum, als Österreicher ist man Kummer gewohnt. Aber gelegentlich tun sich interessante Geschehnisse auf.

Im Land Salzburg hat die Kommunistische Partei gerade 11 Prozent bei den Landtagswahlen erreicht, in der Stadt Salzburg sogar beinahe 22 Prozent. Im Wesentlichen ist das dem Fleiß und der Ausstrahlung ihres Spitzenkandidaten zu verdanken, eines jungen Mannes namens Kay-Michael Dankl. In Graz wiederum sind die Kommunisten sogar stärkste Partei und stellen die Bürgermeisterin. Es gibt dafür wie immer lokale Gründe, aber wenn man zwei Generalisierungen treffen will, dann diese: Akzentuierte Linke gewinnen da, wo sie volksnah auftreten, famose Spitzenleute haben und wo außerdem die Sozialdemokraten durch ein Tal der Tränen gehen, weil sie besonders mies dastehen.

Auch bei den Sozialdemokraten tut sich Berichtenswertes: Da gibt es nämlich jetzt einen Mitgliederentscheid um den Parteivorsitz und einen kleinen österreichischen „Bernie-Sanders-Moment“. Denn bei der Urwahl, die auch eine Richtungsentscheidung ist, treten nicht nur die amtierende, politisch zentristische Amtsinhaberin Pamela Rendi-Wagner und ihr ewiger Kontrahent vom rechten Parteiflügel an, sondern zudem – mit guten Chancen – Andreas Babler, ein erfolgreicher, 50-jähriger Bürgermeister einer 20.000-Einwohner-Stadt.

Babler ist ein Parteilinker, zugleich hat er als früherer Fabrikarbeiter und geerdeter Typ das Image als „einer, der auf der Seite der einfachen Leute steht“. Er ist der Kandidat der unzufriedenen Basis, und fragt man ihn nach Referenzfiguren, fällt ihm am ehesten Alexandria Ocasio-Cortez ein. Politisch ist das nicht falsch, auch wenn er eine viel rustikalere Ausstrahlung hat, was wahrscheinlich ein Vorteil ist, wegen Volksnähe und so. Ich hoffe, ich trete weder ihm noch ihr zu nahe, wenn ich dennoch auf die Tatsache hinweise, dass er nicht ganz so gut aussehend ist wie die linke Demokraten-Göttin aus Brooklyn.

Grundsatzdebatte um die SPÖ-Spitze

Fragt man Andreas Babler nach Referenzfiguren, fällt ihm am ehesten Alexandria Ocasio-Cortez ein.

Mag Österreich auch nicht bekannt dafür sein, ein Ort intellektuell tiefschürfender Debatten zu sein, so ist der Dreikampf um die SPÖ-Spitze dennoch zu einer Art Grundsatzdebatte geworden – und zwar um die Ausrichtung zeitgenössischer Mitte-links-Parteien. Die Sozialdemokratie ist in eine Krise geschlittert, und es sind eine Reihe von Interpretationen im Umlauf. Etwa dass die Partei die Glaubwürdigkeit bei den ganz normalen Leuten verloren hat, bei den arbeitenden Klassen, die sie nicht mehr als ihre Vertretung ansehen.

Dass dieser Glaubwürdigkeitsverlust einer der Gründe sei, warum Verdruss und Protest zu einem Anwachsen der extremen Rechten führen. Dass der Verlust an Weltverbesserungsenergien und die Anpassung an einen rechten Zeitgeist zu einem Aufschwung der Rechtsextremisten führen, weil man dauernd diskursiv in deren Falle tappt. Eine Reihe von Erklärungen ist also im Umlauf, die sich teils ergänzen, teils auch widersprechen.

Daraus ziehen manche Sozialdemokraten den Schluss, dass man wirtschafts- und sozialpolitisch eher links, gesellschaftspolitisch eher rechts sein müsse, da die verlorene Ex-Anhängerschaft der Sozialdemokraten genau das wünsche, sei diese doch auch gegen Massenzuwanderung, Woke-Klimbim und das böse Klimakleben. Für diese Linie wird gerne die dänische Sozialdemokratie als Vorbild angeführt. In Österreich ist der Kandidat des rechten Parteiflügels ein Verehrer des dänischen Modells. Er wirbt für sich mit der Behauptung, nur er könne Wähler von den konservativen Rechtsparteien zurückgewinnen. Er sei gewissermaßen rechts genug, um ein Angebot für Rechte zu sein.

Herzblut und Prinzipientreue

Andreas Babler verkörpert genau die gegenteilige Position, die Auffassung nämlich, mit Herzblut, Prinzipientreue und Geerdetheit – und einfach einem festen progressiven Wertefundament – könne man verlorene Glaubwürdigkeit wiedergutmachen. Links und plebejisch, das ist in etwa seine Maxime.

In Traiskirchen, seiner Heimatstadt, hat er gezeigt, wie es geht – immerhin hat er dort 73 Prozent der Stimmen gewonnen. Die Zeit schrieb, Bablers Kandidatur sei „eine Wette darauf, dass man progressiv und proletarisch zugleich sein kann“. Der Typus Babler: ein ehemaliger Fabrikarbeiter, der ganz locker über Migranten „das sind unsere Leute“ sagt und zugleich die Klimakrise als die große Bedrohung der Gegenwart anspricht.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      original file  –  Landtagswahl 2023 am 23. April 2023 in Salzburg, das Bundesland Salzburg wählt einen neuen Landtag;Gruppenbild der Spitzenkandidaten nach der Bekanntgabe der ersten Ergebnisse;Im Bild v.l.: Kay-Michael Dankl (KPÖ), Landeshauptmann-Stellvertreterin Martina Berthold (GRÜNE), Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP), Marlene Svazek (FPÖ), David Egger (SPÖ), Landesrätin Andrea Klambauer (NEOS);Wahlergebnis, Ergebnis, Demokratie, Wahl, Landtagswahl, Bezirke, Gemeinden;Foto: Land Salzburg / Franz Neumayr 23.4.2023

Land Salzburg / Franz Neumayr – https://www.salzburg.gv.at/kommunikation/bilddatenbank-celum

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Unten     —           SPÖ Bundesparteitag am 13. Oktober 2012 – VAZ St.Pölten. Andreas Babler, Bürgermeister von Traiskirchen. – Foto: Thomas Lehmann

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Mobile Wissensarbeit:

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Mai 2023

Alternative ökologische und soziale Theorien der Pflege konstruieren, aber unfähig, sie zu leben?

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von            :       · 17.05.2023

Arbeiter*innen in der Produktion und Vermittlung von Wissen – Forscher*innen und Lehrer*innen – sind von zentraler Bedeutung für die Prozesse der Kapitalakkumulation im einundzwanzigsten Jahrhundert und damit auf die eine oder andere Weise ein wichtiger Bestandteil der Klimaproduktion. Um zu überleben, verkaufen die Proletarisierten ihre Arbeitskraft, während die prekäre Mehrheit unter ihnen auch gezwungen ist, ständig mobil zu sein, und auf diese Weise sowohl zu den Kohlenstoffemissionen beizutragen als auch die Fürsorge für menschliche und nicht-menschliche andere zu vernachlässigen, wie die Wissenschaftlerin und Aktivistin Nelli Kambouri in ihrem Beitrag zur Textreihe “Allied Grounds” argumentiert.

Als prekäre Akademikerin lebe ich seit vielen Jahren zwischen verschiedenen Jobs und arbeite gleichzeitig an mehreren Projekten für verschiedene Institutionen. Prekarität hat einen tiefgreifenden Einfluss auf mein tägliches Leben und meine Arbeit. Obwohl es stressig ist, an mehreren Projekten gleichzeitig zu arbeiten, können Arbeiter*innen in der Wissensproduktion wie ich, die keine festen Arbeitsplätze haben, keine Angebote auswählen oder ablehnen, weil wir sicherstellen müssen, dass wir in der Lage sind, Zeiten der Arbeitslosigkeit und des Mangels an Einkommen zu überbrücken.

Wir sind auch ständig besorgt über niedrige und verspätete Zahlungen, unbestimmte Arbeitsbeziehungen und den Abzug von Zeit und Wissen. Prekarität macht es schwierig, sich zu konzentrieren, und Forschungsprojekte werden ständig an die Rahmenbedingungen verschiedener Finanzierungsmöglichkeiten angepasst. Ausstiegsstrategien für die berufliche Entwicklung sind oft mit häufigen Reisen oder der Abwanderung aus dem Heimatland verbunden.

In meinem Fall ist die Heimat ein Schuldenstaat, eine Gesellschaft, die zunehmend bankrott, rassistisch und sexistisch geworden ist und die nur sehr wenig – meist informellen – Schutz für prekäre Akademiker*innen bietet. Dennoch ist mein Zuhause auch ein Ort, an dem ich wertvolle soziale Beziehungen, Freundschaften, familiäre Bindungen und intellektuelle und affektive Zugehörigkeiten aufgebaut habe, die ein wesentlicher Bestandteil dessen sind, was ich geworden bin und wie ich über die Zukunft denke.

Der Wunsch, dieses zerbrechliche Zuhause in ein stabiles zu verwandeln, egal wie sehr es durch Prekarität gebrochen ist, ist eine Strategie, die zum akademischen Scheitern verurteilt ist. Die Entscheidung zu bleiben, sich zu weigern, akademisch mobiler zu werden, wie es die zeitgenössischen Normen von allen Akademiker*innen erwarten, kann als eine Art beruflicher Selbstmord angesehen werden. Akademische Unbeweglichkeit wird als Schwäche ausgelegt, als Zeichen der Unbestimmtheit, der Ziellosigkeit und des fehlenden Engagements, das uns alle heimsucht, die wir uns an Orten niedergelassen haben, an denen wir den prekären akademischen Bedingungen nicht entkommen können.

Ständiger Wechsel in neue akademische Umgebungen

Für prekäre Forscher*innen aus der Peripherie der globalen akademischen Welt ist die Mobilität zur einzigen offiziellen und praktikablen Überlebensstrategie geworden. Sie wird finanziert, gelobt und als Indikator für wissenschaftliches Engagement und Professionalität angesehen. Die enthusiastischen Erzählungen über den akademischen Erfolg verschweigen jedoch, dass die akademische Mobilität oft zu einem unwillkommenen und erzwungenen Weg wird, insbesondere für Betreuungspersonen, die abhängige Familienmitglieder oder Gemeinschaften zurücklassen müssen, um eine neue akademische Karriere weit weg von ihnen zu verfolgen.

Mobilität ist zwar nicht immer der erzwungene Teil einer Laufbahn, aber sie ist sehr oft vorübergehend, unsicher und fragil. Obwohl die Entscheidung, akademisch mobil zu werden, von einem intellektuellen Hauch umhüllt ist, der die Geschlechter- und Pflegepolitik zum Schweigen bringt, tauchen diese Themen im geschlechtsspezifischen akademischen Leben immer wieder auf. Es ist irreführend, die akademische Mobilität völlig geschlechtsneutral zu betrachten.

Die Entscheidung, für eine befristete, schlecht bezahlte und unsichere Stelle in ein neues akademisches Umfeld zu wechseln, ist schwierig und oft schmerzhaft. Tatsächlich ist die akademische Mobilität keine einseitige, lineare Bewegung hin zum beruflichen Erfolg, sondern beinhaltet in der Regel ein ständiges Hin und Her, das sich häufig auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden auswirkt.

Es stellen sich mehrere Fragen: Wie erzieht man Kinder in der Ferne? Wie unterstützt man Verwandte, Partner, Freunde im Ausland? Wie geht man mit der Sehnsucht nach sozialen Beziehungen im Heimatland um? Wie kommt man physiologisch mit dem häufigen Reisen zurecht? Wie organisiert man Zeitpläne, die auf Reisen nicht stressig sind? Wie überdenkt man seine Beziehung zur Wissenschaft, wenn man kein festes Zuhause findet?

Die ökologischen und sozialen Kosten

Eine der Strategien, die viele von uns in der Vergangenheit angewandt haben, um den Rhythmus eines mobilen akademischen Lebens als prekäre Subjekte zu unterstützen, besteht in der häufigen Nutzung von preiswerten Reisen und Unterkünften, was enorme ökologische und soziale Kosten verursacht. Wie bei Gender und Pflege wird der ökologische Fußabdruck der akademischen Mobilität bei akademischen Karrierewegen selten berücksichtigt.

Es gibt verschiedene Online-Tools, die es uns ermöglichen könnten, das Reisen für Sitzungen, Forschung, Konferenzen, Workshops oder Unterricht zu überdenken, aber die ökologischen und sozialen Kosten dieser Tools (die in der Regel von den großen Profiteur*innen des so genannten “Überwachungskapitalismus” bereitgestellt werden, die einen großen ökologischen Fußabdruck haben) werden kaum berücksichtigt. Gleichzeitig werden persönliche Treffen weiterhin als menschlicher und professioneller gepriesen. Infolgedessen bleiben beide Optionen – die verkörperte/Offline- und die entkörperte/Online-Mobilität – mystifiziert und entsprechend unterreflektiert.

Für prekäre Akademiker*innen können kurzfristige und prekäre Arbeitsplätze auch einen Lebensstil bedeuten, der häufige Reisen zu den Orten beinhaltet, die wir unser Zuhause nennen und wo sich die Menschen befinden, die wir betreuen. Dies schafft ein Paradoxon. Obwohl prekäre Akademiker*innen im Bereich er Wissensproduktion, zur Konstruktion alternativer ökologischer und sozialer Theorien der Pflege sowie zu ökologischen und feministischen Ansätzen und Modellen beitragen können, die die zerstörerischen Auswirkungen des gegenwärtigen Kapitalismus in Frage stellen, sind sie oft nicht in der Lage, diese Alternativen in ihrem mobilen Alltag umzusetzen, gerade weil die Finanzierung die Mobilität wertschätzt.

Die Mobilität der prekären Wissenschaftler*innen unterscheidet sich von der der privilegierten akademischen Eliten, die institutionelle Sicherheit genießen und ihre Reisen auf das Wesentliche beschränken können. Die Mobilität prekärer Forscher*innen ergibt sich aus der Prekarität ihrer Arbeit und der Notwendigkeit, näher an die wirtschaftlichen Zentren der Wissensproduktion heranzukommen, was wiederum oft die Schaffung von Versorgungslücken impliziert.

Das lästige Paradoxon angehen

Die akademische Mobilität bringt eine merkwürdige Verflechtung von sozialen und ökologischen Schäden mit sich, die wir verursachen müssen, um akademischen Erfolg zu erzielen. Wie Felix Guatarri in den “Drei Ökologien” feststellte: “Wohin wir uns auch wenden, wir stoßen auf dasselbe nagende Paradoxon: Einerseits die kontinuierliche Entwicklung neuer technowissenschaftlicher Mittel, um potenziell die vorherrschenden ökologischen Probleme zu lösen und gesellschaftlich nützliche Aktivitäten auf der Oberfläche des Planeten wiederherzustellen, und andererseits die Unfähigkeit organisierter sozialer Kräfte und konstituierter subjektiver Formationen, sich dieser Mittel zu bemächtigen, um sie zum Laufen zu bringen” (S. 30).

Als prekäre Akademiker*innen sind wir an diesem Paradoxon beteiligt, sowohl als kreative Wissenschaftler*innen, die sich neue Modelle des Zusammenlebens mit anderen – menschlichen und nicht-menschlichen – Wesen ausdenken, als auch als Subjekte, die es systematisch versäumen, soziale und ökologische Ressourcen zu nutzen und in den Dienst der Arbeit zu stellen. Prekarität ist somit mit umweltzerstörerischen Praktiken der Wissensproduktion verwoben, die von uns verlangen, die Kosten unserer Mobilität zu verbergen.

Es ist an der Zeit, akademisches Scheitern und Erfolg im Hinblick auf dieses Paradoxon neu zu überdenken. Die Weigerung, als prekäre Akademiker*innen mobil zu sein, mag eine Form des Widerstands gegen die ökologischen Schäden sein, die durch intensive Reiseverpflichtungen verursacht werden, aber sie ist auch eine Form des Widerstands gegen Konzepte von Arbeit, die Reproduktion und Fürsorge ausblenden. Diese beiden Aspekte sind miteinander verwoben: Eine Ethik der Fürsorge für Menschen und Nicht-Menschen muss in die Beurteilung und Bewertung akademischer Karrieren und Lebensläufe integriert werden.

Was wäre, wenn wir diejenigen mehr wertschätzen würden, die sich dafür entscheiden, diejenigen zu feiern, die nicht oft fliegen, die sich dafür entscheiden, fürsorgliche Beziehungen innerhalb und außerhalb akademischer Einrichtungen aufzubauen? Was wäre, wenn die Organisation der akademischen Arbeit nicht mehr im Sinne der neoliberalen Vorstellungen von nahtloser und schneller Mobilität wahrgenommen würde, sondern im Sinne der Bedürfnisse der Prekären, für die das Temporäre, aber auch das Digitale die Norm ist?

Es ist denkbar, dass die Verweigerung der akademischen Mobilität zu neuen prekären Subjektivitäten führt, die mit ihren maschinellen Erweiterungen verbunden sind, und zu neuen Kartografien der Wissensproduktion, die die ungleichen Strukturen der globalen akademischen Institutionen in Frage stellen. Verstreute Universitäten und Forschungsprojekte, die zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden aufgeteilt sind, würden auf langsamer Bewegung, seltenen persönlichen Interaktionen und einer Priorität der Aufmerksamkeit für das Menschliche und Nicht-Menschliche um uns herum basieren.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist ein Beitrag zur Textreihe “Allied Grounds” der Berliner Gazette; die englische Fassung finden Sie hier. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “Allied Grounds”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://allied-grounds.berlinergazette.de

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Grafikquellen     :

Oben       —   Patient Receives Chemotherapy Description A Hispanic male patient receives Chemotherapy from a African-American Nurse through a port that is placed in his chest area. A caucasian female nurse looks on. Topics/Categories Locations — Clinic/Hospital People — Adult People — Health Professional and Patient Treatment — Chemotherapy Type Color, Photo Source National Cancer Institute

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Radio Dreyeckland:

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Mai 2023

Link auf Linksunten war rechtens

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von Markus Reuter

Das Landgericht Karlsruhe hat Staatsanwaltschaft und Amtsgericht wegen der umstrittenen Razzien und Ermittlungen gegen den freien Sender „Radio Dreyeckland“ zurückgepfiffen. Der Sender hatte in einem Artikel auf die Archivseite des verbotenen Portals indymedia.linksunten verlinkt. Das Gericht sieht solche Verlinkungen als Teil der journalistischen Aufgaben.

Das Landgericht Karlsruhe hat gestern entschieden, die Anklage gegen einen Redakteur des Senders Radio Dreyeckland (RDL) nicht zuzulassen. Die Staatsanwaltschaft hatte dem Redakteur vorgeworfen, in einem Artikel des Radiosenders auf die Archivseite der verbotenen Plattform linksunten.indymedia.org verlinkt und damit eine verbotene Organisation unterstützt zu haben. Im Zuge der Ermittlungen gab es viel kritisierte Razzien in den Redaktionsräumen und bei zwei Redakteuren, bei denen auch Computer mit umfangreicher redaktioneller Kommunikation beschlagnahmt wurden.

Das Landgericht hat nun in einem laut der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) „wegweisenden Beschluss“ verkündet, dass die Verlinkung Teil der journalistischen Aufgaben und daher keine strafbare Unterstützung einer verbotenen Vereinigung sei. Damit stehe laut der Bürgerrechtsorganisation auch fest, dass die im Januar angeordneten Durchsuchungen von Wohnungen und Redaktionsräumen rechtswidrig waren. Das Landgericht ordnete außerdem wegen der hohen Bedeutung für das Redaktionsgeheimnis und den Informant:innenschutz an, dass die Polizei die angefertigten Kopien der ursprünglich beschlagnahmten Datenträger löschen muss.

Die GFF unterstützt den betroffenen Redakteur juristisch – und hatte auch eine Beschwerde beim Landgericht eingereicht, die allerdings noch nicht entschieden ist. Offen bleiben vorerst noch Beschwerden eines weiteren RDL-Mitarbeiters sowie von RDL gegen die Durchsuchung der Privaträume der Journalisten sowie der Redaktionsräume und der Beschlagnahme von Arbeitsmitteln und Speichermedien.

Wichtiges Signal für Pressefreiheit

Dennoch scheint das aktuelle Urteil klar die Richtung vorzugeben. „Die Entscheidung ist ein wichtiges Signal für freie und kritische Presseberichterstattung in ganz Deutschland. Das Gericht begründet ausführlich, dass vage Strafnormen mit Blick auf die Presse- und Rundfunkfreiheit einschränkend ausgelegt werden müssen“, sagt David Werdermann, Jurist und Verfahrenskoordinator bei der GFF. Der Beschluss sei wegweisend. „Er stellt klar, dass Verlinkungen zum geschützten Bereich der freien Berichterstattung gehören und Medien für die verlinkten Inhalte nicht ohne Weiteres strafrechtlich belangt werden können.“

„Der Staatsanwaltschaft und dem Freiburger Staatsschutz muss klar gewesen sein, dass sie sich juristisch auf äußerst dünnem Eis bewegen. Es ging ihnen offensichtlich von Anfang an um Einschüchterung und Ausforschung eines kritischen linken Mediums“, erklärt Andreas Reimann, dessen Privatwohnung wegen seiner Funktion als Verantwortlicher im Sinne des Presserechts ebenfalls durchsucht wurde, in einem Bericht des Senders.

Hintergrund der Razzien und Ermittlungen war, dass RDL im Juli 2022 über das Verbot von linksunten.indymedia.org 2017 durch das Bundesinnenministerium berichtet hatte. Dabei verlinkte der Sender auf die Archivseite des verbotenen Portals. Die zuständige Staatsanwaltschaft Karlsruhe warf dem freien Radiosender nicht bloß vor, dieses Archiv verlinkt zu haben, sondern mit der dazugehörigen Nachrichtenmeldung auch eine Straftat nach Paragraf 85 begangen und damit gegen ein Vereinigungsverbot verstoßen zu haben – und ordnete die Durchsuchung der Redaktionsräume sowie der Wohnungen zweier Redakteure an. Bei der Razzia beschlagnahmte die Polizei mehrere Laptops und versuchte sogar an die IP-Adressen der Menschen heranzukommen, welche die Website des Senders besucht hatten.

Mit der heutigen Entscheidung sei klar, dass dieses Vorgehen einen rechtswidrigen Eingriff in die Presse- und Rundfunkfreiheit darstelle, sagt die GFF. Journalist:innen machten sich in der Regel nicht strafbar, wenn sie im Rahmen der Berichterstattung auf rechtlich umstrittene Websites verlinken würden. Das Landgericht ziehe zudem in Zweifel, ob der verbotene Verein linksunten.indymedia überhaupt noch existiert. Ein nicht mehr existenter Verein könne auch nicht unterstützt werden.

Schon Verbot von indymedia.linksunten war umstritten

Linksunten Indymedia war bis zum Verbot im Jahr 2017 ein wichtiges Informationsportal für Teile der linken Szene und eine Plattform für unter anderem Demonstrationsaufrufe und Bekennerschreiben. Das Innenministerium stufte die Site damals allerdings nicht als Medium ein, sondern als Verein, um sie daraufhin mithilfe des Vereinsgesetzes zu verbieten. Schon damals verurteilte das etwa „Reporter ohne Grenzen“ als Angriff auf die Pressefreiheit. Vergangenes Jahr wurden Ermittlungsverfahren gegen Linksunten Indymedia eingestellt; das heißt, der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung ist viele Jahre später geplatzt. Ob das Verbot von linksunten.indymedia die Pressefreiheit verletzt, wurde gerichtlich nie überprüft. Darauf bezogene Klagen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie eine Verfassungsbeschwerde wurden aus formalen Gründen abgewiesen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —       Das Grethergelände mit den Räumlichkeiten von Radio Dreyeckland im Erdgeschoss.

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BGH zu Cum-Ex-Streit

Erstellt von DL-Redaktion am 17. Mai 2023

Bankier verliert gegen Zeitung

Von Christian Rath

Der Bundesgerichtshof entscheidet im Cum-Ex-Streit für die Pressefreiheit. Die „SZ“ darf aus Tagebüchern des Bankiers Christian Olearius zitieren.

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) durfte aus den beschlagnahmten Tagebüchern des Hamburger Bankiers Christian Olearius zitieren. Ein SZ-Artikel, der Kanzler Olaf Scholz (SPD) in Bedrängnis brachte, darf nun wieder online veröffentlicht werden. Das entschied an diesem Dienstag der Bundesgerichtshof.

Schon seit Jahren steht der Verdacht im Raum, dass Olaf Scholz, damals Erster Bürgermeister Hamburgs, sich für die Hamburger Skandalbank Warburg eingesetzt hat.

Die Privatbank, die sich in großem Stil an den strafbaren Cum-Ex-Steuermanipulationen beteiligte, versuchte 2016 zu verhindern, dass sie 47 Millionen Euro an den Fiskus zurückzahlen muss.

Bank-Miteigentümer Christian Olearius bemühte sich deshalb um die Unterstützung von Hamburger SPD-Politikern. Drei Tage nach einem Gespräch mit Scholz verzichtete die Hamburger Steuerbehörde auf die Rückzahlung. War das Zufall?

Tagebücher seien keine „amtlichen Dokumente“

Der Hamburger Senat bestritt 2019 zunächst, dass es überhaupt Gespräche zwischen Scholz und Olearius gab. Doch der SZ wurden Auszüge aus den Tagebüchern von Olearius zugespielt, die 2018 von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt worden waren. Daraus ergab sich, dass es in dieser Sache mindestens fünf Gespräche von Scholz und Olearius gab. Der entsprechende SZ-Artikel erschien am 4. September 2020.

Gegen diesen Artikel ging Olearius vor. Die beschlagnahmten Tagebücher seien „amtliche Dokumente eines Strafverfahrens“. Gemäß Paragraf 353d Strafgesetzbuch dürfe daraus nicht zitiert werden, bis sie im Strafprozess verlesen wurden. Mit dieser Argumentation hatte Olearius beim Landgericht Hamburg und Oberlandesgericht Hamburg Erfolg. Paragraf 353d sei ein „Schutzgesetz“ und gebe Olearius einen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch gegen die SZ. Die Zeitung hätte deshalb den Großteil der Zitate löschen müssen und nahm dann den Artikel ganz von ihrer Webseite.

Doch beim Bundesgerichtshof (BGH) obsiegte nun die SZ in vollem Umfang. Die beschlagnahmten Tagebücher seien keine „amtlichen Dokumente“, erklärte der Vorsitzende Richter Stephan Seiters, „private Aufzeichnungen werden auch durch die Beschlagnahme nicht zu amtlichen Dokumenten“. Außerdem sei Paragraf 353d kein zivilrechtliches Schutzgesetz, so der BGH-Richter.

Quelle       :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Das in der Ferdinandstraße 75 in Hamburg-Altstadt wurde 1912/13 nach Plänen von Martin Haller im Stil der Neorenaissance errichtet.

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Mai 2023

Debatte um Muttertag: Nur symbolische Ehrung

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Durch die Woche mit Nina Apin

Auf Bastelgeschenke für Mutti kann unsere Autorin verzichten. Viel lieber wäre ihr eine 32-Stunden-Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleich.

Am Sonntag ist es wieder so weit: Wenn ich mich morgens in die Küche schleppe, wird an meinem Platz irgendeine gebastelte Kleinigkeit liegen, ein aus Papierstreifen geflochtenes Herz oder schlimmstenfalls eine stereotype, vom Kind ausgemalte Motiv-Vorlage mit Fließband-Spruch: Liebe Mama, schön, dass Du da bist. Na, alles Gute zum Muttertag aber auch! Ich persönlich kann auf dieses von der Floristikbranche erfundene und von den Nazis etablierte Ritual gern verzichten.

Aber in traditionsbewussten Haushalten „gehört es halt dazu“, dass man die Mutti wenigstens einmal im Jahr symbolisch ehrt und ihr ein Frühstück zaubert, das sie an einem von 365 Tagen dann nicht selber wegräumen muss. Wenn sie Glück hat. Wenn sie Pech hat, auch das – und die lieblos in der Schule gefertigte Bastelarbeit wird sie an der Küchenwand ein ganzes Jahr lang an den missglückten Wertschätzungsakt erinnern.

Zum Glück leben wir nicht mehr in den 1980ern und die Kinder werden nicht mehr dazu angehalten, für Mutti Aschenbecher zu töpfern (ich werde nie das Gesicht meiner Mutter vergessen!). Aber wenn jetzt eine Kita aus Diversitätsgründen ganz aufs 14.-Mai-Basteln verzichtet, wie in Fulda geschehen, dann ist das einigen viel zu fortschrittlich.

Dem CDU-Politiker Tilman Kuban beispielsweise, der als begabter Jungpopulist sogleich Genderterror-Verdacht und Traditionszerstörung ins Internet herauskrähte – inklusive Nennung der Adresse der Kita, die dann überraschenderweise von einer Hasswelle überrollt wurde. Kuban ist zwar erst 35, aber im Kopf bereits ganz Boomer.

Briten leben kürzer

Und die müssen jetzt ganz tapfer sein, denn viele liebgewordene Routinen aus Nachkriegswestdeutschland (mit Öl heizen, sich halb tot arbeiten und dann zur Erholung „in die Sonne“ fliegen) beginnen schneller zu bröckeln als ein Fimo-Herz in der Sonne. Jetzt wollen Sozis, Linke und Gewerkschafter sogar die gute alte Arbeitswoche auf vier Tage verkürzen!

Gut, so ganz ist noch nicht raus, ob es in Richtung 40 Stunden in vier Arbeitstage quetschen geht oder ob tatsächlich das 32-Stunden-Teilzeit-Paradies bei vollem Lohn anbricht wie von der IG Metall gefordert – was übrigens auch viele Mütter zurück in eine familienverträgliche Vollzeitstelle bringen könnte: Mutti könnte sich dann später, wenn die Kinder einmal aus dem Haus sind, von ihrer besseren Rente selbst jeden Sonntag einen Muttertag mit Milchkaffee bescheren.

Und auch Vati wäre dann, dank der gesundheitsschonenden Vier-Tage-Woche, noch länger am Start als jetzt: Laut einer aktuellen Umfrage belegen die Deutschen bei der Lebenserwartung im Vergleich von insgesamt 16 westeuropäischen Ländern den 14. Platz, deutsche Männer liegen sogar auf Platz 15, das heißt: Sie sterben deutlich früher als Spanier oder Italiener. Bei der Todesursache Herz-Kreislauf-Erkrankung liegen die Deutschen vorn – was deutlich dafür spräche, weniger zu arbeiten.

Quelle        :      TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Staatsanwalt – Karlsruhe

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Mai 2023

Erhebt Anklage gegen Autor von Radio Dreyeckland (RDL)

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von    :    Achim Schill (mit Unterstützung von DGS für die juristischen Feinheiten)

Die ‚Tat‘: Verlinkung zum Archiv von linksunten

Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe hat Anklage gegen einen Journalisten von Radio Dreyeckland erhoben (RDL vom 02.05.2023; vgl. die Presse­schau bei publikum.net vom 10.05.2023). Sie wirft ihm in Bezug auf diesen Artikel der Webseite des Freien Freiburger Radiosender vor,

„bei der Vornahme der Veröffentlichung zumindest billigend in Kauf ge­nommen [zu] habe[n], dass durch die von ihm gewählte inhaltliche Ge­staltung und die darin eingebettete Verlinkung des vollständigen Ver­einsarchivs die Bestrebungen und die Tätigkeit der verbotenen Vereini­gung ‚linksunten.indymedia‘ über eine bloße journalistische Berichter­stattung hinaus weiter beworben und gefördert wurden. Dies ist straf­bar gem. § 85 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 StGB.“ (Auskunft der Staatsanwalt­schaft Karlsruhe lt. taz-Blogs vom 05.05.2023; herv. von mir)

Schauen wir uns § 85 Absatz 2 Strafgesetzbuch mal etwas genauer an:

Wer sich in einer Partei oder Vereinigung der in Absatz 1 bezeichneten Art als Mitglied betätigt oder wer ihren organisatorischen Zusam­menhalt oder ihre weitere Betätigung unterstützt, wird mit Freiheits­strafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ (herv. von mir)

Aus dem „organisatorischem Zusammenhalt“ macht die Staatsanwalt­schaft Karlsruhe also eine [geistige] Bestrebung und aus dem „Unterstüt­zen“ wird ein „Bewerben“.

Worin besteht die juristische Problematik?

Der „organisatorische Zusammenhalt“ kann natürlich nur befördert wer­den, wenn die Vereinigung (in welcher Organisationsform auch immer) auch existiert. Gerade dies ist aber bei linksunten nicht der Fall, wie selbst das Bundesministerium des Inneren (BMI) bestätigt (s. taz-Blogs vom 11.02.20231).

Und das Bewerben ist ausdrücklich von der Strafbarkeit ausgenommen worden: „Verzichtet wurde auf die im Reg[ierungs]-E[ntwurf] noch ge­nannte Begehungsform des Werbens.“ (Bundestags-Drucksache V/2860; https://dserver.bundestag.de/btd/05/028/0502860.pdf, S. 6).

Eine Verurteilung würde also bedeuten, dass die Strafbarkeit nicht ge­setzlich, sondern gerichtlich bestimmt werden würde – und dass die Strafbarkeit nicht vor, sondern nach der Tat – nach Schreiben des Artikels – festgelegt werden würde.

Beides würde gegen Normen, die gemeinhin mit dem schillernden Wort „rechtsstaatlich“ bezeichnet werden, verstossen: nulla poena sine lege scripta et stricta (Keine Strafe ohne geschriebenes und ausdrückliches Gesetz / strafrechtliches Analogieverbot) / nulla poena sine lege praevia (Keine Strafe ohne der ‚Tat‘ vorausgegangenem Gesetz)2 – („Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ (Artikel 103 Absatz 2 Grundgesetz; herv. von mir)

Ein Bild als Straftat?

Weiter wurde in dem betreffenden RDL-Artikel ein Foto verwendet, dass die Parole zeigt: „Wir sind alle linksunten.indymedia“. Diese Foto zusam­men mit der Verlinkung des Archivs soll die tendenziöse Schlagseite des Berichts ausmachen (vgl. nd vom 02.05.2023: „Staatsanwalt wittert jour­nalistische ‚Einseitigkeit‘“)

In Wirklichkeit steht aber unter dem Foto: „‚Wir sind alle linksunten‘ – ob dem so ist, war auch ein Streitpunkt auf der Podiumsdiskussion über das Verbot der Internetplattform“.

Wie man daraus eine tendenziöse Schlagseite entnehmen kann, bleibt wohl das Geheimnis der Staatsanwaltschaft Karlsruhe. Im übrigen ist sog. „Tendenzfreiheit“ (was nicht ‚Freiheit von Tendenz‘, sondern die au­tonome [freie] Festlegung der politischen Tendenz von Medien meint3) gerade ein wichtiges und anerkanntes Element von Rundfunk-4 und Pres­sefreiheit5.

Strafbarkeit der Verlinkung des Archivs eines internet-Por­tals, das laut Bundesverwaltungsgericht NICHT verboten ist?

Aber es geht noch weiter: Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe ignoriert, dass das Bundesverwaltungsgericht 2020 (zum 2017 vom Bundesinnen­ministerium verfügten ‚linksunten-Verbot‘) entschieden hat, dass nicht die Medienplattform linksunten das Verbotsobjekt sei, sondern der Be­treiberInnenkreis:

Regelungsgegenstand des Verbotsbescheids ist nicht das Verbot des unter der Internetadresse ‚http://linksunten.indymedia.org‘ betriebenen Veröffentlichungs- und Diskussionsportals, sondern das Verbot des da­hinter stehenden Personenzusammenschlusses ‚linksunten.indymedia‘ als Organisation“ (https://www.bverwg.de/de/290120U6A1.19.0, Textzif­fer 33).

Wer immer dieser Betreiberinnenkreis auch gewesen sein mag – und wie er sich organisiert hatte –, seine geistigen Produkte in Form von im inter­net lesbaren Artikeln unterliegt dem Schutz der für sie einschlägigen Grundrechte aus Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz (Meinungsäußerungs- und Medienfreiheit):

„Eine Meinungsäußerung kann sehr gute Wirkungen haben, kann aber auch alle Rechtsgüter von Staat und Gesellschaft schwer schädigen. So­lange diese Gefährdung nur geistiger Natur ist, indem sie durch un­günstige Beeinflussung der Mentalität der Leser, Hörer oder Beschauer das Vertrauen zu bisher anerkannten Wahrheiten, als feststehend und richtig angenommenen Erkenntnissen oder herrschenden Sittengesetzen irgendwelcher Art erschüttert und dadurch vielleicht geistig den Boden für eine Änderung der bestehenden Anschauungen über Recht und Sitte vorbereitet, soll sie mit Rücksicht auf die guten Wirkungen der freien Meinungsäußerung, ohne die kein menschlicher Fortschritt denkbar ist, in Kauf genommen werden. […] die Freiheit der Meinungsäußerung [hat] vor allen Rechtsgütern solange den Vorrang […], als der Angriff auf sie lediglich mit dem ideellen Mittel sachlicher Überzeugung geschieht, […] umgekehrt [hat aber] jedes Rechtsgut seinerseits vor der Freiheit der Meinungsäußerung Vorrang […], sobald die Meinungsäußerung sich nicht auf ideelle Wirkungen beschränkt, sondern gleichzeitig auch materiell Rechtsgüter verletzt oder unmittelbar gefährdet.“6

Hinzukommt, dass diese Artikel nicht (nur) vom Betreiberinnenkreis ka­men (dies sogar eher selten), sondern überwiegend von den Lesern (open posting Plattform). Das heisst, eine Zurechenbarkeit von Inhalten und HerausgeberInnen dürfte eher schwierig herstellbar sein. Natürlich könnte man sagen, strafbare Inhalte hätten geblockt werden können; aber auch das würde kein generelles „Mediums-Verbot“ rechtfertigen. Überhaupt lässt das Grundgesetz gar keine Mediumsverbote zu (wichtig ist in dem Zusammenhang der Unterschied zwischen präventivem Vor­gehen [Verbot oder Vorab-Kontrolle künftiger Veröffentlichungen = Zen­sur im rechtlichen Sinne] und anlass-bezogenem repressivem Vorgehen nach Erstveröffentlichung gegen einzelne Texte, die z.B. im Falle von Be­leidigungen zulässig ist7):

„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Be­richterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemei­nen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ (Art. 5 GG; herv. von mir)

Eine Zensur findet nicht statt. Punkt. Ein Verbot des künftigen Er­scheinens von linksunten.indymedia würde also das Zensurverbot ver­letzten; das linksunten – mit neuem HerausgeberInnenkreis – trotzdem nicht längst wieder erscheint, ist ein politisches Problem der linken Bewegung(en).

Was nachträgliche Einschränkungen anbelangt, kommen nur nur die sog. „allgemeinen Gesetze“8, die gesetzliche Bestimmungen zum Schutz der Jugend und die persönliche Ehre als Grundlage in Betracht. Das heißt: Es müsste, wenn dann jeder einzelne linksunten-Artikel darauf hin geprüft werden, ob gegen ihn auf der Grundlage der genannten Normen vorge­gangen werden darf. Aber auch daraus ergäbe sich immer noch kein ge­nerelles ‚Mediumsverbot‘.

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Außerdem beziehen sich die Schranken in Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz nur auf die vorstehenden Rechte in Absatz 1, aber nicht auf die erst nachfolgenden Rechte in Absatz 3 (anderenfalls würde der tatsächliche zweite Absatz erst am Ende von Artikel 5 stehen). Die Freiheit der Wissenschaft und Forschung – die kein exklusives ProfessorInnen- oder (etwas allgemeiner) AkademikerInnen-Recht ist – unterliegt den Schranken aus Absatz 2 also nicht. Zur Freiheit von Wissenschaft und Forschung gehört auch der Zugriff auf Archive und „Giftschrank“-Li­teratur sowie die Herausgabe von Quellensammlungen.

„Was die [Nachfolge-]Herausgeber [des Buback-Nachrufes9] getan ha­ben, ist eines, und was sie gewollt haben, ist ein anderes, soweit es von dem, was sie getan haben, abweicht. Was sie getan haben, ist dies: Sie haben Texte verbreitet, die man unzweifelhaft verbreiten darf, weil sie selbst geschichtliche Tatsachen sind – die in diesem Land wenig genug gekannte Geschichte unterliegt nach der Rechtsordnung dieses Landes vorerst noch nicht strafrechtlich bewehrten Geheimhaltungspflichten –“.

(In Sachen „Mescalero“. Plädoyer vor dem Landgericht Bielefeld, in: Demokratie und Recht 1978, 224 – 229 [225])

Auch die bei linksunten.indymedia erschienen Artikel sind keine Staats­geheimnisse, sondern Teile linker Bewegungsgeschichte – daher sei auch an dieser Stelle die URL des Archivs noch einmal genannt:

https://linksunten.indymedia.org/.

AUS ALL DIESEN GRÜNDEN DARF DER RDL-AUTOR NICHT VERUR­TEILT WERDEN!

SOLIDARITÄT ORGANISIEREN!

1 Siehe dort Abschnitt: „BMI: „keine Erkenntnisse über eine Fortführung […] der […] Vereinigung ‚linksunten.indymedia‘“.

2 https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Nulla_poena_sine_lege&oldid=228890530.

3 Es geht also um das Recht zur politischen Bewertung von berichteten Tatsachen ist.

4 „Jedes Rundfunkprogramm wird durch die Auswahl und Gestaltung der Sendungen eine gewisse Tendenz haben, insbesondere soweit es um die Entscheidung darüber geht, was nicht gesendet wer­den soll, was die Hörer nicht zu interessieren braucht, was ohne Schaden für die öffentliche Mei­nungsbildung vernachlässigt werden kann, und wie das Gesendete geformt und gesagt werden soll. Bei solcher Betrachtung wird deutlich, daß für den Rundfunk als einem neben der Presse stehenden, mindestens gleich bedeutsamen, unentbehrlichen modernen Massenkommunikationsmittel und Fak­tor der öffentlichen Meinungsbildung die institutionelle Freiheit nicht weniger wichtig ist als für die Presse. In Art. 5 GG kommt das eindeutig zum Ausdruck, wenn Abs. 1 Satz 2 neben der Pressefreiheit ‚die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film‘ gewährleistet.“ (BVerfGE 12, 205 – 264 [260 f.]; https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv012205.html#260 – zum Adenauer-Projekt „Deutsch­land-Fernsehen-GmbH“)

5 „Wenn sich der Staat […] zu Förderungsmaßnahmen für die Presse entschließt […], verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, daß jede Einflußnahme auf Inhalt und Gestaltung einzelner Presseerzeugnisse so­wie Verzerrungen des publizistischen Wettbewerbs insgesamt vermieden werden. Staatliche Förde­rungen dürfen bestimmte Meinungen oder Tendenzen weder begünstigen noch benachteiligen. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG begründet im Förderungsbereich für den Staat vielmehr eine inhaltliche Neu­tralitätspflicht, die jede Differenzierung nach Meinungsinhalten verbietet.“ (BVerfGE 80, 124 – 137 [133 f.; https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv080124.html#133]; herv. von mir)

„Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muß er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stel­lung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung.“ (BVerfGE 20, 162 – 230 [174 f.; https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv020162.html#174; herv. von mir]. Die zitierte Entscheidung ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Spiegel-Affäre, „bei der sich Mitarbeiter des Nachrichtenmagazins Der Spiegel aufgrund eines Artikels über die Verteidigungsfä­higkeit der Bundesrepublik einem Ermittlungsverfahren wegen möglichen Landesverrats ausgesetzt sahen. Weite Teile der westdeutschen Öffentlichkeit sahen darin einen Versuch, eine missliebige Pu­blikation zum Schweigen zu bringen“ [https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Spiegel-Aff%C3%A4re&oldid=233635058].)

6 Kurt Häntzschel, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hg.), Handbuch des Deutsches Staatsrechts. Zweiter Band, Mohr: Tübingen, 1932, 651 – 675 (660, 661); Hervorhebungen und Normalschrift hier teils abweichend vom Original.

7 Siehe dazu: Warum das Verbot von linksunten.indymedia grundgesetzwidrige Zensur darstellthttps://de.indymedia.org/sites/default/files/2018/10/Unteilbar-Flugi.pdf.

8 Siehe zu diesem umstrittenen Begriff den Anhang 2 des Artikels von Detlef Georgia Schulze bei pu­blikum.net vom 10.05.2023: https://publikum.net/staatsanwaltschaft-karlsruhe-klagt-redakteur-von-radio-dreyeckland-rdl-an-presseschau/ bzw. https://de.indymedia.org/sites/default/files/2023/05/publikum-Pressseschau%20zu%20Anklage.pdf, S. 13 – 15.

9 Siehe zu diesem: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=G%C3%B6ttinger_Mescalero&oldid=231577259.

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Oben           —       Das Grethergelände mit den Räumlichkeiten von Radio Dreyeckland im Erdgeschoss.

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Mai 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

ESC, EVG und Elon Musk: Top oder Flop? Die Züge fahren doch. Die Bahner verzichten auf ihren Streik, Elon Musk will nicht mehr Twitter-Chef sein, aber Robert Habeck will an Patrick Graichen festhalten.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: ESC-Fans sagen: Der deutsche Beitrag.

Und was wird nächste Woche besser?

Selenski sagt: Der deutsche Beitrag.

Die Eisenbahnergewerkschaft EVG wollte ab heute schon wieder streiken – länger als je zuvor in diesem Jahr. Haben wir hier bald Zustände wie in Frankreich?

Dass Züge hier so pünktlich fahren und Lokführer so gut bezahlt werden wie in Frankreich? Keine Angst. Hier konnte das Arbeitsgericht Frankfurt einen Streik abbiegen und die Parteien zum Kompromiss verdonnern. In Frankreich lappen Streiks gern auch über Tarifkonflikte hinaus, das allgemeine Streikrecht ist dort älter als Gewerkschaften und Tarifkämpfe und hat Verfassungsrang. So gab es in Frankreich auch zivilgesellschaftliche Aufstände gegen ruinöse Reformpläne. Die Deutschen bestreiken die Bahn subversiv, indem sie Auto fahren, sinnfrei herumfliegen oder im Zug das Personal anmosern. Da sind wir genügsam, wenn wir ausreichend zu nörgeln haben.

Elon Musk hat seinen Rückzug als Twitter-Chef angekündigt. Wen sähen Sie gerne auf dem Posten?

ZDF-Intendant Norbert Himmler ließ im Februar durchblicken, mit Schweizer, belgischen und kanadischen Partnern an etwas zu arbeiten, das auf gar keinen Fall „öffentlich-rechtliches Twitter“ heißen solle. Aber ein bisschen so sein. Die dunkle Verliebtheit in die dämonische Vaterfigur Musk beschämt gerade auch die klügeren Diskursteilnehmer, da wallt und schwallt der vordemokratische Kindertraum von einer Führerperson, die es richten möge. Bullshit. Twitter ist eine Waffe, ein irrer Narziss wurde damit US-Präsident, und wer es reformieren möchte, liest zum Frühstück auch Traktate der Zeugen Jehovas, wo Lamm und Löwe einträchtig miteinander spielen. Wenn es heute noch eine Begründung für gesellschaftlich kontrollierte Massenmedien gibt, dann ist es die globale Macht „sozialer Netzwerke“. Dagegen ist ein bisschen Parteienspaß im Fernsehrat eher so Schülermitverwaltung. Liest man nach, wer auf Himmlers Idee Hass kübelt, kann sie so schlecht nicht sein.

Die SPD-geführten Länder und der Bund zeigen sich mit dem Ergebnis des Migrationsgipfels der vergangenen Woche zufrieden. Den CDU-geführten Ländern reicht die Finanzspritze nicht. Einig sind sich alle nur, dass der Zuzug nach Deutschland stärker kontrolliert werden soll. Kriegt Europa nun noch mehr Zäune und Mauern?

Kanzler Scholz hat ’ne Milliarde in die Parkuhr geworfen und holt die verfahrene Karre im November ab. Bis dahin folgt die Bundesregierung weiter den Abschottungsplänen der EU, also Abschiebungen, Haft, mehr „sichere Drittstaaten“. Das Ganze steht weiter im Widerspruch zur Hilfsbereitschaft vieler Menschen hier. Wie schon zu Angela Merkels Zeiten fehlt es an Initiative und Ideen des Gesetzgebers, private Hilfe staatlich zu unterstützen. Vulgo: Noch immer kann man einen Dienstporsche leichter steuerlich durchtricksen als, sagen wir mal, einen Syrer.

Robert Habeck will an der Person Graichen festhalten. Ist die Kampagne der Union gegen Habeck und seinen in Verruf geratenen Staatssekretär verlogen?

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>      weiterlesen

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Hoffnung im Südkaukasus

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Mai 2023

Armenien und Aserbaidschan

Ein ESSAY – VON TOBIAS PIETZ

Es könnte das Ende des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan einleiten: Ab Sonntag verhandeln die Staats- und Regierungschefs beider Staaten.

Auf einmal geht alles sehr schnell: Nach den Gesprächen Anfang Mai zwischen den Außenministern aus Armenien und Aserbaidschan in den USA wird ab Sonntag der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, ein Treffen mit dem armenischen Premierminister Nikol Paschinjan und dem aserbaidschanischen Staatspräsidenten Ilham Alijew in Brüssel ausrichten. Es könnte ein zentraler Schritt hin zu einem wirklichen Friedensvertrag noch in diesem Jahr werden.

Am 1. Juni stoßen dann Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron dazu, wenn sich Alijew und Paschinjan wie geplant in Moldau beim Summit der Europäischen Politischen Gemeinschaft erneut treffen. Die EU hat sich seit letztem Jahr in eine überraschend zentrale Position gespielt. Ob beabsichtigt oder nicht, in dieser Position trägt sie aktuell die Hauptverantwortung für eine Annäherung der Konfliktparteien – und wird dieser Verantwortung hoffentlich gerecht.

Wenn man bedenkt, wie viele gefährliche und gewalttätige Zwischenfälle es allein in diesem Jahr bereits auf lokaler Ebene, vor allem im Grenzgebiet der beiden Länder, gegeben hat, ist das eine bemerkenswert positive Entwicklung. Zuletzt wurden am vergangenen Donnerstag bei Schusswechseln mit großkalibrigen Waffen in der Region Sotk ein aserbaidschanischer Soldat getötet und vier armenische Militärangehörige verletzt.

Bereits am 23. April hatte Aserbaidschan einen Kontrollpunkt auf der einzigen Straße errichtet, die die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach in Aserbaidschan mit Armenien verbindet – dem Latschin-Korridor – und ignorierte damit auf eklatante Weise ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs, der Baku aufgefordert hatte, die seit vergangenem Dezember bestehende Blockade der Enklave zu beenden.

Furcht vor neuer Offensive

Schon vor Sperrung des Latschin-Korridors war es Anfang April zu einem Zusammenstoß zwischen armenischen und aserbaidschanischen Einheiten an der Grenze gekommen, bei dem sieben Soldaten zu Tode kamen. Den Ernst der Lage machte auch der deutsche Leiter der EU-Mission in Armenien (EUMA), Markus Ritter, in einem aktuellen Interview mit der Deutschen Welle deutlich: „Viele Armenier glauben, dass es eine Frühjahrsoffensive von Aserbaidschan geben wird. Wenn dies nicht geschieht, ist unsere Mission bereits ein Erfolg.“

Die Beobachtungsmission EUMA besteht, sobald sie voll einsatzfähig ist, aus 100 unbewaffneten Mitarbeiter:innen, von denen etwa 50 als Be­ob­ach­te­r:in­nen tätig sein werden. Baku beschwerte sich mehrfach über die Mission als potenzielles Störelement für den Dialogprozess zwischen den beiden Ländern und hat bis heute auch die Anwesenheit der Be­ob­ach­te­r:in­nen im armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet nicht offiziell akzeptiert.

Armenien hingegen hofft, dass die Mission allein durch ihre Präsenz im Grenzgebiet die Zahl der Zwischenfälle reduzieren und trotz ihrer überschaubaren Größe wie eine Art Schutzschirm wirken könnte. Um weitere Spannungen mit Baku zu vermeiden, informieren die Mission und der EU-Sonderbeauftragte Toivo Klaar Aserbaidschan im voraus über geplante Routen für Beobachtungsfahrten im Grenzgebiet.

Die Beilegung des jahrzehntelangen Konflikts zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan würde weitreichende geopolitische Konsequenzen mit sich bringen. Zur Erinnerung: Im Herbst 2020 eskalierte der Konflikt zum zweiten Karabach-Krieg. Aserbaidschan gelang es, große Teile des zuvor von Armenien besetzten Gebiets zurückzuerobern. In diesem Krieg verloren schätzungsweise 7.000 Soldaten ihr Leben, bis Russland im November 2020 einen Waffenstillstand vermittelte.

Russischer Einfluss geht zurück

Beide Länder vereinbarten, dass ein Kontingent russischer Friedenstruppen den Waffenstillstand in dem Teil Karabachs überwachen sollte, den Aserbaidschan bis dahin nicht zurückerobert hatte. Ein wichtiges Ziel dieser Friedenstruppen war es auch, durch die Kontrolle des Latschin-Korridors zwischen Armenien und Karabach, der wichtigsten Versorgungsroute zwischen der Enklave und Armenien, weitere Eskalationen zu verhindern.

Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine geht die Bedeutung der russischen Friedenstruppen vor Ort zurück. Das birgt die Chance für mehr europäischen Einfluss in der Region. Im März und August 2022 gelang es Aserbaidschan erneut, in begrenztem Umfang zusätzliches Gebiet in Karabach zu gewinnen. Mit dem Angriff auf armenisches Territorium am 13. und 14. September eskalierte der Konflikt weiter.

Noravank panorama.jpg

Mehr als 300 Menschen wurden getötet und etwa 7.600 mussten aus den Regionen Gegharkunik, Vayots Dzor und Syunik fliehen. Armenien wandte sich daraufhin noch im September mit dem Hilferuf an die EU, eine zivile Mission zu entsenden, die die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan überwachen sollte.

Kurz darauf, am Rande des ersten Treffens der Europäischen Politischen Gemeinschaft am 6. Oktober, trafen Präsident Alijew und Premierminister Paschinjan zusammen und bekräftigten nicht nur die Souveränität und territoriale Integrität des jeweils anderen Landes, sondern einigten sich auch auf einen Prozess zur Demarkierung der gemeinsamen Grenze. Eine zweimonatige europäische Beobachtungsmission, die EU Monitoring Capacity (EUMCAP), sollte dies unterstützen.

Gefährliche Mission

Bereits zwei Wochen später trafen 40 Be­ob­ach­te­r:in­nen vor Ort ein. Als EUMCAP am 19. Dezember 2022 endete, hinterließ die EU eine Planungsmission zur Vorbereitung einer dauerhaften zivilen EU-Mission. Die neue EU-Mission in Armenien (EUMA) nahm Ende Februar 2023 in einem im Vergleich zu EUMCAP deutlich erweiterten Einsatzgebiet entlang der gesamten Grenze Armeniens zu Aserbaidschan ihre Arbeit auf.

Neben der Patrouillenarbeit hat sie die Aufgabe, lokale Kommunikationskanäle und Deeskalationsmechanismen zwischen den Konfliktparteien aufzubauen. Außerdem wird sie die Demarkation der Grenze weiterführen und trilaterale Gespräche zwischen der EU, Armenien und Aserbaidschan zur Lösung des Konflikts unterstützen. Die EUMA hat ein Mandat für zwei Jahre und hat ihren Hauptsitz in Yeghegndsor, mit Außenstellen in Kapan, Goris, Jermuk, Martuni und Ijevan.

Russland betrachtet die Mission als Versuch, den russischen Einfluss in der Region zu verdrängen. Tatsächlich ist die russische Präsenz vor Ort bislang noch enorm, denn zusätzlich zu den 2.000 Friedenstruppen in Karabach hat Russland fast 3.000 Militärs und Grenzschutzbeamte des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) in Armenien stationiert, die unter anderem die Staatsgrenze zum Iran kontrollieren.

Quelle         —       TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben        —   Caucasus countries

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Söders Märchenstunde

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Mai 2023

E-Fuels und Kernfusion

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Einen Debattenbeitrag von Ulrike Herrmann

Klimaneutralität über den Preis herzustellen klappt nicht. Auch Kernfusion, Minireaktoren und E-Fuels sind reines Wunschdenken. Markus Söder und der FDP ist das egal.

FDP und Union haben erstaunliche Ansichten, wie sich Klimaschutz umsetzen lässt. So wird immer wieder der Eindruck erweckt, die Kernfusion könne eine Lösung sein. In Bayern ist bekanntlich gerade Wahlkampf, weswegen die CSU sogar eine eigene „Demonstrationsanlage für Kernfusion, beheimatet in Bayern“ bauen will.

Dabei käme die Kernfusion viel zu spät, um das Klima zu retten. Unter den Physikern gehen selbst Hyperoptimisten davon aus, dass die Kernfusion frühestens „in Jahrzehnten“ gelingt. Diese Hyperoptimisten sind übrigens selten. Die meisten Physiker winken ab, wenn sie den Begriff Kernfusion hören. Denn bisher ist es noch nie gelungen, durch Kernfusion Nettoenergie zu gewinnen. Stattdessen war die Fusion bisher ein Verlustgeschäft, weil es sehr viel Energie kostet, Atomkerne zusammenzuzwingen.

Aber selbst wenn die Hyperoptimisten recht hätten, dass die Fusion in ferner Zukunft tatsächlich Energie abwirft: Das deutsche Klimaschutzgesetz sieht vor, dass wir schon 2045 klimaneutral sein müssen, damit wir die gefährlichsten Klimakipppunkte noch vermeiden können. Bis 2045 wird aber garantiert kein einziger Fusionsreaktor stehen.

Ähnlich weltfremd ist eine weitere Idee von Union und FDP: Sie trommeln für eine Renaissance der klassischen Atomenergie per Kernspaltung. CSU-Chef Markus Söder hofft vor allem auf „Minireaktoren“, die er natürlich ebenfalls am liebsten in Bayern erforschen würde. Mini­reaktoren: Dieses Konzept klingt futuristisch, ist aber in Wahrheit uralt. Schon in den 1950er Jahren träumte man vom „Kraftwerk in der Kiste“. Die Kleinreaktoren sollten als Flugzeugantrieb dienen oder als „Babyreaktoren“ Räume heizen. Es kam bekanntlich anders. Diese Art von Minireaktoren wurde nie gebaut, und ein Grund war, dass auch sie strahlenden Atommüll hinterlassen, den niemand in seinem Wohnzimmer oder in der Küche haben wollte.

Errichtet wurden stattdessen Großkraftwerke, die sich besser beherrschen ließen. Aber auch dort kam es zu den sattsam bekannten Problemen: Für den deutschen Atommüll gibt es bisher kein Endlager, und zudem wird der Bau neuer Reaktoren immer teurer.

Das Uran würde nur für 13 Jahre reichen, wenn man den ganzen Globus mit Kernenergie versorgen wollte

Was auch gern übersehen wird: Das Uran würde nur 13 Jahre lang reichen, wenn man den ganzen Globus mit Kernenergie versorgen wollte, um die fossilen Brennstoffe zu ersetzen und weltweit Klimaschutz zu betreiben. Momentan ist die Atomenergie ein Nischenphänomen, das weniger als 5 Prozent des globalen Endenergieverbrauchs abdeckt.

Aber technische oder physikalische Grenzen interessieren FDP und Union nicht, weswegen sie sich auch so sehr für E-Fuels begeistern können. Söder fürchtet um den „Industriestandort Bayern“, wenn es zu einem Verbrenner-Aus kommt. Also sieht er „große Potenziale“ bei den synthetischen Kraftstoffen. Doch leider ist es eine große Energieverschwendung, Ökostrom in E-Fuels umzuwandeln. Der Wirkungsgrad liegt bei ganzen 15 Prozent.

Nun könnte man es als Marotte abtun, dass FDP und Union so hartnäckig auf Kernfusion, Atomkraft oder aber E-Fuels setzen, die unwahrscheinlich, unerheblich oder ineffizient sind. Aber die beiden Parteien praktizieren nur besonders ausgeprägt eine Weltfremdheit, die auch anderswo in der Klimapolitik zu beobachten ist. Dieser Irrtum heißt: CO2-Preis.

Technik wird ignoriert

Auf den ersten Blick wirkt die Idee sehr charmant, Treibhausgase mit einem Preis zu versehen, sodass die „Mechanismen des Marktes“ wirken können. Es fällt gar nicht auf, wie vermessen der Ansatz ist, dass ein einziger Preis die gesamte Klimakrise lösen soll. Denn dahinter steht die Annahme, dass sich die physikalischen Realitäten dem „Markt“ schon fügen werden. Technische Probleme und Grenzen werden ignoriert. Die Vermutung ist, dass der Preis alle relevanten Informationen enthält und alles steuern kann. Damit agieren die Volkswirte, als wären sie Gott. Gott soll die Welt erschaffen haben, und ein ähnliches Wunder wollen die Ökonomen nun auch vollbringen. Sie setzen einen Preis – und schon soll sehr bald die Klimaneutralität kommen. Ähnlich wahrscheinlich sind Engel.

Aber von vorn: Wenn wir bis 2045 klimaneu­tral sein wollen, muss es jetzt sehr schnell gehen. Der CO2-Preis müsste in extrem kurzer Zeit rasant steigen, damit 2045 niemand mehr auf die Idee kommt, Gas, Kohle oder Öl zu verbrennen. Ein derartiger Ausstieg aus den fossilen Energieträgern wäre problemlos, wenn genug Ökostrom zur Verfügung stehen würde, der relativ günstig hergestellt werden kann. Wenn jedoch grüne Energie fehlt, wird der Ausstieg brutal.

Die zentralen Fragen sind also technisch, nicht ökonomisch. Um nur einige aufzuzählen: Wie viel Ökoenergie kann man in Deutschland maximal erzeugen? Wie stark kann die Effizienz von Batterien oder Windrädern bis 2045 zunehmen? Was kann die Industrie an Rohstoffen und Energie einsparen? Wie aufwendig wäre der Import von Ökoenergie, die in der Sahara hergestellt wird?

Quelle         :      TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld, zwischen den Kühltürmen die Betonkuppel mit dem Kernreaktor

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Drei Jahre Corona :

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Mai 2023

Die Illusion der Normalität

Vor einem Monat ist sie gefallen, eine der letzten verbliebenen bundesweit geltende Coronaschutzmaßnahme: Seit dem 2. Februar sind die Masken nun auch in Bussen und Bahnen des Fernverkehrs nicht mehr vorgeschrieben. Schon zuvor hatte unter anderem Bayern die Maskenpflicht im alltäglichen Verkehrsgedränge ausgerechnet zur Hochzeit auch anderer Erkältungskrankheiten aufgehoben – und war damit einmal mehr zum Vorreiter und Drängler einer unsteten Coronapolitik geworden: Während Markus Söder zu Beginn der Pandemie als Kapitän des „Teams Vorsicht“ umfassende Eindämmungsregelungen forcierte, geriert er sich seit geraumer Zeit als die Speerspitze des „Teams Freiheit“, das das Ende der Pandemie und eine Rückkehr zur alten, vorpandemischen „Normalität“ fordert.

Damit aber trägt der bayrische Ministerpräsident zu einer fatalen Schlagseite in der hiesigen Debatte über die Pandemiebekämpfung bei: Immer lauter werden jene Stimmen, die die politischen Maßnahmen zur Coronaeindämmung als völlig überzogen oder gänzlich unnötig darstellen. Derweil sich immer mehr politische Entscheidungsträger Asche aufs Haupt streuen, kommt in der medialen Diskussion eines entschieden zu kurz, nämlich eine wirkliche Bestandsaufnahme, wo wir heute stehen – und womit wir weiter rechnen müssen – nach der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, die nur deshalb in den vergangenen zwölf Monaten in den Hintergrund getreten ist, weil wir es seit einem Jahr mit dem Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine mit einer noch größeren, die Grundfesten der europäischen Nachkriegsordnung infrage stellenden Herausforderung zu tun haben.

Dabei kann zum dritten Jahrestag des ersten „Lockdowns“ hierzulande, der im Vergleich mit anderen Ländern nur ein halber war, noch immer nicht davon die Rede sein, dass das Virus seinen Schrecken vollständig verloren hätte: Auch jetzt sterben allein in Deutschland täglich um die 100 Menschen an dessen Folgen und in den Krankenhäusern wächst erneut die Zahl der Infizierten – auch wenn viele wegen anderer Indikationen dort landen. Doch weil sie dann – aus gutem Grund – noch immer isoliert werden, erhöht die Infektion den Aufwand für Krankenpfleger und Ärztinnen erheblich. An deren unzureichender Personaldecke hat nämlich auch das anfängliche Klatschen vom Balkon – zum Dank für ihren selbstlosen, viel zu lange schlecht geschützten Einsatz – bis heute nichts geändert.[1]

Long Covid in den Blick nehmen

Hinzu kommt aber ein mindestens ebenso wichtiger Punkt: Noch immer wissen wir viel zu wenig über die Folgeschäden, die das Virus im Körper anrichten kann. Dabei gibt schon das, was bislang bekannt ist, ausreichend Grund zur Sorge. Inzwischen ist weniger die akute Krankenlast das Problem, sondern vielmehr das, was noch auf uns zukommt – und zwar in Form von Langzeitschäden auf die Betroffenen, aber auch auf die Gesellschaft insgesamt: Bislang haben die Unfallkassen und Berufsgenossenschaften zum Stichtag 31. Januar 2023 mehr als 310 000 Covid-Erkrankungen als Berufskrankheit anerkannt – und allein 2021 erkannten sie insgesamt dreimal so viele Berufskrankheiten an wie noch im Vorjahr. Die Zunahme geht fast ausschließlich auf Infektionskrankheiten, also insbesondere Coronainfektionen, zurück.[2] Nun ist mit einer Anerkennung als Berufskrankheit zwar nicht gesagt, dass alle Betroffenen dauerhaft beeinträchtigt sind – und schon gar nicht, dass sie im Falle dessen auf einen Rentenanspruch und ausreichende Unterstützung zählen können. Doch allein der enorme Anstieg an Anträgen und Bewilligungen zeigt, wie viele Krankenschicksale sich dahinter verbergen und vor welcher Herausforderung unsere Sozialsysteme in Bälde stehen könnten, sollte auch nur ein Teil derjenigen fortwährend nur eingeschränkt oder gar nicht arbeiten können, die ihre Infektion als Berufskrankheit anerkennen lassen konnten.

Denn unter anhaltenden Beschwerden nach einer Covid-Infektion leiden nach bisherigen Schätzungen mindestens bis zu sechs Prozent der Infizierten, bei Hospitalisierten sogar bis zu über 40 Prozent.[3] Dabei kommt es zu verschiedenen Formen der Beeinträchtigung. Zum einen zu chronischer Erschöpfung, dem sogenannten Fatigue-Syndrom. Dabei leiden die Betroffenen bereits nach geringer körperlicher Anstrengung wie Zähneputzen oder selbst nach einem Telefonat mit Freunden unter schwerer körperlicher Schwäche. Von einer Teilnahme am „normalen“ Leben sind sie völlig ausgeschlossen, Arbeit oder Schule lassen sich nicht bewältigen.[4] Diese Folge einer Coronainfektion brachte – immerhin – die bislang viel zu wenig beachtete Erkrankung ME/CFS[5] etwas mehr ins öffentliche Bewusstsein. Von dieser waren schon vor Corona hierzulande bis zu 250 000 Menschen, darunter 40 000 Kinder und Jugendliche, betroffen. Und doch mangelt es aufgrund unzureichender Forschung und Aufklärung an hilfreichen Behandlungsempfehlungen, Medikamenten und nicht zuletzt an Wissen auch beim medizinischen Fachpersonal. Viel zu oft werden die Erkrankten mit ihren Beschwerden noch immer nicht ernst genommen, ihre Einschränkungen als psychosomatisch abgetan oder sie in Reha-Maßnahmen zu körperlicher Ertüchtigung aufgefordert, obwohl in ihrem Fall das sogenannte Pacing[6] ein weit erfolgversprechenderer Ansatz ist: der schonende Umgang mit den eigenen Energieressourcen und die Schulung im Erkennen der eigenen Grenzen.

Neben der Fatigue treten unter den Long-Covid-Patienten oft Einschränkungen der Lunge wie Kurzatmigkeit und anhaltender Husten auf. Andere leiden unter neurologischen Beeinträchtigungen wie Kopf- und Muskelschmerzen, Geruchs- und Geschmacksverlust oder unter Beschwerden wie Konzentrationsstörungen und gedrückter Stimmung. Zudem zeigen immer mehr Untersuchungen, dass das Coronavirus Gefäße im Körper weit über die Lunge hinaus angreift, weshalb etwa Herzbeschwerden und Herzinfarkte selbst lange nach einer Coronainfektion auftreten können.

Quelle       :        Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Informationen anmeldenCoesfelderStraße mit Bezug auf die COVID-19-Regulierung auf dem Wochenmarkt inDülmenNordrhein-WestfalenDeutschland

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Kolumne-Fernsicht-Israel

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Mai 2023

Klassenfahrt zu Denkmälern für Antisemiten

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Von Hagai Dagan

Polen und Israel sind vor nicht allzu langer Zeit über ein Abkommen einig geworden, das die Besuche jugendlicher israelischer Delegationen in Polen regelt und einen jahrelangen diplomatischen Streit beendet.

Die Besuche in den Konzentrationslagern sind ein Erziehungsritual und aus dem Curriculum staatlicher israelischer Schulen nicht wegzudenken. Tatsächlich aber sind sie umstritten.

Die Rechte und die politische Mitte Israels tendieren dahin, sie als pädagogische Notwendigkeit zu betrachten, während die Linke eher auf Distanz geht und sie als nationalistische Indoktrination ablehnt. Linke Lehrkräfte protestieren dagegen, dass die Schoah eine so zen­trale Rolle für die israelischen Identität spielt. Stattdessen müsse man sie als universales Phänomen betrachten.

Die Polen wiederum stören sich an der Tatsache, dass sie auf diesen Reisen oft in eine Reihe mit Antisemiten und Nazikollaborateuren gestellt werden. Die polnische Regierungspartei PiS versucht nun ein neues historisches Narrativ zu erstellen. Man könnte das Geschichtsbeschönigung nennen. Die neue Version stellt den polnischen Widerstand gegen die Nazis, den es in der Tat gab, in den Mittelpunkt und strebt gleichzeitig danach, die in der polnischen Bevölkerung damals durchaus vorhandene Kollaboration zu vertuschen. Dieses Narrativ stellt die Polen als zweifache Opfer dar: der Nazibesatzung und der sowjetischen Besatzung.

Diese Haltung spiegelt sich in gewisser Weise auch in der Wiedergutmachungsforderung Polens an Deutschland wider. Man ist Opfer – nicht Täter. Das ist insofern bemerkenswert, dass, auch wenn dieses Narrativ zum Teil unwahr ist, es doch die Einsicht signalisiert, dass die heutige Norm eine Distanzierung von jeglichem Antisemitismus erforderlich macht. Antisemitismus und Fremdenhass sind nicht mehr gesellschaftsfähig.

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Die europäische Rechte entwickelte über die Jahre eine gespaltene Identität. Sei ein Fremdenhasser daheim, aber ein bisschen weniger fremdenfeindlich, wenn du in die Öffentlichkeit gehst. Dieser heuchlerische Liberalismus löscht die Xenophobie nicht aus, aber es besteht doch ein Konsens darüber, dass die „Wahrheit“ verheimlicht werden muss. Die neue Rechte sagt nicht mehr: „Gut, dass die Juden vernichtet wurden“, sondern sie hält sich an die Version, dass es gar keinen Holocaust gegeben hat.

Auch die israelische Rechte befindet sich in einem Dilemma. Traditionell tendierte sie dazu, den Antisemitismus als Hauptmerkmal für Nichtjuden zu betrachten und beharrte darauf, dass die ganze Welt gegen uns ist. Wir sind die ewigen Opfer, deshalb müssen wir stark sein und erbarmungslos. Auf der anderen Seite empfindet die israelische Rechte in ihrer aktuellen Version eine Nähe zur europäischen Rechten und identifiziert sich mit ihrem Fremdenhass, vor allem mit der Islamophobie.

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Mai 2023

Enteignet die Putin-Versteher von der „Berliner Zeitung“!

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Zum „Tag des Sieges“ war in der russischen Botschaft allerlei illustres Publikum geladen. Mit dabei: Der Verleger der „Berliner Zeitung“ Holger Friedrich.

„Kein Witz: Ein Ex-Kanzler, ein Honecker-Nachfolger, ein Linken- und ein AfD-Politiker treffen sich zum Feiern in der russischen Botschaft“.

So titelte der Tagesspiegel über das bizarre Treffen der Putin-Versteher und angeblichen Dialog-Offenhalter von Gerhard Schröder bis Egon Krenz am Dienstag in der Berliner Vertretung Russlands. Das Lachen bleibt auch medial im Halse stecken.

Denn wer da mit Botschafter Sergei Jurjewitsch Ne­tscha­jew plauderte, war niemand Geringeres als Holger Friedrich, der Verleger und Inhaber der Berliner Zeitung (BLZ). Im Schlepptau hatte er seinen Mann für solche Fälle, BLZ-Herausgeber Michael Maier.

Der Herausgeber verfasste auch gleich nach dem Empfang einen Beitrag fürs Blatt beziehungsweise dessen Website. Und der enthält eine so klare Botschaft, dass sich Maier nicht mal herausreden kann, er habe das diplomatisch und damit nicht so direkt aufgeschrieben.

Die Botschaft ist eindeutig Pro-Putin und sehr undifferenziert. „Der Botschafter überreichte mehreren Veteranen persönliche Briefe des russischen Präsidenten Wladimir Putin als Zeichen der Anerkennung für ihren persönlichen Beitrag im Kampf gegen den Nationalsozialismus“, steht da.

Fragwürdigen Aussagen

Auch dass AfD-Chef Tino Chrupalla sogar ein Geschenk dabei hatte, wird von Maier beflissen notiert. „Wie konnte ein einstiger Stern-Chefredakteur bloß so abdriften?“, fragt die Mitbewohnerin.

Auch die Ukraine kommt zur Sprache. „Die westlichen Botschafter nahmen am Empfang aus Protest gegen die russische Invasion in der Ukrai­ne nicht teil.“ Krieg, Maier, in der Ukrai­ne ist Krieg, seit 15 schrecklichen Monaten! Aber Putins Propaganda hat ja die Nutzung des K-Worts verboten. Und der Herausgeber der BLZ hält sich dran. Sein Verleger stand ja daneben.

Dass die BLZ am Tag danach mit einem Online-Update etwas zurückruderte, ändert nichts am Befund. Friedrich hat bekanntermaßen ohnehin ein befremdliches Verständnis von Journalismus. Vor drei Wochen lieferte er Julian Reichelt ans Messer. Der ehemalige Bild-Chef hatte sich mit Material aus dem Springer-Vorstand an die BLZ gewandt. Und Friedrich ihn höchstpersönlich bei Springer verpfiffen.

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Klimavolksentscheid Berlin

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Mai 2023

Besser zielen fürs Klima

Ein Debattenbeitrag von Heinrich Strößenreuther

Genauer kommunizieren, auch auf dem Land präsent sein: Was sich aus dem verlorenen Quorum des Berliner Klimavolksentscheids lernen lässt.

Die 105.425 Unterschriften für den „Volksentscheid Fahrrad“ und für „Changing Cities“ lösten im Juni 2016 einen verkehrspolitischen Tsunami aus. Mittlerweile haben wir in Berlin ein Mobilitätsgesetz, über 50 Bürgerentscheide zum Radverkehr in der gesamten Republik, einige davon auf Landesebene. Radverkehrspolitik ist zur Pflichtaufgabe geworden auf Bund-, Länder- und Gemeindeebene und in den kommunalen Spitzenverbänden.

Berlin in einem Jahrzehnt fossilfrei machen: Diese Erwartungshaltung gäbe es ohne die Initiative nicht

Was, so fragte ich mich, würde passieren, wenn wir das Gleiche mit einem versierten Supportteam nochmal machen – mit der Klimapolitik? Mit meiner Gründung von „GermanZero“ gelang genau das: Mittlerweile sind 100 Klimaentscheide-Teams unterwegs, in 40 Kommunen gibt es bindende Beschlüsse, bis spätestens 2035 klimaneutral zu werden.

Nummer 4 dieser Klimaentscheide war die Initiative „Klimaneustart“, die im Mai 2020 startete. Mit vier Jahren Dauerkampagne und fünf Mobilisierungsphasen war sie fünfmal erfolgreich: Klimanotstand 2019, Klimabürgerrat 2021, Antrag auf Volksbegehren 2022, Volksbegehren 2022 und zuletzt der Klimavolksentscheid in Berlin mit 51 Prozent Jastimmen. Das war und ist eine Spitzenleistung bürgerlicher Mobilisierung.

Durch die Sabotage der damals noch Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey, die Volksabstimmung bewusst nicht auf den Wahltag zu legen, ist der Volksentscheid erwartungsgemäß am Quorum gescheitert. Was bleibt – und deshalb lohnt sich jeder Bürgerentscheid –, ist das große Stadtgespräch über den weiteren politischen Kurs. Diesen Druck und die Erwartungshaltung gäbe es ohne die Initiative nicht. In dieser Pflicht werden CDU und SPD stehen: Berlin in einem Jahrzehnt fossilfrei machen.

Lernen lässt sich aus dem verlorenen Quorum und den hohen Neinstimmen-Anteilen für weitere Bürgerentscheide dennoch einiges: Erstens: Beim politischen Angebot, das Klimaschutzgesetz bereits auf 2030 klimaneutral auszurichten, wurde ein Wagnis eingegangen. Ein Volksentscheid muss aus der Mitte der Bevölkerung gewonnen werden können, es muss zu einem guten politischen Common Sense passen. 49 Prozent Neinstimmen waren nicht gegen Klimaschutz, aber gegen eine Berlin überfordernde Geschwindigkeit. Deshalb: Besser zielen, an den richtigen Stellen die richtigen Fachleute reinholen und die Kompetenz einbinden, die längst vorhanden ist.

Zweitens: Medial fehlte die fundierte Gegenantwort auf die Nichtmachbarkeits-Diskussionen. Ein Masterplan für 2030 Zero fehlte in der Diskussion, die Kritiker hatten leichtes Spiel und die Gelegenheit, die vielen Neinstimmen fachlich zu unterfüttern. Ein Berlin mit ausreichend Solar- und Windstrom durch Solardächer, Wind- und Solarparks im Land oder in Partnerschaft mit Brandenburg wäre bis 2030 machbar, der Wärmebereich und der Verkehrsbereich etwas später. Mit Recherche, Expertise, Dialogveranstaltungen oder eigenen Interviewpartnern für die Medien lässt sich gegen die Kritik gewinnen.

Drittens: Die Klimabewegung versagt darin, außerhalb der großen Städte Menschen für gute Klimapolitik zu gewinnen. Die Engagierten sind überwiegend urban, in den Außenbezirken melden sich wenig Freiwillige. Diese unabsichtliche, aber fehlende geografische Inklusion führt zu einer monothematisch urbanen Klimapolitik – und zur Blindheit zu den Stimmungen in den Außenbezirken. Deshalb: Systematischer betrachten, wo welche Menschen gewonnen werden müssen, sie verstehen und mit gezieltem Organizing in den Außenbezirken mehr Rückhalt entwickeln.

Viertens: Wir als Klimabewegung haben es nicht verstanden, für unser Anliegen, die Maßnahmen und die Verbesserungen zu werben. Jeden Grunewäldler kann man nachdenklich machen, weil das Bewässern der Rasenflächen in wenigen Jahren vielleicht schon verboten wird. Jedem Autopendler hätte man mit „Geiz ist geil“-Parolen die Kostenvorteile des E-Auto-Fahrens näherbringen können. Den knapp 200.000 Einfamilienhausbesitzern hätte man vorrechnen können, wie viel billiger und sicherer die Strom- und Wärmeversorgung via Solar auf dem Dach und Wärmepumpe im Garten wird. Deshalb: Zielgruppen genauer definieren und mit Fakten und Argumenten aus deren Sicht werben.

Auch mal im Sprachjargon von CDU und FDP kommunizieren

Fünftens: Die Klimabewegung war mal wieder vergnügt in der rot-grünen Bubble unterwegs, mit all ihren Insignien vom Fahrrad über Kleidung und Wortwahl. Es wurde nicht verstanden, auch einmal aus Sicht der Nicht-Grünen-Perspektive zu werben, im Partei- und Sprachjargon von CDU oder FDP zu kommunizieren. Klima bleibt damit die Aufgabe der „anderen“ – und wird eben nicht breit getragen, wie es ein erfolgreicher Volksentscheid erfordert. Warum sollten dann auch CDU oder FDP für mehr wirksame Klimapolitik bei ihren Wählern werben, wenn es auf den Markenkern der Grünen einzahlt? Deshalb: Bewusst parteiübergreifend, inklusiver, aber auch parteifokussierter kommunizieren, Türen auf- und nicht zumachen, in Parteien eintreten.

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>     weiterlesen

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Oben      —     Photo of waste mismanagement in Ogun state, Nigeria (Mülldeponie in Nigeria)

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Die Genfer Konvention

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Mai 2023

Der Traum gigantischer Flüchtlingslager an der EU-Aussengrenze

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Heribert Prantl /   

Wohlfahrts- und Flüchtlingsorganisationen, die sich an die Genfer Konvention halten, können nicht mehr auf die Grünen zählen.

Ein Traum geht in Erfüllung. Es war und ist der Traum von sehr konservativen Bundesinnenministern seit vielen Jahrzehnten. Es war schon der Traum des CSU-Haudegen Friedrich Zimmermann, der vor vierzig Jahren Bundesinnenminister war. Es war dann der Traum von Manfred Kanther, der vor dreissig Jahren CDU-Bundesinnenminister war. Es war schliesslich der Traum des Sozialdemokraten Otto Schily, der Kanther martialisch nachfolgte. Und es war zuletzt der Traum des christsozialen Innenministers Horst Seehofer, als 2015 viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Jetzt ist es der Traum der amtierenden Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD.

Dieser Traum besteht darin, die Flüchtlinge schon an den Aussengrenzen der Europäischen Union aufzuhalten, sie in gigantischen Lagern festzusetzen und dort eine schnelle, kursorische Asylprüfung durchzuführen – eine Prüfung nach dem Aschenputtel-Prinzip: Die Guten, möglichst wenige, dürfen dann rein; die Schlechten, möglichst viele, sollen draussen bleiben. Es ist dies ein Teil der Hotspot-und Abschreckungs-Konzepte, die in der Europäischen Union seit einiger Zeit diskutiert und intensiv vorbereitet werden. Die Hotspots sind Freiluftgefängnisse, wie man sie von den griechischen Inseln Kos oder Lesbos kennt.

Zum Traum von den Flüchtlingslagern an den Rändern Europas gehört auch die perfid-rabiate Ausweitung des Konzepts der sicheren Drittstaaten: Flüchtlinge, die an der EU-Aussengrenze aufgehalten werden, sollen in irgendwelche Staaten in Afrika oder sonst wohin verfrachtet werden; Staaten wie Ruanda, Senegal oder Tunesien sind da im Gespräch; sie sollen Geld dafür erhalten, dass sie bei der sogenannten «Auslagerung des Flüchtlingsschutzes» mitmachen.

Auslagerung des Flüchtlingsschutzes

Die deutsche Bundesregierung ist dabei, auf dieses Konzept einzuschwenken. Es sei, so schwärmt die amtierende SPD-Innenministerin, das «Momentum» dafür da. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien steht das noch etwas anders. Da wird allerlei Menschen- und Flüchtlingsfreundliches geschrieben und angekündigt, dass die neue Bundesregierung am «Konzept der AnKER-Zentren zur Unterbringung der Asylantragstellenden … nicht festhält».  Das geschah deswegen so, weil die Grünen damals darauf beharrten (und weil der damalige SPD-Verhandler Boris Pistorius dem Flüchtlingsschutz zugeneigt war). Diese AnKER-Zentren waren von der Regierung Merkel und CSU-Innenminister Seehofer eingeführt worden; es handelt sich um Zentren «für Ankunft, Entscheidung, Rückführung». Jetzt soll dieses Konzept verschärft und an den Aussengrenzen im ganz grossen Stil praktiziert werden.

Der Alptraum von Pro Asyl und Flüchtlingsorganisationen

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Die Grünen, zu deren DNA der Schutz von Flüchtlingen seit jeher gehörte, sind unter dem Druck ihrer Kommunalpolitiker offenbar bereit zum Nachgeben: Der Flüchtlingsschutz bei den Grünen wackelt heftig. Das ist das Momentum. Es ist dies der Alptraum von Pro Asyl und vielen Wohlfahrts- und Flüchtlingsorganisationen, die die Genfer Flüchtlingskonvention hochhalten und sich um Flüchtlinge kümmern. Sie hatten bisher politische und parlamentarische Unterstützung bei den Grünen. Früher haben diese für Flüchtlingsschutz demonstriert. Sie müssten jetzt eigentlich gegen sich selbst demonstrieren. Wäre die Partei noch wie früher, dann würden sie das «Momentum» bekämpfen und sich vor dem Innenministerium festkleben. Sie kleben lieber an der Macht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien am 7. Mai 2023 als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.

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Oben      —   Nachtbetrieb im Erstaufnahmezentrum Simbach am Inn, 24. Oktober 2015

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Mai 2023

Streiken und Kleben: Fahrerflucht nach vorn

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KOLUMNE VON LUKAS WALLRAFF

Diese Woche wurde aus guten und schlechten Gründen gestreikt. Derjenige, der nach zwei verpatzten Wahlgängen hätte streiken sollen, hat’s nicht getan.

Das war knapp. Fast wäre diese Kolumne diese Woche ausgefallen. Denn es war ja LKW-Streik. Endlich hatte ich auch mal einen Anlass, meine dienstlichen Verpflichtungen ruhen zu lassen. Ich weiß zwar nicht, ob mein Namenskürzel als Streikbegründung arbeitsrechtlich durchgehen würde. Auch der Verweis darauf, dass ich als Student für die Firma Schlund & Ruppert Klopapier ausgefahren habe, würde vermutlich als verjährt abgetan. Eine larmoyante Klage über das taz-Gehalt zöge kaum, denn im Vergleich zu den georgischen und usbekischen Langstreckenfahrern, die an einer Autobahn in Hessen gegen ihre Ausbeutung durch eine polnische Spedition protestierten, geht es uns bestens.

Aber am Ende ist alles glimpflich ausgegangen. Die LKW-Fahrer erhielten doch noch ihren Lohn, um den man sie betrügen wollte. Auch wenn das nur geschah, um eine besonders lukrative Lieferung in die Schweiz zu sichern, sind die Trucker die Gewinner dieser Woche. Sie bewiesen Mut, bekamen recht und endlich mediales Interesse für ihre katastrophalen Jobbedingungen. Also beendeten sie ihren Streik und ich natürlich auch.

Dafür gab es in Berlin Blockaden auf den Straßen. Und ich gebe zu: Nicht nur als persönlich betroffener LKW bin ich von der Letzten Generation genervt, die jetzt versucht, die Hauptstadt lahmzukleben, sosehr ich versuche, diese Protestform zu verstehen. Wirklich. Aber ich begreife einfach nicht, was die destruktive Behinderung von Autofahrern bringen soll, die ja nicht nur Porsche-Fahrer beim Rasen ohne Tempolimit trifft, sondern auch prekär bezahlte Berufstätige, Krankenwagen oder ­soccer moms und dads, die ihre Kinder zum Auswärtsspiel in umliegende Dörfer bringen, wohin nur einmal am Tag ein Bus fährt. Es scheint mir taktisch ungeschickt zu sein, eine Mehrheit gegen sich aufzubringen, die man bei den nächsten Wahlen eigentlich bräuchte, um klimapolitisch voranzukommen.

Aufmerksamkeit ist auch kein Selbstzweck. Dass es den Klimawandel gibt, weiß inzwischen jedes Kind und jeder Opa. Nur wenige leugnen ihn noch. 80 Prozent sind für mehr Klimaschutz. Nicht das Ziel ist strittig, sondern der Weg, der möglichst gerecht gestaltet werden sollte. Wie kompliziert das ist, zeigt sich beim geplanten Heizungsaustausch. Die Blockierenden signalisieren mit ihren immer gleichen Klebemitteln jedoch vor allem: Ihr checkt es nicht. Wir müssen euch nerven. Denn ihr seid zu blöd, die Dringlichkeit der Klimakatastrophe zu kapieren. Das mag auch bei mir zutreffen, aber eine Beleidigung ist selten ein guter Anfang für ein Erfolg versprechendes Gespräch, das in einer Demokratie nötig wäre. Sie hilft eher den fossilen Hardlinern, die mit vollkommen übertriebener Härte auf die Proteste reagieren.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Intransparente Demokratie

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Mai 2023

Kritik am Weltdachverband der Journalisten

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Von Caspar Staller

Der Deutsche Journalistenverband (DJV) steigt aus dem Weltdachverband der Journalisten aus. Letzterem wird Korruption vorgeworfen.

Der Deutsche Journalisten Verband hat seine Mitgliedschaft in der Internationalen Journalisten-Föderation gekündigt. Das gab der DJV in einer Pressemitteilung von Montag bekannt. Die wichtigsten Gründe für den Schritt seien „Intransparenz“ und „undemokratisches Verhalten“, heißt es darin. Damit wird der DJV in sechs Monaten aus dem journalistischen Weltdachverband aussteigen, in dem Organisationen aus fast allen Ländern der Welt dabei sind.

Nur fast alle Länder der Welt. Der DJV ist nicht das erste Mitglied, das dem IFJ den Rücken kehrt. Bereits im Januar beschlossen die Journalistenverbände Finnlands, Norwegens, Dänemarks und Islands, ihre Mitgliedschaft im IFJ aufzugeben. Die nordischen Verbände warfen dem IFJ „korrupte Aktivitäten“, undemokratische Praktiken und unethisches Finanzgebaren vor.

Konkret wehrten sie sich dagegen, dass russische Journalisten weiterhin Mitglied im IFJ sein konnten, obwohl deren Verbände nicht unabhängig seien und in von Russland besetzen Gebieten in der Ukraine eigenen Journalistenverbände aufgebaut hätten.

Bei einem Kongress in Oman soll es zu finanziellen Unstimmigkeiten gekommen sein. Der Kongress wurde großteils von der Regierung Omans und örtlichen Unternehmen finanziert, obwohl die Presse im Land am Persischen Golf als unfrei gilt.

Die Gründe für den Austritt des DJV sind ähnlich gelagert, sagt Hendrik Zörner, Pressereferent des DJV, der taz. „Wir kritisieren seit vielen Jahren den Mangel an Transparenz, daran hat sich nichts geändert.“

Es gebe keine nachvollziehbaren Informationen über die Verwendung von Mitteln, die der Dachverband von seinen Mitgliedsverbänden überwiesen bekomme. Das sei eigentlich eine normale Rechenschaft, die der DJV den eigenen Mitgliedern schulde und in Form eines Finanzberichts jährlich den Delegierten des DJV-Verbandstags auch vorlege.

Internationale Zusammenarbeit weiterhin wichtig

Die Russische Journalistenunion wurde im Februar aus dem IFJ ausgeschlossen. Doch Zörner kritisiert, dass erst die Austritte der nordischen Kollegen den Dachverband dazu bewegt habe. „Erst nach diesen Austritten sah sich der IFJ bemüßigt, Konsequenzen zu ziehen. Wir wollten das schon früher, weil es in Russland keine freien Medien gibt und diese Organisation eine staatlich gelenkte Organisation ist.“

Was das Fass zum Überlauf gebracht habe, sei das undemokratische Gebaren am jüngsten Kongress in Athen gewesen: Da hätte der DJV-Vertreter keine schriftlichen Anträge stellen können – „ohne Angabe von Gründen“. Dem DJV sei die internationale Zusammenarbeit aber weiterhin wichtig, die man nun im europäischen Verband weiterverfolgen werden.

Wer weiterhin im IFJ verbleibt, ist die Deutsche Journalisten Union (DJU) von Verdi. Matthias von Fintel, Bereichsleiter Medien und Publizistik sagte der taz: „Wir können die Gründe für den Austritt nicht nachvollziehen.“ Die Kritik an den Beratungen in Athen seien so nicht stichhaltig. Auch die Vorwürfe der finanziellen Intransparenz teilt die DJU nicht. Themen spreche man lieber „intern“ an.

Quelle     :       TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Oben     —   Stelle in Moskau

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Putinscher Imperialismus

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Mai 2023

Warum die Linke die Ukraine unterstützen muss

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Warten auf Godot ?

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Mai 2023

Die neue „Nationale Sicherheitsstrategie“ Deutschlands

Quelle       :        Scharf  —  Links

Debattenbeitrag von Karl-Heinz Goll

1. Einleitung

Die neue „Nationale Sicherheitsstrategie“ sollte als das „oberste sicherheitspolitische Dachdoku­ment“ [1] laut Koalitionsvertrag der Ampelkoalition eigentlich noch Ende 2022 präsentiert werden, danach noch rechtzeitig zur Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023. Bislang wurde aber immer noch nichts draus. Es gab zwar einen Entwurf des Außenministeriums von ein paar Dutzend Seiten [2], aber keine Einigkeit in der Regierung.

Auch Anfang Mai 23 fehlt eine genaue Ansage. Woran hapert es? – Nachfolgend der Versuch einer Antwort, deren Punkte nach wie vor gelten, auch wenn das „Dachdokument“ tatsächlich erschei­nen sollte.

Die Ampelregierung steht nicht erst seit der „Zeitenwende“ vor einem wahrhaft gordischen Knoten an Strategie-Fragen und Problemen, dem aber im Gegensatz zur antiken Sage offenbar kein Alexander beikommen kann.

2. „Kompetenzgerangel“

Um die Federführung rangeln das Außenministerium mit dem Kanzleramt, hinzu kommen die Bun­desländer, die in Sachen „Innere Sicherheit“ mitmischen wollen. Kennzeichnend für die konforme Medienwelt ist, dass zu den inhaltlichen Gründen des Gerangels weitestgehend Schweigen herrscht.

Das Außenministerium unter Baerbock – wie das gesamte grüne Spitzenpersonal verfolgen eng im Sinne einer Einflussagentur des US-Neokonservatismus mit einer doppel-moralischen „werte- und regelba­sierten“ Rhetorik, gar einer „feministischen Außenpolitik“ eine aggressive Linie be­sonders gegen Russland und China – die Welt belehrend, selbstschädigend, d.h. bedingungslos gleichge­stimmt mit den USA ohne Rücksicht auf europäische oder deutsche (imperialistische) Eigeninteres­sen.

Das Kanzleramt, zwar ebenfalls der deutschen Vasallentreue gegenüber den USA und der NATO „verpflichtet“, muss offenbar in diesem Rahmen mehr den deutschen Eigeninteressen und den in­nereuropäischen Konkurrenten wie internationalen Partnern Rechnung tragen. Hierbei sollen ent­gegen der Einseitigkeit des Außenministeriums etwas mehr Hintertüren offen bleiben in Richtung der „mul­tipolaren“ (genauer: multi-imperialistischen) Welt der BRICS-Staaten wie deren diversen Kan­didaten und der „Shanghai Co­operation Or­ganisation“, die sich um einen Abschied von der US-Welt­herrschaft, um eine „De-Dollarisierung“ und Schaffung einer neuen multipolaren Währung be­mühen.

Zudem müssen wi­dersprüchliche Bestrebungen europäischer Mächte in Balance gehalten werden, speziell derjeni­gen Frankreichs, das von einer eigenständigen europäischen Macht „auf Augenhöhe“ mit den USA unter französischer Führung träumt.

3. Problemfelder

Ein „erweiterter Sicherheitsbegriff“, eine „integrierte Sicherheitsstrategie“ [3] umfasst neben der als „nicht verteidigungsfähig“ diagnostizierten Bundeswehr und den (europäischen, amerikanischen, auch israelischen …) militärisch-industriellen (Korrupti­ons-)Komplexen die innere Sicherheit, die Cyber-Sicherheit, sichere Handelswege und Rohstoffver­sorgung, Infrastruktur, Wirtschafts-, Fi­nanz-, Energie- und Gesundheitspolitik, die „Entwicklungszu­sammenarbeit“, die Folgen des Klima­wandels – kurz Gott und die Welt. Dazu gibt es nach Meinung einschlägiger „Sicherheitsexperten“ weder eine „gemeinsame Lage“, keine Strukturen dafür und kei­ne „Strategiefähigkeit“. Einen solchen Eindruck vermittelte z.B. die „Phönix-Runde“ vom 29.03.23 [4].

Obwohl in dieser Runde nur ein Teil der Problematik und nicht einmal die wichtigsten Fragen, wie die Probleme mit den USA oder die innereuropäischen Widersprüche angeschnitten wurden. Die Forderungen aus der CDU nach einem „Nationalen Sicherheitsrat“ sind bislang an der Ampelkoaliti­on gescheitert. Nicht nur Auswärtiges Amt oder Verteidigungsministerium könnten ein solches Gre­mium als Einmischung in ihre Angelegenheiten verstehen.

4. Verkürzte Geschichte zur „Sicherheit“ der BRD

Nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus ging es den Siegermächten zunächst vor allem darum, ein Wiedererstarken des deutschen Imperialismus und Militarismus nachhaltig zu verhüten – aller­dings wesentlich bestimmt vom beginnenden kalten Krieg und der „Rollback“-Politik des Westens gegenüber der Sowjetunion. Die Westmächte etablierten im Mai 1949 die westdeutsche BRD nach der Währungsreform von 1948. Im Oktober 1949 folgte die Gründung der DDR.

Die Eliten des vernichteten 3. Reiches wurden – abgesehen von zahlenmäßig geringen Aburteilun­gen im Zuge der Nürnberger Prozesse – durch eine höchst laxe „Entnazifizierung“ von den West­mächten wei­testgehend in das bundesdeutsche Establishment übernommen. Das bedeutete eine Kontinuität der alten Klassen- und Machtstrukturen. So wurde der Antikommunismus der Nazi – Führungsschichten in den kalten Krieg eingebracht; geradezu ein Win-Win-Deal für die Westmäch­te wie für die alte (west)deutsche Bourgeoisie. In der Wirtschaft, den politischen Parteien, in Ver­waltung, Justiz etc. tummelten sich massenhaft demokratisch gewendete Kader des NS-Staates. Diese Nachkriegsgeschichte ist der Grund, weshalb die Abhängigkeit insbesondere von den USA sozusagen zur DNA Bundesdeutsch­lands gehört.

Nach dem Tod Stalins begann im „Ostblock“ die sogenannte Tauwetterperiode, gefolgt von einer na­hezu totalen Verstaatlichung, die zu einer stagnierenden Mangelwirtschaft führte. Dem versuchte man mit Reformen (Libermann) zu begegnen, was eine schleichende Re-Kapitalisierung zur Folge hatte und u.a. wegen heilloser Widersprüche zwischen Plan und gewachsenen Kapitaleigenschaf­ten der Betriebe letzten Endes im Zusammenbruch des „Realsozialismus“ und der Auflösung des War­schauer Vertra­ges gipfelte.

In der Tauwetterzeit wurde 1970 der Moskauer Vertrag zwischen Westdeutschland und der UdSSR als Grundstein der neuen Ostpolitik unter Willy Brandt abgeschlossen. Diese Entspannungspolitik öffnete letztlich den Weg zur deutschen Einheit. Der berühmte Kniefall Willy Brandts in Warschau sollte eine gewisse Aussöh­nung mit den Opfern des deutschen Vernichtungskrieges im Osten symbolisieren .

Die russische Geschichte nach dem Bankrott der UdSSR, dem Rücktritt Gorbatschows 1991, dem folgenden Elends-Chaos unter Jelzin wendete sich mit dem Aufstieg Wladimir Putins mit einer Oligarchen-Wirtschaft im Zeichen des Neoliberalismus.

Dabei ging es zunächst darum, den im Gorbatschow/Jelzinschen Chaos begonnenen „Ausverkauf“ Russlands an den Westen zu bremsen, die Militärmacht zu „ertüchtigen“ und den eurasischen Besitzstand aus der Sowjetzeit zu sta­bilisieren. Zunehmend kamen geopolitische Aktivitäten, wie u.a. im Syrien-Krieg, in Libyen, in weite­ren afrikanischen Ländern hinzu. Energie-, Waffen-, Agrar- und sonstige Rohstoffstoffexporte waren die wesentliche Grundlage für die innere Stabilisierung Russlands unter Putin und erneuerte um­fangreiche internationale Beziehungen. Das beantwortete der Westen mit den NATO- und EU-Ost­erweiterungen gegen die neuformierte imperialistische Konkurrenz. Spätestens ab 1999 sind USA&NATO also zu ihrer Strategie der Osterweiterung über­gegangen, als Russland begann (wieder) eigene imperialistische Interessen nach der großrussi­schen, geschichtsrevisionistischen Ideologie des Putinismus zu verfolgen.

Die weitere Kriegs-Eskalation mit der Flucht Russlands „nach vorne“ in die Falle eines möglichen ukrainischen Afghanistan und der „Zeitenwende“ soll hier der Kürze halber nicht weiter abgehandelt werden.

Deutschland folgte der US&NATO-Strategie im Stellvertreterkrieg, ja ließ sich trotz aller scheinba­ren „Zögerlichkeit“ des Kanzlers in die Rolle eines der wichtigsten Waffenlieferanten und Haupt-Fi­nanziers der Selenski-Regie­rung treiben.

Die Sicherheit Deutschlands ist nicht nur durch die Eskala­tionsgefahren des Ukrai­ne-Krieges be­droht. Auf sämtlichen unter 3. genannten Problemfeldern ste­hen Krisen, Gefahren und „Herausfor­derungen“ an.

Es sei nur die Krise der Finanz- und Haushaltspolitik genannt. Nach dem 100-Mrd. Rüstungs-Wumms folgte der „Doppel-Wumms“, einem Schattenhaushalt von 200 Mrd. € neuer Schulden mit dem als „Abwehrschirm“ eine Gas- und Energiepreisbremse sowie Hilfen für Unternehmen finan­ziert werden, um die Folgen der Energie­ausfälle aus Russland und der Inflation zu mildern. Völlig offen ist, wie bei weiter hoher Inflation und hohen Energiepreisen in den kommenden Jahren die „soziale Sicherheit“ aufrecht erhalten werden kann. Die Fortsetzung der „Wumms“-Politik dürfte schwierig sein. Die Verschiebung und das Gerangel um den Haushaltsentwurf 2024 werfen Schat­ten voraus. Ebenso u.a. drohende Finanz-Verwerfungen in der EU.

5. Militaristische Europa-Weltmachtträume und ihre Schranken

„Berlin muss dafür sorgen, dass Europa handlungsfähig wird“ und: eine „deutsche Führungsrolle in der EU“ hat schon vor Jahren Wolfgang Ischinger verlangt, einst Chef der Münchner Sicherheits­konferenz und Sprachrohr des sich hemmungslos weiter aufblasenden deutschen Milita­rismus. [5]

2013 wurde unter Leitung der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ und des „German Marshall Fund“ von einer Kommission mit rund 50 Mitgliedern des sicherheitspolitischen Establishments das Doku­ment „Neue Macht – Neue Verantwortung“ veröffentlicht [6].

Es sollte eine „neue Definition deutscher Staatsziele“ sein:

Im Kern wurde dabei das folgende Interessensbündel formuliert, das sich fortan als prägend für die gesamte sicherheitspolitische Debatte erweisen solle: Erstens strebt Deutschland eine Weltmacht­position an, ist aber auch bereit, hierfür größere militärische Beiträge zum „Schutz“ von Kernstruktu­ren der Weltwirtschaftsordnung („regelbasierte Ordnung“) beizusteuern; hierfür ist es zweitens zwin­gend auf die Europäische Union als Kraftverstärker angewiesen, in der Deutschland ebenfalls eine Führungsposition beansprucht; drittens wird dem Bündnis mit den USA weiter klar der Vorzug ge­genüber anderen denkbaren Konstellationen gegeben, aber nur bei einer Aufwertung des eigenen Einflusses; und viertens können all diese Führungsansprüche und Ambitionen nur auf Grundlage ei­ner hochgerüsteten Armee mitsamt einer starken heimischen (und teils europäisierten) Rüstungsin­dustrie erreicht werden.“ (siehe auch [7]).

In der Bundestagsdebatte zum 100-Mrd.- Schuldenprogramm wurde gefordert, die Bundeswehr zur am besten ausgerüsteten Armee in Europa (zu) machen“, … „weil das der Bedeutung Deutsch­lands, unserer Verantwortung in Europa entspricht“. Solches dürfte bei den restlichen EU- und NA­TO-Partnern etwas mehr als Stirnrunzeln erregt haben. War doch deren ganze Nachkriegspolitik davon geprägt, Deutschland einzuhegen und nie wieder zu einer dominierenden Militärmacht wer­den zu lassen.

Ganz unverhohlen wird der Anspruch auf eine eigene militärische Weltmachtstellung propagiert, al­lerdings – das gehört zur DNA der BRD, genauso wie zum Katechismus der Superkoalition aus Am­pel+CDU/CSU – untergeordnet der „europäischen Säule der NATO“, also den USA mit deren atoma­ren „Schutzschirm“ per „nukleare Teilhabe“.

Mit der „Zeitenwende“ postuliert man in Kreisen dieser Superkoalition eine neue „Wehrhaftigkeit“. Dies bedeutet näher betrachtet vor allem den Rüstungswahn der herrschenden Klasse in transat­lantischer Nibelungentreue, einen astronomischen Geldsegen für die militärisch-industriellen Kom­plexe. Die neue „Wehrhaftigkeit“ bedeutet die Persistenz einer legal-korrupten, durch parlamentari­schen Lobbyismus abgesicherten Symbiose von aufgeblähter Militärbürokratie und Rüstungsindus­trie. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges wird mit einer nahezu gleichgeschalteten Medien­macht versucht, die Bevölkerung vor den Karren des Militarismus und des Rüstungswahns zu spannen.

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Obwohl die NATO-Staaten ihre angebliche Nicht-Kriegsbeteiligung ständig beteuern, sind sie unter US-Regie de facto im Begriff, den Ukrainekrieg immer weiter anzuheizen und die gesamten westli­chen militärisch-industriellen Komplexe in den Kriegszustand zu versetzen.

6. Friendly fire und America first-XXL a la Joe Biden

Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurden bisherige Fundamente der deut­schen „Sicherheit“ brüchig. Das bundesdeutsche Geschäftsmodell, basierend auf billiger Ener­gie aus Russland und dem „besten Niedriglohnsektor Europas“ mit dem Resultat permanent hoher Export­überschüsse wurde durch die Russland-Sanktionen obsolet. Zwischen 2016 und 2022 schrumpften die deutschen Exportüberschüsse von 249 Mrd.€ auf 82 Mrd. [8]

Grundursache des Ukraine-Krieges ist die US-amerikanische Strategie zur Behauptung der ange­schlagenen welt­weiten Führungsrolle der USA. Diese Strategie richtet sich vorrangig gegen China, aber auch be­sonders gegen Russland und zugleich gegen Europa.

Denn parallel zum ukrainischen Stellvertreterkrieg führen die USA einen Wirtschaftskrieg gegen Eu­ropa. Es ging den USA darum, engere Beziehungen der EU, besonders Deutschlands mit Russland weitgehend zu unterbinden, weil sie diese Kombination schon lange als eine hochgefährliche strate­gische Konkurrenz gefürchtet hatten. Die EU und Deutschland werden durch die Kappung aller Wirtschaftsbeziehungen mit Russland empfindlich geschwächt und in noch stärkere Abhängigkeit von den USA versetzt. Hinzu kommen finanz- und handelspolitische Kampfmaßnahmen der USA gegen ihre weltweiten Konkurrenten etwa durch Bidens „Inflation Reduction Act“. Nach dem Motto „der Dollar ist unsere Währung, aber Euer Problem“ kämpfen die USA ihren Vorteil aus auch gegen die EU und Deutschland.

Die Sprengung der Nordstream-Pipelines, das dröhnende Schweigen der NATO-Partner bzw. die abenteuerlichen Desinformationen zu dieser Aggression „unter Freunden“ sagen genug. Das heterogene Europa, besonders das transatlantisch-US-abhängige Deutschland sind außerstande, Widerstand nicht einmal gegen diese Auswüchse der US-Dominanz zu leisten.

Ein spezieller „Freundschafts“-Beweis traf 2021 besonders Frankreich und damit auch Europas Mi­litärindustrie: ein Vertrag zwischen Frankreich und Australien sah die Lieferung von 12 atomar ge­triebenen U-Booten im Wert von 56 Milliarden € vor. Der Vertrag wurde auf Betreiben der USA ab­rupt gekündigt. Durch ein neues Abkommen mit Großbritannien und den USA erhält Australien nun US-Tech­nologie zum Bau von 8 atomgetriebenen U-Booten – das bedeutet „America first“ XXL. Frankreich zog aus Protest seine Botschafter aus Washington und Canberra ab. (siehe z.B [9]).

Es gibt vereinzelt weitsichtige Sicherheitsexperten, die ähnlich nachdenken, wie seinerzeit Angela Merkel im Hinblick auf Donald Trump: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei“. Erstrecht mit der Zeitenwende ist die strategische Abhän­gigkeit der uneinigen Staaten Europas von den USA allerdings so „verlässlich“, dass sie auf unab­sehbare Zeit nicht mehr verlassen werden kann – es sei denn die Bevölkerung wagt den Aufstand.

7. Europäische und globale Widersprüche

Die visionäre Hybris von einer geeinten EU-Weltmacht auch noch unter deutscher „Führungsver­antwortung“ wird von diversen Hindernissen und inneren Konflikten heillos durchkreuzt. Die neue „Natio­nale Sicherheitsstrategie“ kann all die Kalamitäten unmöglich auf die Reihe bringen. Es bleibt als Lösung nur die hohe Kunst der verbalen Vernebelung, der belletristischen Schönschreiberei, wie sie beispielsweise 2016 unter Ursula v.d Leyen mit dem „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ ([10] und s.unten) zelebriert wurde.

Die nachfolgend sicher unvollständig aufgelisteten Probleme sorgen dafür, dass die EU der hetero­genen Nationalstaaten mit Sicherheit Tummelfeld interner gegensätzlicher Interessen und externer Einflüsse bleibt. Die deutsche „Führungsrolle“ entspricht viel eher einer von widersprüchlichen Ein­flüssen hin- und hergetriebenen subalternen Macht ohne „Strategiefähigkeit“– ganz egal, ob in die Bundeswehr 100 oder 300 Milliarden Sonderschulden hineingebuttert werden. Eine militärische Weltmacht EU unter deutscher Führung und „auf Augen­höhe“ mit USA oder China gehört weitest­gehend ins Reich der (divergierenden) Träume.

7.1 Zur „unverbrüchlichen Verbundenheit“ mit den USA innerhalb der NATO wurde oben schon das Wesentliche festgestellt: Wirtschaftskrieg, „friendly fire“ und „Amerika first“-XXL.

Die USA üben im Zuge ihrer Ruinierungspolitik gegenüber Russland mächtig Einfluss aus insbe­sondere auf die östlichen „Frontstaaten“ Polen, im Baltikum, über Rumä­nien bis zum Balkan, wo sie ihre Militärpräsenz ausgebaut haben und weiter ausbauen, gestützt auf die historisch gewach­senen nationalistisch-antirussischen Mentalitäten der Eliten und großer Teile der Bevölkerung. Die wurzeln in den Erfahrungen der Menschen in der stagnierenden Mangelwirtschaft in den Ländern des War­schauer Paktes vor dem Hintergrund der westlichen Konsumparadiese und deren relativen Freiheiten. Die USA haben so vielfäl­tige spalterische Hebel zur Hand, mit denen sie auf die hetero­genen europäischen Natio­nalstaaten einwirken. Sie haben sozusagen den Nasenring des Stiers an der Leine, auf dem Europa reitet.

7.2 Eine meist mit der Sänger Höflichkeit retuschierte Sollbruchstelle Europäischer Einheit ist der Widerspruch einerseits zwischen der französischen Vision einer „strategische Autonomie“ von den USA und andererseits der deutschen Unterwürfigkeit gegenüber den USA im Rahmen der NATO. Frankreich erstrebt einen autonomen europäischen Imperialismus unter französischer Führung u.a. mit dem Ziel, das frankophone Imperium im Mittelmeerraum, in Afrika und darüber hinaus zu sichern und auszubauen. Trotz seiner 2009 beschlossenen Rückkehr in die NATO-Voll­mitgliedschaft bleibt Frankreich auf einer relativen Distanz zum Bündnis. Die alleinige Verfügungsgewalt über seine Atomstreitmacht, die „Force de Frappe“, galt seit de Gaulle als Staatsräson in Frankreich, das bis heute seine Atomwaffen alleine befehligen will.

In Frankreich wurde sehr wohl vernommen, dass Kanzler Olaf Scholz stolz verkündete, durch das Bundeswehr-Sondervermögen werde Deutschland bald über die „größte konventionelle Armee“ in Europa verfügen. In Paris wird eine generelle Verschiebung des Kräfteverhältnisses befürchtet … Deutschlands strategische Neupositionierung und sein Wunsch, die Führung in der europäischen Verteidigung zu übernehmen, belasten das Verhältnis zwischen Paris und Berlin schwer. … Viel Geld soll insbesondere dem Bereich zugutekommen, der vor allem anderen die französische Domi­nanz in der EU sichern hilft: Es soll vor allem höhere Ausgaben für die Atomwaffen Frankreichs ge­ben. … Die Vielzahl an Konflikten sorgte auch dafür, dass das eigentlich für Oktober 2022 terminier­te Treffen des deutsch-französischen Ministerrates mehrfach verschoben wurde. Schlussendlich traf man sich dann, wie eingangs erwähnt, im Zuge der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Élysée-Vertrages am 22. Januar 2023. Die dabei verabschiedete Deutsch-französische Erklärung ist reich an Pathos und salbungsvollen Worten …“. [11]

Anfang April 2023 haben die Äußerungen und Vereinbarungen Macrons anlässlich seines China-Besuchs helle Empörung in transatlantischen Kreisen von CDU-Röttgen über die Spitzengrünen mit dem Europa-Schwergewicht Reinhard Bütikofer bis zu CSU-Manfred Weber ausgelöst. Weil er eine unabhängigere Rolle Europas gegenüber den USA und China fordert, sei Macron „von allen guten Geistern verlassen“ meinte Röttgen.

Es zeigte sich erneut die letztendliche Unvereinbarkeit französischer mit den deutschen (und ande­ren) strategischen Zielen. Der Gegensatz zwischen „strategischer Autonomie“ (F) und US-Abhän­gigkeit (D) bedeutet eine prinzipielle Bruchlinie, mit einem Patt verschleppt, zwischen zwei letztlich nach wie vor imperialistischen Konkurrenten. Beiden – Frankreich und Deutschland ist klar, dass sie alleine und ohne die restliche EU (notfalls nur mit „Kerneuropa“ oder den „Willigen“) ihre divergie­renden Ziele nicht erreichen können. Das deutsch-französische „Tandem“ ähnelt so zwei Ertrinken­den, die – aneinander geklammert – sich jeweils für gegensätzliche Ziele über Wasser zu halten versuchen.

7.3 Großbritannien nach dem Brexit hat die Rolle eines besonderen Scharfmachers im Ukraine-Krieg im Rahmen seiner „special relationship“ mit den USA übernommen. Signifikant dafür war der Blitz­besuch Boris Johnsons in Kiew im April 2022, wo er gegen eine mögliche Verhandlungslösung inter­venierte. Tatsächlich gab es bei den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland Ende März 2022 in Istanbul zunächst Annäherungen. So machte die Ukraine beispielsweise das Ange­bot, gegen Si­cherheitsgarantien einen neutralen Status zu akzeptieren. Laut einem Bericht der „Fi­nancial Times“ gab es sogar einen Entwurf für ein Waffenstillstandsabkommen. Das wurde sicher auch im Auftrag der USA vereitelt.

Es gibt Anzeichen, dass Großbritannien engere Beziehungen z.B. zu Polen als Gegengewicht ge­gen Brüssel und Deutschland sucht.

7.4 Hinzu kommen diverse Konflikte innerhalb der EU, etwa mit Polen und Ungarn in Sachen „Rechtsstaatlichkeit“, bei denen Kuhhändel auch in sicherheitspolitischen Fragen nicht ausge­schlossen sind, Differenzen etwa mit Ungarn oder Bulgarien hinsichtlich der Russland-Sanktionen werden mühsam überkleistert.

7.5 China und die „Neue Seidenstraße“

Der außenpolitische Aufstieg Chinas und der Konfrontationskurs der USA bringen die EU in eine Zwickmühle. … Wird sie eine eigenständige Rolle in der neuen, multipolaren Weltordnung finden? Bisher sieht es nicht gut ausWie viele China-Politiken hat die Europäische Union? Diese Frage löst in Brüssel immer wieder Heiterkeit aus – denn es ist nie gelungen, die 27 EU-Staaten auf einen gemeinsamen  Kurs zu bringen. Jeder sucht seinen eigenen Vorteil, niemand denkt an Europa.“ [12]

Die Beziehungen zu China sind ein heilloser Streitpunkt zwischen der EU und den USA, innerhalb der EU und genauso in der deutschen Politik. Wie tief die Streitpositionen reichen, konnte man z.B. nach dem jüngsten China-Besuch Macrons (s.o) erkennen, wo er den USA die Gefolgschaft bei der Eskalation der Taiwan-Frage verweigerte und damit bei eingeschworenen Transatlantikern helle Empörung auslöste.

Deutschland versucht gegenüber China eine „Mittelposition“ einzunehmen zwischen einer starken Abhängigkeit seiner Im- und Exportwirtschaft und dem Bestreben nach Diversität und Reduzierung dieser Abhängigkeit. Die deutsche Politik steht dabei unter mächtigem Druck seitens der USA und innenpolitisch seitens der Transatlantiker, insbesondere der US-hörigen Grünen. Kanzler Scholz will „.. einseitige, riskante Abhängigkeiten beenden, …die politischen und wirtschaftlichen Bezie­hungen breiter und robuster aufstellen … neue Lieferanten und Märkte im asiatisch-pazifischen Raum, in Afrika, in Mittel- und Südamerika … erschließen“ [13].

Die „einseitige, riskante Abhängig­keit“ von den USA hat Scholz nicht erwähnt.

Die Neue Seidenstraße soll die Wirtschaftsräume Asien, Europa und Afrika verbinden. Dadurch wol­len sich chinesische Unternehmen Aufträge sichern und neue Märkte für chinesische Produkte er­schließen. Seit 2013 baut China deshalb ein Handels- und Infrastruktur-Netzwerk auf unter ande­rem mit Straßen, Bahnlinien, Häfen, Pipelines und Glasfaserleitungen. Mittlerweile beteiligen sich ca. 100 Länder weltweit. Das Land will rund eine Billion Dollar in das Projekt investieren. (s. Wikipedia – Neue Seidenstraße).

Z.B. Portugal und Griechenland:

Portugal: Angesichts steigender Investitionen Chinas bedrohte 2020 die US-Regierung Portugal mit Sanktionen. Das Land sei ein „Schlachtfeld“ und müsse sich zwischen den USA und China ent­scheiden, so der US-Botschafter. Lissabon reagierte selbstbewusst. [14]

Griechenland: Seit der Finanzkrise hat China in Griechenland hunderte Millionen Euro investiert, vor allem in den Hafen von Piräus. Peking sieht das Land als europäischen Anker für seine Neue Seidenstraße.

7.6 „Sorgenkind“ Türkei

Das NATO-Mitglied Türkei bereitet der Sicherheitspolitik ein ganzes Bündel von Problemen, das die Deklamationen von „gemeinsamen Werten“ der NATO und ihrer „regelbasierten Weltordnung“ voll­kommen Lügen straft. Die periodischen Angriffskriege gegen syrische und irakische Kurdenregio­nen, das autokratische, demokratie- und rechtsstaats-feindliche Regime im Inneren, die Waffen­deals mit Russland, die Kon­frontation mit Griechenland oder der erpresserische Kuhhandel in der Flüchtlingsfrage – das sind nur einige der Probleme.

8. Sicherheits“strategie“ von Ursula von der Leyen bis Boris Pistorius

8.1 Ursula von der Leyen

Unter ihr wurde im Juli 2016 ein „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ veröffentlicht [10] – in Folge des oben genannten Dokuments „“Neue Macht – Neue Verantwor­tung“. Hier soll und muss dieses 140 Seiten lange Weißbuch nicht detailliert referiert und kritisiert werden, denn die Resultate nach 6 Jahren widersprechen radikal den euphemistischen Phrasen dieses Do­kuments.

Das Weißbuch wimmelt geradezu von guten Vorsätzen: alles nur irgendwie Denkbare sollte
„… weiterentwickelt, optimiert, gestärkt, gesichert, vernetzt und auf eine breitere Basis gestellt wer­den, gefördert und weiter verbessert, umfassender ausgerichtet und harmonisiert, vorangetrie­ben, stärker betont, ganzheitlich betrachtet, ausgebaut, verzahnt, aufeinander abgestimmt, besser und wirkungsvoller nutzbar gemacht, gezielter und effizienter eingesetzt …“ werden.

6 Jahre später ist die Bundeswehr trotz alledem wunderbarerweise nach den Feststellungen des geballten Rüstungslobbyismus „nicht verteidigungsfähig“. Der Heeresinspekteur Alfons Mais stellte fest: „Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“

(Neben dem „faktischen Komplettversagen“ (Focus) in der sogenannten Berater-Affaire, die die Steuerzahler ei­nen 3-stelligen Millionenbetrag kostete, war eine der Glanzleistungen in der Amts­zeit U.v.d.Leyens die Kosten-Verzehnfachung der von Betrug, Untreue und Korruption umwitterten Renovierung des Segelschulschiffes „Gorch Fock“.)

8.2 Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK)

V.d.Leyens Nachfolgerin hielt im November 2019 eine „Grundsatzrede zur Sicherheitspolitik“ [15] Sie plädierte wieder dafür, Deutschland im „globalen, machtpolitischen Konkurrenzkampf als großen Player in NATO und EU fit zu machen“, Deutschland müsse mehr „Verantwortung“ übernehmen, die Kultur der militärischen Zurückhaltung begraben als „Gestaltungsmacht“ – allerdings in klarer trans­atlantischer Verbundenheit mit den USA im Sinne eines starken „europäischen Arms der NATO“. Damit erteilte sie den Vorstellungen nach einer „strategischen Autonomie“, die von Frankreich ge­hegt werden, eine Absage. Dagegen begab sich Macron „auf Konfrontationskurs mit Deutschland“ [16]. Er hielt AKK´s Ansicht „für eine Fehlinterpretation der Geschichte“.

8.3 Christine Lambrecht

Unter der nächsten Nachfolgerin hat sich nach Aussage der SPD- Wehrbeauftragten Eva Högl, auch nichts geändert. Sie kritisiert unter anderem das Beschaffungswesen als „behäbig“. 2022 sei bei der Bundeswehr „noch kein Cent aus dem Sondervermögen angekommen“. Es fehle „an allem, persönliche Ausrüstung, kleinerem Gerät, Nachtsichtgeräte, Funkgeräte, aber auch das große Ge­rät“; „Zu viele Kasernen sind in einem erbärmlichen Zustand“. „Die 100 Milliarden Euro allein wer­den nicht ausreichen, sämtliche Fehlbestände auszugleichen“, sagte sie. Dafür brauche es nach Experten-Schätzungen wohl „insgesamt 300 Milliarden Euro“. [17]

8.4 SPD-Parteichef Lars Klingbeil.

Klingbeil ist Mitglied im rechten „Seeheimer Kreis“ der SPD, Mitglied in den Rüstungs-Lobbyverei­nen „Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik“ und dem „Förderkreis Deutsches Heer“. Auch mit dem Lobbyverein „Gesellschaft für Sicherheitspolitik“ pflegt er Kontakte. [18]

In der SPD gewinnen Militaristen, allen voran Klingbeil, weiter die Oberhand. Als Beweis hierfür kann das Ende Januar 2023 erschienene Papier »Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch« gelten. (siehe: [19]) Die Verteidigung der »regelbasierten Ordnung« erfordere, heißt es darin, eine »militärische Führungsrolle« Deutschlands in der Welt, ge­stützt auf ein »geopolitisch selbstbewusstes Europa«, um in der »Systemrivalität« mit China und insbesondere Russland bestehen zu können – und selbstredend müssten derlei Ambitionen dann auch mit den entsprechenden finanziellen Ressourcen unterfüttert werden. Die Autoren des Papiers greifen damit nahezu inhaltsgleich eine Programmatik auf, die bereits vor mehr als zehn Jahren im Projekt »Neue Macht – Neue Verantwortung« entworfen wurde. Ziel ist es, deutsche Großmacht­phantasien wahr werden zu lassen.

O-Ton Klingbeil: „… diese neue Führungsolle als Führungsmacht wird Deutschland harte Entschei­dungen abverlangen – finanzielle auch politische … wir brauchen eine völlig neue sicherheitspoliti­sche Debatte in Deutschland … Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen.“ Natürlich im „engen Schulterschluss mit den USA, dem verei­nigten Königreich, Australien, Japan und anderen“.

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8.5 Boris Pistorius

Der neue Bundeswehrminister Pistorius geriert sich quasi als Titan, der endlich „aufräumt“, sein Mi­nisterium „auf Vordermann“ bringt, für Effizienz und „sinnvolle“ Verwendung des weiter anschwel­lenden Rüstungshaushalts sorgt. Er hat dem (korrupt)-bürokratischen Beschaffungswesen genauso wie dem einer Hydra gleichen Organigramm der Bundeswehr den Kampf angesagt. Entgegen die­ser Pose ist er aber „strukturell“ eingebunden in die genannte legal-korrupte Symbiose der taylor­schen Militärbürokratie zugunsten der militärisch-industriellen Komplexe und der vom (parlamenta­rischen) Rüstungslobbyismus geleiteten Regierungspolitik. Selbst wenn er wollte, er könnte nicht wirklich – ein Sisyphos hatte es leichter.

Bescheiden gibt er sich aktuell mit einer zu­sätzlichen 10-Mrd-Gabe aus dem noch offenen Bundes­haushalt 2024 zufrieden, während er gleich­zeitig das 2%-Ziel propagiert. Gemessen am aktuellen BIP müsste der Rüstungshaushalt – zusätz­lich zum 100-Milliarden „Sondervermögen“ – damit von derzeit rund 50 Mrd. € auf 77 Milliarden € steigen. Das wäre eine Steigerung um 27 Milliarden – mehr als der Bildungs- und Forschungshaus­halt von 20 Milliarden, mehr als für Wirt­schafts- und Klimaschutz von 11 Milliarden. Die sozialdemo­kratische Wehrbeauftragte fordert gar ein zusätzli­ches „Sondervermögen“ von 200 Milliarden. Rüs­tungsaktien gehen durch die Decke.

Diese Hochrüstung kann nach den Plänen des FDP-Finanzministers nur durch Kürzungen vor al­lem im Sozialbereich kompensiert werden. Weiter wachsende soziale Ungleichheit und Armut sind die Folgen.

Mit der „Zeitenwende“ wird zwar eine „neue Wehrhaftigkeit“ beschworen. Aber nach wie vor hat die Bundeswehr Schwierigkeiten, ausreichend Rekruten für Ihre „Sollstärke“ anzuwerben bei einer ho­hen Abbrecherquote. „… die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber (hat sich) im Jahr 2022 mit ei­nem Minus von 11 Prozent erheblich verringert … bei den Zeitsoldatinnen und Zeitsoldaten, die vom Januar bis Mai ihren Dienst … begannen, haben 27% innerhalb der ersten 6 Monate Probe­zeit ihren Dienst quittiert, im Heer waren es sogar fast 33%. [15] (Wehrbericht Eva Högl 2022.)

9. Fazit: Rüstungswahn, Größenwahn

Was kann man erwarten vom Papier zur „Neuen Nationalen Sicherheitsstrategie“, wenn es denn erscheinen sollte? Wie bereits angedeutet, bleibt als Lösung nur die hohe Kunst der ver­balen Vernebelung, der belletristischen Schönschreiberei, der Wunschträume und unhaltbar groß­spurigen Ambitionen, mit denen der gewaltige Komplex an Problemen, Herausforderungen und Kalamitäten nur kaschiert bzw. „verdrängt“ werden kann.

Deutschlands Herrschende können mit der Logik der kapitalistischen Welt unmöglich eine Alter­native zum grassierenden Rüstungswahn finden. Im Kapitalismus mit seinem Wachstumszwang, seinem Resourcen-Raubbau, seinen immer gigantischeren Warenfluten und wachsenden Abfallber­gen, für den der Glo­bus immer klei­ner wird, in der die Rivalitäten der diversen Mächte um Absatz­märkte, Rohstoffquel­len, Anlagefel­der und Einflusssphären mit ständig gesteigertem Wettrüsten und Krieg als ultima Ra­tio sich weiter zuspitzen.

Das Ziel, Deutschland als „europäische Führungsmacht“, als „Anlehnpartner“ [1] durch Hochrüs­tung im globalen, machtpoli­tischen Konkurrenzkampf zum großen Player zu machen, bedeutet vor dem Hintergrund der realen Möglichkeiten und durchkreuzenden Hindernisse – Größenwahn.

Denn wo Deutschland als Unterauftragnehmer der USA scheinbar paradoxerweise einem Wirt­schaftskrieg, einem „friendly fire“ seitens diesem „engsten Verbündeten“ ausgesetzt ist, bedingen die sonstigen Verstrickungen in die zahlreichen Widersprüche und Konkurrenzverhältnisse eine wahre Strategie-Unfähigkeit, geradezu einen Masochismus eines ratlos hin- und her getriebenen angeknacksten Wirtschaftsriesen und Strategie-Zwerges. Würden die Herrschenden nach imperia­listischer Logik Ernst machen und würde Deutschland entgegen der hohlen Großmachtphantasien im „glo­balen machtpolitischen Konkur­renzkampf“ als „Gestaltungsmacht“ ernst genommen und einen wirk­lichen Platz an der Sonne als großer Führungs-Player in NATO und EU einnehmen können, würde das nur durch noch heftigere, vielseitige Gegenreaktionen und verschärfte Wider­stände gefährlich durch­kreuzt werden.

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Das alles heißt mit Sicherheit alles andere als „Sicherheit“

Quellen:

[1] Bundesverteidigungsministerium: www.bmvg.de/de/nationale-sicherheitsstrategie – „Die wichtigsten Antworten vorab“

[2] https://www.rnd.de/politik/nationale-sicherheitsstrategie-bundesregierung-streitet-um-verteidigung-und-katastrophenschutz-OQ6MT5RYY5EJFC5QJOUPZSC5JA.html

[3] Rede von A. Baerbock bei der Münchner Sicherheitskonferenz am 18.02.23, Bulletin der Bun­desregierung Nr.22-4 vom 20.02.23

[4] https://www.zdf.de/phoenix/phoenix-runde/phoenix-nationale-sicherheit—wie-sind-wir-aufgestellt-100.html.

[5] www.german-foreign-policy.com/news/detail/8402/

[6] : https://www.swp-berlin.org/publications/products/projekt_papiere/DeutAussenSicherhpol_SWP_GMF_2013.pdf

[7] https://www.imi-online.de/2023/04/19/sozialdemokratische-zeitenwende/

[8https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Aussenhandel/Tabellen/gesamtentwicklung-aussenhandel.pdf?__blob=publicationFile

[9] https://www.tagesschau.de/ausland/ozeanien/australien-u-boot-101.html)

[10] Die Bundesregierung, „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“, Berlin, 13. Juli 2016

[11] Eric Bonse in „Makroskop“

[12] Eric Bonse, „Makroskop“ vom 30.03.23

[13] Scholz-Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 17.02.23

[14] https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/506904/Wegen-China-Connection-US-Regierung-droht-Portugal-mit-Sanktionen

[15] https://www.imi-online.de/2019/11/08/grundsatzrede-zur-sicherheitspolitik-erneuter-alleingang-oder-muenchner-konsens-2-0/

[16] Darmstädter Echo vom 17.11.20

[17] Wehrbericht 2022: https://www.dbwv.de/aktuelle-themen/blickpunkt/beitrag/wehrbericht-2022-vorgestellt-es-hat-sich-erschreckend-wenig-getan

[18] https://www.imi-online.de/2023/04/19/sozialdemokratische-zeitenwende/ )

[19] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Reden/20220621_Rede_LK_FES.pdf

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Oben       —       Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Mai 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Faeser, Palmer und der 1. Mai: Schizophrene Migrationsgegner. Wer Lob von Horst Seehofer bekommt, hat als Bundesinnenministerin den Ritterschlag bekommen. Und die Berliner Polizei kann Volksfest feiern.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Vertrauen in die Demokratie schwindet.

Und was wird diese Woche besser?

42,6% Marktanteil für die Krönung in der ARD.

Laut ARD-DeutschlandTrend unterstützen vier von fünf Deutschen den Vorschlag, Asylverfahren künftig an den EU-Außengrenzen durchzuführen. War’s das nun endgültig mit „Wir schaffen das“?

Harter Schlag für Nancy Faeser: Lob von Horst Seehofer. Seit drei Jahren schimmelt der EU-Migrationspakt auf dem Tisch des Innenministeriums. Er enthält allerlei Zugeständnisse an Migrationsgegner, um den Kern – eine europäische Verteilung – durchzubringen. Pech: Bisher wurden nur einige abschottende Elemente durchgesetzt. Faeser will sich nun auch für die Asylverfahren an den Außengrenzen stark machen. Kalkül vieler EU-Grenzländer: Die Verteilungsfrage so lange aussitzen, bis niemand zum Verteilen mehr reinkommt. Dass 79 % der Deutschen das ebenso sehen, mag Faeser anfeuern. Diese ablehnenden Deutschen haben gerade über einer Million Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine geholfen. Immerhin sind wir so schizophren wie unsere Innenpolitik.

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ist bei den Grünen ausgetreten und hat eine Auszeit angekündigt, um sich professionelle Hilfe zu holen. Wer kann sich daran ein Beispiel nehmen?

Palmers jüngster Schub mit seriellem N-Wort und Selbstverleihung eines Judensterns war schon fröstelnd ähnlich den legendären Auftritten seines Vaters, dem Neandertaler der Wutbürger. Kurz bevor man höflich verschweigt, dass man sein Ich und sein Über-Ich gern mal wieder in getrennten Ringecken sähe, meldet er selbst Therapiebedarf an. Das kann man nur respektieren. Politik, Macht, mediale Präsenz: Betäubungsmittel für Leute, die sich gern aus dem Weg gehen. Davon ist die Welt voll.

Die Berliner Polizei gibt sich erstaunt über den angeblich „friedlichsten 1. Mai seit 1987“. Staunen Sie auch?

Der dämonische Fressfeind des Radikalismus: Vervolksfestung. Und erstaunlich, dass diese Strategie aufging. Die Berlinenden wurden zugeschmissen mit DGB, Walpurgis, Weinfest, Rave und Tanz in den Mai. Noch heuert „Visit Berlin“ keine Komparsen, um in Kreuzberg für Touristen ein bisschen Alarm zu machen.

Mehr Menschen als erwartet haben das Deutschlandticket zu seinem Start Anfang Mai erworben, rund ein Viertel von ihnen hatte vorher kein Nahverkehrs-Abo. Worauf kann sich dieser neue Kundenstamm einstellen?

Beziehungsstatus: Es ist kompliziert. Minister Wissing tanzt in den Mai mit dem Slogan „Ab heute gilt: Schluss mit kompliziert und anstrengend.“ Stattdessen wird es kompliziert und anstrengend: Mal gilt das Ticket doch nicht auf jedem Nahverkehrszug, mal gucken Studierende in die Röhre. Der ÖPNV hat mehr Ausnahmen als Einnahmen. 750.000 Neukunden bisher werden die Endstation Sehnsucht besuchen: Je Land, desto kein Anschluss. Und gerade das kann man als Gewinn sehen: Der öffentliche Druck auf Verbesserungen sollte mit jedem neuen Fahrgast steigen. Noch prahlt Wissing mit dem Glück, zu dem er gezwungen wurde. Doch die Liberalen wollen schon bald Unfallflucht straffrei stellen.

Hollywoods Dreh­buch­au­to­r*in­nen streiken für bessere Bezahlung, millionenschwere Showmaster wie Jimmy Fallon oder Jay Leno solidarisieren sich mit ihnen, indem sie beispielsweise gratis Donuts verteilen. Heuchelei oder Branchenzusammenhalt?

Quelle      :      TAZ-online       >>>>>        weiterlesen

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75 Jahre Israel

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Mai 2023

Mit offenen Grenzen

Jerusalem Dome of the rock BW 14.JPG

Ein Debattenbeitrag von Hiba I Husseini und Jossi Bellin

Palästinenser und Israelis, die die Hoffnung auf Frieden nicht aufgeben, formulierten gemeinsam einen neuen Plan: die Konföderation im Heiligen Land.

Mag sein, dass der Osloer Friedensprozess tot ist. Eine Rechtfertigung, aufzugeben, ist das nicht. Deshalb haben wir, eine Gruppe von Palästinensern und Israelis, über zwei Jahre lang einen neu­artigen Vorschlag für eine Konföderation im Heiligen Land erarbeitet.

Seit Jahrzehnten trennt Palästinenser und Israelis im Friedensprozess eine Kluft. Verschiedene Vorschläge wurden zur Beilegung der Hauptstreitpunkte unseres Disputs gemacht: zum Verlauf der Grenze zwischen beiden Staaten, zur Zukunft von Jerusalem, dem Schicksal der israelischen Siedlungen und palästinensischen Geflüchteten wie auch zu kooperativen Sicherheitsregelungen.

Grundsätzlich besteht Einigkeit über die Prinzipien einer dauerhaften Konfliktregelung, wie sie die Resolution 2334 des UN-Sicherheitsrats aus dem Jahr 2016 festhält. Diese Prinzipien finden von allen Vorschlägen die größte Unterstützung bei Palästinensern und Israelis, auch wenn die Zustimmung bei beiden Völkern von einer absoluten auf eine relative Mehrheit sank. 30 Jahre nach Unterzeichnung der Osloer Prinzipienerklärung dauern Besatzung und Gewalt an.

Die Schuld dafür den Politikern zuzuschieben ist wenig hilfreich. Stattdessen könnten neue Ideen dieses stete Patt aufrütteln und Verhandlungen über eine dauerhafte Friedenslösung anstoßen. Angesichts der veränderten Ausgangslage erscheint es aussichtsreicher für eine bilaterale Einigung auf eine Zwei-Staaten-Lösung, wenn diese unter dem Schirm einer Konföderation konzipiert wird und wenn der Grundsatz der Gegenseitigkeit gilt.

Siedler könnten bleiben

Wenn also die israelische Führung nicht mehr gezwungen wird, Siedler aus ihren Häusern zu holen, sollte derselben Zahl von Palästinensern ermöglicht werden, sich in Israel anzusiedeln. Prinzipiell könnte diese Lösung auch ohne Konföderationsvereinbarung umgesetzt werden. Eine israelisch-palästinensische Konföderation, die sich am Modell der Europäischen Union orientiert, hätte allerdings den Vorteil, dass sie eine verstärkte Wirtschafts- und Sicherheitskooperation mit sich brächte.

Zudem würde dieses Modell Bürgerinitiativen die das gegenseitige Verständnis stärken wollen und die Ablehnung und Feindseligkeit auf beiden Seiten abbauen, die Arbeit erleichtern. Die Konföderation im Heiligen Land sieht vor, dass zehntausende Bürger der beiden Staaten mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht auf der jeweils anderen Seite der Grenze leben.

Die israelischen Siedler, deren Ortschaften auf dem Territorium des zukünftigen Palästinenserstaats bleiben, könnten wählen, ob sie nach Erhalt einer angemessenen Entschädigung nach Israel umziehen, oder sie bleiben in Palästina und halten sich an die dort geltenden Gesetze und Regeln. Eine ebenso große Zahl palästinensischer Bürger könnten umgekehrt mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht in Israel leben.

Kooperation statt Abgrenzung

Beide Gruppen, Israelis wie Palästinenser, nehmen jeweils an den eigenen nationalen Wahlen teil sowie an den Kommunalwahlen des Landes, in dem sie ihren offiziellen Wohnsitz haben. Sie genießen dort die gleichen bürgerlichen Rechte und erhalten die gleichen Sozialleistungen wie die Staatsbürger vor Ort. Palästinensische Geflüchtete von 1948 sollten in vereinbartem Umfang die Möglichkeit einer Einbürgerung haben.

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Zudem ist ein gemeinsames historisches Narrativ anzustreben, das die wichtigsten Wegmarken in den Jahrzehnten des Konflikts umfasst. Bislang erschien es unmöglich, sich auf mehr einigen zu können, als die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Geschichte zur Kenntnis zu nehmen. Sobald Kooperation den Vorzug vor Abgrenzung hat, wird sich das ändern. Die Grundlagen einer Konföderation, wie wir sie uns vorstellen, müssen nicht auf ewig Bestand haben, um einen wertvollen Beitrag zu leisten.

Es bleibt Israelis und Palästinensern überlassen, ob sie in der Zukunft stärker miteinander kooperieren oder eher weniger. Unverrückbar wird aber der Grenzverlauf zwischen den beiden Staaten sein. Dem Entwurf der Konföderation zufolge wird es einen sogenannten Landswap geben, dem zufolge Israel 2,25 Prozent der Westbank annektiert und eine gleich große Fläche an anderer Stelle an die Palästinenser abtritt.

Dementgegen flexibel wird – jeweils die beiderseitige Zustimmung vorausgesetzt – das Grenzregime und das Maß an Bewegungsfreiheit für Menschen und Güter. Im Abstand von mindestens allen vier Jahren sollte dann geprüft werden, ob weitere Liberalisierungen möglich sind. Ist aktuell der richtige Zeitpunkt für einen diplomatischen Vorstoß und kann der Vorschlag im herrschenden politischen Kontext den Friedensprozess wirklich neu beleben?

Quelle        :          TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Jerusalem, Dome of the Rock, Church of the Holy Sepulcher in the background.

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Zeitenwende des D-Kapitals

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Mai 2023

Wende in den deutschen Sonderweg

File:2021-08-21 Olaf Scholz 0309.JPG

Eine Zeitenwende ohne Anfang und Ende ähnelt eher einer Zeitungsente !

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Iwan Nikolajew

  1. Prolog

Im Jahr 2022 ruft Bundeskanzler Scholz die „Zeitenwende“ als Reaktion auf den Ukraine-Krieg aus. „Zeitenwende“ heißt konkret Konfrontation mit Rußland und auch mit China.

Deutschland muß sich einen neuen Platz an der Sonne suchen, nachdem die US-Hegemonie zusammengebrochen ist. Doch die „Zeitenwende“ ist bis jetzt nur eine halbe Zeitenwende, widersprüchlich und inkonsequent und spiegelt die Unentschlossenheit des deutschen Imperialismus wider, sich in der multipolaren Weltordnung neu zu positionieren. Das deutsche Kapital fürchtet sich vor der „Zeitenwende“ und verteidigt verzweifelt die untergegangene neoliberale Weltordnung, doch diese kommt nicht mehr zurück.

  1. Vom Ende des Endes der Geschichte

Nach dem Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten rief die Bourgeoisie das „Ende der Geschichte“ aus. Der Sieg des Kapitalismus über die nichtkapitalistischen und nachkapitalistischen bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten sollte ein goldenes Zeitalter hervorbringen, wo „Demokratie“ und „Wohlstand“ gesichert wären. Doch real war diese kapitalistische Epoche eine Epoche der Verelendung. Das Kapital brachte sich tendenziell auf seinen Begriff und produzierte den neoliberalen Weltmarkt. Die Märkte wurden dereguliert und privatisiert. Der bürgerliche Staat griff nur dann ein, wenn der neoliberale Weltmarkt gefährdet war oder sich ein Markt abschottete und damit drohte, den gesamten neoliberalen Weltmarkt zum Einsturz zu bringen. Das Wertgesetz entfaltete sich und regulierte den Weltmarkt unmittelbar. Jedoch konnte sich das Wertgesetz tendenziell nur deswegen auf seinen Begriff hin entwickeln, weil der Weltmarkt auch mit außerökonomischen Mitteln durch den US-Imperialismus garantiert wurde. Die Hegemonie des US-Imperialismus innerhalb der imperialistischen Kette garantierte die relative Einheit des neoliberalen Weltmarktes auch mit außerökonomischen Mitteln und Methoden, erst dadurch konnte sich das Wertgesetz tendenziell auf seinen Begriff bringen und unmittelbar den Weltmarkt regulieren. Das Wertgesetz steht nicht außerhalb der außerökonomischen oder politischen Gewalt, sondern die außerökonomische Gewalt ist das konzentrierte Wertgesetz, welches sich in der außerökonomischen Gewalt verdichtet; der ideelle Gesamtkapitalist, der bürgerliche Staat, ist ein materielles Produkt des Wertgesetzes, kann dieses nicht aufheben, sondern reproduziert konkret-spezifisch in mittelbarer Weise das Wertgesetz in sich selbst. Dies gilt auch für den Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette, welcher die höchste Verdichtung des Wertgesetzes ist, da sich der Hegemon als Ökonomie, wie auch als ideeller Gesamtkapitalist, über alle anderen Kettenglieder der imperialistischen Kette erhebt und erst Recht über die Peripherie. Der Hegemon ist der Schiedsrichter innerhalb der imperialistischen Kette und hat einen weitaus größeren Zugriff auf die Peripherie, als auf die Metropolen der imperialistischen Kette. Die US-Hegemonie konstituierte die relative Einheit des neoliberalen Weltmarktes zu ihrem Vorteil, aber auch graduell abschwächend, zum Vorteil der anderen Kettenglieder der imperialistischen Kette und drückte damit politisch das Gesamtinteresse der imperialistischen Kette gegenüber der Peripherie aus, welche kein Vorteil aus der US-Hegemonie zog und auch niemals Vorteile aus einer imperialistischen Hegemonie ziehen kann. Die US-Hegemonie war das Produkt des zweiten imperialistischen Weltkrieges und in letzter Instanz das Produkt der Großen Krise der dreißiger Jahre, welche sich politisch in den dem zweiten imperialistischen Weltkrieg verdichtete und materialisierte. Erst mit dem zweiten imperialistischen Weltkrieg und durch den zweiten imperialistischen Weltkrieg wurde die Große Krise der dreißiger Jahre überwunden. Das Kapital setzte die Arbeiterklasse weltweit neu zusammen und hob die Produktivkraft der Arbeit auf ein qualitativ höheres Niveau. Die durchschnittliche Akkumulationsbewegung wird durch das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate bestimmt, graduell weniger in den Konjunkturzyklen, aber vor allen in den langen Wellen der Konjunktur. In den kurzfristigen Konjunkturzyklen ist die Akkumulationsbewegung vor allem quantitativ bestimmt, die durchschnittliche Profitrate fällt tendenziell, später auch die Profitmasse und sie steigt tendenziell an, wenn die Entwertung des Kapitals weit fortgeschritten ist und führt zu einem Aufschwung der Akkumulation. Dies alles bei einem mehr oder minder gegebenen Niveau der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte. Historische Krisen des Kapitalismus, wie die Großen Krisen jedoch, sind qualitativ bestimmt. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte geht nicht gleichmäßig vonstatten, sondern in Brüchen und Sprüngen, in gleichzeitiger Ungleichzeitigkeit und stellt eine Schranke für die konjunkturelle Entwertung des Kapitals dar, indem sie verhindert, daß das Kapital sich deutlich entwerten kann. Die Überakkumulation von Kapital kann nicht abgebaut werden, da die kapitalistische Produktivkraft der Arbeit nicht qualitativ gesteigert werden kann, d.h. die Methoden der relativen Mehrwertproduktion reichen nicht aus, um die Profitrate wieder tendenziell steigen zu lassen. Erst mit einer qualitativen Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit kann das Kapital wieder profitabel produzieren, es bedarf eines qualitativen Sprungs in der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkraft, um die Profitrate tendenziell ansteigen zu lassen und dies bedeutet eine qualitative Umwälzung der historischen Form der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, ein neues Akkumulationsregime muß das alte Akkumulationsregime ablösen, eine qualitative Neuzusammensetzung des Kapitals und der Arbeiterklasse ist notwendig. Im Klassenkampf wird die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, bzw. das neue Akkumulationsregime, ausgekämpft, wenn nicht der revolutionäre Bruch mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen überhaupt gelingt. Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse heißt vor allem Kampf auf der Ebene der Fabrik um die Arbeitsorganisation und auf der gesellschaftlichen Ebene der Kampf um die Ausgestaltung des jeweiligen historischen Klassenkompromisses und auf der Ebene des Weltmarktes der Kampf um die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette. Eine historische Krise des Kapitalismus läßt die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette erodieren; die Große Krise hingegen leitet das Finale des Endes des Hegemons ein. Eine negative lange Welle der Konjunktur führt immer zu einer Hegemonialkrise innerhalb der imperialistischen Kette und damit zu einer existentiellen Krise der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, welche sich an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als Revolutionen, Revolten, Bürgerkriege, Kriege, Weltkriege materialisieren. Sollte der Kapitalismus diese existentielle Krise überstehen, entsteht ein neues weltweites Kräftegleichgewicht der sozialen Klassen im Klassenkampf und ein neuer Hegemon übernimmt die Führung in der imperialistischen Kette, damit zieht eine neue relative und temporäre Stabilität im Kapitalismus ein, die Profitrate beginnt tendenziell qualitativ zu steigen, bis zur nächsten negativen langen Welle der Konjunktur, bis wieder die kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit den kapitalistischen Produktivkräften aktiv und deutlich ausgeprägt in Widerspruch sich setzen.

Nur ein Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette garantiert eine stabile Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, ansonsten bleibt sie prekär und widersprüchlich. Es ist nicht so, daß nach dem Untergang eines Hegemons in der imperialistischen Kette, sofort ein neuer Hegemon auftritt und die imperialistische Kette relativ unter sich vereint, d.h. die imperialistische Kette relativ sich selbst vereint, sondern es folgt in der Regel nach dem Untergang eines Hegemons eine Epoche der Zerrissenheit in der imperialistischen Kette, ein Kampf um den Thron des Hegemons, alle gegen alle, jeder gegen jeden. Dieser Kampf um den Thron des Hegemons muß innerhalb der imperialistischen Kette ausgefochten werden, bei Strafe des Untergangs. Eine Metropole, welche nicht versucht sich auf den Thron des Hegemons zu setzten, geht unter, denn dieser Kampf um die Hegemonie ist ein Kampf um die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, ein Kampf um die Neuzusammensetzung des Kapitals auf internationaler Ebene, auf Weltmarktebene, vitalisiert in jeder Metropole die Akkumulationsbedingungen, auch wenn nur eine Metropole sich im Hegemon krönen kann. In der Epoche der Zerrissenheit existiert kein Hegemon, aber desto mehr der Kampf um die Hegemonie, diese Epoche kann länger oder kürzer sein, aber ein Hegemon kann nur durch eine Kette imperialistischer Kriege oder durch einen Weltkrieg gekrönt werden. Doch nicht jeder Weltkrieg löst das Problem der fehlenden Hegemonie, sondern potenziert noch die Epoche der Nicht-Hegemonie. Dann ist ein weiterer Weltkrieg notwendig. Eine erfolgreiche Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse-Neuzusammensetzung des Kapitals realisiert eine qualitative Erhöhung der Produktivraft der Arbeit auf Ebene des Weltmarktes und produziert damit auch einen Hegemon. Es kann nur einen Hegemon geben. Hegemonie, alleinige Weltmacht, kann nicht geteilt werden, sie ist unteilbar. Ein neues Akkumulationsregime entsteht nur unter einem Hegemon. In der Epoche der Zerrissenheit stehen viele Akkumulationsregime im Kampf um die Hegemonie in Konkurrenz zu einander. Doch erst dann, wird ein Akkumulationsmodell daraus, wenn ein Akkumulationsregime alle anderen Akkumulationsregime unter sich subsumiert, wenn eine Metropole sich zur Hegemonialmacht innerhalb der imperialistischen Kette krönen konnte. Eine Hegemonialmacht garantiert eine relativ stabile Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und damit ein bestimmtes internationales Klassengleichgewicht im Klassenkampf.

Der gegenwärtige Untergang des US-Imperialismus als Hegemonialmacht eröffnet eine neue, offene Situation, ein Kampf um die Hegemonie, ein Kampf um die Weltmacht mit allen Mitteln und mit aller Gnadenlosigkeit. Es ändern sich nur die historischen Formen des Kapitalismus, nicht aber der Kapitalismus selbst. Der Kapitalismus lernt nicht dazu, kann nicht dazu lernen, da dieser vom Wertgesetz reguliert wird. Entweder Sozialismus oder Barbarei. Dieses Wort von Rosa Luxemburg bleibt aktuell. Die gegenwärtige Große Krise wird die gleichen Wirkungen zeitigen wie die Große Krise der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, nur in anderen Formen. Eine friedliche Lösung der Verwertungsprobleme des Kapitals im historischen Ausmaß ist nicht möglich. Einen friedlichen Kapitalismus, Imperialismus bzw. Ultra-Imperialismus, kann es nicht geben. Es gibt keine friedliche Koexistenz innerhalb der imperialistischen Kette, wie ebenso in der kapitalistischen Totalität. Einen Kapitalismus ohne Krieg kann es nicht geben, denn der Krieg ist nur die Fortsetzung der Weltmarktkonkurrenz mit andern Mitteln. Im Krieg erreicht das Wertgesetz in seiner politischen Form die höchste Konzentration, transformiert sich in unmittelbare und physische Gewalt. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts schwächte sich die Hegemonie des britischen Imperialismus ab und vor allem der deutsche Imperialismus und der US-Imperialismus stellten die britische Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette in Frage. Diese innerimperialistischen Widersprüche eskalierten im ersten imperialistischen Weltkrieg. Mit dem Ende des ersten imperialistischen Weltkrieges zog der US-Imperialismus mit dem britischen Imperialismus gleich und der deutsche Imperialismus war weit abgeschlagen. Die Hegemonialfrage blieb ungeklärt und verschärfte sich weiter. Der zweite imperialistische Weltkrieg erst klärte die offene Hegemonialfrage. Der US-Imperialismus wurde zum Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette und organisierte den Weltkapitalismus und auch die Sowjetunion als bürokratisch entarteter Arbeiterstaat, welche ein mittelbares Moment des Weltmarktes war, mußte den Kapitalismus und seine Führungsmacht, den US-Imperialismus, in vielen Fragen, vor allem ökonomischen Fragen, akzeptieren. Auch der bürokratisch entartete Arbeiterstaat Sowjetunion war ein Glied im kapitalistischen Weltmarkt, welcher vom US-Imperialismus garantiert wurde. Der US-Imperialismus und der bürokratisch entartete Arbeiterstaat Sowjetunion waren nicht ebenbürtig, sondern nur fast gleichwertig; der US-Imperialismus in der Offensive und der bürokratisch entartete Arbeiterstaat Sowjetunion in der Defensive; der US-Imperialismus zielte auf die Zerstörung der Sowjetunion, die Sowjetunion hingegen suchte die Koexistenz zwischen USA und Sowjetunion, zwischen Kapitalismus und Sozialismus, eine Illusion, welche die materielle Grundlage für den Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in Osteuropa legte.

Eine Hegemonialmacht ist nicht allmächtig, ist keine „Weltregierung“, sondern ist nur deshalb hegemonial, weil sie die Interessen der anderen Weltmarktkonkurrenten ebenso konkret-spezifisch mit ihren eigenen nationalen Interessen integrieren und abgleichen kann, der US-Imperialismus war „Weltpolizist“ vor allem nur deshalb, weil ein „Weltpolizist“ vom Weltkapitalismus gefordert wurde und der US-Imperialismus diese Rolle und Funktion materiell ausfüllen konnte. Ohne einen „Weltpolizisten“ gäbe es keine relative Ordnung im Weltmarkt und die Kosten für jede Bourgeoisie, auch für die periphere Bourgeoisie, wäre höher, wenn kein Hegemon existieren würde. Diese Ordnung des Weltmarktes, diese Weltordnung, ist immer prekär und muß täglich verteidigt werden, daß Vorrecht der Hegemonialmacht wird dieser vom Weltkapital zugewiesen und kann nur dann realisiert werden, wenn auch gleichzeitig die Interessen aller anderen Kettenglieder der imperialistischen Kette berücksichtigt werden. Die Interessen der Hegemonialmacht müssen eine Schnittmenge mit den Interessen der restlichen Kettenglieder der imperialistischen Kette aufweisen und damit mit den Gesamtinteressen der imperialistischen Kette, erst dann ist der konkrete Imperialismus der ideelle Gesamtimperialist-hegemonialer Imperialismus. Der Zusammenbruch des bürokratisch entarteten Arbeiterstaates Sowjetunion, wie auch der anderen bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in Osteuropa, änderten an der Situation nichts. Auch dann wurde der US-Imperialismus nicht allmächtig. Eine Weltmacht ist immer nur relativ Weltmacht und muß mit anderen Großmächten gleichzeitig kooperieren und konkurrieren, ein weltweites relatives Gleichgewicht zwischen Weltmarktkooperation und Weltmarktkonkurrenz finden. Nur eine Hegemonialmacht kann ein Gleichgewicht innerhalb der imperialistischen Kette wahren. So gelang es den wiedererstandenen russischen Imperialismus in die imperialistische Kette zu integrieren und auch die Peripherie, wofür vor allem China steht. Die Ordnung von Teheran und Jalta galt weiter, auch ohne die Sowjetunion als zweite zentrale Garantiemacht. Der bürokratisch entartete Arbeiterstaat Sowjetunion als Garant aller anderen bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in Osteuropa konnte in der Weltmarktkonkurrenz nicht mehr mit der imperialistischen Kette mithalten, während sich der Weltkapitalismus unter Führung der imperialistischen Kette flexibilisierte und dynamisierte, stagnierten die bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten. Verstärkt ab Anfang der 80er Jahre werden verdeckt über die Sicherheitsapparate der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten vermehrt Kontakt zu den Sicherheitsapparaten der Metropolen aufgenommen und unter diesem Einfluß des Imperialismus bewegt sich die Bürokratie der entarteten Arbeiterstaaten langsam auf den Kapitalismus zu, was letztlich zur demokratischen Konterrevolution 1989 in Osteuropa führte und die Sowjetunion ab 1990 in die Agonie stürzen läßt, bis sie sich 1991 auch formal auflöst. Das Ende der Sowjetunion war nicht das Ende von Jalta, bzw. das Ende der Nachkriegsordnung. Auf Basis der Weltordnung von Jalta entwickelte sich der neoliberale Weltmarkt, welcher deutlich vom US-Imperialismus geprägt wurde. Unter der Herrschaft des neoliberalen Weltmarktes integrierte sich der russische Imperialismus in den Weltmarkt, jedoch positionierte sich der russische Imperialismus am Rand des neoliberalen Weltmarktes, während China, als führendes Land der Peripherie, zusammen mit den USA ins Zentrum des neoliberalen Weltmarktes vorrückte und diesen mit absicherte. Die Vorteile des neoliberalen Weltmarktes kamen somit auch dem russischen Imperialismus und China zu Gute. Doch mit der Zeit wurde der vom US-Imperialismus garantierte neoliberale Weltmarkt zur Fessel für die Entwicklung des russischen und chinesischen Kapitals. Will sich das russische und chinesische Kapital entwickeln, muß es mit dem neoliberalen Weltmarkt brechen, d.h. konkret mit dem US-Imperialismus als hegemonialen Imperialismus. Die historische Krise des Kapitalismus seit 1974/1975 konnte der Kapitalismus unter Führung des US-Imperialismus noch verarbeiten, sie war der Anfangspunkt für die neoliberale Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, als ein Versuch, diese historische Krise zu überwinden. Jedoch schlug dieser Versuch fehl, der Kapitalismus konnte nicht mehr zu seinen hohen Akkumulationsraten zurückkehren. Aber es gelang als Nebenprodukt der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse den Kapitalismus soweit zu dynamisieren, daß die bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in die Defensive gingen und schließlich zusammenbrachen. Die Rekapitalisierung Osteuropas eröffnete den Weg in eine neue Phase der neoliberalen Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse weltweit. Später versuchte der US-Imperialismus über Börsen- und Immobilienspekulation die Krise zu bannen, was notwendig fehlschlagen mußte. Die durchschnittliche Bewegung des Kapitals im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate läßt sich nur modifizieren, jedoch nicht aufheben. Das Rückstauen der Krise ist endlich. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts eskalieren langsam die Widersprüche zwischen dem US-Imperialismus und China, wie gleichzeitig auch zwischen dem US-Imperialismus und dem russischen Imperialismus. Während sich das fiktive Kapital am Gesamtkapital des US-Imperialismus zu Lasten der US-Mehrwertproduktion ausdehnte, wurde China zur Weltfabrik, konzentrierte sich die Mehrwertproduktion in China. Der US-Imperialismus wurde zum Importeuer der letzten Instanz und stabilisierte auf diese Weise die imperialistische Kette und auch China. Vor allem China rückte im Gegenzug zum größten Gläubiger des US-Imperialismus auf. Die Verschuldungspyramide des US-Imperialismus stabilisierte zwar kurzfristig den neoliberalen Weltmarkt, doch langfristig destabilisierte sie ihn. Verschulden kann sich der US-Imperialismus nur dann, wenn auch Wert dagegensteht. Doch das Absinken der US-Mehrwertproduktion setzt objektiv eine Grenze für die Verschuldung. Nur der Dollar als Weltgeld ermöglicht dem US-Imperialismus eine höhere Verschuldung, denn der US-Imperialismus kann sich in seiner eigenen Währung verschulden. Der US-Imperialismus hängt am US-Dollar. Doch auch dieser Ausweg ist endlich, denn eine uferlose Verschuldung zerstört auch den US-Dollar als Weltgeld. Der Ausweg für den US-Imperialismus besteht darin, die Verschuldung mit Wert zu unterfüttern und zwar nicht durch die Revitalisierung der US-Mehrwertproduktion, sondern mit außerökonomischen Methoden. Der US-Imperialismus versuchte mit außerökonomischen Methoden seine Defizite in der Mehrwertproduktion auszugleichen, indem die Verschuldung durch außerökonomischen Zwang kompensiert wird. Dieser außerökonomische Zwang, bzw. die außerökonomischen Methoden, zielte auf die Unterfütterung des US-Imperialismus, bzw. des US-Dollars, mit Wert durch den kolonialen Krieg. Da der US-Dollar an das Öl gebunden ist, war es die Politik des US-Imperialismus, dieses Band noch zu festigen, indem direkt und nicht über die Compradorenbourgeoisie vermittelt, das Öl und andere strategische Rohstoffe, unter US-Kontrolle genommen werden. Mit diesem direkten US-Zugriff auf die strategischen Rohstoffe wäre der US-Dollar mit Wert unterfüttert und der Petro-Dollar als Kern des US-Dollars als Weltgeld für lange Zeit gesichert gewesen. Einer weiteren Verschuldung des US-Imperialismus hätte nichts mehr entgegengestanden. Mit der US-Kontrolle über die strategischen Rohstoffe hätte man auch China unter Kontrolle, aber auch abgeschwächt den russischen Imperialismus. Die US-transatlantischen Kolonialkriege richteten sich unmittelbar gegen die Peripherie, aber mittelbar gegen den russischen Imperialismus. Diese Kolonialkriege waren immer auch verdeckte Stellvertreterkriege, um präventiv die US-Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette abzusichern. Es war immer eine Flucht nach vorn, eine Verzweiflungstat und immer auch eine Flucht vor der Krise, vor der Entwertung des Kapitals. Die Spekulationsblase des „New Economy“ Booms der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts platze im Jahr 2000 und riß die Mehrwertproduktion mit sich. Die Antwort war eine Radikalisierung der US-Spekulationspolitik und die offene imperialistische Aggression gegen die Peripherie. Es wurde die expansive Geldpolitik beibehalten und radikalisiert, damit auf höherer Stufenleiter der Spekulation die „New-Economy“ Spekulation durch die Immobilienspekulation ersetzt. Gleichzeitig inszenierte der US-Imperialismus die Terroranschläge in den USA am 11. September 2001, welche die Legitimation für die imperialistische Aggression in Form von Kolonialkriegen lieferten („Krieg gegen den Terrorismus“). Vor allem der Mittlere Osten und Zentralasien sollten in dieser Operation Syriana unter direkter US-Kontrolle, unter Ausschaltung der Compradorenbourgeoisie und der „nationalen“ Bourgeoisie, gebracht werden. Doch diese Kolonialkriege scheiterten, auch weil der russische Imperialismus und China den Widerstand der Peripherie unterstützten. Und mit den US-transatlantischen Kolonialkriegen scheiterte auch der Versuch, über die Immobilienspekulation die Akkumulation zu stabilisieren, denn es gelang nicht, über die Kolonialkriege das US-Kapital mit Wert zu unterfüttern. Die Politik des US-Imperialismus, die Schwäche der US-Mehrwertproduktion mit außerökonomischen Methoden zu kompensieren und die Politik der Immobilienspekulation abzusichern, kam in eine Sackgasse. Im Jahr 2007 brach ein Immobilienfonds zusammen, welcher konkret die notwendige Entwertung des Kapitals einleitete. Das Jahr 2007 wurde zum ersten Krisenjahr der Großen Krise. Aber erst der offene Zusammenbruch der Wall Street im September 2008 machte die ganze Tragweite des Zusammenbruchs der US-Immobilienspekulation transparent. Bis zum September 2008 konnten die Krisentendenzen noch beherrscht werden, denn bis dahin versuchte man die sich anbahnende qualitative Entwertung des Kapitals vermittels außerökonomischen Methoden imperialistischer Expansion zu kompensieren. Im georgisch-südossetischen Krieg im August 2008, wo zum ersten Mal indirekt in Form eines Stellvertreterkrieges der US-Imperialismus und der russische Imperialismus frontal aufeinanderstießen, sollte der russische Imperialismus vor allem im Kaukasus und aus Zentralasien zurückgedrängt werden, damit das US-Kapital die dortigen strategischen Rohstoffe monopolisieren könnte. Schon im Jahr 2008 wurde eine offene Konfrontation zwischen dem US-Imperialismus und dem transatlantischen Imperialismus gegen den russischen Imperialismus einkalkuliert. Dieser transatlantische Stellvertreterkrieg im August 2008 scheiterte jedoch; der russische Imperialismus wurde deutlich unterschätzt. Die Niederlage im Georgien-Stellvertreterkrieg des US-Imperialismus zerschlug die letzte Hoffnung, die kommende Entwertung des Kapitals mit außerökonomischen Methoden zu kompensieren und so brach die Entwertung des Kapitals im September 2008 offen durch. Die Flucht nach vorn des US-Kapitals endete im September 2008 im Zusammenbruch der Wall Street.

Es gelang dem US-Imperialismus und den transatlantischen Metropolen der imperialistischen Kette zwar den neoliberalen Weltmarkt zu stabilisieren, jedoch nur um den Preis einer mangelnden Akkumulationsdynamik. Das neoliberale Akkumulationsmodell begann zu verfaulen und zu verwesen, damit setzte der finale Abstieg des US-Imperialismus als Hegemonialmacht der imperialistischen Kette ein. Während der russische Imperialismus sich immer deutlicher vom neoliberalen Weltmarkt absetzte und China im neoliberalen Weltmarkt eine immer bedeutendere Funktion einnahm und den US-Imperialismus und die transatlantischen Metropolen überflügelte, gelang es dem deutschen Imperialismus in der EU zur dominanten Macht aufzusteigen. In Folge nahmen die Widersprüche innerhalb der imperialistischen Kette zu und deutlicher als je zuvor, beschritt der US-Imperialismus den Weg, die Krise der US-Mehrwertproduktion über außerökonomische Methoden zu lösen, obwohl diese Politik bereits im Jahr 2007 scheiterte. Lediglich die Aggressivität des US-Imperialismus reproduzierte sich auf höherer Stufenleiter, sonst änderte sich an der Politik des US-Imperialismus nichts. Vor dem Beginn der Großen Krise im Jahr 2007 galt Rußland in der Öffentlichkeit dem US-Imperialismus und der transatlantischen Metropolen noch nicht als Feind, eher als überflüssiger Verbündeter, was aber auch heißt, daß verdeckt der russische Imperialismus schon immer als Feind angesehen wurde. Nach dem Beginn der Großen Krise im Jahr 2007 wird immer offener der russische Imperialismus als Feind in den transatlantischen Metropolen kategorisiert. Die Quantität und Qualität der nun folgenden Stellvertreterkriege nimmt zu. Libyen, Syrien, Ukraine, Jemen sind die Brennpunkte, in denen sich die Weltmarktkonkurrenz in politischer Form verdichtet, d.h. konzentriert in Bürgerkrieg und Krieg. Seit dem Jahr 2013 stehen sich vor allem der US-Imperialismus und der russische Imperialismus Aug in Auge gegenüber, vor allem in Syrien und in der Ukraine, immer am Rand des Dritten Weltkrieges. Die Große Krise ist nicht nur eine ökonomische Krise, sondern sie verdoppelt sich in einer politischen Krise, reproduziert sich in einer internationalen politischen Weltkrise. Seit dem Jahr 2013 verschärft sich die internationale Lage deutlich und erreicht im Jahr 2014 mit dem offenen Ausbruch der Ukraine-Krise einen neuen Höhepunkt, bis die Ukraine-Krise im Jahr 2022 mit dem russisch-ukrainischen Krieg gänzlich eskaliert, die Welt dicht vor den Dritten Weltkrieg führt und den letzten Schlag gegen den neoliberalen Weltmarkt führt und damit gegen die US-Hegemonie. Der Ukraine-Krieg beendet auch formal die US-Hegemonie, indem der russische Imperialismus und China aus dem neoliberalen Weltmarkt und seiner neoliberalen Weltordnung ausbrechen. Gäbe es noch eine US-Hegemonie, gäbe es keinen Ukraine-Krieg. Mit dem Ukraine-Krieg beginnt der offene Kampf um die Position des Hegemons innerhalb der imperialistischen Kette, der Weltmarkt muß neu unter den Kettengliedern der imperialistischen Kette aufgeteilt werden, dabei steht jede Metropole mit dem Rücken zur Wand. Es ist ein Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt, verliert der andere. Erst ein Hegemon kann das Nullsummenspiel beenden; dies geht nur, wenn sich eine Metropole im Nullsummenspiel des Kampfes um die Hegemonie als Sieger durchsetzt. Nach dem Ausbruch des russischen Imperialismus und Chinas aus dem neoliberalen Weltmarkt hat auch der US-Imperialismus kein Interesse mehr an diesem und wirft ihn ebenfalls als Ballast ab. Auch dieser Prozess vollzieht sich nicht schlagartig, seit der Präsidentschaft Trump von 2017-2021 wird die US-Politik immer multipolarer, auch wenn sie noch transatlantische Phrasen benutzt. Unter der gegenwärtigen Präsidentschaft Biden wird diese multipolare Politik besonders deutlich, denn mittlerweile führt die USA auch einen offenen Wirtschaftskrieg gegen die transatlantischen Metropolen, wie gegen China und Rußland. Immer mehr gerät der US-Dollar als Weltgeld unter Druck, immer offener wird dem US-Dollar der Krieg erklärt. Brasilien fordert im Zusammenspiel mit China offen die Ablösung des US-Dollar als internationale Währung und seinen Ersatz durch eine rohstoffgestützte Währung der BRCI-Staaten. Dies zeigt auch an, daß der US-Imperialismus nicht mehr seinen Hinterhof unter Kontrolle hat. Die immer offenere Forderung nach Ablösung des US-Dollar als Weltleitwährung zeigt die Schwäche des US-Dollar an, der sich materiell in dem hohen Goldkurs zeigt, denn das Gold soll ein Moment in einer BRCI-gestützten neuen Währung sein. Allein die Diskussion um den US-Dollar als Weltwährung zeigt die Defensive des US-Dollarsystems und die Krise bzw. das Ende der US-Hegemonie an.

Statt um „liberale Weltgesellschaft“ geht es heute im um die „nationale Sicherheit“, bzw. um die Durchsetzung „nationaler Interessen“, real um die Durchsetzung imperialistischer Interessen in der Neuaufteilung des Weltmarktes. Heute sind „nationale Interessen“ immer „nationale Sicherheitsinteressen“. Jedes Kettenglied der imperialistischen Kette richtet sich nach seinen „nationalen Sicherheitsinteressen“ aus und damit gegen die „nationalen Sicherheitsinteressen“ des und der Weltmarktkonkurrenten. Ein Zusammenstoß der „nationalen Sicherheitsinteressen“ ist unter diesen Umständen unvermeidlich. Kampf aller gegen alle, Kampf jeder gegen jeden und wechselnde Allianzen prägen den multipolaren Weltmarkt. Weltmarkt heißt auch immer Weltkrieg. So wie der Weltmarkt im Kapitalismus alternativlos ist, da Kapitalismus immer Weltkapitalismus ist, so ist auch der Weltkrieg alternativlos, es sei denn, es gelingt der Arbeiterklasse diesen im Kampf um den Sturz des Kapitalismus diesen zu verhindern. Der Weltmarkt trägt den Weltkrieg immer in sich, so wie die Wolke den Regen in sich trägt. Ein Kapitalismus ohne Weltmarkt kann nicht existieren, der Weltmarkt ist die höchste Form des Kapitalismus und der Weltkrieg geht um Hegemonie im Weltmarkt. Nur durch Weltkrieg bzw. durch eine Kette von imperialistischen Kriegen, läßt sich die Hegemonie im Weltmarkt erringen und sichern, die ökonomische Weltmarktkonkurrenz reicht dazu allein nicht aus. So wird auch China als Weltfabrik den US-Imperialismus als Hegemonialmacht nicht ablösen können. Immer noch ist China ein Land der Peripherie, trotz des Status als Weltfabrik. China wurde zur Weltfabrik im neoliberalen Weltmarkt, ob China diesen Status im multipolaren Weltmarkt verteidigen kann, bleibt offen. Bisher konnte der US-Imperialismus, welcher in der Mehrwertproduktion im Vergleich zu China ins Hintertreffen geriet, diesen mit politisch-militärischen Methoden kompensieren. Noch haben die USA einen leichten Vorsprung im Bereich der hochentwickelten kapitalistischen Produktivkraft, welche sich auch im militärisch-industriellen Komplex niederschlägt. Trotz der chinesischen Aufrüstung ist im Moment noch das US-Militär stärker als China. Nur der Schutz Chinas durch den russischen Imperialismus, durch seinen „Schutzschirm“ der atomaren Waffen im Sinne einer Abschreckungspolitik, hält bisher die USA vor einem Angriffskrieg gegen China ab. Noch. Die Politik des US-Imperialismus wird immer irrationaler, weil verzweifelt, und ein US-Krieg gegen China liegt in der Luft. Die Taiwan-Frage wird der Anlaß für einen US-Angriff auf China sein. Gemeinsam sind Rußland und China den USA überlegen, wie auch gegenüber einer US-transatlantischen Front. Den transatlantischen Mächten ist es bisher nicht gelungen, Rußland gegen China auszuspielen oder umgekehrt. Im Gegenteil, diese Versuche haben dazu geführt, daß sich Rußland und China enger zusammenschließen und die transatlantischen Metropolen zunehmend in die Defensive drängen. Der deutsche Imperialismus ist von China abhängig, denn China ist nach den USA der größte Exportmarkt des deutschen Kapitals. Durch den deutschen transatlantischen Wirtschaftskrieg gegen den russischen Imperialismus steigt die Bedeutung des chinesischen Marktes noch weiter an. Eine Eskalation der US-chinesischen Widersprüche in einen umfassenden Wirtschaftskrieg oder gar Krieg (Taiwan-Frage) würde zum ansteigenden US-Druck auf das deutsche Kapital führen, den chinesischen Markt aufzugeben, mit drastischen Folgen für den Weltmarktanteil des deutschen Kapitals. Der Verlust des russischen Importmarktes für Energierohstoffe und andere strategische Rohstoffe, Metalle, die für die Umstellung der Energieproduktion auf Elektroenergie notwendig sind und der gleichzeitige Verlust des chinesischen Exportmarktes würden das deutsche Kapital in eine tiefe Krise führen. Gleichzeitig droht auch dann, wenn der deutsche Imperialismus diese US-Konfrontation gegen Rußland und China stützt, ein Wirtschaftskrieg mit den USA, denn die USA schotten sich auch gegen die EU damit auch gegen den deutschen Imperialismus ab. Es droht der Verlust des US-Marktes für das deutsche Kapital. Mit einer radikalen Deflationspolitik/Schockpolitik würde das deutsche Kapital auf den Verlust der zentralen Märkte (Rußland, China, USA) reagieren. Kann aber damit die Verluste nicht kompensieren, denn auch eine wohlfeilere Produktion für den Weltmarkt durch drastische Absenkung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus der Arbeiterklasse durch Zerschlagung der proletarischen Massenorganisationen vermittels Notstand scheitert an den Zollmauern der Weltmarktkonkurrenten, die auch auf den Wirtschaftskrieg zurückgreifen. Unter diesen Umständen kann die Westbindung des deutschen Kapitals nicht auf Dauer aufrechterhalten werden und das deutsche Kapital ist damit objektiv auf seinen alten Sonderweg abgedrängt.

Eine Hegemonialmacht, eine Weltmacht, geht nie friedlich unter, sie erlebt ihren Untergang auf dem Schlachtfeld und reißt die Welt mit sich. In Verzweiflung wird jedes Risiko eingegangen, um den Sturz vom Thron des Hegemons zu entgehen, d.h. die fallende Hegemonialmacht verhält sich immer irrationaler. Dies schlägt sich auch im Überbau nieder. Es breitet sich im Überbau eine irrationale Ideologie aus, welche notwendig ist, um sich gegen den notwendigen Abstieg aus den Höhen der Hegemonie zu wehren. Der untergehende Hegemon schlägt wild um sich, nach innen und nach außen, immer autoritärer; eine irrationale Ideologie erleichtert dies. Je mehr der untergehende Hegemon irrational um sich schlägt, desto schneller vollzieht sich ein Untergang. Je mehr irrationale Methoden angewendet werden, um den Sturz vom Thron des Hegemons zu verhindern, desto rascher ist die Hegemonie verloren.

Die Maßnahme, den russischen Imperialismus aus dem internationalen vom US-Imperialismus gestützten Zahlungssystem SWIFT auszuschließen, führt zum Aufbau eines vom US-Imperialismus unabhängigen internationalen Zahlungssystems; das Einfrieren der russischen Guthaben und die teilweise Enteignung derselben schadet deutlich dem US-Finanzsystem und dem US-Dollar als Weltgeld, denn jede Bourgeoisie wird sehen, daß ihre Guthaben unter dem „Schutz“ des US-Imperialismus nicht sicher sind, und sich einem russisch-chinesischen internationalen Finanzsystem annähern. Vor allem die arabischen Golf-Staaten haben aufgemerkt, welche über das Petro-Dollar-System den US-Dollar erst als Weltgeld stützen. Bisher war das Öl an den US-Dollar gebunden. Nun überlegt Saudi-Arabien auch andere Währungen, unter anderem den chinesischen Yuan, als Transaktionswährung zu nutzten, wie auch seine Investitionen in Richtung China zu intensivieren. Das internationale US-Finanzsystem ruht auf dem US-Dollar als Weltgeld und der US-Dollar als Weltgeld ruht auf dem internationalen US-Finanzsystem. Der US-Dollar als Weltgeld ist organisch mit dem internationalen US-Finanzsystem verbunden. Fällt der US-Dollar als Weltgeld, fällt das internationale US-Finanzsystem, fällt das internationale US-Finanzsystem, fällt auch der US-Dollar als Weltgeld. Die irrationale und kurzsichtige Politik des US-Imperialismus untergräbt objektiv die materiellen Grundlagen der US-Hegemonie, untergräbt den US-Dollar als Weltgeld und ebenso das internationale US-Finanzsystem. Der US-transatlantische antirussische Wirtschaftskrieg ist ein Alarm-Signal für alle Metropolen und auch alle Staaten der Peripherie, daß jedes Guthaben im internationalen US-Finanzsystem Sanktionen zum Opfer fallen, enteignet und eingezogen werden kann. Es kommt dann objektiv zur Flucht aus dem internationalen US-Finanzsystem und zum Aufbau eines russisch-chinesischen internationalen Finanzsystems in Konkurrenz zum internationalen US-Finanzsystem und somit stehen dann der rohstoffgedeckte Rubel und der Petro-Yuan als langfristige Alternative zum US-Dollarsystem gegen den US-Imperialismus. Auf diese Weise breitet sich der multipolare Weltmarkt naturwüchsig aus. Die „Politik der nationalen Sicherheit“ reflektiert konkret-spezifisch den naturwüchsigen Durchbruch des multipolaren Weltmarktes an die Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und ist eine politische Reaktion auf den Entwertungsschub des Kapitals seit Ende 2019. Bis Ende 2019 konnte der morsche neoliberale Weltmarkt am Leben gehalten werden, doch im Herbst 2019 brach der Repromarkt drastisch ein und abermals drohte ein Zusammenbruch des fiktiven Kapitals nach dem Muster vom September 2008. Es gelang kurzfristig der Entwertungsbewegung des fiktiven Kapitals die Spitze zu nehmen, ohne den Entwertungsprozeß aufhalten zu können. Gleichzeitig war das Jahr 2019 das Jahr der weltweiten proletarischen und kleinbürgerlichen Revolten. Der neoliberale Weltmarkt, die neoliberale Zusammensetzung der Arbeiterklasse durch das Kapital, kam an sein Ende und die historische Form des Endes des neoliberalen Akkumulationsmodells fand sich in der „Corona-Krise“.

In der historischen Form der „Corona-Krise“ brach sich die notwendige Entwertung des Kapitals bahn. Die „SARS-Corona-Pandemie“ war das zufällige Moment, welches als Auslöser für die aufgestauten Entwertungsprozesse fungierte. Jedes andere historische Moment hätte die gleiche Wirkung gehabt. Damit war die „SARS-Corona-Pandemie“ ein zufällig notwendiges Moment und gewann die Schlagkraft nur, aufgrund der im Hintergrund und in den Tiefen der kapitalistischen Produktionsweise verborgenen Entwertungstendenzen des Kapitals. In einem stabilen Weltmarkt wäre es zu einer internationalen Zusammenarbeit gekommen. Jedoch in einem stagnierenden Weltmarkt mußte die SARS-Corona-Pandemie zum Auslöser einer Entwertung des Kapitals werden, wie zum Zusammenbruch jeglicher internationaleren Zusammenarbeit. Der SARS-Corona-Virus ist ein Produkt des kapitalistischen Produktionsprozesses und hat seinen Ursprung in der industriellen Produktion von SARS-Viren in Sicherheitslaboren. Ob es ein Unfall war oder vorsätzliche Handlung dieses Virus freizusetzten, bleibt derzeit offen. Jeder bürgerliche Staat fühle sich von einem anderen bürgerlichen Staat angegriffen und reagierte mit militärischen und paramilitärischen Methoden, d.h. jeder bürgerliche Staat sah sich von einem unbekannten biochemischen Kampfstoff angegriffen und rief den Notstand aus. Über den „Corona-Notstand“ wurde drastisch das gesellschaftliche Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse abgesenkt und die Revolten, die das Jahr 2019 prägten, zerschlagen. Die finale Phase der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse in dem neuen Krisenschub der Großen Krise begann mit der „Corona-Krise“ unter dem Dogma der „nationalen Sicherheit“, welches den Durchbruch des multipolaren Weltmarktes ideologisch reflektiert. Das Ende der „Corona-Krise“ ist gleichzeitig der Beginn der Energiekrise und damit des Energienotstandes in der Form und Folge des Ukraine-Krieges. Die „Corona-Krise“ ist nur der Beginn der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, bereitet diese vor, aber erst mit dem Ukraine-Krieg und seinen internationalen ökonomischen und politischen Folgen beginnt die eigentliche Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Während in der „Corona-Krise“ eine deflationäre Tendenz in der Akkumulation vorherrschte und die Lieferketten zerschlug, führte die Normalisierung der Akkumulation ab Sommer 2021 zu inflationären Tendenzen. Doch das Kapital hatte kein Interesse mehr an der Rekonstruktion der neoliberalen Lieferketten. Seit Herbst 2021 begannen die internationalen politischen Spannungen zwischen dem russischen Imperialismus und dem US-Imperialismus und seiner transatlantischen Verbündeten zuzunehmen und eskalierten im Februar 2022 im Ukraine-Krieg. Die Nicht-Rekonstruktion der durch die „Corona-Krise“ zerstörten Lieferketten führte vom Sommer 2021 zu ansteigenden inflationären Tendenzen, welche ab Februar 2022 in Folge des Ukraine-Krieges und seines internationalen Wirtschaftskrieges explodierten und nur langsam zurückgehen, aber auf einem hohen Niveau verbleiben. In der „Corona-Krise“ entwertete sich das Kapital deflationär; in der Ukraine-Krise entwertet sich das Kapital inflationär, aber immer unter dem Schirm eines Notstandes im Namen der „nationalen Sicherheit“. Das Kapital reduzierte den Energieverbrauch und damit die Produktion- auf Kosten der Arbeiterklasse, welche auf Kurzarbeit gesetzt oder in die industrielle Reservearmee transformiert wird; die Arbeiterklasse reduziert den Energieverbrauch, weil die Reallöhne drastisch durch die inflationären Tendenzen sinken. Gleichzeitig werden die Energielieferungen an die Haushalte durch den bürgerlichen Staat ohne Information und Diskussion abgesenkt. Sollte sich dennoch Widerstand regen, stehen Notstandsmaßnahmen bereit, um die Senkung des Energieverbrauchs notfalls auch repressiv zu erzwingen. Der Energienotstand ist nicht offen ausgerufen, doch lauert er immanent im Hintergrund und diktiert die konkrete Politik der Bourgeoisie. Seit der „Corona-Krise“ steht die Verfassung, das Grundgesetz, unter Notstandsvorbehalt, bzw. unter dem Vorbehalt der „nationalen Sicherheit“. Solange die „nationale Sicherheit“ nicht bedroht ist, gilt die Verfassung. Ist die „nationale Sicherheit“ bedroht, ist die Verfassung bedroht, denn sie wird für eine unbestimmte Zeit außer Kraft gesetzt. Der Begriff „nationale Sicherheit“ ist die Generalklausel für die unbestimmte Suspendierung der Verfassung, für die Zerstörung der parlamentarisch-demokratischen Herrschaftsform der Bourgeoisie durch die Bourgeoisie selbst, denn nur diese, die von der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie erkämpft wurde, gibt der proletarischen Selbstorganisierung Raum, mit der sich die Arbeiterklasse ihre Eroberungen im Kapitalismus verteidigen kann. In der gegenwärtigen Phase der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse wird der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) tendenziell gegen die Arbeiterklasse aktiviert, dessen Funktion es ist, die Arbeiterklasse qualitativ zum Verzicht zu zwingen. Unter dem Diktat der „nationalen Sicherheit“ steht die Verfassung unter Notstandsvorbehalt. Jederzeit kann die „nationale Sicherheit“ die verfassungsmäßige parlamentarisch-demokratische Form bürgerlicher Klassenherrschaft brechen. Für die Bourgeoisie ist die parlamentarisch-demokratische Form ihrer Klassenherrschaft nur eine Form unter vielen anderen Formen bürgerlicher Klassenherrschaft, eine Option unter vielen andern Optionen, während für die Arbeiterklasse die parlamentarisch-demokratische Form des bürgerlichen Staates die einzige Form ist, in der die Arbeiterklasse im Kapitalismus sich als Totalität gesellschaftlich notwendig reproduzieren kann. Der Energienotstand ist nur die Fortsetzung des „Corona-Notstandes“ in einer anderen Form und der „Corona-Notstand“ ist nur die erste Phase des Energienotstandes. Hingegen beide politische Formen, die Form des „Corona-Notstandes“ und die Form des Energienotstandes, nur konkret-spezifisch die Entwertung des Kapitals reflektieren und die voneinander geschiedenen Formen nur verschiedene Phasen der Entwertung des Kapitals konkret-spezifisch widerspiegeln. Die Bourgeoisie droht der Arbeiterklasse mit einer „Schockpolitik“, um die Entwertung des Kapitals umzukehren, denn der aufziehende multipolare Weltmarkt bietet derzeit keine stabilen Akkumulationsbedingungen. Eine tendenziell zusammenbrechende internationale Kooperation mangels eines Hegemons destabilisiert den Weltmarkt, das jeweilige nationale Kapital ist auf sich selbst zurückgeworfen und somit kommt sofort das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse ins Visier des Kapitals, es droht eine „Schockpolitik“, eine schlagartige Deflationspolitik. Jedoch kann eine Deflationspolitik nur über einen bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) realisiert werden, der Verzicht der Arbeiterklasse muß massiv erzwungen werden. Im Namen der „nationalen Sicherheit“ marschiert dann die Repression des bürgerlichen Staates gegen die Arbeiterklasse. Eingeleitet wird diese Politik meist über eine Strategie der Spannung, deren Ziel es ist, den „inneren Feind“, wie den „äußeren Feind“ konkret zu bestimmen und die Massenlegitimation für dessen Vernichtung zu besorgen. Zum „Feind“ wird man, wenn man den geforderten Verzicht, den die Arbeiterklasse leisten soll, verweigert. Verzichtsverweigerung ist ein Angriff auf die „nationale Sicherheit“.

Im Energienotstand wird die „Freund/Feind-Kennung“ zentral. Ein Recht auf Opposition gibt es nicht mehr und deshalb muß zuerst die Meinungsfreiheit beseitigt werden. Heute ist Opposition mit „Feind“ gleichgesetzt. Erlaubt ist nur noch Kritik an einzelnen Momenten und dies nur zur Optimierung der vorgegebenen Ziele. Eine Grundsatzkritik kann heute die soziale Existenz gefährden. Immer auch ist eine Einschränkung der Meinungsfreiheit eine Einschränkung der Organisationsfreiheit des Proletariats, denn ohne Meinungsfreiheit ist eine proletarische Organisierung unmöglich und die Organisation ist die stärkste Waffe des Proletariats im Klassenkampf. Der bürgerliche Staat versucht über den Angriff auf die Meinungsfreiheit die Arbeiterklasse zu desorganisieren und damit zu entwaffnen. Das Ziel ist die Atomisierung der Arbeiterklasse und ihre Fesselung des Proletariats als Objekt der Akkumulation, die Verhinderung des Aufstiegs der Arbeiterklasse vom Objekt zum Subjekt der Klassengeschichte. Widerstand gegen die Deflationspolitik ist dann eine Gefahr für die „nationale Sicherheit“, während Deflationspolitik und Schockpolitik diese zu sichern helfen. Die Schockpolitik ist ein politischer Blitzkrieg gegen die Arbeiterklasse und setzt den Notstandsstaat als Exekutionsorgan voraus, welcher das schützende Schild über die Deflationspolitik hält.

Der „innere Feind“ sind konkret proletarische Kerne in der Arbeiterbewegung, welche der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse auf nationaler wie internationaler Ebene innerhalb des multipolaren Weltmarktes im Wege stehen und sich den Anforderungen des multipolaren Weltmarktes gegenüber mindestens passiv, wenn nicht gar aktiv, verwehren und die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse blockieren. Das Kapital ist notfalls bereit, den Widerstand gewaltsam zu brechen. Im Visier hat das Kapital zentral die Gewerkschaften, als zentrale proletarische Massenorganisation zur unmittelbaren Verteidigung des proletarischen Reproduktionsniveaus. Sollten die Gewerkschaften die Neuzusammensetzung des Kapitals- Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse verhindern oder auch nur behindern, droht die offene oder verdeckte Zerschlagung derselben. Gleichzeitig eröffnet man der Gewerkschaftsbürokratie Optionen für einen Einbau in den bürgerlichen Staat und damit den Weg in eine Arbeitsfront. Die Gewerkschaftsbürokratie kapitulierte abermals, wie schon Anfang des 21. Jahrhunderts in der Hartz IV-Frage und in der Frage der Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen. Statt relativer reformistischer Gegenmacht fungieren die von der Gewerkschaftsbürokratie geführten Gewerkschaften immer mehr als Betriebspolizei. Besonders wird dies deutlich, wenn sie unter dem Energienotstand drastische Reallohnverluste akzeptieren. Es gab keinen ernsten Versuch die Reallohnverluste durch die inflationären Tendenzen vermittels Lohnerhöhungen auszugleichen. Die Gewerkschaftsbürokratie erklärte sich für nicht zuständig, denn die inflationären Tendenzen wären Folgen des Ukraine-Krieges und des transatlantischen antirussischen Wirtschaftskrieges und würden nicht in den Zuständigkeitsbereich der Gewerkschaften fallen, sondern in dem Zuständigkeitsbereich der „Politik“, also des bürgerlichen Staates. Jedoch haben die Gewerkschaften ein „politisches Mandat“ und die Aufgabe, die Interessen der Lohnarbeiterklasse auch gegenüber der Politik des bürgerlichen Staates zu verteidigen, erst Recht dann, wenn der bürgerliche Staat einen Wirtschaftskrieg auf dem Rücken der Arbeiterklasse führt, erst Recht dann, wenn der bürgerliche Staat damit riskiert, daß der Wirtschaftskrieg in einen imperialistischen Krieg umschlägt. Objektiv deckt damit die Gewerkschaftsbürokratie den transatlantischen antirussischen Wirtschaftskrieg und akzeptiert so auch die mögliche Eskalation in den Dritten Weltkrieg und gibt die Klasseninteressen des Proletariats dem Kapital preis, fungiert als innere Schiene der Repression des bürgerlichen Klassenstaates. Vom potentiellen „Feind“ des Kapitals schwenken die von der Gewerkschaftsbürokratie geführten Gewerkschaften zur Position des „Freundes“ der Ausbeutung um. Das sichert die materielle Existenz und die Reproduktion der Gewerkschaftsbürokratie ab, eben auf Kosten der materiellen Existenz der Arbeiterklasse.

Die Selbstgleichschaltung ist die höchste Form der Gleichschaltung und die Gewerkschaftsbürokratie steht anderen Akteuren in Nichts nach und ist ein Rückgriff auf bewährte Muster der Geschichte. Im Ersten imperialistischen Weltkrieg realisierte die Gewerkschaftsbürokratie ihre Selbstgleichschaltung mit dem Kapital, die Politik des „Burgfriedens,“ und am Ende der Weimarer Republik und am Anfang des deutschen Faschismus versuchte die Gewerkschaftsbürokratie ebenfalls eine Politik des „Burgfriedens“ und damit der Selbstgleichschaltung zu realisieren, suchte die Koexistenz mit dem deutschen Faschismus, der zielsicher auf den zweiten imperialistischen Weltkrieg zusteuerte. Doch die Selbstgleichschaltung reichte dem deutschen Faschismus nicht aus. Er zerschlug die Gewerkschaften und gründete die Deutsche Arbeitsfront, denn auch die deformierte und entartete Existenz der Gewerkschaften sah er noch als „Gefahr für die nationale Sicherheit“ und als potentielles „Sicherheitsrisiko“. Tabula rasa war dann die Lösung. Die Selbstgleichschaltung muß nicht erfolgreich sein und kann keine Gleichschaltung durch den bürgerlichen Staat verhindern. Bisher reicht dem deutschen Kapital die Selbstgleichschaltung der Gewerkschaften durch die Gewerkschaftsbürokratie. Der korporatistische Block des Modell Deutschland aus Kapital, bürgerlichem Staat und Gewerkschaftsbürokratie funktioniert auch unter den Bedingungen des Energienotstandes und funktionierte auch im „Corona-Notstand,“ ist eine gute materielle Basis für einen Notstand und formuliert einen „nationalen Konsens“ für die Interessen des deutschen Imperialismus. Wer in Opposition zu diesem „nationalen“ Konsens steht, wird zum „inneren Feind“. Es gibt keine Klasseninteressen mehr, sondern nur noch „nationale Interessen“, welche die „nationalen Interessen“ des deutschen Kapitals sind. In der „Nation“ materialisiert sich der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) und dieser verwirklicht sich in einer Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft, in der nur das Kapital in vielfältigen Formen organisiert ist, nicht aber die Arbeiterklasse. Unabhängige Gewerkschaften, wie andere proletarische Massenorganisationen, werden nicht geduldet.

Dies heißt nicht, daß eine Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft oberflächlich uniformiert sein muß. Sie kann auch im zivilen Gewand daherkommen, wie jetzt. Gegenwärtig wird die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft als „Zivilgesellschaft“ formiert. Ein buntes Universum von Ein-Punkt-Bewegungen bzw. Ein-Punkt-Organisationen nach dem Prinzip der Minderheit, dabei werden über „Identitätspolitiken“ immer neue und immer mehr „Minderheiten“ konstruiert. Diese Minderheiten stellen sich als absolut in den Mittelpunkt und verweigern sich der gesellschaftlichen Totalität. Minderheit gegen Minderheit, „Identität gegen „Identität“ stehen sich unversöhnlich gegenüber. Eine kapitalistische Politik der Spaltung, nach dem Prinzip: „Teile und herrsche“, welche die schon vorhandenen Spaltungen noch vertieft und neue erschafft. Das Kleinbürgertum repräsentiert sich in der „Identitätspolitik/Minderheitenpolitik“ und tritt der Arbeiterklasse feindlich entgegen. Das Proletariat organisiert sich, um sein gesellschaftlich notwendiges Reproduktionsniveau zu verteidigen, während sich das immer tiefer gespaltene Kleinbürgertum um die Bourgeoisie scharrt und versucht seine Gunst zu gewinnen, auf Kosten der jeweils anderen „Minderheit“ im Kleinbürgertum und erst Recht auf Kosten der Arbeiterklasse. Umso größer und tiefer die Entzweiung in der bürgerlichen Gesellschaft in „Minderheiten“, desto größer ist die Rolle des bürgerlichen Staates in dieser, denn er vermittelt über sich die relative Einheit der bürgerlichen Gesellschaft. Der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) spaltet die bürgerliche Gesellschaft, damit sie selbst keine relative Einheit herstellen kann, sondern nur vermittelt über den bürgerlichen Ausnahmestaat. Es darf keine politische Kraft neben dem bürgerlichen Ausnahmestaat geben. Für den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) ist eine relative Einheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine große Gefahr, denn sie gibt der bürgerlichen Gesellschaft eine tendenzielle Unabhängigkeit von ihm. Ein Garant für die Existenz des bürgerlichen Ausnahmestaates ist eine eigene soziale und politische Massenbasis, die jedoch gegen den proletarischen Einfluß abgeschirmt werden muß, denn sonst zerbricht sie. Jede unabhängige Organisierung gegen die soziale und politische Massenbasis des bürgerlichen Ausnahmestaates, auch im Kleinbürgertum, muß ebenfalls abgelenkt und zersplittert werden, denn nur dann sind diese Splitter auf den bürgerlichen Ausnahmestaat ausgerichtet. Nur wenn die „Zivilgesellschaft“ um den bürgerlichen Staat konzentriert ist, nicht- unabhängig ist, wird sie vom bürgerlichen Staat akzeptiert und fungiert als der lange verdeckte Arm des bürgerlichen Klassenstaates. Die „NGO`s“ (Nichtregierungsorganisationen) sind verdeckte Staatsorganisationen und/oder verdeckte Organisationen des Kapitals, denn sie werden über den bürgerlichen Staat und/oder vom Kapital (seinen „Stiftungen“) finanziert, auch über Großspenden bzw. Großspenden aufgeteilt über eine Vielzahl von Kleinspenden. Nur die wenigsten Nichtregierungsorganisationen sind wirkliche Nichtregierungsorganisationen und sind nicht nur vom bürgerlichen Staat, sondern auch vom Kapital unabhängig und finanzieren sich aus wirklichen Kleinspenden. Jedoch die überwiegende Mehrheit dieser Nichtregierungsorganisationen werden von der Bourgeoisie finanziert und müssen sich den Entscheidungen der Bourgeoisie unterwerfen, wenn sie ihre soziale Existenz sichern wollen. Auf keinen Fall ist der „NGO-Sektor“ bzw. die „Zivilgesellschaft“ unabhängig und steht auch nicht über den Klassen, sondern ist ein kleinbürgerlicher Sektor, der von der Bourgeoisie geführt wird. Verweigern Nichtregierungsorganisationen den Gehorsam gegenüber der Bourgeoisie, wird die Finanzierung eingestellt und die soziale Existenz ist gefährdet. So ist der staatsnahe und kapitalnahe Sektor der Nichtregierungsorganisationen auf die Gnade der Bourgeoisie angewiesen und das Sprachrohr der Bourgeoisie, aber nicht das Sprachrohr der „Minderheiten“. Die Interessen der „identitären Minderheiten“ werden nur in so weit vertreten, wie es den Interessen der Bourgeoisie nützlich ist, zumindest nicht zuwider verläuft. Auf keinen Fall steht die „Zivilgesellschaft“ für eine Selbstorganisation von unten, also für eine demokratische Selbstorganisation der Massen bzw. für eine Selbstorganisation der Arbeiterklasse, sondern genau entgegengesetzt, für eine Organisierung der Massen von oben und damit eine hierarchische, antidemokratische und autoritäre Organisierung der Massen durch die herrschende Klasse, steht für eine Fremdorganisierung der Massen durch die Bourgeoisie, konkret indirekt über den bürgerlichen Staat und/oder direkt durch das Kapital. In letzter Instanz wird die „Zivilgesellschaft“ durch die Bourgeoisie gesteuert, sie ist für die Bourgeoisie lediglich ein Transformationsriemen mit Stoßrichtung auf das Kleinbürgertum und soll das Kleinbürgertum um die Bourgeoisie gruppieren, damit die bürgerliche Klassenherrschaft gewahrt bleibt. Die Bourgeoisie finanziert ihre „Zivilgesellschaft“ in eigenen Land und unterbindet alle Versuche der Finanzierung der „Zivilgesellschaft“ durch die Weltmarktkonkurrenten, wie auch versucht sie die „Zivilgesellschaft“ der Weltmarktkonkurrenten zu finanzieren, zum Schaden der Weltmarktkonkurrenten. Die „Zivilgesellschaft“ ist eine Waffe des Kapitals im Klassenkampf gegen die Arbeiterklasse und eine Waffe in der Weltmarktkonkurrenz.

Im neoliberalen Akkumulationsmodell verloren die Parteien für das Kapital ihre zentralen Funktionen als Transmissionsriemen zu den Massen und ihre Funktion als Legitimationsbeschaffer. Es erfolgte eine Abkopplung der Bourgeoisie von den Parteien des Parteiensystems und in den Parteien wurde die Parteibasis weiter entmachtet. Immer mehr wurden die Parteien zu Momenten in einer Befehlshierarchie. Die Bourgeoisie spricht über das Parteiensystem einseitig zu den Massen und läßt die Interessen der Massen nicht zu Wort kommen. Die Massen brechen mit den Massenparteien und ziehen sich zurück und verfallen in Apathie. Im neoliberalen Weltmarkt, dessen einzige Garantiemacht der US-Imperialismus war, ist die Apathie der Massen, welche sich in der Ideologie der „Alternativlosigkeit“ aussprach, der zentrale Pfeiler seiner Stabilität und scheinbaren „Alternativlosigkeit“.

Während die Parteien zu einer leeren Hülle verkommen, wo die Massen entwichen sind und eine Massenmobilisierung zum Zwecke der Massenlegitimation des neoliberalen Akkumulationsregimes nicht mehr möglich und von der Bourgeoisie nicht mehr erwünscht ist, sondern nur noch der leere, passive, Akt des Wählens als Folge einer Wählermobilisierung einer kollektiven Einheitspartei, erfolgt die aktive und dynamische Massenlegitimation über die „Zivilgesellschaft“ durch atomisierte und damit in sich eingeschlossene identitäre Minderheiten. Diese „Zivilgesellschaft“ ist zentral auf die bürgerlichen Medien ausgerichtet und die Funktion der bürgerlichen Medien ist es, die Positionen der „Zivilgesellschaft“ an die Massen zu vermitteln, sie als verbindlich darzustellen. Wer von dem neoliberalen und jetzt nationalliberalen Konsens zu weit abrückt, muß Repression durch alle Instanzen der Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft erwarten. Die Kommunikation der herrschenden Klasse mit den unterworfenen Klassen wird immer einseitiger; keine Diskussion mehr, sondern Befehl und Gehorsam. Eine politische Rückkopplung ist nicht mehr vorgesehen, weder im formal noch bestehenden Parteiensystem und erst Recht nicht im Kosmos der Nichtregierungsorganisationen. Es wird zumindest passive Zustimmung erwartet, besser aktive Zustimmung. Über den Kosmos der sogenannten Nichtregierungsorganisationen wird ein System der Zensur eingerichtet, deren Ziel es ist, jede gewichtige Kritik als „Feindhandlung“ zu denunzieren und den gewichtigeren Kritiker als „Feind“. Der „Feind“ soll aus der Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft ausgeschlossen werden. Diskussionen sind ein Ausschlußgrund aus der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft. Meinungsfreiheit auch als Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft wird drastisch beschnitten. Für die Bourgeoisie seht der „innere Feind“ immer mit dem „äußeren Feind“ in der Arena der Weltmarktkonkurrenz in Verbindung. Diese materielle Figur des „äußeren Feindes“ hilft dabei, den „inneren Feind“ zu konstruieren. Die grundsätzliche Kritik einer grundsätzlichen Opposition wird als Hilfe, gar als Verrat zu Gunsten des Weltmarktkonkurrenten bewertet. Es gibt nur noch „Freund“ oder „Feind“, aber nicht mehr Regierung und Opposition. Der „Feind“ muß mit allen Mitteln bekämpft und vernichtet werden. Mit der „Freund/Feind-Kennung wird die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft auf Krieg und Bürgerkrieg ausgerichtet und die Ökonomie auf eine Kriegswirtschaft. Der deutsche Imperialismus orientiert sich immer mehr auf die Epoche vor 1945, welche deutlicher als im sogenannten Kalten Krieg von einer „Freund/Feind-Kennung bestimmt war, denn sie wurde gewaltsamer und auch tödlicher exekutiert als im sogenannten Kalten Krieg. Im sogenannten Kalten Krieg, der Konfrontation des Imperialismus mit den bürokratischen Arbeiterstaaten schützte die Arbeiterklasse noch die parlamentarisch-demokratische Form des bürgerlichen Staates, die derzeit zerfällt und vom Notstand beiseitegeschoben wird. Es wird nicht nur auf vor 1989 zurückgegangen, sondern Schritt für Schritt auf vor 1945. Der offene Zusammenbruch der Ordnung von Jalta und Potsdam mit dem Ukraine-Krieg im Jahr 2022, wirft den Weltmarkt und die internationale Ordnung auf den Stand von vor 1945 zurück (dies unterscheidet qualitativ die internationale Ordnung von 1945 zu 2022; denn Jalta und Potsdam teilten die Welt in zwei Interessensphären zwischen dem Imperialismus und den bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten auf; heute müssen erst einmal die diversen und mannigfaltigen in sich widersprüchlichen imperialistischen Interessensphären definiert und realisiert werden), die internationale Konkurrenz mutiert zur internationalen Feindschaft und innerhalb eines jeden Landes reproduziert sich diese internationale Feindschaft zwischen den imperialistischen Metropolen, zwischen den kapitalistischen Staaten, in einer offenen Feindschaft zwischen Kapital und Arbeiterklasse in der Tendenz zum offenen Klassenkrieg. Es setzt sich eine Tendenz zum bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus).

Mit dem Verfall der parlamentarisch-demokratischen Form des bürgerlichen Staates und der Ablösung durch einen Notstandsstaat verfällt auch die parlamentarisch-demokratische Form der bürgerlichen Klassenjustiz und es breiten sich Tendenzen zu einem Sonderrecht heraus, die auf ein Feindrecht zielen, welches weit über das Strafrecht hinausgeht und das Arbeits- und Sozialrecht zu kontaminieren droht. Dieses Feindrecht baut sich über die Betonung der „Werte“ bzw. „Normen“ auf. Was die „Werte“ sind, wird nicht konkret präzisiert, sie stellen konkret ein abstraktes Bekenntnis zum transatlantischen Kapitalismus unter Führung des US-Imperialismus dar, den sogenannten westlichen Kapitalismus, bzw. den „Westen“ und der deutsche Imperialismus ist ein Teil des „Westens“. Noch zumindest. Denn folglich könnte jeder Imperialismus seine eigenen „Werte und „Normen“ in den Mittelpunkt stellen und sie zur Richtschnur seiner Politik machen. Wesentlich ist, daß die Gesetze nach diesen „Werten“ und „Normen“ interpretiert, ausgelegt, werden sollen, auch die internationalen „Gesetze“ und damit konkret das Völkerrecht. Nach dem Willen der transatlantischen Metropolen stehen die „westlichen Werte und Normen“ höher als das Völkerrecht, welches an diese „Normen und Werte,“ auch durch Uminterpretation, angepaßt werden soll. Es sind die „Normen“ und „Werte“ eines transatlantisch, neoliberalen Kapitalismus, Imperialismus, der mit anderen „Normen“ und „Werten“ des russischen Imperialismus und Chinas in Konkurrenz und Feindschaft steht.

Die Bourgeoisie setzt der Gesetzesnorm eine bestimmte gesellschaftliche Norm voraus. Diese gesellschaftliche Norm ist eine „Wertentscheidung“ in dem Sinne, daß die gesetzliche Norm im Sinne der gesellschaftlichen Norm interpretiert werden muß. Nicht nach dem Gesetz richtet sich zentral die bürgerliche Rechtsprechung, sondern nach den außerhalb des Rechts bestehenden „Normen“ und „Werten“. Wer nicht die neoliberalen oder transatlantischen „Normen“ und „Werte“ vertritt ist in der Defensive bzw. ist von der Rechtspflege ausgeschlossen. Es muß ein stummes Bekenntnis zu den transatlantischen und neoliberalen „Werten“ und „Normen“ abgelegt werden. Nicht die „Tat“ steht im Mittelpunkt der Justiz, sondern der Täter; es geht um die Gesinnung des Täters, um Gesinnungsjustiz, ob der „Täter“ die gerade von der Bourgeoisie geforderten „Normen“ und „Werte“ teilt und aktiv vertritt, oder ob er diese ablehnt. Die neoliberalen, transatlantischen, Werte vergehen im multipolaren Weltmarkt und werden ersetzt durch „nationale Werte“ und „nationale Normen,“ die auf eine „nationale Gesinnung“ abzielen. Es wird die individuelle Gesinnung kriminalisiert, wenn sie im Widerspruch zur „nationalen“ Gesinnung steht. Die Begriffe „Normen“ und „Werte“ stehen für den älteren Begriff der von der herrschenden Klasse organisierten und gewünschten (politischen) Gesinnung. Immer deutlicher wird die politische Gesinnung des Lohnarbeiters zum Maßstab seiner Beurteilung und Verurteilung, auch außerhalb des Strafrechts, z. B. im Arbeits-oder Sozialrecht. Gelingt es nicht einen Lohnarbeiter wegen seiner politischen Gesinnung strafrechtlich zu sanktionieren, so versucht man dies auf der arbeits-oder sozialrechtlichen, bzw. zivilrechtlichen Ebene. Das Feindrecht zielt auf die politische Gesinnung, ist „Täterrecht“, statt Tatrecht, nicht die Tat wird gestraft, sondern die politische Gesinnung des Täters. Dann geht es nicht um ein konkretes Vergehen, sondern um das Motiv und damit um die politische Gesinnung hinter der Tat, bzw. bei dem konkreten Verhalten, welches vom bürgerlichen Staat als Tat gewertet wird. Die vom bürgerlichen Staat eingeforderte korrekte politische Gesinnung („political correctness“) ist ein Moment des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) und dominiert damit auch die Klassenjustiz des bürgerlichen Ausnahmestaates, ist das zentrale Vor-Recht der Rechtsanwendung, zielt zentral auf die Zerstörung der proletarischen Meinungsfreiheit und damit auf die Zerschlagung der proletarischen Organisationsfreiheit. Das Ziel ist die Zerstörung des „inneren“, wie „äußeren Feindes“. Gesinnungsjustiz ist vorverlegter Staatsschutz. Die von der Bourgeoisie geforderte Gesinnung ist die Gesinnung des „Staatsschutzes“ oder auch die Gesinnung der „Staatssicherheit“ im Namen der „nationalen Sicherheit“, welche weit über den „Staatsschutz“ bzw. „Staatssicherheit“ hinausgeht und die gesamte bürgerliche Gesellschaft umfaßt, sich auch in der „Zivilgesellschaft“ materialisiert, wie in einer moralisierenden Politik, die in den bürgerlichen Medien als Maßstab für die „richtige Gesinnung“ ausformuliert wird.

Im Mittelpunkt dieser konkreten Ideologie steht die „Menschheit“ bzw. die „Menschheitsfragen“ derzeit konkret eingefaßt in der Frage des „Klimawandels“. Dahinter verschwinden alle konkreten Alltagsfragen und damit auch die „soziale Frage“, wie die Klassenfrage an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erscheint. Alle anderen Fragen, wie der Ukraine-Krieg werden entweder ignoriert oder in Verbindung mit den „Menschheitsfragen“ gebracht, nicht jedoch mit der Klassenfrage. Die identitäre Minderheitenpolitik zielt auf eine verhältnismäßige Repräsentation im Rahmen der „Menschheitsfragen“. Gemäß der identitären Minderheitenpolitik ist zwar eine „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ausgeschlossen, nicht aber eine „allgemeine Menschenfeindlichkeit“. Eine „allgemeine Menschenfeindlichkeit“ ist durchaus zulässig, wenn sie prozentual nach ihrem Anteil die „Minderheiten“ mit einbezieht. Die „allgemeine Menschenfeindlichkeit“ materialisiert sich im Verzicht der Lohnarbeiterklasse und sie ist korrekt und wünschenswert aus der Sicht des Ideologems des „Klimawandels“, welches das ideologische Symbol auf der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist und konkret-spezifisch die Große Krise des Kapitalismus reflektiert, wenn alle „Minderheiten“ gemäß ihrem Anteil berücksichtigt werden. Dann soll der Verzicht „gerecht“ sein und muß autoritär gegen jeden verteidigt werden, welcher sich übervorteilt sieht. Das Ziel ist es, „allgemeine Menschenfeindlichkeit“ ohne „gruppenbezügliche Menschenfeindlichkeit“ zu exekutieren. Keine „Gruppe von Menschen“ soll bei dem notwendigen Verzicht bevorteilt oder benachteiligt werden. Es ist üblich, daß ganz allgemein von „Überbevölkerung“ gesprochen wird, welche eine Gefahr für das „Klima“ ist und man Abhilfe schaffen müsse; konkret: es wäre unverantwortlich Kinder in die Welt zu setzten, denn diese würden ja unter Umständen später das „Klima“ bedrohen. In neuen ökologischen, „klimafreundlichen“ Formen tauchen die alten Ideologien von Eugenik und Euthanasie wieder auf, ohne formal auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zu zielen, jedoch real ist klar, daß hier wie traditionell abstrakt die Arbeiterklasse gemeint ist, konkret „Leistungseingeschränkte“ aller Art und damit auch Behinderte etc, wie auch international die Peripherie, die eine hohe Bevölkerungsdichte aufweist. Auch hier kehrt man in Deutschland in neuen ökologischen Formen zurück zu einer Zeit vor 1945, bzw. bezieht man sich konkret auf das 1933, wo der deutsche Faschismus sich anschickte Deutschland und die Welt neu zu organisieren. Es geht um eine Selektion zwischen arbeitsfähiger Ware Arbeitskraft von der nicht-arbeitsfähigen Ware Arbeitskraft, deren Ware Arbeitskraft den Wert 0 aufweist und damit keine Ware Arbeitskraft mehr ist, sondern nur noch Übervölkerung. Eine Ware Arbeitskraft, die potentiell keine Ausbeutungsmasse mehr darstellt, ist auch kein Glied mehr in der industriellen Reservearmee, sondern für das Kapital nur noch überflüssig und kann wie alle überschüssige Ware vernichtet werden. Es geht um die Vernichtung überzähligen Menschenmaterials, welches die Akkumulation des Kapitals behindert und damit die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, welche notwendig ist, um die Große Krise zu transzendieren, was notwendig ideologisch verdreht auf der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als „Klimaschutz“ erscheint. „Klimaschutz“ bedeutet konkret unter kapitalistischen Produktionsverhältnisse eben nicht „Schutz des menschlichen Lebens“, sondern Gefährdung des menschlichen Lebens und aus diesem Grunde ist dann „Klimaschutz“ gelebter „Staatsschutz“, realisierte „nationale Sicherheit“. Das „Gutmenschentum“ der moralisierenden Politik führt direkt in die Barbarei und in die „nationale Sicherheit“ des Notstands.

Dem Proletariat geht es nicht um „Klimaschutz“, sondern um Umweltschutz und dies faßt den „Klimaschutz“ mit ein. „Klimaschutz“ ist nur ein Moment des „Umweltschutzes“ und der „Umweltschutz“ geht über den „Klimaschutz“ weithinaus, denn „Umweltschutz“ ist keine nur „ökologische“ Politik, sondern ein Moment proletarischer Klassenpolitik, faßt die sozialen Klassenverhältnisse der kapitalistischen Klassengesellschaft mit ein. Konkret: Auch und vor allem ist Arbeitsschutz konkreter „Umweltschutz“. „Umweltschutz“ und damit auch „Klimaschutz“ beginnt am Arbeitsplatz bzw. Ausbeutungsplatz, in der Produktionssphäre als Urgrund der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. „Umweltschutz“ und damit auch „Klimaschutz“ kann sich nur Sozialismus verwirklichen, nicht aber im Kapitalismus, d.h. „Umweltschutz“ bzw. „Klimaschutz“ ist eine der Formen, in dem die Klassenfrage an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erscheint und verlangt eine antikapitalistische, sozialistische Politik, wenn sie erfolgreich sein soll. Ist eine ökologische Politik nicht in eine proletarische Klassenpolitik eingebettet, wird sie reaktionär, wird eine ökologische Politik zu einer Waffe der Bourgeoisie in seinem Klassenkampf gegen das Proletariat und somit zu einer Frage der „nationalen Sicherheit“.

Der „innere Feind“ der Bourgeoisie teilt sich auf in den „politischen Feind“ und den „sozialen Feind“. Während der „politische Feind“ die Akkumulation durch seinen Widerstand behindert, ist der „soziale Feind,“ die Übervölkerung der „Leistungsgeminderten“ bzw. der nicht mehr ausbeutungsfähigen Ausbeutungsmasse ein Hindernis für die Akkumulation. Bevor das Kapital sich dem „sozialen Feind“ annimmt, muß der „politische Feind“ vernichtet werden, denn der „politische Feind“ ist es, der verhindert, daß der „soziale Feind“ vernichtet wird. Beide Formen des „inneren Feindes“, der „politische Feind“, wie der „soziale Feind“ sind aus Sicht des Kapitals eine „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ und werden entsprechend bekämpft. Wenn es nicht gelingt politisch einen erfolgreichen Widerstand zu organisieren, stürzt sich das Kapital auf den „sozialen Feind“ und statuiert an diesem ein Exempel auch für den „politischen Feind“, denn es wird versucht, durch Säuberung der Betriebe und Drohung mit dieser Praxis, den „politischen Feind“ in den „sozialen Feind“ aufzulösen und ihn damit zu disziplinieren. Hartz IV ist die Waffe des Kapitals, welche unmittelbar den „sozialen Feind“ trifft, aber mittelbar den „politischen Feind“. Mit Hartz IV treten auch Momente des bürgerlichen Ausnahmestaates schon der demokratisch-parlamentarischen Form des bürgerlichen Staates auf. Der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) hat eine Geschichte und kommt nicht über Nacht. Diese Geschichte des bürgerlichen Ausnahmestaates beginnt mit Hartz IV. Hartz IV setzt nur die Potentialität für eine Entwicklung zum bürgerlichen Ausnahmestaat; es führt kein gradliniger Weg von Hartz IV in den bürgerlichen Ausnahmestaat, sondern dieser ist das Ergebnis von Klassenkämpfen. Wenn kein direkter Weg vom Hartz IV-System in den bürgerlichen Ausnahmestaat führt, dann noch ein unebener indirekter Weg. Über die Realisation von Hartz IV betritt die Bourgeoisie den Weg in einen autoritären Kapitalismus, muß den Weg aber nicht zu Ende gehen und kann dies auch nicht ohne weiteres. Ob die Bourgeoisie den Weg in den autoritären Kapitalismus weitergeht oder zum Umkehren gezwungen wird, hängt vom Klassenkampf ab. Eine Defensive des Proletariats beantwortet die Bourgeoisie mit dem bürgerlichen Ausnahmestaat, denn nur in einer Defensive des Proletariats kann die Bourgeoisie das Kleinbürgertum an sich binden und dieses als soziale und politische Massenbasis aktiv nutzen. Das Kleinbürgertum steht objektiv, weil strukturell, der Bourgeoisie näher als der Arbeiterklasse, kann aber in Phasen der proletarischen Offensive als Bündnispartner für die Arbeiterklasse gewonnen werden und marschiert unter der proletarischen Hegemonie dann mit der Arbeiterklasse gegen das Kapital. Grundlage für ein Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Kleinbürgertum ist zuerst eine proletarische Einheitsfront in der Arbeiterklasse selbst, denn das Kleinbürgertum marschiert nur auf der Seite der konkret stärksten Macht. Der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) bedarf verschiedener Ausprägungen der sozialen Massenlegitimation durch das Kleinbürgertum, je nach historischer Form geschieden, um zu existieren. In Phasen der proletarischen Offensive ist dies nicht möglich, da das Kleinbürgertum auf Seiten des Proletariats konzentriert ist. In revolutionären Situationen versucht die Bourgeoisie in den bürgerlichen Ausnahmestaat zu flüchten, ist aber zu schwach diesen zu realisieren, da die soziale und politische Massenunterstützung aus den Reihen des Kleinbürgertums fehlt. In diesen Phasen ist der bürgerliche Ausnahmestaat nur noch seine Karikatur, denn er hängt ohne soziale und politische Massenbasis in der Luft, da das Proletariat in einer revolutionären Phase ihm die kleinbürgerliche soziale und politische Massenunterstützung entzieht. Immer entscheidet der Klassenkampf über den bürgerlichen Ausnahmestaat.

Das Hartz IV-System ist ein Zeichen für die proletarische Defensive und ist ein großer Sieg des Kapitals. Damit hat das Kapital die materielle Grundlage für die Fortsetzung seiner Offensive gelegt und realisiert sich materiell in der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Das Proletariat ist noch weiter in die Defensive gedrängt. Innerhalb des parlamentarisch-demokratisch bürgerlichen Staates wurde ein Sektor des Ausnahmezustandes geschaffen, welcher nur ungenügend vom parlamentarisch-demokratischen bürgerlichen Staat kontrolliert wird und zentral auf bestimmte Segmente der industriellen Reservearmee ausgerichtet ist. Das Ziel ist die Transformation dieser Segmente der industriellen Reservearmee in eine arbeitende Armut; diese Segmente der industriellen Reservearmee sollen in den zweiten prekären Arbeitsmarkt (Verschränkung von Niedriglohn und Niedrigsozialleistungen) mobilisiert werden und als Ausbeutungsmasse für das Kapital dienen und somit die Akkumulation des Kapitals befördern. Dazu wird das Hartz IV-System geschaffen, welches ein Ausnahmesystem ist und dessen Ziel es ist, die im Hartz IV-System konzentrierten Erwerbslosen schutzlos der Ausbeutung des Kapitals zu überantworten.

Dazu wird eine Arbeitspflicht verhängt. Jede Arbeit muß angenommen werden. Es gibt keinen Qualifikationsschutz und keinen Tarifschutz mehr. Nur Arbeit, welche gegen die „guten Sitten“ verstößt, darf abgelehnt werden. Um dies Ziel zu erreichen wird eine Beweislastumkehr eingeführt. Nun muß der Erwerbslose nachweisen, daß die angebotene Arbeit unzumutbar ist und nicht mehr der bürgerliche Staat, was in der Praxis kaum möglich ist. Wird die angebotene Arbeit dennoch abgelehnt, drohen Sanktionen. Diese Sanktionspraxis wurde vom Bundesverfassungsgericht modifiziert, aber nicht beendet. Es darf nur bis zu einem bestimmten Prozentsatz gekürzt werden, nicht jedoch zu einer totalen Kürzung kommen. Die Hartz IV-Apparate können aber ohne weiteres verschiedene Sanktionen auf akkumulieren und diese Kürzungen realisieren. Zudem ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts widersprüchlich und läßt noch tiefere Kürzungen zu. Die Sanktionsfrage wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht eindeutig geklärt, sondern dieser Bereich ist jetzt noch unklarer als vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, was den Druck auf die Erwerbslosen nicht abmildert, sondern sogar noch erhöht. Es kann immer auch jetzt noch geschehen, daß bis in die Obdachlosigkeit sanktioniert werden kann, ausgeschlossen ist dies nicht. Die Waffe der Sanktionen bleibt immer noch scharf und wird auch eingesetzt.

Wenn jede Arbeit angenommen werden muß, werden die von der Gewerkschaft erkämpften Tarifverträge unterlaufen, die relative Tarifautonomie wird tendenziell zerstört, was auf die Reallohnentwicklung der aktiven Arbeiterarmee deutlich zurückschlägt. Mit Hartz IV wird deutlich die industrielle Reservearmee gegen die aktive Arbeiterarmee ausgespielt. Teile und herrsche. Das Hartz IV-System hängt wie ein Bleigewicht an der Reallohnentwicklung des Proletariats und des Kleinbürgertums. Ohne die Zerstörung des Hartz- IV-Systems kann eine nachhaltige Reallohnsicherung oder gar Reallohnerhöhung nicht realisiert werden. Das Hartz IV-System zielt unmittelbar gegen die industrielle Reservearmee, jedoch mittelbar auf die aktive Arbeiterarmee. Über die Institutionalisierung des prekären zweiten Arbeitsmarktes durch das Hartz IV-System wird die Spaltung zwischen Kern- und Randbelegschaften weiter vertieft und als Ganzes das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse abgesenkt, denn die Ware Arbeitskraft wird im Hartz IV-System drastisch entwertet, indem der soziale Schutz der erwerbslosen Ware Arbeitskraft zerstört wird und damit diese dem Kapital schutzlos ausgeliefert wird.

Um den Druck auf die Hartz IV-Bezieher noch zu verstärken, wird zur „sozialen Sippenhaft“ gegriffen. Nicht nur die individuelle erwerbslose Ware Arbeitskraft ist dem Hartz IV-System schutzlos ausgeliefert, sondern auch die „Bedarfsgemeinschaft“. Auch für sie gelten die Regelungen des Hartz IV-Systems. Um die Abhängigkeit des erwerbslosen Lohnarbeiters im Hartz IV-System zu reduzieren oder gar aufzuheben, ist die vom Hartz IV-System bürokratisch konstruierte „Bedarfsgemeinschaft“ ebenfalls verpflichtet, eine Lohnarbeit notfalls im prekären zweiten Arbeitsmarkt aufnehmen. Auch damit endet die Repression nicht. Die „Bedarfsgemeinschaft“ wird mit Hausdurchsuchungen und Razzien von Arbeitsamt kontrolliert, ob kein „Sozialmißbrauch“ stattfindet, dabei werden nicht nur Konten durchleuchtet, sondern die Wohnung kontrolliert und auf Denunziation zurückgegriffen. Es wurden eigene „Ermittlungsdienste“ gegründet oder diese „Ermittlungen“ an Werkschutzunternehmen ausgelagert. Gleichzeitig wird vom Arbeitsamt gegen die Erwerbslosen ein „Profiling“ betrieben und ein soziales und psychologisches Profil angelegt, auf welches auch die Repressionsapparate zurückgreifen können und dem Arbeitsamt das bürokratische Material für die Verhöre der Erwerbslosen liefern, wie auch für die „Schulungen“, welche der Gehirnwäsche dienen, die den Widerstand des atomisierten Erwerbslosen brechen sollen.

Vorgeschaltet werden kann noch ein kommunaler Arbeitseinsatz zur „Arbeitserprobung“. Bei Ablehnung drohen ebenfalls Sanktionen. Diese Arbeitsstellen in dem kommunalen Arbeitsdienst sind keine regulären Arbeitsstellen/Arbeitsplätze und konstituieren kein Arbeitsverhältnis, sondern ein Sozialrechtsverhältnis. Es wird kein Lohn gezahlt, sondern eine Aufwandsentschädigung. Nur die wenigsten Arbeitsgesetze gelten. Es darf kein Betriebsrat gewählt werden. Die Gewerkschaft darf zwar organisieren, aber nicht zu Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen. Eine „demokratische Zwangsarbeit“ zur „Arbeitsgewöhnung“.

Doch bevor man das dunkle Hartz IV-Reich betritt, muß man vollkommen mittellos sein und damit relativ hilflos. Das Vermögen und auch das Vermögen und das Einkommen der „Bedarfsgemeinschaft“ muß aufgebraucht sein. Es findet am Tor von Hartz IV eine Bedürftigkeitsprüfung statt. Hat die „Bedarfsgemeinschaft“ ein zu viel an Einkommen und/oder Vermögen wird der Antrag auf Hartz IV vom Hartz IV-System verworfen. Dies gilt auch für ergänzende Leistungen zum Niedriglohn. Nur bis zu einem bestimmten Niedriglohnsatz wird ergänzendes Arbeitslosengeld II gezahlt. Das Ziel des Hartz IV-Systems ist es, den Vollbezug von Hartz IV zu beenden und in ergänzende Bezüge zum Niedriglohn umzuwandeln. Nur eine Minderheit der Hartz IV-Bezieher traut sich juristisch gegen die Repression zu wehren, der politische Widerstand ist noch geringer. Ohne zumindest juristischen Widerstand hat das Hartz IV-System freie Hand. Die Repression des Hartz IV-Systems wirkt, sie lähmt schon präventiv den proletarischen Widerstand. Kein Kläger-keine Klage, keine Aktion der parlamentarisch-demokratischen Klassenjustiz aus sich selbst heraus. Das Hartz IV-System hat die industrielle Reservearmee und auch die aktive Arbeiterarmee entpolitisiert und weitgehend in die Resignation getrieben.

Hartz IV ist der Notstand gegen die Erwerbslosen und ein Muster für einen Notstand gegen die gesamte Arbeiterklasse und übt einen großen Reiz auf die Bourgeoisie aus, auf nationaler Ebene in gleicher Weise zu verfahren. Der „Corona-Notstand“ war der erste Schritt dahin, der zweite Schritt ist der Energienotstand. Hartz IV für die gesamte bürgerliche Gesellschaft bzw. Hartz IV als „neue Normalität“ für die gesamte bürgerliche Gesellschaft. Der Notstand als „neue Normalität“ der bürgerlichen Gesellschaft. Die Schwäche der Arbeiterklasse provoziert geradezu den Notstand. Je mehr die Bourgeoisie dem Reiz des Notstands verfällt, desto mehr wandelt sie objektiv auf den Spuren des deutschen Sonderweges. Autoritär nach Innen und eine Schaukelpolitik zwischen West und Ost. Beides gehört zusammen. Eine Schaukelpolitik zwischen West und Ost hat zur Bedingung eine autoritäre innere Ausrichtung und eine innere autoritäre Ausrichtung führt zu einer Schaukelpolitik zwischen West und Ost. Die derzeitige Westorientierung des deutschen Imperialismus kommt in den Widerspruch mit der immer autoritärer werdenden inneren Entwicklung und umgekehrt. Mittelfristig wird dieser Widerspruch gelöst werden- in Richtung deutscher Sonderweg, wenn die Arbeiterklasse der deutschen Bourgeoisie nicht den Weg versperrt.

Der „Corona-Notstand“ und der nun nachfolgende Energienotstand hebt die Entpolitisierung der Arbeiterklasse auf ein höheres Niveau. Die Spaltung der Arbeiterklasse und die Spaltung des Kleinbürgertums führen immer mehr zur Resignation und Ohnmachtserfahrungen in der Lohnarbeiterklasse und zersetzt die proletarischen Massenorganisationen. Zum Verzicht bedarf es keiner proletarischen Massenorganisationen, bedarf es keiner Gewerkschaften. Über den „Corona-Notstand“ wurde die Arbeiterklasse zwangsweise und repressiv weiter entpolitisiert, indem die alten noch bestehenden sozialen Beziehungen gekappt und eine neue „Isolations-Normalität“ implantiert wurde. Es setzte sich der „Sachzwang“ bzw. die „Alternativlosigkeit“ als technokratische Momente. Der Notstand war und ist ein „alternativloser Sachzwang“ in den Augen der Bourgeoisie, wenn die multipolare Weltmarktkonkurrenz sich verschärft und gleichzeitig die Defensive der Arbeiterklasse anhält. Am Ukraine-Krieg läßt sich die Zuspitzung der Weltmarktkonkurrenz im multipolaren Weltmarkt ablesen. Der Weltmarkt wird neu verteilt und der Krieg ist ein Mittel in dieser Neuverteilung des Weltmarktes, ebenso der Notstand. Im Ukraine-Krieg fällt auch die Welt von Jalta und Potsdam in Trümmern, die Nachkriegszeit, welche sich aufteilt in die Epochen des sogenannten Kalten Krieges und die Epoche der neoliberalen US-Herrschaft. Mit dem Ukraine-Krieg beginnt die Vorkriegszeit bzw. die Vorkriegszeit zu einem Dritten Weltkrieg, den nur die Arbeiterklasse verhindern kann. Im Ukraine-Krieg konzentriert sich die Entwertung des Kapitals in der durchschnittlichen Bewegung des Kapitals im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Der Ukraine-Krieg und die Entwertung des Kapitals in den inflationären Tendenzen sind keine isolierten Momente und stehen gleichgültig zueinander, sondern sind eine dialektische Einheit; der Ukraine-Krieg ist nur der politische Ausdruck der materiellen Krise der Kapitalakkumulation. Die Große Krise entlädt sich in einer Kette von imperialistischen Kriegen und die imperialistischen Kriege sind der politische Ausdruck der Großen Krise der Akkumulation, welche sich in einem Dritten Weltkrieg konzentrieren könnten. Krieg und Krise sind eine dialektische Einheit. Weltwirtschaftskrise bedeutet Weltwirtschaftskrieg bedeutet (Dritten-) Weltkrieg. Eine Weltwirtschaftskrise, Große Krise, hat einen ökonomischen Beginn, doch später erscheint sie nur noch in politischen Formen und nicht in ökonomischen Formen wie zu Beginn. Konkret. In ökonomischen Formen erschien die Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008, um danach sich in mannigfaltige politische Formen zu mystifizieren. Die materielle Basis all der verschiedenen politischen Krisen ist die Weltwirtschaftskrise seit den Jahren 2007/2008 und die Verschärfung der politischen Krisen reflektiert konkret-spezifisch die Verschärfung der ökonomischen Krise in relativer Autonomie zu dieser. Der potentielle Marsch des deutschen Imperialismus mittelfristig in seinen Sonderweg ist ebenso eine Reaktion auf diese Entwicklung. Die Akkumulationsdynamik des multipolaren Weltmarktes verschiebt sich nach Eurasien, was die transatlantischen Metropolen versuchen zu verhindern und dabei scheitern. Durch den Ukraine-Krieg wird die Welt neu im Sinne des multipolaren Weltmarktes neu geordnet und es entstehen neue Kräfteverhältnisse innerhalb der imperialistischen Kette, welche zu imperialistischen Großräumen führen, welche die zentralen Momente der multipolaren Weltmarktkonkurrenz werden. Hier liegt die materielle Basis für das neuerliche Beschreiten des deutschen Sonderweges. Die „Pax Americana“ verschwindet und weicht einem multipolaren Schlachtfeld, wenn es nicht der Arbeiterklasse gelingt, in die revolutionäre Offensive zu gehen.

  1. Der proletarische Weg

-Generalstreik gegen Krieg und Krise

-Radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, ansetzend an der alltäglichen Sabotage der Ausbeutung (vor allem auch in der Kritischen Infrastruktur) und international organisiert.

-Inflationsausgleich statt Reallohnverzicht und Verarmung durch soziale Transferleistungen

-Arbeiterkontrolle über die Produktion als ersten Schritt zur proletarischen Doppelmacht

-Aufbau proletarischer Hundertschaften gegen die Repression des bürgerlichen Staates und seiner neofaschistischen Organisationen

Iwan Nikolajew Hamburg im Mai 2023 Maulwurf/RS

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Grafikquellen       :

Oben       —      Titel des Werks: „Olaf Scholz – August 2021 (Wahlkampf)“

Author Michael Lucan        /       Source   : Own work       /       Date        :    21 August 2021

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2.) von Oben        —       Eine grafische Darstellung von Lock-down während Covid-19

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Unten      —     Pintura de R. Cortés (1855)

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Kolumne – Materie

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Mai 2023

Graichens Fehler: Bildet linksgrüne Banden!

Eine Kolumne von Kersten Augustin

Habecks Staatssekretär Graichen hat einen Fehler gemacht. „Bild“-Zeitung und Konservative schlachten ihn gnadenlos aus. Das ist Teil einer Kampagne.

Kolumnen werden ja total unterschätzt. Sie denken vielleicht, da kommt so ein Heiopei daher und wirft ein paar Zeilen ab, die ihm auf dem Weg zum Klo eingefallen sind. Aber nein: Kolumnen decken Missstände auf und bringen Mächtige zu Fall. Also nicht meine, aber die von den Kollegen.

Im Dezember 2021, da war die Ampel-Koalition keine zwei Wochen alt, schrieb Bernhard Pötter in seiner taz-Kolumne über die Familienbeziehungen im Wirtschaftsministerium. Das Ministerium ging damit offen um, und auch sonst störte sich niemand daran.

WOCHENTAZ

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Das Interesse am grünen Familienclan änderte sich, als Robert Habeck und seine Buddies es wagten, in den deutschen Heizungskeller einzubrechen, also vorsichtig darauf hinzuweisen, dass eine neue Gasheizung vielleicht keine gute Idee ist. Seitdem läuft eine Kampagne der Bild gegen den „Heizhammer“, voller Lügen und Halbwahrheiten.

In die Aufregung platzte eine weitere Kolumne, die von Alexander Neubacher im Spiegel, der dort den vakanten Lehrstuhl für konservative Polemik von Jan Fleischhauer übernommen hat. Neubacher hatte die taz-Kolumne gelesen und ansonsten nichts Neues zu vermelden. Aber Bild und konservative Politiker hatten endlich, was sie brauchten: einen Fehler, den sie ausschlachten können.

In Deutschland wird nicht aus politischen Gründen zurückgetreten, sondern wegen persönlicher Fehler. Sie können Peter Altmaier sein und die Energiewende verschleppt haben, Sie können Manuela Schwesig sein und mit der russischen Diktatur schmutzige Geschäfte machen, Sie können Andreas Scheuer sein und hunderte Millionen Steuergeld in der Maut versenken. Alles eeeegaaaal.

Ein Kasten Bier auf Rücktritt

Zurückgetreten dagegen ist Kurzzeit-Familienministerin Anne Spiegel. Und zwar nicht gleich, als ihr Urlaub nach der Flut im Ahrtal bekannt wurde. Sondern erst, als klar wurde, dass sie der Bild nicht die Wahrheit gesagt hatte über ihre Teilnahme an Videokonferenzen des Ministeriums.

Linksliberalen wird gern vorgeworfen, moralisch zu sein. Aber eigentlich sind es ihre Gegner, die sich gern empören.

Als nun Patrick Graichen, Staatssekretär von Habeck und wichtigster Mitarbeiter für die Energiewende, nun auch noch zugeben musste, dass er seinen Trauzeugen für einen Spitzenposten vorgeschlagen hat, ohne das transparent zu machen, war der Skandal perfekt.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Graichen hat einen Fehler gemacht. Und ich wette einen Kasten Bier, dass er diese Affäre politisch nicht überstehen wird. Schließlich will Robert Habeck Kanzler werden. Und der kann es sich nicht leisten, wenn seinem engsten Mitarbeiter der Vorwurf der Korrumpierbarkeit anhängt.

Der weitere Verlauf ist vorhersehbar: Habeck wird an Graichen festhalten, bis ein weiterer Fehler öffentlich wird. Und der wird gefunden werden: In diesem Moment beugen sich zwei Dutzend Hauptstadtjournalisten über das Wirtschaftsministerium und sezieren jedes Stück Papier, das Graichen angefasst hat.

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Unten        —   Aktivist*innen von Extinction Rebellion spielen Koalitionsverhandlungen von SPD, Grüne und FDP (vlnr Christian Lindner, Olaf Scholz, Analena Baerbock, Robert Habeck)

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US- und EU- Geopolitik

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Mai 2023

Hybris des Westens

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ESSAY VON STEFAN REINECKE

Die neue globale Trennungslinie scheint „Demokratie gegen Autokratie“ zu sein. US-Präsident Joe Biden trommelt Demokratiegipfel zusammen, um eine vom Westen angeführte internationale Front gegen die autoritären Bedrohungen aus Russland und China zu bauen. Der Westen scheint seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wieder auferstanden zu sein, als moralische Wertegemeinschaft und schlagkräftiger politischer Player. Sogar das etwas ausgebleichte Freiheitsversprechen glänzt wieder.

In Europa wirkt diese Erzählung derzeit aus guten Gründen überzeugend. Putins neoimperiale Aggression zielt über die Ukraine hinaus. Die Sicherheit Europas wird, wie seit 1990 nicht mehr, von dem atomaren Drohungspotenzial der USA gewährleistet. Nur wenn der Westen vereint auftritt, wird er der russischen Aggression langfristig Einhalt gebieten.

Das Bild „Demokratie gegen Diktatur“ mag verführerisch klar sein, aber es ist als globales Rezept zu schlicht. Olaf Scholz, ansonsten Bidens treuer Verbündeter, reiht sich zu Recht nur halbherzig in den Feldzug gegen die Diktaturen ein und warnt in einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs vor „einer neuen Zweiteilung der Welt in Demokratien und autoritäre Staaten“. Es gibt triftige Gründe, die gegen die gefeierte Renaissance des Westens sprechen – und noch mehr gegen die Aufspaltung der Welt in ein moralisch überlegenes, überwiegend weißes Zentrum und einen autoritären Rest.

Vielleicht ist die Beschwörung westlicher Werte nur die Begleitmusik, die den globalen Niedergang der USA und Europas übertönen soll. Die USA haben vor 20 Jahren noch achtmal so viele Waren und Dienstleistungen hergestellt wie China, heute ist dieser Vorsprung auf 25 Prozent geschrumpft. In den 38 OECD-Staaten, die sich Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen, also im erweiterten Westen, leben nur 16 Prozent der Weltbevölkerung. Global unangefochten führend ist der Westen nur in einem Metier: Waffen. Die USA geben doppelt so viel Geld für Rüstung aus wie Russland, China und Indien zusammen. In den Nato-Staaten lebt ein Achtel der Weltbevölkerung – aber sie zahlen 50 Prozent der globalen Rüstungsausgaben.

Selbstbestimmung nur für weiße Europäer gedacht

Um die Ambivalenz des mit Waffen und Weltanschauung ausgerüsteten Westens zu verstehen, nutzt ein Blick zurück auf den Moment, in dem der Westen als Verbindung der Macht­zentren USA und Europa auf der Weltbühne erschien. Die Vereinigten Staaten traten 1917 auf der Seiten von Frankreich und Großbritannien, den europäischen Demokratien, in den Ersten Weltkrieg ein. ­Woodrow Wilson fuhr 1919, als erster US-Präsident überhaupt, ins Ausland.

In den früheren Kolonien schaut man auf die westlichen Werte verständlicherweise mit einer gewissen Skepsis

Er reiste mit einer großformatigen Idee im Gepäck nach Europa – dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das zwischen Paris und Belgrad eine gerechte Nachkriegsordnung stiften sollte. Mit Wilsons Reise begann das amerikanische Jahrhundert, in dem die USA in der Doppelrolle als Weltpolizist und Lehrmeister in Sachen Demokratie aufzutreten gedachten. Inder und Vietnamesen, Ägypter, Koreaner und Chinesen waren begeistert von Wilsons Idee, dass die Völker fortan selbst über ihr Schicksal bestimmen sollten. Und sie wurden bitter enttäuscht.

Denn Selbstbestimmung war nur für weiße Europäer gedacht, nicht aber für Bewohner der europäischen Kolonien. Ein 25-jähriger chinesischer Intellektueller notierte 1919 nach dem frustrierenden Ende der Versailler Verhandlungen in sein Tagebuch: „So viel zur nationalen Selbstbestimmung.“ Sein Name war Mao Zedong. Die Verwandlung prowestlicher asiatischer Idealisten in Kommunisten ist, wie der Publizist Pankaj Mishra gezeigt hat, ohne den Rassismus des Westens kaum zu verstehen.

Menschenrechte mit eigenen Interessen abgeglichen

Die Apologeten des Westens betonen heute, dass all das lange her ist. Zudem verfüge der Westen über die Fähigkeit zu Selbstkorrektur und selbstkritischer Vergangenheitsbearbeitung. In den früheren Kolonien schaut man auf die westlichen Werte, vor allem wenn sie von moralischen Fanfarenstößen begleitet werden, verständlicherweise mit einer gewissen Skepsis.

Zudem zeigen zwei Beispiele, dass der Westen Werte und Menschenrechte noch immer kühl mit eigenen Interessen abgleicht. Erstens: Saudi-Arabien führt im Windschatten des öffentlichen Interesses einen brutalen Krieg im Jemen. Es gibt in diesem Stellvertreterkrieg, in dem Iran die andere Seite unterstützt, laut der UNO 380.000 Opfer. Wirtschaftssanktionen gegen Riad? Im Gegenteil. Saudi-Arabien ist seit Jahrzehnten mit dem Westen verbündet und ein verlässlicher Öllieferant. Und EU- und Nato-Staaten beliefern Saudi-Arabien mit Waffen. Die Unterstellung, dass sich der Westen um die Ukraine kümmert, weil dort weiße Europäer sterben, wirkt angesichts des Grauens der russischen Kriegsführung kaltherzig. Völlig abwegig ist sie nicht.

Zweitens: Der Westen hat nach 1990 die Chance verspielt, als Sieger des Kalten Krieges eine stabile Ordnung zu schaffen. Die USA haben in Afghanistan und Irak im Namen von „Menschenrechten und Demokratie“ (George W. Bush) vielmehr genau das Muster wiederholt, das dafür sorgt, dass westliche Werte in vielen Regionen der Welt als Hohn empfunden werden. Beides waren neo­kolonial gefärbte Kriege.

Im Falle des Iraks schufen die USA durch ihren Angriffskrieg mit dem Islamischen Staat erst das Monster, das sie zu bekämpfen angetreten waren. Wenn die USA nach 2000 als Weltpolizist auftraten, dann meist als ein unfähiger Macho-Cop, der auf eigene Rechnung arbeitete und dem das Gemeinwohl schnurz war. „Nichts untergräbt die Idee des Westens mehr als die Verwestlichung mit vorgehaltenem Gewehr, wie sie vom 19. bis ins 21. Jahrhundert immer wieder praktiziert wurde“, so der US-Historiker ­Michael Kimmage.

Ideologen des Westens wie der Publizist ­Richard Herzinger bauen unverdrossen weiter auf dieses Konzept. „Wenn die demokratische Welt Einigkeit, politische Entschlossenheit und militärische Stärke mit konsequentem Eintreten für Freiheitsrechte überall auf dem Globus verbindet, wird sie auch künftig die bestimmende weltpolitische Kraft sein“, so Herzinger. Es gilt also weiterhin den Globus mit den Segnungen des Liberalismus zu beglücken – mit den Menschenrechten in der einen Hand, überlegener Feuerkraft in der anderen. So klingt eine lernunfähige, liberale Ideologie, die blind dafür ist, dass die Mischung aus zivilisatorischem Sendungsbewusstsein und rüder Interessenpolitik in vielen Regionen als Neuauflage des Imperialismus des 19. Jahrhunderts verstanden wird.

Politische Hartwährung im Ost-West-Konflikt

Es stimmt: Mächtige Autokraten instrumentalisieren die Kritik an der Doppelzüngigkeit des Westens, um weiter ungestört die eigene Bevölkerung zu schikanieren. Vor allem Putin und die russische Propaganda bedienen sich oft surrealer, vor Hass triefender antiwestlicher Klischees, um die eigene Herrschaft zu festigen. Doch das schafft die Frage nach der Doppelmoral des Westen nicht aus der Welt. Im Gegenteil.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>      weiterlesen

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Oben      — La Estatua de la Libertad y la Isla de la Libertad vistas desde el mar.

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Ein Kontertext

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Mai 2023

Fahrradhelme und Kronen

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von         :     Michel Mettler /   

London zu Zeiten der Thronbesteigung: eine Stadt der scharfen Gegensätze und harten wirtschaftlichen Realitäten. Ein Kurzbericht.

Zweieinhalb Monate lebe ich schon hier, und noch immer verstehe ich sie nicht, diese Stadt – ihre Gegensätze, ihre Masseinheiten, ihre verschiedenfarbenen Münzen, ihren Linksverkehr. Und so bin ich gleichsam als berufener Ignorant in das vermeintliche Jahrhundertereignis hineingestolpert: «Es lebe der König! Long live Charles III!» Palastgeschichten allenthalben, Krönungsfieber, aber auch Krönungsmüdigkeit. Und selbstredend Merchandising, wie immer, wenn es um die Erhabenen geht – man erinnere sich an King Roger und sein royales RF-Signet.

Soll man also eine Tasse kaufen? Ein Küchentuch? Servietten, damit auf dem königlichen Konterfei Olivensteine platziert werden können?

«How do you feel about the coronation?» Bei vielen ist da nur Gleichgültigkeit zu spüren. «Als hätten wir keine grösseren Probleme», sagt die Verkäuferin in der Bäckerei. Und die Frau im georgischen Spezialitätengeschäft, zu dem ich regelmässig radle, um Gewürzkräuter zu kaufen, mag gar keine Worte verlieren – ihr reicht eine abfällige Handbewegung. Ich lächle ihr zu, bezahle und befreie am Poller draussen mein Fahrrad von der dreifachen Ketten-Umschlingung.

Eine Krone ist kein Fahrradhelm. Kronen sollen präsentieren, Helme sollen widerstehen und vor Stürzen schützen. Die Krone aber ist ein zerbrechliches Ding, nicht auf Stürze ausgelegt, sondern gemacht für Kissen, auf denen man sie herumreicht; für Handschuhe, mit denen sie hochgehoben und auf durchlauchte Häupter gesetzt wird.

Die Krone, um die es hier geht, hat in der Vergangenheit viele taumeln und stolpern lassen, da sie – als Gekrönte oder Gehörnte – nun ihren Weg vor den Augen der Weltöffentlichkeit gehen mussten, oft schon in jungen Jahren. Das dürfte diesmal anders sein: Der Titular ist im vorgerückten Alter zum Zug gekommen. Seine erste königliche Tugend war Geduld. Und die Aufmerksamkeit des Erdkreises wird sich schon bald anderen Fragen zuwenden. Den steigenden Meeresspiegeln zum Beispiel oder den steigenden Preisen.

Das öffentliche Interesse soll übrigens selbst auf der Insel um einige Inches geschwunden sein. Doch es ist noch immer gross genug, das zeigt die Präsenz in den sozialen Medien. Viel Selbstgebasteltes kursiert, Scherzbilder, Frotzelverse. Dies beweist, dass das Thema auch die nicht ganz kalt lässt, die behaupten, damit durch zu sein.

«Fahrradhelm oder Krone?» Das ist wohl kein Willensentscheid, anders als die Wahl des Fortbewegungsmittels, etwa bei der Anreise zur Insel: Der Zug fordert Geduld und etwas Nerven, legt aber an Beliebtheit zu, die Fliegerei wird peinlicher mit jedem Tag. Auf die Sänfte würde ich freiwillig verzichten, aber noch niemand hat sie mir angeboten. Auch da, wo ich als Kunde König bin, bleibe ich ungekrönt und muss auf Punkt und Komma berappen, was auf dem Laufband liegt – it’s a material world.

Ein entscheidender Faktor bei Kronen soll das Gewicht sein, nicht anders als bei Helmen. Wer radelt schon gern mit dem Gefühl, einen Riesenkürbis mitzuführen. Elizabeth, die letzte und ausdauerndste Kronenträgerin der Insel, liess die ihre abändern. Sie war ihr zu hoch. Das lasse sie schwerfällig aussehen, fand sie, ausserdem sei das gute Stück arg schwer. So wurde es für die Coronation umgearbeitet, etwas abgeflacht – als wäre die Königin ein Lastkahn, der unter tiefen Themsebrücken durchgleiten muss. Dabei ist doch von blossem Auge zu erkennen, dass die Westminster Abbey höher aufragenden Kopfschmuck toleriert.

Offenbar wird Krönungsbereiten empfohlen, die Krone vor der Zeremonie eine Weile in ihren privaten Räumen zu tragen, um die Hals- und Nackenmuskulatur auf die Aufgabe vorzubereiten. Man müsste hier wohl von einer drohenden Krönungsmigräne sprechen. Oder ist das bereits Majestätsbeleidigung?

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Hier im East End, wo ich mit Künstler*innen befreundeter Disziplinen lebe, sind die Royals kaum präsent. Das Quartier ist muslimisch geprägt. Viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind bemüht, ein gottgefälliges Leben zu führen. Dabei ist ihnen die Krone wenig behilflich. Fahrradhelme zu tragen, untersagt der Koran übrigens nicht ausdrücklich. Es verstosse gegen kein heiliges Gesetz, sich vor drohenden Gefahren zu wappnen, sagt der Imam, im Gegenteil: «Mit allem, was dein Leben schützen soll, schützt du auch Gott.» Das gilt sogar für Frauen.

Ich habe den Eindruck, Ahmed, der Besitzer des Handy Repair Shop in Bromley-by-Bow, der mir neulich zu Hilfe kam, brauche keinen weltlichen Herrscher im Buckingham Palace, um dem gottgefälligen Leben zu genügen, das er seinen Kindern vorleben will. Selbst dann nicht, wenn dieser Herrscher sich in Gummistiefeln beim Jäten ablichten lässt. Aber stören wird Ahmed die Zeremonie deshalb noch lange nicht. Ohnehin sei das alles viel zu weit weg – das geschehe in einer anderen Stadt. Beim Zuhören denke ich: wohl auch in einem anderen Land, sogar auf einem anderen Planeten. Für das Wohl von Ahmeds Familie steht keine Herrscherfamilie ein. Ein Fahrradhelm schon eher, auch wenn Ahmed stolz auf sein japanisches Hybridauto ist, das immer vor dem Laden steht, stellvertretend für den erreichten Wohlstand. «Pearl white», sagt er lächelnd; ein Lächeln, weit weg von Westminster, ein Lächeln, das näher zu Gott will und doch nicht auf das tägliche Wirtschaften verzichten kann.

Ich lege gerne Geld in seine Hand, viel lieber, als ich zuhause Steuern zahle, mit denen später ausgeblutete Banken gerettet werden sollen. Ich weiss, dass Ahmeds Kinder hungrig sind, so wie alle Kinder nach dem Schulausflug, nach dem Lernen, nach dem Herumtoben im Garten. Würde mein Handy erneut streiken, ginge ich jederzeit wieder raus nach Bromley-by-Bow, weil Ahmeds Lächeln nicht nur geschäftstüchtig ist, sondern schlicht und einfach freundlich.

An diesem Krönungssamstag aber will ich in meinen vier Wänden bleiben, die eine Schweizer Kulturstiftung mir in East London grosszügig zur Verfügung stellt. Bei meinen Nachbarn, die in der Stadtmitte einen Anblick von der alten Welt und ihrem Pomp erhaschen möchten, habe ich Krönungsmigräne vorgeschützt.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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KOLUMNE-Fernsicht-Indien

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Mai 2023

In Indien schreiben sie jetzt die Geschichtsbücher um

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Kolumne Fernsicht von  : PRIYANKA BORPUJARI

Das selektive Ausradieren der indischen Vergangenheit wurde lange vorbereitet – mit dem Ziel, die muslimische Bevölkerung auszugrenzen. Nun passiert es wirklich, und zwar in den Lehrbüchern für Geschichte. Nicht einmal mehr erwähnt wird dort nun das vom 16. bis zum 19. Jahrhundert existierende Mogulreich.

Dessen bedeutende Rolle für die Herausbildung einer „indischen Kultur“ soll fortan unterschlagen werden, denn man wolle doch die Arbeitsbelastung der Schulkinder senken. Aber wer ließ dann den Tadsch Mahal bauen, jenes prächtige Marmormausoleum aus dem 17. Jahrhundert, das auf jeder Tourismusbroschüre abgebildet ist? Das bleibt nun der Fantasie überlassen.

All das ist ein weiterer Schritt, um den rechtsgerichteten Hindufundamentalismus, auch Hindutva genannt, systematisch durchzusetzen. Die extrem rechte Hinduorganisation Rashtriya Swayansevak Sangh (RSS), die die ideologische Vorarbeit für die Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) macht, versucht schon lange, Indien als einen Staat für Hindus allein darzustellen. Niemand hat die Unruhen von 2002 nach einem Attentat auf einen Zug in Godhra im Bundesstaat Gujarat vergessen, als Mus­li­m:in­nen verbrannt, getötet und vergewaltigt wurden. Damals war ­Narendra Modi als Chief Minister der Regierungschef Gujarats. Sein Schweigen und seine Untätigkeit angesichts der Ausschreitungen waren vielsagend, sein Name kam in mehreren Petitionen vor, die Gerechtigkeit einforderten. Seit 2014 ist er Indiens Premierminister. In den neun Jahren seither hat fortgesetzte Gewalt gegen Mus­li­m:in­nen dazu gedient, seine Agenda des Hindu­staats zu fördern. Es überrascht kaum, dass auch die Godhra-Unruhen aus den Lehrbüchern getilgt worden sind.

Auch der Satz, dass Mahatma Gandhi „überzeugt war, dass jeder Versuch, Indien zu einem Staat nur für Hindus zu machen, Indien zerstören würde“, bleibt Schulkindern vorenthalten. Gandhi wurde bekanntlich von dem RSS-Anhänger Nathuram Godse erschossen. Muslime, die sich am Unabhängigkeitskampf gegen das britische Kolonialreich beteiligten, finden sich in den Lehrbüchern ebenso wenig wie Muslime, die an der Ausarbeitung von Indiens Verfassung beteiligt waren.

Über die Jahre sind von den Mogulherrschern erbaute Orte umbenannt worden. Die Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya im Jahr 1992 wurde damit gerechtfertigt, dass sie auf dem Gelände eines Hindutempels stehe. Es war ein entscheidendes Vorhaben der RSS auf dem Weg weg von einem säkularen Indien hin zu einem rein hinduistischen Staat.

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Debatte – Heizungsgesetz

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Mai 2023

Not in my Heizungskeller!

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Ein Debattenbeitrag von Johannes Hillje

Für eine gelingende Klimapolitik ist die Akzeptanz der Bevölkerung entscheidend. Die Verhaltensforschung liefert hier wertvolle Hinweise.

Die „Brechstange“ dient Teilen der Regierung und Opposition derzeit als Metapher, um eine neue Polarität in der Klimadebatte zu konstruieren: „Klimaschutz über die Köpfe der Menschen hinweg“ (also Grüne mit der Brechstange) gegen einen „Klimaschutz, der die Menschen mitnimmt“. Nachdem vom Heizungsgesetz die Belastung als monströs, die Entlastung aber nur nebulös rüberkam, bekundete die öffentliche Meinung: Klimaschutz ja, aber nicht in meinem Heizungskeller.

Vorweg: Niemand aus dem selbsternannten „Klimaschutz, der die Menschen mitnimmt“-Lager gibt darauf belastbare Antworten. O-Ton Volker Wissing: „Die CO2-Emissionen müssen runter, auch im Verkehrsbereich. Das schaffen wir aber nicht mit Verboten, Einschränkungen oder höheren Preisen.“ Okay, aber wie schaffen wir es denn, Herr Minister? Die Umkehrung des Unerwünschten ist noch kein wirksamer Klimaschutz. Und Polemik gegen Grüne keine eigene Programmatik.

Auch durch die Konstruktion von fehllaufenden Dualismen droht der Klimadiskurs aus der Spur zu fallen: marktwirtschaftlicher gegen angeblich planwirtschaftlichen Klimaschutz, individuelle gegen systemische Ebene, Anreize gegen Verbote und so weiter. Jede Lösung, ob vom Markt oder Staat getrieben, muss am Ende angenommen und umgesetzt werden. Egal, wie man die Dekarbonisierung von Gebäuden angeht, am Ende muss der Einzelne die Heizungsmonteure selbst in den Keller lassen. Es geht also um die Akzeptanz von Umbaumaßnahmen für Klimaneutralität.

In der Klimapolitik ist es zielführend, sich vor dem Entwurf von Gesetzen mit den Parametern auseinanderzusetzen, an denen sich die öffentliche Akzeptanz von Maßnahmen entscheidet. Mit diesen Faktoren beschäftigt sich die Bundesregierung offensichtlich noch zu wenig. Deutlich weiter ist man in diesem Bereich in Großbritannien: Bereits 2008 schuf die Regierung von Gordon Brown ein unabhängiges „Climate Change Committee“. Dessen Ex­per­t:in­nen untersuchen seitdem immer wieder die Bereitschaft der Bevölkerung zu konkretem Klimaschutz.

Debatte war zu lange von Unwissen geprägt

Den jüngsten Bericht zum Thema steuerte ein weiteres Gremium bei: der Klima- und Umweltausschuss des britischen Oberhauses, der dazu Stimmen aus der Verhaltensforschung konsultierte. Der Bericht nennt sechs Faktoren, die für die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen maßgeblich sind: Wissen, Werte, soziale Normen, Preis, Machbarkeit, Effektivität. An diesen sechs Faktoren entscheide sich, ob eine Klimaschutzmaßnahme mit allgemeiner Akzeptanz rechnen könne oder in den Graben zwischen theoretischer Klimaschutz-Befürwortung und tatsächlichem Klimaschutz-Verhalten falle.

In der Heizungsdebatte braute sich der perfekte Sturm gegen die Klimamodernisierung zusammen

Auch an der Universität Erfurt wird zu diesen Fragen geforscht. Das Forschungsprojekt Planetary Health Action Survey kommt auf ähnliche Bestimmungsgrößen. Legt man die Kriterien aus Westminster und Erfurt wie eine Checkliste neben die Debatte über das Gebäudeenergiegesetz, zeigt sich: Die Debatte war viel zu lange von Unwissen geprägt. Zentrale Aspekte blieben wochenlang unklar (Kosten, Ausnahmen, Übergangsfristen) oder sind es noch heute (soziale Abfederung). Das Ergebnis: Preis und Umsetzbarkeit der „Wärmewende“ erschienen vielen Menschen unmöglich. Als soziale Norm bildete sich eher „Hau den Habeck“ als „Heize klimaneutral“ heraus.

Die Einstellung von Menschen zu einer Klimamaßnahme formt sich aus dem Zusammenspiel der genannten Faktoren. Besonders relevant ist dabei der Zusammenhang von Kosten und wahrgenommener Effektivität der Maßnahme. Dazu erfährt man in der Erfurter Studie, dass immer mehr Deutsche angeben, dass sich durch den Klimaschutz ihre persönliche finanzielle Lage verschlechtert habe.

Schlechtes Zeichen für Akzeptanz von Klimaschutz

Im Mai 2022 waren es noch 25, im Januar 2023 36 Prozent. Für die Akzeptanz von Klimaschutz ist das ein schlechtes Zeichen. Zumal diejenigen, die den Klimaschutz im Portemonnaie spüren, die dazugehörigen Maßnahmen für unwirksam halten. Andersrum halten Menschen, deren Finanzen unverändert oder besser durch Klimaschutz geworden sind, die Maßnahmen für wirksamer. Die Bewertung der Wirksamkeit von Klimapolitik hängt also weniger vom tatsächlichen Nutzen ab als vom eigenen Geldbeutel.

Für die Akzeptanz spielt außerdem eine Rolle, wie Menschen über die Unterstützung der Maßnahme durch ihre Mitmenschen denken. Sowohl das Kopernikus-Projekt als auch die Erfurter Studie kommt zu dem Schluss, dass die Deutschen die Befürwortung von Klimamaßnahmen durch ihre Mitmenschen systematisch unterschätzen. Dies wirkt sich wiederum negativ auf die individuelle Bereitschaft zum Klimaschutz aus: Was bringt es schon, wenn die anderen ohnehin nicht mitziehen.

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Oben     —   [1] Der Kern einer Hausfeuerungsanlage, der Heizkessel, der Brenner, das Druckausgleichsgefäß und die Steuerung wird kurz Heizung genannt.

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Wegen einer Meldung

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Mai 2023

Staatsanwaltschaft klagt Freiburger Journalisten an

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Das Grethergelände mit den Räumlichkeiten von Radio Dreyeckland im Erdgeschoss.

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

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Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe hat Anklage gegen einen Redakteur von „Radio Dreyeckland“ erhoben. Er hat eine Meldung verfasst, in der das Archiv des verbotenen Portals Linksunten Indymedia verlinkt war. Der Journalist sieht in der Anklage einen „skandalösen Eingriff in die Pressefreiheit“.

Mit einer URL kann man im Netz einfach und schnell auf eine Website zugreifen – aber man kann sich damit auch eine Anklage einfangen, wie der Fall von Radio Dreyeckland in Freiburg zeigt. Alles dreht sich um einen Link auf das Archiv des verbotenen Portals linksunten.indymedia.org. Die zuständige Staatsanwaltschaft Karlsruhe wirft dem freien Radiosender nicht bloß vor, dieses Archiv verlinkt zu haben, sondern mit der dazugehörigen Nachrichtenmeldung auch eine Straftat nach Paragraf 85 begangen zu haben.

Einfach ausgedrückt verbietet dieser Paragraf, verbotene Vereinigungen zu unterstützen. Genau das soll durch die betreffende Nachrichten-Meldung geschehen sein, wie die Staatsanwaltschaft argumentiert. Es drohen Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahre oder Geldstrafe.

Der Verfasser der Meldung, der Journalist Fabian Kienert, kritisiert die Anklage in einem Bericht auf Radio Dreyeckland als „skandalösen Eingriff in die Pressefreiheit“. Im Vorfeld der Anklage gab es zudem Razzien, unter anderem in der Redaktion von Radio Dreyeckland und in der Privatwohnung des Redakteurs. Obwohl die Meldung mit Kienerts Kürzel „FK“ gekennzeichnet war, sollten die Razzien mehr über die Hintergründe aufklären. Als „absurd“ und „völlig“ unverhältnismäßig bezeichnet das der Radiosender, der nun auch rechtlich gegen die Durchsuchungsbeschlüsse vorgeht.

Linksunten Indymedia war bis zum Verbot im Jahr 2017 ein wichtiges Informationsportal für Teile der linken Szene und eine Plattform für unter anderem Demonstrationsaufrufe und Bekennerschreiben. Das Innenministerium stufte die Seite damals allerdings nicht als Medium ein, sondern als Verein, um sie daraufhin mithilfe des Vereinsgesetzes zu verbieten. Schon damals verurteilte das etwa „Reporter ohne Grenzen“ als Angriff auf die Pressefreiheit. Vergangenes Jahr wurden Ermittlungsverfahren gegen Linksunten Indymedia eingestellt; das heißt, der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung ist viele Jahre später geplatzt.

„Überragende Bedeutung“ der Pressefreiheit

Bei der jüngst erhobenen Anklage gegen den Journalisten von Radio Dreyeckland geht es nicht nur um das Schicksal eines regionalen Radiosenders, sondern auch um den Stellenwert der Pressefreiheit in Deutschland. Jüngst ist Deutschland auf der Rangliste der Pressefreiheit im weltweiten Ranking weiter zurückgerutscht.

Die Bedeutsamkeit des Falls ist der zuständigen Staatsanwaltschaft offenbar bewusst. „Unstreitig kommt der Meinungs- und Pressefreiheit eine überragende Bedeutung zu“, schreibt etwa Staatsanwalt und Sprecher Matthias Hörster auf Anfrage. Dennoch sei eine Strafbarkeit gegeben, heißt es in der Antwort auf die Presseanfrage. Der Vorwurf ist die „gezielte Förderung“ der verbotenen Vereinstätigkeit. Wohlgemerkt: Von Linksunten Indymedia existiert seit Jahren nur ein Archiv.

Auch im Wortlaut der Nachrichtenmeldung kann Radio Dreyeckland keine Förderung erkennen, wie aus dem jüngsten Bericht des Senders hervorgeht. Die strittige Meldung sei „sachlich“ und „kurz“, heißt es dort. Radio Dreyeckland erinnert vor dem Hintergrund der aktuellen Anklage an die Vorgeschichte: Es war auch die Staatsanwaltschaft Karlsruhe, die Linksunten Indymedia selbst im Visier hatte – bis das Verfahren aber 2022 ohne Erfolg eingestellt wurde. Nun wolle die Staatsanwaltschaft „auch noch mit dem Mittel des Strafrechts bestimmen, wie über dieses Verfahren zu berichten ist“. Die Behörde sei „offensichtlich auf dem Kriegsfuß mit der Presse- und Medienfreiheit“, heißt es zudem in einem Audio-Beitrag des Senders.

Meldung im Nachrichtenstil

Wer möchte, kann sich selbst ein Bild von der Radio-Dreyeckland-Meldung machen, die der Staatsanwaltschaft ein Dorn im Auge ist. Der aus knapp 150 Wörtern bestehende Artikel ist nach wie vor online. Im Nachrichtenstil heißt es darin unter anderem:

Linke Medienarbeit ist nicht kriminell! Ermittlungsverfahren nach Indymedia Linksunten Verbot wegen „Bildung krimineller Vereinigung“ eingestellt […] „Wir sind alle linksunten“ – ob dem so ist, war auch ein Streitpunkt auf der Podiumsdiskussion über das Verbot der Internetplattform. […] Im Internet findet sich linksunten.indymedia.org als Archivseite.

Zunächst gab es nicht nur ein Verfahren gegen Kienert als Verfasser der Meldung, sondern auch gegen den „Verantwortlichen im Sinne des Presserechts“, Andreas Reimann. Eine solche Person müssen Publikationen in Deutschland benennen. Wenn es mal juristisch Ärger gibt, ist die Person üblicherweise die erste Anlaufstelle. Zumindest das Verfahren gegen Reimann wurde laut Radio Dreyeckland inzwischen eingestellt.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Was will S. Wagenknecht?

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Mai 2023

– Was für eine Gesellschaft strebt sie an?

Eine Linke „Ich AG“ ?

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von     :     Meinhard Creydt

Sahra Wagenknecht spricht sich aus für „eine solide und soziale Politik in Deutschland und Europa, die seriöse und risikolose Geldanlagen mit einer angemessenen Rendite für alle wieder möglich macht. […] In Merkels Niedriglohnparadies Deutschland hat sogar jeder zweite Bürger kein Vermögen mehr und kann nichts ansparen, geschweige denn in Aktien investieren“ (Berliner Zeitung 4.8.2018).

Was soll „angemessene Rendite“ heißen? Bei Geldanlagen gilt bekanntlich: Je größer das Risiko, desto höher die Chancen auf hohe Rendite. Wagenknecht bemängelt, dass viele „Bürger“ nicht die Chance erhalten, „in Aktien investieren“ zu können. Dass Lohnabhängige mit Aktien sich in einen Gegensatz verstricken, kümmert Wagenknecht nicht. Der Wunsch nach „angemessenen Renditen“ aus Aktien bedeutet für die in den betreffenden Betrieben Beschäftigten häufig Arbeitshetze und Lohndruck. Wagenknecht befördert zudem die Vorstellung, mit Aktien „risikolos“ „Vermögen ansparen“ zu können. Mit „risikolosen Geldanlagen“ lässt sich das kaum bewerkstelligen.

Die gute alte Zeit

Wagenknecht trauert einer Zeit nach, in der ihrer Meinung nach – vor dem sog. Neoliberalismus und dem vermeintlichen Finanzkapitalismus – Kapital und Lohnarbeit in einer Win-win-Situation gestanden hätten: Das Kapital fuhr satte Profite ein und die Löhne stiegen. Die Epoche, in der es „tatsächlich für nahezu alle, und insbesondere für die Arbeiterschaft, aufwärtsging“, „endete in den achtziger Jahren“ (Wagenknecht 2021, 65). Die „beste Zeit“ des Kapitalismus waren die „fünfziger bis siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts“ (Ebd., 282).

Die ersten 25 Jahren in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg stellten nicht nur wegen dem Wiederaufbau eine Ausnahmesituation dar. Der Welthandel war in den 1930er Jahren massiv zurückgegangen und im 2. Weltkrieg zusammengebrochen. Die „fordistische“ Zergliederung des Produktionsprozesses (Taylorismus) kam erst in der Bundesrepublik auf volle Touren. Ebenso die Durchkapitalisierung der Landwirtschaft sowie die Verdrängung des kleinen Handels. Die Potenziale dieses langen Nachkriegsbooms waren in den 1970er Jahren erschöpft. Nun zeigte sich wieder: Periodische Krisen sind der Normalfall im Kapitalismus.

Linke Vulgärökonomie

Wagenknecht ist der Meinung, dass Kapitalismus am besten funktioniert, wenn es sowohl viel Konkurrenz gibt als auch eine große Nachfrage auf dem Binnenmarkt. „Der Kapitalismus funktioniert also am besten in wettbewerbsintensiven Industrien, in denen Gesetze und starke Gewerkschaften für steigende Löhne und hohe Sozial- und Umweltstandards sorgen“ (Wagenknecht 2021, 274). Ob die erforderlichen Maßnahmen dafür, die Klimakatastrophe abzuwenden, und das Ziel einer hohe Gewinne und Löhne abwerfenden Ökonomie zusammenpassen – diese Frage blendet Wagenknecht aus.

Die bekannteste Person der Linkspartei teilt die Vorstellung, dass Gewerkschaften und das Kapital dann nicht im Gegensatz zueinander stehen, wenn die Unternehmen begreifen würden, dass hohe Löhne ihnen den Absatz sichern (zur Kritik vgl. NN 1978). Dass für die Realisierung des Mehrwerts die Produkte verkauft werden müssen, stimmt zwar. Dabei handelt es sich aber um eine notwendige, nicht um eine hinreichende Bedingung. Wenn in der Produktion – gemessen an den Konkurrenten – nicht genügend Mehrwert geschaffen wird, hat das jeweilige Unternehmen keinen Geschäftserfolg.

Wagenknecht tritt nicht ein für eine Überwindung der kapitalistischen Marktwirtschaft bzw. der Kapitalakkumulation, sondern gegen „Kurzsichtigkeit, Maßlosigkeit, Vorliebe für Bluff, Tricks und Bilanzkosmetik sowie eine rücksichtslose Orientierung allein an den Interessen der Aktionäre und des Managements“. Sie redet sich in Rage über eine „innovationsfaule Ökonomie, in der Marktmacht und sogar Monopole an die Stelle offener Märkte getreten sind und echter, fairer Wettbewerb eine immer geringere Rolle spielt“ (Wagenknecht 2021, 283).

Sie kritisiert, dass der Kapitalismus nicht (mehr) so erfolgreich sei, wie er verspricht. Dabei ignoriert Wagenknecht diejenigen Kosten, die just durch eben den von ihr befürworteten Erfolg des Kapitalismus entstehen. Welche gesundheitlichen Negativfolgen die Überforderung und Überstressung in der kapitalistischen Erwerbsarbeit hat (vgl. Cechura 2018), welche massive Schädigung der Gesundheit durch Fremdstoffe die Kehrseite des Erfolgs der Chemieindustrie bildet (vgl. Donner 2021), welche ökologischen Folgen die kapitalistische Marktwirtschaft hervorbringt – das interessiert Wagenknecht kaum. Für sie ist alles gut, wenn es nur hohe Löhne und eine dynamische Wirtschaft gibt.

Das Gespenst des Monopolkapitalismus

Wagenknecht bemängelt am gegenwärtigen Kapitalismus den Mangel an „offenen Märkten“ und an „echtem fairen Wettbewerb“. Erst dieses Defizit mache den Kapitalismus kritikwürdig. Die Attacke auf den Monopolkapitalismus verkennt jedoch die begrenzte Macht von Monopolen im modernen Kapitalismus. Sie „wird in der Konkurrenz immer wieder abgebaut, wobei durchaus die Möglichkeit besteht, dass aufgrund besonderer Bedingungen das Schwinden von monopolistischen Profiten sich über längere Zeiträume verzögert, dass die Wirkungsweise des Wertgesetzes sich also nur modifiziert durchsetzt“ (Altvater 1975, 188). „Das Wertgesetz begrenzt also monopolistische Machtentfaltung, die Monopolmacht kann niemals an die Stelle des Wertgesetzes treten. Aber sie modifiziert seine Durchsetzung. Sie wirkt dahin, dass sich die Bewegungsgesetze der Produktionsweise eben nur als Tendenzen durchsetzen“ (Ebd., 190).

Die Abschottung des Monopolisten gegen den Zustrom anderen Kapitals in seine Produktionssphäre ist auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten. „Selbst in der Ölwirtschaft – wo heute (2013) gewaltige Summen für den Neueinstieg erforderlich sind – gibt es kein umfassendes und weltweit wirken­des Kartell. Es kommen immer wieder neue Ölförderer hinzu, und es gibt bei der Exploitation neuer Ölfelder, bei der Nutzung neuer Ölfördertechniken usw. einen erbitterten Konkurrenzkampf“ (Sandleben, Schäfer 2013, 55).

Kartelle – als Vorformen von Monopolen – werden häufig von innen aufgesprengt. Die im Kartell zusammengeschlossenen Kapitale konkurrieren untereinander um Anteile an der Produktionsmenge und an Erlösen. „Es genügt, dass technische Verbesserungen, Erfindungen oder eine Ausweitung der Kapazität Veränderungen im Kräfteverhältnis dieser Firmen hervorrufen, damit diejenige, die sich in der Konkurrenz am stärksten fühlt, das Abkommen in der Absicht bricht, einen höheren Marktanteil zu erobern“ (Mandel 1972, 546).

Anhänger der Lehre vom „Monopolkapitalismus“ können nicht beantworten, warum die Profitraten der Monopole nicht steigen, obwohl es sich bei ihnen doch angeblich um die Mächtigsten der Mächtigen handele. „Empirische Untersuchungen (konnten – Verf.) für Deutschland nachweisen, dass die Legende einer Hierarchie der Profitraten – also strukturell höhere Profitraten der zu Monopolen titulierten Großunternehmen – vor der ökonomischen Wirklichkeit keinen Bestand hatte (Saß 1978). Stephan Krüger vermerkt in seinen eigenen empirischen Untersuchungen auf Basis des amtlichen statistischen Materials, dass diese Untersuchungen ‚eher das gerade Gegenteil’ der Monopoltheorie oder der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus zeigen, ‚nämlich eine gemein niedrigere Profitrate großer Kapitalgesellschaften’ (Krüger 2010, 138)“ (Wendl 2013, 67). Monopole stehen nicht über den Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaft. Wagenknecht baut sie zum Hauptgegner auf. Im Kontrast zu diesem Schreckgespenst bekommt die Konkurrenz in der kapitalistischen Marktwirtschaft ein positives Image.

Wagenknecht tritt gegen „einen zu großen Finanzsektor“ im Kapitalismus ein, denn „dass ein zu großer Finanzsektor dem realwirtschaftlichen Wachstum schadet, ist seit Längerem bekannt“ (S. 278). Das sog. produktive Kapital und das Finanzkapital streiten seit eh und je um die Höhe z. B. der Kreditzinsen. Wie viele andere auch stellt sich Wagenknecht auf die Seite des „guten“ Kapitals, das seinen Profit mit der Produktion erzielt. Dafür kann es diskussionswürdige Argumente geben. Dieses Engagement überschreitet jedoch nicht den Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Branchen der Kapitalwirtschaft. Die Transformation hin zu einer anderen Gesellschaftsordnung ist etwas anderes.

Wagenknecht vertritt eine Kritik am gegenwärtigen Kapitalismus, die zwei Besonderheiten aufweist. Die Probleme, die die kapitalistische Wirtschaft den Leuten bereitet und sich selbst, resultieren Wagenknecht zufolge daher, dass der Kapitalismus nicht mehr so recht Kapitalismus sei, sondern von Monopolen und dem Finanzsektor beherrscht werde. Unsere Erfolgsautorin wiederholt eine sattsam bekannte Erzählung. Ihr zufolge handelt es sich bei den reichen und mächtigen 0,1% um autokratische Herrscher. Sie steuern die Wirtschaft, lenken die Politiker und manipulieren über die Medien die Bevölkerung. (Zur Analyse und Kritik dieser social fiction vgl. Creydt 2019.) Die andere Eigentümlichkeit von Wagenknechts Auffassung liegt im Lob desjenigen Kapitalismus, in dem ihrer Meinung nach noch fairer Wettbewerb eine hohe Innovationsneigung schaffe.

Wagenknecht befürwortet z. T. Belegschaftseigentum und Genossenschaften. Beide verändern nichts an der Notwendigkeit des Betriebs in der Marktwirtschaft, sein Kapital zu verwerten und dafür möglichst viel Mehrwert zu erwirtschaften. Rosa Luxemburg schrieb dazu schon im Jahr 1899: „In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus [aus der Marktlage] die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst“ (Luxemburg 1970, 44).

Befürwortenswertes Engagement und Unterstützung fragwürdiger Positionen

Mit ihrem Eintreten gegen Waffenlieferungen und für eine Friedenslösung im Ukrainekrieg hat Wagenknecht sich zu Recht gegen die Bundestagsparteien und die tonangebenden Medien positioniert. Sie weiß um die geopolitische Vorgeschichte des Ukrainekriegs und den Beitrag der NATO zur Eskalation. Der Inhalt ihrer Rede auf der großen Kundgebung am 25.2. rechtfertigt nicht die Vorwürfe, die ihr gemacht wurden. Weder hat sie an Kritik der russischen Führung gespart noch die AfD geschont, die die gigantische Aufrüstung der Bundeswehr befürwortet und sich zugleich als Friedenspartei ausgibt.

In anderen Fragen – wie der Covid-Pandemie – hat Wagenknecht regressive Proteststimmungen (vgl. dazu Creydt 2022) aufgegriffen und vernünftige Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung angegriffen. In der ARD-Talkshow „Anne Will“ begründete Wagenknecht ihre Entscheidung, bisher auf eine Impfung zu verzichten, unter anderem damit, dass es sich um „neuartige Impfungen“ im Vergleich zum „klassischen Impfstoff“ handele. „Jetzt bekommen wir einen genetischen Code geimpft. Das ist ein anderes Verfahren.“

(https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_91136546/sahra-wagenknecht-verteidigt-impf-kritik.html 12.11.2021) „Junge, gesunde Menschen zu ermutigen, eine Impfung zu machen, deren Langzeitfolgen völlig unklar sind, halte ich für fahrlässig“, erklärte sie am 10.12. 2020. Wagenknecht tritt hier faktisch für das Primat der Ökonomie vor der Gesundheit ein. Das Opfer einer sehr viel höheren Erkrankungs- und Todesrate sei zu erbringen, „damit wir unsere Wirtschaft nicht ruinieren“, wie sie im Februar 2021 bei Anne Will erklärte.

(https://www.wsws.org/de/articles/2021/04/15/wage-a15.html ) Dabei handelt sich schon um ein recht spezielles Verständnis von „Zusammenhalt und Gemeinsinn“ (so der Untertitel ihres Buches von 2022).

In der Flüchtlingsfrage hat Wagenknecht Konfusion gestiftet. Auf einer Pressekonferenz am 11.1. 2016 sagte sie: „Wer Gastrecht missbraucht, der hat das Gastrecht dann eben auch verwirkt“. Es ist legitim, auf die Fragwürdigkeit von Forderungen wie „Offene Grenzen für alle hinzuweisen. Um Gäste handelt es sich bei denjenigen jungen Männer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum nicht, die sich in der Sylvesternacht in Köln sexuell übergriffig gegenüber Frauen verhielten. Gäste können kommen und gehen, wann sie wollen. Das gilt für Flüchtlinge nicht. Das Asylrecht ist ein Grund- und kein Gnadenrecht, das man bei schlechtem Benehmen wieder entziehen kann. Wagenknechts Formulierung „Gäste, die ihr Gastrecht missbrauchen, haben es verwirkt“ läuft im Klartext auf die Forderung hinaus: „Sofortige Abschiebung straffälliger Ausländer. Wagenknecht tut mit der Rede von Gästen so, als ob es sich darum handele, jemand, der als Gast dabei erwischt wird, ins Waschbecken zu pinkeln, zukünftig von der Einladungsliste für Übernachtungen im Gästezimmer zu streichen. Das bedeutet für den „Gast aber etwas völlig anderes als die Abschiebung für den Flüchtling.

Bei Wagenknecht ergibt sich immer wieder der Eindruck des Bluffs. Sie behauptet, „eine Debatte darüber, ob beim fundamentalistischen Islamismus die Grenzen des Tolerierbaren überschritten“ seien, ist bis zum Herbst 2020 tabu“ (Wagenknecht 2021, 199) gewesen. Wagenknecht will sich als mutige Zerstörerin eines Tabus stilisieren, das einzig und allein in ihrer Phantasie existiert.

Wagenknechts Popularität

Sie tritt ein für „Werte“, als existierten keine Gegensätze zwischen den verschiedenen Werten der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre „wertekonservative“ Position (2022, 275) tut so, als ob es jemals eine bürgerliche Gesellschaft mit Werteintegration gegeben habe oder geben könne. Dabei standen und stehen in dieser Gesellschaft immer schon die Werte der „individuelle Freiheit“ und des Privatinteresses im Konflikt mit den Werten des gesellschaftlichen Konsens und der staatsbürgerlichen Gesinnung. Genauso fiktiv wie ihr Bezug auf früher angeblich eindeutige und Einigkeit ermöglichende gute Werte ist ihre Nähe zu den „einfachen Leuten“. Wagenknecht bauscht postmoderne Meinungen und woke Positionen zum Hauptproblem der heutigen Linken auf. Dort sieht sie überall und ausschließlich „Selbstgerechte“ am Werk. Diese Dramatisierung dient ihr dazu, sich – im Kontrast zu diesem Feindbild – als populäre Linke zu stilisieren. Mit dem Kampf für hohe Löhne und für sichere Renten hat ihr Plädoyer für Vermögensbildung durch Aktien aber nichts zu tun. Es unterstützt faktisch das Kapital gegen die Lohnarbeit sowie bestätigt diejenigen, die die Privatisierung der Altersvorsorge vorantreiben.

Wagenknechts Popularität resultiert auch aus dem Umstand, dass sie den Leuten das erzählt, was diese gern hören wollen. Sie bestätigt den Wunsch nach sicheren Aktien, nach Vermögensbildung durch Aktien, nach freiem Wettbewerb und nach der idyllischen Vorstellung, in kleinen und mittleren Unternehmen gehe es menschlicher zu als in großen Firmen. Sie redet ihrem Publikum ein, alles wirtschaftlich Problematische lasse sich auf klar eingrenzbare und von der kapitalistischen Marktwirtschaft sauber unterschiedene und aus ihr folglich leicht entfernbare Problembären wie das Monopol- und Finanzkapital reduzieren. Realpolitisch ihr Publikum anzusprechen heißt für Wagenknecht, die Leute dort abzuholen, wo sie inhaltlich stehen, und sie auch genau dorthin wieder zurückzubringen.

Eine eingehende und fachkundige Analyse sowie Kritik von Wagenknechts ökonomischer Argumentation kommt zum Ergebnis, dass sie in „einem konfusen, also in sich selbst theoretisch widersprüchlichen Eklektizismus“ besteht (Wendl 2022). Der Ordoliberalismus, den sie (als Kritik an der Verfälschung des freien Wettbewerbs durch Kartelle und Monopole) lobt, habe mit dem tatsächlichen Ordoliberalismus wenig zu tun. Die Gedanken, die sie der Marxschen Kapitalismuskritik sowie dem Keynesianismus entlehnt, wirken wie ausgerissene Vogelfedern. Wagenknecht versteht das Spiel, sich bei einem konservativen Publikum als Linke anzubiedern, die es nicht nur drängt, Goethes ‚Faust‘ auf Veranstaltungen zu besprechen, sondern eine Renaissance des Ordoliberalismus zu fordern. In ihrer „Deutschland, aber ganz normal“-Gegenfixierung auf woke Zeitgeister kehrt sie die Nähe zu den „einfachen Leuten“ hervor. Sie wärmt mit dem ihr eigenen publizistischen Fleiß all die Schuldzuschreibungen auf, mit denen Verteidiger des Kapitalismus dessen Härten auf die Verfälschung des eigentlich guten Kapitalismus zurückführen.

Sie blinkt links und bestätigt zugleich die naivsten Illusionen über die kapitalistische Marktwirtschaft. Die Vorstellung, mit freier Konkurrenz und innovativen Unternehmen nutze der Kapitalismus den Reichen und den Armen gleichermaßen, enttarnt Wagenknecht nicht als Ideologie. Wagenknecht meint, es handele sich um immanente Kritik, wenn sie Kapitalismuskritik so formuliert, dass sie die Ideologien einer freien Marktwirtschaft zum Maßstab wählt. Das Finanz- und das Monopolkapital stellt Wagenknecht als unmoralische Eindringlinge dar, die sich eines Wesens bemächtigen, das von sich aus rein und gut sei. Das Finanz- und Monopolkapital verderben die schöne heile Welt der kapitalistischen Marktwirtschaft mit lauter Bosheiten: „Kurzsichtigkeit, Maßlosigkeit, Vorliebe für Bluff, Tricks und Bilanzkosmetik sowie einer rücksichtslose Orientierung“ (Wagenknecht 2022, 283). Eine Ursache in der kapitalistischen Marktwirtschaft hat dieses Böse nicht. Es ist die Ursache seiner selbst, also aus sich heraus („endogen“) böse. Das Tröstliche an dieser Botschaft: All diese „Räuberbarone“ oder „Schurkenwirtschaft“ (Wagenknecht 2022) sind in der kapitalistischen Marktwirtschaft eigentlich unnötig. In der anstrebenswerten Gesellschaft kann fast alles so bleiben, wie es ist, mit Ausnahme von Finanz- und Monopolkapital. Beides lassen sich Wagenknecht zufolge aus der kapitalistischen Marktwirtschaft ebenso problemlos entfernen wie ein überflüssiger Bestandteil aus dem Körper (Blinddarm, Stielwarze oder ähnliches).

Wagenknecht gibt sich als tiefe Denkerin. Faktisch hat sie ein instrumentelles und advokatorisches Verhältnis zur Analyse von Wirtschaft und Gesellschaft. Ihre politische Einschätzung, mit der Verdammung des Finanzkapitals, dem Plädoyer für freien Wettbewerb u. a. beim Publikum punkten zu wollen, bildet den Dreh- und Angelpunkt ihres Denkens. Wer das Finanzkapital und die Monopole verdamme, der sei auf der richtigen Seite. Auf solchen ebenso oberflächlichen wie nebulösen „Standpunkten“ bleibt Wagenknecht stehen. Von ihnen her zieht sie ihre Gedankengänge auf und sucht sich die passenden Theorieversatzstücke zusammen wie eine Elster. Sie bildet bei ihren Lesern keine Substanz an entwickelten Argumentationen und verändertem Bewusstsein, sondern versorgt deren Vorurteile mit Legitimationen. Wagenknecht macht viel Getöse um eine ebenso konfus wie diffus bleibende Opposition. Ihre Anhänger bewundern sie dafür und bemerken nicht, dass viele der Wagenknecht-Effekte sich gegenseitig aufheben. Sie „nimmt in die gleich bleibende Form des Gedankens etwas […] Fremdes oder Entgegengesetztes auf. Verkehrung ist nicht nur Umkehrung ins Gegenteil, sondern die Verkoppelung des Wesensverschiedenen […], die dazu führt, mit der gedanklichen Form einer ursprünglichen Wahrheit etwas, das diese Wahrheit wieder aufhebt, zu ergreifen“ (Jaspers 1966, 63).

Wagenknecht verhält sich parasitär zu linker Kritik am Kapitalismus, indem sie in das Gewand der Gesellschaftskritikerin schlüpft, tatsächlich aber Loblieder auf die freie kapitalistische Marktwirtschaft singt. Dass diese Verkehrung einer politisch linken Person nicht zugetraut wird, nutzt Wagenknecht. Sie redet den Leuten ein, alles müsse sich verändern, damit alles bleiben könne, wie es in der guten Vergangenheit bereits war. In ihren Darlegungen wird das Votum für grundlegende Veränderung ununterscheidbar vom Plädoyer für eine Marktwirtschaft, wie sie nur in den Köpfen von deren Ideologen existiert. Wagenknecht bedient den Wunsch nach einer Orientierung, die eine grundlegende Veränderung verspricht, bei der sich nichts von Grund auf verändern muss. Sie bietet eine Utopie ohne Utopie.

Sie greift den Wunsch nach Veränderung auf und verwandelt ihn in die Nachfrage nach ihren Büchern. Die Leser lernen durch sie, die kapitalistische Marktwirtschaft anders zu interpretieren und auf diesem Wege nicht nur zu akzeptieren, sondern gutzuheißen.

Dass Wagenknecht die populärste Person der Linkspartei ist, sagt sowohl etwas über diese Partei aus als auch über die dominierende Öffentlichkeit. Letztere leistet sich den Luxus, solche Linke zu lieben, die die Öffentlichkeit mit einer paradox anmutenden Mixtur überraschen und mit einer dosierten Diskrepanz unterhalten, aber zugleich in entscheidenden Fragen beruhigenderweise den Konsens bestätigen.

Literatur

Altvater, Elmar 1975:Wertgesetz und Monopolmacht. In: Argument-Sonderbd. 6. Zur Theorie des Monopols. Berlin

Cechura, Suitbert 2018: Unsere Gesellschaft macht krank. Baden-Baden

Creydt, Meinhard 2019: Krysmanskis Geschichten von tausend und einer Jacht. Zentrale Fehler regressiver Kapitalismuskritik. In: Kritiknetz August 2019. meinhard-creydt.de/archives/851

Creydt, Meinhard 2022: Das ganz normale Denken von Demonstranten gegen die Covid-Politik. In: Telepolis 28.1. 2022 www.meinhard-creydt.de/archives/1366

Donner, Susanne 2021: „Endlager Mensch“. Wie Schadstoffe unsere Gesundheit belasten. Hamburg

Jaspers, Karl 1966: Descartes und die Philosophie. Berlin

Luxemburg, Rosa 1970: Sozialreform oder Revolution. In: Dies.: Schriften zur Theorie der Spontaneität. Reinbek bei Hamburg

Mandel, Ernest 1972: Marxistische Wirtschaftstheorie. Bd. 2. Frankfurt M.

NN 1978: Die Steigerung der Massenkaufkraft oder das Wunderwässerchen der reformistischen Scharlatane. In: Kommunistisches Programm, Nr. 19. Westberlin

https://www.pcint.org/25_Publ_pre_82/265_Kommunistisches_Programm/003_inhalt-KP.htm

Sandleben, Günter; Schäfer, Jakob 2013: Apologie von links. Zur Kritik gängiger Krisentheorien. Köln

Wagenknecht, Sahra 2021: Die Selbstgerechten – mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammhalt. Frankfurt M.

Wendl, Michael 2013: Machttheorie oder Werttheorie. Hamburg

Wendl, Michael 2022: Marktwirtschaft statt Kapitalismus – Wagenknechts ökonomisches Glaubensbekenntnis. Vom „einfachen“ Marxismus zur ordoliberalen Kapitalismuskritik. In: Klaus Weber, Wolfgang Veiglhuber (Hg.): Wagenknecht – Nationale Sitten und Schicksalsgemeinschaft. Hamburg

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Oben       —         26.06.2019 Für eine soziale Politik Leipzig Der bisher heißeste Tag im Jahr mit Temperaturen um die achtunddreißig Grad Celsius konnte an die 1000 Leipziger*innen nicht davon abhalten, sich auf dem Marktplatz zu versammeln. Die Kundgebung bei der Sahra Wagenknecht zu den Standpunkten sozialer Politik der Bundestagsfraktion Die Linke sprach, wurde musikalisch von der Gruppe Karussell begleitet, welche in Leipzig ein Heimspiel hatten.

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Die Feuer der Zukunft

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Mai 2023

 In den Öfen der Vergangenheit:
Aufbau von sozial-ökologischen Allianzen in Südosteuropa

Quelle        :     Berliner Gazette

Von        :     

In Bosnien und Herzegowina sind die Bergarbeiter*innen von zentraler Bedeutung für jeden Versuch, den marktorientierten “grünen” Wandel herauszufordern. Darüber hinaus sind sie der Eckpfeiler einer potenziellen Konvergenz zwischen antikapitalistischen und ökologischen Kämpfen, wie die Wissenschaftlerin und Aktivistin Svjetlana Nedimović in ihrem Beitrag zu der Textreihe “Allied Grounds” zeigt, indem sie untersucht, wie die heutigen Umweltbewegungen eine einzigartige Gelegenheit haben, die “traditionelle” Energie der Arbeiter*innen zu nutzen, um eine noch nicht vorgestellte Zukunft aufzubauen

Im Herbst 2021 rebellierten Bergarbeiter*innen aus den alten Kohlebergwerken von Bosnien und Herzegowina und fielen über Sarajevo her, ein Strom von lauten und widerspenstigen Arbeiter*innen, die sich über die üblichen Regeln des Bürger*innenprotests hinwegsetzten, die durch laue Slogans, witzige Transparente, Modenschauen und unerbittliche Gesetzestreue gekennzeichnet sind.

Der Protest der Bergarbeiter*innen erschütterte die deindustrialisierte Hauptstadt, oder zumindest einige Teile von ihr. Der bläuliche, bedrohliche Schein ihrer Feuer erhellte die Nacht rund um den dunklen Turm, der jetzt die Regierung beherbergt, aber einst der Hauptsitz von Energoinvest war, Bosnien und Herzegowinas größtem Unternehmen, das alles von Stromkabeln bis hin zu Computerhardware und -software herstellte – bis es durch die Privatisierung auseinandergerissen wurde.

Die giftigen Dämpfe der brennenden Bierdosen und Plastikflaschen erstickten die unerfahrenen Unterstützer*innen und Aktivist*innen der Stadt. Nicht so die Bergleute, die lachten und sangen. Ihre dunklen, leicht gebeugten Gestalten, die in bunte, von den Bürger*innen zur Verfügung gestellte Decken gehüllt waren, wiegten sich um die Feuer herum und verwandelten das glatte Bild der Innenstadt in ein Bild aus einer postapokalyptischen Fantasie. Eine Fantasie, die zweifellos düster ist, in der sich aber auch ein Funken ernsthafter Unruhe verbirgt.

Eine Gruppe von Umweltaktivist*innen schloss sich dem Protest an und skandierte bald im Gleichklang mit den heiseren Stimmen der Bergleute den Slogan des Protests: “WIR GEBEN EUCH KEINE KOHLE!” Dies war eine ernsthafte Bedrohung für die Regierung: Wenn diese großen Bergwerke, die sich einst im Staatsbesitz befanden und nun in den Händen des staatlichen Energieversorgungsunternehmens sind, dem Land die Kohle entziehen würden, würde die Energieversorgung stark darunter leiden.

Aber warum haben sich Umweltschützer*innen bei dieser Drohung auf die Seite der Bergleute gestellt? Warnen sie nicht schon seit Jahren vor der Nutzung von Kohle wegen der lokalen Luftverschmutzung und der globalen Kohlenstoffemissionen?

Die Bergleute aufgeben, aber nicht Kohle

Wie viele Länder des Globalen Südens trägt auch Bosnien und Herzegowina nur minimal zu den historischen globalen Kohlenstoffemissionen bei: 0,06 %. Allerdings steht das Land unter (zunehmendem) Druck, seine Kohlekraftwerke zu schließen und auf weniger umweltschädliche Energiequellen umzusteigen. Dieser “grüne” Übergang hat das Land fast alle seine wilden Gebirgsflüsse gekostet, da es den Wettlauf zwischen einheimischen und ausländischen (hauptsächlich in der EU ansässigen) Kapitalist*innen um kleine Wasserkraftwerke auslöste. Kraftwerke, die übrigens immer noch als erneuerbare Energien eingestuft werden, obwohl sie den Flüssen irreparablen Schaden zufügen.

Heute wendet sich einheimisches und ausländisches Kapital der Solar- und Windenergieproduktion zu, die den “grünen” Übergang vorantreiben soll. Fast alles ist dabei auf die Interessen der Privatwirtschaft ausgerichtet. Der Staat greift nur wenig oder gar nicht ein, um “den Umweltschutz zu gewährleisten oder die Nutzung eines im Wesentlichen öffentlichen Gutes für den Energiebedarf der Gesellschaft zu steuern”. Der gesamte auf diese Weise erzeugte Strom landet auf ausländischen Märkten und bringt Bosnien und Herzegowina wenig oder gar keinen Nutzen.

Die Kohleverstromung ist jedoch nicht verschwunden. Die alten Kraftwerke, einst Symbole des Triumphs eines jungen sozialistischen Staates über die Armut und Motoren seiner Modernisierung, sind noch voll in Betrieb, haben aber nicht von den EU-Fördermitteln für die Entschwefelung profitiert, wie die Anlagen im benachbarten Serbien. Kürzlich unternommene Versuche Chinas, eine dieser Anlagen wieder aufzubauen, scheiterten an der Inkompetenz der lokalen Regierung und dem starken Druck der EU, die sich gegen jegliche Investitionen in alte Industriezweige, aber noch mehr gegen Chinas Einfluss auf dem Balkan aussprach.

Was jedoch geschieht, ist, dass die staatlichen Elektrizitätsunternehmen den alten staatlichen Bergwerken langsam die finanziellen Mittel entziehen, indem sie ihre Käufe auf die neuen privaten Kohlebergwerke umlenken. Wie bei anderen Privatisierungswellen der letzten drei Jahrzehnte erweist sich auch diese Bewegung als äußerst lukrativ für die Geldgeber*innen der politischen Parteien.

Es liegt auf der Hand, dass die Zerstörung und eventuelle Schließung der alten Bergwerke, um den neuen privaten Bergwerken einen noch größeren Marktanteil zu verschaffen, nicht zu einem Ausstieg aus der Kohle führen wird. Weniger offensichtlich, aber vielleicht noch problematischer ist das vermeintliche “Nebenprodukt” dieses Prozesses: Die Gesellschaft wird ihrer letzten großen Gruppe gewerkschaftlich organisierter Arbeiter*innen beraubt.

Wir haben dies beim Übergang zum Kapitalismus in Bosnien und Herzegowina nach dem Krieg gesehen. Die Industrie war durch den Krieg zwar beschädigt, aber nicht ruiniert, und viele der alten Staatsbetriebe hatten gute Chancen, sich zu erholen. Am Ende wurden sie mit dem Segen von Berater*innen internationaler Finanzinstitutionen wie der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds verkauft. So wurden die sozialistischen Giganten fast ausnahmslos zerschlagen, um dann billig an Kriegsgewinnler*innen verkauft, dann in den Konkurs getrieben und schließlich als Immobilien an Bauträger*innen weiterverkauft zu werden, was ihren Nachkriegseigentümer*innen satte Gewinne einbrachte. Die Arbeiter*innen landeten auf der Straße, arbeitslos, mit miserablen Sozialleistungen, wenn überhaupt. Und dort sollten sie jahrzehntelang bleiben, während ihre Proteste immer weniger sichtbar wurden, ihre Stimmen schwächer und ihre Macht schwächer, bis die organisierte Arbeiter*innenschaft als Idee und Praxis in Vergessenheit geriet.

Auf diese Weise wurde nicht nur die bosnisch-herzegowinische Industrie, sondern auch die organisierte Arbeiter*innenschaft außerhalb der staatlichen Institutionen ausgelöscht. Dadurch wurde nicht nur die Verhandlungsmacht der Arbeiter*innen im Allgemeinen stark geschwächt, sondern auch der Zusammenhalt und das Transformationspotenzial der Gesellschaft als Ganzes eingeschränkt.

Die Bergleute sind zwar ebenfalls geschwächt aus dieser Umwälzung hervorgegangen, haben aber überlebt, weil die nationale Energieproduktion im Wesentlichen von der Kohle abhängig ist. Sie werden zwar unweigerlich vom “grünen” Wandel betroffen sein, aber sie sind auch die einzige organisierte soziale Kraft, die in der Lage ist, ihn in Richtung sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zu lenken, weg von der Kosmetik pseudo-ökologischer Bedenken, die einen Großteil der westlichen Mainstream-Umweltbewegung weltweit kennzeichnen. Nicht zuletzt sind die Bergleute eine ausreichend große gesellschaftliche Gruppe, die es vermag, ihren Einfluss geltend zu machen. Dies haben die Proteste im Jahr 2021 gezeigt: Die Unternehmensleitung und die Regierung wurden durch die Drohung der Gewerkschaften, die Kohlelieferungen an die wichtigsten Kraftwerke zurückzuhalten, zu einer Einigung gezwungen. Dieses Potenzial kann jedoch nur erhalten werden, wenn die öffentlichen Bergwerke weiter betrieben werden.

Im Kontrast dazu stellen die privaten Kohlebergwerke, ebenfalls ein Produkt der Nachkriegsprivatisierung, kein Hindernis für den “grünen” Übergang dar. Ihre Bergleute sind meist nicht gewerkschaftlich abgesichert. Ihre Verträge sind unbeständig. Sobald der “grüne” Übergang an Schwung gewinnt, und das wird er früher oder später, wird der Staat nicht mehr für sie und ihre Gemeinden verantwortlich sein; er wird sie wie eine unnötige Last loswerden können. Doch solange der Bedarf an Kohle noch besteht, sind die privaten Bergwerke hochprofitabel, da sie Umwelt- und Arbeitnehmer*innenschutzbestimmungen sowie Arbeitsrechte bequem umgehen können.

Zwischenzeitig wurden die staatlichen Bergwerke von der Elektrizitätsgesellschaft Elektroprivreda BiH übernommen, einem der drei Unternehmen in Bosnien und Herzegowina, in dem aufgrund der ethnischen Teilung des Staates alles dreifach vorhanden ist. Diese Übernahme ist öffentlich als Rettung für die maroden Bergwerke dargestellt worden. In Wirklichkeit aber entzieht das Unternehmen den alten Bergwerken Arbeitskräfte und Investitionen und kauft gleichzeitig Kohle von den privaten Bergwerken.

In dem Bewusstsein, dass ein offenes Vorgehen gegen die staatlichen Bergwerke und die Bergleute auf den erbitterten Widerstand der direkt betroffenen Gemeinden und der Bevölkerung stoßen würde, gehen die Regierung und die Unternehmensleitung vorsichtig und hinterhältig, aber mit wachsender Entschlossenheit vor. Während die Gewerkschaften lauter werden, aber durch ihre dezimierten Mitgliederzahlen deutlich geschwächt sind (Kreka, eine der größten Minen, beschäftigt nur noch etwa ein Drittel der früheren Belegschaft), geht das Unternehmen aggressiver vor und erpresst die Minen, entweder ihre schlechtere Position innerhalb des Unternehmens zu akzeptieren oder es aufzugeben und sich dem Wettbewerb des freien Marktes zu stellen. In der gegenwärtigen Situation der Bergwerke ist der Wettbewerb auf dem freien Markt nicht nur ein schlechter Scherz, sondern der reinste Zynismus. Er zeigt, dass der Kampf des 21. Jahrhunderts für die Menschen in Bosnien und Herzegowina nicht “grüne Arbeitsplätze gegen braune Arbeitsplätze” heißen wird, sondern “neue prekäre braune Arbeitsplätze gegen alte (ehemals stabile) braune Arbeitsplätze”.

Die alte Gewerkschaftsmacht würde die finanziellen, sozialen und kulturellen Kosten des “grünen” Übergangs erhöhen, ihn verlangsamen und möglicherweise auf Lösungen umlenken, die den Kern des Systems zerstören, das die Klimakrise überhaupt erst verursacht hat. Das wissen auch die EU-Förderer des “grünen” Übergangs. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie auf einen eher selektiven Ausstieg aus der Kohle drängen, vorausgesetzt, die alte Gewerkschaftsmacht kann hinter den Kulissen abgebaut werden.

Kraft und Vision vereinen

Das langsame und schmerzhafte Sterben der alten Bergwerke untergräbt die letzte Festung der organisierten Arbeiter*innenschaft. Eine Gesellschaft wie Bosnien und Herzegowina wird dadurch des letzten Reservoirs an – zumindest potenziell – radikal umgestaltender Energie beraubt, die in einer Gruppe mit sehr hohem, wenn nicht gar höchstem Einsatz für einen gerechten Übergang steckt. Dies ist ein oft vernachlässigter Preis für den “grünen” Übergang, wenn er de facto privaten Investor*innen und Interessen überlassen wird. Doch was wie eine Sackgasse aussieht, könnte der Anfang einer unerwarteten Geschichte sein.

Überall im Land entstehen neue Umweltgruppen. Sie bündeln ihre Kräfte in einem gemeinsamen Kampf, und sie haben das Ohr der Öffentlichkeit. Sie haben begonnen, weit über die kurzfristigen Ziele hinauszugehen, die in der gebergesteuerten Zivilgesellschaft angestrebt werden, und scheuen sich nicht, in den Bereich der Politik als weltverändernde Arbeit vorzustoßen. Aber dieser im Entstehen begriffenen Bewegung fehlt noch eine starke Infrastruktur der Solidarität. Ein anderes Problem: Der Ansatz der Umweltgruppen ist oft legalistisch und unzureichend, um einen starken direkten Widerstand zu erzeugen. Die Grenzen solcher Strategien, die für eine wohl traumatisierte Nachkriegsgesellschaft (oder eine durch internationale Demokratisierung von oben befriedete Gesellschaft) geeignet sind, zeigen sich am deutlichsten im Fall der neuen Bergbauunternehmen, die die Region überschwemmen.

Multinationale Unternehmen dringen schnell und reibungslos ein, oft unter dem Deckmantel der Forschung oder mit dem Versprechen eines Goldrausches, und die Gemeinden werden der letzten Reste von Kontrolle über ihr Leben und ihre Entwicklung beraubt. Verarmt und entvölkert, auf der verzweifelten Suche nach wenigstens einer relativ stabilen Einkommensquelle, fällt es den Gemeinden schwer, den Widerstand, der sich trotz aller Widrigkeiten regt, aufrechtzuerhalten und zu nähren. Erschwert wird dies noch durch die gerissene PR der multinationalen Konzerne. Diese modernen Kolonisator*innen greifen in die Struktur des täglichen Lebens ein. Sie organisieren und sponsern Kultur- und Sportveranstaltungen, Kinder und Jugendliche. Sie spenden für Schulen und gemeinnützige Organisationen. Sie schneidern den Lehrplan auf ihre Bedürfnisse zu und unterdrücken die ehrgeizigeren Bestrebungen der örtlichen Jugend. Sie organisieren sogar “umweltfreundliche Aktivitäten”. Sie infiltrieren öffentliche Einrichtungen und machen ihre Präsenz im gesellschaftlichen Leben zur Selbstverständlichkeit, um den Weg für ihre gewinnbringenden Projekte zu ebnen. Ihre juristische und administrative Maschinerie sorgt dafür, dass all der Schaden, den sie anrichten, mit allen offiziellen Papieren abgewickelt wird.

Obwohl das Kapital begonnen hat, die “grüne” Wende zu forcieren, ist es nicht bereit, dafür zu bezahlen, und natürlich noch weniger bereit, den strukturellen Kern seines eigenen Geschäftsmodells zu verändern, was der einzige Weg ist, um die Energiewende nachhaltig und gerecht zu gestalten. Deshalb braucht die Umweltbewegung Verbündete, die ihr in diesem Kampf eine wildere, rauere Kante geben. Damit der Widerstand funktioniert, muss er das “Business as usual” effektiv stoppen. Dies zu bewirken ist das Potenzial der (Bergarbeiter*innen-)Gewerkschaft: die Wirtschaft und das ganze Land zum Stillstand zu bringen, indem sie die Kohleversorgung verweigert.

Ein Teil dieses Potenzials kann sogar auf die neuen Bergwerke übertragen werden, allerdings in viel bescheidenerem Umfang. Die jungen Bergleute werden den neuen, härteren Formen der Ausbeutung ausgesetzt – dieses Mal mit wenig oder gar keinem gewerkschaftlichen Rückhalt. Aber manche von ihnen bringen vielleicht die Saat der gewerkschaftlichen Kultur und des Kampfes aus den alten Bergwerken mit. Oder sie werden ihre eigene Saat der Solidarität und Kameradschaft in ihrem gemeinsamen täglichen Kampf um ihr eigenes Überleben und das der anderen pflanzen. Eine ungewisse und unsichere Ausgangssituation, aber immerhin eine Ausgangssituation.

So oder so, die Bergarbeiter*innen werden Verbündete außerhalb ihrer verarmten und verletzlichen Gemeinschaften brauchen. Sie werden Verbündete mit Visionen brauchen, die über den Kapitalismus in all seinen Formen hinausgehen. Die emergierende Umweltbewegung in Bosnien und Herzegowina könnte diese Rolle erfüllen. Sie hat bereits einen wichtigen Schritt getan, der über den Naturschutz hinausgeht und die gegenwärtige Ordnung der Dinge, die Unantastbarkeit von Privateigentum und -interessen und die Ausbeutung der natürlichen Welt zu Profitzwecken in Frage stellt. Die Bewegung spricht die Sprache des Gemeinwohls, der Selbstverwaltung und der Autonomie des Kollektivs über seine Ressourcen und Entwicklungswege. Und damit macht sie deutlich, dass sie nicht nur die Stimme der Naturschützer*innen sein wird, sondern die aller Ausgegrenzten, Verarmten und Ausgebeuteten, die zu Akteur*innen der Veränderungen werden müssen, die zur Rettung des Planeten und seiner Lebenswelt notwendig sind.

Auf diese Weise hat die Umweltbewegung tatsächlich die Arena der antikapitalistischen Kämpfe betreten. Und das ist der Boden, auf dem sich die beiden Bewegungen, die der Arbeiter*innen – wohlgemerkt nicht nur die der Bergarbeiter*innen – und die der Umweltschützer*innen, gemeinsam bewegen können, indem sie die Kraft der Organisation mit der Kraft der Vision verbinden. Wird die Umweltbewegung, die von der Mehrheit der Gesellschaft unterstützt wird, den bahnbrechenden Sprung zu kühneren Visionen wagen und sich an die Bergarbeiter*innengemeinschaften und im weiteren Sinne an die Arbeiter*innen im Allgemeinen wenden? Die Arbeiter*innen müssen den “grünen” Übergang tragen, sollten sie ihn nicht also auch anführen und gestalten? Die Energieerzeugung ist ein guter Ansatzpunkt. Neben den Umweltbelangen geht es auch darum, die Arbeiter*innen und ihre Haushalte mit sauberer und erschwinglicher Energie zu versorgen. Oder sogar kostenlose Energie, wenn wir sie als lebenswichtiges menschliches Bedürfnis und nicht als lukrative Handelsware anerkennen. Hier kann ein guter Kampf geführt werden, dessen Keimzelle wir im Manifest der Naturschützer*innen für die Zukunft der Energie in BiH sehen.

Es gibt viele Schlachtfelder. Die alten Methoden der Energieerzeugung mögen aussterben, aber die Arbeiter*innen und ihre Gemeinden werden die Folgen jahrzehntelang spüren. Wenn die Umweltbewegung also für saubere Luft kämpfen will, muss sie bei den Gemeinden beginnen, die für die Entwicklung aller geopfert werden: Sie brauchen in erster Linie eine gute, zuverlässige, fortschrittliche öffentliche und allgemeine Gesundheitsversorgung.

Und dann ist da noch das neue Wurmloch des “grünen Extraktivismus”, der sich immer deutlicher im Abbau so genannter “Übergangsmineralien” zeigt, der nicht nur Anlass zu großer Sorge um die Umwelt ist. Die “grünen” Minen vernichten menschliche Körper und Leben, um den Kapitalist*innen maximale Profite zu sichern. Während sich die Menschen im ganzen Land dagegen auflehnen, muss die Umweltbewegung laut und deutlich über die verschiedenen Dimensionen dieses Widerstands sprechen: es geht um die Natur und die Gemeinden, aber auch um die Arbeiter*innen. Die “grünen” Minen bieten magere Löhne und wenig Schutz; sie sind keine Grundlage für die sozioökonomische Entwicklung und können nicht die Lebensgrundlage für die Gemeinschaften sein, die sie ausbeuten. Sie sind Quellen des schnellen Profits für (hauptsächlich) ausländische Kapitalist*innen und Pfeiler des Neokolonialismus. Der Kampf gegen sie ist also ein Kampf für die Gesellschaft und für die Natur.

Die Dialektik der Kohle

Ich schreibe diesen Text dank des zuverlässigen Feuers des alten Kohlekraftwerks, dessen Schornstein über die Täler Zentralbosniens ragt. Das schwarze Gold dieses Landes wird zuverlässig mit alten, schmutzigen Zügen zum Kraftwerk transportiert. Genauso zuverlässig lagern sich Kohlestaubpartikel in den Lungen der Bergleute und der Bevölkerung rund um die Minen ab.

Diese Zuverlässigkeit ist jedoch anfällig und hängt vom Willen der Bergleute ab. Wind- und Solarenergie mögen auf dem Vormarsch sein, aber die grundlegende Energiequelle für Bosnien und Herzegowina ist die Kohle. Zumindest vorläufig, in dieser unserer Gegenwart, für die die Bergleute mehr geopfert haben als die meisten von uns. Ihr Opfer ist glücklicherweise und wiederum vorläufig nicht nur moralisch, sondern auch materiell und existenziell bindend, solange es Kohlekraftwerke gibt, und die wird es noch eine Weile geben. Der Ruf “WIR GEBEN EUCH KEINE KOHLE!” ist ein Schlachtruf der Stunde. Umweltaktivist*innen in Bosnien und Herzegowina müssen diesen Moment gemeinsam mit den Bergarbeiter*innen nutzen. Und dann zu anderen Bereichen übergehen, in denen nur die Arbeiter*innen das “business as usual” effektiv stoppen und einen radikalen Wandel herbeiführen können.

In einer ironischen Wendung der Dialektik des Übergangs kann die eine Tätigkeit, die unter anderem das Leben auf diesem Planeten bedroht, nämlich der Abbau und die Verbrennung von Kohle, gleichzeitig ein Leuchtfeuer der Hoffnung sein: unsere Waffe im Kampf darum, die Dinge anders zu machen. Dabei geht es nicht nur darum, Technologien umzuwandeln, sondern auch die Wirtschaft unserer Gesellschaften zu revolutionieren, damit sie den Bedürfnissen der gesamten lebendigen Welt dient.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist ein Beitrag zur Textreihe “Allied Grounds” der Berliner Gazette; die englische Fassung finden Sie hier. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “Allied Grounds”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://allied-grounds.berlinergazette.de

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Linkes – Anti-Bündnis ?

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Mai 2023

Anti-Fortschrittsbündnis in der Bundestagsfraktion

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von     :    Edith Bartelmus-Scholich

Ausgerechnet im neurechten Magazin Cicero veröffentlichten heute die beiden Referenten der Linksfraktion im Bundestag Malte Heidorn und Jan Marose eine Polemik gegen das Heizungsgesetz der Bundesregierung.(1) Ihre größte Sorge gilt dabei dem deutschen Mittelstand und dem Industriestandort Deutschland. Die Wärmewende halten sie für übertrieben und moralisch motiviert. Wenn überhaupt, wollen sie zur Erreichung von Klimazielen die Atomkraft weiter nutzen. Den Forderungen ihrer Partei (2) widerspricht fast alles, was sie schreiben.

Gegen die Wärmewende – mit dem Wording der AfD

Die Autoren reihen in ihrem Artikel Halbwahrheiten und fragwürdige politische Einschätzungen aneinander. Sie fragen sich, ob eine Reduzierung von klimaschädlichen Emissionen in Deutschland überhaupt Sinn mache, da andere Staaten keine entsprechenden Anstrengungen unternehmen würden. Sie vermitteln den Eindruck, Deutschland, welches bekanntlich jedes Jahr seine Klimaziele verfehlt, sei Vorreiter in der Klimapolitik zu Lasten seines Mittelstands und seiner Industrie. Zynisch stellen sie fest: Wir können gegen den horrenden Zuwachs der weltweiten Emissionen nicht als klimapolitische Insel ansparen. Das ist Klimanationalismus aus dem Hause Habeck. Selbst wenn Deutschland morgen klimaneutral wäre, würde dies global nichts ändern. Und in Spanien würde es in diesen Tagen trotzdem nicht regnen.“

Sie schreiben weiter: Während die „Letzte Generation“ mit gezielten Aktionen gegen Normalbürger versucht, den Alltag lahmzulegen, peitscht die Bundesregierung ihr Heizungsgesetz in den Bundestag. Der Klimaeffekt der Habeck-Ideologie ist aber maximal dürftig. Das Wirtschaftsministerium hat in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage Auskunft gegeben: Sagenhafte 1,4 Prozent CO2-Emissionen werden durch das Heizdiktat der Ampel und die geplante Installation von sechs Millionen Wärmepumpen eingespart. Nicht etwa Ende 2024, wenn Habecks Harakiri Fahrt aufnehmen soll, sondern im Jahr 2030 – im Vergleich zu heute.

Angesichts der Debatte könnte man den Eindruck haben, es ginge nicht um 1,4 Prozent, sondern um alles oder nichts – Höllenfeuer oder grünes Paradies. In einer wieder einmal moralisch überfrachteten Debatte spielen weder Fakten noch die finanziellen Möglichkeiten der Bürger eine besondere Rolle.“

Heidorn und Marose rechnen hier die klimapolitischen Effekte des Heizungsgesetzes künstlich klein. Ihre Behauptung es würden lediglich 1,4 Prozent der Emissionen eingespart, ist falsch. Sie täuschen, indem sie nur die Einsparung im Gebäudesektor für das Jahr 2030 nennen. Diese Einsparungen im Jahr 2030 setzen sie dann ins Verhältnis zu den gesamten Emissionen des Jahres 2022. Dadurch entsteht der Eindruck, die Wärmewende würde keine realen Einsparungen bringen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, mit den Maßnahmen werden 10 % an den Gesamtemissionen und damit 39 Prozent der Emissionen des Gebäudesektors eingespart.

Bemerkenswert ist zusätzlich, dass Heidorn und Marose in ihrem Artikel nicht nur rechte Narrative aufgreifen und unterstützen, sondern zudem mit „Heizdiktat“ und „Harakiri“ exakt das AfD-Wording zu diesem Thema benutzen. Und natürlich erhält dieser Artikel in den sozialen Medien viel Zuspruch von ganz rechts.

Nicht etwa Mitarbeiter von Klaus Ernst

Bei derartigen Positionen zur Klimapolitik denken auch Mitglieder und Sympathisant*innen der Partei DIE LINKE zuerst an den Flügel um Sahra Wagenknecht und Klaus Ernst. Dort sind Heidorn und Marose allerdings nicht zu verorten. Beide gehören zum engsten Umfeld von Dietmar Bartsch. Jan Marose ist Ostkoordinator der Bundestagsfraktion, Malte Heidorn persönlicher Mitarbeiter von Dietmar Bartsch. Es ist schwer vorstellbar, dass die beiden ohne Rückendeckung von Bartsch diesen Artikel veröffentlicht haben. Viel eher ist es anzunehmen, dass hier Positionen geäußert werden, die im Flügel um Dietmar Bartsch geteilt werden.

Offenbar haben der Flügel um Wagenknecht und der Flügel um Bartsch weit mehr politische Positionen gemeinsam, als oft angenommen wird. Es ist ein Irrtum zu meinen, dass das Bündnis von Wagenknecht und Bartsch auf nichts anderem beruht, als auf reinem Machtkalkül. Vielmehr wird sichtbar, dass es in der Bundestagsfraktion ein Bündnis unterschiedlicher Ewig-Gestriger gibt: Ein Anti-Fortschrittsbündnis.

Edith Bartelmus-Scholich, 3.5.2023

(1) https://www.cicero.de/innenpolitik/mittelschicht-ampelkoalition-wohlstand-industrie-habeck

(2) https://www.die-linke.de/start/nachrichten/detail/sofortpaket-waerme/

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Oben       —   Foto: DIE LINKE NRW / Irina Neszeri

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Kolumne * FERNSICHT Polen

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Mai 2023

Warnung an den Westen

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Xi Jinping hegt unverhohlene Abneigung gegen den Westen und seine Werte. Chinas Demütigungen in der Vergangenheit liefern den Treibstoff für die Politik.

Im Bezug auf den Sturz des Kommunismus hat sich der Glaube an dessen friedlichen Charakter in unseren Köpfen verfestigt. Natürlich war es in Rumänien anders, wo die Agonie der UdSSR mit einem Putsch endete, aber im Allgemeinen waren die Veränderungen in Mittel- und Osteuropa sanft. Oder?

Die Erinnerung spielt uns einen Streich. Vor drei Jahrzehnten stürmten sowjetische Truppen den Fernsehturm in Vilnius. Die Litauer wollten ihre Souveränität verteidigen, was die Russen verhindern wollten. 14 Menschen wurden getötet.

All dies wurde in den letzten Tagen in Erinnerung gerufen, als ein Interview des chinesischen Botschafters in Frankreich, Lu Shaye, durch die Medien ging. Darin deutete er an, dass die Krimfrage nicht so einfach ist, wie die Ukraine und ihre Verbündeten es gerne hätten. Nach internationalem Recht, so der Diplomat, verfügen die Länder der ehemaligen Sowjet­union nicht über die volle Souveränität.

In Mittel- und Osteuropa nehmen wir die Wiedererlangung der Souveränität vor 30 Jahren todernst. Wenn jemand die Existenz der Staaten unserer Region untergräbt, laufen nicht nur den Balten, sondern auch den Polen unangenehme Schauer über den Rücken. Vor allem, wenn solche Äußerungen aus einem der mächtigsten Länder der Welt kommen – China. Peking hat relativ schnell ein Dementi abgegeben. Dennoch wird der Vorfall in den Ländern unserer Region nicht so schnell vergessen werden.

Erstens, weil chinesische Diplomaten nicht für zufällige „Zungenspritzer“ bekannt sind. Außerdem hat hier keine zufällige Figur gesprochen. Der Botschafter in Frankreich gehört zur ersten Liga der chinesischen Diplomatie, und außerdem kam die Erklärung kurz nach dem Freundschaftsbesuch von Emmanuel ­Macron und Ursula von der Leyen in Peking. Diese Erklärung zeigt, dass all die Bemühungen der Verteidiger demokratischer Werte, China auf ihre Seite zu ziehen, dort abprallen.

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Zweitens, weil die Erklärung des chinesischen Botschafters eindeutig näher an der Linie Wladimir Putins liegt als an der irgendeines europäischen Politikers. Allzu oft betrachten demokratische Politiker die Despoten zu ähnlich wie sich selbst. Spätestens aber seit der „Appeasement“-Politik Chamberlains gegenüber Hitler sollten wir uns dessen bewusst sein.

Drittens: Die Untergrabung der litauischen, lettischen und estnischen Souveränität durch den chinesischen Botschafter ist eine Politik des Achselzuckens vor der bestehenden internationalen Ordnung. Deshalb sollte man sich von dem anschließenden Dementi nicht täuschen lassen. Auch hier wurde ein Versuchsballon losgelassen – genau wie bei den chinesischen Ballons, die vor Kurzem „versehentlich“ über Nordamerika flogen.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Ein neuer Frühling

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Mai 2023

1. Mai und Gewerkschaften

Ein Debattenbeitrag von Esther Lynch

Beschäftigte in Europa wehren sich gegen niedrige Löhne und steigende Lebenshaltungskosten. Aber für die Gewerkschaften bleibt noch viel zu tun.

Der 1. Mai ist für uns ein Tag zum Feiern. Aber wir erheben auch Einspruch. Am Tag der Arbeit feiern wir die Erfolge der Gewerkschaftsbewegung. Unsere erfolgreiche Kampagne für den Acht-Stunden-Tag stand am Beginn des internationalen Tags der Arbeiterbewegung. Und wir bleiben der Tradition der Gründer unserer Bewegung treu, wenn wir weiter konkrete Verbesserungen der Bedingungen für arbeitende Menschen fordern.

Kurz vor dem 1. Mai 1913 schrieb Rosa Luxemburg in einem Artikel, dass „das Gespenst der Teuerung (…) ein flammendes Zeugnis für die lebendige Wahrheit und die Macht der Ideen der Maifeier“ sei. Deshalb hat die europäische Gewerkschaftsbewegung in diesem Jahr erst recht einen Anlass, auf die Straße zu gehen. Alarmierend steigende Lebenshaltungskosten werden von Unternehmen verursacht, die auf zynische Weise die Preise und ihre Profite immens steigern und dies auf Versorgungsprobleme schieben, die durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine entstanden seien. Gleichzeitig müssen Beschäftigte den größten Reallohnverlust seit Beginn des Jahrhunderts hinnehmen.

Nichtsdestotrotz wurde nur in einer Handvoll europäischer Länder eine Übergewinnsteuer auf solche zusätzlichen Profite eingeführt. Ich nenne diese Teuerung ja lieber „Gierflation“. Aber viele führende Politiker sind abermals entschlossen, die breite Bevölkerung für eine weitere Krise bezahlen zu lassen, an der sie keinerlei Schuld tragen. Austerität 2.0 kommt auf uns zu: Politiker fordern Lohnzurückhaltung, gleichzeitig schießen die Zinsen in die Höhe, Macron setzt in Frankreich auf undemokratische Weise eine Rentenreform durch, und in Dänemark wird ein Feiertag gestrichen.

Aber wir sehen heute in Europa auch, dass die Menschen sich wehren. Ein Dutzend Mal haben die Beschäftigten in ganz Frankreich gestreikt. Großbritannien erlebte 2022 die ausgedehntesten Arbeitskämpfe seit den 1980er Jahren, und in Deutschland kam es Ende März zum „Super-Streiktag“. Krankenpflegerinnen in Lettland, Arbeiter in tschechischen Reifenfabriken und Transportarbeiter in den Niederlanden haben sich in den vergangenen Monaten erfolgreich eine bessere Bezahlung erstritten.

Gewerkschaften wehren sich auch erfolgreich gegen Taktiken, die Organisierung in weiteren Betrieben zu verhindern. Beschäftigte bei Amazon in Deutschland haben immer wieder gegen die Arbeitsbedingungen dort gestreikt, in Großbritannien in diesem Jahr erstmals. Überall in Europa organisieren sich die Beschäftigten und erringen Erfolge. Wir können an diesem 1. Mai stolz sein. Die Herausforderung ist jetzt, aus diesem Frühling der Arbeiterbewegung dauerhafte Verbesserungen zu erstreiten.Deshalb wird eine Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung beim Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbunds in diesem Monat oberste Priorität haben. 1.000 Delegierte und Teilnehmer, die mehr als 45 Mil­lio­nen Beschäftigte repräsentieren, werden nach Berlin kommen und einen Aktionsplan für die kommenden vier Jahre beraten.

In zwei Dritteln aller EU-Mitgliedstaaten liegt der Mindestlohn unter der Armutsgrenze

Noch immer profitieren zu wenige Beschäftigte von den Vorteilen gewerkschaftlicher Organisierung und tariflich abgesicherter Arbeitsverhältnisse. Sie erhalten in der Regel eine höhere Entlohnung als in Betrieben, in denen die Arbeitgeber allein die Löhne festlegen. In Deutschland sind 52 Prozent der Beschäftigten über Tarifverträge abgesichert, aber in der Hälfte der EU-Mitgliedstaaten liegt diese Quote unter 50 Prozent. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat sich bereits erfolgreich für eine EU-Richtlinie zu angemessenen Mindestlöhnen eingesetzt.

In zwei Dritteln aller EU-Mitgliedstaaten liegt der Mindestlohn unter der Schwelle, an der den Beschäftigten das Abrutschen in die Armut droht. Deutschland gehörte auch dazu, bis der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht wurde – ein Beispiel, dem andere EU-Staaten folgen sollen.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>      weiterlesen

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Oben        —     Wien Hauptbahnhof, Hinweis auf Auswirkungen eines Streiks in Deutschland.

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Wer will das Kontrollieren ?

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Mai 2023

LNG und die Blindheit unserer Regierung

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Teile des eingestürzten Gebäudes während der Rettungsarbeiten, 27. April 2013

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Alle Politiker blöken wild durcheinander nach der Befreiung von Lieferabhängigkeiten z.B von China und sind ganz offenbar blind für die Hinterfotzigkeiten ihres vorgeblich besten transatlantischen Verbündeten und Anführers der westlichen Wertegemeinschaft.

An sich sollten wir die US-Intetionen in Sachen Öl, Gas und NLG (liquid natural gas) spätestens seit Trump kennen, der sich dem Bau von North Stream 2 widersetzte und rüpelhaft sogar deutsche Firman sanktionierte. ‚America First‘ wird noch heute gepflegt, indem die aktuelle US-Administration mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die dann doch fertiggestellte Pipeline kurzerhand gesprengt hat. Sahra Wagenknecht hat das in jeder Hinsicht unverantwortliche Handeln unserer Regierung in ihrem letzten Newsletter zutreffend angeprangert. Noch deutlicher analysiert der US-Publizist Michael Hudson die Abgründe und Auswirkungen der Gier der USA nach Macht und Geld.

Die seit Jahrzehnten von den USA im Hintergrund gepflegte Strategie erfährt jetzt durch den Ukraine-Konflikt und die damit verbundenen Saktionen gegen Russland eine krasse Offenkundigkeit, die von unseren Politikern aber offensichtlich nicht erkannt oder vielleicht sogar wissentlich verdrängt wird. Zum Schaden unseres Volkes wurschtelt man an Symptomen herum, ohne die wahren Ursachen abzustellen. Durch blindes Befolgen der von den USA verhängten Sanktionen hat sich die westliche Wertegemeinschaft in eine Notlage gebracht, die sie jetzt holterdipolter durch Flickschustereien und ohne Rücksicht auf das Volk und die Natur zu bändigen sucht. Groteskerweise brauchen wir das teure LNG (Fracking Gas) aus den USA gar nicht, weil der Markt davon bereits überschwemmt ist. Aber die deutschen Vasallen zahlen weiter den mit den USA vereinbarten, überhöhten Preis.

So drängt sich unversehens die Frage auf, was die vielbeschworene Wertegemeinschaft unter Führung der USA überhaupt wert ist und wie wir uns möglicherweise schleunigst aus ihrem Würgegriff lösen müssen. Wenn unser scheinbar wichtigster Verbündeter uns nicht ehrlich behandelt und uns als (noch) stärkste Industrienation Europas in seine totale Abhängigkeit zwingen wiill, dann sind auch wir ein großer Verlierer in diesem Neuen Kalten Krieg und werden auf Jahre unseren erarbeiteten Lebensstandard in vielen Bereichen aufgeben und langsam wieder aufbauen müssen, wenn wir uns nicht für die neuen Entwicklungen in der Welt öffnen. Die Mehrheit der Länder der Welt folgt der westlichen regelbasierten Ordnung nicht oder nicht mehr.

Hegemoniale Attitüden sind vorbei, auch seitdem China uns zeigt, wie man auch ohne militärischen oder wirtschaftlichen Druck oder Zwang friedvolle Beziehungen gestalten kann. Das LNG ist nur ein Warnsignal, dass wir unser Geschick autonom gestalten müssen und nicht blind einem Leithammel folgen dürfen. Dazu gehört auch die unbedingte Pflicht, die aktuelle Krise durch Verhandlungen zu lösen. America first ist vorbei. Nur win-win-Lösungen bringen uns weiter. Wenn unsere Regierung für die Realität der komplexen Ereignisse und Interaktionen unserer Zeit blind ist, sollte sie im Interesse des Volkes abtreten, um weiteren Schaden von ihm abzuwenden.

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Oben       —     Teile des eingestürzten Gebäudes während der Rettungsarbeiten, 27. April 2013

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Neue alte Weltordnung?

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Mai 2023

No one wins, one side just loses more slowly.“

Es wird immer Einer daseun, welcher sich alles nimmt. 

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von     :        Tomasz Konicz

Kann das staatskapitalistische China die abgetakelten USA als Hegemon beerben? The Wire.

Glaubt mensch den Deklarationen russisch-chinesischer Gipfeltreffen und westlichen Einschätzungen, dann wird das 21. Jahrhundert durch eine Ära chinesischer Hegemonie bestimmt werden. Bei ihrem Moskauer Kriegsgipfel Mitte März sprachen sich Putin und Xi für eine „gerechte multipolare Weltordnung“ aus, die der Ära der US-Hegemonie ein Ende bereiten würde.1 Ein britischer Regierungsreport warnte hingegen vor einer Welt der „Gefahr, Unordnung und Teilung“, die Peking in offener, „epochenformender Herausforderung“ der liberalen, „regelbasierenden Weltordnung“ kreiere.2 Wobei es eigentlich auch britischen Analysten schwerfallen müsste, die krisengeplagte spätkapitalistische Welt anders als durch “Gefahr, Unordnung und Teilung” geprägt zu sehen. Bei solchen Einschätzungen handelt es sich offensichtlich um simple Projektionen. Doch das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie vollkommen falsch wären – wie ja ein flüchtiger Blick auf das Gemetzel in der Ukraine und das Säbelrasseln um Taiwan illustriert.

Das Gerede von einer multipolaren Weltordnung ist somit einerseits Ideologie all jener autoritären Staaten der Semiperipherie, die sich vermittels imperialistischer Macht- und Kriegspolitik darum bemühen, die erodierenden USA zu beerben, um auf regionaler oder globaler Ebene eine ähnliche Vormacht oder Dominanz zu erringen, wie sie Washington in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innehatte. Die Zunahme regionaler zwischenstaatlicher Konflikte ist gerade Ausdruck dieser sehr reellen multipolaren Weltunordnung in einer globalen Krisenphase, in der es faktisch keinen Welthegemon mehr gibt. Ob es nun russische Imperialisten, iranische Mullahs, türkische Neoottomanen oder deutsche Vollazis und Querfrontler sind – es ist vor allem der Neid auf die im Zerfall begriffenen Machtmittel Washingtons, der dieses letzte Stadium des Antiamerikanismus motiviert. Und dies gilt vor allem für den US-Dollar. Der Greenback als – vor allem auf dem Ölhandel beruhende – Weltleitwährung verschaffte Washington die Option, sich im Wertmaß aller Warendinge zu verschulden, um etwa seine Militärmaschinerie zu finanzieren. Wenn hingegen ein Erdogan die Geldpresse anwirft, dann steigt einfach die Inflation.

Deswegen sorgen die jüngsten währungspolitischen Abmachungen zwischen China, Russland und etlichen Staaten der Semiperipherie für Aufsehen. Mitte März propagierte Regierungschef Xi bei einem Staatsbesuch in Riad eine Umstellung des Ölhandels mit Saudiarabien auf den chinesischen Yuan, um der „zunehmenden Umwandlung des Dollars zur Waffe“ zu begegnen.3 Riad soll den symbolischen Schritt zur Abwicklung eines Teils seines Ölhandels mit Peking ernsthaft erwägen. Im kriegsführenden Russland ist angesichts westlicher Sanktionen der Yuan zur meistgehandelten Währung aufgestiegen.4 Ähnliche bilaterale Währungsdeals konnte Peking mit Brasilien,5 Pakistan6 und Venezuela7 abschließen. Auf dem letzten BRICS-Treffen im Februar wurde gar der Aufbau eines alternativen Währungssystems für „Schwellenländer“ diskutiert.8 Die Financial Times warnte bereits im März, dass die westlichen Funktionseliten sich auf eine „multipolare Währungsweltordnung“ vorbereiten sollten – was den Verlust des „außerordentlichen Privilegs“ Washingtons, sich in der Weltleitwährung zu verschulden, bedeuten würde.

Diese verstärkten Absetzbewegungen vom Dollar sind einerseits auf die US-Sanktionen gegen Russland beim Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine zurückzuführen, da dabei erstmals russische Auslandsguthaben eingefroren wurden (Lawrow sprach vom „Diebstahl“), was von allen Regimes, die perspektivisch damit rechnen müssen, in Konflikt mir Washington zu geraten, aufmerksam registriert wurde. Doch kann diese Tendenz zur De-Dollarisierung und De-Globalisierung nur vor dem Hintergrund des imperialen Abstiegs der USA und des historischen Krisenprozesses voll verstanden werden. Hiernach erst wird klar, wieso China nicht in der Lage sein wird, die Vereinigten Staaten als Hegemon zu beerben.

Giovanni Arrighi hat in seinem faszinierenden Werk ‚Adam Smith in Beijing‘ die Geschichte des kapitalistischen Weltsystems als eine Abfolge von Hegemonialzyklen beschrieben. Eine aufstrebende Macht erringt in einer auf der warenproduzierenden Industrie geprägten Aufstiegsphase eine dominierende Stellung innerhalb des Systems, nach einer Signalkrise geht diese Hegemonialmacht in den imperialen Abstieg über, in dem die Finanzindustrie an Bedeutung gewinnt, um schließlich von einem neuen, über größere Machtmitte verfügenden Hegemon abgelöst zu werden.

Und diese Abfolge kann sowohl im Fall Großbritanniens wie der USA empirisch nachvollzogen werden. Das englische Empire, das im Rahmen der Industrialisierung im 18. Jahrhundert zur ‚Werkstatt der Welt‘ aufstieg, wandelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Weltfinanzzentrum, bevor es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den ökonomisch aufsteigenden USA abgelöst wurde, die wiederum ihre ‚Signalkrise‘ während der Krisenphase der Stagflation in den 70ern erfuhren. Hiernach setzte die Deindustrialisierung und Finanzialisierung der USA ein, die zu einer ökonomischen Dominanz des US-Finanzsektors führte. Die Verschuldung des absteigenden Hegemons beim imperialen Aufsteiger, die Arrighi ebenfalls thematisierte, kann sowohl im Fall Großbritanniens gegenüber den USA, als auch den Defizitkreislauf der Vereinigten Staaten gegenüber China festgestellt werden.

Der Dollar errang seine Weltstellung somit im Rahmen des fordistischen Nachkriegsbooms, als der Marshall-Plan im verwüsteten Europa auch die Hegemonie der Vereinigten Staaten zementierte. Und es war gerade diese lang anhaltende Phase fordistischer Expansion, die das ökonomische Fundament der US-Hegemonie bildete. Mit dem Ende des Nachkriegsbooms in der Stagfaltionsphase, der Finanzialisierung und der Durchsetzung des Neoliberalismus wandelte sich die ökonomische Grundlage des westlichen Hegemonialsystems: Die sich immer weiter verschuldenden USA wurden in der systemischen Überproduktionskrise zum „Schwarzen Loch“ des Weltsystems, das durch seiner Handelsdefizite die Überschussproduktion exportorientierter Staaten wie China und BRD aufnahm – um den Preis voranschreitender Deindustrialisierung. Peking und Berlin hatten somit allen Grund, die US-Hegemonie und den Dollar als Weltleitwährung zu tolerieren, da ohne den amerikanischen Absatzmarkt Chinas Aufstieg zur neuen „Werkstatt der Welt“ nicht möglich gewesen wäre.

Der an seiner eigenen Produktivität erstickende, zunehmend auf Pump laufende Spätkapitalismus kettete im Rahmen dieser Globalisierung der Defizitkreisläufe und der damit korrespondieren Blasenökonomie die „Produktionsstandorte“ und Defizitstaaten aneinander, doch zugleich nahm das Konfliktpotenzial aufgrund sozioökonomischer Zerfallsprozesse immer weiter zu. Diese Krisentendenz wurde ganz konkret in Donald Trump personifiziert, der von einer erodierenden weißen Mittelschicht gewählt und mittel Protektionismus die USA reindustrialisieren wollte – und somit ungewollt de Abstieg des Dollars, der gerade aufgrund der Defizite des Dollarraumes akzeptiert wurde, noch beschleunigte. Eigentlich gibt es seit Trump keine US-Hegemonie mehr. Die Vereinigten Staaten halten ihre Stellung nur noch vermittels nackter Dominanz, vor allem aufgrund ihres Militärisch-Industriellen-Sektors, der das wahre Rückgrat des Dollars bildet – und eben dies lässt eine militärische Auseinandersetzung zwischen China und den USA wahrscheinlich werden. Die USA stehen global ähnlich mit dem Rücken zur Wand, wie es der russische Imperialismus am Vorabend des Ukraine-Kriegs im postsowjetischen Raum tat. Dies wurde auch am derzeitigen Bankenbeben evident, das ausgerechnet an US-Staatsanleihen getriggert wurde.9

Der krisenbedingt zunehmende Protektionismus scheint somit der Weltleitwähurng Dollar den Rest zu geben. Und dennoch wird das 21. Jahrhundert aufgrund der sich entfaltenden sozioökologischen Weltkrise des Kapitals keine Epoche chinesischer Hegemonie mit sich bringen können. Der Yuan wird den Dollar nicht beerben. Die von der Dominanz der Warenproduktion geprägte hegemoniale Aufstiegsphase der Volksrepublik erfolgte im Rahmen der besagten globalen Defizitkreisläufe, bei denen die Verschuldungsdynamik im Westen die Nachfrage für die chinesische Exportwirtschaft generierte – und sie endete mit dem Krisenschub von 2008. Mit dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und Europa gingen die extremen chinesischen Exportüberschüsse zurück (mit Ausnahme der USA), während die gigantischen Konjunkturpakete, die Peking damals zur Stützung der Wirtschaft auflegte, zu einer Transformation der chinesischen Konjunkturdynamik führten: der Export verlor an Gewicht, die kreditfinanzierte Bauwirtschaft, der Immobiliensektor bildeten fortan die zentralen Triebfedern des Wirtschaftswachstums.

Somit hat China offensichtlich seine ‚Signalkrise‘, die den Übergang zu einem finanzmarktgetriebenen Wachstumsmodell markiert, schon 2008 hinter sich gebracht. Chinas Wachstum läuft somit ebenfalls auf Pump, die Volksrepublik ist ähnlich hoch verschuldet wie die absteigenden westlichen Zentren des Weltsystems. Die chinesische Defizitkonjunktur bringt noch weitaus größere Spekulationsexzesse hervor als es in den USA oder Westeuropa der Fall war, was die Verwerfungen auf dem absurd aufgeblähten chinesischen Immobilienmarkt 2021 evident machten. Ökonomisch hat der hegemoniale Abstieg der Volksrepublik aufgrund der globalen Systemkrise bereits eingesetzt, obwohl sie ihre Hegemonialposition geopolitisch noch gar nicht erringen konnte.

Was immer zählt in der Politki ist der persönliche Reichtum der Machthaber ! Und so hat der Westen allen gezeigt, wie es geht !

Dieser Mangel eines neuen Leitsektors, eines massenhaft Lohnarbeit verwertenden Akkumulationsregimes in der Warenproduktion, in dem sich die innere Schranke des Kapitals manifestiert, bildet den großen Unterschied zwischen dem gegenwärtigen China und den USA am Ende des 2. Weltkrieges. Dies wird gerade hinsichtlich der außenpolitischen Ambitionen Pekings evident, wo mit der „Neuen Seidenstraße“ ein ehrgeiziges globales Entwicklungsprojekt initiiert wurde, das sich am Vorbild des Marshall-Plans orientierte – und das der Volksrepublik die erste internationale Schuldenkrise bescherte.10 Von den rund 838 Milliarden US-Dollar, die Peking bis 2021 zum Aufbau eines auf China zentrierten Wirtschafts- und Bündnissystem in Entwicklungs- und Schwellenländern investierte, sollen nach dem Ausbruch des aktuellen Krisenschubs (Pandemie und Ukraine-Krieg) rund 118 Milliarden ausfallgefährdet gewesen sein.11

Da ist kein globaler Konjunkturfrühling in Sicht, sondern nur Überschuldung und Inflation.12 China wirkt somit aufgrund seiner im In- und Ausland einstürzenden Schuldentürme, als ob es schon vor dem Erringen der Hegemonie im Abstieg befindlich wäre. Hinzu kommt die äußere, ökologische Schranke des Kapitals, da die Volksrepublik im Zuge ihrer staatskapitalistischen Modernisierung zum größten Emittenten von Treibhausgasen Aufsteig, was aufgrund der drohenden Klimakatastrophe einen ähnlichen Entwicklungsweg für weitere Länder des globalen Südens zum reinen ökologischen Irrsinn macht (Und zugleich wäre es schlicht pervers, dem aus den Zentren heraus dem globalen Süden Verzicht zu predigen). Der historische Hegemonialzyklus des kapitalistischen Weltsystems wird somit überlagert von dem sozioökologischen Krisenprozess des Kapitals, er tritt mit ihm in Wechselwirkung und lässt Chinas hegemonialen Aufstieg und Zerfall ineinander übergehen.

Ein Hegemonialsystem, bei dem ja die Stellung des Hegemons toleriert würde, ist aufgrund der sich immer stärker manifestierenden inneren und äußeren Schranken des Kapitals, aufgrund der ökonomischen und ökologischen Doppelkrise nicht mehr realisierbar. Imperialismus in der gegenwärtigen Krisenphase, in der die historische Expansionsbewegung des Kapitals in eine Failed States hinterlassende Kontraktion umgeschlagen ist, läuft auf Abschottung und reinen Ressourcen-Extraktivismus hinaus. Die Abschottung gegenüber den sozioökonomischen Zusammenbruchsgebieten, die keine Rolle mehr spielen als Absatzmärkte, geht mit dem brutalen Kampf der Staaten um die abschmelzenden Rohstoffe und Energieträger einher, die der stotternden Verwertungsmaschine zugeführt werden müssen.13

Hier ist eindeutig eine historische Tendenz zu feststellbar. Das Bestreben zur direkten Kontrolle der Kolonien und Schutzgebiete im 19 Jahrhundert, in der Epoche englischer Hegemonie, ging im 20. Jahrhundert in den informellen Imperialismus über, wie in Washington vermittels Umstürzen und Installierung abhängiger Regimes praktizierte. In der Endphase des kapitalistischen Weltsystems scheint imperialistische Herrschaft auf bloße Aufrechterhaltung infrastruktureller Extraktionswege hinauszulaufen, durch die Ressourcen und Energieträger aus den ökonomischen und ökologischen Zusammenbruchgebieten in die verbliebenen Zentren befördert werden sollen.

Was sich im gegenwärtigen Krisenimperialismus entfaltet,14 ist somit eine Logik des last man standing, bei der die Krisenfolgen auf die Konkurrenz abgewälzt werden. Diese inzwischen bis zum offenen Krieg reichende Machtkämpfe zwischen den Staatssubjekten exekutieren den objektiv voranschreitenden Krisenprozess. Es ist ein geopolitischer Machtkampf auf der untergehenden spätkapitalistischen Titanic, bei dem es faktisch keine Gewinner mehr gibt. Deswegen sind auch alle scheinbaren Allianzen so brüchig, wie es zuletzt an den Absetzbewegungen der EU gegenüber den USA in der Taiwan-Frage offensichtlich wurde.15

Und dennoch ist vor dem Hintergrund der sozioökologischen Krise das Ringen zwischen dem russo-chinesischen Eurasien und dem Ozeanien der Vereinigten Staaten, bei dem Ukraine und Taiwan einen akuten und einen potenziellen Brennpunkt bilden, durchaus auch als ein Kampf zwischen Zukunft und Vergangenheit zu begreifen. Es ist ein Kampf zwischen der untergehenden Ära neoliberalen Kreisverwaltung und dem drohenden Zeitalter offen autoritärer Herrschaft,16 bei der autoritäre Formierung und sozialer Zerfall in Wechselwirkung stehen, wie es geradezu paradigmatisch an der russischen Staatsoligarchie und Mafiaherrschaft sichtbar ist.17 Die Krise treibt die erodierenden spätkapitalistischen Staatsmonster förmlich in die Konfrontation, sodass die Entladung der anwachsenden autodestruktiven Tendenzen des Kapitals in einem Großkrieg durchaus möglich ist.

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https://konicz.substack.com/

1 https://www.n-tv.de/politik/Xi-und-Putin-wollen-gerechtere-Weltordnung-article23996962.html

2 https://www.aljazeera.com/news/2023/3/14/russia-china-creating-world-of-danger-disorder-division-uk

3 https://www.globaltimes.cn/page/202212/1281416.shtml

4 https://www.bloomberg.com/news/articles/2023-04-03/china-s-yuan-replaces-dollar-as-most-traded-currency-in-russia#xj4y7vzkg

5 https://www.globaltimes.cn/page/202303/1288326.shtml

6 https://www.aa.com.tr/en/energy/invesments/pakistan-china-agree-to-trade-in-yuan/22190

7 https://www.aa.com.tr/en/energyterminal/finance/venezuela-opts-to-use-chinese-yuan-for-oil-trade/763

8 https://www.ft.com/content/02d6ab99-ea36-41c4-9ad3-9658bb1894a7

9 https://www.konicz.info/2023/03/19/die-silicon-valley-bank-als-das-schwaechste-glied/

10 https://www.ft.com/content/ccbe2b80-0c3e-4d58-a182-8728b443df9a

11 https://www.konicz.info/2022/10/18/china-mehrfachkrise-statt-hegemonie-2/

12 https://www.ft.com/content/049aef43-4f03-45a1-bf65-749cd44921cc?emailId=af7e811c-648b-4ffa-b140-d7980fc81974&segmentId=22011ee7-896a-8c4c-22a0-7603348b7f22

13 https://www.konicz.info/2021/10/14/ddr-minus-sozialismus/

14 https://www.konicz.info/2022/06/23/was-ist-krisenimperialismus/

15 https://www.nbcnews.com/news/world/macron-europe-china-taiwan-usa-outrage-rcna79090

16 https://www.konicz.info/2022/05/24/eine-neue-krisenqualitaet/

17 https://www.konicz.info/2022/05/25/rackets-und-rockets/

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Oben       —    Former German Chancellor Gerhard Schröder as an oligarch in oil and gas of Russian companies Gazprom and Rosneft.

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Mai 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

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Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Fußball, Frikadellen, Verfassungsschutz: Für Salat gehe ich da nicht hin. In Berlin gibt’s beste Polit-Unterhaltung und die Systemfrikadelle für 5 Euro noch obendrauf. Bei Fortuna Düsseldorf gibt’s freien Eintritt.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Waffen- wie Friedensthema scheinbar erschöpft.

Und was wird diese Woche besser?

Zur Ukraine schauen.

In Berlin ist CDU-Mann Kai Wegner im dritten Anlauf zum Bürgermeister gewählt worden. Wie wird sich die Große Koalition unter seiner Führung schlagen?

Na ja – schlagen, halt. Wegner wurde schneller Bürgermeister als Normalberlinende einen Ausweis bekommen oder heiraten können. Die Wissenschaft redet von Chaostheorie, Berlin bietet Praxis. Die neue Senat – sieben Frauen, vier Männer – versammelt auch die Diversitäten Migranten, Ossis, schwul und sozialdemokratisch. Da ist für jeden was dabei; die CDU kann Großstadt oder die SPD noch spießiger sein als die CDU oder: Wenn sie im Wohnungsmarkt und in der öffentlichen Verwaltung spürbare Verbesserung hinbekommen, haben sie eine Chance. Bisher haben sie einen hohen Unterhaltungswert.

Fast-Food-Ketten werden in Deutschland nach Angaben des Bundesverbandes der Systemgastronomie immer beliebter, 2022 stieg ihr Umsatz auf 28 Milliarden Euro an. Wie schmeckt Ihnen das?

Auf in den Mampf: Die Big- und Burger-Buden haben auf Touch-Screen-Bestellung umgerüstet. So hilft die Kundschaft der Belegschaft, ihre Jobs abzuschaffen. 56 Prozent der Gäste fliehen den gastlichen Ort und speisen woanders; ein Multispreader für Verpackungsmüll. Stichwort „bis zum Erbrechen“: Der Bundesverband kotzte einen stattlichen Strahl, als der Mindestlohn auf 12 € erhöht wurde; neben allerlei rhetorischem Dressing funkelte das Kernargument: das sei ja höher als die ersten drei Tarifgruppen. Eben drum. Es muss einen Grund geben, warum die Systemfrikadelle 5 € kostet, ein Döner in der unsystematischen Gastronomie eher 7 bis 8 €. Ich dagegen koste da nix, die machen auf vegan, gesund, Salat – dafür geh ich da echt nicht hin.

Die AfD-Jugendorganisation Junge Alternative ist laut Verfassungsschutz „gesichert rechtsextremistisch“. Brauchen wir dafür einen Inlandsgeheimdienst?

Für die Einstufung nicht, aber dafür, sie durchzusetzen. Die AfD prozessiert seit zweieinhalb Jahren gegen ihre Ernennung zum „Verdachtsfall“, und wohlweislich wappnet sich der Verfassungsschutz mit einer „umfangreichen Materialsammlung“ gegen die nächste Runde. Immerhin darf er nun deren Finanzen röntgen, Telefone abhören, V-Menschen einschleusen und sich dort bewegen, wo man den Rechtsstaat ungern rumhängen sieht. Die Jahre, in denen das Amt langsam, schludrig oder gar nicht aufpasste, halten sich in Maaßen.

Springer hat Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt verklagt. Dann wurde bekannt, dass Reichelt dem Verleger der Berliner Zeitung, Holger Friedrich, vertrauliche Springer-Dokumente angeboten hatte. Der wiederum informierte Springer über den Vorgang. Wer ist der größte Verlierer in dieser Geschichte?

Die Berliner Zeitung hatte sich zuletzt bei Seymour Hershs Theorie zu Nord Stream, bei Naftali Bennetts Bericht über seine Friedensverhandlungen hervorgetan, auch war sie die Plattform für Antje Vollmers bedrückendes politisches Vermächtnis. Diese risikobereite Redaktion ist der Verlierer, wenn der Verleger leckt. Ein bisschen auch Reichelt, denn der Versuch zeigt, dass die Zeit nicht mehr jeden Schlamm ins ehrwürdige Blatt hievt.

Fortuna Düsseldorf will im Rahmen eines Pilotprojekts freien Eintritt in sein Stadion gewähren und spricht von einer „Revolution im Profifußball“. Werden Sie dann dort mal vorbeischauen?

Quelle         :      TAZ-online           >>>>>      weiterlesen

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Dinkel, Hanf, Lupine

Erstellt von DL-Redaktion am 18. April 2023

Aus der Wunderwelt der Hausmedizin

Für Bettina Jung

Die hochwertigen natürlich gewonnene Rohstoffe wie Dinkel, Hanf und Lupine werden in der Zukunft weiter gefragt werden. Die Menschen sind global bereits im Bezug auf ihre Mittel zum Leben stets bewusster.

Dies ist ein gesellschaftliche Entwicklung welche weltweit weiter anhalten werden wird. Daher wächst das Bedürfnis an dem Dinkel als eine sinnige Alternative zum Weizen. Der Dinkel ist reich an Ballaststoffen. Daher sind Dinkel als Dinkelvollkorn Produkte wie Teigwaren in Form von Spagetti zu kaufen. Durch das wachsende Bedürfnis wird es mehr Anbieter für Dinkel auf der Welt wie in Skandinavien geben.

Der Hanf ist ein vielfältig einsetzbarer Rohstoff. Ob für Nahrung mit einem hohen Anteil an Ballaststoffen oder den guten Omega 3 Fettsäuren, hautfreundliche und stabile Kleidung, Kosmetik für die keine Tiere leiden brauchen, der schonen Medizin ohne den THC Wirkstoff oder für die Industrie wie der Baubranche. Der Hanf ist als Pflanze genügsam und wächst überall. Deshalb ist der Preis für Hanf günstig. Daher ist der Hanf eine wirtschaftliche Grundlage für einen Boom. Stärker als es bisher in den Vereinigten Staaten von Amerika der Fall ist.

Die Lupinen sind in der Natur reichhaltig vorhanden. Sie enthalten ebenfalls viel an Ballaststoffe. So können die günstigen Lupinen in Teigwaren und im Fleisch als Zusatz dass Ausmass an Ballaststoffe erhöhen, dabei gleichzeitig das Mass an Fette in den Produkten reduzieren. Dinkel, Hanf und Lupine stellen eine Chance für die Agrarwirtschaft dar eine erhöhte Menge zur Verfügung zu stellen und daran mehr zu verdienen als mit den bisherigen Produkten wie beispielsweise dem Weizen.

Die Hersteller von Nahrung erkennen den Mehrwert von Dinkel, Hanf und Lupinen. Allergien zu den Rohstoffen sind nicht bekannt. Bewusste Menschen können mittels der Einforderung besserer Rohstoffe zu einem egalitär bezahlbaren Preis in ihren Produkten des Alltages beitragen.

Jimmy Bulanik

Nützlicher Link im Internet:

Fotosynthese Lied

www.youtube.com/watch?v=-pkeyxiqxV0

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Oben     —     A picture of a herbal patch, owned by an individual. The patch is designed in a rectangular pattern (not intermittent). Rectangular intermittent, circular patches as well as elevated patches are also frequently made (not shown here). The width of the patches is about 1 m (this allows easy maintenance). The pathways in between are set to our lawnmower (80 m); however gravel or pure stone would have been better (somewhat more expensive though). Intermittent rectangular patterns also are preferred for even easier maintenance as weeding.

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Perspektiven statt Grenzen

Erstellt von DL-Redaktion am 17. April 2023

Die EU hat die falschen Schlüsse gezogen und verrennt sich in eine migrationspolitische Sackgasse

European Parliament Strasbourg Hemicycle - Diliff.jpg

Was gibt das für ein gepolter, wenn die leeren Köpfe erst ins rollen kommen.

Ein Debattenbeirag von J. Olaf Kleist

Die EU setzt auf den Migrationsdeal mit der Türkei und die Verlagerung des Grenzschutzes. Sinnvoller wäre es, Flüchtenden eine Zukunft zu ermöglichen.

Mit der Ankunft von Millionen Flüchtlingen, die vorwiegend in kleinen Booten über die Ägäis einreisten, brach 2015 das Asylsystem in Europa zusammen. Nur durch zivilgesellschaftliches Engagement gelang die Aufnahme und Integration der Schutzsuchenden. Zugleich ächzten staatliche Institutionen über Jahre unter ihren Aufgaben. Vielfach sollten administrative Tricks und neue Gesetze helfen, den Zugang zu Verfahren und Rechten zu verringern, um so die Belastungen für Verwaltungen zu mindern. Echte Reformen des europäischen Asylsystems, die den Anforderungen eines demokratischen Kontinents der Zuflucht entsprechen würden, blieben weitgehend aus. Stattdessen ging die EU im Frühjahr 2016 einen Flüchtlingsdeal mit der Türkei ein, bei dem es offiziell um ein Rückführungs- und Aufnahmeprogramm ging. Es funktionierte nie.

Zentral für die Umsetzung war die Bekämpfung von irregulärer Migration, die zunächst in der Verantwortung türkischer Sicherheitsbehörden lag. Wie weit der Rückgang von Ankunftszahlen in Griechenland ab 2016 überhaupt dem Übereinkommen geschuldet ist, bleibt umstritten. Politisch gilt es dennoch als Erfolg und als Vorbild für Migrationsabkommen mit anderen Nachbarstaaten der EU. Doch die EU hat die falschen Schlüsse aus der Zusammenarbeit mit der Türkei gezogen und verrennt sich in eine migrationspolitische Sackgasse.

Die bemerkenswerteste, in Europa aber kaum wahrgenommene Leistung ist die Aufnahme und Versorgung von über 3,5 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei. Möglich war dies nur durch ein differenziertes und innovatives humanitäres Programm mit hoher finanzieller Unterstützung durch die EU. Trotz vieler Schwierigkeiten in der Umsetzung hat es Sy­re­r*in­nen Lebens­perspektiven in ihrer Herkunftsregion und oft eine neue Heimat gegeben.

Schutz und Zukunftsperspektiven sind die wichtigsten Faktoren, damit Vertriebene ihre Flucht nicht fortsetzen. Die Migrationsabkommen mit Staaten auf Fluchtrouten nach Europa fördern jedoch kaum das eine noch das andere. Im Gegenteil setzen sie auf Grenzschließungen und die gewaltsame Vermeidung von irregulärer Migration. Die Erfahrungen zeigen, dass das keine gute Idee ist. Die türkische Regierung hat ihre Kontrolle über die gemeinsame Grenze wiederholt als diplomatisches Druckmittel gegen die EU genutzt: es wäre doch schade, würde irreguläre Migration nach Europa wieder einsetzen, raunte man kaum verhohlen in Richtung EU, wenn ganz andere politische Fragen im Raum standen. Andere Staaten haben längst begonnen, diese migrationspolitische Instrumentalisierung zu kopieren.

Zudem hat sich gezeigt, dass irreguläre Migration durch die Verlagerung des Grenzschutzes in die Türkei nicht langfristig gestoppt wurde. Vielmehr wurde eine brutale und teils illegale Abwehr von Schutzsuchenden betrieben: Flüchtende gerieten unter Beschuss, Boote wurden ins Meer zurückgedrängt, menschenrechtlich bedenkliche Lager errichtet. Die vermeintliche Externalisierung eines gewaltsamen Grenzschutzes ist keine Lösung der Grenzfragen und fällt über kurz oder lang auf die EU zurück.

Wer hat die Dummheit dieser Welt, nur in eine Uniform für Mörder gestellt? 

Die alternativ oft geforderte Gewährleistung von sicheren und regulären Wegen für Flüchtlinge ist aber ebenfalls Illusion. Zum einen sind die Kapazitäten solcher dauerhaften Programme relativ gering und zum anderen sehr selektiv. Sie erreichen nur bedingt jene, die sich in die Boote setzen müssen. Keine Frage, Visa für humanitäre, aber auch Arbeits- und Studienzwecke sind eine wichtige Ergänzung zum Asyl, indes beeinflussen sie die irreguläre Migrationsbewegung kaum.

Eine wichtige Ausnahme sind sehr umfangreiche, internationale Aufnahmeprogramme. Europa könnte über ein gut organisiertes Programm relativ einfach etwa 200.000 Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen. Auf fünf Jahre angelegt, wäre dies eine Entlastung für die Türkei und auch ein wichtiges Signal der geteilten Verantwortung. Die Kombination aus Neuansiedlungen und lokaler Integration ist eine Möglichkeit für den überfälligen Wandel der europäischen Flüchtlingspolitik.

Die Zahl irregulärer Ankünfte in Griechenland würde so zunächst stark sinken. Allerdings würde die irreguläre Migration nicht aufhören. Und das ist in Ordnung. Irreguläre Migration ist rechtlich und normativ gerechtfertigt, wenn sie genutzt wird, um Asyl zu beantragen. Dazu muss der Zugang zum Asylverfahren gewährleistet werden. Grenzschutz und Flüchtlingsschutz sind nicht gegensätzlich, sondern sie gehen Hand in Hand. Grenzschutz in der EU sieht zurzeit nur die Bekämpfung von irregulärer Migration vor, anstatt das Recht auf Asyl im Schengener Grenzkodex und im Mandat von Frontex festzuschreiben. Es braucht klare Verfahren, sodass Asyl­be­wer­be­r*in­nen in funktionierende Asylverfahren kommen, auch wenn sie irregulär einreisen.

Quelle         :        TAZ-onine         >>>>>         weiterlesen

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Oben      —       The Hemicycle of the European Parliament in Strasbourg during a plenary session in 2014.

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 17. April 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

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Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Springer, Cannabis und Atomausstieg. – Die Woche endet mit unechten Entschuldigungen – von Springer-Chef Mathias Döpfner und dem Dalai Lama. Und die Ampel weicht ihre Cannabispläne auf.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Macron, von der Leyen, Baerbock, Lula besuchen circa vier verschiedene Chinas.

Und was wird diese Woche besser?

Irgendwas in der Ukraine, hoffentlich, trotzdem.

Am Wochenende wurden die letzten drei deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet, Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder hält das für eine „absolute Fehlentscheidung“. Die polnische Regierung auch, denn die plant derzeit den Einstieg in die Atomenergie. Wird Deutschland diesen Schritt bereuen?

Söder fordert Länderhoheit für den Weiterbetrieb seiner AKWs und betont in seinem Koalitionsvertrag, dass Bayern „kein geeigneter Standort für Endlager“ sei. Der bayerische Löwe frisst gern daheim und kackt dann anderen Leuten auf die Fußmatte. Physikalisch bändigen weder Länder noch Nationen die Risiken; in Tschechien, bald Polen, sehr Frankreich ist Deutschland umstellt. Der deutsche Ausstieg ist Geste, aber immerhin gleich zwei davon: Industrialisierte Nationen können ohne, und demokratische langsam aber doch. Das sind Signale für die Klimapolitik.

Das FBI hat einen jungen US-Soldaten festgenommen, der verdächtigt wird, geheime Dokumente der US-Regierung zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine geleakt zu haben. Ist er der neue Edward Snowden?

Der junge Mann scheint der Zufallstreffer zu sein, den es erwischt, wenn man mit brisanten Daten fahrlässig umgeht. Dafür sind dann alle verantwortlich, die ihn zur Indiskretion befähigten – am wenigsten er.

Die Erkenntnisse über die Gedankenwelt von Springer-Chef Mathias Döpfner haben einen großen Medienwirbel ausgelöst. Haben Sie Ihren SMS-Verkehr mit Kol­le­g*in­nen vorsichtshalber schon mal gelöscht?

Mittwoch erscheint der Roman „Noch wach?“ von Benjamin von Stuckrad-Barre. Keiner weiß, was drinsteht, weswegen Springer vor Wochen schon mal die komplette Bild-Chefredaktion gefeuert hat. Und nun juristische Schritte gegen Vorvorgänger Julian Reichelt ankündigt. Der hatte sich Ende 21 bereits in der Zeit eine Menge kritischer Fragen erspart; Interviewerin und Interviewter hatten zuvor gemeinsame Stationen bei Bild. Die gleiche alte Bekannte liefert nun die Döpfner-Zitate aus dem exklusiven Inner Circle von Bild. Das kann man so lesen: Springer arbeitet an einer Alleintätererzählung über Reichelt; Reichelt hingegen kann einige mit ins Verderben reißen. Wobei der rhetorische Hooligan Reichelt inzwischen weniger zu verlieren hat als der verunglückte Popstar Döpfner. Durchstechereien von privaten Nachrichten bleiben unanständig, bei Ex-Bundespräsident Christian Wulff fanden viele Medien das allerdings okay: „Überragendes öffentliches Interesse“. Das besteht an meinen SMS nicht.

Ein Video zeigt, wie der Dalai Lama einen Jungen auffordert, an seiner Zunge zu lutschen. Nun hat er sich entschuldigt – die Aktion dabei aber mit keinem Wort erwähnt. Sind Non-apologies das neue „Never complain, never explain“?

Quelle     :           TAZ-online      >>>>>         weiterlesen

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Nichts als Märchen

Erstellt von DL-Redaktion am 16. April 2023

Im Koalitionsvertrag kommen sie zwar endlich vor.

Haben die Politiker-innen nicht immer die schönsten Märchen für sich selber geschrieben. Selbst dann wenn sie diese später nicht einmal lesen konnten ?

Von  ;   Verena Niethammer

Doch pflegende Eltern, etwa von Kindern mit Behinderung, sind von der Politik schändlich vernachlässigt. Fakt ist, dass pflegende Familien genauso wie Menschen mit Behinderung stark von Armut bedroht sind.

Es gibt fünf Millionen Menschen mit Pflegebedarf in Deutschland. Blickt man in offizielle Pflegebroschüren, könnte man meinen, dass es sich dabei ausschließlich um ältere Menschen handelt. Doch circa 3 Prozent von ihnen sind minderjährig. Diese Kinder und Jugendlichen werden überwiegend zu Hause gepflegt. Sie leben mit ihren Familien in besonders belasteten, oftmals prekären Verhältnissen. Das ist längst bekannt und durch Studien wie die des Kindernetzwerks aus dem Jahr 2014 belegt. Dennoch werden pflegende Eltern seit Jahrzehnten übergangen. Weder die Familien- noch die Pflegepolitik hat sie auf dem Schirm.

Ein Aha-Moment war die Veröffentlichung des Koalitionsvertrags im November 2021. Im Abschnitt zur häuslichen Pflege wurden tatsächlich Familien von Kindern mit Behinderungen erwähnt. Ein absolutes Novum. Das weckte Hoffnung auf Veränderungen.

In den vergangenen Jahren haben sich immer mehr pflegende Familien vernetzt, auch über ­Social Media. Es gab mehrere erfolgreiche Peti­tio­nen, etwa „Stoppt die Blockade der Krankenkassen“, die sich gegen mutwillige Hürden in der Hilfsmittelversorgung stellt. Hier geht es um Essenzielles wie Rollstühle, Laufhilfen oder Geräte zur Kommunikation. Obwohl diese Hilfsmittel von Fach­ärzt:in­nen verordnet werden, lehnen viele Krankenkassen sie zunächst einmal ab. Dann folgt meist ein langwieriges Widerspruchsverfahren. Das initiierende Eltern- und Ärztepaar Lechleutner sammelte über 55.000 Unterschriften. Ein halbes Jahr später fand sich die Formulierung, dass die Hilfsmittelversorgung ab sofort unbürokratischer gestaltet und digitalisiert werden soll, als ein gesetztes Ziel der Ampel.

Aber das waren offensichtlich leere Versprechungen. Spürbare Konsequenzen gab es bisher keine. Auch das persönliche Budget – eine Geldleistung für Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung, mit der diese As­sis­tent:in­nen und Fachkräfte selbst bezahlen können – sollte fortan leichter gewährt werden. Doch die Antragstellung ist auch heute noch ein unglaublicher Hürdenlauf. Inklusion funktioniert in Deutschland auch 2023 nur mit guter Rechtsschutzversicherung oder dickem Geldbeutel.

Wichtig für pflegende Familien wäre Entlastung in der häuslichen Pflege. Denn diese Care-Arbeit ist ein zehrender Knochenjob nicht nur in stationären Einrichtungen, sondern vor allem zu Hause, wo 99 Prozent der minderjährigen Pflegebedürftigen versorgt werden. Viele Mütter und Väter pflegen und betreuen ihre Kinder rund um die Uhr, die meisten ohne pflegerische Unterstützung. Der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn hatte mit seiner Pflegereform 2021 das Thema angekratzt. Dabei bediente er sich zwar des Begriffs Entlastungsbudget – doch der Inhalt fehlte. Das Konzept war nichts als ein verdecktes Streichkonzert. Der Gesamtbetrag des neuen Budgets war letztlich geringer als die darunter subsumierten Einzelbeträge. Die Verhinderungspflege – also eine kurzzeitige Vertretung der pflegenden ­Person –, die das meistgenutzte Hilfsangebot für pflegende Familien darstellt, sollte reduziert werden. Zugleich sollte die Summe für stationäre Kurzzeitpflege erhöht werden. Deren Nutzung wurde zudem zur Bedingung für die Verhinderungspflege-Leistung. Allerdings bedeutet Kurzzeitpflege die Kürzung des Pflegegelds. Das ist eine verdeckte Refinanzierung auf Kosten der pflegenden Angehörigen. Zudem gibt es viel zu wenig Angebote zur schnell wachsenden Nachfrage. Im U18-Bereich besteht seit Jahren vielerorts extremer Mangel. Wer also keinen Kurzzeitpflegeplatz findet, könnte dann nicht einmal die volle Verhinderungspflege nutzen. Eine Mogelpackung, die einen lauten Aufschrei und eine weitere Unterschriftenaktion zur Folge hatte. Spahn vertagte das Ganze dann einfach – auf unbestimmte Zeit. Die Coronapandemie diente als willkommene Ausrede. Doch die Ampelregierung verspricht nun, mehr Entlastungsstrukturen zu schaffen und einen Ausbau der Kurzzeitpflegeeinrichtungen zu forcieren. Für viele pflegende Familien sind sie eine unverzichtbare Unterstützung, die oft für eigene Gesundheitsfürsorge, etwa lange aufgeschobene OPs, benötigt wird. Doch tatsächlich passiert das Gegenteil: ein Ab- statt eines Ausbaus. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens macht auch vor der Pflege keinen Halt. Zahlreiche Einrichtungen werden geschlossen und Projekte, etwa eine Kurzeitpflege für Minderjährige in Esslingen, abgesagt, da zu teuer. Weitere Angebote schließen wegen neuer Auflagen den Kinderbereich. Pflegende Eltern fühlen sich veräppelt.

Während seit Herbst 2022 Fachkräfte der ambulanten Pflege endlich auch Tariflohn erhalten, wurde das Pflegegeld seit 2017 nicht mehr erhöht. Fakt ist, dass pflegende Familien genauso wie Menschen mit Behinderung stark von Armut bedroht sind – und das nicht erst im Alter, was der Paritätische Teilhabebericht von 2021 belegt.

Was dazu im Koalitionsvertrag steht: Es werde ab 2022 eine Dynamisierung des Pflegegelds erfolgen. Erneut eine hohle Phrase, denn aus der neusten Pflegereform Karl Lauterbachs vom April 2023 ist dieser Passus ebenfalls verschwunden. Die Erhöhung wurde vertagt auf 2024, um magere 5 Prozent soll das Pflegegeld dann angehoben werden. Zahlreiche der überwiegend weiblichen Pflegenden leisten inzwischen auch „Sandwichpflege“, da sie neben ihren Kindern ältere Verwandte versorgen.

Ein kleiner Etappensieg ist, dass das Intensivpflege und Rehabilitationsgesetz (IPReG), das von Spahn ins Leben gerufen wurde, inzwischen nachgebessert wurde. Betroffene und Angehörige hatten sich zusammengetan mit der Konsequenz, dass die überarbeitete Version nun weniger able­istisch ist. Dennoch bleibt das IPReG ein Bürokratiemonster, das allen das Leben unnötig schwer macht. Auch den Ärzt:in­nen und unterbesetzten Stationen wird noch mehr aufgebürdet. Allein zur Ausstellung der neuen Verordnungen der AKI – der ambulanten außerklinischen Intensivpflege – müssen spezialisierte Fach­ärzt:in­nen gefunden werden, die dazu bevollmächtigt sind. Je­de:r Außenstehende müsste sich ausmalen können, was es bedeutet, wenn man neben der Pflege einer derart versorgungsintensiven Person noch wochenlang in Warteschleifen hängt. Wird ambulante Intensivpflege genehmigt, sind die beauftragten Pflegedienste meist unterbesetzt. Sie begleiten das Kind oft nur eine Schicht, auch wenn 24-Stunden-Pflege verordnet ist. Die Familien sind oft auf sich gestellt, lernen nahezu alle medizinischen Handgriffe. Sie überwachen und intervenieren übermüdet, pflegen weit über ihre Reserven hinaus. Eine Tages- und Nachtpflege würde helfen, doch die gibt es nur im Erwachsenenbereich. Von den raren U18-Einrichtungen nehmen die wenigsten Kinder mit Pflegegrad 4 oder 5 auf. Bekommen diese doch einen Platz im Kinderhospiz oder zur Kurzzeit, wird unmittelbar das Pflegegeld gekürzt. Eine unfassbare Frechheit, in keinem anderen Beruf gibt es unbezahlten Urlaub, der sogar noch finanzielle Nachteile mit sich bringt. Die Familien müssen es sich leisten können, Entlastung anzunehmen. Das ist unwürdig und steht in keiner Relation zu dem, was pflegende Eltern tagtäglich leisten – oft lebenslang.

Was pflegende Eltern daher dringend benötigen, ist finanzielle und soziale Absicherung. Das ginge entweder durch eine Entlohnung im Sinne eines Care-Gehalts oder durch eine Anstellung als Assistent des Kindes. Denn genau diese Tätigkeiten, die sonst im Rahmen des persönlichen Budgets der erkrankten Person vergütet werden, leisten Eltern gratis, es gibt höchstens Rentenpunkte. Die Pflegekassen sparen so jeden Monat bares Geld auf Kosten der Eltern.

Quelle     :            TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Technik bei Sea-Watch:

Erstellt von DL-Redaktion am 16. April 2023

Mit Kameras gegen staatliche Repression

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

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Sea-Watch rettet Schiffbrüchige auf dem Mittelmeer. Ihr neuestes Schiff, die Sea-Watch 5, soll noch in diesem Jahr erstmals dorthin auslaufen. Dafür braucht es viel Technik. Wir haben die Verantwortlichen an Bord des Schiffes interviewt.

Die Sea-Watch 5 der gleichnamigen Organisation liegt im Flensburger Hafen. Das über vier Millionen Euro teure Schiff wurde im November 2022 in Hamburg getauft. Derzeit wird es noch von einem ehemaligen Versorgungs- zu einem Rettungsschiff umgebaut. Im Laufe des Jahres soll es erstmals Richtung Mittelmeer auslaufen.

Seit dem Jahr 2015 bergen die Mitarbeiter:innen und Freiwilligen von Sea-Watch Menschen, die auf dem Mittelmeer Seenot erleiden. An Bord nennen sie diese Menschen “Gäste”. Das Mittelmeer ist tödlich: Mehr als 26.000 Menschen sind dort seit dem Jahr 2014 gestorben.

Wir haben Jonas und Phillip, die für Sea-Watch arbeiten, Anfang März in Flensburg besucht. Auf dem Schiff sind die beiden für den Aufbau der IT-Infrastruktur zuständig. Im Gespräch erzählen sie von den widrigen Bedingungen auf See und welche Technik es braucht, um Menschen zu retten und sich selbst vor staatlicher Repression zu schützen.

500 Meter Netzwerkkabel

netzpolitik.org: Jonas und Phillip, was sind Eure Aufgaben auf der Sea-Watch 5?

Jonas: Wir sind dafür zuständig, dass das Schiff mit der Außenwelt kommunizieren kann. Und wir unterstützen die Crew darin, dass sie ihre Arbeit erledigen kann. Neben uns gibt es noch acht weitere Angestellten und Freiwillige an Bord. Bei uns passiert vieles im Ehrenamt.

netzpolitik.org: Welche Computer und Geräte braucht es, damit ein Schiff  Schiff funktioniert?

Jonas: Fast jedes Crewmitglied hat ein eigenes Arbeitsgerät. Das sind meist Laptops. Weil wir unter deutscher Flagge auf dem Mittelmeer unterwegs sind, müssen wir viele Anforderungen der Bürokratie erfüllen – wie etwa die Arbeitszeiterfassung. An zentralen Orten an Bord haben wir noch fest installierte Arbeitsplätze. Das hat den Vorteil, dass wir Rechner sicher befestigen können. Laptops haben die Angewohnheit, bei Seegang öfters mal herunterzufallen.

Neben den Computern gibt es noch weitere Infrastruktur: Wir haben auf dem Schiff etwa 500 Meter Netzwerkkabel verlegt, hauptsächlich für die WLAN-Versorgung und für Kameras. Außerdem sorgen wir dafür, dass manche Daten der Schiffsensorik an das Computernetz weitergeleitet werden, wo sie weiterverwendet werden. Zum Beispiel Daten über unsere Position und unseren Kurs.

Dokumentieren, was passiert

netzpolitik.org: Wofür braucht ihr Kameras an Bord?

Jonas: Wir dokumentieren damit zum Beispiel, was an Bord und rund um das Schiff passiert. Zu diesem Zweck nehmen Kameras rund um das Schiff alles auf. Die Aufnahmen werden dann für bestimmte Zeit gespeichert. Diese Technik anzuschaffen, einzubauen und zu prüfen ist unsere Aufgabe.

Phillip: Die Aufnahmen benötigen wir etwa dann, wenn wir Repression erfahren. Wir stoßen bei unserer Arbeit immer wieder auf die sogenannte libysche Küstenwache. Mit den Kameras können wir nicht verhindern, dass sie uns bedroht. Aber wir können immerhin dokumentieren, wenn sie uns versuchen abzudrängen. Und auch vor der Repression durch europäische Behörden können wir uns so schützen, die meist ein viel größeres Problem darstellt als die libysche Küstenwache. Immer wieder versuchen die Behörden, unsere Arbeit zu kriminalisieren. Dabei machen wir nichts Illegales! Das können wir im Zweifel auch beweisen. Illegal und unerträglich ist vielmehr die Lage an den europäischen Außengrenzen.

Jonas: Auf die Aufnahmen kann nicht jede:r ohne Weiteres zugreifen. Dazu braucht es zunächst das Einverständnis bestimmter Personen. Und natürlich muss man dann sein Interesse begründen. Das ist extrem wichtig, um die Privatsphäre aller Menschen auf dem Schiff zu schützen.

netzpolitik.org: Welche weitere Technik nutzt ihr an Bord der Sea-Watch 5?

Jonas: Wir setzen viel auf Open-Source-Lösungen. Das erleichtert in der Regel auch die Wartung, weil man mehr über die Konsole reparieren kann. Wir betreiben mehrere APU-Boards auf dem Schiff, die mit OpenWRT die Router bilden. APU-Boards sind günstige Kleincomputer und OpenWRT ist ein beliebtes offenes Betriebssystem für Router.

Es gibt verschiedene virtuelle Netzwerken, auf diese Weise trennen wir unterschiedliche Bereiche an Bord voneinander. Das brauchen wir, damit zum Beispiel aus dem Netz, das wir für privaten Datenverkehr nutzen, nicht auf andere Bereiche des Netzwerks zugegriffen werden kann. Und ein VPN soll unter anderem helfen, dass wir nicht überwacht werden und Verbindungen verschlüsselt sind.

Auf dem Deck hat die Sea-Watch-Crew ein Plateau eingebaut, sodass Wasser, das während der Fahrt auf Deck schwappt, einfach abfließen kann. Ein Zelt als Dach für weiteren Schutz der Gäste soll folgen. – CC-BY 4.0 Lennart Mühlenmeier

Schlechtes Netz bei schlechtem Wetter

netzpolitik.org: Schiffe, die auf dem Mittelmeer unterwegs sind, sind auf Satellitenkommunikation angewiesen. Wie gut ist die Verbindung?

Jonas: Wir nutzen für den Uplink Satellitenkommunikation. Der Ping reicht von 800 bis 2000 Millisekunden, das variiert mitunter ganz schön. Da spielt auch das Wetter eine Rolle. Bei Regen oder Gewitter hat man sehr schlechte Netzanbindung – meist nur rund 1 MBit/s.

Phillip: Diese Infrastruktur ist so gut wie immer problematisch: Von den gleichen Knoten könnten beispielsweise Drohnen im Nahen Osten gesteuert werden, und die notwendigen Verträge mit den Providern sind sehr teuer. Sea-Watch überlegt daher, das Produkt für Satellitenkommunikation einer Firma zu kaufen, die einem ziemlich unsympathischen Multimilliardär gehört. Bedauerlicherweise ist dieses Produkt mit Abstand das günstigste auf dem Markt und technisch vergleichsweise fortschrittlich.

Diese Entscheidung ist aber noch nicht endgültig gefallen. Fest steht nur: Wir müssen verantwortungsbewusst mit unseren Geldern umgehen und eine ständige Kommunikation mit dem Schiff gewährleisten.

netzpolitik.org: Gibt es weitere Bereiche, in denen ihr Produkte nutzen müsst, zu denen es ambivalente Meinungen gibt?

Jonas: Wie in der Industrie üblich, sind wir auch auf properitäre Software angewiesen. Diese läuft meist leider nur unter Windows-Versionen. Ein Beispiel ist die Verwaltungssoftware, die jedes Schiff benötigt. Damit werden unter anderem die Laufzeiten von Generatoren und vieles mehr verfolgt. Die Software stellt beispielsweise sicher, dass alle Wartungszyklen eingehalten werden. Das klingt zunächst nicht allzu komplex. Allerdings verknüpfen gute Programme die Lagerbestände an Bord mit den Ersatzteilen, die für die regelmäßige Wartung benötigt werden. Sie können dann Bescheid geben, wenn Lagerbestände knapp werden.

netzpolitik.org: Welche weiteren Hindernisse werden euch aktuell in den Weg gelegt?

Phillip: Vor wenigen Wochen ist ein neues Dekret der italienischen Regierung in Kraft getreten. Seitdem müssen Organisationen wie Sea-Watch, die sich der Seenotrettung verschrieben haben, nach jeder einzelnen Aufnahme von Gästen mit ihren Schiffen wieder einen Hafen anlaufen, den die italienischen Behörden benennen. Nach diesem Dekret wären wir verpflichtet, alle weiteren Seenotfälle, selbst wenn sie in direkter Nähe wären, links liegen zu lassen, bis wir einmal nach Italien und zurück gefahren sind. Stattdessen müssen wir erst die tagelange Prozedur eines Transits unserer Gäste aus der Search-and-Rescue-Zone nach Italien auf uns nehmen.

Die Behörden verfolgen dabei bereits seit längerer Zeit den Ansatz, den sicheren Hafen, den wir ansteuern müssen, möglichst fernab unserer üblichen Schiffsrouten zu wählen. Der liegt dann oft weit im Norden Italiens. Das ist alles Irrsinn.

Kein Kreuzfahrtschiff

netzpolitik.org: Und wenn ihr dann im Hafen angekommen seid?

Jonas: Dann kann das enden wie mit der Sea-Watch 3 und ihrer Kapitätin Carola Rackete. Carola ist aus guten Gründen in den Hafen der Insel Lampedusa eingefahren – obwohl die italienischen Behörden ihr das untersagt hatten. Wir mussten den Notstand ausrufen, weil uns italienische Behörden solange einen Hafen verweigert haben, bis die Zustände an Bord untragbar waren.

netzpolitik.org: Was könnt ihr den Gästen auf euren Schiffen anbieten?

Jonas: Wir können Leute an Bord nehmen und die Erstversorgung übernehmen. Das ist keine Lösung für einen längeren Zeitraum. Die Leute haben meist schlimmste Erfahrungen hinter sich. Sie sind körperlich und geistig ausgelaugt. Unsere Schiffe bieten keinen Komfort und sind daher auch kein Ort, wo sie wieder zu Kräften kommen.

Die Sea-Watch 5 bietet daher vor allem Schutz vor Wasser und Kälte, und wir können Essen und Trinken anbieten. Mitunter gibt es auch Zugang zu Duschen. Aber das ist nur eingeschränkt möglich, weil wir nur begrenzt Wasser aufbereiten und mitführen können. Wir tun, was wir können, um den Menschen ein paar Stunden Sicherheit zu bieten. Aber die Sea-Watch 5 ist kein Kreuzfahrtschiff.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —      Sea-Watch 5 2022 in Hamburg

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Die Sorge um mich …

Erstellt von DL-Redaktion am 16. April 2023

Mein Ende und das Ende der Welt: das radikalisierte Individuum

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Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von Reimer Gronemeyer

Ich muss den Tatsachen ins Gesicht schauen. Ich bin 83 Jahre alt und das Ende ist absehbar. Wahrscheinlich trösten sich alle alten Menschen mit dem Gedanken, dass es ja noch ältere gibt. Ich habe mich viel mit den Themen Altern, Pflege, Demenz befasst.

Und mit einem Mal ist es nicht mehr das Thema der anderen, sondern es könnte über Nacht mein eigenes werden. TikTok, so lese ich gerade, wurde bereits zwei Milliarden Mal heruntergeladen. Eine ganze Sparte widmet sich bei TikTok dem Thema „Pflege“. Da ist die Pflegerin, die ein Video einstellt, in dem sie imitiert, wie sie mit einem Trichter BewohnerInnen das Getränk gewaltsam einflößt. „Manche Pflegende schmieren sich Nutella ins Gesicht und imitieren Stuhlschmieren, weil ‚Demente halt so sind‘. Wieder andere sind mit Inkontinenzmaterial auf dem Kopf zu sehen … “ (https://mypflegephilosophie.com)

Ist das mein Morgen? Verschont mich die Pflegebedürftigkeit? Oder lande ich an einem menschenfreundlichen Pflegeort? Ich habe gerade gelesen, dass 40 Prozent aller Pflegekräfte mit dem Gedanken befasst sind, den Job zu wechseln. Ein Freund, der im Pflegeheim arbeitet, sagt: Im Grunde kann er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Orte dazu da sind, menschlichen Müll zu sammeln. Wenn ich das höre, denke ich, dass es wichtig ist, dass ich mich vorbereite und in Demut, Geduld und Bescheidenheit übe. Das gelingt mir aber nicht. Vielleicht – flüstere ich mir zu – geht es ja auch gut und ich gerate in ein von Wärme und liebevoller Zuwendung erfülltes Hospiz? Ich habe also eigentlich genug mit der Sorge um mich zu tun. Und da soll ich mir auch noch Gedanken über die drohende Klimakatastrophe machen? Über das Anthropozän! Über jenes Zeitalter, in dem ich gelebt habe, soll ich nachdenken, ein Zeitalter, dem gerade die Maske vom Gesicht gerissen wird: Nun sehe ich eine Zeit, meine Lebenszeit, die einen entfesselt-gierigen homo sapiens hervorgebracht hat. Ich sehe einen homo sapiens, der im Begriff ist, den Planeten so zuzurichten, dass menschliches Leben und Leben überhaupt gänzlich verschwinden könnte. Und wie hängen meine absehbare Auslöschung und die vielleicht drohende Gesamtauslöschung zusammen? Drängt sich da der skandalös-tröstliche Gedanke auf: Mit mir geht’s bald nicht weiter, mit den anderen aber bald auch nicht mehr. Herostrat steckte den Tempel der Artemis in Ephesos, der als eines der sieben Weltwunder galt, absichtlich in Brand, um dadurch seinen Namen unsterblich zu machen. Er verquickte individuelles und kollektives Schicksal. Das Anthropozän eröffnet herostratische Möglichkeiten: Verschmelzen gerade mein Ende und das Ende der Welt? Verschwimmen die Grenzen zwischen zwei Apokalypsen? Und ist das nun Größenwahn oder Realismus, ist das Phantasterei oder Analyse?

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat davon gesprochen, dass die moderne Welt über die genealogische Ordnung der Dinge hinausgeschritten ist. Die genealogische Ordnung bestand in der Abfolge von Großeltern, Eltern, Kindern … Individuen verstehen sich heute nicht mehr als Mittlere zwischen Vorfahren und Nachkommen, sondern eben als Individuen: Leben wird dann begriffen als Endverbrauch von Lebenschancen und in diesem Sinne sind Senioren heute – so Sloterdijk – die Prototypen des „letzten Menschen“ (Nietzsche sprach vom „letzten Menschen“). Auch wenn weitere Menschen in späteren Zeiten folgen: Mein Ende ist für das radikale Individuum das Ende der Welt. „Die Industriegesellschaft, der Sozialstaat, die Medienzivilisation – sie sind allesamt Stadien in der Entfaltung einer Verendungsgeschichte, in der jedes menschliche Leben anfängt, mit seiner Bestimmung als Ende in sich selbst Ernst zu machen.“ Sloterdijk bestätigt mir also gerade: Das eigene Ende ist auch das Ende der Welt. Kein Vorher und kein Hinterher. Nichts weist über mich hinaus. Die individualistische Revolution hat uns dahin gebracht, dass „am Ende sein“ heute bedeutet, zum Selbstendverbraucher zu werden. Wenn Sloterdijk recht hat, bin ich als Alter viel eher ein „Epochen-Wahrzeichen“ als die „milchschnittenverzehrende, mit Computern spielende Jugend“. Soll ich mich mit Sloterdijk so sehen? Als ein Epochen-Wahrzeichen? Mir kommt das vor, als würde ich zu einer Mixtur aus Größenwahn und Verzweiflung: Ich bin dann das Ende der Welt – zappelnd in einem Meer von NICHTS. Dieses radikale Individuum ist in der Welt nicht beheimatet, deswegen ist es ihm auch egal, was aus der Welt wird. Ich spüre den Größenwahn in mir und ich spüre zugleich, wie die Verzweiflung anklopft. Aber hat er wirklich recht? Ist das das Geheimnis des Anthropozäns, dass sich in ihm nicht nur der gierige homo sapiens durchsetzt, sondern dass in ihm auch ein vergreistes Individuum triumphiert, das sich als Verkörperung des Endes begreift, dem im Grunde nichts mehr folgen kann als der allgemeine Untergang?

Die Welt als Geliebte? Zum Beispiel Hospizarbeit

Der Sommer 2022 wird wohl als der Wendesommer in Erinnerung bleiben. Glühende Hitze in Südeuropa, Waldbrände in Griechenland und der Türkei und auch weit entfernt – in Sibirien und Kalifornien. Bei uns in Deutschland eine Flutkatastrophe im Südwesten: im Ahrtal viele Tote, zerstörte Häuser, Brücken und Straßen, vernichtete Existenzen. Wer ist nicht von dem Gefühl ergriffen worden, dass die gemütlich-sichere Wohlstandsgesellschaft, in der wir gelebt haben, am Ende ist?

Vor einigen Jahren ließ sich Joanna Macys Prognose noch abtun: Wir werden, so sagte sie, ein weltweites hospizliches Handeln brauchen, weil die Zahl der elendiglich sterbenden Klimaflüchtlinge, die Zahl der Hungernden aus Dürregebieten und überfluteten Regionen alles übertreffen wird, was wir uns vorstellen können. Dieses globale Hospiz schließt aus ihrer Perspektive nicht nur die bedingungslose Betreuung von Menschen ein, sondern ausdrücklich alle anderen Lebewesen. Joanna Macy ist eine 92-jährige Kalifornierin, die sagt, was wir gerade erfahren: dass wir die letzten Jahre eines Wirtschaftswunder-Systems erleben, das enorme zerstörerische Auswirkungen auf den Planeten hat. Der Übergang von einer industriellen Wachstumsgesellschaft zu einer lebensfreundlichen, sorgenden Gesellschaft – wie kann der gelingen? Macy fragt: Ist die Welt ein Schlachtfeld? Ist sie eine Falle? Oder könnte sie eine Geliebte sein? „Ich sehe die Welt als Geliebte und als Teil meiner selbst. (…) Wer die Welt so sieht, macht sie wieder heilig. (…) Wenn künftige Generationen auf den Beginn des 21. Jahrhunderts zurückblicken, werden sie wahrscheinlich von der ‚Zeit des großen Wandels‘ sprechen.“ (https://tiefenoekologie.de/12-politk-des-herzens/9-joanna-macy-die-welt-als-geliebte) Die uralte Joanna Macy widerspricht Sloterdijks These vom apokalyptisch gestimmten „letzten Menschen“. Das radikalisierte Individuum kann die Welt nicht als Geliebte sehen, sondern nur als Ressource zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Mir scheint, dass im Hospiz der Unterschied zwischen dem Menschen, der die Welt liebt, und dem radikalen Individuum, das die Welt als Ressource betrachtet, aufbrechen kann. Und deshalb ist die weitere Entwicklung der Hospizarbeit so wichtig.

Die Hospizbewegung steht heute vor der Frage, ob sie Teil dieses Wandels, von dem Macy spricht, sein will oder eine gut finanzierte Abteilung des Gesundheitsapparates, der schon jetzt vor unseren Augen von seinen Krisen zerfressen wird. Ein neuer hospizlicher Aufbruch ist angesagt. Soll es weiter in die Richtung eines hochprofessionellen, teuren und standardisierten Dienstleistungsprodukts gehen oder kann sich eine Lücke auftun, durch die das Licht einer neuen Hospizbewegung einfällt, die sich auf ihre einfachen, zivilgesellschaftlichen, wärmenden Wurzeln besinnt? Brauchen wir wirklich Sterbeorte „de luxe“? Brauchen wir palastartige Hospize, in der wir als Sterbende mit unserer welken Haut, mit unserer Hinfälligkeit ständig dem ausgeliefert sind, was Günther Anders die „prometheische Scham“ des Menschen genannt hat? Er hat damit den Menschen gemeint, der im Angesicht perfekter Technik sich selbst als unvollkommen und vergänglich wahrzunehmen gezwungen ist.

Wenn wir diesen Wandel nicht baldigst vollziehen, wenn der Abschied von der destruktiven Industriegesellschaft nicht gelingt, kommen finstere Zeiten auf uns zu, das kann heute jeder wissen: für die Alten, für die Schwachen, für die Hilfsbedürftigen, für die Sterbenden. Jetzt, mit und nach Corona, müssen wir über die Alternativen nachdenken und auf diese Alternativen hoffen. Jetzt kann es heißen: die Schwachen zuerst. Sie weisen uns die Richtung. Sie sind das Fieberthermometer, sie sind vielleicht Kassandra und Rettung zugleich. Der Lockdown stellt uns ruhig. Der Lockdown lähmt uns. Der Lockdown ist die Stunde der musischen Schwäche. Nicht die Stunde der Eroberer, sondern die Stunde der Gelassenen, die Stunde des Unterlassens, die Stunde der Stille und der Wehrlosigkeit.