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Archiv für die 'Kultur' Kategorie

KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 5. August 2023

Lobesworte aufs Vaterland gegen Arbeitslosigkeit

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Einst fragte mich jemand in Deutschland: Was ist der Unterschied zwischen einem guten Marketing und einer schlechten Propaganda? Die Fragende bat mich, dies an einem Beispiel aus China zu illustrieren. Kaum konnte ich ihr antworten, antwortete ein Kommentar der KP Chinas am 10. Juli 2023, betitelt: „Eine richtige Anschauung auf die Beschäftigungsfrage tut mehr not als je zuvor.“

Die Kernthese des KP-Organs: Im Moment bedrückt die Massenarbeitslosigkeit – bei Menschen zwischen 16 und 24 Jahren liegt diese bei sage und schreibe 21 Prozent – uns alle in unserem Lande. Angesichts dessen tut es not, dass gerade diese jungen Menschen bei der Jobsuche nicht allein daran denken dürfen, Geld zu verdienen, Familie zu unterstützen und beruflich weiterzukommen. Stattdessen muss man sich, bitte, darum bemühen, dorthin zu gehen, wo das Vaterland einen am meisten braucht.

Ein Marketing-Trick, gar ein wohlklingender: Um die Kernthese zu unterstützen, regnen im Parteiorgan schnulzige Lobesworte aufs Vaterland nur so hernieder: Dort, wo das Vaterland dich brauche, würdest du dein Licht ausstrahlen; dort, wo das Vaterland dich brauche, beginne die Ehre schon damit, da zu sein; ein größeres Bild im Leben sei schon immer das A und O für einen jeden, und welches Bild sei größer als das, in dem einer sich wiederfinde, weil er sein Vaterland beherzige? Usw. usw. War dies gutes Marketing – für das Vaterland? Aus dessen Perspektive immerhin „gut gemeint“.

Aus der Sicht der Adressaten, die die Partei anzusprechen beabsichtigt, ist dies sehr schlechte Propaganda. Denn die Adressaten antworteten prompt, in Social Media, inklusive auf behördlich betriebenen Plattformen. „Was ist dies? Die, die den Job innehaben, in klimatisierten Büroräumen Kommentare schreiben, belehren uns, die nicht einmal die Chance haben, täglich unseren knurrenden Magen zu füllen?“ „Wie wäre es, dass ich bei Euch zu Hause Haushälter werde; ich nehme jeden Job gerne an, etwa für dich deinen Aktenkoffer zu tragen, oder, wie wäre es, deinen Stiefel jederzeit zu putzen?“ Oder: „Die Staatsfirmen für Tabak und Alkohol melden jährlich steigende Verluste. Ich melde mich freiwillig, um dort mein Licht auszustrahlen, Jahr um Jahr, Tag um Tag, bis sie schwarze Zahlen schreiben. Ich schwöre, niemals zu meckern, wenn monatlich ein Gehalt bei mir aufs Konto kommt!“

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Ziemlich zynisch wurde es, als eine längst verstummte Diskussion erneut entzündet wurde, die über einen möglichen Krieg gegen Taiwan – eine Beschäftigungschance, immerhin. „Siehe die Wagner-Gruppe in der Ukraine! Sie kämpft fürs russische Vaterland, für viele Rubel sogar. Ist nur ein bisschen gefährlich!“ Oder: „Schicke erst alle Kids von den hohen Funktionären hin. Wenn die alle gestorben sind, ist es immer noch nicht zu spät für uns, in aller Ruhe zu überlegen.“ Kurz und bündig schrieb einer: „Wer auch immer hingeht, ich nicht. Auch nicht meine Kinder! Nicht für Taiwan, auch sonst für nichts.“

Quelle       :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Trilog-Verhandlungen:

Erstellt von DL-Redaktion am 4. August 2023

Bürgerbeauftragte rügt EU-Parlament wegen verspäteter Transparenz

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Wo die Köpfe auf die Tischplatten  fallen

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von              :       

Das EU-Parlament hat wichtige Dokumente zu langsam an NGOs herausgegeben. Das sei auf Misswirtschaft zurückzuführen, sagt die EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly. Sie empfiehlt künftig proaktive Transparenz über die wichtigen Trilog-Verhandlungen.

Das Europäische Parlament hätte Transparenzanfragen von mehreren Nichtregierungsorganisationen im Jahr 2022 schneller beantworten und wichtige Dokumente früher der Öffentlichkeit zugänglich machen müssen. Zu diesem Schluss kommt die Bürgerbeauftragte der Europäischen Union Emily O’Reilly nach einer Beschwerde der NGOs. Die EU-Ombudsfrau wirft dem EU-Parlament „Misswirtschaft“ vor und fordert es auf, interne und externe Beratungen schnell genug zu vollziehen, damit es gesetzliche Auskunftsfristen einhalten kann.

O’Reillys Untersuchung sei eine „politische Ohrfeige“ für das EU-Parlament, so die Transparenzorganisation LobbyControl. Gemeinsam mit dem Corporate Europe Observatory, FragDenStaat und dem Centre for Research on Multinational Corporations hatte die NGO im Frühjahr 2022 die sogenannten Vier-Spalten-Dokumente aus dem Trilog zum Digital Markets Act angefordert. Mit dieser 2022 verabschiedeten Verordnung will die EU die Macht der großen Digitalkonzerne einschränken. Entsprechend groß war der Lobbyismus-Aufwand, den die Konzerne betrieben haben, um das Gesetz zu verwässern.

Entscheidende Phase der EU-Gesetzgebung

Der Trilog ist eine entscheidende Phase von EU-Gesetzgebungsprozessen. Zunächst legt die Kommission den Gesetzentwurf vor, Rat und Parlament legen eigene Positionen zu einem Thema fest, dann müssen sie im Trilog zu einem Kompromiss finden. Vier-Spalten-Dokumente sind wichtige Instrumente dieser politischen Auseinandersetzung zwischen den drei Institutionen. In den ersten drei Spalten dieser Dokumente sind die Positionen von Kommission, Rat und Parlament festgehalten, in der vierten Spalte der bisherige Kompromiss. Nach jeder Verhandlungsrunde werden die Dokumente aktualisiert.

Den Antrag auf die Dokumente zum Trilog um den Digital Markets Act hatte das Parlament zunächst abgelehnt, dann verzögert bearbeitet und erst nach Abschluss der Verhandlungen final beantwortet. Es gab die Vier-Spalten-Dokumente dann zwar heraus, doch für die Öffentlichkeit war es zu spät, noch Einfluss auf die Verhandlungen zu nehmen.

Die EU-Bürgerbeauftragte kommt in ihrer Untersuchung zu dem Schluss, dass die verspätete Herausgabe an internen Fehlern in den Prozessen des Parlaments lag. Es habe zunächst nicht das richtige Dokument identifiziert, weshalb die Beratungen mit den anderen beteiligten Insitutitonen länger gedauert hätten.

Proaktive Veröffentlichung gefordert

„Der Verzögerungstaktik und den Ausreden des EU-Parlaments erteilt Emily O’Reilly eine klare Absage“, so LobbyControl zur Entscheidung. Das sei ein wichtiges Signal für künftige Anfragen: „Verzögerter Zugang ist verweigerter Zugang.“ Nur wenn wichtige Dokumente zeitnah und während laufender Verhandlungen veröffentlicht würden, könnten Bürger:innen die Entscheidungen der EU im Detail nachvollziehen und so ihre demokratischen Rechte wahrnehmen.

Emily O’Reilly empfiehlt dem EU-Parlament, die Trilog-Dokumente künftig proaktiv zu veröffentlichen. Das würde auch den Aufwand verringern, einzelne Anfragen zu beantworten. Dies hatten auch die Nichtregierungsorganisationen in ihrer Beschwerde gefordert.

Eine entsprechende Petition von LobbyControl haben inzwischen mehr als 15.000 Menschen unterzeichnet. Im Herbst wollen sie die Unterschriften an Parlament, Kommission und Rat übergeben. Bis dahin kann man den Appell für mehr mehr Einblick in die Verhandlungen über Gesetze noch mitzeichnen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —       The Hemicycle of the European Parliament in Strasbourg during a plenary session in 2014.

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Alarmierender Populismus

Erstellt von DL-Redaktion am 3. August 2023

Eine „Alternative für Deutschland mit Substanz“.

Rathaus 2007

Von Minh Schredle

CDU-Chef Friedrich Merz nennt seine Partei eine „Alternative für Deutschland mit Substanz“. In Stuttgart kopieren die Christdemokrat:innen Inszenierungsstrategien von rechtsaußen und wollen jetzt keine Geflüchteten mehr aufnehmen. Obwohl sie wissen, dass die Stadt das gar nicht entscheiden kann.

Im Amtsblatt der Landeshauptstadt frohlockt die AfD, die „Stuttgart Altparteienfront“ habe „in Sachen unbegrenzter Flüchtlingsaufnahme Risse bekommen“. Wie nicht anders zu erwarten, wenn sich rechte Populisten zu Wort melden, enthält ein einzelner Satz eine Menge Unsinn. Angesichts der buchstäblich tödlichen Migrationsabwehr, mit der Europa seine Außengrenzen vor dem Andrang Schutzsuchender bewahrt, braucht es erstens eine Menge Chuzpe, noch immer das Gerücht von unkontrollierter Zuwanderung oder gar „unbegrenzter Flüchtlingsaufnahme“ zu bemühen. Und zweitens setzt es eine beneidenswerte Kreativität voraus, in der Stuttgarter Kommunalpolitik eine „Altparteienfront“ herbeizufantasieren. Eigentlich genügt ein Blick in den Gemeinderat und wie dort eine Diskussion über die angemessene Höhe von Parkgebühren zum ideologisch aufgeheizten Grundsatzkonflikt zwischen Linken und Liberalen, Grünen und Konservativen ausufern kann.

Zutreffend ist allerdings, dass ein bislang humanitärer Konsens seit vergangener Woche nicht mehr gilt. Als sich Stuttgart im April 2020 unter dem Eindruck der desaströsen Bedingungen im Massenlager von Moria zum „Sicheren Hafen“ für Geflüchtete erklärte, war die CDU zwar dagegen und der heutige Bundestagsabgeordnete Maximilian Mörseburg unterstellte im Namen der Fraktion: „Wer die Legalisierung von Flüchtlingswegen über das Mittelmeer fordert, der lässt dabei außer Acht, dass er damit auch das Geschäft der Schlepper betreibt.“ Damals war es für ihn aber zumindest noch „vollkommen selbstverständlich, dass Deutschland weiter Menschen auf der Flucht aufnimmt“. Heute sieht das anders aus. Alexander Kotz, Fraktionsvorsitzender der CDU im Stuttgarter Rathaus, hält die „Belastungsgrenze hinsichtlich der Integrationsmöglichkeiten und der sozialen Infrastruktur in unserer Stadt“ für erreicht. Den Bau neuer Flüchtlingsunterkünfte in Stuttgart lehnt seine Partei daher ab.

Nun gehört das Wissen um die Zuständigkeiten bei der Unterbringung von Geflüchteten zu den Grundkenntnissen kommunalpolitischer Arbeit. Die Stadt Stuttgart hat keinerlei Entscheidungskompetenz darüber, ob und wie viele Geflüchtete sie aufnimmt. Nach einem Vorschlag der Verwaltung sollen an fünf Standorten 950 neue Plätze geschaffen werden. Und CDU-Oberbürgermeister Frank Nopper kommentiert die Forderung der CDU-Fraktion: „Wir sehen keine rechtliche Möglichkeit, dass die Landeshauptstadt Stuttgart die Aufnahme von Flüchtlingen verweigert.“ Die Alternative zum Bau neuer Unterkünfte sei daher „die Belegung von Turn- und Versammlungshallen oder von anderen öffentlichen Einrichtungen – was wir Ihnen nicht empfehlen können“.

In ihrer Pressemitteilung zur „Integrationsgrenze“ schreibt die CDU-Fraktion hingegen: „Für uns ist die Unterbringung nicht nur eine Frage der Quantität, eben gerade nicht nur Raum und Bett, sondern auch der Qualität. Es geht vor allem um das soziale Miteinander und die Integration in unsere Gesellschaft.“ Wie passt das zu einem Abstimmungsverhalten, das auf Notunterkünfte und Massenlager in Turnhallen hinausläuft und damit Schulsport verhindern würde? Eine Anfrage der Redaktion, ob diese Variante wirklich bevorzugt wird, lässt der Fraktionsvorsitzende Kotz unbeantwortet, auf ein Gesprächsangebot reagiert er nicht.

Wahlkampfmanöver statt Sachpolitik

Viel spricht dafür, dass es der CDU mit ihrer Verweigerungshaltung weniger um lösungsorientierte Sachpolitik geht als um ein Wahlkampfmanöver, das auf mangelhafte politische Bildung der Allgemeinbevölkerung setzt. „In der Konkurrenz um die Öffentlichkeit haben Politiker Professionalität in der Platzierung und Inszenierung von Ereignissen wie auch in der Sachinformation entwickelt. Im Verlauf dieser Metamorphose wandelt sich sachbezogene, auf verbindliche Entscheidungen bezogene Politik zunehmend in symbolische Politik“, lautete eine Diagnose aus dem bereits 1995 erschienenen „Bericht zur Lage des Fernsehens“, den Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Auftrag gegeben hatte. Der politische Auftritt verlange zudem „darstellerische Qualitäten, die in keinem notwendigen Zusammenhang zu politischen Leistungen stehen, aber über den politischen Erfolg entscheiden“, während umgekehrt „politische Leistungen [verblassen], sobald das Talent zur Media Performance fehlt“.

Anknüpfend daran schrieb der Politikwissenschaftler Thomas Meyer 2004 in einem Essay: „Die Regeln der medialen Politikdarstellung – unterhaltsam, dramatisierend, personalisiert und mit Drang zum Bild, allesamt der Darstellungskunst des Theaters entlehnt – greifen auf das politische Geschehen selbst über.“ Dabei vollziehe sich ein folgenreicher Rollenwechsel: „Während in der Parteiendemokratie die Medien die Politik beobachten sollen, (…) beobachten in der Mediendemokratie die politischen Akteure das Mediensystem.“ Entscheidend sei dabei die Frage, „ob das, was es dabei zu besichtigen gibt, noch Information über Politik, einen Einblick in ihr tatsächliches Geschehen erlaubt und auf diesem Wege mündige Entscheidungen über sie möglich macht“.

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Zwei Jahrzehnte nach Meyers Ausführungen haben sich die benannten Tendenzen nicht nur verschärft. Mit dem heutigen Stellenwert sozialer Netzwerke haben sich ganz neue Inszenierungsmöglichkeiten ergeben. Nicht nur weil Würdenträger auf Tiktok herumhampeln, um am Puls der Jugend zu bleiben. Sondern insbesondere, weil es inzwischen bedeutend leichter ist, politische (Pseudo-)Inhalte zu verbreiten, ohne dabei auf das Fernsehen oder eine Zeitung angewiesen zu sein.

Die AfD hat sehr früh erkannt, wie sich die Mechanismen der Mediendemokratie ausnutzen lassen – und ihr Wahlvolk scheint sich von der phänomenal schlechten Performance der Partei in den Parlamenten nicht wirklich abschrecken zu lassen. Für die Inszenierung hingegen ist Realität mitunter völlig unerheblich. Diese Strategie, für die der Tatsachenbezug zweitrangig ist, hat für die Stuttgarter CDU offenbar Vorbildcharakter. Als es im November 2022 große Aufregung um Tampon-Spender auf den Herrentoiletten des Stuttgarter Rathauses gab, versuchte die konservative Fraktion einen Beschluss zu skandalisieren, für den sie selbst gestimmt hatte. „Wir machen uns bundesweit zum Gespött“, sorgte sich damals Stadtrat Kotz. Jüngst erließ die Verwaltung unter Oberbürgermeister Nopper eine Allgemeinverfügung gegen Klimakleber, die verbietet, was bereits verboten ist – aber einen entschiedenen Einsatz im Sinne der Autofans vorgaukelt. Und im Fall der Flüchtlingsunterbringung tut die Stuttgarter CDU nun so, als ob sie etwas verweigern könnte, das sie nicht verweigern kann.

Kirchen gegen die CDU

Quelle           :           KONTEXT-Wochenzeitung-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Rathaus 2007

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Schwarze Löcher

Erstellt von DL-Redaktion am 2. August 2023

Es fällt schwer, sich in der neuen Zeit zurechtzufinden.

Ein Schlagloch von Georg Diez

Es gibt kein richtiges Morgen mehr, weil die Gegenwart so viel Aufmerksamkeit verlangt. Die Zeit ist nicht wirklich aus den Fugen, sie ist mehr wie der Regen – sie kehrt wieder, in immer neuen Schüben.

Wie finden wir eine neue Sprache für das Politische? Oder, weitergefasst, eine neue Sprache für das, was wir erleben? Wie drücken wir aus, dass wir Teil sind einer sich rapide und massiv verändernden Welt und Wirklichkeit? Weil die alten Worte diese neue Wirklichkeit nicht richtig erfassen.

Die Regentropfen schlagen hart gegen die Scheibe. Ich spüre die Präsenz meines Sohnes im Zimmer. Auch er schaut aus dem Fenster der Wohnung. Auch er sieht diesen Regensturz, den dritten oder vierten heute schon. Sie kommen in Wellen, die schwarzen Wolken schieben sich über die Stadt. Sie entladen sich heftig. Dann klart der Himmel auf, es scheint vorüber, das Blau tritt durch die Wolken. Bis sich von Neuem die Wolken verdichten, das Grau immer dunkler wird und der Regen wiederkehrt, als Menetekel einer Welt im Klimawandel. Ich spüre seine Angst und Verwunderung, oder vielleicht ist es auch das, was er bei mir sieht und nur spiegelt. Wir sprechen darüber, kurz nur, weil wir schon öfter darüber gesprochen haben; weil ich auch nicht weiß, wie sehr ich ihn überhaupt mit in diese Realität und Reflexionen einbeziehen soll. Er weiß es doch sowieso. Dieser verdammte Regen, sagt er, dieser verdammte Klimawandel. Er ist sieben. Er sagt das, was er fühlt, er sagt das, was er um sich sieht, er sagt das, was von ihm erwartet wird. Ich kann ihm nicht wirklich antworten, die Details verlieren sich, das Endspiel ist überwältigend.

Was bleibt, ist die Erfahrung. Wir stehen zusammen in unserer Ratlosigkeit. Wir warten darauf, dass der Regen vorübergeht. Wir sind verbunden in der Wortlosigkeit. Er hat Erwartungen, an mich, an den Vater. Ich will ihm helfen, diese Welt zu verstehen, aber ich muss erkennen, dass das schwerer und schwerer fällt, weil die Kategorien sich so verschoben haben. Die Zeit, zum Beispiel, sie ist nicht wirklich aus den Fugen, wie es Shakespeare schrieb, sie ist mehr wie der Regen, sie kehrt wieder und wieder, in immer neuen Schüben, leicht verändert, die gleiche Zeit, in unterschiedlichen Wellen.

Wie können wir uns in dieser neuen Zeit, der verschobenen Zeit zurechtfinden? Es gibt dieses Gestern, Heute, Morgen nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in der unschuldig erwartungsoffenen Klarheit. Es gibt auch kein Morgen, weil die Gegenwart so viel Aufmerksamkeit verlangt, weil sie uns festhält und fesselt; und es gibt nur noch das Morgen, das die Gegenwart überragt, als Rätsel, als Drohung, als Frage zumindest, was wird, in einer Entwicklung, die, ja, wie verlaufen wird? Linear, der Anstieg der Temperaturen weltweit? Zyklisch, die Wiederkehr biblisch bekannter Plagen? In Wellen, als Erkennen und Anpassen? Als Teilchen, punktuelle Erfahrung? Niels Bohr hat diesen Widerspruch so benannt, für den „Quanten-Moment“, das Licht als Welle und als Teilchen zugleich. Da ist die Erkenntnis, dass die Physik unserer Welt so ganz anders ist, als wir es in der Schule gelernt haben, als wir es uns seit Jahrhunderten vorgestellt haben: Das ist eine neue Welt, sagt er, gerade sehr eindrucksvoll im Kino zu sehen in dem Film „Oppenheimer“, der seine ganz eigene endzeitliche Aktualität menschlicher Hybris hat. Er sagt es aber auch zu uns: Die Paradoxie ist real, der Widerspruch ist der Schlüssel zum Wesen unserer Zeit.

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Das bedeutet, dass wir die Schwarzen Löcher unserer Gegenwart sehen und anerkennen. Aber was bedeutet es, Schwarze Löcher anzuerkennen, was bedeutet es, das überinformierte Nichtwissen zur Grundlage von Erkenntnis und Entscheidung zu machen? Was bedeutet es für Individuen, in ihrer Psychologie, was bedeutet es für Gesellschaften und die Politik, die dafür zuständig ist, gemeinsame Antworten zu finden?

Wie verändert sich dadurch das Wesen der Politik, die nicht mehr mit dem Versprechen von Lösungen oder Antworten hantiert, sondern den Zweifel in dem Mittelpunkt stellt? Wie kann eine Politik aussehen, die diese Offenheit in sich aufnimmt, verdeutlicht, selbst zum Teil ihres Versprechens macht? Wie kann man Wahlen mit dem Zweifel gewinnen? Und was bedeutet das für Wahlen, die zum Fetisch der Demokratie geworden sind, die ja aber nicht alles sind oder zumindest nur eine historisch kontingente Form der Demokratie?

Was bedeutet es aber für die Sprache selbst, das eigentliche Medium der demokratischen Politik? Wie benennen die Akteure das, was sie tun? Wie benennen aber auch die Bürger*innen, was sie wünschen, fordern, fühlen? Wie lassen sich Emotionen in ein, wenigstens der Theorie nach, rationales Konzept von demokratischer Politik einbauen? Wie ändert sich dieses Konzept dadurch, oder das Konzept von Rationalität? Wie kann, und das ist die Verbindung zum „Quanten-Moment“, die Theorie auf eine Ebene mit der Wirklichkeit gebracht werden, die sich radikal verändert hat?

Quelle        :          TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben      —      The storm rumbles in the distance with the rain on the horizon… The wind is at its peak and spreads its waves on the waves…

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Rote Karte für Ramsauer

Erstellt von DL-Redaktion am 1. August 2023

Keine Toleranz für Volksverhetzung.

Immer wieder diese Verkehrsmonister aus der CSU ? Rampensäue ?

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von DIE LINKE – Lorenz Gösta

Zu den Äußerungen des CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Ramsauer, der Geflüchtete mit Ungeziefer gleichsetzt, meint Lorenz Gösta Beutin, stellvertretender Vorsitzender der Partei DIE LINKE:

Wer Geflüchtete mit Ungeziefer vergleicht, spricht ihnen das Menschsein ab. Ungeziefer wird bekämpft und vernichtet. Wenn Ramsauer Geflüchtete mit „Ungeziefer“ vergleicht, schwingt die Geschichte des Holocaust mit, die Entmenschlichung, die der Vernichtung vorausging. Das ist lupenreine Volksverhetzung. Da spricht kein x-beliebiger Neonazi, sondern Mitglied einer bürgerlichen Partei. Ramsauer muss sein Bundestagsmandat zurückgeben. Sollte er es nicht tun, muss Fraktionschef Merz handeln und den Abgeordneten aus der Fraktion ausschließen.

Wir erleben einen gefährlichen Rechtsruck in der Gesellschaft. Wenn Merz versucht, die Union auf kommunaler Ebene für eine Zusammenarbeit zu öffnen, wenn er die Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl befürwortet, spielt er mit dem Feuer. Wenn Sachsens Ministerpräsident Kretschmer ihm beispringt und gegen das „parteipolitische Kleinklein“ einen „nationalen Konsens“ fordert, spielt er mit den Grundfesten unserer Verfassung, die auf Pluralität und Meinungsfreiheit beruhen. Ein behaupteter „Konsens“ setzt immer voraus, dass Menschen anderer Meinung ausgegrenzt werden.

Der Soziologe Zymunt Bauman hat einmal der Staat als Gärtner bezeichnet. Die extremste Konsequenz könne die Vernichtung dessen sein, was als nicht in die staatliche Ordnung passend erklärt wird. Eine Vorbedingung des Holocaust. Die Äußerung Ramsauers darf nicht ohne Konsequenzen bleiben. Die Radikalisierung der Sprache führt irgendwann zu Taten, zu Angriffen auf Geflüchtete und Brandanschlägen. Ramsauer ist der Brandstifter im Anzug des Biedermanns. Er verdient mit Roter Karte vom Platz gestellt zu werden.

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Oben      —     Peter Ramsauer am 6. Mai 2013 bei der letzten Tunnelbetonage des Tunnels Höhnberg

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Panikredner am Beckenrand

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Juli 2023

Nichts Neues unter der Sommersonne

Von Bodo Mrozek

Gewalt in Freibädern. Konflikte im Schwimmbad und ihre Dramatisierung sind ein elementarer Bestandteil der deutschen Krawallgeschichte.

Liegestühle, die durch die Luft fliegen, Gruppen, die im Laufschritt die Badegäste aufschrecken, Drängeleien, eingeschlagene Fensterscheiben, schließlich Messerstiche. Am Tage nach den Schlägereien dann die dazugehörigen Schlagzeilen: „Schlacht am Badestrand“, „Krieg“ zwischen Jugendgruppen. Szenen, wie sie dieser Tage aus einigen Sommerbädern gemeldet werden, rufen Mahner, Warner und Apokalyptiker auf den Plan. Von einer einzigartigen Qualität der Gewalt, von Anarchie und Sittenverfall ist die Rede: Chaostage an deutschen Kachelbecken.

Doch diese Vorfälle und expressiven Schlagzeilen sind fast 60 Jahre alt. Sie stammen aus Seebädern an der südenglischen Küste. Gruppen von Londoner Jugendlichen hatten – wie schon in den Jahren zuvor – Ausfahrten an die Küste unternommen, wobei es zu Rangeleien zwischen unterschiedlichen subkulturellen Stilen kam.

Aufgeregt berichteten die britischen tabloids über Details der angeblich blutgierigen, bis an die Zähne bewaffneten neuen folk devils. Rocker mit schweren Motorrädern und in schwarzer Lederkluft standen den mit elegant geschwungenen italienischen Motorrollern ausgestatteten und in neueste kontinentale Mode gehüllten modernists, kurz: Mods, gegenüber. Glaubte man einer Schlagzeile des Evening Argus aus dem Mai 1964, so wollten beide Gruppen bei ihren kollektiven Ausflügen nach Brighton, Margate und Clacton on See nicht nur posen, sondern: „Blut, wir wollen Blut.“ Wie neu sind also Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen am Badestrand?

Halbstarke und Eckensteher

Die englischen Vorkommnisse könnte man einer bizarren britischen Folklore zurechnen, die der Historiker Clive Bloom in einem Buch mit dem sprechenden Titel „Violent London“ als eine 2.000 Jahre währende Gewaltgeschichte gezeichnet hat. In Deutschland hingegen, so scheint man heute zu glauben, herrschten Ruhe und Ordnung. Doch der Kriminologe Günther Kaiser zählte allein in den späten Fünfzigern um die 100 Großkrawalle mit jeweils mehr als 50 Beteiligten. Schon 1956 fragte eine Emnid-Jugendstudie auf dem Titel „Wie stark sind die Halbstarken?“ – und verhalf so einem Terminus zu neuen Ehren, der sich auf moraltheologische Schriften um 1910 und noch weiter in die „Eckensteher“-Literatur des Vormärz zurückführen lässt. Heute scheint er unvermittelt wieder aktuell.

Auch die Westberliner Bäder boten damals keine reine Idylle. Der bundesdeutsche Problemfilm „Die Halbstarken“ von 1956 beginnt mit Prügeleien im Schwimmbad, bei denen zwei Bademeister zu Boden gehen. Sein ostdeutsches Pendant „Die Glatzkopfbande“ legte 1963 nach. Eine allzu freie deutsche Jugend provoziert darin im Ostseebad Usedom friedliche Badegäste, rast mit Motorrädern über den Strand, bis schließlich nach dramatischer Verfolgungsjagd über Todesalleen der Volkspolizeileutnant die Handschellen zuschnappen lässt.

Beide Fiktionen waren nicht nur erfunden: „Halbstarken“-Drehbuchautor Will Tremper wollte sein Skript einer Reportage im Milieu echter Berliner Jugendlicher entlehnt haben. Die Glatzköpfe vom Ostseestrand schafften es in Stasi-Akten. Protokolliert wurde dort der Sturm auf eine Polizeiwache, wo eine zahlenmäßig der Polizei weit überlegende Meute einen Gefangenen mit den Rufen befreien wollte: „Cheriff (sic!), gib die Kumpel frei!“ Dieser Ruf aus dem Film erklang laut Volkspolizeikreisamt ein Jahr nach der Uraufführung in Leipzig. Wie neu also sind die Schwimmbadkrawalle unserer Tage?

Das Jahr 2023 hat mindestens drei Sommerlöcher. Eines ist 52 Meter lang und knapp 2 Meter tief. Ein anderes ist 3 Meter tief, das dritte schon 72 Jahre alt. Es handelt sich dabei um die drei Becken des Columbiabads: das Sportbecken, das Sprungbecken sowie das sogenannte Volksbecken. Das wurde schon 1951 mit US-Dollars aus dem Marshall-Plan vom Baumeister Bruno Grimmek ausgehoben, vormals tätig für den Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt, Albert Speer. Bürgermeister Ernst Reuter hatte das Columbia-Bad als erstes Westberliner Freibad eröffnet – stolzes Symbol für eine Stadtplanung, die der Jugend zivilere Vergnügungen bieten wollte als nur Zelt- und Aufmarschplätze.

Sieben Dekaden später sind nicht alle diese blau geflieste Sommerlöcher gefüllt. Die 82-Meter-Rutsche ist gesperrt und der Sprungturm ebenso, seitdem der TÜV in diesem Jahr die Freigabe verweigerte. Auch das gehört zum beklagenswerten Zustand hauptstädtischer Freizeitkultur.

Seit einigen Jahren schon wird die historische Bausubstanz jedoch mit anderen, symbolischen Inhalten gefüllt. Aus dem stolzen Columbia-Bad ist Medien zufolge ein „Problembad“ geworden, in dem Angst und Gewalt herrschen. Auf Wikipedia nimmt die jüngste Krawallgeschichte mehr Raum ein als die Baugeschichte. Akribisch sind dort die „Erstürmung des Sprungturms“ von 2019, die Massenschlägerei von 100 Personen nach einer „Spritzerei mit Wasserpistolen“ vom Juni 2022 und die darauffolgende Errichtung einer mobilen Polizeiwache vermerkt. Und auch die jüngste Schließung nach Arbeitsniederlegung des Personals, das „verbale Attacken, das Spucken und Pöbeln“ beklagt, ist schon online-enzyklopädisch für die digitale Ewigkeit verzeichnet. Ist es also mal wieder so weit? Wie bei den Halbstarken von 1956, der Glatzkopfbande von 1963 oder den Mods -&-­Ro­cker-­Kra­wal­len von 1964 und ihren zahlreichen Nachfolgekonflikten an Schwimmbecken, Seen und Meeresstränden in den darauffolgenden Jahrzehnten? Oder noch viel schlimmer?

CDU-Politiker fordern Schnellgerichte, die Verdächtige aburteilen. Und zielen damit auf eine zur AfD tendierende Wechselwählerschaft

Wenn dieser kleine Lümmelmann erst auf einer Wiese liegt, sieht ihn doch niemand mehr !

Das Schwimmbad ist noch immer ein besonderer Ort, der sich als Symbol eignet. Nicht mehr unbedingt als die soziale Innovation, die es einstmals war, aber noch immer als eine Heterotopie im Foucault’schen Sinne, also als Ort der Abweichung und inverser (Kleider-)Ordnungen. Hier treffen die leicht bekleideten Körper vulnerabler Ruhesuchender auf die trainierten Bodys Pubertierender, die gern mal die Muskeln spielen lassen. Sicherheit ist hier daher erstes Gebot, und die erregten Kommentare der vergangenen Tage beruhen nicht nur auf Übertreibungen. Wenn Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität diskriminiert werden, so ist das ebenso wenig zu tolerieren wie physische Angriffe auf Ordnungskräfte oder Bäderpersonal.

Aber die ausschnitthafte Kolportage von Einzelfällen bietet ein höchst selektives Bild, das umso problematischer ist, wenn aus Gründen der Dramatisierung eine Präzedenzlosigkeit behauptet wird, die schon ein oberflächlicher Blick in die Pressearchive widerlegt. Kaum einer der an den zeitgeschichtlichen Krawallen beteiligten Jugendlichen hatte damals einen „Migrationshintergrund“. Zudem darf, wer von Gewalt durch migrantische Jugend redet, von den rassistischen Übergriffen auf nichtdeutsch gelesene Menschen nicht schweigen, wie sie schon zu DDR-Zeiten gegen damals so genannte Vertragsarbeiter vorkamen und verstärkt nach 1989/90 nicht nur an ostdeutschen Badeseen trauriger Alltag sind.

Reporter mit Sorgenfalte

Qielle        :         TAZ-online           >>>>>           weiterlesen

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Oben     —   Luftaufnahme vom Prinzenbad Kreuzberg in Berlin (Deutschland)

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Juli 2023

Abschied von der taz: – Pass auf dich auf, altes Haus!

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Kolumne von Fatma Aydemir

Vor elf Jahren fing unsere Kolumnistin bei der taz an. Nun verlässt sie die Zeitung – und merkt, wie sehr sie diese geprägt hat.

Es gibt immer diesen befremdlichen Moment bei meinen Lesungen, wenn eine sehr freundliche, grauhaarige Frau mit buntem Halstuch das Mikrofon ergreift, um mich zu fragen: „Gab es jemanden in Ihrem Leben, der sie besonders gefördert hat?“ An sich eine harmlose Frage, vielleicht etwas zu persönlich, aber sie ließe sich durch eine geschickte Antwort ins Poetologische verschieben: die Bücher von Toni Morrison, die Filme von Pedro Almodóvar, die Lieder von Ahmet Kaya haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Eine Klugscheißer-Antwort, eine Nicht-Antwort eigentlich, die Fragende würde sich aber nicht trauen nachzuhaken und stattdessen lächelnd, insgeheim enttäuscht, nicken.

Was die Fragende vermutlich hören wollte: Meine Klassenlehrerin aus der Siebten ermutigte mich, Geschichten zu schreiben! Unsere Nachbarin Gisela hat mich immer zur Bibliothek gefahren! Die Mutter meiner Freundin Lisa gab mir Hermann Hesse zu lesen! In dieser Vorstellung taucht plötzlich irgendeine Deutsche bei mir auf und rettet mich aus der bildungsfernen Unterschicht in die Welt des Schreibens. Ich weiß, es ist unfair der Fragenden pauschal ein solches Interesse zu unterstellen, aber erfahrungsgemäß erwartet das Publikum dann doch immer, dass man auch mal vom guten Deutschen erzählt.

Trotzdem: Die Frage geht mir auf den Zeiger. Vielleicht weil sie offenlegt, wie unwahrscheinlich es ist, dass ausgerechnet ich nun auf dieser Bühne sitze und ich eigentlich die ganze Zeit über versuche, ebendiese Gedanken wegzuschieben.

Das Schlimmste aber: Ich habe keine Antwort auf diese Frage, denn ich hatte wirklich nie eine Gisela. Natürlich hatte ich Freund_innen, die mir zur Seite standen, ich hatte eine Familie, die sich mir nie querstellte, ich hatte hin und wieder eine Lehrerin, die meine Gedanken nicht grundsätzlich falsch fand. Es gab aber tatsächlich sehr lange keinen Ort, an dem ich das Gefühl hatte, mein Blick auf die Welt habe irgendeine Relevanz für andere. Dann kam ich zur taz. Bewusst wird mir dieser Wendepunkt natürlich erst jetzt, wo ich gehe.

Streiten und schweigen

Ich kam zu dieser Zeitung vor elf Jahren als Praktikantin und verstand sofort, dass ich hier mehr lernen würde als an jeder Journalistenschule. Ich habe nie ein Volontariat absolviert, mir hat nie jemand erklärt, wie man Tickermeldungen schreibt oder was eine gute Reportage ausmacht. Aber ich weiß, wie man streitet. Ich kenne die Argumente, die ewigen Fallstricke, die Dilemmas der deutschen Linken. Ich weiß, was sie triggert. Ich habe gelernt, an welchem Punkt sich Streit nicht mehr lohnt und wann ich unbedingt einen Standpunkt beziehen muss, weil mein Schweigen einem Einverständnis gleichkäme. Denn wenn die taz eines besonders gut kann, dann ist das: die eigenen Leute auf die Palme zu bringen.

Über die Jahre stand viel rassistischer und auch queerfeindlicher Müll in dieser Zeitung. Aber die noch lauteren Gegenstimmen ließen nie lange auf sich warten, und ich bin stolz darauf, wenigstens einen Teil dazu beigetragen zu haben. Auch wenn eine Diskursverschiebung in den letzten Jahren dazu geführt hat, dass emanzipatorische Kämpfe nunmehr als antiintellektuelle „Political Correctness“ abgetan werden, bin ich froh, dass die taz diesem Mainstream-Argument nur in Teilen erlegen ist und nicht als Ganzes. An schlechten Tagen nämlich ist die taz eine Zeit ohne Budget, an den besten Tagen, ein linkes Krawallblatt, das sich selbst nicht zu ernst nimmt.

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      — Kreuzberg Friedrichstraße TAZ-Gebäude

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Ganz schön dünne Luft

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Juli 2023

Auch Flugreisen werden Teil des EU-Emissionshandels.

Steht nicht für jede-n Politiker-in eine Maschine zur Verfügung, um aller Welt das dumme einschleimde Grinsen zu zeigen ? 

Von Tim Kemmerling

Doch ausgerechnet die besonders klimaschädlichen Langstreckenflüge sind davon ausgenommen. Wie konnten sich die großen Airlines damit durchsetzen? Am Vorabend der Abstimmung im EU-Parlament gab es ein „closed-door dinner event“ der Lobby-Organisation Aviation For Europe mit Abgeordneten.

Michael O’Leary, der Chef von Ryanair, bekommt nicht oft die Möglichkeit, sich als Klassenkämpfer und Klimaschützer zu inszenieren. Im Dezember 2022 nutzte er sie und veröffentlichte sein Statement auf der firmeneigenen Website: „Ein weiteres Mal lässt Ursula von der Leyen Europas Bürger und die Umwelt im Stich“. Damit hatte er nicht unbedingt Unrecht. Kurz zuvor hatte die EU-Kommission die neuen Luftfahrt-Klimaschutzregeln verabschiedet, auf die sich EU-Rat und -Parlament schon einige Monate zuvor geeinigt hatten. Diese betreffen vor allem den Emissionshandel. Doch die neuen Regeln gelten nur für Flüge innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR), also den Ländern der EU plus Liechtenstein, Norwegen und Island, sowie für Flüge aus dem EWR in die Schweiz und nach Großbritannien. Was auch O’Learys plötzliches Umweltbewusstsein erklärt, denn das ist im Wesentlichen der Markt, auf dem Ryan­air agiert. Alle anderen Flüge von den in der EU ansässigen Airlines sind hingegen von den Regeln ausgenommen. Das betrifft also sämtliche Interkontinentalflüge und damit eben auch alle Langstreckenflüge, die je nach Definiton ab einer Distanz von 3.000 Kilometern beginnen.

Doppelt schädlich für das Klima

Die seien jedoch deutlich schädlicher für die Umwelt als Kurzstreckenflüge, sagt Thomas Peter, emeritierter Professor der ETH Zürich und einer der weltweit führenden Experten zur Physik der Atmosphäre. Nicht nur wegen des Kohlenstoffdioxids, sondern auch wegen der am Himmel entstehenden Kondensstreifen. „Wie eine Plane“, sagt Peter, wirken diese in den höheren Schichten der Atmosphäre. Sie verhindern, dass Wärmestrahlung die Atmosphäre verlassen kann. Laut Peter sind diese sogenannten Non-CO2-Effekte des Flugverkehrs sogar noch schädlicher für die Atmosphäre als der CO2-Ausstoß selbst. Langstreckenflüge sollten deshalb „erheblich teurer werden, anstatt sie billiger zu machen“, sagt Peter. Dass ausgerechnet sie von den neuen Klimaschutzregeln ausgenommen sind, kann er nicht nachvollziehen: „Da wird die Rechnung gemacht, ohne auf zukünftige Generationen Rücksicht zu nehmen.“

Um die Tragweite des Ausklammerns von Interkontinental- und Langstreckenflügen zu begreifen, lohnt sich ein Blick auf eine Statistik der Europäischen Organisation zur Sicherung der Luftfahrt, der 41 europäische Staaten angehören. Von deren Flughäfen waren im Jahr 2020 nur 6,2 Prozent der Abflüge Flüge mit mehr als 4.000 Kilometern Distanz – doch diese waren für 51,9 Prozent der Emissionen verantwortlich. Weitere 19,2 Prozent der Flüge hatten eine Distanz von 1.500 bis 4.000 Kilometern, was in Europa in den allermeisten Fällen bedeutet, dass man den Kontinent verlässt. Auf sie entfielen weitere 23,2 Prozent des Kerosinverbrauchs. Auch wenn die Zahlen nicht mit dem EWR-Raum deckungsgleich sind, wird klar: Ein bedeutender Anteil des Kerosinverbrauchs bleibt vorerst ausgenommen vom EU-Emissionshandel-System (EHS), dessen verstärkte Version im kommenden Jahr in Kraft tritt. Airlines dürfen dann schrittweise weniger und ab 2026 gar kein CO2 mehr gratis emittieren. Die Fluggesellschaften müssen stattdessen Rechte für den CO2-Ausstoß ersteigern. Die EU will so den Ausstoß von Treibhausgasen auch im Flugverkehr verringern, denn die Menge an Emissionsrechten ist begrenzt, und so steigt auf Dauer der Preis dieser Rechte. Den Fluggesellschaften soll das Anreiz sein, in CO2-ärmere Technologien zu investieren, weil sie so Geld sparen können. Und die Kunden sollen weniger fliegen, weil die Tickets teurer werden. Das ist die Idee.

Das EHS bringe „unser Ziel, die verkehrsbedingten Emissionen bis 2050 um 90 Prozent zu senken, in greifbare Nähe“, behauptet entsprechend Tschechiens Umweltminister Marian Jurečka. Der Emissionshandel sei das „Herzstück der Klimapolitik“, sagte kürzlich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Der CO2-Ausstoß muss einen Preis haben. Die Natur kann ihn nicht mehr zahlen.“

Und doch hat die EU Langstreckenflüge und Privatjets von der neuen EU-Klimaschutzauflage ausgenommen. Für die Umwelt-NGO Robin Wood ist das „eine Folge der Lobbyarbeit der Industrie“. Denn die habe für die Ausnahmen gesorgt – allen voran die Lufthansa und der von ihr dominierte Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL).

Kurz nachdem die EU im Juni 2021 ihr ambitioniertes Klimaschutzpaket „Fit for 55“ vorlegte, erklärte der BDL, die Vorschläge für den Emissionshandel gehörten „zurückgewiesen“, jene für die Beimischung sauberer, klimafreundlicher Kraftstoffe müssten „vermieden“ werden. Ansonsten drohe „Wettbewerbsverzerrung“: Airlines von außerhalb der EU könnten die Langstreckenflüge billiger anbieten, der CO2-Ausstoß werde nicht reduziert, sondern nur verschoben. Ein Jahr später hatten die Airlines sich mit dieser Linie durchgesetzt.

Während sich Fluggesellschaften wie die Lufthansa öffentlichkeitswirksam zur Klimaneutralität verpflichtet haben, lobbyieren sie also auf politischer Ebene gegen Maßnahmen wie den Emissionshandel. Dafür schicken sie Dachverbände wie den BDL oder die International Air Transport Association (IATA) vor. Bewaffnet mit Positionspapieren, voll mit ökonomischen Argumenten warnen die Verbände die EU-Kommission und das Parlament vor Wettbewerbsverzerrung und Marktungleichgewichten. Es ist eine klassisch liberale Argumentation, wenn es um Klimaschutz durch Marktregulierung geht. Um progressiver zu klingen, ist dann die Rede von einer bloßen Verschiebung der Emissionen – genannt „Carbon Leakage“. Wer so argumentiert, kommt als Klimaschützer daher – und bläst weiter nach Kräften CO2 in die Luft.

Die Lösung der Luftverkehrsindustrie für den CO2-Ausstoß auf Langstreckenflügen lautet indes: CORSIA. Das steht für Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation und ist ein CO2-Kompensationssystem, das von der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO aufgezogen wurde. Demnach sollen Fluggesellschaften ab 2024 freiwillig ihren CO2-Ausstoß auf maximal 85 Prozent des Basisjahres 2019 begrenzen.

Selbstverpflichtung oder Greenwashing?

CORSIA verlangt von den Airlines, den Ausstoß an Treibhausgas zu reduzieren – oder diesen auszugleichen, indem sie Klimaschutzprojekte finanzieren. Verpflichtend wird es erst ab 2027. Dass sich Firmen von ihren Emissionen freikaufen können, sehen jedoch nicht nur Klimaschützer kritisch. Selbst der Chef von United Airlines, Scott Kirby, bezeichnete das System als „Greenwashing“ – Etikettenschwindel.

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CORSIA ist zu schwach, um Fliegen klimaneutral zu machen. Es gibt kein CO2-Limit vor, ist nicht verpflichtend, große Luftverkehrsmärkte wie Russland, China und Brasilien sind nicht dabei. So werden laut einer Studie von T&E, dem europäischen Dachverband von NGOs, die sich für nachhaltigen Verkehr einsetzen, nur rund 35 Prozent der weltweiten, durch Luftverkehr entstehenden Emissionen durch das CORSIA-System abgedeckt werden.

Eine EU-eigene Studie von 2022 kommt zu dem Schluss, dass CORSIA „die direkten Klimaauswirkungen des Luftverkehrs nicht wesentlich verändern wird“. Es gebe „keine ausreichenden Anreize“ für die Airlines, „ihre Emissionen wesentlich zu reduzieren.“ Die EU hielt die Studie monatelang zurück – und ignorierte sie am Ende.

Denn für die Luftverkehrswirtschaft hat die europäische Politik ein offenes Ohr. Eine Studie der Londoner NGO InfluenceMap ergab, dass EU-Politiker*innen bis zum Entscheidungszeitraum des EU-Parlaments über das EHS im Juni 2022 43-mal Ve­tre­te­r*in­nen der Luftfahrtindustrie empfingen. Umweltverbände hingegen genießen so einen einfachen Zugang zur Politik nicht.

Und die Lobbyisten leisteten in Brüssel ganze Arbeit. So kam es am 6. Juni 2022 zu einem „closed-door dinner event“ mit EU-Parlamentariern und der Lobbyorganisation Aviation For Europe, die in Brüssel sitzt und der auch Lufthansa und KLM angehören. Direkt am nächsten Tag stand im EU-Parlament die Abstimmung zum Emissionshandelssystem für die Luftfahrt an, bei dem eine Ausweitung der Klimaschutzmaßnahmen keine Mehrheit fand.

Quelle       :           TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben     —       A C-130 spraying Mosquitoes at Grand Forks AFB, ND. Conspiracy theorists use photos like this to support the idea that the government is secretly poisoning the populace with chemicals being sprayed from aircraft.

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Das Geld teilt die Welt

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Juli 2023

US-Milliarden verhelfen Israel in Richtung Gottesstaat

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Verraten und Verkauft von der ISA ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs P. Gasche /   

Regierung hebelt die Justiz aus – Siedlungspolitik verhindert Zweistaatenlösung. Zaghaft regt sich jetzt Widerstand gegen US-Hilfe.

«Ist es tatsächlich im Interesse der USA, Israel jedes Jahr die enorme Summe von 3,8 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern zu zahlen?» Das fragt «New York-Times»-Kolumnist Nicholas Kristof in einem Leitartikel vom 25. Juli.

Das Thema sei in den USA bisher weitgehend tabu. Es gehe ihm auch nicht um ein abruptes Ende der US-Hilfe, sondern um ein «langsames Auslaufenlassen». Denn Israels Sicherheit dürfe keinesfalls gefährdet werden, schreibt Kristof.

Seine Argumente:

  • «Wir sollten Premierminister Benjamin Netanyahu härter anfassen, weil er jede Aussicht auf eine Zweistaatenlösung zerstört, und weil er – in den Worten des früheren Premierministers Ehud Barak – ‹entschlossen ist, Israel zu einer korrupten und rassistischen Diktatur zu degradieren, welche die Gesellschaft zersetzen wird›.»
  • «Heute ist Israel pro Kopf reicher als Japan und einige europäische Länder.»
  • «Es besteht keine Gefahr mehr, dass Nachbarn in Israel einmarschieren […] Israel exportierte letztes Jahr fast ein Viertel aller Waffen in arabische Staaten.»

In einem offenen Brief an Präsident Joe Biden meint am 26. Juli Thomas L. Friedmann, ein anderer «New York Times»-Kolumnist, mit der Entmachtung des Obersten Gerichts wolle Netanyahu ein Hindernis wegräumen für die vollständige Annexion des Westjordanlandes: «Ein solcher Schritt kann Jordanien destabilisieren, weil noch mehr Palästinenser dorthin auswandern oder flüchten werden. Jordanien ist aber für die USA der wichtigste Pufferstaat der Region.»

Mit den Forderung nicht allein

Nicholas Kristof zitiert den früheren israelischen Justizminister Yossi Beilin: «Israel solle auf die US-Hilfe verzichten.»

Der frühere US-Botschafter in Israel, Daniel Kurtzer, habe erklärt:

«Israels Wirtschaft ist stark genug. Sie hat keine Hilfe mehr nötig. […] Die Hilfe verschafft den USA keinen Einfluss auf die Art und Weise, wie Israel Gewalt anwendet. Weil wir Israels Politik, die wir ablehnen, stillschweigend zusehen, werden wir als ‹Ermöglicher› der israelischen Besatzung angesehen […] Die US-Hilfe erlaubt es Israel, mehr Geld für politische Massnahmen auszugeben, die wir ablehnen, wie beispielsweise für Siedlungen.»

Auch Martin Indyk, der zweimal US-Botschafter in Israel war, habe sich für neue Sicherheitsabkommen ausgesprochen. Es sei an der Zeit, über die Beendigung der Hilfe zu diskutieren.

Zu einflussreicher militärisch-industrieller Komplex

Doch diese Stimmen werden sich in absehbarer Zeit kaum durchsetzen. Denn die grossen Profiteure der US-Hilfe sind die amerikanischen Rüstungskonzerne. Laut Kristof handelt es sich bei den 3,8 Milliarden Dollar «fast nur um Militärhilfe mit der Auflage, damit ausschliesslich amerikanische Waffen zu kaufen».

Es handle sich also um Hintertür-Subventionen an die US-Rüstungsindustrie. Aus diesem Grund sei Israel zuversichtlich, dass die Hilfe weiterlaufe. Tatsächlich verfügt der militärisch-industrielle Komplex im US-Kongress über einen grossen Einfluss. Vor zwei Jahren unterschrieben 325 der 425 Mitglieder des Repräsentantenhauses eine Erklärung, in der sie sich gegen eine Reduktion der US-Militärhilfe an Israel aussprachen.

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Oben      —      Bill ClintonJitzchak Rabin und Jassir Arafat im Weißen Haus am 13. September 1993

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Die Krankenhausreform

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Juli 2023

Zweiter Akt – Im Gesundheitswesen wird alles besser.

Rhön-Klinikum AG

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Suitbert Cechura  – Hauptsache – wie gehabt –, es ist kostengünstig!

Nach der Vorstellung des Reformvorhabens durch den Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) haben sich Bund und Länder nun auf die Grundsätze der Krankenhausreform geeinigt. Eine Einigung war deshalb notwendig, weil der Bund durch seine Gesetzgebung die laufende Finanzierung der Krankenhäuser regelt, während die Länder für die Krankenhausplanung und die Investitionen zuständig sind.

Begleitet wird die neue Reform – die eine schier endlose Reihe früherer Eingriffe fortsetzt (siehe dazu etwa „Lauterbachs ‚Revolution‘“, Junge Welt, 28.12.2022) – durch Legenden, die von den Politikern in die Welt gesetzt wurden und von den Medien meist kritiklos nachgeplappert werden.

Die Einigung

Nach mehreren Sitzungen haben sich die Bundesländer und das Bundesgesundheitsministerium auf folgende Zielsetzung verständigt:

„Mit der Krankenhausreform werden drei zentrale Ziele verfolgt: Gewährleistung von Versorgungssicherheit (Daseinsvorsorge), Sicherung und Steigerung der Behandlungsqualität sowie Entbürokratisierung.“ (Eckpunktepapier – Krankenhausreform, www.bundesgesundheitsministerium.de, 10.7.2023)

Bekundet wird mit diesen Zielen, dass es weiterhin eine flächendeckende Krankenhausversorgung geben soll. Dabei ist mit der Reform bereits klargestellt, dass dies nicht mehr in der bisherigen Form stattfinden wird. Dass alle Parteien weiter an einer Krankenhausversorgung interessiert sind, ist dabei nicht überraschend; die Bürger werden ja in ihren verschiedenen Funktionen gebraucht, vor allem für das Funktionieren des Staates und für die Produktion des wirtschaftlichen Reichtums, um den es ihm geht. Und das erfordert einen permanenten Aufwand.

Schließlich sind die Bürger durch ihren Einsatz für das Wirtschaftswachstum und die damit verbundenen Belastungen von Umwelt und Natur einer ständigen Gesundheitsschädigung ausgesetzt. Die schlägt sich in den verschiedenen Leiden nieder, die interessanter Weise mit dem Etikett „Zivilisationskrankheiten“ versehen werden, also in Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs, Gelenk- und Rückenleiden, Asthma und Allergien usw. (vgl. dazu S. Cechura, „Unsere Gesellschaft macht krank – Die Leiden der Zivilisation und das Geschäft mit der Gesundheit“, Tectum Verlag, 2018).

Angesichts dieser Lage wird ein entsprechendes Reparatursystem benötigt, in dem das Krankenhaus einen wesentlichen Bestandteil darstellt. Und wenn jetzt eine Steigerung der Behandlungsqualität angestrebt wird, zeigt sich darin eine parteiübergreifende Unzufriedenheit in doppelter Hinsicht: Zum einen bedarf es besserer Behandlungsmethoden, weil die neuen Volkskrankheiten nicht heilbar sind und es darum geht, die stattfindenden Schädigungen aushaltbar zu machen oder einzugrenzen.

Zum andern bezieht sich die Unzufriedenheit mit der Qualität aber vor allem auf die ständig steigenden Kosten, die eine Folge der jetzigen Krankenhausorganisation sind. Denn aus wirtschaftlichen Gründen werden Behandlungen auch dann durchgeführt, wenn sie medizinisch gesehen gar nicht zwingend sind.

Die Kritik richtet sich aber nicht darauf, dass die Krankenhäuser als Wirtschaftsunternehmen kalkulieren und deshalb versuchen (müssen), aus den Behandlungen einen Gewinn zu erzielen. Das ist politisch gewollt und genau so eingerichtet. Die Kritik an den Kosten gibt es deshalb, weil sich die Gesundheitswirtschaft überwiegend aus Beiträgen der (gesetzlichen) Krankenversicherung finanziert.

Und diese Beiträge sind bekanntlich Bestandteil der Lohnkosten, sie werden als Arbeitgeber- wie als Arbeitnehmeranteil bei den Kosten des „Faktor Arbeit“ verbucht. Weil sie so die Gewinnkalkulation der gesamten Wirtschaft belasten, sind sie immer zu senken. Festgemacht wird diese Kritik an den Fallpauschalen.

Fallpauschalen und Vorhaltepauschalen

Die Fallpauschalen wurden durch die rot-grüne Regierung unter Mitwirkung des damaligen gesundheitspolitischen Sprechers der SPD-Fraktion, Karl Lauterbach, eingeführt, um die Liegezeiten in den Krankenhäusern zu verringern, die Krankenhauskosten zu reduzieren und die Kliniken zu zwingen, sich zusammenzuschließen oder aufzugeben.

So gesehen ist die damalige Intention der Gesundheitspolitiker voll aufgegangen. Viele Kliniken sind verschwunden, die Liegezeiten sind verkürzt, die Kosten vor allem beim Personal wurden so drastisch gesenkt, dass ein Personalnotstand eingetreten ist, der jetzt als Personalmangel beklagt wird.

Ökonomische Konzentration schreitet fort. Katholische wir evangelische Krankenhäuser haben sich z.B. zu Klinikketten zusammengeschlossen und unterscheiden sich in nichts von privaten. Zufriedenheit hat sich damit bei den Gesundheitspolitikern nicht eingestellt, sie bemängeln immer noch ein Zuviel an Krankenhäusern und an Kosten für die Gesundheit der Bürger. Schuld daran sollen jetzt die Fallpauschalen sein, die sich angeblich beseitigt gehören:

„Wir lösen das System der Fallpauschalen ab, durch ein System der Vorhaltepauschalen.“ (www.bundesgesundheitsministerium.de, Meldung „Krankenhausreform“)

Die Fallpauschalen verschwinden aber in dem Eckpunkte-Papier keineswegs, sie werden nur verändert. Insofern verbreiten viele Medien eine Legende, wenn von deren Ende die Rede ist. Aus den bisherigen Fallpauschalen werden die Kosten für bestimmte Behandlungen herausgerechnet und als „Vorhaltepauschalen“ den Krankenhäusern überwiesen.

Diese neuen Pauschalen werden an Leistungsgruppen für bestimmte Krankheiten geknüpft, für deren Behandlung die Krankenhäuser Vorleistungen erbringen müssen, und zwar in personeller Hinsicht wie bei der Geräteausstattung. Die Krankenhäuser müssen sich daher für die Zulassung zu diesen Leistungsgruppen im Rahmen der Krankenhausplanung der Länder bewerben und erhalten erst bei Aufnahme in den Krankenhausplan die entsprechenden Pauschalen.

Geknüpft ist das Ganze an die Bedingung, dass das Krankenhaus auch eine entsprechende Anzahl von Patienten mit dem Krankheitsbild, für das die Leistungsgruppe geschaffen wurde, medizinisch versorgt. Die Vorhaltepauschalen decken aber nur einen Teil der Kosten ab, die in den Krankenhäusern für die Behandlung dieser Patienten anfallen; und neben den Vorhaltepauschalen gibt es weiterhin die um die Vorhaltekosten reduzierten Fallpauschalen. Womit deutlich wird, worin die zweite Legende besteht:

Nicht die Ökonomie, sondern die Patienten müssen wieder im Mittelpunkt stehen“ (Karl Lauterbach)

Behauptet wird, mit der Krankenhausreform stünde wieder der Mensch im Mittelpunkt, weil den Krankenhäusern der ökonomische Druck durch die Änderung des Finanzierungssystems genommen werde. Eine seltsame Auskunft! Dass es bei einem Krankenhaus immer um die Patienten geht und deren Behandlung, müsste doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.

Dabei kommt es natürlich sehr darauf an, wie sich die Behandlung gestaltet. Und das ist weitgehend von deren Finanzierung abhängig. Der ökonomische Druck soll ja weiterhin seine Wirkung zeigen, schließlich müssen die Kliniken beweisen, dass sie über eine entsprechende Ausstattung verfügen, um für eine Leistungsgruppe in den Krankenhausplan aufgenommen zu werden; und die Kosten rechnen sich erst bei einer entsprechenden Fallzahl. So erwarten Fachleute bereits eine erhebliche Zahl an Klinikschließungen:

„Die Klinikbranche befürwortet grundsätzlich die Ziele der Krankenhausreform von Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Im Zuge dessen dürfte rund ein Fünftel der Kliniken geschlossen werden, sagte der Chef der Krankenhausgesellschaft, Gaß.“ (https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/klinikschliessungen-100.html, 19.6.2023)

Dass weniger Kliniken für eine bessere Krankenhausversorgung stehen, ist eine weitere Legende. Durch die Einführung von Leistungsgruppen für bestimmte Krankheiten, deren Behandlung von den Krankenhäusern in Zukunft die Einhaltung von Qualitätskriterien hinsichtlich personeller und sachlicher Ausstattung verlangt, versprechen die Gesundheitspolitiker den Bürgern eine bessere Behandlung. Und die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung hat in ihrer „Fünften Stellungnahme“ auch gleich hochgerechnet, wie viele Lebensjahre durch diese Spezialisierung gewonnen werden könnten.

Ziel der Einführung der verschiedenen Leistungsgruppen ist es, dass es weniger und spezialisierte Krankenhäuser gibt, die dann eine Vielzahl von Patienten behandeln. Dass eine Behandlung durch einen Spezialisten von Vorteil sein kann, ist sicherlich unumstritten. Um sich an einen Spezialisten zu wenden, braucht es aber zunächst einmal eine Diagnose und einen Arzt, der weiß, wo dieser Spezialist zu finden ist.

Wenn also die Regierungskommissare ausrechnen, welch einen Vorteil die Patienten in Zukunft haben würden, wenn sie alle gleich beim Spezialisten landeten, dann blenden sie genau die entscheidende Frage aus: Wie kommt es, dass die einen passgenau ihren Spezialisten finden, während die anderen im Allgemeinkrankenhaus behandelt werden.

Hinzu kommt, dass die Qualität eines Krankenhauses in der Diskussion um die Qualität der Behandlung an der Anzahl der behandelten Fälle festgemacht wird. Dabei muss nicht jeder Arzt im Krankenhaus gleich gut sein, und eine Behandlung wie am Fließband – im Krankenhaus ist die Rede von „Behandlungspfaden“ – trägt auch nicht unbedingt zur Steigerung der Behandlungsqualität bei.

Außerdem ist zu berücksichtigen, dass viele Patienten, vor allem ältere, nicht einfach an einer Krankheit leiden, sondern an mehreren, was sich auf die Behandlung auswirkt. Nicht umsonst gibt es bereits eine Diskussion in den Krankenhäusern über den Umgang mit Behandlungsfehlern.

Wenn es dann heißt:

„Es gilt, auch vor dem Hintergrund der Entwicklung der medizinischen und pflegerischen Fachkräftesituation in Deutschland eine qualitativ hochwertige, flächendeckende und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung sicherzustellen“ (Eckpunktepapier),

dann gehen die Politiker offensichtlich davon aus, dass es auch in Zukunft einen Mangel an medizinischem und pflegerischem Personal geben wir! Deswegen sind sie daran interessiert, das vorhandene umso stärker auszulasten. Das wird sicherlich die Attraktivität dieser Berufe steigern und auch die Qualität der Pflege verbessern!!

Der Streit

Wie stark die Spezialisierung der Häuser vorangetrieben werden soll, darüber herrscht zwischen Bund und Ländern und auch zwischen den Ländern keine Einigkeit. Die Kriterien für die Entwicklung von Leistungsgruppen wurden im Eckpunktepapier vereinbart, aber die Zahl noch nicht festgelegt. Der Vorschlag der Regierungskommission beinhaltete 128 Leistungsgruppen, der Krankenhausplan von Nordrhein-Westfalen 64, also genau die Hälfte.

Je weiter die Spezialisierung vorangetrieben wird, desto größer muss nach Ansicht der Gesundheitspolitiker der Einzugsbereich sein, damit die Klinik auf ihre Kosten kommt. Denn ihr Aufwand wird nur teilweise über die Vorhaltepauschalen abgedeckt. Alles andere muss über die verbleibenden Fallpauschalen erwirtschaftet werden.

Für die Patienten bedeutet dies weitere Wege zu der entsprechenden Klinik. In dicht besiedelten Bundesländern ist der Einzugsbereich kleiner, in ländlichen Gebieten größer, entsprechend positionieren sich die Bundesländer.

Weitgehende Einigkeit herrscht zwischen den Parteien über die Einstufung der Krankenhäuser, auch wenn dies offiziell dementiert wird. So tauchen die „Level I-Krankenhäuser“ aus dem Regierungsentwurf nun als „Sektorübergreifende Versorger (Level Ii-Krankenhäuser)“ auf. Sektorübergreifend sind diese Einrichtungen deshalb, weil dort ambulante und stationäre Leistungen erbracht werden sollen.

Angestrebt werden mehr ambulante Behandlungen und Operationen. Aber auch diese erfordern oft Pflege, die sich meist kostengünstig durch die Familien erbringen lässt. Da das Familienleben durch die doppelte Berufstätigkeit der Partner stark beansprucht wird, braucht es dann eben auch Kurzzeitpflegeeinrichtungen, die nicht unbedingt einen Arzt haben müssen. Die ärztliche Betreuung kann durch niedergelassene Ärzte erfolgen. Es sind keine Krankenhäuser im eigentlichen Sinne, sondern eher Pflegeeinrichtungen.

Die im Regierungsentwurf aufgeführten „Level II-Krankenhäuser“ sind im Prinzip alle Krankenhäuser außer den Universitätskliniken, die die Qualitätskriterien für Leistungsgruppen erfüllen müssen. Auf einen weiteren Grundsatz haben sich die Parteien im Eckpunktepapier ebenfalls geeinigt: „Grundsätzlich keine Erhöhung des Erlösvolumens.“ Sprich: Das Ganze soll nicht mehr kosten als bisher mit den Fallpauschalen.

Dies betrifft die Kosten, die durch die Krankenversicherung abzudecken sind, erfasst aber nicht alle Kosten. Denn die Reform erfordert auch zusätzliche Investitionen, so dass wieder die Länder gefordert sind. Womit die Einigkeit ein Ende hat. Die Länder fordern dafür eine Beteiligung des Bundes, was dieser weitgehend ablehnt. Damit ist weiterer Streit programmiert – natürlich alles im Dienste der Bürger! Die Sicherstellung eines funktionierenden Volkskörpers ist eben eine Dauerbaustelle, wenn es heißt: Hauptsache kostengünstig!

Zuerst erschienen im Overton-Magazin

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Gut abgehangene Coolness

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Juli 2023

Mick Jaggers Männlichkeit

During the Licks Tour with Sheryl Crow, 2004

Ein Debattenbeitrag von Jenni Zylka

Narzisstischer Frontmann, androgynes Sexsymbol, genialer Songschreiber: Mick Jagger bleibt schwer lesbar – und einzigartig. Eine Würdigung.

Im Herbst 1963 besuchte David Bowie eine Little-Richard-Show. Als eine von vielen Vorbands spielten die Rolling Stones, unbekannte, dürre weiße Jungs, kaum älter als der damals 16-Jährige. Doch „in meinem ganzen Leben hatte ich noch nie etwas so Rebellisches gesehen“, erinnerte sich Bowie später in einem Interview: „Lasst euch die Haare schneiden!“, habe ein Mann gerufen. „What – and look like you?!“, habe Mick verächtlich gekontert – und sowohl Bowie als auch den Rest des Publikums mit juveniler Coolness umgehauen.

Dass Coolness einst die Hauptingredienz des Rock ’n’ Roll war, ist fast in Vergessenheit geraten. Es geht inzwischen um (vermeintliche) Authentizität, darum, das Innere nach außen zu kehren. Aber Sir Mick Jagger, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, gab sich stets eher enigmatisch als authentisch – er bleibt schwer zu lesen.

Im Jahr 1967 traf der britische Fotograf Cecil Beaton, dessen glamouröse Porträts die Kunst seit den 20er Jahren bereicherten, auf die Rolling Stones. Und befand den Stones-Frontmann als „hässlich und hübsch, maskulin und feminin, sexy aber geschlechtslos gleichzeitig“. Dennoch, oder eher darum wurden Jagger stets Liebesaffären mit Frauen und Männern nachgesagt, vor allem Erstere seien angeblich oft am sexistischen Arschlochtum des Briten gescheitert.

„Unmännlich“: In der Kritik am Erscheinungsbild Jaggers zeigt sich die Queer-Feindlichkeit des letzten Jahrtausends

Früh zog man neben Jaggers Gebaren, dem Schäkern mit allem, was nicht bei drei auf dem Baum ist, auch Texte als Beweis herbei und missverstand „Under my thumb“ dabei gern als misogynes Statement: „Under my thumb / the girl who once had me down / under my thumb / the girl who once pushed me around.“ Dabei beschreibt der Song nur trotzig die nächste Stufe des Liebeskummers – man will sich nicht mehr von der Ex „herumschubsen“ lassen.

Jagger besetzte eine klare Position

Herumschubsen ließ er sich nie gern. Mick Jagger besetzte in der etablierten Bandrollenkonstellation stets eine klare Position: Er war und ist ein Frontmann, dessen Narzissmus ihn für alle unwiderstehlich macht, die auf Narzissten stehen. Seine Anziehungskraft war also immer ambivalent, sowohl durch sein Verhalten als auch durch sein Äußeres.

Dass Jaggers Androgynität schockierend auf die Umwelt wirkte, ist heute schwer nachvollziehbar. Aber neben den Haaren reichten tatsächlich bereits seine vollen Lippen, um Sit­ten­wäch­te­r:in­nen (und ihre verknallten Schützlinge) amtlich zu erregen: Wieso sieht ein Teenie-Superstar derartig „unmännlich“ aus?! In der damaligen Kritik am Erscheinungsbild Jaggers zeigt sich die gesamte Queer- und damit Menschenfeindlichkeit des letzten Jahrtausends.

Jagger, und nicht nur er, waren tatsächlich „rebellisch“: Zumindest um Genderkonventionen scherten sie sich wenig. Dass sie mit Groupies schliefen, sahen sie, ebenso wie die fast immer weiblichen Groupies, die die Nähe zu provokanten Stars genossen, als Ausdruck sexueller Freiheit. Das unterschied sie von den Konventionen ihrer Elterngenerationen, in der Sexualität in festen Bahnen stattfand, und sowohl die angeblich immergeilen Männer als auch die angeblich nie geilen Frauen dafür verurteilt wurden.

Ein höchst befriedigendes, konsensuelles Verhältnis

Die Autorin Pamela Des Barres, die ihr 60er-Jahre-Groupietum biografisch verarbeitete, beschrieb 1989 in „Light my fire“, wie sie als einstiger Beatles-Fan von ihren Freundinnen für ihre Jagger-Leidenschaft beschimpft wurde: „Sie glaubten, ich hätte Paul für dieses groteske, ekelhafte, wulstlippige Tier Mick Jagger verraten.“

concert at Hyde Park in London, 2013

Sie schreibt von Masturbationsfantasien zu Jaggers mit dem ihm eigenen Timbre gestöhnten Zeilen aus „I’m a King Bee“: „Yes I can make honey baby / let me come inside.“ Beim Stones-Konzert in Hollywood 1965 stellte die damals 17-Jährige dem Sänger nach, er verjagte sie jedoch freundlich von seinem Fenster. Später, mit 21 Jahren, hatten beide ein angeblich höchst befriedigendes, konsensuelles Verhältnis.

Aber Machtstrukturen und geschlechterbezogene Zuschreibungen wurden in den 60ern und 70ern kaum analysiert oder kritisiert, Missbrauch gab es ebenso wie toxisches Verhalten. Die Journalistin Lesley-Ann Jones versuchte 2022 in ihrem Buch „The Stone Age“, sich feministisch durch die übergeschlechtliche Faszination für die Band zu arbeiten.

Ihre Vorwürfe leitet sie jedoch im 50er-Jahre-Groschenroman-Ton ein: „Sie schenkte dem Stone vier Kinder und zweiundzwanzig Jahre ihres Lebens“, heißt es über Jaggers Ex-Frau Jerry Hall. Dass Frauen Männern „Kinder schenken“ oder Jahre, ist für Jones genauso Tatsache wie der „ungezügelt lüsterne Lebensstil“ des Musikers, eines „Opfers seiner eigenen Unersättlichkeit“. Die falsche und ärgerliche Mär vom unersättlichen männlichen Raubtier, dem so eine – im Gegensatz zur passiven, romantischen Frau – aktive, aggressive Sexualität zugestanden wird, wabert durch die ganze Erzählung.

Ein funktionaler Songschreiber, der Leidenschaft zeigt

Quelle       :            TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben        —     During the Licks Tour with Sheryl Crow, 2004

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Hass, Hetze, Gewalt:

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Juli 2023

Mexiko als Vorposten der Abschottung

Von Kathrin Zeiske

Ciudad Juárez, Mexiko, 27. März 2023: Auf dem Video der Überwachungskamera des Abschiebegefängnisses schlagen Flammen aus der Zelle. Drei uniformierte Männer verlassen zügig, aber ruhig, den Vorraum. Keiner von ihnen macht Anstalten, die Sammelzelle aufzuschließen. Kurze Zeit später ist die Rauchentwicklung so heftig, dass sie die Sicht der Kamera versperrt. Die Feuerwehr wird nicht zu Hilfe gerufen, sondern entdeckt den Brand zufällig. Die Einsatzkräfte brechen die Zellentür auf und bergen 39 Tote und 29 Schwerverletzte aus dem überbelegten, fensterlosen Raum. Ein Überlebender erliegt ein paar Tage später seiner Rauchvergiftung im Krankenhaus. Die betroffenen Geflüchteten aus Guatemala, El Salvador, Venezuela, Honduras, Kolumbien und Ecuador waren am selben Tag bei Razzien auf den Straßen der Grenzmetropole zu Texas aufgegriffen worden. Die festgenommenen Frauen wurden angesichts der Brandentwicklung aus ihrer Zelle befreit, die Männer nicht. Vermutlich haben sie selbst das Feuer entfacht, um gegen ihre Haft zu protestieren. Sie hatten weder Wasser noch Essen bekommen und sollten abgeschoben werden, obwohl viele von ihnen über eine Aufenthaltsgenehmigung verfügten.

Massaker an Personen in Haft oder unter haftähnlichen Bedingungen, bei denen Zuständige nicht die Tür öffnen und den Tod Dutzender Menschen durch Verbrennen und Ersticken bewusst in Kauf nehmen, sind in der mesoamerikanischen Region eine traurige Konstante, wie die Gefängnisbrände in Honduras in den Jahren 2004 und 2012 und der Brand in einem staatlichen Mädchenheim in Guatemala vor fünf Jahren zeigen. Im Transitland Mexiko prangern Nichtregierungsorganisationen wie auch die staatliche Menschenrechtskommission seit Jahrzehnten die Bedingungen in den Abschiebegefängnissen an. Vor zwei Jahren erreichten sie dadurch immerhin, dass Minderjährige nicht mehr eingesperrt werden dürfen. Trotzdem haben sich in Mexiko während der Pandemie in Abschiebegefängnissen mehrfach Brände unter Umständen ereignet, die denen in Ciudad Juárez gleichen. In der Stadt Tapachula im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas kam dabei bereits eine Person ums Leben. Und exakt die gleiche Szenerie wie am 27. März im Abschiebegefängnis in Ciudad Juárez hatte sich bereits vier Jahre zuvor am selben Ort abgespielt. Damals allerdings war die Zelle sofort aufgeschlossen worden. Dass es bei dem jüngsten Brand anders verlief, zeigt, wie sehr sich die Situation der Migrant:innen in Mexiko in den letzten Jahren verschärft hat. Und das wiederum ist maßgeblich auch auf die Entwicklungen der US-Migrationspolitik zurückzuführen.

Denn in dieser Zeit kam es auf Seiten der USA zu einer faktischen Aushebelung des Rechts auf Asyl: Mit Beginn der Pandemie im März 2020 setzte Ex-Präsident Donald Trump das gesundheitspolitische Dekret Title 42 in Kraft. Von der US-Border-Patrol aufgegriffene Geflüchtete aus Lateinamerika konnten damit direkt nach Mexiko zurückgeschoben werden, ohne zuvor die Möglichkeit zu erhalten, um Asyl zu bitten[1] – ein Präzedenzfall seit der Verankerung des Asylrechts in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen im Jahr 1948. Damit verschärfte sich die Abhängigkeit der migrierenden Menschen von den mächtigen mexikanischen Drogenkartellen, die mittlerweile sämtliche Schleusertätigkeiten in der Region in Richtung USA als teilweise lukrativere Einnahmequelle als der Drogenhandel selbst übernommen haben, und zusätzlich wird die Migration durch Gerüchte über Gesetzesänderungen in den USA noch befeuert.

Das stellte die Menschen, die sich während der Pandemie vor allem in Mittelamerika mit einem Einbruch der Arbeitsmärkte, einer verstärkten Militarisierung und Repression sowie zunehmendem autoritären Gebaren ihrer Regierungen etwa in El Salvador und Nicaragua[2] konfrontiert sahen, vor enorme Herausforderungen. Die Mehrheit dieser Bevölkerungen arbeitet im informellen Sektor und verdient am Tag, was sie zum Leben braucht. Hunger und eine fortschreitende Verarmung sorgten für einen Exodus in Richtung Norden, ohne Aussicht auf Asyl im Zielland USA.

Zugleich sahen sich viele Menschen in Mexiko selbst im Zuge der Pandemie mit Machtverschiebungen innerhalb der mexikanischen Kartelllandschaft konfrontiert. Vor allem aus Michoacán zogen Tausende Binnenflüchtlinge angesichts von Zwangsrekrutierungen und Gewalt an die mexikanische Grenze. Deren Rückschiebung war besonders dramatisch, da sie die an der Grenze operierenden Kartelle und deren Vernetzung gen Süden fürchten mussten. Auch die vor Gewalt, fehlender Gesundheitsversorgung und aufgrund von Armut aus Haiti fliehenden Menschen saßen durch den Title 42 in den mexikanischen Grenzstädten fest, die in diesen Jahren als die gefährlichsten Städte der Welt galten.

Während die mexikanische Regierung die Rückschiebungen aus den USA unter dem Title 42 hinnahm, gab es für die Grenzstädte keine entsprechende finanzielle und logistische Unterstützung, um diese Herausforderung zu meistern. In Ciudad Juárez verhinderte in dieser Zeit nur ein Netzwerk aus katholischen und evangelikalen Herbergen und ein erfolgreicher Dialog mit Unternehmern und allen drei Regierungsebenen eine humanitäre Krise. Aus der Zivilgesellschaft kamen auch die Initiative zur Schaffung einer Erstanlaufstelle („Catedral”) und einer Quarantänestation („Hotel Filtro”) für an der Grenze ankommende Geflüchtete und aus den USA Zurückgeschobene, um mit einem Gesundheitszertifikat in einer der hermetisch abgeriegelten Herbergen aufgenommen zu werden. Immer mehr Menschen fanden sich so in den letzten Jahren völlig mittellos und ohne Unterstützung in der Grenzmetropole Juárez ein und hofften auf eine kurzfristige Änderung der Gesetzeslage. Denn der seit 2021 regierende US-Präsident Joe Biden versuchte mehrfach, den von seinem Vorgänger Trump eingesetzten Title 42 zurückzunehmen. Doch er wurde das gesamte Jahr 2022 über durch die Urteile von den Republikanern wohlgesinnten Bundesrichtern gestoppt.

Digitale Zitterpartie: Asylverfahren via Smartphone

Erst im April bestätigte Biden schließlich das Ende des Title 42 für den 11. Mai dieses Jahres; zugleich kündigte er aber auch die vollständige Digitalisierung des Asylverfahrens an, eine umfangreiche Wiederaufnahme von Abschiebungen und eine Bestrafung der illegalen Einreise. Entgegen seinem Wahlkampfversprechen führt er damit die Abschottungspolitik seines Vorgängers Trump de facto fort. Mit der Entscheidung begann ein Run auf die Grenzstädte; alle, die sich auf Reisen durch den Kontinent gen Norden befanden, versuchten, vor diesem Datum an die Grenze zu gelangen. Entsprechend stieg die Zahl der in Herbergen, Ruinen sowie in einem Zeltlager vor dem Abschiebegefängnis lebenden Menschen in Ciudad Juárez sprunghaft von geschätzten 12 000 auf mindestens 35 000 Personen an.

Die Stimmung unter den Geflüchteten wandelte sich vom Warten auf das Ende des Title 42 in Panik vor dem, was danach kommen konnte. So lieferten sich bis zum letzten Tag Tausende der US-Border-Patrol aus, die die Menschen nach langen Wartezeiten in der Wüstensonne tatsächlich einließen. Die Betroffenen hofften, unter Ausnahmeregelungen zu fallen und im Zweifelsfall jeweils nur nach Mexiko anstatt bis in ihr Herkunftsland ausgewiesen zu werden, was all ihre Strapazen, Risiken, Verluste und Investitionen in Schlepper auf einen Schlag zunichte gemacht hätte.

Seit dem 11. Mai gilt nun für die Migrant:innen der Title 8, sprich: Wer es nicht schafft, vor Antritt seiner Reise über eine mobile App namens CBP One einen Asylantrag zu stellen, wird aus den USA sofort wieder in sein Herkunftsland abgeschoben – ohne Prüfung des Rechts auf Asyl. Lediglich Geflüchtete aus Kuba, Venezuela und Nicaragua werden wie gehabt nach Mexiko zurückgeschoben, da die USA zu diesen Ländern weiterhin keine diplomatischen Beziehungen unterhält. Das Gleiche gilt für Haiti, das die USA als Failed State definieren. Täglich können nun etwa 3000 Menschen entlang der Grenze ein erstes Interview führen. Wer aber nicht mit der App einreist, sondern illegal die Grenze übertritt und sich dann ausliefert oder aufgegriffen wird, ist für ein Asylverfahren fortan disqualifiziert.

Die App CBP One hatte die Biden-Regierung indes bereits im Januar – offenbar in einer Testphase – gestartet und damit viele zumeist mittellose Migrant:innen einer extrem prekären Situation ausgeliefert. Ein geladenes Smartphone, seine Bedienung mit gekauften mobilen Daten und das Verständnis der spanischen Sprache in Wort und Schrift wurden damit zur Voraussetzung für einen Asylantrag und die einzige Chance, auf legalem Weg in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Doch in den ersten Monaten des Jahres war die App zumeist völlig überlastet und nur wenige Minuten am Tag nicht blockiert. Hinzu kam, dass die Seiten der App fehlerhaft ins Spanische übersetzt und viele Formulierungen uneindeutig waren. Für viele Migrant:innen begann eine digitale Zitterpartie mit wenig Aussicht auf Erfolg. Überall in Ciudad Juárez sah man nun Geflüchtete, die sich mit ihrem Mobiltelefon an Internet-Hotspots oder Ladestationen aufhielten. Für alle, die auf die App hofften, war es unmöglich, eine Arbeit im informellen Sektor zu suchen, da sie den ganzen Tag online sein mussten.

Speziell für Geflüchtete aus Venezuela, die sich angesichts von Armut und Chancenlosigkeit in ihrem Heimatland auf die gefährliche Reise durch die Landenge des Darién zwischen Kolumbien und Panamá an die Südgrenze der USA aufgemacht hatten und die sich seit Ende vergangenen Jahres vermehrt in der Stadt sammelten, war dies besonders schwer. Als relativ neue Migrationsbewegung konnte diese Gruppe im Vergleich zu mittelamerikanischen oder kubanischen Migrant:innen zum einen nicht auf die finanzielle Unterstützung von in den USA etablierten Familienangehörigen zählen. Zum anderen nahm die augenscheinlich klassizistische Ablehnung in der Bevölkerung von Menschen aus Venezuela, die an den Verkehrskreuzungen der mehrspurigen Boulevards Windschutzscheiben putzten und Geld erbaten, deren Haut auf den Fußmärschen durch den Darién, von Zugfahrten durch Mexiko und durch das Campen am Grenzfluss verbrannt, deren Körper vom Hunger ausgemergelt und die Kleidung auf der Reise abgenutzt worden war, in den ersten Monaten des Jahres immer weiter zu. Und das obwohl sich die 1,5 Millionen Einwohner:innen zählende Industriemetropole durch den ständigen Zuzug von Menschen zur Arbeit in den Weltmarktfabriken an der US-Grenze gebildet hatte und man eigentlich Hilfsbereitschaft erwarten müsste. Doch während die mehrheitlich selbst migrantischen Familien ab 2019 die mittelamerikanischen und karibischen Communities ohne große Vorbehalte aufgenommen hatten, wuchs nun auf einmal die rassistische Ablehnung der Menschen aus Venezuela. Ihre Abhängigkeit von der App CBP One wurde gegen sie ausgelegt; sie hätten keine Lust zu arbeiten, säßen die ganze Zeit nur am Handy und gingen dann betteln, hieß es vielerorts.

Quelle        :         Blätter-online             >>>>>           weiterlesen

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Oben        —       A Mexican family enjoys the beach at Border Field State Park on the US side. It is very easy to slip through the fence at will due to the last sections having been poorly constructed.

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KOLUMNE STARKE GEFÜHLE

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Juli 2023

Sie müssen die Drecksarbeit machen

KOLUMNE VON  – CHRISTIAN JAKOB

Die EU und Tunesien haben sich auf eine „strategische Partnerschaft“ geeinigt. Mit europäischem Geld werden flüchtende Menschen in die Wüste geschickt.

Mehr als tausend Menschen wurden in den vergangenen Tagen von Tunesien in der Wüste abgesetzt – ohne Wasser und Versorgung, bei über 40 Grad Hitze. So berichten es NGOs aus der Region. Dies geschah just in jener Zeit, in der sich die Europäische Union und das nordafrikanische Land auf eine „strategische Partnerschaft“ bei der Migrationskontrolle geeinigt haben: Die EU zahlt, Tunesien hält die Flüchtlinge auf. Und weil das Land sie selbst auch nicht will, kommen sie eben in die Wüste.

Das Sterben dort unterscheidet sich aus europäischen Sicht von jenem im Mittelmeer vor allem dadurch, dass es hierzulande kaum bemerkt wird. Während eine Vielzahl NGOs und die UN die Vorgänge im Meer heute fast lückenlos dokumentieren, ist die unzugängliche Wüste, oft ohnehin Sperrgebiet, ein Niemandsland der Wahrnehmung. Was dort geschieht, ist – buchstäblich – die Drecksarbeit der europäischen Flüchtlingsabwehr.

Sie wird befeuert von der Angst vor der hierzulande erstarkenden Rechten. So aber materialisiert sich ihr Programm, schon bevor sie die Macht übernimmt: Was bei uns als Bruch zivilisatorischer Mindeststandards gilt, wird südlich des Mittelmeers vollzogen, um uns die Unerwünschten vom Hals zu halten.

Manchen reicht das nicht. Immer noch einen Schritt weiter, auf dass bloß keiner denkt, uns geht es noch nicht hart genug zu – nach diesem Motto verfährt dieser Tage die Union. „Aus dem Individualrecht auf Asyl muss eine Institutsgarantie werden“ – das forderte diese Woche der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Thorsten Frei. Eine Antragstellung auf europäischem Boden soll nicht länger möglich sein, der Bezug von Sozialleistungen und Arbeitsmöglichkeiten gehörten „umfassend ausgeschlossen“.

Die Tore würden geschlossen bleiben

Frei begründete seinen Vorschlag damit, dass das derzeitige Asylrecht „nicht die Schwächsten“ schütze, sondern eine „zutiefst inhumane Auswahl“ treffe. Wer zu alt, zu schwach, zu arm oder zu krank ist, sei „chancenlos“: Er oder sie könne sich nicht auf den Weg durch die Wüsten Afrikas und über das Mittelmeer machen.

Das stimmt. Nur liegt es vor allem daran, dass die EU – und mit ihr die Bundesregierung – in den vergangenen Jahren alles dafür getan hat, dass es dort heute so gefährlich für Flüchtende ist.

Frei jedenfalls will an die Stelle des individuellen Asylrechts ein jährliches europäisches Kontingent von „300.000 oder 400.000“ Menschen auflegen. Mit dem sollen Schutzbedürftige direkt aus dem Ausland aufgenommen und in der EU verteilt werden könnten. Seine Begründung dafür klingt rational, gar human. Das Argument ist seit Jahren immer wieder bemüht worden, um zu rechtfertigen, warum es den individuellen Rechtsanspruch nicht mehr geben soll. In etwas abgewandelter Form, mit Betonung auf den Gedanken nationaler Souveränität, ist dies auch in Osteuropa zu hören: Wir bestimmen, wen wir reinlassen. Also bestimmen wir auch, wem wir Schutz gewähren wollen.

Quelle      :          TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Demonstration against judicial reforms (Tel Aviv, 25 March 2023)

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Juli 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

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Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Europawahl, Getreideabkommen und Pflege. Das falsches Gebrüll einer Löwin. Die Aktivistin Carola Rackete will den Job wechseln und in die Politik. In Berlin kommt die Einsicht: Die Suche nach einer Löwin war vergeblich.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Spanien auf der Wetterkarte glutrot.

Und was wird besser in dieser?

Wenigstens da.

Eine vermeintliche Löwin bricht in der Nacht zum Donnerstag aus und hält die Welt in Atem. Die Polizei rückt aus, um sie zu suchen. Der erste Klimaflüchtling?

Das wäre gut gebrüllt, Löwe. Das allergene Ambrosiakraut und die chinesische Wollhandkrabbe sind schon da, dafür macht sich die heimische Buche hinter die Fichte. Die EU-Liste der „unerwünschten Spezies“ führt bereits 88 Tiere und Pflanzen, und das, bevor die AfD noch mal drübergeschaut hat. Für diesmal war’s nur die invasive Art des Mikro-Poppschutzes, elf Senderlogos sprangen dem Kleinmachnower Bürgermeister ins Gesicht. Nachdem die Medien gehaust hatten, hatten wir die Wildsau, bleibt sein bis in weite Ferne leuchtender Merksatz stehen: „Wir haben viel zu spät das Video gemeinsam ausgewertet.“ The Lion sleeps tonight.

Carola Rackete, bekannt geworden als Kapitänin und Flüchtlingshelferin, kandidiert bei der Europawahl 2024 für die Linke. Eine Neuorientierung für die Partei?

Der Doppelwumms! Racketes Kandidatur ist die nette Art, Wagenknecht und den ihren ein herzliches „Dann geh doch nach drüben“ nachzurufen. Zur anderen Seite, nachdem die Ampelgrünen die EU-Asylreform abgenickt haben, geben die Linken nun ehedem grünen Idealen Asyl. Neben Rackete steht der Sozialmediziner Gerhardt Trabert, und wenn die Welt von oben nach unten gerechter werden könnte, wäre das auf einmal eine ziemlich geile Partei. Vielleicht ist es ein Start-up im marode gewordenen Mutterkonzern, die Idee hatte Christian Lindner schon mal – nicht zu Ende gedacht. Vielleicht folgen zivilgesellschaftliche Bewegungen den beiden Signalfiguren. Den Rest holt irgendwann der Klabautermann.

Der Kreml stoppt das Getreideabkommen mit der Ukraine. Ist Russland bald für eine internationale Nahrungsmittelkrise verantwortlich?

Man kann sich noch mal auf der Hirnrinde zergehen lassen, wie die deutsche Außenministerin circa monatlich bekannt gibt, mit dem Russen gebe es nichts zu verhandeln. Während circa monatlich mit dem Russen verhandelt wird. Die Getreide- und Gefangenenaustausch-Abkommen, die statt ihrer Menschenrechtsaktivist Erdoğan makelte, bargen Hoffnung. Sowohl was die Nahrungsmittelnot angeht, wie auch die Not im Krieg, ist das russische Njet ein morbider Erfolg der Siegfrieden-Jünger. Auf beiden Seiten.

Laut einer Umfrage sind die meisten Deutschen dafür, an Kinder gerichtete Werbung für ungesundes Essen einzuschränken. Auch die Bundesregierung möchte das einschränken. Eigentlich logisch, doch Rechte regen sich auf. Warum?

Jedes deutsche Kind sieht im Schnitt täglich 15 Werbespots für Ungesundes. Talk-Auftritte von Alice Weidel nicht mitgerechnet. Die AfD vertritt einen Sack voller Verbote: Zuwanderung, Gendersprache, Rundfunkgebühren, schlechtes Wetter. Unterm Strich sind Rechte gegen Verbote, die sie nicht selbst fordern.

Pflegeplätze werden immer teurer. Können wir es uns leisten, alt zu werden?

Die Pflegeversicherung scheiterte 1995 fast am Unwillen der Arbeitgeber. Schließlich wurde ein Feiertag geopfert. Das reicht nur, um die eigentlichen Pflegekosten abzudecken. Unterbringung und Ernährung zahlen die zu Pflegenden allein. Die große Lösung wäre also eine Vollversicherung, die das Gesamtrisiko abdeckt. Die Lobby der Arbeitgeber wird sich sofort schwer pflegebedürftig und strebendkrank hinlegen. Na ja, die können das bezahlen.

Wäre am Sonntag Bundestagswahl gewesen, hätten nur 13 Prozent der Befragten die Grünen gewählt. Andererseits geben 74 Prozent der Deutschen an, um Wasserknappheit besorgt zu sein. Überrascht Sie der Widerspruch?

Quelle         :       TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben     —   Bearbeitung durch User: Denis_Apel –

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Für sich selbst sorgen

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Juli 2023

Für sich sorgen – eine Aufgabe oder eine Schimäre?

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Die fünf Sinne
Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von Ilse Bindseil

Ich möchte einen Gedanken überprüfen, der mir, so wie er mir durch den Kopf schoss, überaus schlüssig erschien. Eine solche Überprüfung ist schon deshalb nötig, weil Einfall, Idee oder Erleuchtung Schlüssigkeit als Formmoment haben – schlüssig sind sie per Natur −, so dass man ihren Inhalt womöglich überschätzt.

Ich möchte daher prüfen, ob der Gedanke sich entfalten lässt oder ob er so punktförmig ist wie der Moment, in dem er mir durch den Kopf schoss, im Kontinuum der Zeit. Der Gedanke: Das Unglückselige, Fatale und Verhängnisvolle unserer aktuellen gesellschaftlichen Situation, vor allen anderen Komplikationen, sei dem Widerspruch geschuldet zwischen dem unmittelbaren Dasein der Menschen als Individuen und den überaus mittelbaren Bedingungen ihrer Existenzsicherung.

Dieser Widerspruch verkehrt die Sorge für sich selbst in das Gegenteil eines umfassenden versorgt Seins mit der praktischen Konsequenz, dass die Individuen, wenn sie nicht mehr versorgt werden, zugrunde gehen, und der logischen Implikation, dass versorgt werden und leben sowie nicht versorgt werden und tot sein zusammenfallen; beides eine ängstigende, eine bizarre Vorstellung, fehlt doch alles, was mit dem Menschen als Subjekt assoziiert wird.

Unsicherheit als Lebensgefühl

Für sich sorgen können – eine Formel, die kaum noch ohne das beschwörende „selbst“ benutzt wird − ist als praktische Funktion und als Reflex der eigenen Konstitution gedacht. Die praktische Funktion wäre die Möglichkeit, den Gürtel enger zu schnallen und sich zu arrangieren, wenn die gesellschaftliche Versorgung zusammenbricht, sich im Garten zu versorgen, wenn es kein Gemüse mehr zu kaufen gibt, oder mit der Hand zu schreiben, wenn der PC nicht funktioniert, den Herd zu schüren, wenn Gas und Strom abgeschaltet sind, etwas einzutauschen, wenn fürs Bezahlen der Geldverkehr fehlt, sich auf sein Verhandlungsgeschick, notfalls auf seine Körperkräfte zu besinnen, wenn die Rechtsprechung nicht mehr existiert. Die Souveränität ist eine Frage der formalen Selbstschätzung: Die Einzelnen müssen ein Bewusstsein von sich haben, sie müssen eine Person oder ein Individuum sein. Können sie ungeachtet ihrer formalen Souveränität nicht für sich sorgen, sind auf Versorgung vielmehr angewiesen, stellt sich als Lebensgefühl eine Unsicherheit ein, die passive Erwartungen, Sicherheitsbedürfnisse und Versorgungsansprüche, steigert, die ihrerseits nur noch stärker in die Abspaltung führen der tätigen Wesen von sich selbst.

Der gesamtgesellschaftliche Befund einer umfassenden Versorgung hat etwas bedrückend Widersprüchliches, da sie einerseits als Fortschritt, Befreiung von lästiger Unmittelbarkeit, Gewinn zusätzlicher Entfaltungsmöglichkeit, andererseits als Enteignung und Verunsicherung empfunden wird. Auch wenn Fortschritt sich Schritt um Schritt, gewissermaßen von Erfindung zu Erfindung zu entwickeln scheint, ist er doch nicht in einem Kontinuum angesiedelt, dergestalt dass das Individuum im Notfall auf das ältere Modell zurückgreifen und das Leben auf einem niedrigeren Niveau, aber in vergleichbarer Vollständigkeit fortsetzen kann.

Was als Stufe in der persönlichen Entwicklung empfunden werden mag, entpuppt sich, auf die gesellschaftliche übertragen, vielmehr als Sprung. Ihm ist nicht die graduelle Verringerung oder Verminderung korreliert, sondern der Absturz: Wer nicht gepflegt wird, geht zugrunde, wer nicht ernährt wird, verhungert. Wenn das im Fortschritt Etablierte versagt, stellt sich heraus, dass der Zustand, der ihm vorherging, den es abgelöst, den es hinter sich gelassen hat, in Gänze nicht mehr existiert, fehlen doch die Voraussetzungen. Aus dem Stoffwechselwesen, das auf ingeniöse Weise seinen Stoff wechselt, wird ein recht eigentlich „gestoffwechseltes“ Wesen, dem zur Selbstversorgung nicht nur die materiellen, auch die geistigen Voraussetzungen abhandengekommen sind. Es sieht so aus, als wären sie in den Fortschritt, die sich selbst entwickelnde Entwicklung, hinübergewandert und im Wechsel von Aufschwung und Absturz recht eigentlich bei sich.

Überflüssige Erzeugnisse oder überflüssige Arbeitskräfte

Die Aufgabe und Fähigkeit der Person, sich in jenem engen Zirkel zu erhalten, der als Gegenstand der Erhaltung das Sich und als Ziel die pure Fortsetzung des Lebens hat, scheint mit dem Fortschritt tatsächlich unvereinbar, und das gilt auf der ganzen Welt und in den gegensätzlichsten gesellschaftlichen Formationen. Ob in den sprichwörtlich ärmsten Ländern Afrikas, wo die Menschen in solcher Armut gehalten werden, dass sie nur durch Gaben der Weltgemeinschaft überleben können, oder in den reichen Zentren Europas, wo an die Stelle der einfachen Selbsterhaltung eine hochkomplexe Versorgung getreten ist, deren mögliche Störung von kaum einem der Versorgten behoben werden kann; oder im fernen China, wo in einer sonderbaren Verdrehung die physische Versorgung der Menschen von der politischen Partei erwartet und, umgekehrt, das politische Überleben der Partei an das physische Wohlergehen der Menschen geheftet wird: Überall klaffen das formal zugestandene Recht auf Selbstbestimmung und die tatsächliche Möglichkeit zur Selbstorganisation in verstörender Weise auseinander. Speziell in den hoch entwickelten Ländern des reichen Nordens springen Utopien vom Einzelnen als Einzelkämpfer in die Lücke. Wenn etwas als Einzelnes existiert, müsse es sich als Einzelnes erhalten, dokumentieren sie, seine Einzelheit müsse sich abspiegeln können. Die inhaltlichen Elemente ihres Daseins gewinnen sie aus der Perspektive der Verteidigung.

Über die politischen, die psychologischen und moralischen Folgen des Verschwindens der einfachen Reproduktion als natürlichem Modell der Selbsterhaltung kann nachgedacht, über die ökonomische Bewegung, die es motiviert und befördert, braucht nicht groß gestritten zu werden. Eine These lautet, dass nicht länger Produktion, sondern Konsumtion der entscheidende Faktor ist, auch nicht Not, sondern Überfluss, der hat sein Maß im „ungebremsten Steigen des Produktivkraftniveaus“ (Emmerich Nyikos, panem et circenses), nicht in den ehemals so genannten Bedürfnissen der Menschen. Ob angesichts der „totalen Automatisierung und Robotisierung der Produktion“, die „die Lohnarbeit als Basis der Revenue breitester Schichten […] wegfallen lässt“ (ebd.), die Freistellung der Arbeiter oder die faktische Überproduktion das größere Problem ist, ob man also, wie Nyikos formuliert, die „überflüssigen ‚Hände‘ über die Runden bringen“ oder die Freistellung der Arbeitenden mit der Koppelung an eine forcierte Konsumtion begründen sollte, wäre eine scholastische Frage.

Je nachdem, ob die Sorge mehr der Überflüssigkeit der Arbeitskraft oder dem Überfluss an Erzeugnissen gilt, wird die eine oder die andere Begründung angeführt werden, und ist die Trennung einmal vollzogen, ist das Verhältnis ohnehin nicht mehr ins Gleichgewicht zu kriegen. Um ihrer Aufgabe, die Überschüsse zu verbrauchen, gerecht werden zu können, müssen Massen sowohl freigestellt als auch an der Selbstversorgung gehindert werden. Das Individuum gerät darüber ins Wanken. Es möchte sich auf seine Kräfte besinnen und kann nicht. In die entfremdete Konsumtion wird es so gepresst wie anno dazumal in die entfremdende Produktion. So wie es im Schema der industriellen Fertigung zum Produzenten wurde, so wird es im Schema der Verteilung zum Empfänger, der sich erhalten will, wobei die Maschinerie ihren eigenen Hunger entwickelt. Inbegriff eines produktiven versorgt Seins, ist sie dem Kreis der Empfänger nicht nur zugeordnet, sondern genießt eine Vorzugsstellung vor denen, die nichts leisten, nur leben wollen. Ihr wird als erste zugeteilt, „und das ist gut so“, denn wer das zu Verteilende bereits bei der Verteilung verbraucht, braucht am Ende nichts mehr zu verteilen.

Das verinnerlichte Gefängnis der Souveränität

Die elegante These vom Abstieg des emanzipierten Arbeiters zum entmündigten Konsumenten beinhaltet nicht nur den Schluss auf seine existentielle Entfremdung, sie lässt ebenso den gegenteiligen auf eine vom Widerspruch befreite Gesellschaftlichkeit zu, die ihr eigenes Telos und ihre eigenen Spielregeln hat. In der Tat, pfiffig muss man sein, will man von dem, was verteilt wird, noch etwas abkriegen, nicht zu denen gehören, die am Ende verhungern, während andere leben. Aber der darwinistisch verteidigte Platz an der Mutterbrust ist von hoffnungsloser Immanenz. Er stiftet kein Modell, über das sich nachdenken lässt, schreibt die Entwicklung lediglich fort und entleert sie zusätzlich von Sinn. Gegen den gesellschaftlichen Antagonismus, der mit einer Vielfalt dramatischer Befunde belohnt, aber den Widerspruch, der er selbst ist, nicht in den Blick zu kriegen erlaubt, wäre dagegen die Einheit des geistigen Vermögens zu halten. Ob als personaler Verstand oder abstrakter gesellschaftlicher Mechanismus, als philosophische Reflexion, Geist in der Flasche oder bare Münze auf die Hand, es ist ein und dasselbe und muss nur als solches wahrgenommen werden.

Das erfordert Übung, es erfordert Umzentrierung, vom emphatischen bei sich Sein des Subjekts hin zu seinem Sein als Gesellschaft. Solche Umzentrierung geschieht im Kopf, sie arbeitet an den Vorstellungen. Dabei gilt es, den in allen seinen Erscheinungen wirksamen Irrtum aufzulösen, der dem Individuum als seine Verwirklichung zugeschriebene Fortschritt habe es – und sei von ihm – hervorgebracht, er sei, kurz gesagt, Ursprung, Modus und Ziel jener erweiterten Form von Reproduktion, die im technischen Fortschritt als Emanzipation und Freiheit erfahren wird, leider auch als Entfremdung, wachsende Entmündigung und daraus resultierende Bedrohung. Um aus der Doppeldeutigkeit herauszukommen, reicht es nicht, den Irrtum zu durchschauen, er muss abgetragen, das verinnerlichte Gefängnis der Souveränität muss verlassen werden, die Gewissheit, zu kurz zu kommen und betrogen worden zu sein, muss sich in nichts auflösen. Dass an der Grenze, wo Freiheit winkte, Konsumzwang wartete, ist bloß ein Irrtum wie viele andere, keine Tragödie. Schuf die Industriegesellschaft im ersten Schritt entrechtete Arbeitskräfte, die „Sklaven der Fabrik“, während sie im zweiten bloß noch geschmeichelte Ansprechpartner formte, um im dritten, zynisch vermittelnden Schritt bei den entmündigten „Berechtigten“ zu enden, die das ihnen Zugedachte verdrossen in Empfang nehmen, so sollte die Steigerung als ein Darstellungsprinzip durchschaut und durch ein anderes Prinzip ersetzt werden. Das Subjekt in Kategorien des Verlusts und der Entfremdung zu fassen, ist in seiner Schonungslosigkeit zwar bestechend, erzeugt aber als Doppelbild eine Eigentlichkeit, die der Kritik enthoben ist. Eine Darstellung, die sich am Wittgensteinschen „wie es ist“ orientiert, hat ein solches Doppelbild nicht nötig.

Die Gesellschaft, besorgt um ihr Bestehen, ahnungslos, was sie ist

Über Selbsterhaltung nachzudenken könnte in diesem Kontext sogar von Nutzen sein, kann sie doch als ein gesellschaftliches Modell im Miniaturformat gelesen werden. Nicht zufällig besticht der humanistische, der goethesche Traum von der individuellen Selbstverwirklichung, durch sein hartnäckiges Bemühen um Realismus. Gefasst als Kreativität gegenüber der Mechanik der Gesellschaft, verstellt er aber, dass es nicht um Perfektibilität, sondern um die basics geht. Diese sind nicht leicht zu fassen. Sie ergeben sich nicht von selbst. „Nachhaltigkeit“, zum Beispiel, drückt die Schwierigkeit treffend aus. Zugleich scharf und verschwommen, altbacken und modern, ist der Begriff – oder soll man sagen das Wort? − wie aus einem anderen Zusammenhang hineingesprengt, recht eigentlich ein „Zwiebelfisch“ im Diskurs. Ursprünglich ein Synonym bloß für anhaltende Wirkung − gleichgültig gegenüber der Frage, ob der Boden nachhaltig verbessert oder das Immunsystem nachhaltig geschädigt wird −, wird Nachhaltigkeit zum Inbegriff einer Gesellschaft, die sich um ihr Bestehen sorgt, aber keine Ahnung hat, was sie ist.

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Wie ist unter diesen Prämissen der fatale Eindruck zu gewichten, zwar um die Bedingungen der Selbsterhaltung gebracht, aber nicht aus der Selbstverantwortung entlassen zu sein? Ist die Verantwortung realistisch oder apodiktisch? Ist sie der existentielle Grund für „das Unbehagen in der Kultur“, das Freud diagnostizierte? Oder etwa, wiederum mit Freud, bloß ein „begleitendes Gefühl“, das sich nicht zuletzt aus der Beschönigung früherer Lebensverhältnisse speist, die sich nicht durch geringeres Risiko, allenfalls durch eine geringere Sicherheitserwartung auszeichneten? Spiegelt sich in der Verklammerung von Subjekt und Fortschritt gar eine Anmaßung, die für den Abgrund zwischen Optimismus und Ohnmacht verantwortlich wäre, der zu einem Gefühl ständiger Bedrohung führt, dem Gefühl, dass „der Schuss nach hinten losging“, da der dem Subjekt zugedachte Fortschritt sein Maß nicht am Subjekt hat, dieser auf das Subjekt auch keine Rücksicht nehmen muss? Den Eindruck des „Unglückseligen, Fatalen und Verhängnisvollen“ (s. o.) zu bestätigen, genügt es jedenfalls nicht festzustellen, dass man, „am Arsch“ ist, ein Urteil, dessen Ungeschöntes die Halluzination der Souveränität lediglich bekräftigen könnte. Das alte Bedürfnis, sich der Gesellschaft gegenüber zu positionieren, behauptet sich darin; die eher passiven, auf den Zusammenhang fokussierten Konnotationen des Erkennens bleiben ausgeschaltet, jene, die in der Lage wären, die Einheit des Gegensätzlichen wahrzunehmen.

Die Vorstellung vom Subjekt überdenken

Dabei muss das Schema nicht erfunden werden, steckt Abhängigkeit, wie es lyrisch heißt, doch in allem. „Klein“ oder „alt“ sein, das organische Modell des Lebens ist ohne Abhängigkeit nicht zu denken. Desintegriert, wird sie zur besonderen Aufgabe, gesellschaftlich zum Projekt. Zum Schibboleth der postmodernen Gesellschaft aufgerüstet, ist sie ein Fake wie alles, was die Gesellschaft auf das Subjekt hin konstruiert. Hilflosigkeit, ein Produkt nicht zuletzt der gedanklichen Bearbeitung, zeugt von Zuspitzung und Abspaltung.

Im Bild der Menschen im fernen Afrika, die sich um die wie aus dem Nichts aufgetauchten Getreidesäcke scharen, scheint auf, was Freud im Auge hatte, als er das „Weg-Da“-Spiel analysierte. Die Pointe besteht in der Gleichheit der antagonistischen Alternativen: Auch wenn die Lieferung stattfindet, könnte sie ebenso gut ausbleiben. Nicht anders ist es mit dem Strom, der in den entwickelten Ländern aus der Steckdose kommt. Im Gegenteil, je automatisierter die Versorgung, desto plausibler die Vorstellung, dass sie jederzeit unterbrochen werden kann. Durchtrennte Kabelbündel dokumentieren die Hinfälligkeit ausgerechnet jenes Unterschieds, der der sprichwörtliche Unterschied ums Ganze ist.

Im „Weg-Da“-Spiel des Kindes, das das Verschwinden der Mutter nachstellt, wird der von allen Bezügen getrennte Vorgang zum Rätsel. So kann er endlos nachgespielt werden. Erwachsen wäre es, der Rätselbildung entgegenzuwirken. Wenn kontingente Verhältnisse über Sein und Nichtsein eben jenes Subjekts entscheiden, das über Sein und Nichtsein der Verhältnisse entscheiden müsste, dann bietet es sich an, die Vorstellung vom Subjekt zu überdenken. Will es nicht bloß ein durch Empörung oder Bedauern geadelter Teil der Verhältnisse sein, bleibt ihm nur, sich entschlossen in die gesellschaftliche Beschaffenheit, aus der es herausragen möchte, hinein- und zurückzudenken. Die Verkleinerung der eigenen Position wird mit der Erweiterung des Blickwinkels belohnt werden.

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„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Oben     —   Die fünf Sinne, Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken

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Messenger-Apps:

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Juli 2023

Bauanleitung für plattformübergreifende Chats

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von       :       

Große Tech-Konzerne wie Meta und Google haben gemeinsam einen offenen Standard für Messenger-Verschlüsselung erarbeitet. Er könnte künftig den Nachrichtenaustausch zwischen verschiedenen Apps ermöglichen. Wichtige Fragen sind aber noch ungeklärt.

Ein neuer Standard könnte revolutionäre Änderungen für Messenger-Apps bringen. Er ermöglicht verschlüsselte Gruppenchats mit tausenden Teilnehmenden und erlaubt mehr Sicherheit auch bei kompromittierten Mitgliedern. Mehr noch: Als offizieller Standard hat Messaging Layer Security (MLS) gute Chancen, eines Tages die Grundlage für den Austausch verschlüsselter Nachrichten zwischen Nutzer:innen unterschiedlicher Apps zu bilden.

Diese Woche hat die Standardisierungsorganisation IETF das Protokoll in seiner endgültigen Fassung veröffentlicht. Gut fünf Jahre lang arbeiteten Expert:innen aus Unternehmen wie Cisco und Meta mit Forscher:innen aus Oxford oder dem französischen INRIA-Institut daran. Beteiligt waren auch Mitarbeiter:innen von Mozilla, Google, Amazon und Apple.

Das neue Protokoll ist „wirklich eine Gruppenleistung der akademischen Gemeinschaft und der Industrie“, sagt Raphael Robert von der Berliner Softwarefirma Phoenix R&D, der ebenfalls daran mitgearbeitet hat. Dass Konzerne, die einander sonst erbitterte Konkurrenz liefern, zusammengearbeitet haben, spricht aus seiner Sicht für den neuen Standard.

Bauanleitung für Chats über Plattformgrenzen hinweg

Von der IETF abgesegnete Protokolle sind die Grundlage des Internets. Das TCP/IP-Protokoll sorgt etwa dafür, dass Computer unabhängig vom Hersteller oder Betriebssystem Datenpakete über Netzwerke miteinander austauschen können. Ähnlich ermöglicht das HTTP-Protokoll unter anderem das Laden von Websites oder IMAP den Zugriff auf E-Mails. Doch für moderne Messenger-Dienste wie WhatsApp, iMessage oder Signal fehlte bislang ein vergleichbarer offener Standard.

Für Ende-zu-Ende-verschlüsselte Messenger wie WhatsApp, iMessage oder Signal gilt das Prinzip: Nachrichten werden vor dem Versenden verschlüsselt und erst nach dem Empfang entschlüsselt. Das stellt sicher, dass selbst der Betreiber einer App keinen Zugriff auf den Nachrichteninhalt hat. Das neue MLS-Protokoll ist quasi eine Bauanleitung dafür, wie diese Verschlüsselung für viele Nutzer:innen und über Plattformgrenzen hinweg funktionieren kann.

Warum Konzerne wie Google und Meta, sonst erbitterte Konkurrenz, dafür zusammenarbeiten? Bislang nutzen Messenger wie WhatsApp und Skype für ihre Ende-zu-Ende-Verschlüsselung das Signal-Protokoll, dass von Gründern der Messenger-Apps Signal entwickelt wurde. Dieses gilt als „Stand der Dinge“ in der Branche, allerdings sei es kein offener Standard, sagt Raphael Robert.

Der Entwickler sieht klare technische Vorteile von MLS, welches das Signal-Protokoll ablösen soll. Denn im Gegensatz zum Signal-Protokoll bewältige MLS große Gruppenchats kryptografisch viel effizienter, damit spare das Protokoll Rechenleistung und Bandbreite. Was bisher technisch schwierig war, werde dadurch möglich, heißt es von den Entwickler:innen: Verschlüsselte Gruppenchats für tausende, vielleicht sogar zehntausende Teilnehmer:innen.

Bei WhatsApp sind Gruppen bislang auf 1.024 Teilnehmende beschränkt, bei Telegram sind Gruppenchats nicht Ende-zu-Ende-verschlüssselt. Mit dem neuen Protokoll hätten die Konzerne innerhalb der IETF etwas geschaffen, was vermutlich „in der Reife keine Firma alleine hätte erarbeiten können“, sagt Raphael Robert.

Wie die Firmen das MLS-Protokoll nun in ihre eigenen Produkte einbauen, ist noch offen. Vor allem Meta lässt sich bislang nicht in die Karten schauen. Einzelne Anbieter haben allerdings bereits gehandelt, Cisco hat etwa eine Entwurfsversion von MLS bereits in seine Meetingsoftware Webex integriert. Auch Google, das in der Vergangenheit immer wieder mit eigenen Messengerprojekten gescheitert ist, könnte mit MLS einen neuen Anlauf unternehmen.

Puzzlestück für die Messenger-Öffnung

Das MLS-Protokoll ist unterdessen ein wichtiges Puzzlestück für Bestrebungen der Europäischen Union, große Messengeranbieter zur Öffnung ihres Dienste zu zwingen. Das hat die EU im Digitale-Märkte-Gesetz festgeschrieben. Wer einen der großen Messenger nutzt, soll künftig auch Nachrichten von einem anderen Messenger empfangen können.

Im Visier der EU ist dabei insbesondere WhatsApp: Die App des Meta-Konzerns ist weltweit auf rund zwei Milliarden Geräten installiert – viele Menschen kommen im Alltag bislang nicht an ihr vorbei. Indem die EU den freien Nachrichtenaustausch zwischen verschiedenen Apps erzwingt, will sie den Wettbewerb stimulieren und kleineren Anbietern helfen.

Einige dieser Anbieter wie Signal und Threema warnen allerdings, der Nachrichtenaustausch über Plattformgrenzen sei ein Sicherheitsrisiko, ein Konzern wie Meta könnte dadurch außerdem Zugang zu noch mehr Nutzer:innendaten erhalten. Die technische Methode, wie die Interoperabilität zwischen Messengern umgesetzt wird, hat womöglich große Auswirkungen auf Datenschutz und IT-Sicherheit.

Während etwa Signal seinen Nutzer:innen verspricht, möglichst wenige Daten zu sammeln und diese sobald als möglich zu löschen, sammelt WhatsApp die Metadaten seiner Nutzer:innen. Das bietet ein mögliches Einfallstor für Überwachung durch US-Geheimdienste. Auch gibt es seit längerem Befürchtungen, dass Meta die Metadaten von WhatsApp-Nutzer:innen für Werbezwecke nutzen könnte.

Das MLS-Protokoll lässt es denjenigen, die es in ihre Messenger implementieren, grundsätzlich offen, ob und wie viele Metadaten sie speichern wollen, erklärt Raphael Robert. Eine weitere IETF-Arbeitsgruppe, an der Robert ebenfalls mitarbeitet, soll nun offene Fragen zu Interoperabilität wie den Umgang mit Metadaten klären. Ziel sei es, einen Standard mit den „stärksten nutzbaren Sicherheits- und Privatsphäreeigenschaften zu erreichen“. Ob das gelingt und dann auch bei WhatsApp und anderen großen Apps zum Einsatz kommt, ist allerdings noch offen.

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Juli 2023

Entgleisungen der Woche:  –  Rhetorische Peniskanonen

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Durch die Woche mit Ariane Lemme

Diskursiv wurde scharf geschossen. Manche wurden sogar handgreiflich diese Woche. Zeit für einen Streik.

Erst wollte ich heute eigentlich streiken. Aus Solidarität mit den Drehbuchautoren in Hollywood. Ich fühle mit ihnen, nicht nur weil sie – wie ich, wie wir alle hier – verdammt noch mal viel mehr Kohle verdient haben, als sie bekommen. Die Dreh­buch­au­to­rin­nen aber natürlich ganz besonders, sie sind die letzten, die uns auf diesem abgefuckten, von Mansplainern, Klimaleugnern und anderen Penis­kanonen geebneten highway to hell ein wenig Ablenkung und Erheiterung verschaffen.

Also schreibe ich Ihnen heute doch was, auch wenn ich mich frage, ob Arbeit in dieser dem Untergang geweihten Welt überhaupt noch sinnvoll ist. Vielleicht nicht mit so vielen Cliffhangern wie bei den Genossen aus Hollywood, dafür aber auch keine mehrteiligen Epen. Ich hatte, anders als die schreibende Hollywood-Hautevolee, bayerische Grundschullehrer, die meine ausufernden Aufsätze grässlich fanden. Seitdem fasse ich mich kurz.

Die Serie, die ich diese Woche ge­binget habe, war sowieso keine Hollywoodproduktion, sondern eine aus dem Hause Realitydrama: die Klebeaktionen der Letzten Generation und die me­dia­le Schmonzette darüber – Stichwort: Urlaubsbeginn versaut! Verstehen Sie mich nicht falsch, ich gönne uns allen Urlaub. Ich gönne den Kindern der jetzt Empörten aber auch eine Zukunft auf diesem Planeten außerhalb kühler Erdlöcher.

Schuld an der Verrohung

Schwer zu guckender Höhepunkt des Dramoletts: der völlig enthemmte Lastwagenfahrer, der zwei Ak­ti­vis­t:in­nen erst brutal von der Straße zerrt und dann einfach losfährt, obwohl sie wieder auf der Straße sitzen. Ob er das sehen konnte oder nicht, ob man das versuchten Mord oder fahrlässige Körperverletzung nennen soll, kann ich nicht beurteilen, ich bin kein Jurist. Immerhin musste er seinen Führerschein abgeben. Hoffentlich für immer.

Was ich weiß: An einer derartigen Verrohung hat nicht nur die böse Springer-Presse Schuld, sondern auch die Bundesregierung, die ihre sich selbst gesteckten Klimaziele nicht nur von innen heraus torpediert, sondern es auch nicht schafft, diesen friedlichen Protest mit seinen zum Weinen geringen Forderungen (Tempolimit, 9-Euro-Ticket, ein Gesellschaftsrat) einzuhegen. Die dumme Rede davon, dass man alle mitnehmen müsse, könnte sie sich sparen, wenn sie einfach ihre eigenen Vorhaben umsetzen würde, statt zuzulassen, dass die, die sie daran erinnern, kriminalisiert werden; oder entmenschlicht wie vom FDP-Bundestagsabgeordneten Frank Müller-Rosentritt, der im Bezug auf die Letzte Generation von „totalitärem Abschaum“ twitterte.

Kamen nicht Politiker der FDP aus der untersten Gosse, welche das Glück hatten, beim letzten Regenschauer nicht weggespült zu werden ?

Die Empörten könnte die Politik abholen, indem sie ihre Vorhaben kraft ihrer rhetorisch geschulten ­Superpower als sinnvoll, ja notwendig erklärte und außerdem Geld in sozialen Ausgleich pumpte. Herrgott, bei Corona ging es doch auch.

Alle mal abkühlen

Doch statt die erhitzten Gemüter zu kühlen, was ihr Job wäre, feuert die Politik – zumindest die in Berlin (schon klar, andere Koalition, sogar ohne FDP) – einen neuen Knaller ab: Schließung einiger Freibäder nach Gewaltvorfällen. So nimmt man garantiert niemanden mit. Klar, eine kleine Gruppe Nervensägen darf den friedlichen Rest nicht in Mitleidenschaft ziehen. (Wenn Sie hier Vergleiche zur Letzten Generation ziehen, denken Sie bitte noch mal nach.) Aber das bisschen Abkühlung steht allen zu.

Quelle          :            TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 17. Juli 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Verkehrs-, Freibad- und Hollywood-Chaos. – Nur Ärger im Sommer – Die Hollywood-Autor*innen kämpfen für mehr Lohn, die Fahr­rad­fah­re­r*in­nen ums Überleben im Straßenverkehr und die Freibad-Gäste: gegeneinander.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: „Geächtete“ Streumuniton.

Und was wird besser in dieser?

„Umstrittene“ Streumunition.

Was ist wahrscheinlicher? Die Türkei in der EU oder Schweden in der Nato?

Hier tritt Platz 4 gegen Platz 165 der Pressefreiheits-Charts an, die Reporter ohne Grenzen erstellt. Schweden erkauft den Nato-Beitritt mit Verzicht auf Liberalität; die Türkei wäre noch eine Autokratie mehr in der EU. Beide Organisationen wachsen – weniger Werte, mehr Gemeinschaft. Derzeit eher ein Militär- und Wirtschaftsbündnis, die beide ihre „Werte“ auf bessere Zeiten vertagen.

Die Nato nickt geächtete Waffen ab, die EU erduldet autoritäre Regime. Das Ideal, man werde die Radikalen in den Bündnissen langfristig bezähmen, steht gegen die Sorge, selbst fortgerissen zu werden. Lieben Gruß von Deutschland, dem nur noch 21. Platz im Pressefreiheits-Ranking.

Der Kollege Arno Frank identifizierte kürzlich im Freibad „Kennzeichen öffentlicher Räume, wie es sie in dieser Fülle und Zugänglichkeit wohl kein zweites Mal gibt“. Sind Freibäder also nicht genau der richtige Ort, um Debatten zu provozieren?

Mal so vom Zehner geguckt: Bademeister-Bashing und Prügeleien im Nichtdenker-Becken haben schon viel Ähnlichkeit mit manchen Demos, die unter Pegida, Corona, „Merkel muss-weg“ und anderen Labels liefen: Ein kollektiver Schrei nach Autorität. Gemeinsames Aufbegehren gegen „die da oben“. Die realen Autoritäten werden provoziert, getestet, ramponiert – auf der Suche nach dem, „der mal richtig mit der Faust auf den Tisch haut“.

Rechte Wutbürger kann man nicht besser beleidigen als damit, ihre Nähe zu Clans und Parallelgesellschaften aufzuzeigen. Deshalb sollte das hier unter uns bleiben. Das sind vordemokratische Strukturen; also Leute, die noch nicht im langweiligen halbtollen Kompromiss angekommen sind. Hoffentlich vordemokratisch, weil: postdemokratisch wäre schlimm.

Die Zahl der Verkehrsopfer in Deutschland ist laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2022 gestiegen. Was muss sich dringend ändern?

Mal wieder Corona? Der Anstieg um 9 Prozent wird mit der wieder erhöhten Fahrleistung erklärt. Zugleich sank die Zahl der Verkehrsopfer seit 1968 in Deutschland um 90 Prozent. Dazwischen lagen Tempolimits, Promillegrenzen, Gurtpflicht und technische Verbesserungen wie Airbags, Bremssysteme, Knautschzonen.

Also alles, was keinen Spaß macht. Gute Verkehrspolitik wäre also gekonntes Spaßverderben. Ein langer Weg, wir kommen von „Freie Fahrt für freie Bürger“ (FDP) und „Freude am Fahren“ (BMW). Ziel wäre „Umparken im Kopf“ (Opel). Das ist dunkle Pädagogik: Verbot, Strafe. Lustverlust. Ich habe keinen Alternativvorschlag, „immer mehr Menschen überleben den Straßenverkehr“ klingt ein bisschen verzagt.

Carsten Linnemann wird von Friedrich Merz zum neuen CDU-Generalsekretär gekrönt. Ist das nur ein Personal- oder auch ein Paradigmenwechsel?

Friedrich Merz’ Gesamtbeglückungsstrategie – ein Ossi und eine Frau in Reserve – sollte irgendwie alles sein und war offenbar nichts. Die CDU hat seit circa Heiner Geißler konsequent gegen die Jobbeschreibung besetzt: Man braucht Zuspitzer und Polemiker, damit der Parteivorsitz umso präsidialer auftreten kann. Die Union dagegen verschliss Parteiseelsorger von Hintze, Pofalla, Tauber bis Ziemiak.

Wenn mal eine Merkel oder Kramp-Karrenbauer dazwischen war, wurde es für deren Chefs gleich ungemütlich. Linnemann ist nun Mann, West, Wirtschaft wie Merz selbst; ob er zuspitzt und gut organisiert, wird sich zeigen. Bereits erkennbar dagegen: Merz meint, ein Methadonprogramm für Merkelianer nicht mehr zu brauchen.

Nach dem Au­to­r*in­nen­streik in Hollywood folgen jetzt die Schauspieler*innen. Sie fordern unter anderem höhere Löhne. Werden bald sowieso alle durch KI ersetzt?

Quelle        :           TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Bearbeitung durch User: Denis_Apel –

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Streik in Prato – Florenz

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Juli 2023

Italien: Die Ciompi in Florenz – Den Aufstand denken

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von               :      Anonymous

Zu Besuch an den Toren der Mondo Convenienza. Die roten Fahnen der Basisgewerkschaft Si Cobas zieren die Allee.

In der Via Gatinella in Prato, einem Industrievorort von Florenz, haben sich Streikposten vor dem Warenlager des Küchenlieferanten Mondo Convenienza eingerichtet. Das Haupttor ist für den Lieferverkehr gesperrt. Ein Seitentor wird aufgeworfen. Bei Einbruch der Dämmerung verlassen die Chefs und Manager in Kolonne das Grundstück. Ein paar Tage vorher reisten die Oberen des Küchen- und Möbellieferanten aus ganz Italien nach Bologna. Ein Manager aus Florenz steuerte einen Lieferwagen in die dortige Mahnwache der SI Cobas und verletzte einen 50-jährigen Kollegen schwer. 12 weitere Chefs prügelten dann auf die ArbeiterInnen ein und verteilten Morddrohungen.Vor dem Tor wird ein weisses Tuch als Sitzgelegenheit für das Abendessen ausgebreitet. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite wird unterdessen ein Open-Air-Kino aufgebaut. Dort treffe ich Agnès Perrais und Alessandro Stella. Agnès Perrais ist eine Filmkünstlerin aus Paris. Ihr neuer Dokumentarfilm über den Ciompi-Aufstand des 14. Jahrhunderts aus dem benachbarten Florenz hat an diesem Abend seine Premiere in Italien. Die grosse anarchistische Mystikerin des 20. Jahrhunderts, Simone Weil, nannte diesen Aufstand aus dem Jahr 1378 den ersten veritablen Arbeiteraufstand der Geschichte.

Alessandro Stella war aktiv in der Arbeiterautonomie, einer Bewegung von Dissidenten, die sich in den 70er Jahren bis in die kleinsten Dörfer um freie Radiosendungen und schicke Zeitschriften herum organisierte. Hinter dem Begriff der Autonomia steht die Einsicht, dass die Befreiung das Werk der ArbeiterInnen selbst sein muss. Im Jahr 1976 traf er die Entscheidung für den bewaffneten Kampf. Über Mexiko ging er Anfang der 80er Jahre ins Exil nach Frankreich. Heute arbeitet Stella als Historiker und ist Forschungsdirektor am CNRS in Paris.

Es geht los. Die Mannschaft hat sich vor der Leinwand versammelt. Die Zikaden halten den Atem an. Popcorn wird gereicht. Die Blätter der Bäume rahmen das Bild. – Ciompi – Es ist ein Film über die Stadt. Ein Film über die harte Arbeit einer rechtlosen Unterschicht. Gedreht wurde der Film mit einer Super-8- und einer 16-mm-Kamera. Der Blick von Agnès Perrais auf die urbane Landschaft ist lyrisch und zart. In sorgfältig komponierten Montagen wechselt die emotionale Intensität florentinischer Fresken mit Strassenszenen aus dem Florenz des 21. Jahrhunderts. Schlachtrufe kämpfender ArbeiterInnen wehen durch die Gassen. Der Rhythmus der Maschinen in einer Textilfabrik folgt mit seinem strengen Takt.

Im Hintergrund führt die rauchige Stimme von Alessandro Stella chronologisch durch die Geschichte des Aufstands. In für zeitgenössischen Film langsam anmutenden Sequenzen zeigt uns der Film die zeitgerechte Schönheit von Florenz. Kontrastiert wird die Geschichte der Ciompi – der Florentiner Arbeiter in der Kleidungsindustrie – mit Aufnahmen des 9-monatigen erfolgreichen Streiks der Si Cobas aus dem Jahr 2021 bei Textprint, einer Textilfabrik in Prato. Im gleichen Jahr wurde die Textilarbeiterin Luana D’Orazio aus Prato, Mutter von 5 Kindern, mit 22 Jahren von einer Maschine bei der Arbeit in den Tod gerissen. Ich lausche und werde unmerklich an Walter Benjamins Betrachtung „Der Erzähler“ erinnert. Ich schaue über meine Schulter. Ich sitze inmitten der Streikenden. Männer mit muskulösen Oberarmen in der hintersten Reihe.

Alle Augen sind auf die Leinwand gerichtet. Hier wird eine Geschichte erzählt. „Immer häufiger verbreitet sich Verlegenheit in der Runde, wenn der Wunsch nach einer Geschichte laut wird“, schreibt Walter Benjamin. „Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräusserlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen.“

Die historische Erfahrung, die der Film vermittelt, wird gesprochen von einem Alten des Aufstands, vor kämpfenden ArbeiterInnen. Doch es sind unsere eigenen weltlichen Erfahrungen als ArbeiterInnen, die hier durch den Abstand der Geschichte hindurch mit sanftem Pathos in die Perspektiven der Stadt eingewoben werden. Das Unterste, die Klassenkämpfe in der Stadt, die Mühsal der Arbeit, wird dabei nach oben gekehrt. Die ArbeiterInnen kommen zum Vorschein und beleben mit ihren Schreien und Aktionen die historische Landschaft. Es wird klar, dass das hier, was erzählt wird, ist unsere Zeit.

In traumhaften Sequenzen entsteht mit der Erzählung des erfolgreichen Streiks der Si Cobas eine Utopie zur Zukunft hin. Und Utopie, das ist der Traum einer Sache, dem nur das Bewusstsein fehlt, um sie wirklich zu haben. Mit die schönsten Aufnahmen gelingt – Ciompi – von der Piazza Tasso in Florenz und den umliegenden Strassen. Die typischen Häuser der Ciompi mit zwei bis drei Stockwerken und einem kleinen Hinterhof finden sich dort. Gleich neben der Piazza Tasso liegt der Landschaftsgarten Torrigiani aus dem 18. Jahrhundert im englischen Stil. Damals wie heute ist der Besuch des Gartens den reichen Familien der Florentiner Hierarchie gestattet. Oder man hat das Glück, eingeladen zu werden. Florenz wird von der Sozialdemokratie regiert.

Die Aufnahmen von Florenz sind teilweise bis zu 5 Jahre alt. Mittlerweile hat sich das Stadtbild jedoch weiter verändert. Das ehemalige Arbeiterviertel um die Piazza Tasso wurde innerhalb weniger Jahre gentrifiziert. Es gibt kaum noch eine Ecke in der Innenstad, in der nicht irgendetwas verkauft oder gehandelt wird. Noch vor Covid sammelten sich Jugendliche auf zentralen Plätzen in der Innenstadt, um gemeinsame Abenteuer auszuhecken. Das ist weitgehend Vergangenheit. Restaurants und Absperrungen prägen heute das Bild.

Die Jugendarbeitslosigkeit ist zwar mit 20% noch hoch, doch kein Vergleich zu den 30% von vor 5 Jahren. Zudem hat die faschistische Regierungschefin Meloni kürzlich einen während Covid aufgelegten Sozialfonds für arbeitslose Jugendliche gestrichen. Die Jugend leidet gerade wohl am meisten unter der faschistischen Rhetorik, die das gesamte Land von Links bis Rechts in einer Art Erziehungsanstalt für die Werte von Arbeit und Familie verwandelt. Doch dass der Kapitalismus in Italien durch Repression und Moralpredigten wieder an Dynamik gewinnt, ist unwahrscheinlich.

Der italienische Staat hat zusammen mit Griechenland die höchste Verschuldung in der Eurozone. Gleichzeitig ist das Vermögen italienischer Haushalte gestützt auf den Immobilienbesitz und damit weitgehend fiktiv. Mit dem Anstieg der Zinsen für Hypotheken wird es schwieriger für ArbeiterInnen der sogenannten Mittelschicht, Schulden gegen das eigene Haus aufzunehmen, um flüssig zu bleiben. Es gibt Inflation und stagnierende Löhne. Ein „guter“ brutto-Arbeiterlohn steht bei 1600 Euro pro Monat. Ein gutes Gehalt der oberen Mittelschicht bei 3000 Euro. Die Steuerbelastung beträgt gut 60%. Die Mieten steigen.

Die streikenden ArbeiterInnen von Mondo Convenienza schleppen Küchen 6 Tage die Woche für bis zu 14 Stunden am Tag bei einem Stundenlohn von 6 Euro. Sie verdienen dabei 1149 Euro pro Monat. Ohne angemessene Ausrüstung, bezahlte Überstunden und ohne Beachtung des Arbeitsschutzes. Die Löhne der TextilarbeiterInnen von Textprint lagen bei 3 Euro pro Stunde. Sie arbeiteten 7 Tage die Woche. Drogen, um durchzuhalten, gibt es bisweilen frei Haus.

Als die Bosse das Gelände von Mondo Convenienza verliessen, standen wir aufrecht und schwiegen. Ein junger Arbeiter wandte sich ab. Ich sehe Hass, Abscheu. Im Jahr 2021 wurde der Gewerkschaftler Adil Belakhdim bei einer Blockade von einem durchbrechenden Lkw in einem Industriegebiet der Stadt Novara im Norden von Italien getötet. Im Jahr 2022 wurden die Arbeitskämpfe der SI Cobas des Terrorismus angeklagt und Gewerkschafter aus Piacenza unter Hausarrest gestellt. Dabei fordern die SI Cobas nur, was ohnehin schon ein Mindeststandard im nationalen Arbeitsgesetz ist. Doch das Arbeitsgesetz wird systematisch umgangen. Die Wirtschaftsmacht Italiens basiert auf kleinen und mittelständischen Unternehmen, die vor allem in der Mitte und im Süden Italiens und konzentriert in bestimmten Branchen, wie der Logistik und der Landwirtschaft, mit informeller Beschäftigung konkurrieren. Ein reguläres Lohnniveau können sich viele dieser Firmen nicht leisten.

Angesichts des ganzen Schlamassels denken sich manche Rezensenten der Dokumentation im bürgerlichen Kulturbetrieb eine Welt ohne Arbeit, und vor allem bitte ohne Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie rutschen auf den Stühlen und finden, sie hätten keine Zeit für diese Geschichte. Andere sind der Meinung, der Ciompi-Aufstand solle für den Tourismus aufgearbeitet werden. Wieder andere warnen vor der im Film porträtierten Gewalt. Doch mit – Ciompi – hat Agnès Perrais ein intellektuell stimulierendes Werk geschaffen, das uns dazu ermutigt, den Aufstand in der Jetztzeit neu zu denken.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —       Il tumulto dei ciompi by Giuseppe Lorenzo Gatteri (18 September 1829 – 1 December 1884)

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Noch schlimmer geht immer

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Juli 2023

Der NDR-Rundfunkrat macht’s vor: Caren Miosga wird die neue Anne Will

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Es ist passiert. Caren Miosga, bisher Tagesthemen-Moderatorin, wird Anne Wills Nachfolgerin und übernimmt vom nächsten Jahr an deren Sendeplatz sonntags um 21.45 Uhr. So beschlossen und verkündet von der NDR-Rundfunkratsvorsitzenden Sandra Goldschmidt.1

Der Vertrag über 60 Folgen der Sendung in den kommenden beiden Jahren – Arbeitstitel: „Miosga“ – ist unter Dach und Fach. Zugleich mit dieser Personalie teilte der NDR-Rundfunkrat mit, dass er zwei weitere Programmbeschwerden gegen Sendungen der Tagesschau abgelehnt habe, von deren Inhalt das Publikum natürlich nichts erfährt. Wie eh und je. Transparenz ist nicht. Wo kämen wir sonst hin mit dem
öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Welchen Millionenbetrag der NDR-Rundfunkrat für das sonntagabendliche Gelaber samt transatlantischer Einstimmung auf den erwünschten Krieg diesmal zum Fenster hinaus und der Moderatorin Miosga hinterherwirft, wird natürlich ebenfalls nicht mitgeteilt. Für
Anne Will waren es mindestens 2 600 Euro brutto pro Sendeminute.

2.) Günter Jauchs unverschämte 4 500 Euro Bruttohonorar pro Sendeminute#

3.)  erzielte sie damit nicht, aber ist noch dicke genug. Miosga wird mit Anne Will Vergleichbares abgreifen. Mehr dazu am Schluss dieses Artikels.

Was Miosga den Rundfunkbeitragszahler sonst noch kostet, weiß man hingegen genau: Wertvolle Lebenszeit, die er wesentlich sinnvoller verbringen könnte, ohne den Zaungast beim albernen Polittalk zu spielen.

Der NDR-Rundfunkrat sieht das natürlich vollkommen anders. Seine Vorsitzende Sandra Goldschmidt umkränzte die Entscheidung für Miosga mit Lob und Selbstlob:

„Nach 16 erfolgreichen Jahren der Sendung ‚Anne Will‘ soll der Sonntagsplatz mit einer neuen Moderatorin und einem überarbeiteten Konzept in die Zukunft gehen. Der NDR hat mit Caren Miosga eine erfahrene und versierte Journalistin für diese Aufgabe gewonnen. Frau Miosga verfügt über eine große Popularität, hohe Sympathiewerte und ist bekannt für ihre ebenso charmant wie hartnäckig geführten Interviews in den ‚tagesthemen‘.“

4.) Von „hartnäckig geführten Interviews“ scheint der Rundfunkrat eine recht eigenwillige Vorstellung zu haben, wenn ihm dabei ausgerechnet Miosga einfällt. Näheres wollen wir nicht wissen. Wie das „überarbeitete Konzept“ konkret aussieht, mit dem die Sendung „in
die Zukunft gehen“ soll, hätte uns hingegen schon aus professioneller Wissbegierde interessiert. Das aber verschweigt die NDR-Aufseherin Goldschmidt. Von wegen Transparenz. Wie eh und je.

Miosga soll es wuppen. Im Land der Dichter und Denker brauchen wir halt wie Schiller selig unsere faulen Äppel in der Schublade, sonst kriegen wir den genialen Durchblick nicht. Heißt heutzutage: mit Caren Miosga „mehr Qualitätsjournalismus wagen“.
Flachbildschirmgerecht, versteht sich. Wie eh und je. Vom Moderieren und vom Quasseln Moderierte Nachrichtensendungen – und als deren Verlängerung auch die politischen Talkshows – sind ein nach Deutschland geschwappter US-typischer Mix aus seriösem TV-Journalismus und Show-Business, von den Akteuren oft mit eigenen Politambitionen verbunden. Nach unserer (zugegeben: sehr beschränkten) Kenntnis dürfen Sarah Palin5 und Tucker Carlson6 als prägende Beispiele 7 genannt werden. Genre-Vertreter wie sie haben nicht die geringsten Hemmungen, in jeder denkbaren Weise abzusahnen.

Dieser kulturelle Segen aus USA hatte seinen entsprechenden Einfluss auf unsere deutschen Mattscheiben-Größen: „Talk“, selbstdarstellerisches Geschwafel, statt informativer Gedankenaustausch. Wie ihre US-Kollegen sind auch viele deutsche TV-Moderatoren Millionäre, mehr Unternehmer als Journalisten. Jahrmarktgrößen mit Kultstatus. Manche pflegen enge Beziehungen zum US-Lobby-Verein Atlantikbrücke.

8.) Was Caren Miosga aus ihrer Rolle als Talkmasterin macht, wird sich nächstes Jahr zeigen. Wie sie ihre Aufgabe als Tagesthemen-Moderatorin erfüllt, durchleiden wir schon seit 16 Jahren, insbesondere ihre methodische Vorwegnahme und Interpretation dessen, was in
der anschließenden Filmreportage berichtet wird – Bauchlandung nicht ausgeschlossen. Zwei Beispiele sollen der Nachwelt erhalten bleiben: Am 17. November 2017 wechselte Miosga vom Thema „Berliner Sondierungsgespräche über eine Jamaika-Koalition“ (Schwarz-Grün-Gelb) in steiler Gedankenkurve zum Thema „Bonner UN-Klimakonferenz“:

„Dass Jamaika überlebt, und zwar im buchstäblichen Sinne, darum wird gerade in Bonn auf der Weltklima-Konferenz gerungen.“ Und – platsch – die Offenbarung des eigenen Bildungsnotstands: „Denn auch die Karibikinsel wird vom steigenden Meeresspiegel bedroht.“

9.)  Tja. Da war das Tagesthemen-Servierfräulein wohl nicht ganz „auf der Höhe“. Die Insel Jamaika hat Steilküsten mit bis zu 500 Metern. Sie ist ein großenteils gebirgiges Fleckchen Erde. Mit einem Blick in den Atlas hätte die ARD-aktuell-Spitzenmoderatorin erkennen können, dass der Commonwealth-Splitter Jamaika vom steigenden Meeresspiegel sicher weniger bedroht ist als vom anglo-amerikanischen Neokolonialismus.

Aber da ist der tiefernste Blick unserer Pippi Miosga! Mit dem sie die meeresspiegelbedrohte „Welt“ vorstellt! Und ist die nicht willig, dekretiert Miosga dieLösung:

„Die Welt will und muss etwas tun, um die Erderwärmung zu begrenzen.“ (ebd.)

Jawoll, jetzt muss sie mal ran, die Welt. Bloß so im All rumeiern bringt‘s nicht mehr. Wegen „Erderwärmung“. Das Wort verwenden sprachlich notleidende Journalisten als bedeutungsgleichen Ersatz für „Klimaveränderung“. Die Erde erwärmt sich schließlich nicht, sondern kühlt in ihrer Gesamtheit ab10. Ihr flüssiger Kern glüht ja immer noch bei circa 5000 Grad Celsius. Nur die Lufthülle der Erde heizt sich auf.

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Klein Erna weiß das natürlich, in der Grundschule wurde das durchgenommen. Müsste eine erwachsene Wunderlampen-Moderatorin solch Basiswissen nicht ebenfalls draufhaben und sich entsprechend korrekt ausdrücken können? Müsste sie – nicht aber die ARD-aktuell-Blume Miosga. Mit Zitronen gehandelt

Oft und oft haben wir‘s schon vorgebracht: Sprache ist ein Spiegel des Denkens. Freilich, nonverbales (wortloses) Denken gibt´s auch. Das lassen wir hier mal beiseite. Wir begutachten das unter Moderatoren verbreitete Gegenteil, das Sprechen ohne Denken. Im vorliegenden Fall ohne Unterscheidung von Erde und Atmosphäre. Macht ja nichts, ist eh alles wurscht, und Putin muss sowieso weg.

Bedauerlich, dass wir auch für den Moderatorenunfug Rundfunkbeitrag zu zahlen haben, obwohl das Geld laut Gesetz (Medienstaatsvertrag) nur für Sendungen zur Information, Bildung und Unterhaltung (in dieser Reihenfolge!) verwendet werden soll.

Doch Caren Miosga moderiert nun schon seit Mitte 2007. Wäre ein Hartwig von Mouillard11, wären der Tagesthemen-Gründer Dieter Gütt  oder sein Stellvertreter Günter Müggenburg zu jener Zeit noch Chefredakteur der ARD-aktuell gewesen, dann hätte die Frau den Job nicht lange behalten. Im Februar 2009 hatte sie eine Reportage über das „Zitronenfest“ in Menton anzutexten (wo die biblische Eva die ersten Zitronen gepflanzt haben soll), das jährlich eine Viertelmillion Touristen anzieht.  Mit Fasching hat das farbige Ereignis allenfalls indirekt etwas zu tun, weil zeitgleich im 30 Kilometer entfernten Nizza der „Carnaval de Nice“ stattfindet. Ansonsten wird in Frankreich eher
selten Fasching gefeiert.15 Miosga deutete das Zitronenfest einfach um und schöpfte dazutieferen Sinn:

„Was hat Karneval mit Zitronen zu tun? Ich sach (sic!) es Ihnen. Dass man als Beginn des Karnevals den Elften Elften gewählt hat, geht auf die Theorie zurück, nach der dafür die Anfangsbuchstaben des Mottos der Französischen Revolution herhalten mussten: Égalité, Legalité (sic!), Fraternité, zusammen: ELF. Indem sich die Städte Köln und Mainz über diese Worte lustig machten, rächten sie sich an ihren französischen Besatzern.“ Kann man unterstellen, Miosga habe diesen – unmotivierten – Schmarren über das „Motto“ der Französischen Revolution spaßig gemeint? Es spricht nichts dafür. Ist anzunehmen, dass jeder der zwei Millionen Tagesthemen-Gucker sofort erkennen konnte, dass sie puren, logikfreien Blödsinn verzapfte? Eher nicht.

Wenn sich eine Moderatorin wie Miosga den Stoff für ihren Aufsager schon von der Internetseite eines Karnevalsvereins holt, sollte sie wenigstens sauber abschreiben können. „ELF“ lässt sich aus den Anfangsbuchstaben der Französischen Revolution bilden: „Egalité, Liberté, Fraternité“ – „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“.

Die weltbekannte „Losung“ beginnt mit dem Wort „Liberté“, in dieser Reihung ergäben die Anfangsbuchstaben jedoch nur ein sinnloses „LEF“, nicht das erwünschte „ELF“. Karnevalisten allerdings dürfen sich jedes Zitat für ihre harmlosen Zwecke zurechtbiegen. Aber der Französischen Revolution in den Tagesthemen allen Ernstes ein – obendrein verfälschtes! – „Motto“ anzudichten, wie in der Miosga-Moderation geschehen, lässt arge Rückschlüsse auf die Autorin und das Niveau der Tagesthemen zu. Ihre Behauptung, das Wort „Legalité“ (= Rechtsstaatlichkeit!) sei Teil des revolutionären Schlachtrufs gewesen, ist ein Armutszeugnis.

Die Französische Revolution (1789) begann bekanntlich als Hungerrevolte gegen den reichen Adel. Ein „Motto“ hatte sie nicht. Erst 50 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille wurde das anfeuernde „Liberté, Egalité, Fraternité!“ zur Leitidee der revolutionären abendländischen Zeitenwende erklärt. Mit „Liberté“ am Anfang, Miosga! Ohne „Legalité“ in der Mitte!

Auch unter aller Würde

Wenden wir uns, auf dass man uns keinen Antifeminismus unterstelle, dem Moderator Ingo Zamperoni zu, dem Strahlemann von der „Atlantik-Brücke“, solide transatlantisch abgerichtet im Verlauf seiner beruflichen Aktivitäten in den USA. Am 3. Januar 2019, am Tag, an dem die Volksrepublik China eine Sonde auf der „dunklen Seite“ des Mondes gelandet hatte, brachte er diese Spitzenleistung der Weltraumtechnologie mit folgenden Worten aufs Tagesthemen-Tapet:

„Dass chinesische Machthaber keine Scheu vor Großprojekten haben, bewiesen sie schon mit dem Bau der Chinesischen Mauer. Nun kreisen ihre ‚All’-Machtphantasien um den Mond. Als Erste haben die Chinesen nun eine Sonde auf der Mondrückseite gelandet, auf der Seite also, die wir Menschen von der Erde ausnie sehen …“

Mag sein, dass Zamperoni mit diesen albernen Sprüchen und Wortspielereien ein USamerikanisches Durchschnittspublikum beeindruckt hätte. Aber ein deutsches? Seine Sätze offenbaren Nonchalance, Arroganz und einen frappierenden Mangel an Nachdenklichkeit – und Allgemeinbildung. Die „Große Mauer“, mehr als 21 000 Kilometer lang, war nämlich gerade nicht Resultat von „Allmachtphantasien“ ihrer
Auftraggeber. Im Gegenteil, sie war Ausdruck des Schutzbedürfnisses des chinesischen Kaiserreichs, speziell des Kaisers Qin Shihuan; sie spiegelt die Furcht, das Reich könnte (u.a. von den Mongolen) überrannt und sein Herrscher umgebracht werden.19 Qui Shihuan hatte bekanntlich auch angeordnet, sein Leben nach dem Tod in einer Grabstätte von Tausenden lebensgroßer Terrakotta-Soldaten beschützen zu lassen…

Zamperoni: „Chinesen haben eine Sonde auf der Mondseite gelandet, die wir Menschen nie sehen…“ Der Chinese im Unterschied zum Menschen? Die fragwürdige Formulierung war ihm wohl einfach nur so herausgerutscht. Aber das ist der Punkt: Er belegt einen
erschütternden Mangel an Gespür und transportiert eine dickfellige Gedankenlosigkeit, für die es keine Entschuldigung gibt. Moderatoren haben ausreichend Zeit, den vom Teleprompter abzulesenden Inhalt sorgfältig zu formulieren und auszufeilen, und sie werden dafür auch erstklassig bezahlt. Mindestens 11 000 Euro monatlich für maximal 12 Auftritte vor der Kamera und 120 Schreibmaschinenzeilen pro Tag.
Freilich, solche Zamperoni-Schlenker sind nur kleine aber bezeichnende Offenbarungen im TV-Nachrichten-Unwesen der Westlichen Werte-Gemeinschaft. Die kann sich einfach nicht damit abfinden, dass die Volksrepublik China – unter Führung der Kommunistischen Partei – mittlerweile Spitzenpositionen einnimmt: in der Erforschung des Weltraums, in der Grundlagenforschung, in den Schlüsseltechnologien, bei der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. Das wären Stichworte für angemessene Anmoderation zum Thema „Chinesische Mondsonde“. Dünkelhafte Wortspiele rund um den Schmähbegriff „Machthaber“ sind es nicht.

Wie es anfing und wo es endet

Wozu braucht eine Nachrichtensendung überhaupt Moderatoren? Warum genügt für die Präsentation der „Tagesthemen“ kein herkömmlicher Sprecher? Ursprünglich sollten die Moderatoren – anders als beim reinen Nachrichtenangebot der Tagesschau-Hauptausgabe 20 Uhr – „den Zuschauern ergänzende Informationen, übergeordnete Zusammenhänge und Hintergrundinformationen“ bieten.

So war ihre Aufgabe einst gedacht. Den Tagesthemen von heute ist das nicht mehr anzumerken. Nachrichten-Moderatoren gibt es im Ersten Deutschen Fernsehen seit 1978. Die bis dahin übliche „Tagesschau-Spätausgabe“ kurz nach 22 Uhr entfiel, statt ihrer wurden die
„Tagesthemen“ eingeführt, im wöchentlichen Wechsel präsentiert von Barbara Dickmann22 und Hanns-Joachim Friedrichs: sachlich, knapp, atmosphärisch dicht, journalistisch sauber und sprachlich präzise; ein seriöser, anschaulicher Faktenrahmen, hilfreich zur Einordnung des Weltgeschehens. Die Naheinstellung von beiden Moderatoren beherrschte den Bildschirm, Dickmann und Friederichs hampelten nicht in einer virtuellen Studiowelt herum, sie hatten nämlich dem Zuschauer tatsächlich „etwas zu sagen“.

Auch noch nach elf Jahren, im deutschen Schicksalsnovember 1989, machten Dickmann und Friedrichs die Tagesthemen zu einem informativen Ereignis, wie das Beispiel vom 9. November belegt. Vor der Kamera damals Hanns-Joachim Friedrichs: „Bundeskanzler Helmut Kohl ist heute Nachmittag um 15 Uhr in Warschau eingetroffen, zu einem sechstägigen offiziellen Besuch in Polen. Eine Reise, die
eine stürmische, für viele auch ärgerliche Vorbereitungszeit hatte, belastet durch Ungeschicklichkeiten bei der Zusammenstellung des Reiseprogramms, aber auch durch eine scharfe Kontroverse über den Beitrag des Kanzlers zur gemeinsamen deutsch-polnischen Erklärung zum Thema der polnischen Westgrenzen. Es ist zwar durch die Entschließung des Bundestages Klarheit geschaffen worden, gleichwohl hat man die Verkündung der ‚Gemeinsamen Erklärung’ erst einmal verschoben – auf den kommenden Dienstag. Aus Warschau berichtet Dierk Ludwig Schaaf…“

Das Zitat zeigt, wie knapp, distanziert aber adäquat ein qualifizierter Moderator selbst komplizierte Tagesthemen vermitteln konnte. Wenn eine Nachricht so dürftig und schlecht formuliert ist, dass sich ihre Relevanz nicht von selbst ergibt und erst von Moderatoren „hergestellt“ oder erfunden werden muss, dann nähern wir uns zügig dem aktuellen Tagesthemen-Standard. Wer dort einige Jahre lang serviert und Publizität gewonnen hat, weil regelmäßig auf dem Bildschirm, der kann auch Dummtalk moderieren – meinten die begnadeten NDR-Rundfunkräte. Und machen mit ihrem jüngsten Votum nach Anne Will die nächste Aufsagerin zur Millionärin.

Wie alle ARD-Talkshows wird nämlich auch die am Sonntagabend nicht vom öffentlichrechtlichen Sender kostengünstig selbst produziert, sondern für sündhaft teures Geld an eine private Produktionsgesellschaft vergeben. Derzeit ist das die Will Media GmbH, Berlin, mit Anne Will als Geschäftsführerin. Das Unternehmen erzielte im Schnitt der letzten Jahre einen Bilanzüberschuss von 1,7 Millionen Euro.

Die Herstellungskosten der Will Media für die Talkshow werden nicht veröffentlicht, sollen aber bereits 2011 satte 7,85 Millionen Euro betragen haben.26 Eine Grobschätzung sei gewagt: Wenn der NDR für Günter Jauch seinerzeit pro Jahr 10,5 Millionen Euro
hinblätterte, dann sind es jetzt für Anne Will 9 Millionen – und für Miosga werden es nicht weniger sein.

Wie auch immer: Als Eigenproduktion des NDR würde die Talkshow höchstens ein Viertel davon kosten. Talkshows sind nun mal eines der preisgünstigsten Sendeformate – wenn sie keinen privaten Profit abwerfen müssen. Verstehen Sie jetzt, warum ARD und ZDF ihre 8,32 Milliarden Euro Beitragseinnahmen  pro Jahr haben und trotzdem den Hals nicht vollkriegen?

Quellen:
1 https://www.presseportal.de/pm/165131/5547716
2 https://www.morgenpost.de/kultur/tv/article231868557/Anne-Will-Die-wichtigsten-Fakten-zurModeratorin.html
3 https://www.welt.de/fernsehen/article8458890/ARD-zahlt-Jauch-4487-18-Euro-fuer-jedeSendeminute.html
4 https://www.presseportal.de/pm/165131/5547716
5 https://de.wikipedia.org/wiki/Sarah_Palin
6 https://de.wikipedia.org/wiki/Tucker_Carlson
7 https://www.hdaustria.at/blog/late-night/
8 https://www.anonymousnews.org/medien/korrumpiert-das-sind-die-deutschen-mitglieder-der-uslobbyorganisation-atlantikbruecke/
9 https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/tt-5633.html (ab Min. 04‘19“)
10 https://www.scinexx.de/news/geowissen/erde-kuehlt-schneller-ab-als-gedacht/
11 https://de.wikipedia.org/wiki/Hartwig_von_Mouillard
12 https://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Gütt
13 https://de.wikipedia.org/wiki/Günter_Müggenburg
14 https://de.allexciting.com/lemon-festival-menton/
15 https://www.deutschlandfunk.de/zitronenfest-in-menton-100.html
16 https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/tt-ts-1138.html (ab Min. 20‘28“)
17 https://www.bergaer-carneval-verein.de/wissenwertes-volltexte-2/
18 https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-6475.html
19 https://www.bambooblog.de/die-faszinierende-chinesische-mauer/
20 https://www.skr.de/china-reisen/sehenswuerdigkeiten/terrakotta-armee/
21 https://de.wikipedia.org/wiki/Tagesthemen
22 https://www.spiegel.de/geschichte/barbara-dickmann-die-erste-moderatorin-der-tagesthemen-a949527.html
23 https://www.hanns-joachim-friedrichs.de/index.php/das-letzte-interview.html
24 https://www.youtube.com/watch?v=LP57Pt4g_0o ab Min. 33‘40“
25 https://de.wikipedia.org/wiki/Will_Media
26 https://de.wikipedia.org/wiki/Anne_Will_(Fernsehsendung)
27 https://www.merkur.de/wirtschaft/ard-zdf-deutschlandradio-beitraege-gebuehren-gezbeitragsservice-zr-92350415.html

Anmerkung der Autoren :

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Grafikquellen          :

Oben     —   Berichterstattung zur Bundestagswahl aus dem Hauptstadtstudio Berlin; Pressetermin am 20. Sept. 2013

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Unten      —       Eine sowjetische Wostok-Rakete, ein stärkeres Nachfolgemodell der R-7. Mit einer derartigen Rakete wurde die erste Mondsonde (Lunik-1) gestartet

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Juli 2023

Party – Stress mit Döpfner für den „Medieninsider“ 

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Springer-Chef Mathias Döpfner ist gegen einen Bericht über seine Geburstagsparty des Branchendienstes „Medieninsider“ vorgegangen – nicht aber gegen einen der „FT“.

Was ist der Unterschied zwischen Günther Jauch und Mathias Döpfner? Beide halten sich für Journalisten. Aber es gibt auch noch weitere Parallelen. Wenn sie feiern, sind die beiden gern unter sich. Jauch hatte im Juli 2006 seine Hochzeit mit über 100 Gästen in einem Potsdamer Schloss gefeiert. Berichterstattung darüber und vor allem Fotos hätten aber zu unterbleiben, hatte Jauchs Anwalt den Medien vorwarnend mitgeteilt. Als sich die Bunte nicht daran hielt, schleppte Jauch sie bis vor den Europäischen Menschengerichtshof – und verlor.

Neulich hat nun Mathias Döpfner seinen 60sten mit noch mehr Menschen nachgefeiert. Nicht in seinem Potsdamer Schloss, sondern in einem Anwesen in der Toskana. Ob die Bunte dabei war, ist nicht überliefert. Dafür berichtete zunächst der Online-Fachdienst Medieninsider, wer sich da sonst so alles tummelte. Twitter-Grabschaufler Elon Musk war da, Netflix-Mitgründer Reed Hastings und auch KKR-Europa-Boss Philip Freise.

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Doch der Medieninsider-Bericht von Döpfners Sause steht nicht mehr im Netz. „Ich bin gut darin beraten, den Inhalt des Beitrags nicht zu wiederholen. Der hat Döpfner nämlich so wenig gefallen, dass er gleich seine Anwälte bemühte, um juristische Schritte gegen uns einzuleiten“, schreibt Medieninsider-Mitgründer Marvin Schade in eigener Sache. Und dass das Ganze keine „rechtliche Entscheidung, sondern eine wirtschaftliche“ sei: „So eine rechtliche Auseinandersetzung bedeutet schwer kalkulierbare Kosten. Wir sind noch mitten im Aufbau von Medieninsider und wollen unsere Ressourcen in Medieninsider stecken, anstatt in einen wundersamen Rechtsstreit.“ Dazu passt, dass das EU-Parlament gerade eben den Entwurf für eine Richtlinie gegen Slapp-Klagen verabschiedet hat. Slapp steht für Strategic Lawsuit against Public Participation und soll Einschüchterungsklagen gegen unliebsame Berichterstattung erschweren.

Dabei war bei Döpfners Mottoparty durchaus public participation, wie ein anderes Medium berichtet. Es seien nämlich auch Menschen aus dem Ort und lokale Hand­wer­ke­r*in­nen eingeladen gewesen, die beim Ausbau von Döpfners toskanischer Butze mit Hand angelegt hatten. Wer welches Kostüm getragen hat, verrät die Financial Times zwar nicht, aber zitiert Teilnehmende, dass es gar nicht „so bombastisch“, sondern „ac­tual­ly very nice“ gewesen sei. „Hat das Wunderkind Julian Reichelt dort denn auch dem Geburtstagskind gratuliert?“, fragt die Mitbewohnerin.

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Hitze-Hotspot Deutschland

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Juli 2023

Warum das Wasser immer knapper wird und was wir dagegen tun müssen

Liegt Jordanien neuerdings am Main? Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber warf jedenfalls unlängst den Vergleich in den Raum und warnte davor, dass es klimatisch so weit kommen könnte. Und tatsächlich lassen die letzten Jahre Schlimmes befürchten.

Schon im und nach dem Hitzesommer 2018 mussten im Würzburger Stadtgebiet 5000 vertrocknete Bäume gefällt werden. Ende August 2022 weckt die Landschaft nordwestlich der Bischofsstadt beim Besucher tatsächlich Assoziationen in Richtung Wüste. An einer Kuppe ragt ein verkrüppelter Baumstamm nach oben, unter den Schuhen vertrocknetes Gras, dazu ein träger, aber unangenehm heißer Wind, der verdorrte Blätter durch die Gegend schiebt. Vieh grast auf dieser Weide schon lange nicht mehr; was sollten die Kühe auch fressen? Hier wächst nichts mehr. Schwer drückt die Hitze auf diesen von der Sonne braun gebrannten Landstrich nordwestlich von Würzburg. Und die Stadt selbst kommt einem vor wie ein Backofen: Die heiße Luft steht, und jede noch so kleine körperliche Anstrengung lässt den Schweiß fließen.

Gemeinhin verbindet man mit Unterfranken sattgrüne Hänge, prächtige Weinberge, fruchtbares Land. Im Sommer 2022 aber leidet das nordwestliche Bayern unter Sonnenbrand und Hitzschlag. So wenig wie in jenem August habe es in ganz Nordbayern seit 62 Jahren nicht geregnet, rechnen Meteorologen vor. Vier Millimeter pro Quadratmeter, das seien 16 Prozent des durchschnittlichen Niederschlages dort in den Jahren 1971 bis 2000. Und selbst wenn man den vorausgegangenen Winter hinzurechnet, erreicht die Regenmenge in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 nur drei Viertel des langjährigen Mittelwertes. Unvorstellbar war das noch vor wenigen Jahren, doch nach 2018, 2019 und 2020 war 2022 schon das vierte Dürrejahr binnen kürzester Zeit in Deutschland.

Gleichzeitig wird das Wasserproblem immer sichtbarer. Der Grundwasserspiegel sinkt, fast die Hälfte der amtlichen Messpegel hierzulande weisen sehr niedrige Wasserstände aus. Die Versorgung mit Wasser schwächelte, für Gärten, Autos und Planschbecken war nicht mehr genug da. Frachter schipperten halb leer den Rhein rauf und runter, weil Deutschlands längster Fluss einen so niedrigen Wasserstand hatte, dass die Schiffe, voll beladen und bei entsprechend größerem Tiefgang, auf Grund gelaufen wären.

In manchen Gemeinden mussten gar Tankwagen anrücken, um die Einwohner mit frischem Trinkwasser zu versorgen, denn aus den Hähnen kam nichts mehr. Weil Brunnen ausgetrocknet waren, Flüsse, Bäche und Seen nur noch bedenklich wenig Wasser führten und die öffentlichen Versorger an ihre Grenzen kamen. In einer ganzen Reihe von Gemeinden haben die Verwaltungen verboten, private Schwimmbecken mit Leitungswasser zu befüllen, Spiel-, Sport- und Fußballplätze, überhaupt Rasenflächen zu gießen. Dementsprechend sehen sie aus. Manche Bäche sind zu Rinnsalen mutiert, der Wasserspiegel vieler Teiche ist geschrumpft.

Selbst der Main würde gefährlich austrocknen, würden nicht pro Sekunde elf Kubikmeter Wasser über ein Stausystem, bestehend aus dem Main-Donau-Kanal und dem Fränkischen Seenland südlich von Nürnberg, in den Fluss gepumpt. Was den Artenschützern Sorge bereitet: Die Wassertemperatur des Mains ist mit bis zu 25 Grad zu hoch für viele der in dem Fluss lebenden Tiere und Pflanzen. Die Gewässerökologie leidet. 25 Grad Wassertemperatur – das schaffte hier früher kein Freibad ohne Beheizung.

Auch der Anbau des Frankenweins wird immer schwieriger. In Steillagen vertrocknen Trauben oder bekommen Sonnenbrand, sofern die Weinberge Richtung Süden ausgerichtet sind, funktioniert es ohne Bewässerung nicht mehr. Immer mehr Extremsteillagen in Mainfranken werden von den Winzern aufgegeben; zu aufwendig wäre Bewässerung.

Ist der Zustand, den Heiko Paeth schon seit Jahren vorhergesagt hat, nun eingetreten? Er ist Klimaforscher an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, präziser formuliert: Leiter der Professur für Geografie mit Schwerpunkt Klimatologie am Lehrstuhl für Geomorphologie. Ein renommierter Experte weit über die Region hinaus. Schon 2016 hatte er Unterfranken zu „einem Hotspot des Klimawandels“ erklärt. Und im Mai 2019 hat er in einem Interview mit der in Würzburg erscheinenden „Main-Post“ präzise vorhergesagt, was dauerhaft geschehen wird. „Wir bekommen in etwa das Klima von Bordeaux, mit vier bis fünf Grad Erwärmung im Maintal, im Winter wie im Sommer. Wir hätten 20 bis 30 Prozent weniger Niederschlag im Sommer und etwa zehn Prozent mehr Niederschlag im Winter.“ Immer vorausgesetzt, es ändere sich klimapolitisch nichts Grundlegendes. Und das hat es nicht in den vergangenen Jahren.

Die Klimapolitik, die angekündigten diversen Wenden von Energie und Verkehr beispielsweise, sie kommt in Deutschland nicht wirklich voran. „Unser Planet hat sich seit Beginn der flächendeckenden Messungen im Jahr 1881 um 0,9 Grad erwärmt, Unterfranken im gleichen Zeitraum um zwei Grad“, rechnet Paeth vor. „Das ist mehr als doppelt so viel als im globalen Durchschnitt. Nur an den Polkappen liegt die Erwärmungsrate jenseits von drei Grad.“ Der Ausblick des Professors, bezogen auf die Region um Würzburg, fällt nicht nur im Main-Post-Interview wenig zuversichtlich aus. „Bis Ende des Jahrhunderts, also dem Zeitraum 2070 bis 2099, wird sich die Zahl der Hitzetage an manchen Orten im Vergleich zum Zeitraum 1970 bis 1999 verfünffachen.“ Und Paeth prophezeit: „Wir werden auch mit Dürren kämpfen müssen und haben gleichzeitig einen hohen Wasserbedarf.“ Er sei sich, so der Professor, „nicht mehr sicher, ob das rein physikalische Ausmaß des Klimawandels bei uns glimpflicher ablaufen wird als in der Sahelzone oder in Ostafrika“.

Vom Wasser als Abfall zum Wasser als Luxus

Dass Deutschland ein Wasserproblem hat und auf eine Krise zusteuert, ist unter Fachleuten und Politikern, die sich mit dem Thema beschäftigen, längst Gewissheit. Die Klimakrise hat demnach immer mehr Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von und die Versorgung mit Wasser.[1] „Es fehlt uns das Wasser in der Fläche und der Tiefe“, sagte der bayerische Umweltminister Thorsten Glauber am 28. Oktober 2020 in einer Regierungserklärung im Landtag – und er meinte damit nicht nur den Freistaat. „Der hitzegestresste Boden wird zu Knäckebrot, irgendwann zu Sand, er hat kein Wasser mehr und nimmt auch keines mehr auf“, schilderte der Politiker der Freien Wähler und forderte: „Wir müssen weg vom entwässerten Boden, auf den die Sonne knallt. Die Vision ist der speicherfähige Boden mit Schatten spendenden Uferstreifen.“ In den vergangenen zehn Jahren, so Glauber, sei die Grundwasserneubildung um fast ein Fünftel zurückgegangen. „Wir sind auf dem besten Weg in einen Grundwassernotstand“, warnte Glauber.

Wohlgemerkt: Da spricht kein Klimaaktivist, der sich gerade auf eine Straße geklebt hat, sondern der Umweltminister einer durch und durch bürgerlich-konservativen Regierung eines Bundeslandes, in dessen Süden es zumindest, verglichen mit anderen Teilen der Bundesrepublik, noch ordentlich Wasservorräte gibt.

Das Deutsche GeoForschungsZentrum in Potsdam meldete bereits für den Dürresommer 2019 ein Wassermassendefizit von 43,7 Mrd. Tonnen in Deutschland. Die Niederschläge reichen nicht mehr aus, um die Speicher wieder zu füllen. Oder sagen wir es so: Die Menge ist, übers Jahr gesehen, vielleicht gar nicht das Problem, sondern dass Wasser zur falschen Zeit in zu großen Mengen auf einmal auf den Boden fällt, sodass es gar nicht erst versickern und sich als Grundwasser absetzen kann, sondern rasend schnell abfließt.

Noch verschärft wird die Situation durch ein Problem, das dieses Land seit vielen Jahren nicht in den Griff bekommt, obwohl es weithin bekannt ist und man auch weiß, wo sein Ursprung liegt: Die Rede ist von den Belastungen der Flüsse, Seen und Grundwasserschichten durch schädliche Einträge wie Nitrat, Phosphat oder andere Substanzen. Gebündelt verknappen Klimawandel und Schadstoffproblem nicht nur das Wasserdargebot (also die Menge an Grund- und Oberflächenwasser, die potenziell genutzt werden kann), sondern sie machen auch die Gewinnung und Aufbereitung von Trinkwasser immer aufwendiger – und damit teurer.

Diese Herausforderungen verschärfen sich gerade schneller als von vielen erwartet. Und wir als Staat und Gesellschaft sind darauf nur sehr unzureichend, in Teilen überhaupt nicht vorbereitet. Auch wenn Deutschland insgesamt weiter ein wasserreiches Land sei, heiße das nicht, „wir könnten uns auf Dauer darauf verlassen, dass wir immer und überall genug Wasser zur Verfügung hätten“, sagte Professorin Irina Engelhardt, Fachgebietsleiterin Hydrogeologie am Institut für Angewandte Geowissenschaften und zugleich Koordinatorin des Wasserressourcenmanagement-Projektes SpreeWasser:N, in einem Interview mit der „WirtschaftsWoche“. Bei anderer Gelegenheit formulierte sie es drastischer: „Deutschland war immer in einer Luxusposition. Wir hatten einfach immer genug. Wasser war ja quasi Abfall in Deutschland“, sagte Engelhardt. „Und wenn man von etwas genug hat, dann kümmert man sich auch nicht so darum.“ Gewiss, niemand in Deutschland muss Angst haben, dass er verdurstet, dass er sich nicht mehr oder nur noch sporadisch waschen kann oder dass Sanitäranlagen abgestellt werden. Deutschland ist ein Land mit verhältnismäßig viel Wasser, nach wie vor. Aber dieses Wasser wird weniger. Und das Ausmaß der Verknappung nimmt schneller zu, als selbst kritische Experten es vor wenigen Jahren noch geglaubt haben. Darauf muss reagiert werden, und zwar schnell und konsequent.[2]

Es ist spät, aber noch nicht zu spät

Zwischen Oktober 2018 und Oktober 2020 trafen sich Fachleute aus der Wasserwirtschaft sowie zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger immer wieder zu einem sogenannten Nationalen Wasserdialog. Angestoßen hatte ihn die Bundesregierung, die Umsetzung lag beim Bundesumweltministerium und dem Umweltbundesamt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten Handlungsfelder und definierten daraus Handlungsbedarf, formulierten strategische Ziele und empfahlen Lösungen. Das Ergebnis ist eine „Nationale Wasserstrategie“, welche die Grundlage für das Wassermanagement in Deutschland werden soll. Meere sollen besser geschützt und das Bewusstsein für die Ressource Wasser geschärft werden. Wasser-, Energie- und Stoffkreisläufe sollen besser miteinander verbunden, klimaangepasst weiterentwickelt oder Gewässer nachhaltig bewirtschaftet werden. Das sind nur einige der wesentlichen Punkte im Strategiepapier. Gewiss, manches klingt floskelhaft und ohnehin auf der Hand liegend, ist deswegen aber nicht falsch. Die Nationale Wasserstrategie weist in die richtige Richtung. Und dennoch fehlen, zumindest im letzten Entwurf des Strategiepapiers, das diesem Text zugrunde lag, zentrale Punkte.

1. Die öffentliche Versorgung muss klaren Vorrang erhalten vor privatwirtschaftlichen Interessen

Der Vorrang der öffentlichen Trinkwasserversorgung vor allen anderen Nutzungen ist nicht klar und unmissverständlich festgeschrieben. Genau das muss aber sein. Es genügt nicht, den Grundsatz als allgemein und unverbindlichen Glaubenssatz unterschwellig zugrunde zu legen. Das war er nämlich bisher auch schon – und trotzdem bedienten sich Energieversorger und Industrie, Mineralwasserhersteller und Landwirtschaft reichlich ungeniert und mit dem Segen allzu sorgloser Behörden am Allgemeingut Wasser. Die Vorrangstellung der öffentlichen Trinkwasserversorgung muss daher bundesweit festgeschrieben werden. So, dass lokale Genehmigungsbehörden, aber auch Gerichte sich bei ihren Entscheidungen darauf stützen können. Wenn man so will, etwas Klares, Praktisches für den täglichen Gebrauch.

2. Die Wasserversorgung darf nicht privatisiert und dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden

Die Nationale Wasserstrategie beschäftigt sich mit der Zukunft. Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Ihre Ziele sind auf 30 Jahre ausgelegt, und es ist richtig zu definieren, wohin man langfristig will. Die Verteilungskämpfe haben jedoch bereits begonnen. Folgerichtig braucht es auch kurzfristige Zielvorgaben und ein Instrumentarium, um sofort entscheiden und strategisch handeln zu können. Und nicht erst 2050.

Es ist an der Zeit, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Der Strommarkt wurde liberalisiert, also dem freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte unterworfen. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre und speziell die energiepolitischen Verwerfungen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine führen jedoch die Schwächen des Systems vor Augen. Wenn es darum geht, Probleme im Sinne der Allgemeinheit zu lösen, ist von den Profiteuren der Liberalisierung nichts mehr zu sehen und zu hören. Dann muss der Staat plötzlich eingreifen, mit Milliarden an Steuergeldern. Daraus leitet sich die banale, aber entscheidende Erkenntnis ab, dass Privatunternehmen nicht alles automatisch besser können als öffentliche Versorger.

Im Gegenteil: Es gibt kein einziges Beispiel dafür, wo ein Privatinvestor im Bereich der Daseinsvorsorge Verantwortung übernommen hat, wenn ein System nicht mehr funktionierte. Die Energieriesen haben jahrzehntelang mit Gas aus Russland oder Atomstrom Milliardengewinne eingefahren. Den Umbau der Systeme, die Kosten für deren Versagen, finanziert jedoch der Staat, die Allgemeinheit. Bestes Beispiel ist das Milliardendrama um Uniper, jene börsennotierte Gesellschaft, die 2016 als Abspaltung des ebenfalls börsennotierten Energieriesen E.ON entstanden ist. Als Uniper im Zuge des Ukrainekriegs und des damit verbundenen Lieferstopps von russischem Gas in die Bredouille geriet, musste der Bund das als systemrelevant eingestufte Unternehmen mit Milliardenhilfen aus dem Steuersäckel stützen. Im Dezember 2022 wurde Uniper verstaatlicht.

Die Trinkwasserversorgung ist ebenfalls elementarer Bestandteil öffentlicher Daseinsvorsorge, mindestens so sehr wie die Strom- und Energieversorgung. Man darf sie nicht dem freien Spiel privater Kräfte überlassen, nicht Investoren und profitmaximierenden Unternehmen. Wasser ist ein derart elementares Gut menschlichen Daseins, dass es nicht marktliberalen Mechanismen unterworfen werden darf. Nicht Wettbewerb, sondern funktionale Sicherheit müssen im Vordergrund stehen. Wir brauchen ein öffentliches, staatliches bzw. kommunal betriebenes Versorgungssystem für Trinkwasser, das auch im Krisenfall stabil und resilient ist. Vor allem die Städte und Gemeinden stehen hier in der Verantwortung. Sie müssen ihre eigene Wasserversorgung sicherstellen – bei Bedarf auch mit Nachbargemeinden zusammen; es gilt das Solidarprinzip.

3. Das Land braucht eine umfassende Wasserschutzagenda

Ressourcenschutz fängt nicht erst an, wenn es im konkreten Einzelfall darum geht, einen übermäßigen Wasserausbeuter in die Schranken zu weisen. Er beginnt viel früher. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, eine andere Herangehensweise mit dem Ziel, Wasser im Boden zu halten. Dafür zu sorgen, dass es nicht so schnell abfließt. Mit konsequentem Gewässerschutz, Investitionen in Leitungssysteme und Wasseraufbereitungsanlagen, aber auch, indem die Flächenversiegelung begrenzt, mehr Wasserschutzgebiete ausgewiesen und insgesamt das Bewusstsein für sorgfältigeren Umgang mit der Ressource Wasser geschärft wird. Das Thema kommt einer Allensbach-Umfrage von 2022 zufolge immer mehr in der Bevölkerung an; drei von vier Deutschen gaben an, bewusster und sparsamer mit Wasser umzugehen als früher. Wassersparen hilft, aber das allein reicht nicht. Sümpfe, Moore und andere Feuchtgebiete müssen geschützt werden, die Versiegelung der Landschaft durch Wohn- und Gewerbegebiete, Straßen und andere Baumaßnahmen muss insgesamt reduziert werden. Wir brauchen im Einzelfall mehr Dachbegrünungen, aber auch Bauverbote in Gebieten mit Überschwemmungspotenzialen. Die Versickerung von Wasser an Ort und Stelle muss erleichtert werden.

Vielleicht sollten die Politiker-innen im Ausland von den roten Teppichen herunterkomme um sich die Wasserversorgung aus dem 12.Jahrhundert anzusehen, welche heute noch teilweise  funktionieren.

Auch der Grundwasserschutz muss verbessert werden. Experten der Vereinten Nationen sind überzeugt, dass aktuelle und künftige Wasserkrisen nur mit Hilfe des Grundwassers zu bewältigen sind. „Eine bessere Nutzung des Grundwassersystems könne zur Klimaanpassung beitragen“, heißt es im UNESCO-Weltwasserbericht 2022. So sei es etwa möglich, saisonale Überschüsse von Oberflächengewässern in Grundwasserleitern zu speichern. So könnten nämlich Verdunstungsverluste verringert werden, „wie sie etwa bei Stauseen auftreten“. Eine sinnvolle, umfassende Wasserschutzagenda beginnt schon bei der Erfassung aktueller Daten. Ferner muss eine Wasserschutzagenda schärfere Regelungen zum Schutz vor Verunreinigungen etwa durch Nitrat und Pflanzenschutzmittel beinhalten. Das Herumlavieren, mit dem sich Deutschland in der beschriebenen Weise seit Jahren um die konsequente Einhaltung schärferer EU-Vorgaben drückt, muss ein Ende haben.

4. Privilegien für Großverbraucher abschaffen

Bayern, Hessen und Thüringen verzichten bislang auf ihn und in den anderen 13 Bundesländern ist er marginal bemessen. Die Rede ist vom Wassercent, im Behördendeutsch: dem Wasserentnahmeentgelt.

Richtigerweise muss es endlich jeder bezahlen, der sich am Allgemeingut bedient, um es für seine privatwirtschaftlichen Zwecke zu verwenden. Mineralwasserhersteller, Landwirte, Energieversorger, Industriebetriebe – bisher profitieren alle großen Schlucker von einer fatalen Nulltarif- oder Kostet-fast-nichts-Mentalität hierzulande. Geht es um die Bedürfnisse von Unternehmen, waren die Behörden, die Landesregierungen und die Kommunalpolitiker vor Ort stets sehr großzügig bei Entnahmemengen oder langfristigen Laufzeiten von Entnahmerechten. Das muss gestoppt werden. Behörden müssen die Mengen und die Laufzeiten begrenzen und unter den Vorbehalt stellen, dass sie in Dürrezeiten bei Bedarf auch unterbrochen oder stärker kontingentiert werden können. Und vor allem: Das jahrhunderte-, bisweilen sogar jahrtausendealte und besonders reine Tiefengrundwasser muss weitaus strenger geschützt werden. Übrigens nicht nur vor den Entnahmen gewerblicher, sondern auch öffentlicher Nutzer.

Ein probates Mittel ressourcenschonender Wasserbewirtschaftung wäre es, private und gewerbliche Nutzer gleichzustellen. Ihnen dieselben Gebühren abzuverlangen, wenn sie aus dem öffentlichen Netz schöpfen, und keine Rabatte für Großabnehmer mehr zu gewähren. Überdies müssen all jene spürbarer als bisher zur Kasse gebeten werden, die eigene Brunnen oder Wasserfassungen nutzen. Der Wassercent darf daher im Sinne der Allgemeinheit gerne ein Wassereuro werden.

Gewiss, die Wirtschaft im weitesten Sinne braucht Wasser und sie soll es auch in Zukunft bekommen. Dass Firmen für Wasser aber kaum oder fast nichts bezahlen, setzt jedoch keinerlei Anreize, um sich über Einsparungen, interne Wasserkreisläufe, Wasserrecycling oder Brauchwassersysteme Gedanken zu machen. Wir brauchen eine Gebührenpolitik, die genau solche Anreize schafft. Hier sind vor allem die Landespolitiker gefordert, bei denen das Thema bislang nicht angekommen ist. Geradezu unerträglich ist es, wenn, wie im Fall Tesla in Brandenburg, ein Unternehmen in einer trockenen Region angesiedelt wird und zig Mrd. Liter Wasser zugeteilt bekommt, während ringsum Gemeinden keine Wohngebiete und Schulen mehr planen können, weil das notwendige Wasser fehlt. Es kann auch nicht sein, dass einhergehend damit der Trinkwasserbedarf von Privatpersonen im Bedarfsfall eingeschränkt und Mehrbedarf finanziell sanktioniert wird, während die Versorgung der Großfabrik nebenan Priorität genießt.[3]

5. Wassertröpfchen für die Landwirtschaft

Quelle          :           Blätter-online          >>>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —      Talsperre Lehnmühle Oktober 2018 im Tal der Wilden Weißeritz im Erzgebirge. Sonst geflutete Brücke der Zinnstraße zum Erztransport von Altenberg nach Freiberg.

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Unten         —         The park in the Byzantine-era Cistern of Aspar in November 2013

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Der Mensch Heinrich Heine

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Juli 2023

Heinrich Heine, Jude und Deutscher

(2) Grab Heines auf dem Nordfriedhof in Paris

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

von Hermann Engster

Von Heine wird gesagt, dass er ein in sich zerrissener Mensch gewesen sei. Heine war nicht zerrissen, sondern er wurde es, weil ihm das Verlangen, Jude und Deutscher zugleich zu sein, verwehrt wurde. Es war Deutschland, das ihn zerriss.

Düsseldorf, wo Heine 1797 geboren wird, ist eine beschauliche Stadt, in deren Kern 13.000 Menschen leben, Köln ist dreimal so groß, Hamburg zehnmal. Dort wächst er mit drei weiteren Geschwistern in einem bürgerlichen Milieu auf. Die Eltern erziehen ihre Kinder im jüdischen Glauben, orientiert an der Haskala, der jüdischen Aufklärung, gleichwohl geprägt von tiefer Religiosität.

In Düsseldorf herrscht dank der französischen Besatzung ein liberales Klima, doch wird es mit dem Sieg über Napoleon erkalten. Das preußische Judenedikt von 1812 auf der Grundlage der Hardenberg’schen Reformen hat den Juden einige bürgerliche Freiheiten gebracht, doch haben die Behörden sie nur unwillig umgesetzt, und in der Bevölkerung ändert sich am Judenhass nichts.

Die Metternich’sche Restauration errichtet aufs Neue die alte Fürstenherrschaft. Auf der Grundlage der Karlsbader Beschlüsse wird der unter preußischer Vormacht stehende Deutsche Bund im Verein mit Österreich zu einem Polizeistaat, in dem Überwachung und Verfolgung herrschen. Von den sog. Demagogenverfolgungen sind viele Tausende betroffen, die sich für demokratische Rechte einsetzen: Künstler, Intellektuelle, Handwerker, Arbeiter; sie werden in den Kerker geworfen oder flüchten ins Exil, in das freiere Frankreich und in die Schweiz, unter ihnen auch Jüdinnen und Juden, die von der demokratischen Bewegung, die in Teilen sogar eine sozialistische ist, auch für sich Freiheitsrechte erhoffen. Das mobilisiert den Antisemitismus.

Das Ungeheuer regt sich

1819 erscheint das Pamphlet Der Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde aus alter und neuer Zeit von Hartwig von Hundt-Radowsky. Dieser bezeichnet Juden als „Untermenschen“ und „Ungeziefer“. Er empfiehlt, alle Juden als Sklaven an die Engländer zur Arbeit in deren Kolonien zu verkaufen, sie in Bergwerken zu vernutzen, sie zu kastrieren und die Jüdinnen als Prostituierte in Bordellen zu versklaven. Die Tötung eines Juden solle nicht als Mord, sondern als Polizeivergehen, also noch unterhalb eines Verbrechens eingestuft werden.

Im selben Jahr, als der Judenspiegel erscheint, gründen jüdische Hegelianer den „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“. Schlüsselbegriff ist der Hegel’sche Begriff der Vermittlung, dergestalt dass das Judentum sich vermitteln solle mit dem universalen Geist der Freiheit und Humanität. Sie glauben an die Macht des Geistes – und scheitern wie alle, die diesen Traum träumen.

Im August 1822 nimmt der preußische König die Hardenberg’schen Reformen zurück, die den Juden den Zugang zu öffentlichen Ämtern erlaubten. Im selben Monat tritt Heine dem „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ bei. Für seine berufliche Karriere ist das ein Hindernis. Die Heine-Biographin Kerstin Decker stellt fest: „Ein bloßer Aufsteiger verhielte sich anders, er würde alles verleugnen, was an seine Herkunft erinnert. Heine wird das nie tun. Im Gegenteil.“

1819 brechen die Hepp-Hepp-Krawalle aus, gewalttätige Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden. „Hepp-hepp!“ sind die Rufe der Viehtreiber. Der Mob macht daraus „Hepp-hepp! Jud verreck!“. Die Pogrome gehen aus von sog. braven Bürgern, von Handwerkern, Händlern, die sich zusammenrotten, jüdische Bürger beschimpfen und misshandeln, ihre Synagogen, Geschäfte und Wohnungen angreifen und verwüsten.

Aufschlussreich ist zu sehen, welches Motiv die Pogrome haben. Sie richten sich hauptsächlich gegen die jüdische Emanzipation, die seit der Französischen Revolution auch deutsche Gebiete erreicht hat. Damit waren Juden zu gleichberechtigten Konkurrenten von Christen geworden, was bei den christlichen Wutbürgern nun Konkurrenzneid entfacht, zudem noch legitimiert vom traditionellen christlichen Judenhass. Die Pogrome zielen auf die Vertreibung aller Jüdinnen und Juden und drohen mit Massakern. In Heines Heimatstadt Düsseldorf werden im August 1819 an jüdischen Wohnhäusern Plakate angeschlagen, auf denen es heißt:

Schon zu lange hat die Herrschaft der Juden über den Betrieb des Handels gedauert. Mit ruhigen Augen haben die Christen diesem unerlaubten Unwesen zugesehen, die Zeiten haben sich geändert. Sind bis 26ten dieses Monats dem Handel und Moral verderbenden Volke nicht Schranken gesetzt, so soll ein Blutbad entstehen, das anstatt Bartholomäus-Nacht Salomoni-Nacht heißen soll.

Auswege, Schleichwege

Angesichts dieser Umstände hat, wer das Ghetto verlassen und an der deutschen Kultur teilhaben will, kaum eine andere Wahl, als sich taufen zu lassen, so z.B. Rahel Varnhagen, Henriette Herz, Ludwig Börne, und eben auch Heine.

1826/27 studiert Heine in Göttingen, lässt sich dann 1827 in aller Stille in der Wohnung eines Pfarrers in Heiligenstadt, einem Städtchen nahe Göttingen, taufen. Die Taufe ist für ihn, wie er sagt, das „Entrébillet zur europäischen Kultur“. Er lässt sich protestantisch taufen, denn, so sagt er später: „Der Protestantismus war für mich nicht nur eine liberale Religion, sondern auch der Ausgangspunkt der deutschen Revolution“, und für ihn der Ursprung der Rechte der Vernunft und der Geistesfreiheit.

Doch bringt ihm die Taufe wenig Nutzen, denn, so stellt er resigniert fest:

Ich bin jetzt bei Christ und Jude verhasst. Ich bereue sehr, dass ich mich getauft hab; ich seh noch gar nicht ein, dass es mir seitdem besser gegangen sei, im Gegenteil, ich habe seitdem nichts als Unglück.

Nach seiner Promotion zum Dr. jur. in Göttingen will ihm trotz der Konversion niemand eine Stelle geben. Ein Jahr nach der Taufe drängt es ihn, Deutschland zu verlassen. 1826 schreibt er in einem Brief:

Es ist … ganz bestimmt, dass es mich sehnlichst drängt, dem deutschen Vaterland Valet zu sagen. Minder die Lust des Wanderns als die Qual persönlicher Verhältnisse (z.B. der nie abzuwaschende Jude) treibt mich von hinnen.

Heimat Sprache

Er bleibt aber zunächst im Land, weil er mit seinem Buch der Lieder großen Erfolg hat. Trotzdem ist es, so stellt Marcel Reich-Ranicki fest, ein Triumph „auf gefährlich schwankendem Boden … Man wollte den Juden, ob getauft oder nicht, als deutschen Dichter nicht gelten lassen“.

Zusätzlich zermürben Heine die Kämpfe mit der Zensur, bis dann 1833 in Preußen und 1835 im gesamten Deutschen Bund seine Schriften verboten werden. Aber mehr noch als diese Drangsalierungen ist es die Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft, die ihn in die Emigration treibt. In Frankreich, wo es durchaus auch Antisemitismus gibt, sei, so Reich-Ranicki, Heine als Ausländer betrachtet worden, in Deutschland hingegen galt er immer als Jude und damit als Nicht-Dazugehöriger und Ausgestoßener.

Dennoch: Ein Zurück in den abgespaltenen Geborgenheitsraum einer jüdischen Gemeinschaft kommt für ihn nicht infrage. Er will als Deutscher anerkannt sein, wird aber von seinem „Vaterland“ zurückgestoßen. Als Reaktion auf die ständig zu ertragenden Demütigungen entwickelt er seinerseits einen Hass gegen das Deutsche und die deutsche Sprache selbst. Er schreibt er in einem Brief an einen Freund:

Alles was deutsch ist, ist mir zuwider … Alles Deutsche wirkt auf mich wie ein Brechpulver. Die deutsche Sprache zerreißt mir die Ohren. Die eigenen Gedichte ekeln mich zuweilen an, wenn ich sehe, dass sie auf Deutsch geschrieben sind. … “ (Erbittert wechselt er ins Französische, kehrt dann aber wieder ins Deutsche zurück.) „O Christian, wüsstest du, wie meine Seele nach Frieden lechzt, und wie sie doch täglich mehr und mehr zerrissen wird. Ich kann fast keine Nacht mehr schlafen.

Paper cut of Heinrich Heine on German stamp, 1956

Doch kommt er von Deutschland nicht los. Da ihn die Gesellschaft zurückweist, sucht er seine Heimat in der von ihm geliebten deutschen Sprache; denn das deutsche Wort sei, so schreibt er in einem Brief, „ein Vaterland selbst demjenigen, dem Torheit und Arglist ein Vaterland verweigern“. 1824 schreibt er:

Ich weiß nur zu gut, dass mir das Deutsche das ist, was dem Fisch das Wasser ist, dass ich aus diesem Lebenselement nicht heraus kann … Ich liebe sogar das Deutsche mehr als alles auf der Welt, ich habe meine Lust und Freude dran, und meine Brust ist ein Archiv deutschen Gefühls.

Wie innig er der deutschen Sprache verbunden ist, zeigt der Beginn seines Versepos Deutschland, ein Wintermärchen. Als er nach zwölfjährigem Exil 1843 wieder nach Deutschland zu reisen wagt, übermannt ihn beim Überschreiten der Grenze die Wehmut, die er in bekannter Manier durch Ironie vor Abrutschen in Sentimentalität bewahrt:

Im traurigen Monat November wars,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riss von den Bäumen das Laub,
Da reist
 ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.

Das altertümlich gewordene Präteritum „begunnen“ gebraucht er ironisch-distanzierend, und im Vers, dass sein „Herz recht angenehm verblute“, mischt er den Schmerz mit Selbstironie.

Von der blauen Blume zur roten Fahne

Seine Tragik als romantischer Dichter ist, dass er ein Zu-spät-Gekommener ist. Denn als er 1797 geboren wird, bricht die romantische Dichtung gleichsam wie ein Vulkan aus und erreicht ihren ersten Höhepunkt mit Dichtern wie Brentano, Tieck, Novalis, Wackenroder.

Heine spielt zunächst virtuos auf der romantischen Klaviatur und schreibt Gedichte von unwiderstehlicher Schönheit (z.B. Der Tod, das ist die kühle Nacht). Doch wendet er sich bald ab von der Romantik und treibt sein ironisch-spöttisches Spiel mit ihr und seinen Dichterkollegen, die „Blümlein, Mondglanz, Sternlein und Äuglein“ besingen, und schließt mit den Worten: „Wie sehr das Zeug auch gefällt, / So macht’s doch noch lang keine Welt“ (im Gedicht Wahrhaftig). Eichendorff schmäht ihn deswegen einen „Totengräber der Romantik“.

Aus dem romantischen Traumreich der Phantasie wendet Heine sich der Welt zu, wie sie wirklich ist, der gesellschaftlichen und politischen Realität. In Paris, genannt die Revolutionshauptstadt der deutschen Demokraten, weil sich hier Hunderte in Deutschland verfolgter Demokratinnen und Demokraten versammeln, nimmt Heine Verbindung zu ihren führenden Köpfen auf und wandelt sich zum politischen Dichter.

Anstoß dazu gibt der Aufstand der schlesischen Weber im Jahr 1844. In der Konkurrenz mit billigerer Ware aus England und durch die Veränderung der Produktionsstruktur – die bis dahin selbständigen Handwerker werden zu Lohnarbeitern – geraten die Weber in eine Armut, die sogar zu Hungerrevolten führt. Der Aufstand wird vom preußischen Militär niedergeschlagen; viele Weber kommen ins Zuchthaus, andere wandern nach Amerika aus.

Zornbebend, nicht mit dem Florett, sondern mit dem Säbel schreibt Heine ein Gedicht, das später als Weberlied berühmt wird. Marx, mit dem Heine eng befreundet ist, sie sind sogar Cousins dritten Grades, veröffentlicht es im Pariser „Vorwärts“; 50.000 Flugblätter mit dem Gedicht werden in den Aufstandsgebieten verteilt. Der preußische Innenminister bezeichnet das Gedicht als „eine in aufrührerischem Ton gehaltene und mit verbrecherischen Äußerungen angefüllte Ansprache an die Armen im Volke“. Er hat Recht, das Gedicht ist staatsfeindlich und blasphemisch. Es wird verboten, einer, der es öffentlich rezitiert, landet im Zuchthaus, Heine ist in Paris und in Sicherheit.

Das ist der radikale politische Heine. Aber zurück nach Deutschland, zum jungen Heine!

Dichter in der Diaspora

Im Buch der Lieder, das ihn in Deutschland berühmt gemacht hat, steht ein rätselhaftes Gedicht, geschrieben um 1822:

Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh’.
Ihn schläfert; mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.

Er träumt von einer Palme,
Die, fern im Morgenland,
Einsam und schweigend trauert
Auf brennender Felsenwand.

Das Gedicht wird traditionell interpretiert als ein Gedicht über eine unerwiderte Liebe. Das ist es wohl, aber es ist viel mehr als eins der üblichen romantischen Liebesgedichte. Sehen wir es uns genauer an!

Es beginnt mit dem Bild eines Fichtenbaums, der „im Norden auf kahler Höh’“ steht und „einsam steht“, in lebensfeindlicher Kälte, umhüllt von Eis und Schnee. Er ist müde, Schlaf überkommt ihn, und er fängt an zu träumen. Im Traum reist er ins ferne Morgenland, er träumt von einer Palme, dem für den Orient charakteristischen Baum, und auch diese Palme steht einsam und trauert schweigend. Und während der nordische Fichtenbaum in der Kälte steht, umhüllt von Eis und Schnee, ist die morgenländische Palme von Feuer und Glut umgeben.

Ein Liebender und eine Geliebte verzehren sich in Sehnsucht zueinander. Welche Rolle spielt aber der Gegensatz von Norden und Osten, von Okzident und Orient? Ist das nur exotische poetische Dekoration? Nein, es ist viel mehr, und das rätselhafte Gedicht beginnt zu sprechen, wenn man es einordnet in die Tradition von jüdischen Liebesgedichten, die an das ferne und unerreichbare Jerusalem gerichtet sind.

Vorbild ist der von Heine verehrte sephardische Dichter Jehuda ben ha Levy. Dieser gilt als der bedeutendste hebräische Philosoph des Mittelalters, der zudem ein vielgestaltiges dichterisches Werk hinterlassen hat; und nicht nur Dichtungen in hebräischer Sprache, sondern auch in Altspanisch, sodass man sagen kann, dass er der erste namentlich bekannte Dichter in spanischer Sprache war. Hier ein Auszug aus seinen hebräischen Zionsliedern:

Ach, wie sitzt so einsam die Stadt, einst reich an Volk!
Wie ist sie zur Witwe geworden, die groß war unter den Völkern!
Die da Fürstin war unter den Städten, ist dienstbar geworden.
Sie weint und weint durch die Nacht, Tränen auf der Wange;
Keiner ist da, der sie tröste (…)

Mein Herz ist im Osten, doch ich bin am westlichsten Ende –
Was kann mir mein Brot da bedeuten, wie könnt’ ich es kosten mit Lust, (…)
Nichts bedeutet es mir, allen Reichtum Spaniens zu verlassen,
Aber alles bedeutet mir ein Blick nur auf den Staub des zerstörten Tempels.

Wenn man Heines Gedicht vom Fichtenbaum in dieser Tradition sieht, so erweist es sich durchaus als Liebesgedicht, aber als ein entschieden religiöses, ein Gedicht von einer Sehnsucht getragen, die sich in dem alten Abschiedsgruß ausdrückt: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Ein Gruß, der traditionell am Schluss des jüdischen Sederabends und des Versöhnungstags ausgesprochen wurde und dessen Wunsch nach zweitausend Jahren verwirklicht worden ist.

Heines Lieblingspsalm ist der Psalm 137, wo es heißt:

An den Strömen Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten … Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, so verdorre meine Rechte! Es klebe meine Zunge am Gaumen!

In seinem Versepos Romanzero, geschrieben zwischen 1848 und 1851, gedenkt er im Dritten Buch, genannt Hebräische Melodien, des von ihm bewunderten Jehuda ben ha Levy:

Hebräische Melodien

Bei den Wassern Babels saßen
Wir und weinten, unsre Harfen
Lehnten an den Trauerweiden“ –
Kennst du noch das alte Lied?
(…)

Lechzend klebe mir die Zunge
An dem Gaumen, und es welke
Meine rechte Hand, vergäß’ ich
Jemals dein, Jerusalem – “

Wort und Weise, unaufhörlich
Schwirren sie mir heut im Kopfe,
Und mir ist, als hört’ ich Stimmen,
Psalmodierend, Männerstimmen –

Manchmal kommen auch zum Vorschein
Bärte, schattig lange Bärte –
Traumgestalten, wer von euch
Ist Jehuda ben Halevy?

Zurück zum Gedicht vom Fichtenbaum! Der von Eis und Schnee umhüllte Fichtenbaum träumt „von einer Palme, / Die, fern im Morgenland, / Einsam und schweigend trauert / Auf brennender Felsenwand“. Ist es zu verwegen interpretiert, wenn mit der Felsenwand der Felsenberg gemeint ist, auf dem der Tempel stand und der von den Römern zerstört wurde? Und dass die einsame Palme in ihrer Trauer der Zerstreuung der Juden in der Diaspora gilt, einer Zerstreuung, dessen Extremfigur der einsame Fichtenbaum in der Kälte des Nordens darstellt?

Im Innersten ist Heine immer Jude geblieben. Einmal bekennt er: „Ich bin zwar getauft, aber nicht bekehrt.“ Für seinen Herausgeber und Biographen Klaus Briegleb ist dieses Zitat und sind weitere Zitate Schlüsselbelege dafür, dass Heine als „genuin jüdischer Schriftsteller in der Diaspora“ (Briegleb) zu verstehen sei: ein Getaufter, der im Herzen jüdisch geblieben ist, und dass dieses jüdische Selbstverständnis prägend sei für seine Denk- und Schreibweise.

Verstoßen in die Freiheit

Heine ist, trotz allen Spotts über mancherlei religiöse Bizarrerien, tiefreligiös. Früh vom Judentum geprägt, schreibt er in seinem Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834):

Bert Gerresheim: Heinrich Heine Monument 1981, Düsseldorf

Der Verfasser dieser Blätter ist sich einer solchen frühen ursprünglichen Religiosität aufs freudigste bewusst, und sie hat ihn nie verlassen. Gott war der Anfang und das Ende aller meiner Gedanken.

Sein Bekenntnis zum Judentum ist aber nicht eine Rückkehr zum Judentum des Mittelalters; denn dieses erscheint für ihn ebenso überwunden wie das Christentum seiner Epoche. Schon 1834 schwebt ihm in einem Gedicht aus dem Zyklus Seraphine ein Drittes vor: ein drittes Testament, und er spielt an auf Jesu Wort zu Petrus, dass er auf ihm – „auf diesem Felsen“ (griech. pétros: Fels) – seine Gemeinde bauen wolle (Matthäus 16,18; nebenbei ein, wie die Bibelkritik festgestellt hat, erfundenes Jesus-Wort zur Legitimation von Kirche und Papsttum):

Auf diesem Felsen bauen wir
Die Kirche von dem dritten,
Dem dritten neuen Testament;
Das Leid ist ausgelitten.

Vernichtet ist das Zweierlei*,
Das uns so lang betöret;
Die dumme Leiberquälerei
Hat endlich aufgehöret.

Hörst du den Gott im finstern Meer?
Mit tausend Stimmen spricht er.
Und siehst du über unserm Haupt
Die tausend Gotteslichter?

Der heilge Gott der ist im Licht
Wie in den Finsternissen;
Und Gott ist alles, was da ist;
Er ist in unsern Küssen.

Diese Utopie erinnert an das Schiller’sche und Beethoven’sche Pathos der universalen Menschenliebe in der Ode an die Freude: „Alle Menschen werden Brüder … / Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Nur dass Heines Küsse durchaus sinnlicher imaginiert sind als die seiner strengen Vorgänger.

Dieses „dritte neue Testament“, das Heine erhofft, stellt nicht eine Abwendung vom Judentum dar, sondern ist die Vision eines modernen, welt- und geschichtsbewussten, zur Freiheit sich entfaltenden Judentums. Das stellt auch den alten Jehova-Gott infrage. Die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies und ihren Weg ins Erdenleben zeichnet Heine in seinem Gedicht Adam der Erste von 1844 prophetisch als Weg des Judentums in die Freiheit. Adam I. bedeutet: Dieser Adam ist der erste wirkliche, weil freie Mensch. Der auf diesen Weg sich aufmachende Adam spricht zu Gott:

Adam I.

Du schicktest mit dem Flammenschwert
Den himmlischen Gendarmen,
Und jagtest mich aus dem Paradies,
Ganz ohne Recht und Erbarmen!

Ich ziehe fort mit meiner Frau
Nach andren Erdenländern;
Doch dass ich genossen des Wissens Frucht,
Das kannst du nicht mehr ändern.

Du kannst nicht ändern, dass ich weiß,
Wie sehr du klein und nichtig,
Und machst du dich auch noch so sehr
Durch Tod und Donnern wichtig.
(…)

Vermissen werde ich nimmermehr
Die paradiesischen Räume;
Das war kein wahres Paradies –
Es gab dort verbotene Bäume.

Ich will mein volles Freiheitsrecht!
Find ich die geringste Beschränknis,
Verwandelt sich mir das Paradies
In Hölle und Gefängnis.

Diese Frage nach dem Wesen Gottes ist für Heine zentral. Erkannt wird dieses Wesen, wenn die alte Aufspaltung von Leib und Seele, Geist und Materie aufgehoben und wenn der Mensch wieder in sein ursprüngliches Freiheitsrecht eingesetzt wird.

Schmerzensmann

Dem Atheismus seiner Freunde Marx, Feuerbach, Bauer ist Heine nicht gefolgt. Nach verschlungener philosophischer Wanderschaft bekennt er sich ab 1848 offener zum Gott der Juden. Sieben Jahre vor seinem Tod schreibt er:

Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn … Das himmlische Heimweh überfiel mich und trieb mich fort durch Wälder und Schluchten, über die schwindligsten Bergpfade der Dialektik.

1833 lernt Heine in Paris die junge Schuhverkäuferin Augustine Crescence Mirat kennen, die er Mathilde nennt. Sie ist attraktiv und temperamentvoll, er liebt sie sehr, sie heiraten, und sie steht ihm bis zu seinem Tode bei.

Seit 1845 quält ihn ein Nervenleiden, 1848, als in Paris die Revolution ausbricht, kommt es zu einem Zusammenbruch, der eine acht Jahre dauernde Erkrankung einleitet, die mit Schmerzen, Krämpfen, Sehstörungen, Lähmungen und Fieberanfällen einhergeht, sodass er ans Krankenlager gefesselt ist, das er sarkastisch seine „Matratzengruft“ nennt. Er bleibt aber geistig klar und literarisch produktiv – es ist eine ungeheure Willensanstrengung, mit der er diese Produktivität seiner Krankheit abringt.

Jedoch quälen ihn Zweifel ob seiner Konversion zum Christentum. In seinen späten Gedichten zwischen 1846 und 1856 findet sich unter dem Titel Lamentationes folgendes Gedicht, das wohl das bitterste ist, das Heine je geschrieben hat:

Nicht gedacht soll seiner werden!“
Aus dem Mund der armen alten
Esther Wolf hört
 ich die Worte,
Die ich treu im Sinn behalten.

Ausgelöscht sein aus der Menschen
Angedenken hier auf Erden,
(…)

Nicht gedacht soll seiner werden,
Nicht im Liede, nicht im Buche 

Dunkler Hund im dunkeln Grabe,
Du verfaulst mit meinem Fluche!

Selbst am Auferstehungstage,
Wenn, geweckt von den Fanfaren
Der Posaunen, schlotternd wallen
Zum Gericht die Totenscharen,

Und alldort der Engel abliest
Vor den göttlichen Behörden
Alle Namen der Geladnen 

Nicht gedacht soll seiner werden!

(Esther Wolf, eine unbekannte Jüdin.) Der Fluch „Nicht gedacht soll seiner werden“ ertönt refrainartig im Gedicht; er ist ein Zitat aus dem Buch Hesekiel (21,37). Im Namen des Herrn spricht Hesekiel den Fluch gegen die feindlichen Ammoniter aus:

Du sollst dem Feuer zur Nahrung werden, dein Blut soll im Land vergossen werden, und man wird deiner nicht mehr gedenken; denn ich der Herr habe es geredet.

Es ist ein vernichtender Fluch, denn selbst beim Jüngsten Gericht soll des Schuldigen nicht gedacht werden; es ist der wildeste Fluch, den ein Jude auszustoßen vermag.

Jedoch gibt es auch Gottes Zusage des immerwährenden Gedenkens, so beim Propheten Jesaja (49,14 f.):

Zion spricht: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“ Gott spricht: „Kann auch eine Frau ihres Kindes vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und wenn sie auch seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“

Wir können kaum ermessen, was Heine durchgemacht hat. Religiös, wie er im Innern geblieben ist, sucht er Frieden mit Gott. Wir lesen Bekenntnisse eines über viele Jahre ans Bett gefesselten, zeitweise gelähmten, schmerzgepeinigten, geistig aufgewühlten, seelisch zerrissenen Menschen – menschliche Bekenntnisse, allzu menschliche. Nietzsche hat den Gedanken formuliert, dass wir aus Treue zu uns selbst zu Wanderern zwischen Extremen werden müssen:

Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer. (Menschliches, Allzumenschliches, I, 638)

 

Rebellische Resignation

Heines Todeskampf ist quälend. Den Tod vor Augen dichtet er:

Keine Messe wird man singen,
Keinen Kadosch wird man sagen,
Nichts gesagt und nichts gesungen
Wird an meinen Sterbetagen.

Doch vielleicht an solchem Tage,
Wenn das Wetter schön und milde,
Geht spazieren auf Montmartre
Mit Paulinen Frau Mathilde.

Mit dem Kranz von Immortellen
Kommt sie mir das Grab zu schmücken.
Und sie seufzet: „Pauvre homme!“
Feuchte Wehmut in den Blicken.

Als er im Sterben liegt, kniet seine Frau an seinem Bett und betet zu Gott, dass er ihm alle Sünden verzeihen möge. Daraufhin sagt Heine mit schwacher Stimme:

Ma chère, ne t’inquiète pas, Dieu me pardonnera, c’est son metier.
(Meine Liebe, mach dir keine Sorgen, Gott wird mir schon verzeihen, das ist sein Beruf.)

Begraben wird er auf dem Friedhof Montmartre. Kein Rabbi, kein Pastor, kein Priester darf ihn begleiten. Rebell bis zuletzt, hat er es so bestimmt.

Auf der Grabplatte ist ein Gedicht von ihm eingemeißelt:

Wo wird einst des Wandermüden
Letzte Ruhestätte sein?
Unter Palmen in dem Süden?
Unter Linden an dem Rhein?

(…)
Immerhin mich wird umgeben
Gotteshimmel, dort wie hier,
Und als Totenlampen schweben
Nachts die Sterne über mir.

Neben ihm liegen Hector Berlioz, Edgar Degas, Stendhal, Alexandre Dumas fils, Jacques Offenbach.

Jahre später schreibt Gustave Flaubert, ein enger Freund Heines, in einem Brief voller Grimm:

Ich denke mit Bitterkeit daran, dass bei Heinrich Heines Begräbnis nur neun Personen anwesend waren! O Publikum! O Bürger! O Lumpenpack!

(Vortrag im Jüdischen Lehrhaus zu Göttingen, Februar 2023)

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Ein zukunftsfähige EU

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Juli 2023

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

Marsch der Entschlossenen - Gräber vor dem Bundestag (18406716313).jpg

Eine freie EU kann  es nur ganz ohne Grenzen geben – sowohl nach Außen als nach Innen

Von Oleksandra Matwijtschuk

Der verstärkte Beschuss ziviler Ziele durch die russische Armee lenkt den Blick erneut auf die zahlreichen Kriegsverbrechen der Besatzungstruppen in der Ukraine.

Eine der wichtigsten Organisationen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren, ist das Center for Civil Liberties aus Kiew. Gegründet wurde die Menschenrechtsorganisation 2007, um die Demokratisierung des Landes voranzutreiben. Mit Beginn der russischen Invasion im Donbass und der Annexion der Krim 2014 begann sie zudem, politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten zu dokumentieren. Im vergangenen Herbst erhielt die Organisation rund um ihre Vorsitzende, die Juristin Oleksandra Matwijtschuk, den Friedensnobelpreis.

Am 9. Mai hielt Oleksandra Matwijtschuk die diesjährige „Rede an Europa“ auf dem Wiener Judenplatz. Das Format wurde vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen, der ERSTE Stiftung und den Wiener Festwochen ins Leben gerufen, um renommierten Intellektuellen die Möglichkeit zu bieten, einer breiten Öffentlichkeit originelle Denkanstöße zur Zukunft des europäischen Projekts zu geben. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Katharina Hasewend.

Die Geschichte kann nur schwerlich idealisiert werden, wenn man sie kennt. Das 20. Jahrhundert brachte zwei verheerende Weltkriege, schreckliche Kolonialkriege, Millionen von Toten und eine totale Entmenschlichung hervor, die ihre konkreteste Form im Holocaust und den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten annahm. Diese schrecklichen Ereignisse machten entschlossenes Handeln nötig. Die Tatsache, dass man gewillt war, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen, kam im Mahnruf „Nie wieder!“ zum Ausdruck. Staats- und Regierungschefs schufen die Vereinten Nationen und unterzeichneten internationale Abkommen. Die Schuman-Erklärung markiert den Beginn des Projektes eines vereinten Europas. Getragen von der Auffassung, dass jeder Mensch frei und gleich an Würde und Rechten geboren ist, entstand in der Nachkriegszeit ein neuer Humanismus.

Aber das Böse lässt sich nicht für immer besiegen. Menschen müssen sich jeden Tag aufs Neue entscheiden. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wurden nur in einem Teil Europas zur gelebten Praxis, und der totalitäre sowjetische Gulag wurde nie gerichtlich verurteilt. Und so kehrt das Böse immer wieder zurück: das Massaker von Srebrenica; die Zerstörung von Grosny, wo damals eine halbe Million Menschen lebte; die russische Bombardierung von Aleppo; die Brandbomben auf Mariupol; die Leichen der Ermordeten auf den Straßen von Butscha.

Wie können wir im 21. Jahrhundert Menschen, ihre Würde, ihre Rechte und ihre Freiheit verteidigen? Können wir uns auf das Recht stützen – oder werden Waffen das Einzige sein, was zählt?

Ich stelle diese Fragen nicht nur als Bürgerin eines Landes, das sich gegen eine militärische Aggression Russlands verteidigt. Ich stelle diese Fragen als Bürgerin Europas. Europa muss auf die Herausforderungen der heutigen Zeit reagieren. Europa muss seine Rolle in einer globalen Welt wahrnehmen, in der Autoritarismus und Demokratie, Interessen und Werte, Macht und Recht, schnelle Gewinne und langfristige Perspektiven gegeneinanderstehen. Es ist die Entschlossenheit zum Handeln, die eine Gesellschaft zukunftsfähig macht.

Das gelungene Europa…

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl sollte nicht nur eine gemeinsame Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung schaffen. Vielmehr vertieften die Bemühungen für ein gemeinsames europäisches Projekt die Solidarität zwischen Ländern, deren Beziehungen jahrhundertelang durch blutige Auseinandersetzungen belastet waren. Der Europäischen Union ist es gelungen, dieses Erbe zu überwinden und Frieden zwischen ihren Mitgliedsstaaten zu gewährleisten. Die kontinuierlichen Bemühungen der Regierungen um die Förderung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ermöglichten über Jahrzehnte hinweg ein stabiles Wachstum. Dies ist jenes Europa, dem es gelungen ist, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern.

Dieses Europa befindet sich nach wie vor auf dem schwierigen Weg der Selbstfindung. Auch wenn es sich heute mit neu entdeckten guten Absichten schmückt, kommt es nicht umhin, das verheerende Erbe seiner kolonialen Vergangenheit anzuerkennen. Europa steht vor der Herausforderung, eine Einheit zu erzeugen, ohne auf Uniformität zu drängen; Integration zu gewährleisten, ohne Homogenität zu erzwingen. Es muss lernen, seine Vielfalt als Quelle der Solidarität zu nutzen. Es darf nicht zulassen, dass Autoritarismus und Imperialismus in seinen Gesellschaften Wurzeln schlagen.

Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, ist fast vollständig von uns gegangen. Die nachfolgenden Generationen sahen sich nicht gezwungen, ihr Blut zu vergießen. Sie haben die Werte der Demokratie von ihren Eltern übernommen. Und sie begannen, Rechte und Freiheiten als selbstverständlich zu betrachten. Zunehmend verhielten sie sich weniger als Träger dieser Werte denn als deren Konsumenten. Sie verstanden Freiheit immer öfter bloß als die Möglichkeit, im Supermarkt zwischen verschiedenen Käsesorten zu wählen. Und so sind sie bereit, Freiheit gegen Profit, Sicherheitsversprechen oder persönlichen Komfort einzutauschen. Es sollte nicht überraschen, dass populistische Kräfte in den entwickelten Demokratien an Boden gewinnen; Kräfte, die die Grundsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte infrage stellen.

Unsere heutige Welt ist schnelllebig, komplex und vernetzt. Die technologische Entwicklung, der Klimawandel, Verletzungen der Privatsphäre, wachsende Ungleichheit, die Entwertung von Wissen und andere globale Herausforderungen verlangen nach Antworten, die nicht im Rückgriff auf Vergangenes formuliert werden können. Jahrzehnte des relativen Wohlstands und das wachsende Verlangen nach einfachen Lösungen haben den Blickwinkel der entwickelten Demokratien verändert. Sie verstehen nicht mehr, dass der Frieden in Europa nicht ohne Anstrengungen erhalten werden kann, die dem Grad der Gefährdung angemessen sind.

…und die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen

Die Europäische Union umfasst bei weitem nicht ganz Europa. Sie ist jener Teil Europas, der es geschafft hat, den Grundsatz zu verwirklichen, dass Frieden, Fortschritt und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Dann sah sie sich der Gefahr der Stagnation gegenüber. Das gelungene Europa sollte die Bewegung anderer Länder in Richtung europäischer Werte unterstützen. In einer sich ständig verändernden Welt überleben nur offene Systeme und wandlungsfähige Kulturen. Mauern und Grenzen können nicht vor globalen Herausforderungen schützen. Wer aufhört, nach vorne zu schreiten, wird untergehen.

Die gegenwärtige Lage hängt nicht nur von den Entscheidungen und Handlungen des gelungenen Europas ab, sondern auch von seiner unmittelbaren Umgebung. Es ist das eine, von Ländern umgeben zu sein, die sich ebenfalls den Werten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verschrieben haben. Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn man von Staaten umringt ist, die diese Werte ablehnen. Wenn solche Länder an Stärke gewinnen, werden sie versuchen, euch zu zerstören.

Das gelungene Europa hat sich lange Zeit geweigert, gegenüber anderen Ländern der Region Verantwortung zu übernehmen, und dadurch die Etablierung autoritärer Regime zugelassen. Dieses Europa hat vergessen, dass Länder, die Journalisten töten, Aktivisten inhaftieren und friedliche Proteste auflösen, nicht nur für ihre eigenen Bürger eine Gefahr darstellen. Solche Staaten sind eine Bedrohung für die gesamte Region, ja, für die ganze Welt. Aus diesem Grund hätte es einer Reaktion auf systematische Menschenrechtsverletzungen bedurft. Menschenrechte sollten bei politischen Entscheidungen eine ebenso wichtige Rolle spielen wie wirtschaftlicher Nutzen oder Sicherheitsfragen. Ein Ansatz, der diesem Imperativ Rechnung trägt, muss auch in der Außenpolitik verfolgt werden.

Das zeigt sich sehr deutlich im Fall Russlands, das seine eigene Zivilgesellschaft Schritt für Schritt zerstört hat. Doch die entwickelten Demokratien haben davor lange die Augen verschlossen. Sie schüttelten russischen Repräsentanten die Hände, bauten Gaspipelines und machten weiter wie bisher. In vielen Ländern begingen russische Streitkräfte über Jahrzehnte hinweg Verbrechen, die stets ungeahndet blieben. Sogar bei der Annexion der Krim, einem beispiellosen Vorgang im Europa der Nachkriegszeit, zeigte die Welt kaum eine Reaktion. Russland glaubte tun zu können, was ihm beliebt.

Das gescheiterte Europa

Im Februar 2014 begann Russland einen Krieg gegen die Ukraine und besetzte die Halbinsel Krim sowie Teile der Oblaste Donezk und Luhansk. Zu diesem Zeitpunkt war die „Revolution der Würde“ in der Ukraine gerade zu einem Ende gekommen. Millionen von Menschen hatten sich mutig gegen ein autoritäres und korruptes Regime aufgelehnt. Im ganzen Land gingen sie auf die Straße und forderten eine weitere Annäherung an Europa und an wahrhaft demokratische Werte. Sie kämpften für das Recht, einen Staat aufzubauen, in dem die Rechte jedes Einzelnen geschützt werden, in dem Behörden Rechenschaft ablegen müssen, Gerichte unabhängig sind und die Polizei nicht auf friedlich demonstrierende Studenten einprügeln darf.

Es sollten die Politiker-innen eingesperrt werden, welche den Menschen die Freiheit verwehren !

Einige von ihnen zahlten dafür den höchsten Preis. Im Herzen der Hauptstadt erschoss die Polizei mehr als hundert friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten. Menschen starben unter den Bannern der Ukraine und der Europäischen Union.

Als das autoritäre Regime zusammenbrach, erhielt die Ukraine ihre Chance auf einen demokratischen Wandel. Um den Fortschritt der Ukraine zu einer wahren Demokratie aufzuhalten, begann Russland im Februar 2014 seinen Krieg. Im Februar 2022 weitete es diesen Krieg zu einer umfassenden Invasion aus. Nicht die Nato ist es, die Putin fürchtet; er hat Angst vor der Demokratie. Diktatoren fürchten die Idee der Freiheit.

Nun versucht Russland, den Widerstand zu brechen und die Ukraine zu besetzen, indem es der Zivilbevölkerung größtmögliches Leid zufügt. Russische Streitkräfte zerstören gezielt Wohnhäuser, Kirchen, Schulen, Museen und Krankenhäuser; sie schießen auf Evakuierungskorridore; sie halten Menschen in Filtrationslagern gefangen; sie führen Zwangsdeportationen durch; sie entführen, foltern und töten Menschen in den besetzten Gebieten. Europa gelang es nicht, dem ein Ende zu setzen.

Dies ist nicht zuletzt ein Krieg der Werte. Russland versucht, die ukrainische Nation davon zu überzeugen, dass ihre Entscheidung für die europäische Integration ein Fehler war. Russland versucht, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ein Betrug sind, dass sie falsche Werte sind. Denn in Kriegszeiten schützen sie niemanden. Russland will beweisen, dass ein Staat mit einem mächtigen Militär und Atomwaffen der gesamten internationalen Gemeinschaft die Spielregeln diktieren und sogar international anerkannte Grenzen verschieben kann. Es handelt sich also nicht um einen Krieg zwischen zwei Ländern, sondern um einen Krieg zwischen zwei Systemen – Tyrannei und Demokratie. Der Kampf wütet bereits. Die Menschen begreifen dies zwar erst, wenn ihnen die Bomben auf den Kopf fallen, aber dieser Krieg hat noch andere Dimensionen: Er ist ein Wirtschaftskrieg, ein Informationskrieg, ein Krieg der Werte. Ob wir den Mut haben, es einzugestehen oder nicht, dieser Krieg hat bereits die Grenzen zur Europäischen Union überschritten.

Russland hat Europa den Krieg erklärt. Russland kämpft gegen jene Werte, die Europa ausmachen. Europa muss also Verantwortung übernehmen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte können nicht ein für alle Mal erkämpft werden. Vielmehr müssen die Werte der modernen Zivilisation verteidigt werden. Wir müssen für sie kämpfen.

Das ängstliche Europa

Europa weiß nicht, wie es den Krieg beenden soll. Immer wieder fordern einzelne Stimmen die Ukraine dazu auf, Frieden zu schließen. Niemand will den Frieden mehr als die Ukrainer. Aber es gibt keinen Frieden, wenn das angegriffene Land die Waffen streckt. Das ist kein Frieden, sondern eine Besatzung, und Besatzung ist lediglich Krieg in anderer Gestalt.

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Juli 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

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Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Sonneberg – Ein AfD-Mann als Landrat und keiner weiß, was der macht. Frankreich und der pure Horror wobei die Polizei den Jugendlichen Nahel M. erschossen und es gibt Proteste. Die Deutschen liefern ein Heizungsgesetz welchees kaum jemand versteht.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Trotz „Wagner“-Implosion kein Frieden.

Und was wird besser in dieser?

Gern weiterimplodieren.

In Sonneberg wird erstmals ein AfD-Kandidat zum Landrat gewählt. Was hilft jetzt?

Unaufgeregtheit. Die AfD hat Alarm kassiert bis hin zur New York Times; das letzte Mal der Corona-Ausbruch nach einer Karnevalsfeier hatte so geschallert. Beides nicht so lustig. Beruhigend für eine Partei, die sich notorisch medial übergangen sieht. Außerhalb einer harten Nerdszene weiß kein Schwein, was einen guten Landrat von einem schlechten unterscheidet, ob der vaterländische Verwalter jetzt Rassentrennung auf Radwegen einführt oder kurz telefonisch mit Putin diese leidige Ukrainesache klärt. Hilfreich wird also, nüchtern zu gucken, ob der Neue liefert. Was er auf Plakaten versprach, liegt außerhalb seiner Amtsgewalt. Aus dieser sachlichen Perspektive heraus wäre Sonneberg kein Multispreader-Event, sondern ein Wahlkreis, der sich tüchtig vertan haben könnte. Helfen hilft nix, die wollen Autorität.

Der ­Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte bei einem Auftritt in Weimar zum Sieg der AfD: „Das größte Standortrisiko für Ostdeutschland ist die AfD.“ Kämen Sie als Fachkraft noch nach Deutschland?

Der Klassiker „Was sollen denn die anderen denken“ lenkt hilfreich davon ab, es selbst zu tun. Versuchen wir’s trotzdem: Sonneberg zum Beispiel hat unterdurchschnittliche 5 Prozent Arbeitslose, unter Nichtstaatsbürgern jedoch über 11 Prozent. Der Landkreis ist nationaler Rekordhalter im Mindestlohn, nirgends ist der Anteil an Mindestlöhnern höher als hier. Kümmerstaat mal Perspektivlosigkeit gleich Langeweile. Erz-, Glas- und Spielzeugindustrie starben nacheinander weg, hier bräuchte es erst mal Ansiedlung, damit man sich dann drüber ärgern kann, wenn keine Fachkräfte folgen. Genau genommen müsste der FDP-Chef also standortscheue Unternehmer kritisieren. Dann wäre Lindner aber selbst ein Standortrisiko.

In Frankreich erschoss ein Polizist am Dienstagmorgen den 17-Jährigen Nahel M. in Nanterre. Mehrere Nächte in Folge kam es zu Ausschreitungen. Die Polizei, gegen die sich die Krawalle richten, soll die Lage beruhigen. Geht so De­eskalation?

Man mag die Revolution, Barrikaden und „An die Laterne!“ als Frankreichs staatsbegründende Folklore lesen heute – um den Horror der bürgerkriegsähnlichen Bilder einzusortieren. Wenn man damit fertig ist, bleibt Horror. Ein Gesetz von 2017 erlaubt es der Polizei, bei „Befehlsverweigerung“ zu schießen. Das führte zu 13 Toten bei Verkehrskontrollen 2022. Der Todesschütze diesmal ist Afghanistanveteran und ordensgeschmückter Gelbwestenbekämpfer. Die Eskalation hat einen Trumpf – auf sie ist Verlass. Beide Seiten sind drauf verabredet. Deeskalation fängt damit an, dass jemand sie will.

Die Ampel feierte die Einigung zum Heizungsgesetz. Die Sonderregel für über 80-Jährige wurde nun gestrichen. Ist das Altersdiskriminierung?

Die Greisenklausel war ein gut gemeinter Selbstmordanschlag: Klimawandel jetzt mit vermindertem Eintritt für Rentner, Schüler und Kriegsversehrte. Vulgo: Was da vor uns liegt und die Ampel verlangt, ist nur was für starke Gemüter, Leistungsfähige. Deutlicher kann man „Zumutung“ nicht formulieren.

Das Gebäudeenergiegesetz sei ein „Meilenstein für den Klimaschutz“, sagen die Grünen. Wer kann die Novelle nach all dem Streit noch feiern?

Quelle           :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Von der Stasi zu den Nazis?

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Juli 2023

„Das waren die 90er Jahre, ja?“

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Aus Wernigerode von Aron Boks

Kurz nach der Wende war Werningerode eine rechtsextreme Hochburg. Unser Autor wurde dort 1997 geboren und wusste lange nichts über diese Zeit. Eine Spurensuche zu den Punks und Nazis von einst.

Als meine Mutter im Frühjahr 2022 ihren 50. Geburtstag feiert, sehen wir uns gemeinsam mit meinem Vater in ihrem Haus in Wernigerode alte Fotos an. Ich entdecke eines, von dem ich zunächst glaube, dass ich darauf zu sehen bin. Doch es ist mein Vater, Anfang der 90er Jahre. Schließlich entwickelt sich daraus ein Gespräch über den 20. Geburtstag meiner Mutter. Es war der 25. April 1992. Ein Tag, an dem eine ganze Horde Neonazis nach einem Rechtsrockkonzert durch die Stadt stürmte, erzählen meine Eltern nebenbei. Meine Mutter feierte währenddessen mit ihren Schul­freund:in­nen etwas abseits der Stadt.

„Ich weiß gar nicht, warum ich nicht bei deiner Party war …“, sagt mein Vater, während er die weiteren Fotos durchsieht.

„Weil ich dich nicht eingeladen habe“, antwortet meine Mutter.

„Das stimmt doch gar nicht.“

„Doch!“

„Neonazis in Wernigerode?“, frage ich, um das wirklich Erstaunliche hier zu klären.

Eigentlich sollte ich nicht überrascht sein. Dass es im Osten Deutschlands haufenweise Rechtsextreme gab und gibt, ist nun wirklich nichts Neues. Gerade in den neunziger Jahren. Genauso wenig verblüffend ist es, dass sich damals überall Linksautonome als politisches Gegengewicht mobilisierten. Aber in Wernigerode? Dieser heute so biederen Fachwerkstadt, die, seit ich denken kann, vor allem von Tou­ris­t:in­nen und Rent­ne­r:in­nen bevölkert ist?

„Aron, früher war hier jeden Tag 1. Mai“, sagt mein Vater aufgeregt und erzählt von rechten Jugendlichen mit Baseballschlägern, von Linken, die diese bekämpften und in einem besetzten Haus lebten – dem Schlachthof, den es heute nicht mehr gibt.

Warum wusste ich so gar nichts davon?

Der Geschichtsunterricht meiner Schulzeit endete mit dem Mauerfall und Bildern von Menschen, die mit Deutschlandfahnen durch DDR-Städte liefen. Danach war Schluss. Kein Wort über Neonazis im wiedervereinigten Deutschland. Ich will mehr über die Rechtsextremen in Wernigerode und dieses gut 30 Jahre zurückliegende Neonazikonzert wissen.

Alles geht auf einen Mann und Veranstalter zurück, der nach dem Konzert häufiger Gast der Stadt sein wird: Thorsten Heise. Ein immer noch aktiver militanter Neonazi, Veranstalter von Rechtsrockkonzerten in Thüringen und Freund von Björn Höcke. Damals ist Heise 23 Jahre alt und einer der Köpfe der 1995 verbotenen rechtsextremen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP). So erzählt es mir Rechtsextremismusexperte David Begrich.

Über 600 Neonazis aus unterschiedlichen Städten folgen an diesem Tag seiner Einladung. Sie treffen sich im Gasthof Salzbergtal, grölen Songzeilen der Bands Tonstörung („Blut muss fließen knüppeldick“) und Kraftschlag („Scheiß Punks“). Und laufen, angestachelt durch Musik und Alkohol, auf den Schlachthof zu. Sie wollen ihn stürmen. Doch um das besetzte Haus hat sich eine Polizeikette gebildet, die die Nazis abhält.

Dieses Konzert ist nicht irgendein Konzert. Vielmehr ist es der Beginn einer Zeit, in der Wernigerode zu einer Hochburg der FAP wird, wie der Soziologe und Publizist Eberhard Seidel 1995 in „Stinos, Glatzen und Trinker: Jugend auf der Suche nach neuen Normen und Umgangsformen“ schreibt. Allein im Jahr 1992 werden mehr als zehn Anschläge auf Asyl­be­wer­be­r:in­nen im Umkreis der Stadt verübt.

Mein Vater, damals gelegentlich Besucher des besetzten Hauses, versucht Kontakte für mich herzustellen. Er verließ Wernigerode nach dem Abitur im Jahr 1990, wie auch meine Mutter, kehrte jedoch Anfang der 2000er mit der Familie – mit mir – zurück. Er lebt bis heute dort, während ich seit 2016 in Berlin lebe. Erst seit Kurzem erforsche ich, wie so viele Nachwendekinder, welche Rolle der Osten in meinem Leben spielt. Meist beschränkt sich das auf die DDR-Zeit. Von der Zeit danach habe ich kaum eine Vorstellung. Meine Eltern können dazu nichts sagen, sie waren in den Neunzigern nicht vor Ort. Klar, da sind Bücher, die ich gelesen habe, „Wir waren wie Brüder“ von Daniel Schulz oder „Aus unseren Feuern“ von Domenico Müllensiefen. Doch Wernigerode kommt darin nicht vor. Die meisten Zeit­zeu­g:­in­nen aber leben ja noch hier. Ich will mit ihnen sprechen. Wie fühlte es sich an, in diesem komplett umgekrempelten Land erwachsen zu werden? Was hat im Osten vor und während meiner Kindheit stattgefunden? Wie konnte es zu den Gewaltexzessen kommen?

Über die Linksautonomen finde ich recht schnell heraus, wer früher zu den Neonazis der Stadt gehörte. Ich rufe diese an. Es fühlt sich komisch an, bei ehemaligen Neonazis anzurufen. Die meisten seien „selbstverständlich“ auf dem Konzert gewesen, könnten aber nicht darüber reden, sagen sie mir. Nicht einmal anonymisiert.

Irgendwann schickt mir mein Vater eine Nummer aus seiner Kontaktliste: Maik – einer der Urbesetzer des Schlachthofs. Er sei nicht nur bereit zu sprechen, sondern habe darüber hinaus auch Kalle zu sich eingeladen, um mir etwas über die Zeit vor 30 Jahren zu berichten. Der große Vorteil: Kalle und er seien heute gute Bekannte, damals aber sei Kalle bei den Rechten gewesen. Beide heißen in Wirklichkeit anders, sie wollen nicht mit ihrem Namen genannt werden. Auch alle anderen Personen wollen nur mit mir sprechen, wenn sie in dieser Geschichte ano­nym bleiben. Ich willige trotzdem ein. Vieles, was sie mir erzählen, lässt sich durch das Stadtarchiv, durch Zeitungsberichte oder Ausgaben des Antifaschistischen Infoblatts prüfen. Andere Darstellungen bleiben Behauptung – vollständig verifizieren kann ich sie nicht.

An Maiks Haustür hängt heute ein Schild, auf dem eine Persiflage der Antifa-Flagge zu sehen ist. „Prokrastinistische Aktion“, steht darauf. Als ich klingele, öffnet mir ein drahtiger Mann mit langem braunem Haar und Trainingsanzug. Hinter ihm steht eine weitere Person, die sich nicht als Kalle, sondern Anja vorstellt – eine mittelgroße Frau mit blonden Locken. Maik hatte auch sie eingeladen. Vor 30 Jahren war auch sie Stammgast im besetzten Haus. Wer nicht da ist: Kalle. „Er musste absagen, sein Sohn ist krank“, sagt Maik.

Maik arbeitet seit einiger Zeit im Tourismusbereich. Anja ist So­zial­pä­da­go­gin. Beide sind Anfang 50. Es riecht nach Räucherstäbchen, überall im Haus stehen Buddhafiguren. „Meinen Baseballschläger habe ich noch“, erzählt er, als wir über die Kämpfe zwischen Punks und Nazis sprechen.

Wir reden über das Konzert.

„Wir waren gewohnt, dass Nazis in der Stadt waren. Aber so viele auf einem Haufen wie an dem Tag hatten wir noch nicht gesehen.“ – „Ich weiß noch, was für eine scheiß Angst ich damals hatte“, sagt Anja leise.

Als ich ins Behördenarchiv schaue, sehe ich, dass Faschismusbekämpfung schon damals nicht zu den Stärken der Regierung Sachsen-Anhalts gehörte. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage des Landtagsabgeordneten Gerd Schuster von der PDS im September 1992, ob der Regierung erstens klar wäre, dass die FAP gerade dabei wäre, ein echtes neonazistisches Zentrum in Wernigerode aufzubauen, was man zweitens jetzt tun müsste und ob es drittens noch weitere Problemherde dieser Art gäbe, erklärte die Landesregierung zu Punkt eins, nichts zu wissen, verwies zu Punkt zwei auf Punkt eins und erklärte überdies, keine Ahnung von weiteren Neonazizentren zu haben.

Aber als das Konzert im April 1992 stattfindet, hat die Polizei wohl eine Vorahnung. Jedenfalls will sie die Neonazis vom Schlachthof fernhalten. „In dem Moment haben wir uns gut mit den Cops verstanden. ‚Wenn ihr uns schützt, benehmen wir uns natürlich‘, haben wir ihnen gesagt“, erklärt Maik. Und weiter: „Wir haben auch mal als Erste zugeschlagen, klar. Wenn du immer wieder von Faschos angegriffen wirst, dann wirst du irgendwann aggressiv.“

„Krass, dass sich dieses Links-­gegen-rechts überhaupt wieder beruhigt hatte“, sagt Anja.

Aber wie kam es dazu?

Irgendwann wären eben alle älter geworden. Irgendwann hätte es Technopartys im Schlachthof gegeben, irgendwann hätten alle Ecstasy entdeckt, und irgendwann hätten die Neonazis unter diesen Umständen gern mit den Linksautonomen gefeiert.

„Wie bitte?“, frage ich.

„Nur wenn die Rechten friedlich waren, durften sie auch mitfeiern“, sagt Maik.

Bis zu ihrem Verbot 1995 kann die FAP in Wernigerode weiter Fuß fassen. Durch die Partei radikalisieren sich viele Jugendliche. Die Stadt immerhin merkt, dass sie etwas tun muss. Die „Lösung“: Sie gibt den linksautonomen Haus­be­set­ze­r:in­nen feste Wohnungen. Und den Rechtsextremen einen Jugendclub zum Musikmachen und als Freizeittreff: den Harzblick. Vielerorts wird die sogenannte akzeptierende Jugendarbeit praktiziert – dieses Modell war schon für die Sozialarbeit mit Suchtmittelabhängigen anerkannt, in den Neunzigern wird es im Osten auch bei Rechtsextremen angewendet. Manche Kids kommen erst in den Jugendtreffs in Berührung mit der Naziszene.

Auch in München wurde marschiert !

Der Schlachthof fungiert nur noch als linkes Veranstaltungszentrum. 1994 zünden Neonazis das Gebäude an, es brennt nieder. Es ist niemand im Haus, Verletzte gibt es nicht. Die Täter bezeichnen es als Racheakt an den Linken.

Über meinen Vater lerne ich auch Fabian kennen. Fabian lebt bis 1994 in Wernigerode, ehe er zum Studium nach Berlin geht. Wir treffen uns in einer Kneipe in Leipzig, wo Fabian heute lebt. Er trägt ein Jackett, sein Haar ist adrett kurz geschnitten und gegelt. Damals habe er zerfranstes Haar gehabt, Jeansjacke getragen, einen Aufnäher mit durchgestrichenem Hakenkreuz darauf. Am Tag des Konzerts im Salzbergtal ist er 16 Jahre alt. Eigentlich will er an dem Tag ein anderes Konzert – das eines Schulchors – besuchen. „Als die Faschos mich an dem Tag entdeckt haben, habe ich den schnellsten Sprint meines Lebens hingelegt“, sagt er. „Wir waren nur blasse, dünne Gymnasiasten. Ich bin aber irgendwann nur noch mit meiner Schreckschusspistole und einem Butterflymesser aus dem Haus gegangen.“ Am Tag des Konzerts hätten die Nazis ihn überfallen. „Als ich dann Anzeige bei der Polizei gestellt habe, hat mich der Polizist, der die Anzeige aufnahm, angeschaut und fast väterlich zu mir gesagt, dass ich mich doch besser unauffälliger kleiden solle; so sei es doch kein Wunder, dass so etwas passiere.“ Fabian erzählt von der Überforderung der Erwachsenen damals. Die Ausschreitungen „der Jugend“ bekommen sie zwar mit, doch sie können sich kaum in deren Lebenswelten hineinversetzen.

„Insgesamt war das einfach auch die Folge eines gewaltigen Staatsversagens“, sagt er, als wir die Kneipe verlassen.

In der Zeit, als Fabian und ich uns zum ersten Mal treffen, erscheinen kurz nacheinander drei Bücher zu den sogenannten Baseballschlägerjahren, darunter jene von Schulz und Müllensiefen. Schon zwei Jahre zuvor zeigt die Journalistin und Soziologin Katharina Warda in ihrem Essay „Der Ort, aus dem ich komme, heißt Dunkeldeutschland“ auf, wie es war, als Schwarze Person in der ostdeutschen Provinz groß zu werden. Sie wurde 1985 in Wernigerode geboren, sie war früher Punk. Mir erzählt sie, wie sie so gut wie keinen Schutzraum gehabt und sich jeden Tag potenziell in Lebensgefahr gebracht hätte, sobald sie das Haus verlassen hätte. Als Ecstasy angeblich die Baseballschlägerjahre beendet haben soll, lebte sie nicht mehr in Wernigerode. „Die Neonazis können einfach über all das sprechen, weil sie keine großen Konsequenzen zu befürchten haben“, sagt sie mir am Telefon. Und: Wer nicht entschlossen und dezidiert aussteige, sei für sie auch „nicht richtig raus“.

Ende 2019 kursiert der Hashtag #baseballschlägerjahre erstmals im Netz. Zahlreiche Erfahrungsberichte folgen, in denen über rechten Terror im Osten berichtet wird. Für mich bleibt die Gewalt immer noch schwer zu greifen. Ihre Selbstverständlichkeit, ihre Allgegenwart. Wieso manifestierte sich der Hass in kleinen, scheinbar idyllischen Städten wie Wernigerode, wo je­de:r je­de:n kennt? Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, wie ein paar Leute, die ihr ganzes Leben in der gleichen kleinen Stadt verbringen, sich auf einmal dazu entscheiden, jene Menschen, mit denen sie noch ein paar Jahre zuvor die Schulbank gedrückt haben, zu verprügeln.

Hakenkreuzflaggen und Bomberjacke

Sommer 2023, die Recherche zieht sich. Ich rufe Kalle wieder an. Wieder vereinbaren wir ein Treffen. Und wieder sagt er kurzfristig ab. Maik ist nicht erstaunt, als ich ihm davon erzähle. Er schlägt mir jemand anderen vor, mit dem ich mich treffen könne: Sven. Der war damals bei den Faschos, dann regelmäßiger Gast auf Technopartys.

Ich treffe Sven in seinem Haus in Wernigerode, auch Maik ist dabei. Sven ist spindeldürr, trägt ein weißes-T-Shirt, Shorts und Badelatschen. An seinen Wänden hängen Sauerteigrezepte, Sinnsprüche wie: „Alles ist verbunden. Trage die Botschaft weiter“, und wieder stehen Buddhafiguren rum.

Sven ist 13, als er beim Salzbergtal sein erstes „Glatzenkonzert“ besucht. Wie es dann weiterging? „Ziemlich wild“, sagt er, sieht zu Maik. Beide beginnen zu lachen. Sven war immer dabei, wenn es zu Schlägereien zwischen links und rechts in der Stadt kam, aber eher in der zweiten Reihe. Auch habe er keine echte Faschoideologie verfolgt – dass ihm in der DDR nicht alles über den Zweiten Weltkrieg erzählt wurde, dass sein Opa der liebste Mensch war und so weiter, das habe er schon geglaubt. Sven rasiert sich zu dieser Zeit den Kopf, hat Hakenkreuzflaggen und Bomberjacken im Kinderzimmer. Mehr als Provokation, wie er sagt. Mir fällt es schwer, das zu glauben. Aber seinen Nazilifestyle beschreibt Sven ausführlich und genau. Natürlich habe er auch den Hitlergruß gemacht, der habe dazugehört. „Die Polizei hier in Wernigerode war aber von allem überfordert“, sagt Sven. Maik nickt: „Ja, das haben wir alle ausgenutzt. Auch wenn wir uns von unserer Seite so einen politischen Anstrich gaben, ging es da auch um das Adrenalin – das war schon’ne geile Droge“, sagt er. Die beiden lachen. Ich konfrontiere sie mit den rassistischen, gewaltgeilen Texten, die da auf den Konzerten gesungen wurden. „Man ist da irgendwie reingerutscht. Das darfst du nicht so engstirnig sehen. Du hattest hier nur die Wahl, links oder rechts zu sein, wenn du irgendwie anders sein wolltest.“

„Wieso wolltest du anders sein?“

„Na, das will doch jeder, oder nicht?“, sagt er, sieht mich an und beginnt zu grinsen. „Oder willst du so der grobe Durchschnitt sein?“

Sven hatte damals noch ein anderes soziales Umfeld als die Rechts­ex­tre­men. „Zum Glück!“, sagt er heute. Er sei nur bei den „gemäßigteren“ Rechten im Jugendclub Center gewesen.

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Immer wieder beginne ich einen Satz, bringe ihn nicht zu Ende, entschuldige mich für die Fragen, bevor ich sie überhaupt stelle. Dann frage ich ihn, ob er auch Aus­län­de­r:in­nen gejagt habe. Er schüttelt den Kopf. So sei es nur bei den „richtigen Faschos“ zugegangen.

Ich weiß nicht, was die Unterscheidung zwischen „richtigem Fascho“ und „gemäßigt“ überhaupt bedeuten soll. Und vor allem, wieso man als Jugendlicher mit den Neonazis rumhängen wollte, von denen jeder wusste, dass sie herumzogen und Menschen verdroschen, weil sie anders aussahen.

Eine Spiegel-TV-Reportage aus dem Jahr 1993, die über die ständigen Aus­einandersetzungen zwischen Linken und Rechten in Wernigerode berichtet, zeigt einen speziellen Fall. Ein Mann, völlig normal und unauffällig gekleidet, läuft durch die nächtliche Stadt und berichtet davon, wie er von zwei Faschohorden angegriffen wurde. Der Moderator sagt, ein Verbot des Sonderparteitags der FAP durch das Ordnungsamt sei der Grund für die Krawalle gewesen. Ein Video wird eingeblendet: Die Faschos stürmen auf den Typen los, schlagen und treten auf ihn ein, brechen ihm den Schädel. Einfach so.

Einen Tag später klingelt mein Handy. Es ist Kalle. Sven hat ihm von unserem Treffen erzählt. Will er doch reden?

Noch am gleichen Tag fahre ich nach Wernigerode und stehe vor Kalles Wohnung in der Innenstadt. Er wartet vor seiner Tür. Scheiße, denke ich. Da steht dieser Schrank mit Glatze, voll tätowiertem Kopf und einem bulligen Kampfhund. Kalle winkt mich fröhlich heran. „Lass uns vielleicht doch lieber zu mir zum Reden gehen, was?“

Kalle sagt, er sei Oi!-Skin geblieben, das sei ein Lifestyle, und er schäme sich auch nicht dafür. Heute besuche er Hardcore- und eben Oi!-Punk-Konzerte. Unpolitisch, sagt er. Aber wenn jemand „Nazis raus!“ rufe, gehe ihm das auch auf die Nerven. „Aus beiden Richtungen“ möge er keine Phrasen. Wählen gehe er nicht, sei er nie, werde er auch nie, sagt er. Er werde sich nie einem System anpassen. Was ihm wichtig ist zu sagen: Diese ganze Fascho­ideologie liege hinter ihm, er habe sich davon gelöst. Meine Recherchen ergeben, dass Kalle bis in die nuller Jahre noch mit Nazis zu tun hatte, danach aber nicht mehr.

Quelle         :          TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben      —         Menschenmengen auf der Berliner Mauer Ende 1989 nach dem historischen Mauerfall. Im Hintergrund das Brandenburger Tor, Symbol der Wiedervereinigung Deutschlands

Neonazi-Demonstration am 2. April 2005 in München

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Ich fühle mich begafft

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Juli 2023

Meta legt KI-Systeme offen

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

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So genau wie nie verraten Facebook und Instagram nun, wie und wofür sie unsere Klicks überwachen. Die neue Transparenz von Meta beantwortet unser Autor mit Transparenz über seine Gefühle. Ein Kommentar.

Jetzt lässt sich im Detail nachlesen, was im Prinzip schon lange bekannt ist. Die Meta-Töchter Instagram und Facebook erfassen und verarbeiten so ziemlich alles, was Menschen auf ihren Plattformen machen. Daraus berechnen sie Prognosen über unser Verhalten.

Meta erklärt das auf einer neuen Infoseite, geordnet nach 22 Bereichen wie Facebook-Benachrichtigungen, Facebook-Feed, Instagram-Stories, Instagram-Reels. Für jeden Bereich berechnen Algorithmen ein Bündel aus Prognosen und werten teils dutzende Datenpunkte aus. Passend zum aktuellen KI-Hype spricht Meta von „KI-Systemen“.

Facebook berechnet etwa die Wahrscheinlichkeit, wie lange ich mir ein Foto anschauen werde, ob ich weiterscrolle, like oder kommentiere, ob ich mir weitere Kommentare zu dem Foto durchlese, ob ich mir das Foto später nochmal anschaue, und vieles mehr. Auf dieser Grundlage landen Inhalte in meinem Feed.

Bei vorgeschlagenen Kontakten („Personen, die du kennen könntest“) berechnet Facebook die Wahrscheinlichkeit, ob ich der Person auch wirklich eine Freundschaftsanfrage schicke. Dabei kann Facebook sogar sein Wissen über mir unbekannte Freundesfreund*innen nutzen. Denn Meta bezieht ein, „welcher Prozentsatz deiner Facebook-Freund*innen in irgendeiner Art mit der vorgeschlagenen Person verbunden ist, z. B. als Freund*innen von Freund*innen“. Das heißt: Facebook weiß über mein Umfeld mehr als ich.

Die Resonanz in mir ist Wut

Schon klar, all das sollte heute niemanden mehr überraschen. Wer nicht überwacht werden will, darf solche Dienste nicht nutzen. Ganz einfach. Das war schon vor Jahren bekannt. Aus gutem Grund bin ich längst allen Kontakten bei Instagram und Facebook entfolgt und habe die Apps von meinem Handy verbannt. Mit Genugtuung. Trotzdem ist damit für mich noch nicht alles gesagt.

Mir reicht das nicht, das ganze mit einer Geste der Abgeklärtheit als „no news“ zu deklarieren. Noch vor ein paar Jahren wollten sich Forschende mithilfe von Datenspenden zusammenstückeln, wie genau Facebook uns überwacht und uns Inhalte vorsetzt. Jahrelang haben Politiker*innen um das Digitale-Dienste-Gesetz gerungen, das Plattformen wie Meta mehr Transparenz abtrotzt. Der neue, zunächst freiwillige Blick hinter die Kulissen von Meta lässt sich als Folge von diesem Gesetz interpretieren. Jetzt haben wir die Transparenz, die wir all die Jahre verlangt haben.

Wenn ich darauf achte, welche Resonanz das in mir auslöst, dann bemerke ich Wut. Mich macht bereits wütend, mit welchen Worten Meta-Manager Nick Clegg die neue Infoseite präsentiert. Clegg schreibt von der „Beziehung“ zwischen mir und den Algorithmen. Über diese „Beziehung“ wolle man jetzt „offener“ sprechen. Als wäre Meta ein Kumpel, mit dem es in letzter Zeit etwas schwierig war. Doch jetzt fassen wir uns ein Herz und rücken wieder näher zusammen. Bullshit.

Die wollen meine Aufmerksamkeit ausbeuten

Die Beziehung zwischen Meta und mir ist ein Ausbeutungsverhältnis. Es gibt keine Augenhöhe, sondern ein unüberwindbares Machtgefälle. Der Konzern höhlt meine Privatsphäre aus, um meine Aufmerksamkeit auszubeuten. Meine Aufmerksamkeit wird durch algorithmisch optimierte Inhalte gefesselt und durch Werbung zu Geld gemacht. So ist das. Man kann dabei durchaus Genuss empfinden – das habe ich im Frühjahr am Beispiel von TikTok aufgeschrieben. Es macht mich nur wütend, wenn man das schönredet.

Aber gut, lassen wir uns kurz darauf ein, dass mein Kumpel namens Meta mit mir Beziehungsarbeit machen will. In diesem Fall müsste ich meinem Kumpel sagen: Tut mir leid, das reicht noch lange nicht, damit wir uns annähern. Unsere Beziehung war von Anfang an kaputt.

Jahrelang hat Meta nur vage offengelegt, wie seine Dienste mich überwachen. Dass Meta dazu jetzt mehr verrät, ist nichts wofür man dankbar sein sollte. Es ist das Mindeste, und es kommt zu spät. Selbst heute ist die Transparenz bei genauem Hinsehen nicht ganz aufrichtig. Die langen Listen mit Dutzenden Datenpunkten sind nicht vollständig. Überall steht dabei: „Zu den Signalen, die in diese Prognose einfließen, gehören“. Das heißt, da ist vielleicht noch mehr.

Aufdringlich, übergriffig, grenzverletzend

Ich habe mir ein paar Minuten lang durchgelesen, was Meta über mich auswerten kann, hier am Beispiel von Instagram Stories:

  • Wie viel Zeit du insgesamt damit verbracht hast, dir Stories dieses*dieser Verfasser*in anzusehen
  • Auf wie viele Stories du geantwortet oder diese geteilt hast sowie die Zeit, die du im Durchschnitt damit verbracht hast, dir jede einzelne Story anzusehen
  • Wie viele Stories du dir nicht angesehen hast
  • Die gesamte Anzahl an Stories in der Collection eines*einer Verfasser*in und wie oft du dir Stories dieser Person angesehen hast
  • Wie oft du dir Stories wiederholt angesehen hast, indem du zu ihnen zurückgekehrt bist

Ein häufig vorgebrachtes Argument lautet: Selbst wer nichts zu verbergen hat, sollte sich gegen Datensammelei und Tracking stark machen. Aus Solidarität mit anderen, für die Privatsphäre überlebenswichtig sein kann. Etwa Whistleblower*innen, Dissident*innen, Menschen, die wegen Rassismus oder Queerfeindlichkeit verfolgt werden. Ich finde das Argument überzeugend. Doch sogar ohne dieses Argument merke ich, wie sehr mich diese Datensammelei ganz persönlich ankotzt.

Egal, dass ich nichts zu verbergen habe. Egal, dass Meta das nur für Geld macht. Egal, dass kein Mensch Lust und Zeit hätte, all meine Daten mit eigenen Augen zu sichten. Egal, dass mir schon nichts Schlimmes passiert, wenn ich Facebook und Instagram nutze. Ich finde diese umfassende Dauerbeobachtung extrem aufdringlich, übergriffig und grenzverletzend.

Nein sagen

Was für ein Creep muss man eigentlich sein, um einen Dienst anzubieten, der genau erfasst, bei welchen Uploads ich hängen bleibe, weil sie mich vielleicht berühren, aufregen, erregen oder verängstigen? Das hat einfach niemanden etwas anzugehen.

Um es plastisch zu machen: Wenn ich mir durchlese, was Meta über mich erfasst, dann fühle ich mich begafft, als läge ich nackt auf einem OP-Tisch, frostweißes Scheinwerferlicht auf meinem Körper, und jemand schaut sich stundenlang mit der Lupe meine Pickel an.

Ich finde, das gehört verboten. Facebook und Instagram gehören gelöscht. Online-Kontakt mit Menschen habe ich lieber über Messenger, Ende-zu-Ende-verschlüsselt.

Ich will hier aber auch keinem Vorwürfe machen, der entgegnet: „Sorry, ich fühl’s überhaupt nicht. Ich werde weiter Instagram nutzen“. Alle ziehen ihre Grenzen anders, es gibt Schlimmeres. Mit der eigenen Empörungsenergie muss man auch irgendwie haushalten.

Trotzdem finde ich es wichtig, das mal auszusprechen. Ich lehne das ab, von Meta begafft zu werden. Man muss sich nicht damit abfinden, weil Milliarden Menschen das auch tun. Es ist OK, seine Grenzen so streng zu ziehen, und es ist OK mit Blick auf Facebook und Instagram zu sagen: Nein.

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Die Politik der Inlandsspione

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Juli 2023

Kritik am deutschen Verfassungsschutz

Von Till Schmidt

Der Journalist Ronen Steinke nimmt in seinem Buch den Verfassungsschutz ins Visier – vor allem dessen große Macht, im Inland Personen auszuspionieren.

Im Vergleich zu anderen liberalen Demokratien ist der deutsche Verfassungsschutz ein Unikum. Trotz ähnlicher Bedrohungen, wie sie etwa in den USA, Frankreich oder in Österreich vor allem von Rechtsextremen ausgehen. Das FBI, der Inlandsgeheimdienst DGSI oder die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst sind anders konzipiert.

Ronen Steinke hat nun ein neues Buch veröffentlicht, das sich mit den Aufgaben und der Funktionsweise der hiesigen Verfassungsschutzämter beschäftigt. Man könnte auch von einem pointierten Profil sprechen, das der Jurist, Journalist und Buchautor angelegt hat: Auf knapp 200 Seiten geht Steinke mit den gewachsenen Strukturen, dem Selbstverständnis und dem konkreten Agieren der Verfassungsschutzämter ins Gericht – und das mitunter sehr hart.

Steinke schildert anschaulich, wie folgenreich etwa eine Nennung in den Verfassungsschutzberichten für Organisationen und ihnen angehörende Einzelpersonen ist. Ein bekanntes Beispiel aus den letzten Jahren ist der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Anti­faschisten), dem durch eine später wieder rückgängig gemachte Aberkennung seiner Gemeinnützigkeit exis­tenzgefährdende Steuernachzahlungen drohten.

Oder Klimaaktivist:innen, die von manchen Ämtern gar nicht wegen ihrer Protestmethoden, sondern schon wegen politisch relativ gemäßigter Forderungen als „Verfassungsfeinde“ gelten.

An den Grundrechten rütteln

Die Argumentationen, die zu solchen Einschätzungen seitens der Behörden führen, sind häufig alles andere als stichhaltig. Bei genauerem Hinsehen würden die als Beweis für eine Verfassungsfeindlichkeit angeführten Aussagen häufig sogar solide auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Denn wirtschaftspolitisch ist das Grundgesetz eigentlich „ziemlich offen“, schreibt Steinke. Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung von unliebsamen politischen Akteuren.

Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung

Seehofer musste gehen und ließ den Haldenwang allein im Regen stehen ?

Steinke geht es nicht unbedingt darum, politisch Partei zu ergreifen für die von den Behörden ins Visier genommenen Gruppen. Als Verteidiger eines liberalen Rechtsstaates stört er sich vor allem daran, wie stark mitunter an Grundrechten wie Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gerüttelt wird sowie linke und rechte Gruppierungen mit Doppelstandards beurteilt werden. Steinke kritisiert die deutschen Verfassungsschutzämter als „Politik-Beobachtungs-Geheimdienst“.

Aspekte wie behördliche NS-Kontinuitäten, die Zeit des „Radikalenerlasses“ oder die Mordserie des NSU behandelt Steinke relativ knapp. Besonders spannend sind die Kapitel zur digitalen Quellen-Überwachung und der Präsenz der Ämter in den sozialen Medien. Hierfür hat sich Steinke auch mit Agenten und ehemaligen Mitarbeitern getroffen. An diesen Stellen liest sich das Buch teils wie eine Reportage.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen 

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Oben     —     Buildung of the Federal Office for the Protection of the Constitution in Berlin

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Causa Wagenknecht

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Juli 2023

Ein Wort zu Causa Wagenknecht und anderen Pusteblumen

File:Pusteblumen Wiese.jpg

Quelle      :        AKL

Von          :        Thies Gleiss

1.

Der Beschluss des Parteivorstandes der LINKEN (PV) in der Causa Wagenknecht vom vergangenen Wochenende tappt in einer Weise in die vom Büro Wagenknecht aufgestellte Falle, dass es schon beim Lesen mit schmerzt.

Der PV plustert sich in der organisatorischen Frage auf, ohne die minimale praktische Konsequenz ziehen zu wollen oder zu können. Ein formaler Ausschlussantrag an die Schiedskommission, die allein darüber zu befinden hat, wird nicht gestellt. Der PV übernimmt damit ganz nach Wunsch von Sahra Wagenknecht die Rolle des „Spalters“ und überreicht ihr auf dem Silbertablett eine letzte Chance, mit der LlNKEN als Parteiprojekt zu pokern.

2.

Sahra Wagenknecht IST schon lange aus der Partei DIE LINKE ausgeschert. Kein PV-Beschluss und auch kein Entscheid einer Schiedskommission könnten den Bruch noch toppen, den Sahra Wagenknecht selbst schon lange vollzogen hat. Wer ein 400-seitiges „Gegenprogramm“ (so die Selbsteinschätzung) zur LINKEN schreibt und es hunderttausendfach verkauft, dafür 800.000 Euro oder noch mehr mehr als persönlichen Verräterinnen-Lohn einkassiert, ist meilenweit von der Partei, die sie dennoch noch einmal für die Bundestagswahl aufgestellt hat, entfernt. Nicht die Zukunft, wie Janine Wissler und Martin Schirdewan es erklären, wird ohne Wagenknecht sein, die Gegenwart ist es schon lange. Die Gegenwart von Sahra Wagenkencht ist durch eine eindeutige Rolle in jedem Interview, in jeder Talkshow und in jedem Eintrag in die digitalen Welten geprägt: Sie ist nichts als eine Kronzeugin gegen DIE LINKE. Und die Feinde der LINKEN, überwiegend rechtes Pack, bejubeln sie für diese Rolle.

3.

Inhaltlich, programmatisch und strategisch wird Sahra Wagenknecht durch den PV-Beschluss stattdessen komplett geschont und damit die einzige Angriffsfläche im Sinn der Verteidigung der LINKEN PARTEI unfassbar ausgelassen

Der PV hätte lieber freundlich mit einem oder zwei Sätzen feststellen sollen, dass Sahra Wagenknecht faktisch die LINKE verlassen hat (soll doch Sahra dann das Gegenteil beweisen).

Der ganze lange Rest des Beschlusses hätte sich dann scharf und klar mit den programmatischen Positionen von Sahra beschäftigen sollen, ihrem seit Langem verkündeten „Gegenprogramm“.

4.

Das Interview von Sahra mit der „Welt“ und ihr Beitrag in „Bild-TV“ zeigen doch noch einmal in aller Pracht ihr Weltbild auf. Nichts daran ist „links“:

– sie möchte eine noch mehr deutschnationale Außenpolitik als es Frau Baerbock macht.

– sie verteidigt deutsche Kapitalinteressen („unsere Wirtschaft“) als angeblich linke Leitbilder (dem gegenüber ist der „Feminismus der Außenpolitik“ vergleichsweise noch nett und freundlich)

– Sie relativiert und verteidigt die kriminelle Politik gegenüber Geflüchteten und geht zusammen mit der gesamten herrschenden Politik in der EU über Leichen.

– Sie diffamiert die vielen oppositionellen Auf- und Ausbrüche gegen die kapitalistische Normalität als Öko-Gedöns, womit sie nicht nur ihre zum Fremdschämen reizende Unkenntnis in der Sache demonstriert, sondern nur Flankenschutz für die herrschende Politik gibt.

– Ihr Kampf für „Vernunft“ und „Normalität“ ist dumpfer, kleinbürgerlicher Müll.

Im Wahlkampf 2021 hieß die zentrale Parole der AfD: „Deutschland – aber normal“.

Wenn kein Urheberrecht darauf beansprucht wird, ist damit die Losung der „Wagenknecht-Partei“ in 2024 und 2025 bereits vorgegeben.

5.

Ach ja, zum Ersten: All ihr Quo Vadis Leute, Sozialistische Linke, Populäre Linke und wer noch so alles rumläuft. Mit diesem kleinbürgerlichen Müll wollt ihr ganz sicher keine Partei aufbauen. Ihr trefft euch jetzt tapfer und denkt der böse „Parteivorstand“ würde die Partei zerstören. Was für ein selbstbetrügerischer Unsinn. Der „Parteivorstand“ – egal von wem besetzt – hat in einer Partei wie der LINKEN, in der wie in so vielen linken Parteien vor ihr, die Mitglieder gar nichts, die Vorstände wenig und die Fraktionen alles zu sagen haben, seit langem keine Entscheidungsmacht. Verantwortlich für den heutigen Kurs der Partei, für ihre Fehler und Irrtümer sind in erster Linie und mit großem Vorsprung die Parlamentsfraktionen und solche Leute, die in Regierungen dahinkriechen.

Ihr schaut mit großen Augen auf die Talkshowqueen und hofft, irgendetwas von ihrem Einfluss für eure eigenen Parteibemühungen einfangen zu können. Das, jede Wette, wird aber nicht funktionieren.

Ach ja, zum Zweiten: Wenn der PV etwas spaßvögelich aufgelegt wäre, hätte er Sahra Wagenknecht viel Erfolg mit ihrer Liste bei der Europawahl gewünscht. Das wäre es doch: Sahra geht als „Spitzenkandidatin“ einer EU-Liste zurück in das Europaparlament. Dann wäre sie zwar in einem teuren goldenen Käfig, aber aus der reaktionären Dauerpräsenz in der deutschen Politik erst einmal heraus.

6.

EIN NACHTRAG ZUR CAUSA WAGENKNECHT

Wenn ich noch einen Nachtrag liefern darf zur Frage, ob Sahra Wagenknecht eine neue Partei gründen will:
Natürlich diskutiert Sahra über eine solche Parteineugründung. Ich diskutiere auch über Alternativen zur LINKEN, was bei deren Zustand ja auch sehr angemessen und gerechtfertigt ist.

Fraktion vor Ort in Bochum (8404145869).jpg

Aber Sahra hat ein unlösbares Problem: Ihr gesamter medialer Erfolg beruht – neben den zweifellos vorhandenen persönlichen Talenten und neben der Fleißarbeit der Partei DIE LINKE, die ihr die bezahlte politische Hauptamtlichkeit ermöglicht – auf einem Widerspruch. Der öffentliche Hype um sie ist nicht „von links“ zu untermauern. Sie wird zur Ikone erklärt, nicht weil sie links ist, sondern weil sie nicht-links ist, eine Kronzeugin gegen die Linken und die LINKE. Ihre Fangemeinde ist konservativ, spießig und sieht keine Alternative zum Kapitalismus, will diese auch nicht.

Sahra ist in dieser Hinsicht die Getriebene und nicht die Treibende. Ihr Anhang ist nicht politisch links einzubinden. Durch ein schräges, undemokratisches Konzept der One-woman-show, zu dem ihre politischen Berater:innen und wohl auch sie selbst neigen, schon gar nicht.
Nicht Sahra selbst ist von AfD-Positionen getrieben, aber der einzige Horizont ihres medialen Anhangs besteht darin.
(Wer die Bücher und Aufsätze, auch ihre parteiinterne Entwicklung ähnlich eng verfolgt wie ich, wird zudem feststellen, dass Sahra anfänglich mit populistisch-spekulativen Ambivalenzen in Richtung Rechts und AfD nur spielte, auch um sie zu entlarven, aber dass ihr das völlig entglitten ist. Heute drückt ihr nach rechts offener Populismus vor allem ihre eigenen Ängste aus, zu denen sie als Popstar der Medien sich öffentlich verhalten muss)

Die diversen Treffen und Diskussionen innerhalb der LINKEN, die angeblich im Sinne von Sahra eine neue Partei schaffen wollen, haben mit dem speziellen Problem von Sahra deshalb auch nichts zu tun. „An einigen dieser Diskussionen bin ich persönlich involviert“ sagt sie selbst. Auf den anderen Treffen wird über eine Neuauflage einer linkssozialdemokratischen, klassisch etatistischen Partei diskutiert, die nichts mit dem „Gegenprogramm“ von Sahra zu tun hat. Auch dieses Parteimodell ist konservativ, aber im Sinne von reformistischer Langweiligkeit, Konzepten von Stellvertreterpolitik und Etappentheorien statt Dialektik.

Diese grundsätzliche Konstellation gegenüber Sahra erzeugt diesen kuriosen „Warten-auf-Godot“-Effekt. Sahra wird für ein Kaleidoskop unterschiedlicher Projekte und Erwartungen in Haftung und Hoffnung genommen, die alle irgendwie auf das Kommen und „die Entscheidung“ starren. Aber Godot kommt nicht. Die realen operativen Anstrengungen, eine neue Partei aufzubauen (was ja auch keine einfache Übung ist, wie es selbst Sahra erkennt) laufen ohne Sahra, und Sahras Diskussionen laufen ohne reale politische Kräfte der Umsetzung.

„Was machen wir nun?“, heißt es bei Becketts „Warten auf Godot“. Und dann: „Wenden wir uns der Natur zu“…

akl - Antikapitalistische Linke

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Oben     —    Eine Wiese voll Taraxacum

Author Robert.photography              /      Source      :     Own work          /      Date     :      13 May 2020,

This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.

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Unten           —         Bundestagsfraktion solidarisch mit Opelanern von Bochum

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Juli 2023

Grübelei über Prigoschin à la chinoise

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Nichts erregt die Gemüter rund um die Welt heute mehr als Jewgeni Prigoschins kurzlebige Rebellion gegen den Kreml. Das gilt auch für China. Scheinbar unaufgeregt gab eine Außenamtssprecherin in Peking zu verstehen, Peking sei für eine schnelle Wiederherstellung der Ordnung in Russland. Kein Wort zu Wladimir Putin, Xi Jinpings gutem Freund. Kein Glückwunsch, dass die unverschämte Rebellion niedergeschlagen wurde. Der klare Subtext: Egal wie, Hauptsache, es stört uns in China nicht.

Daraufhin erregen sich die Gemüter umso buntscheckiger: „Egal wie, geht schon mal gar nicht“, schrieb einer, der mit dem Prinzip in China hochzufrieden ist, schließlich „herrscht bei uns die Doktrin: Immer beherrscht die Partei die Gewehre, niemals umgekehrt. Jetzt seht ihr, was passiert, wenn die Gewehre die Partei beherrschen würden. Wie dumm sind die Russen?“

Und ein anderer schießt zurück: „Wie naiv bist du? Versuch mal, unsere Soldaten nicht zu bezahlen, da wirst du sehen, was daraus wird. Es geht ums Geld. Wie heißt es noch einmal: Mit Geld kannst du nicht alles machen. Ohne kannst du nichts machen. Nichts, du Idiot. Prigoschin will mehr Geld.“

Der Dritte wirkt etwas ausbalancierter: „Wichtig ist aber: Was wird daraus? Wird die Ukraine die Rebellion zu ihrem Nutzen ausschlachten, die Krim zurückholen? Wenn ich Selenski wäre: Ich würde es tun.“ Ihn ermutigt der Vierte: „Na dann, mach unserer Führung den Vorschlag, wir Chinesen sollen versuchen, die Schwäche von Putin auszuschlachten – wie wäre es damit, Wladiwostok zurückzuholen? Das liegt gut 8.000 Kilometer weit weg von Moskau und dürfte Putin wesentlich weniger wehtun als Prigoschin. Der Bursche war schon mal wesentlich näher dran.“

Roemerberggespraeche-oktober-2012-shi-ming-ffm-590.jpg

Ein Fünfter protestiert: „Ach, unsre Schlafmützen da oben. Die haben noch nicht mal bemerkt, dass Putin in der Krise zuerst Nordkorea und Kasachstan angerufen hat, nicht unser Politbüro? Der beste Freund von Putin ist China ja nicht. Der Zar kann sich auf uns nicht verlassen. Und wir sollten uns selbst auch nicht allzu ernst nehmen – der Russen wegen schon mal gar nicht.“ Von allen ist der Sechste der Tollkühnste. Er fragt, was passieren würde, „wenn inmitten eines sagen wir Krieges gegen Taiwan auch bei uns so einer daherkommt und verlangt, den Verteidigungsminister und Generalstabschef einen Kopf kürzer zu machen, quasi so ein Prigoschin à la chinoise?“

Keiner antwortet auf ihn, oder keine Antwort auf ihn, wie auch immer sie aussehen mag, schafft es, im chinesischen Internet zu erscheinen. Nur hörbarer kocht die Gerüchteküche um den angeschlagenen Kremlchef. „Wenn der Großkaiser Putin keinem mehr befehligen kann?“ „Würde der Großkaiser nun doch seinen Verteidigungsminister abservieren?“ Und: „Weiter kommt er in der Ukraine dennoch nicht?“ Hier entsteht der Eindruck, dass es schlecht aussieht für Putin und seinen Krieg. Vielsagend ist, dass kein Kommentar wegen ablehnender Haltung gegenüber Putin zensiert wird, obschon der doch ausdrücklich ein guter Freund von Xi Jinping sei.

Quelle     :          TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Fluggastdatenrasterung :

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Juni 2023

KI-Modelle zur Terrorismusabwehr ungeeignet

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von           :         

In einer kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Forschung kritisiert Jura-Professor Douwe Korff den Einsatz von KI-Modellen zur Terrorismusabwehr im Rahmen der EU-Richtlinie zur Verarbeitung von Fluggastdaten. Mindestens 500.000 Personen würden demnach jedes Jahr zu Unrecht verdächtigt.

Die EU-Richtlinie zu Fluggastdatensätzen (PNR-Richtlinie) verpflichtet die EU-Mitgliedsstaaten seit 2016 dazu, europaweit Daten über Fluggäste zu erheben und untereinander auszutauschen. Ein EuGH-Urteil im Jahr 2022 beschränkte diese Massenüberwachung bei Flugreisen und legte auch ein Diskriminierungsverbot fest. Die PNR-Richtlinie blieb jedoch bestehen.

Die PNR-Daten sollen vor allem sogenannte terroristische Gefährder identifizieren – unter anderem mit Hilfe sogenannter Künstlicher Intelligenz (KI). Mehrere europäische Länder (pdf) – darunter auch Deutschland – setzen KI bereits für die Strafverfolgung und die Vorhersage von Verbrechen ein.

Ebendies kritisiert Douwe Korff, Jura-Professor an der London Metropolitan University und Anwalt für Menschenrechte, in seiner kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Forschung. Er zählt drei grundlegende Probleme auf, die all jenen algorithmischen Verfahren gemein sind, die dem Profiling von potenziellen Gefährder:innen dienen.

500.000 potenzielle Terrorist:innen

Als Erstes benennt er einen statistischen Fehlschluss, den sogenannten Prävalenzfehler. Dieser Fehler beschreibt, dass vermeintlich zuverlässige statistische Modelle dazu neigen, besonders unwahrscheinliche Ereignisse disproportional häufig vorherzusagen.

Selbst wenn beispielsweise ein KI-Modell Terrorist:innen in 99,9 Prozent der Fälle frühzeitig erkennen könnte, würde das Modell viele Unschuldige gleichermaßen verdächtigen, da die absolute Häufigkeit von Terrorist:innen in der Bevölkerung außerordentlich gering ist. Dieses Problem ist weitgehend unabhängig vom Anwendungsfall und beschreibt eine grundlegende Eigenschaft statistischer Verfahren.

Die Auswertung der Fluggastdaten in der EU würde nach Einschätzung des Wissenschaftlers – selbst bei dieser unrealistisch hohen Trefferquote – jedes Jahr etwa 500.000 Personen fälschlicherweise als potenzielle Terrorist:innen kennzeichnen. Bei einer plausibleren Trefferquote geriete eine noch höhere Zahl Unschuldiger ins Visier der Ermittler:innen. Bereits in der Vergangenheit hatte Korff die EU-Kommission auf diesen Umstand hingewiesen, allerdings sei die Warnung folgenlos geblieben.

Software erbt unsere Verzerrungen

Darüber hinaus neigt Profiling-Software dazu, gesellschaftliche Vorurteile zu replizieren und zu verstärken. Ein solcher Bias (Verzerrung) sei allerdings laut EU-Kommission bei der Analyse von Fluggastdaten ausgeschlossen, da Eigenschaften wie Ethnie oder politische Einstellung ignoriert würden. Diese zu verwenden sei gesetzlich auch verboten.

Korff widerspricht und weist erstens darauf hin, dass die entsprechende Richtlinie es den Mitgliedsstaaten erlaube, auch umfangreiche Datenbanken anderer Behörden in die Analyse einzubeziehen. Diese enthielten durchaus auch sensible personenbezogene Daten.

Zweitens wiesen auch Datensätze ohne sensible personenbezogene Daten starke Verzerrungen auf, die dann die statistische Auswertung beeinflussen würden, so Korff. Besonders marginalisierte Gruppen müssten damit rechnen, disproportional häufig und ohne nachvollziehbare Gründe verdächtigt zu werden.

Software ist intransparent

Denn, so kritisiert Korff schließlich, Behörden könnten selbst die Details solcher Software nicht einsehen. Aus diesem Grund seien sie außerstande, die Ergebnisse der Datenanalyse zu hinterfragen. Ihre Verdachtsfälle könnten sie damit auch nur unzureichend begründen. Aus diesem Grund bezeichnet Korff die Profiling-Algorithmen aus wissenschaftlicher Sicht als fragwürdig und für den polizeilichen Gebrauch als ungeeignet.

Korffs Kritik richtet sich in dem wissenschaftlichen Artikel insbesondere gegen die PNR-Richtlinie der EU-Kommission. Sie sei jedoch auf alle KI-basierten Profiling-Verfahren anwendbar, etwa bei der Chatkontrolle.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —         Frankfurt Airport, Germany

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Wunder und Alltag

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Juni 2023

Indigene Bevölkerung in Kolumbien

Aus Bogata von Katharina Wojczenko

Vier Kinder überleben 40 Tage im Dschungel. Der Vorfall zeigt, wie wertvoll das Wissen Indigener ist – und wie ignorant der Staat.

40 Tage nach Absturz ihrer Propellermaschine über dem Amazonas hatte der Suchtrupp die vier indigenen Geschwister im Dschungel gefunden: Lesly (13), Soleiny (9), Tien (5) und Baby Cristin (1). Ausgehungert, abgemagert, dehydriert und zerstochen, aber ohne schwere Verletzungen. „Eine Freude für das ganze Land!“, schrieb Präsident Gustavo Petro auf Twitter. „Wunder, Wunder, Wunder, Wunder!“, jubelte die Luftwaffe. Es war der 9. Juni.

Drei Wochen zuvor war die abgestürzte Propellermaschine samt der drei erwachsenen Passagiere gefunden worden: der Pilot, ein indigener Anführer und die Mutter der Kinder, Magdalena Mucutuy Valencia, waren alle tot. „Das Wunder von Kolumbien“ war in der ganzen Welt eine Sensation. Ausländische Reporterteams standen tagelang vor den Toren des Militärkrankenhauses in Bogotá, wo die Kinder seitdem aufgepäppelt werden. Mitglieder der Familie erzählten ihre Sicht, ebenso der Kommandant der Operation, die indigenen Retter. Aber was bleibt nun von dem „Wunder“?

Kolumbien, weit entfernt vom Frieden, sehnt sich nach guten Nachrichten. Die Regierung des linken Präsidenten Gustavo Petro sowieso. Die steckt mitten in ihrer größten Krise: Abhörskandal, Verdacht auf illegale Wahlspenden, Reformblockade und auch noch ein toter Polizist, der hatte aussagen wollen.

Petro hatte sich Wochen zuvor mit der Falschmeldung blamiert, die Kinder seien gefunden worden. Das war alles plötzlich nebensächlich. Das ganze Land freute sich, über alle Gräben hinweg. Wohl auch deshalb haben Massenmedien und Armee immer wieder eine Nebenfigur in den Mittelpunkt gestellt: einen Rettungshund namens Wilson, der bei der Suche im Dschungel verloren ging – und zum Nationalhelden wurde. „Wir lassen keinen Kameraden zurück“, wiederholt die Armee und sucht mit Soldaten und einer Horde läufiger Hündinnen nach dem Schäferhund.

„Sie sind die Helden“

Dabei gäbe es nach der Rettung der Kinder in Kolumbien wichtigere Themen zu besprechen. Der Vorfall hat die Fähigkeiten und das Wissen der Indigenen ins Rampenlicht gerückt. Diese waren bisher am unteren Ende der Aufmerksamkeitsskala – und ganz oben bei den Opfern, egal ob im Krieg oder bei staatlicher Vernachlässigung. Doch waren es die Indigenen, die das Flugzeug mit den toten Erwachsenen fanden – und die lebendigen Kinder. Präsident Petro hat betont, dass der gemeinsame Einsatz von Armee und indigener Garde der Schlüssel zum Erfolg war.

Der Kommandant Pedro Sánchez, der die Militäroperation leitete, sagte über die Indigenen: „Sie sind die Helden.“ Henry Guerrero, einer der acht Indigenen, die bis zuletzt nach den Kindern suchten, sagte bei der Pressekonferenz der Nationale Organisation der indigenen kolumbianischen Amazonas-Völker (Opiac): „Die Armee weiß nicht, wie sie im Dschungel überlebt.“

Am 1. Mai war die Propellermaschine im Urwalddorf Araracuara gestartet mit Ziel San José del Guaviare. Nach allem, was bekannt ist, sollte die Familie von dort mit einem Flugzeug nach Bogotá fliegen. In der Region ist die bewaffnete Farc-Dissidenz aktiv. Der Vater der beiden jüngsten Kinder, Manuel Ranoque, sagte, dass er von der Farc-Front Carolina Ramírez bedroht wurde und deshalb nach Bogotá fliehen musste. Er habe mit der Familie in der Hauptstadt ein neues Leben beginnen wollen.

Doch die Propellermaschine stürzte im tiefsten Dschungel ab. Die Operation von rund 120 Spezialkräften der Armee und rund 80 Mitgliedern der indigenen Garde war einzigartig. Die Armee ist bei vielen Indigenen berüchtigt, weil sie diese im bewaffneten Konflikt im Stich ließ oder ermordete. Für die Suche hatten mehrere Amazonas-Völker und sogar Indigene Gemeinschaften aus der Pazifik-Region Cauca Hilfe geschickt.

Der mächtige Dschungel

Die Armee hatte Helikopter, Satellitenbilder, Wärmebilder, Lautsprecherdurchsagen. Am Ende brachte das alles nichts, zu dicht das Blätterdach, zu stark der Regen, zu mächtig der Wald. „Wir haben eure Technologie übertrumpft“, sagt Henry Guerrero. „Auch wir können für unser Land etwas tun.“ Wir, ihr – das zeigt, dass zwischen dem Kolumbien der Indigenen, der Regierung im fernen Bogotá und einem Großteil der Bevölkerung eine Kluft existiert.

Helden brauchen Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Die größte Herausforderung bei der Rettung der Kinder war la selva, der Urwald. Der Dschungel gilt für viele in Kolumbien als gefährlich, voller gefährlicher Tiere, als Versteck für Guerillas und Verbrecher. Zudem sitzt die Kolonialzeit tief: Das Terrain muss abgeholzt sein und sauber, um es kontrollieren, bewirtschaften, besitzen zu können. Für die Indigenen ist der Wald die Mutter, die Madre Selva. Die mächtige Mutter, der man mit Respekt begegnet, die ihre Kinder aber auch ernährt, in der Geister leben, die sie beschützen. Dass die Kinder am Leben waren, war für indigene Ex­per­t:in­nen deshalb kein „Wunder“. Lesly, die Älteste, hatte schließlich gelernt, wie der Wald für sie sorgt.

Irgendwann habe er, der Katholik, wie die Indigenen den Wald um Erlaubnis gebeten, ihn betreten zu dürfen, hat Kommandant Sánchez dem Fernsehpublikum erzählt. Wenn man die Berichterstattung verfolgt, muss man auch denken: Vielleicht trägt dieser Vorfall in Kolumbien auch zu einem besseren Verständnis des bedrohten Urwalds und seiner Be­woh­ne­r:in­nen bei. Zu mehr Respekt.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   esta imagen demuestra la creatividad y el aprendizaje trasmitido de nuestros mayores

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Unten        —        En cercanías de la cierra nevada del cocuy se encuentra el parque de los frailejones rodeado por formaciones rocosas y regados por agua proveniente del glacial

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Juni 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

U-Boot, Inflation, Yacht-feindliche Orcas: Meeresbiologen vermuten Rache. In den Freibädern gehts wieder rund. Musk will sich mit Zuckerberg kloppen. Und Arme bekommen ein „Stellt euch mal nicht so an“.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Helene Fischer hat Nasenbluten.

Und was wird besser in dieser?

Erste singende KI.

In den Freibädern gibt es mal wieder Schlägereien. Sorgt Claudia Pechstein dort bald für Recht und Ordnung?

Die heißen Tage könnten den polizeilichen Wasserwerfern einen enormen Popularitätsschub bringen. Einfach mal in die schwitzende Masse halten. Vielleicht wäre Schwimmmeister nicht nur ein tolles Wort mit drei M hintereinander, sondern auch eine weitere Option für die Sportförderung: In deutschen Olympiateams arbeiten formal zwei Drittel der Teilnehmenden bei Bundeswehr und Bundespolizei. Wenn der Staat auch die Bademeister noch rekrutiert, bekommen sie eine imponierende Uniform, Übung an der Waffe und im Freibad weht ein Hauch von CDU-Parteitag. Das schreckt ab.

Australien kündigt an, stärker gegen Hassreden auf Twitter vorzugehen. Mehr oder weniger gleichzeitig wollen dessen Besitzer Elon Musk und Meta-CEO Mark Zuckerberg sich zu einem Käfigkampf treffen. Wie lange noch, bis Musk k. o. geht?

„Über­durch­schnitt­lich intelligent, Gruppenwesen und aus Daffke mal was kaputtmachen – hallo Geschwister“

Zerrissene Visitenkarte: Unter Burschenschaftern die Forderung zur scharfen Mensur. In Deutschland dürften die beiden Hochleistungsflegel einander legal blaue Häkchen ins Gesicht metzgern, in Österreich mit einigem Stolz in die Narbe ein Pferdehaar einnähen lassen: Das gibt eine stattliche Wulst. Es sind also noch schöne Stei­gerungen möglich, bis endlich ein demokratisch legitimiertes und kuratiertes Netzwerk entsteht.

Die gefühlte Inflation in Deutschland liegt laut einer Studie des Kreditversicherers Allianz Trade bei 18 Prozent, die tatsächliche bei 6 Prozent. Fühlt sich Ihre Realität eher nach 6 oder 18 an?

Wenn ich das Zwingende und das Häufige – Steuern, Energie, Lebensmittel – bezahlt habe, ist noch ein kleiner, schmelzender Puffer übrig. Wer dagegen dann schon blank ist, empfindet die Inflation höher als wer dann noch reichlich hat. Paradox: Wer viel Geld hat, dem macht viel Geldentwertung wenig. Die allgemeine Inflationsrate ist ein Mittelwert, der finanziell Schwächeren ein herzliches „Stellt euch mal nicht so an“ vorhält. Aus Sicht derer, die sich nicht so anstellen müssen.

Die Orcas spielen vor der spanischen Küste „Schiffe versenken“. Rächt sich jetzt die Tierwelt an uns Menschen?

Meeresbiologen vermuten tatsächlich Rache einer notorischen Gruppe von Schwertwalen, die schon mehrere Boote und dort jeweils das Ruder angegriffen haben. Die Anführerin der Gruppe könnte ein Junges an einem Ruder verloren haben, wird spekuliert. Andere führen Beispiele an, dass Orcas gern spielen – mit Algen, Quallen oder eben mal einem Boot. Überdurchschnittlich intelligent, Gruppenwesen und aus Daffke mal was kaputtmachen – hallo Geschwister.

Deutschland ist im Gleichstellungsranking des Weltwirtschaftsforums von Platz 10 auf Platz 6 vorgerückt. Können wir uns darauf ausruhen?

Wenn wir die Klimakatastrophe lindern und überleben können, winkt deutschen Frauen in weiteren 67 Jahren eine ausgewogene Balance zwischen den Geschlechtern. Vielleicht erklärt das, warum es männerdominierte Parteien mit der Klimapolitik nicht so eilig haben: Lieber versaften als in der Weibertyrannei vegetieren. Deutschlands Verbesserung bezieht sich aus Politik, Bildung und Gesundheitswesen. Das kaschiert Rückschritte in der Wirtschaft. Also der Equal Pay Gap und der Mangel an Frauen in Führungspositionen. Da wir bei den „generations“ eh gerade bei „Z“ angekommen sind, mag man zuversichtlich schauen auf die „Generation Merkels Enkelinnen“.

Die Passagiere des U-Bootes „Titan“ sind wohl tot. Ein Tauchroboter habe Trümmerteile gefunden. Was bedeutet das für die Zukunft des Risikotourismus?

Quelle         :        TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Down with the Crown

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Juni 2023

Graham Smith: Abolish the Monarchy

File:Coronation of Charles III and Camilla - King's Procession (02).jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :        Jonathan Eibisch

Ein besserer Verkaufs-Coup hätte Graham Smith für sein erst im Juni erscheinendes Buch Abolish the Monarchy nicht gelingen können.

Der Autor und Initiator einer Kampagne gegen das englische Könighaus wurde beim Protest gegen die Krönung von König Charles verhaftet.

Gewürdigt werde sollte so viel Raffinesse schon, zumal damit einer nach wie vor recht kleinen Protestbewegung gegen die Relikte vormoderner Herrschaft, Beachtung gezollt wird.

Schade allerdings, dass hier vor allem liberale Republikaner die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Viel schöner wäre es doch, wären in der ersten Reihe des Protestes gegen das Könighaus auch ausgewiesene Anarchist*innen. Andererseits haben diese weit weniger Ressourcen zur Selbstinszenierung und widmen sich wohl auch weit basaleren Auswüchsen der Herrschaftsordnung, als der lächerlichen Inszenierung einer vermeintlich guten, traditionell abgesicherten und weisen Führungsriege.

Schade, denn sonst hätte man statt Protest mit Schildern und den Rufen „Not my king“, lieber ein Parallelspektakel aufführen können: Im wahrsten Sinne, Karneval. Allernort wählen die Bewohner*innen jährlich den einfältigste Trottel ihrer Gemeinschaft, dem zugleich die Bauernschläune innewohnt, zum Dorfkönig. Der Ort der souveränen Macht wird entleert und entehrt, wenn das simpelste und närrischste Menschlein auf den Thron gehoben wird und bei Bedarf wieder ausgewechselt werden kann. – Das wäre doch mal eine nette Protestform gewesen, mit der über das Symbolische hinaus vielleicht sogar etwas Chaos hätte gestiftet werden können…

Die Argumentation des Geldes wegen verstehe ich nicht wirklich: Ob die Krönungszeremonie am 06. Mai 100 oder 25 Millionen Pfund gekostet haben soll, welche die steuerzahlenden Bürger*innen aufbringen, während der Hochadel ja ohnehin genug Geld zur Verfügung hat – wen interessiert es? Beziehungsweise, wen wundert es? Wenn es sich um einen echten König handelt, stellt sich doch gar nicht die Frage, ob die Kosten für die Produktion seines imaginären Status als Personifikation eines abstrakten Herrschaftsgefüges vom Volk getragen werden. Der König schöpft Souveränität aus sich selbst heraus, sowie der Adel seinen sozialen Status ja nicht begründen muss, sondern sich auf diesen als unhinterfragbaren Selbstzweck berufen kann. Der König schöpft seine Souveränität aus sich selbst heraus, so wie das Volk seine Souveränität daraus schöpft, den König zu enthaupten.

Und wenn ich hier „König“ sagen, meine ich heruntergebrochen eine, neben neuen dazugekommenen Dynastien, einflussreiche Kaste von privilegierten Reichen. Es wäre längst an der Zeit gewesen, diesen Humbug ihrer alberne Selbstinszenierung in den letzten Jahrzehnten abzuschaffen. Wenn nicht genug verlorene Seelen ihrem romantisch-verkitschtem Affekt folgen und ihrem herangezüchteten Idiotenbewusstsein nachgeben würden. Lieber wollen diese erleben, Teil einer verklärtem Geschichte zu sein, als die Anstrengung aufwenden, ihre Geschichten selbst zu schreiben. Das Volk ist ein jämmerlicher Haufen, dessen Phantasie in Schlaraffenländer abschweift, aber sich kaum vorstellen kann, dass es sich seine Regeln einfach selbst geben könnte. Häufig wollen die Leute ihren König wie ihr Bier, ihren Fussball, ihre Unterhaltung und ihre Kümmerer – ob Pfarrer, Sozialarbeiter, Yogalehrer, Friseur oder Psycho- oder Physiotherapeuten.

Graham Smith: Abolish the Monarchy. Transworld Digital 2023. 261 Seiten. ca. SFr. 12.00.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —        Charles und Camilla während der Krönungszeremonie am 6. Mai 2023.

Author Katie Chan        /       Source    : Own work        /         Date       :      6 May 2023,

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Klimaproduktion Bewegung

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Juni 2023

Die Überschneidungen von nomadischem Land und nomadischer Arbeit im Zeitalter des Sesshaftwerdens

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von          :       · 20.06.2023

Das Schicksal nomadischer Kulturen offenbart den Geist des (Staats-)Kapitalismus besonders deutlich: Die erzwungene Eingliederung der Nomaden in soziale Strukturen, die die Sesshaftigkeit privilegieren, ist eng mit der Enteignung von Land und Arbeit verbunden. Der zerstörerische Charakter dieses Systems zeigt sich in der Verarmung der ehemaligen Nomaden sowie dem Erosion ihrer Werte und Praktiken, die andere, nachhaltige Formen der Arbeit und der Klimaproduktion ermöglichen würden, wie die Künstlerin und Forscherin Shuree Sarantuya in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe „Allied Grounds“ argumentiert und dabei auf die Kämpfe nomadischer Völker in China, Russland und der Mongolei eingeht.

Die Fabel „Drei kleine Schweinchen“ erzählt die Geschichte von drei Schweinen und einem großen bösen Wolf, der ihre Häuser angreift. Der Wolf zerstört die Häuser der ersten beiden Schweine, die aus Stroh und Stöcken gebaut sind, aber er kann das Haus des dritten Schweins, das aus Ziegeln besteht, nicht zerstören. Die Ideologie, die der Fabel zugrunde liegt, ist glasklar: Sie unterstützt die Standardisierung von Konzepten wie Obdachlosigkeit und entwertet die nomadische Logik, der zufolge Nomaden niemals obdachlos sein können, weil ihr Zuhause immer mit ihnen reist. Darüber hinaus bemäntelt die Ideologie der Fabel das rassische Kapitalozän, das durch die Ausbeutung von Arbeit und Natur als Werkzeuge der Assimilierung die Umwandlung von Weideland in unhaltbare Lebensräume und Industrien ermöglicht hat. So arbeiten Ex-Nomad*innen in großem Umfang in arbeitsintensiven Sektoren wie der mineralgewinnenden Industrie, dem Anbau/Pflanzung und militärischen Diensten, weil sie sich dadurch finanzielle Unabhängigkeit und Integration in eine sesshafte Gesellschaft versprechen.

Dies ist der toxische Rahmen, in dem sich die Kämpfe von noch Nicht-Sesshaften, ethnischen Minderheiten und indigenen Gemeinschaften abspielen. Die letzten nomadischen Völker Süd-, Zentral- und Nordasiens leben heute in Jurten, Tipis oder Holzhütten und nutzen moderne Technologien, um Komfort und Modernität zu erreichen. Diese Techno-Nomaden können mobil und autonom sein, mit ununterbrochenen Verbindungen zur menschlichen und nichtmenschlichen Welt. Die nomadische Landmobilität basiert auf einer geschickten Wahrnehmung der Ökosphäre und ihrer Ressourcen. So gründen nomadische Völker ihre Ehrfurcht (vor bewohnbarem Land) auf ihr Wissen um die Kommunikation zwischen den Arten und eine indigene Wahrnehmung der tiefen Zeit.

Das Nebeneinander von nomadischen und sesshaften Gesellschaften konnte durch die herrschende Klasse instrumentalisiert werden: Erfolgreich konnten immer wieder Ängste vor der „Unmoderne“ geschürt und Assimilationspolitik, Monokulturwirtschaft, Umweltrassismus und neokoloniale Probleme gefördert werden. Wenn wir uns mit den Konflikten der letzten nomadischen oder ehemals nomadischen Völker Chinas, der Mongolei und Russlands befassen, müssen wir ihre komplexe Geschichte der Sesshaftwerdung und Kolonisierung durch kommunistische und sozialistische Bewegungen im letzten Jahrhundert verstehen.

Landverlust und kulturelle Assimilierung in der Inneren Mongolei

Die Innere Mongolei, eine 1947 vom kommunistischen Regime Chinas eingerichtete autonome Region, blickt auf eine lange Geschichte von Konflikten zwischen nomadischen Hirten und sesshaften Bäuer*innen zurück. In diesem Konflikt ist die Enteignung und Einfriedung von Land eng mit kultureller Assimilation verbunden, wie nach der Besatzung durch Japan im Zweiten Weltkrieg deutlich wurde, als die Region zu einem Testgebiet für die Integration von Han-Chinesen und Mongolen wurde.

Die Innere Mongolei ist nicht nur für ihre Viehzucht bekannt, sondern auch für ihre riesigen Kohlevorkommen. Im Jahr 2011 führte die Ausweitung einer Kohlemine auf Weideland zu Protesten und Demonstrationen der Hirten in Bayannuur. Die Frustration und die Angst, ihr Land zu verlieren, motivierten auch 2020 Proteste, als die chinesische Regierung plante, das Weideland in Bairin Left Banner in ein Naturschutzprojekt umzuwandeln.

Später im selben Jahr wurde im Rahmen der „Zweisprachigen Erziehung der zweiten Generation“ der Mongolischunterricht an den Schulen der Inneren Mongolei verboten. Nach Angaben des südmongolischen Menschenrechtsinformationszentrums wird das Verbot im September dieses Jahres in Kraft treten; es verbietet den Lehrer*innen auch die Teilnahme an und die Organisation von Unterricht. Die systematische Assimilierung nomadischer, indigener und ethnischer Minderheiten durch die Auslöschung von Ökosystem und Kultur, vor allem von Sprache und Religion, findet nicht nur in der Inneren Mongolei statt, sondern auch in Gemeinschaften wie den Uiguren (und anderen muslimischen Gemeinschaften) und den Tibetern.

Die Bodendegradation in der Inneren Mongolei ist in erster Linie auf den übermäßigen Ressourcenverbrauch zurückzuführen, der durch immer exzessivere Produktionszyklen verursacht wurde, begleitet von Bevölkerungszuwachs und der Abkehr von der nomadischen Viehwirtschaft. Andererseits hat die Innere Mongolei laut der Bewertung der Landdegradation zwischen 2000 und 2020 eine Netto-Landdegradation von Null erreicht. Untersuchungen über die Auswirkungen des vom Wind verwehten Staubs zeigen, dass die Innere Mongolei über ein Ökosystem verfügt, das die Ausbreitung von Staub verhindert und als ökologische Barriere gegen die Bodendegradation wirkt.

Derweil haben Überkultivierung, Bergbau und Industrialisierung die nomadischen Völker in eine Wettbewerbswirtschaft gedrängt, in der der niedrigste Preis das Rennen macht. Die traditionell abgelegenen Minderheitengruppen sind heute in städtischen Gebieten konzentriert, wo sie aufgrund von Umweltrassismus und erzwungener Integration eine Monowirtschaft betreiben.

Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der postkolonialen Mongolei

Nach dem Ende der Kolonisierung durch die Qing-Dynastie im Jahr 1911 kam die Äußere Mongolei bis zur demokratischen Revolution von 1990 unter sowjetische Kontrolle. Diese friedliche Revolution führte dazu, dass die Mongolei ein Mehrparteiensystem einführte, das die Beteiligung mehrerer politischer Parteien an der Regierung des Landes ermöglichte.

Das unerbittliche Streben nach Akkumulation durch die Oberschicht und die Mächtigen hat jedoch zu einer korrupten Wirtschaft und zur Ausbeutung derjenigen aus der Arbeiter*innenklasse geführt, die von Lohn zu Lohn oder von Schulden zu Schulden leben. Die Produktion von Raum bringt diese Ungleichheiten zum Ausdruck und verschärft sie noch: Während die ländlichen Gebiete außerhalb der Hauptstadt immer noch unterentwickelt sind, abgesehen von einigen wenigen Shangri-La-artigen Gemeinden, die sich um die Rohstoffsektoren herum ansiedeln, ist die Hauptstadt selbst eine neoliberale Mischung aus Jurtensiedlungen und hyperurbanen Gebieten, die einem „umgedrehten Topf“ ähnelt (ein mongolisches Sprichwort, das bedeutet, dass man in der Hölle unter einem riesigen Topf festsitzt).

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Im Dezember 2023 kam es in Ulaanbaatar (Mongolei) zu Protesten gegen die so genannte „Kohlemafia“, die 380.000 Tonnen Kohle für den Export nach China gestohlen hatte. Die Menschen brachten ihre Frustration mit gewalttätigen Ausbrüchen, friedlichen Demonstrationen und Sitzstreiks bei minus 25-30 Grad zum Ausdruck. Sie kritisierten die Staatsbeamt*innen und gaben ihnen die Schuld an der gestohlenen Zukunft der Mongolei.

Während die Menschen in der Mongolei geduldig auf die Verfolgung der Kohlediebe warten, stellt sich eine dringende Frage: Wen machen wir für die Nutzung unethischer fossiler Brennstoffe zur Energieversorgung der größten Umweltverschmutzer*innen der Welt verantwortlich? Im Rahmen des Engagements der Mongolei für die Ziele der nachhaltigen Entwicklung der Vereinten Nationen will das Land bis 2030 eine Milliarde Bäume in von Wüstenbildung betroffenen Regionen pflanzen. Dank der Spende der Unternehmen des Bergbaukonglomerats im Süden der Mongolei sind die Menschen gespannt auf die neuen Beschäftigungsmöglichkeiten, die das Milliarden-Baum-Projekt mit sich bringen wird.

Einige Gemeinschaften, die sich an den Rhythmus ihrer Umgebung angepasst haben, sehen sich jedoch mit den unbotmäßigen Anforderungen des rassischen Kapitalismus und dem Fehlen einer nachhaltigen Infrastruktur konfrontiert. Auf der Suche nach Stabilität und einem sicheren Einkommen sehen sich viele Ex-Nomad*innen mit der harten Realität der Armut oder sogar einer Rückkehr in die Zeiten der Kolonialherrschaft konfrontiert. Nomadisches Wissen und Traditionen werden als unvereinbar mit einem System angesehen, das Arbeit und Ressourcen in unhaltbarem Maße ausbeutet. Der Zusammenprall zwischen nomadischer Existenz und den Erfordernissen des rassischen Kapitalismus wirft Fragen nach der Vereinbarkeit verschiedener Lebensweisen und der Dringlichkeit des Widerstands gegen ein einzigartiges Arbeits- und Produktivitätsmodell auf.

Koloniales Erbe und Umweltkämpfe in Nordasien

Russlands Kolonisierung Nordasiens nahm im 19. und 20. Jahrhundert ihre endgültige Form an. Nomadische Stämme, die von Jagd, Viehzucht und Fischfang lebten, konnten nun mit Hilfe der Transsibirischen Eisenbahn ihren Übergang zu einer sesshaften Lebensweise durch Bergbau, Metallurgie, Maschinenbau, Holzfällerei und Landwirtschaft finanzieren. Es wurden Institutionen geschaffen, um die lokale Kultur, den Glauben und die Heilpraktiken auszurotten. Gleichzeitig schuf die russische Regierung Schutzgebiete für die indigenen Völker. Die nicht nachhaltigen Methoden der Klimaproduktion führen jedoch zu Umweltkatastrophen, die alle Ökosysteme rund um Nordasien und die arktischen Regionen betreffen.

Die teilweise militärische Mobilisierung der russischen Bevölkerung im Jahr 2022 erforderte hohe Einberufungsquoten in den Reihen ethnischer Minderheiten wie den türkischen, mongolischen, paläo-sibirischen und muslimischen Gemeinschaften. Die autonomen Regionen Russlands setzen sich aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammen, darunter nomadische (halbnomadische) und indigene Völker. In diesen Regionen und Krais gibt es sesshafte Siedlungen, die ein Überbleibsel der sowjetischen Moderne sind. In Gebieten wie Dagestan, Jakutien und Burjatien hat die Kombination aus Kriminalisierung von Kriegsgegnern und wirtschaftlicher Instabilität dazu geführt, dass die meisten Männer vor der Wahl stehen, entweder zu fliehen oder sich dem Militär anzuschließen, um an den laufenden Kriegsanstrengungen teilzunehmen. Diese einheimischen Männer Russlands und ihre Arbeitskraft werden im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst geschätzt oder sogar als möglicher Sündenbock benutzt, wenn ein Kriegsverbrechen zu verantworten ist. Die heutigen rassistischen Regierungen und Institutionen, die rassifizierte und oft marginalisierte Gruppen in Kriegen einsetzen, erinnern uns nicht zuletzt daran, dass während des Ersten (und später des Zweiten) Weltkriegs Afroamerikaner im Militär dienten, um als Musterbürger in die Gesellschaft integriert zu werden.

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Es liegt auf der Hand, dass diese Art des Bevölkerungsmanagements auch eng mit der Enteignung und Einhegung von Land verbunden ist – und Russlands aktueller Angriffskrieg erinnert nur allzu deutlich an den Wert, den Land (hier als „Territorium“ valorisiert) seit der Wirtschafts-, Finanz- und Nahrungsmittelkrise von 2007 erlangt hat. Die Quintessenz ist, dass das heutige Wirtschaftswachstum eine homogene Zivilisation begünstigt, die einen immensen Wert auf Arbeitskräfte legt, die bereit sind, sich und/oder ihr Land zu opfern.

Wert aller Wesen, Dinge und Entitäten

Staatliche Rohstoffkonzerne üben einen großen Einfluss auf die so genannten ländlichen Gebiete Nordasiens aus. Eine Verwaltung, die den Wert von unbebautem Land missachtet, hat die Anhäufung von Macht auf Kosten ethnischer Minderheiten, nomadischer Gruppen und indigener Arbeiter*innen durchgesetzt und damit deren Rechte untergraben und ihre Lebensweise bedroht. Untersuchungen am Bolshoe-Toko-See haben ergeben, dass die Spuren der industriellen Tätigkeit selbst in den entlegensten Gebieten Russlands zu finden sind. Die durch kapitalistische Aktivitäten verursachte Umweltzerstörung beeinträchtigt die lokalen Gemeinschaften, die biologische Vielfalt und die langfristige Nachhaltigkeit des Landes. Ohne einheimische Praktiken der Rekultivierung und des ethischen Konsums werden die biotischen und abiotischen Wechselwirkungen irreparabel gestört, sowohl in der menschlichen Zeit als auch in der Zeit der Globalisierung.

Das Streben nach Wirtschaftswachstum, das oft auf Kosten von Randgruppen und der Umwelt geht, ist ein zentrales Politkum, das die zerstörerischen Folgen der Globalisierung und die Erosion kultureller Identitäten aufzeigt, die immer mit alternativen Arbeitsmodellen und dem Umgang mit der Umwelt verbunden sind. Dieser Prozess der Zerstörung und Erosion wird als unvermeidlich dargestellt, auch aufgrund imaginärer äußerer Bedrohungen. Die Geschichte „Die drei kleinen Schweinchen“ ist ein Beispiel für diese Tendenz. Der aggressive Wolf ist das Tier, das eine Gefahr von außen darstellt, nicht von innen. Und wir sollen das instinktive Bedürfnis verspüren, uns vor diesem räuberischen Außenseiter zu schützen, was den Wunsch widerspiegelt, Sicherheit und Schutz in unserem Zuhause zu finden. Aber leben heutzutage nicht sogar Vögel in ihren Vogelhäusern, weil sie ihr Territorium verloren haben und die Städte immer weiter wachsen?

In ehemaligen Nomadenländern und -gemeinschaften betonen kritische politische Stimmen, wie wichtig es ist, alternative Modelle zu begrüßen, die indigenes Wissen, ökologische Nachhaltigkeit, ethisches Ressourcenmanagement und gesellige Arbeitsweisen in den Vordergrund stellen. Indem wir indigene Praktiken der gegenseitigen Fürsorge, der Symbiose und der Regeneration zusammenführen, können wir eine „gaianische“ Ethik der nachhaltigen Arbeit fördern: eine, die die Verbundenheit verschiedener Welten anerkennt und wertschätzt. Um dies zu erreichen, müssen wir transnationale Allianzen bilden, die das vorherrschende Paradigma der Moderne in Frage stellen und die Folgen einer fremdenfeindlichen Politik angehen, die viele Gemeinschaften in eine Grenzsituation gebracht hat. Im unerbittlichen Streben nach Hypermodernität ist es wichtig, innezuhalten und die Integration indigener Perspektiven zu berücksichtigen. Aus einer solchen Haltung heraus können wir uns bemühen, eine neue Beziehung zu unserem Planeten zu entwickeln, indem wir den Wert aller Wesen, Dinge und Entitäten anerkennen und lernen wertzuschätzen. Dies ist eine Aufgabe, die wir alle bewältigen müssen. Denn, wenn wir im Zuge dessen unsere Rolle als Arbeiter*innen neu bewerten, ebnet dies den Weg für eine nachhaltige Klimaproduktion.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist ein Beitrag zur Textreihe „Allied Grounds“ der Berliner Gazette; die deutsche Version finden Sie hier. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen „Allied Grounds“-Website. Schauen Sie mal rein: https://allied-grounds.berlinergazette.de

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Chatkontrolle :

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Juni 2023

Was du jetzt dagegen tun kannst

File:Chatkontrolle Chatcontrol Berlin Innenministerium 2022-06-08 01.jpg

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von       :     

Die Kritik an der sogenannten Chatkontrolle reißt nicht ab, doch die Befürworter:innen bleiben stur. Einige Menschen lassen sich davon nicht entmutigen. Wir wollten von ihnen wissen: Wie können sich Interessierte politisch engagieren, um das Überwachungsgesetz zu stoppen?

Eigentlich will die EU-Kommission mit einem Gesetzesvorschlag aus dem letzten Jahr sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Netz bekämpfen. Doch auf der einen Seite zweifeln Expert:innen die Wirksamkeit des Vorschlags an, zum anderen schätzen sie die Pläne als grundrechtswidrig ein. Ein Teil des Vorschlags ist die sogenannte Chatkontrolle: Anbieter von Kommunikations- oder Hostingdiensten sollen auf Anordnung auch die privaten Daten ihrer Nutzenden nach Hinweisen auf mögliches Missbrauchsmaterial oder Grooming scannen. So nennt man es, wenn Erwachsene mit sexuellem Interesse Kontakt an Minderjährige anbahnen.

Seit mehr als einem Jahr bricht die Kritik an den Plänen der EU-Kommission nicht ab, doch die Befürworter:innen bleiben stur. Das ist für Gegner:innen frustrierend. Lässt sich der Kommissionsvorschlag überhaupt noch verändern oder sogar verhindern – und was können Menschen tun, die sich irgendwie engagieren wollen? Wir haben Aktivist:innen gefragt und konkrete Handlungswege aufgeschrieben.

Herausfinden, wo gerade verhandelt wird

Tom Jennissen engagiert sich beim Bündnis „Chatkontrolle stoppen“ und dem Verein Digitale Gesellschaft – und er ist optimistisch. „Wir haben auf jeden Fall noch die Möglichkeit, die Pläne zur Chatkontrolle zu verhindern“, schreibt er auf Anfrage von netzpolitik.org. „Dazu müssen wir jetzt den Druck erhöhen, denn die Zeit bis Ende September wird entscheidend sein.“

Bis Ende September werden die wichtigen Gremien im EU-Parlament ihre Positionen zum Kommissionsentwurf verhandeln. Dort beschäftigt sich federführend der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) mit dem Gesetzentwurf. Außerdem ist der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) relevant. Er hat eine beratende Rolle und will noch vor der parlamentarischen Sommerpause im August seine Position beschließen. LIBE plant, Ende September über die Änderungsanträge aus dem Ausschuss abzustimmen.

Auch Elina Eickstädt engagiert sich bei „Chatkontrolle stoppen“ und ist Sprecherin des Chaos Computer Clubs (CCC). Sie empfiehlt: „Vor der Abstimmung wäre es also sehr gut, nochmal dediziert IMCO-Mitglieder anzuschreiben, besonders die von der Fraktion Renew.“ Renew Europe ist eine Fraktion im EU-Parlament, in der unter anderem Abgeordnete der FDP vertreten sind. Während sich deutsche Renew-Abgeordnete wie Moritz Körner gegen die Chatkontrolle einsetzen, sehe das bei den Kolleg:innen aus anderen Mitgliedstaaten anders aus.

Europa-Abgeordnete identifizieren

Ein erster Entwurf für eine IMCO-Stellungnahme des maltesischen Sozialdemokraten Alex Agius Saliba aus dem Februar adressierte bereits viele kritische Punkte zur Chatkontrolle. Er wandte sich gegen die Schwächung verschlüsselter Kommunikation, gegen Alterskontrollen und gegen die Erkennung von Grooming.

Eickstädt schlägt vor: „Man kann deutlich machen, dass einem Bericht nicht zugestimmt werden darf, der nicht den Schutz von verschlüsselter Kommunikation gewährleistet und Aufdeckungsanordnungen in ihrer aktuellen Form unterstützt. Diese müssen immer gezielt und spezifisch sein.“ Sie gibt zu Bedenken: „Wenn der gute Report von Saliba in der Abstimmung scheitert, geht es wieder zum Kommissionstext zurück.“ Es könnte also helfen, die Abgeordneten auf diese oder andere kritische Punkte hinzuweisen.

Im LIBE-Ausschuss sehe es ähnlich aus, auch hier gehören viele Renew-Abgeordneten zu den Wackelkandidat:innen. Außerdem enttäuschte der erste Berichtsentwurf des konservativen Berichterstatters Javier Zarzalejos die Kritiker:innen. Da bis zur geplanten LIBE-Abstimmung am 21. September noch etwas Zeit ist, schlägt Eickstädt vor, sich zunächst auf die Berichterstatter:innen zu konzentrieren.

Für jeden Ausschuss gibt es eine:n Berichterstatter:in, diese Person leitet den Prozess bis zu einer finalen Ausschussposition. Von den anderen Fraktionen gibt es sogenannte Schattenberichterstatter:innen, die jeweils für ihre Fraktionen versuchen, Kompromisse auszuhandeln.

Europa-Abgeordnete kontaktieren

Alle Mitglieder der jeweiligen Ausschüsse sind auf den jeweiligen Ausschussseiten mit Angabe ihrer Fraktion gelistet. Ihre E-Mail-Adressen, Telefon- und Faxnummern erscheinen bei einem Klick auf ihr Foto in der Übersichtsseite.

Einen guten Überblick bietet auch die Seite Parltrack. Hier lassen sich auch leicht die Berichterstatter:innen und Schattenberichterstatter:innen der einzelnen Fraktionen herausfinden.

Falls man Abgeordnete per Telefon kontaktieren will, wird man meist bei ihren Mitarbeitenden landen. Sie sind aber auch gute Gesprächspartner:innen, weil sie die Positionen der Abgeordneten mit vorbereiten. Es ist gut, sich vorher ein paar Punkte zu notieren, die einem besonders wichtig sind. Ein Kontakt per E-Mail ist natürlich auch möglich. Anregungen für eine solche E-Mail gibt das Team von „Chatkontrolle stoppen!“.

Bundestagsabgeordnete ansprechen

Neben der EU spielt auch Deutschland eine wichtige Rolle. „Die deutsche Politik darf sich nicht wegducken“, schreibt Jennissen. „Die Bundesregierung hat sich immer noch nicht durchringen können, ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag als Position für die fast schon beendeten Verhandlungen im Rat festzulegen – das Scannen privater Kommunikation abzulehnen.“ Fast ein Jahr hatte die Bundesregierung über ihre Position zur Chatkontrolle gestritten. Nun lehnt sie zwar das Scannen verschlüsselter Nachrichten ab, bei unverschlüsselten Daten jedoch nicht.

Jennissen kritisiert, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) „weit davon entfernt“ sei, „die Chatkontrolle aktiv abzulehnen oder auch nur die Minimalposition der Bundesregierung zur Ablehnung von Client-Side-Scanning offensiv zu vertreten.“

Dass Faeser selbst zu einer solchen Ablehnung zu bewegen ist, bezweifelt Jennissen. Doch der Bundestag könne noch etwas tun: „Durch eine Erklärung gemäß Artikel 23 Grundgesetz kann er die Bundesregierung auffordern, die Chatkontrolle abzulehnen und diese Position auch aktiv in Brüssel zu vertreten.“

Schon im Dezember hatten FDP und Grüne im Bundestag einen Entwurf für eine solche Stellungnahme erstellt, doch besonders die Innenpolitiker:innen der SPD blockieren das Vorhaben. Die Position scheint sehr festgefahren. Dennoch gehört der Austausch mit Wähler:innen zum Alltag von Bundestagsabgeordneten. Eine Übersicht von Innenpolitiker:innen der SPD-Bundestagsfraktion gibt es auf der Seite zur Arbeitgruppe Inneres.

Mit ausreichend Druck aus dem Bundestag könnte Deutschland seine Position im Rat ändern. „Damit würde eine Sperrminorität im Rat in greifbare Nähe rücken“, schreibt Jennissen. Sperrminorität heißt: Eine Minderheit kann einen Vorschlag im Rat blockieren. Sie lässt sich etwa mit vier Staaten erreichen, die gemeinsam 35 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Mitgliedsländer, die Chatkontrolle kritisch sehen, sind Österreich und die Niederlande. Würden diese gemeinsam mit Deutschland gegen den Entwurf stimmen, bräuchte es nur noch ein weiteres Land.

Protest auf die Straße bringen

Neben der Möglichkeit, Abgeordnete zum Handeln aufzufordern, lässt sich auch noch anders für Aufmerksamkeit sorgen. „Solange es keine klare, ablehnende Position der Bundesregierung gibt, die sich auch in den Verhandlungen niederschlägt, müssen wir den Protest weiter auf die Straße tragen“, schreibt Jennissen. „Öffentliche Proteste und Demos – gerade auch außerhalb Berlins – können den Ampelparteien deutlich machen, dass es keine gute Idee ist, mit dem offenen Bruch eines Versprechens in die Europawahl im nächsten Jahr zu starten.“

Interessierte können dich dabei bestehenden Protesten anschließen oder auch selbst etwas auf die Beine stellen. Beim Organisieren der ersten eigenen Demo oder Kundgebung können vor allem 12 Tipps helfen. „Ohne öffentlichen Druck ist weder von den Abgeordneten noch der Regierung etwas zu erwarten“, schreibt Jennissen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Attribution: C.Suthorn / cc-by-sa-4.0 / commons.wikimedia.org

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Auslaufmodell-Greenwash

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Juni 2023

Die WM in Katar war nur ein Beispiel unter vielen.

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :    Patrik Berlinger /   

Viele Firmen behaupten, klimaneutral zu sein. Statt eigene Emissionen zu reduzieren, setzen sie oft auf Kompensationen im Ausland.

(Red.) Der Autor dieses Gastbeitrags ist verantwortlich für die politische Kommunikation bei Helvetas, einer Organisation der Entwicklungszusammenarbeit. Infosperber publiziert eine aktualisierte Version seines Artikels, der im entwicklungspolitischen Newsletter von Helvetas erschienen ist.  

Vor vier Jahren gab der Bundesrat bekannt, dass die Schweiz ab 2050 «unter dem Strich» keine Treibhausgasemissionen mehr ausstossen soll. Das Volk hat dieses Ziel mit dem deutlichen Ja zum Klimaschutz-Gesetz bestätigt und erste Massnahmen für die Reduktion der Emissionen beschlossen: innovative Unternehmen und Branchen stärken, Gebäude sanieren und Elektroöfen und Ölheizungen ersetzen. Wie die Schweiz allerdings gesamthaft und in allen Sektoren bis zur Mitte des Jahrhunderts auf Netto-Null kommen soll, bleibt Gegenstand politischer Debatten.

Wichtige Anhaltspunkte liefert die «Langfristige Klimastrategie der Schweiz» aus dem Jahr 2021. Die Strategie geht in die richtige Richtung und ist ambitioniert. Und doch reicht es nicht. Denn die Strategie sieht vor, dass für Netto-Null lediglich die Emissionen innerhalb der Schweizer Landesgrenzen berücksichtigt werden. Dies, obwohl bekannt ist, dass zwei Drittel der schweizerischen Emissionen im Ausland entstehen.

Zum anderen sollen CO2-Minderungen in anderen Ländern zugekauft werden. So fördert die Schweiz im Rahmen bilateraler Abkommen Klimaschutz-Projekte in ärmeren Ländern wie Ghana, Peru oder Dominica – und rechnet die erzielten Treibhausgas-Reduktionen dem eigenen nationalen Emissionsreduktionsziel an.

Immer mehr Firmen sind angeblich «klimaneutral» 

Diesen «buchhalterischen Trick», CO2-Emissionen via Klimaschutz in ärmeren Ländern zu kompensieren, wendet die Privatwirtschaft seit Jahren an. Die Versprechen, «klimaneutral» zu wirtschaften, haben allerdings immer absurdere Züge angenommen.

Jüngst behauptete die in Genf ansässige MKS PAMP, die eine Edelmetallraffinerie betreibt, den ersten «klimaneutralen Goldbarren» zu verkaufen. Obschon offensichtlich ist, dass der Abbau des Rohstoffs immense Umweltschäden anrichtet und viel CO2 freisetzt. Gemäss dem Unternehmen ist «klimaneutral» dennoch möglich – dank CO2-Kompensationen im Ausland.

Auch Fliegen geht heute ohne «Flugscham»: Bei der Schweizer Fluggesellschaft Swiss kann der Kunde bei der Reisebuchung für ein paar Franken seinen Flug «ausgleichen» – mittels Nutzung nachhaltiger Treibstoffe (Sustainable Aviation Fuel, SAF) und einem Beitrag an Klimaschutzprojekte. Als kleines Plus gewährt die Swiss dazu «extra Statusmeilen» sowie «flexible Umbuchungsmöglichkeiten». Die SAF-Technologie steckt allerdings in den Anfängen. Das synthetische Kerosin ist erst in sehr geringer Menge verfügbar und teuer. Weltweit liegt der Einsatz von SAF im Promille-Bereich.

Im Dezember behauptete Katar, erstmalig eine «klimaneutrale WM» durchzuführen. Selbstverständlich ist dies unsinnig. Laut Katar und der FIFA wurde zwar von der Bauphase bis zum Abbau des gesamten Wettbewerbs mehr CO2 in die Luft geblasen als jemals zuvor in der Geschichte der WM. Die Organisatoren beteuerten aber, dass sie sämtliche Emissionen durch die Finanzierung ökologisch nachhaltiger Projekte «in der ganzen Welt kompensieren» würden. Bereits im November reichten die Klima-Allianz sowie Verbände aus mehreren europäischen Ländern Beschwerde gegen die FIFA ein. In ihrem Urteil vom 6. Juni unterstützte die schweizerische Lauterkeitskommission die Beschwerdeträger und befand die FIFA wegen Greenwashing für schuldig.

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Schliesslich verkündete St. Moritz diesen Winter stolz, das erste «klimaneutrale Skigebiet» der Schweiz zu sein. Pisten- und Dienstfahrzeuge würden mit CO2-neutralem Diesel fahren. Gebäude und Restaurants würden mit CO2-neutralem Heizöl beheizt. Ein offensichtlicher Fall von Greenwashing, denn die alternativ eingesetzten Treib- und Brennstoffe sparen gerade mal 5 – 8,5 Prozent CO2 ein. Der Rest wird über Klimaschutz-Projekte in Indonesien und Peru «kompensiert». Durch das Schützen der Wälder soll zusätzliches CO2 reduziert werden. Allerdings ist dies laut einem ETH-Forscher und Greenpeace fragwürdig und umstritten.

Probleme mit Ausland-Kompensationen 

Die «Zeit», der «Guardian» und «SourceMaterial» (ein non-profit Zusammenschluss von Journalist:innen) konnte Anfang Jahr nach einer neunmonatigen Recherche zeigen, dass Waldschutz-Projekte in vielen Fällen weniger CO2 binden als versprochen: Hinter mehr als 90 Prozent der CO2-Zertifikate, die Verra (der weltweit führende Zertifizierer von Emissionsgutschriften) auf Projekten zum Schutz von Regenwäldern ausgegeben hatte, standen keine realen Emissionsminderungen. Mit anderen Worten: Millionen von Emissionszertifikate, die es nie hätte geben dürfen, gelangten auf den freien Markt. Firmen wie Gucci, BHP, Shell, Chevron, Disney, Samsung, easyJet oder Leon verliessen sich auf die Regenwald-Zertifikate und polierten damit die CO2-Bilanz ihrer Unternehmen auf.

Inzwischen hat die EU naturbasierte Kompensationen aus dem CO2-Emissionshandel ausgeschlossen. Das hat zwei Gründe: Zum einen muss ein Projekt tatsächlich «zusätzlich» CO2 mindern. Nur wenn ein Waldgebiet ohne ein Schutzprojekt tatsächlich gerodet würde, verhindert ein Schutzprojekt die Emissionen von CO2. Ist das Waldgebiet aber ohnehin geschützt, weil es z.B. in einem staatlichen Naturpark liegt, wird durch ein weiteres Schutzprojekt kaum zusätzliches CO2 eingespart. Anderseits kann nie ausgeschlossen werden, dass der geschützte Wald nicht in zehn oder zwanzig Jahren doch gerodet wird oder einem Brand zum Opfer fällt, wodurch das CO2 dann doch freigesetzt wird.

Selbstverständlich muss die Staatengemeinschaft weiterhin alles dafür tun, um die Regenwälder zu schützen und die weltweite Abholzungsrate zu reduzieren. Ohne dies ist die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens aus dem Jahr 2015 und des 1,5 Grad-Ziels nicht zu machen. Ob freiwillige CO2-Kompensationsprojekte das richtige Instrument sind, ist allerdings mehr als fraglich.

Seit die EU und einige europäische Länder im freiwilligen Emissionshandel mehr Transparenz fordern, bewegt sich nun auch in der Schweiz etwas. Dienstleister wie Climate Partner Switzerland oder MyClimate, die Unternehmen dabei helfen, ihre CO2-Emissionen zu senken, verzichten seit Ende Jahr auf das Label «klimaneutral» und stellen klar, dass die von ihnen unterstützten Projekte lediglich «nachhaltig wirken».

Unternehmen müssen selbst nachhaltigen Wandel vorantreiben 

Zu lange haben es sich viele Firmen einfach gemacht und über billige Zertifikate in CO2-Kompensationsprojekte investiert, anstatt sich auf die Reduktion von Treibhausgasen in ihrem Geschäftsgebaren zu konzentrieren und Geschäftsmodelle zu entwickeln, die auf einen raschen Ausstieg aus den fossilen Energien abzielen.

Unternehmen müssen ihre Klimastrategien überdenken und in erster Linie ihre eigenen betriebsinternen Emissionen und diejenigen entlang ihrer internationalen Wertschöpfungskette reduzieren.

Firmen dürfen darüber hinaus Klimaschutzprojekte im Ausland finanzieren – ja, sie sind dazu sogar eingeladen. Allerdings dürfen sie damit ihre eigene Emissionsbilanz nicht buchhalterisch aufhübschen und ihr Business dadurch besser darstellen als es in Tat und Wahrheit ist.

Konkret wäre es im Fall des Wintersports zum Beispiel zielführender, die Gebäude energetisch zu sanieren und mit Erdwärmepumpen auszustatten, PV-Anlagen zu installieren und den Fahrzeugpark zu elektrifizieren, nachhaltiges Essen in Restaurants anzubieten und Foodwaste zu reduzieren, und die Feriengäste dazu zu bringen, mit dem Zug anzureisen. Der schädliche Luxus-Privatjet-Verkehr ins Oberengadin müsste stark besteuert werden. Das Geld könnte in Klimaschutz in der Schweiz und in ärmeren Ländern investiert werden. «Greenwashing» hingegen können wir uns nicht mehr länger leisten.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —     Al Bayt Stadium, Al Khor, Qatar

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Kolumne-Wir retten die Welt

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Juni 2023

Climate change is coming home

Datei:120613 Doppelleben Artwork.pdf

Eine Kolumne von Bernhard Pötter

Ich hänge an unserem alten Opel Zafira. Von der Zweifamilienkutsche mit viel Geschichte und noch mehr Beulen komme ich nicht los. Auch wenn ich die Kiste immer wieder abschaffen wollte, die Verbindung ist sehr schwer zu lösen.

Besonders in diesen Tagen: Da stand die Karre so lange unter den Linden in der Nachbarschaft, dass sie nun völlig verklebt ist. Man kriegt die Tür kaum auf. Danach bekommt man die Hand nicht mehr vom Türgriff weg. Und als unsere Carsharing-Freunde den Zafira durch die Waschstraße fahren wollten, wurden sie wieder weggeschickt: „Kein Wasser da!“

Ich war erschüttert. Es gibt kein Wasser mehr, um Autos zu waschen? Ist denn gar nichts mehr heilig? Könnte man nicht dem Kindergarten gegenüber das Trinkwasser abdrehen? Offenbar erreicht dieser Klimawandel, von dem alle reden, die Menschen, die ihm nie etwas getan haben. Dabei versuchen unsere Regierenden doch seit Jahrzehnten alles, um die klebrigen, hitzigen Fragen von ihren WählerInnen fernzuhalten: „Wir haben das im Griff“, heißt es. „Irgendwer erfindet sicher ein billiges Mittel dagegen. Nichts muss sich ändern, keiner wird was merken.“

Nun aber das: Kein Wasser mehr, um die Greens der Golfplätze grün zu halten. Bier wird teurer, weil Getreide bewässert werden muss. In Frankreich fällt der Atomstrom aus, weil die Flüsse kein Kühlwasser mehr liefern. Bei Stark­regen saufen U-Bahn-Schächte und Autobahntunnel ab. Profi-Fußballer machen Trinkpausen während der Partie. Unsere Zweitwohnungen am Mittelmeer sinken im Wert, weil sie keine Klima(!)anlage haben und es schwieriger wird, den Pool zu füllen. Und wenn die Klimakleber mal verhindert sind, klebt das Wetter selbst die Privatjets auf der aufgeweichten Rollbahn fest.

Bisher wurden nur Öko-Radikalinskis und Grüne abgestraft, wenn sie uns mit diesem Thema zu sehr auf den Wecker gingen. Wer uns das Heizen mit Klimakillern vermiesen will, wird medial und von WählerInnen abgewatscht. Wer Alternativen zur herrschenden Verantwortungslosigkeit fordert, wird als Terrorist behandelt. Aber plötzlich gilt das Ver­ursacherprinzip? Climate change is coming home und bringt die Hitze und das Chaos nicht mehr nur zu den Armen und Schwachen. Sondern auch dahin zurück, wo die Probleme herkommen: auf das Sonnendeck der globalen Arche Noah, in die Luxus-Spas der Spaßgesellschaft.

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —  Plakat „Doppelleben – Der Film“

Verfasser DWolfsperger      /      Quelle    :   Eigene Arbeit      /      Datum    :    1. August 2012

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

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Unten        —       P1000625

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Eure Yachten unser Hitze

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Juni 2023

Holstein: Protest im Yachthafen Neustadt

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :  pm

Auf den Yachten werden Banner entrollt, auf denen unter anderem zu lesen ist “Euer Luxus = unsere Ernteausfälle” und “Für wen machen Sie Politik, Kanzler Scholz?”

Unterstützer:innen der Letzten Generation protestieren heute morgen im ancora Marina Yachthafen in Neustadt an der Ostsee gegen den zerstörerischen Lebensstil der Superreichen und dem planlosen Zusehen der Bundesregierung dabei. Dafür begaben sie sich an Bord von zwei Yachten, färbten das Wasser mit Hilfe von Uranin giftgrün ein und besprühten die Yachten mittels präparierter Feuerlöscher orange an. Im Anschluss hängten sie Banner auf. Während des Protestes tragen sie Schwimmwesten.

Theodor Schnarr erläutert als ein Sprecher der Letzten Generation, an wen sich die Protestaktion richtet: „Unsere Fragen richten sich an Kanzler Scholz: Was nützen den Reichen und ihren Kindern und Enkelkindern ihre Luxusyachten, wenn sich die Meere in eine stinkende giftgrüne Brühe verwandelt haben? Was nützen ihnen ihre klimatisierten Villen und Bunker in Neuseeland, wenn sie dort in einer Art freiwilligen Verbannung leben? Olaf Scholz, handeln Sie und sorgen Sie mit einer mutigen Politik dafür, dass ein Gesellschaftsrat einberufen wird, der Sie bei der mutigen Entscheidung die Exzess-Emissionen der Reichen zu stoppen unterstützt.“

Die giftgrüne Färbung des Hafenbeckens warnt, dass unsere Meere zu kippen drohen. Wenn die Meere aufgrund der globalen Erwärmung sich weiter erwärmen, versauern sie und vermehrtes Algenwachstum wird das Wasser giftgrün färben. Hierdurch verlieren sie ihre Fähigkeit, CO2 aufzunehmen. Dies ist eine äusserst bedrohliche Veränderung, die todbringende Konsequenzen für das Leben auf der Erde hat. [1] Das bei der heutigen Protestaktion im Hafenbecken eingesetzte Färbemittel Uranin ist eine für Menschen, Tiere und Pflanzen unbedenkliche Substanz. [2]

Der ancora Marina Yachthafen ist mit 1440 Liegeplätzen der grösste private Yachthafen an der Ostsee. Eine Superyacht verursacht mehr CO2 als 600 durchschnittliche Bürger:innen Deutschlands. [3] Des Weiteren zahlt der Handwerker, der seinen Transporter tankt, darauf eine CO² Steuer, Besitzer:innen einer Superyacht nicht.[4]

„Während in Deutschland über die Rationierung von Wasser diskutiert wird und erste Kommunen den Wasserverbrauch ihrer Bürger:innen einschränken mussten [5], während in Indien bereits heute Menschen zu dutzenden Menschen an extrem hohen Temperaturen sterben [6] und auch bei uns mit tausenden Hitzetoten zu rechnen ist [7], geht die Party der Reichen weiter. Wir fragen uns, für wen machen sie eigentlich Politik, Herr Scholz?” erklärt Regina Stephan, warum sie sich an der Protestaktion beteiligt. Sie studiert Medizin und ist nebenbei auf einer Intensivstation tätig.

Weiter sagt sie: „Während die Stadtviertel von Ärmeren und der Mittelschicht überhitzen, können sich die Superreichen in ihre klimatisierten Villen und Yachten schützen. Es könnten so viele Menschenleben gerettet werden, wenn die Regierung jetzt endlich handelt.”

Die Klimaschutzbemühungen der Bundesregierung sind völlig ungenügend und sozial ungerecht. Im Gesellschaftsrat können wir eine gerechte Lösung finden, die für die grosse Mehrheit der Bevölkerung gut ist. Parlament und Regierung sollen anschliessend über die vom Gesellschaftsrat erarbeiteten Massnahmen abstimmen. [7]

Fussnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/klimawandel-ozeankonferenz-warnt-vor-versauerung-der-meere-100.html

[2] www.sigmaaldrich.com/DE/de/sds/sigma/46960

[3] theconversation.com/private-planes-mansions-and-superyachts-what-gives-billionaires-like-musk-and-abramovich-such-a-massive-carbon-footprint-152514

[4] www.tagesschau.de/investigativ/ndr/jachten-treibhausgase-klima-101.html

[5] www.agrarheute.com/management/recht/wassermangel-deutschland-wasser-rationierung-fuer-buerger-bauern-608061

[6] www.sueddeutsche.de/politik/indien-hitze-klimaveraenderung-tote-1.5947316

[7] www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/lauterbach-hitzeschutzplan-100.html

[8] letztegeneration.org/gesellschaftsrat/

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Oben        —   blicke auf die schiffe

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Kein Lust auf Nachrichten?

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Juni 2023

Medienkonzerne schlagen laut Alarm

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 Bundesvorsitzender des Deutscvhen Jounalistenverbandes ist seit 2015 der Journalist Frank Überall,

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Der „Reuters Institute Digital News Report“ ist eine hochmögende Einrichtung der Medienkonzerne. Seine Analyse ist weniger Teil der allgemeinen Dauermanipulation, sondern dient eher der nüchterneren Selbsteinschätzung zur Verbesserung der täglichen Bearbeitung des Massen-Bewusstseins. Insofern ist der Report von seltener Ehrlichkeit geprägt. Zwar legt auch diese Arbeit ihre Fragen nicht offen – nur wer die Fragen kennt, kann das Ziel der Befragung genau erkennen – aber weil der Report ein Arbeitsinstrument ist, ist in ihm die Lage der Medien in Deutschland deutlich zu begreifen: Das Vertrauen der Medien-Nutzer in ihre Medienkost ist weiter gesunken. Jeder Zehnte versucht sogar, den Nachrichtenkonsum aktiv zu vermeiden. Noch schlimmer ist dieser Satz des Reports für die Selbsterkenntnis der Manipulationsapparate: „Die Bedeutung Video-getriebener sozialer Netzwerke als Informationsquelle nimmt unterdessen weiter zu“.

Kein Vertrauen in Nachrichten

Nur noch 52 Prozent der erwachsenen Internetnutzer in Deutschland geben an, sehr an Nachrichten interessiert zu sein. Im Vorjahr waren es noch 57 Prozent. Die Frage nach dem WARUM der Nachrichten-Müdigkeit wird von jenem Teil der Studie der öffentlich zugänglich ist nicht beantwortet. Und doch findet sich ein klarer Hinweis in der Arbeit: „Mur 43 Prozent sind der Ansicht, man könne dem Großteil der Nachrichten in der Regel vertrauen. Das sind sieben Prozentpunkte weniger und gleichzeitig der niedrigste Wert, seitdem die Frage 2015 erstmals gestellt wurde“. Nur wer dem Wahrheitsgehalt der Nachrichten vertraut, kann auf Dauer ein Interesse an den Nachrichten haben. Dieses Interesse aber ist die Basis der Steuerungsmöglichkeit des Massen-Bewusstseins.

Alternative Medien ausgeblendet

Während die vorliegende Reuters-Studie die Wirkung der traditionellen Medien relativ kritisch reflektiert, werden die alternativen Medien ausgeblendet. Dass Informationsplattformen wie die „Nachdenkseiten“ oder „apolut“ die wesentlichen Voraussetzungen für die wachsende Distanz zu den üblichen Medien geschaffen haben, will die Reuters-Studie nicht erwähnen und verlegt sich so selbst den Weg zur Erkenntnis der eigenen Lage. Im Handbuch für Ausbildung und Praxis im Hörfunk des Springer-Verlags wird die Nachricht so definiert: „Die Nachricht ist eine direkte, auf das Wesentliche konzentrierte und möglichst objektive Mitteilung über ein neues Ereignis, das für die Öffentlichkeit wichtig und/oder interessant ist. „Neutral, nüchtern, parteilos“, wie das Synonym-Lexikon den Begriff „objektiv“ übersetzt, ist die Mehrheit der Nachrichten nicht.

Keine Rede von Objektivität

Spätestens während der Zeit des Corona-Regimes, als die deutschen Medien Gegenstimmen zum Kurs der Regierung komplett ausblendeten oder diffamierten, kann von Objektivität keine Rede mehr sein. Seit Beginn des Ukrainekriegs wurde diese Gleichschaltung der Mehrheits-Medien fortgesetzt. Von einer offenen, demokratischen Berichterstattung konnte und kann nicht mehr die Rede sein. So muß das das „gesunkene Vertrauen der Medien-Nutzer“ als verständliche Reaktion gewertet werden. Allerdings betreibt die Reuters-Untersuchung keine Ursachen-Forschung. Von den Gründen für das gesunkene Interesse an den Nachrichten ist nicht die Rede. Im Ergebnis dieses offensichtlichen Analyse-Mangels ist eine Änderung der Lage nicht zu erwarten. Man kann und muß sogar unterstellen, dass diese Verweigerung einer Ursachenforschung den Kurs der deutschen Medien eher weiter betoniert.

Gleichtakt von Mehrheitsmedien, Regierung und „YouTube“

An keiner Stelle schreibt die Reuters-Studie über die Löschungen bei „YouTube“. Obwohl die „Bedeutung Video-getriebener sozialer Netzwerke als Informationsquelle“ bei Reuters hervorgehoben wurde, findet die gezielte Zensur bei „YouTube“ nirgends eine Erwähnung. Aber gelöscht wurden genau jene Informationen, die dem Einheitskurs der Medien widersprachen. Zwar fehlt bisher jeder Beweis einer organisierten Zusammenarbeit zwischen Regierung und „YouTube“, aber dieser verschwiegene und verschweigende Gleichtakt von Mehrheitsmedien, Regierung und „YouTube“ kann kein Zufall sein. Gar keine Erwähnung findet die russisch inspirierte Plattform „RT Deutsch“. Die Plattform wird als Feindsender behandelt, so als sei Deutschland bereits offiziell in den Ukraine-Krieg verwickelt. Den Fall „RT Deutsch“ einfach nicht zu erwähnen, ist eine Verweigerung, die Wirklichkeit wahrzunehmen, die vor allem bei einer Medienanalyse mehr als befremdlich ist. Diese Weigerung ist geradezu eine stillschweigende Anerkennung der zentralen Steuerung von Zensur und stellt der Reuters-Studie ein erbärmliches Zeugnis aus.

Kampagne für Medienfreiheit?

Für die alternativen Medien ist die Lage nach der Reuters-Studie eindeutig: Sie wären die Rettung für den verbliebenen Rest von Presse- und Meinungsfreiheit. Wenn sie denn die zunehmend unzufriedeneren Medienkunden erreichen würden. Dem steht ihr mangelnder Bekanntheitsgrad im Wege: Selbst kritische Medienkonsumenten wissen häufig nicht, dass es Alternativen gibt und wo man sie erreichen kann. Es ist an der Zeit für eine gemeinsame Kraftanstrengung aller alternativer Medien, um deren Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Es ist an der Zeit für eine Kampagne für Medienfreiheit, die sich nicht im Appell erschöpft.

Die Original Reuters-Studie:
https://leibniz-hbi.de/de/publikationen/reuters-institute-digital-news-report-2022-ergebnisse-fuer-deutschland

Urheberrecht

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Oben      —     Frank Überall bei einer Diskussion in Köln-Mülheim (2008)

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 19. Juni 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Kirchentag,  Beim RBB wird die neue Intendantin gekürt. Fußball-WM:Trumpgerechte Straftaten. Gegen Donald Trump wird Anklage erhoben. Er gibt sich aber kämpferisch für die US-Präsidentschaftswahl.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Grüne beugen sich dem „Asyl-Kompromiss“.

Und was wird besser in dieser?

Aufgeben heißt jetzt Kompromiss.

Thomas de Maizière forderte auf dem evangelischen Kirchentag von der Generation Z eine göttliche Arbeitswoche à la ‚6 Tage arbeiten, 1 Tag ruhen‘. Wären wir da nicht besser alle katholisch geblieben?

Teile eines de Maizières können immer noch das Publikum verunsichern. Wenn es nicht zu Frommen seiner Work-Live-Balance vorher nach Hause gegangen ist: Die Hälfte der Kirchentagsteilnehmenden war laut Evangelischer Kirche in Deutschland (EKD) unter dreißig. Als AltersInsasse und mentaler Zellennachbar de Maizières möchte ich meinen Millenial-Kindern dazu gratulieren, den Onkel Exminister richtig böse gemacht zu haben. Hie selbstbestimmter Umgang mit Lebenszeit – dort öhmt protestantische Askese aus hugenottischem Offiziersgeschlecht. Well done, Kinder. Wir waren die Generation „Ihr sollt es einmal besser haben“. Ihr seid die Generation „Euer Besser kotzt uns an.“ Bestraft den ungläubigen Thomas! Werdet glücklich!

Donald Trump plädierte im Geheimaktenprozess auf nicht schuldig. Wie beeinflusst der Prozess seine Chancen auf die US-Präsidentschaft.

Das Foto eines Hooligans, der mit Mutti bei Streuselkuchen „Bares für Rares“ guckt, wäre dem schädlicher, als es Trump schadete, wenn er einfach nur weitertrumpt. Anklage wegen Wirtschaftsverbrechen in New York, in Georgia geht’s um Wahlfälschung, dann dräut der Prozess um Schweigegeld an eine Dienstleisterin, 5 Millionen wegen sexuellen Übergriffs musste er schon bezahlen. Allesamt trumpgerechte Straftaten. Er ist der rechte Mann für Leute, die ihr eigenes Elend für eine Lüge des Universums halten. Und da muss er lang.

ARD und ZDF kaufen der Fifa nun doch die TV-Rechte für die Fußball-WM der Frauen ab. Ist der Deal Geldmacherei unter dem Deckmantel der Emanzipation?

Bei der EM 2022 sahen in Deutschland 17,9 Millionen Menschen das Finale England – Deutschland. 64,8 Prozent Marktanteil. Eine eindrucksvolle Manifestation des Grundrechts, die letzten 10 Minuten der Verlängerung an der Eckfahne würdelos dummzudaddeln. Es war ein Tort, doch ich sah es gern, um mir vor der WM der Schande in Katar den Tank vollzumachen und das 220-Millionen-Euro-Debakel der Jungs nicht zu gucken. Deshalb erscheint der „mittlere einstellige Millionenbetrag“, den ARD und ZDF jetzt zahlen, vergleichsweise lächerlich. Auf den zweiten Blick fragt sich, welcher Betrag lächerlicher ist.

Bild ruft zur Massenpanik, weil ein Gesetz aus dem Hause Cem Özdemir angeblich Werbung für Milchprodukte in die Nachtstunden verschieben soll. Kommt nach dem Heizhammer jetzt der Milchmurks?

Die Zuckerhüte von der FDP werden die Kanten des Entwurfs rundschlecken. Dahinter bleibt ein Mysterium: Die TV-Sender haben längst resigniert, unter 30 erreichen sie keine Zuschauenden mehr. Zugleich lobbyieren sie massiv, um Kinderwerbung zu erhalten. Kurz: Die Werbung wandte sich längst an Erwachsene, oder die Sender haben die Werbekunden schon länger reingelegt. Kinder-Überraschung.

Beim RBB ging es vor der In­ten­dan­t:in­nen­wahl am Freitag hoch her. Wie kann der Sender zur Ruhe kommen?

Positiv gesehen: Der RBB ist so pleite – er kann sich keine Gebührensalbe mehr auf allerhand schwärende Wunden schmieren und noch ein paar IntendantInnen verjuxen. Die herkömmlichen Produktionsweisen sind infrage gestellt. Künftig wird es öfters Amateurqualität geben. Die Gremien gehen da seit Jahren voran.

Die Nationale Sicherheitsstrategie wird als abstraktes Dokument mit vagen Wünschen wahrgenommen. Finden Sie auch Konkretes in dem Papier?

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Bearbeitung durch User: Denis_Apel –

Lizenz “Creative Commons“ „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen“

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Ozeanien-vs-Eurasien

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Juni 2023

Ozeanien-Eurasien-USA-und-China-im-Konflikt-um-Taiwan

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Angesichts bröckelnder Wirtschaftsmacht geht Washington in der Auseinandersetzung mit China zu einer Strategie bloßer militärischer Dominanz über

Es ist gut möglich, dass rückblickend der Krieg um die Ukraine als erster Akt eines globalen Großkrieges, als bloßes Vorspiel für die in Taiwan drohende militärische Auseinandersetzung zwischen den USA und China angesehen werden wird. Die Spannungen in der Straße von Taiwan scheinen zu einem prekären Dauerzustand zu werden, während der Blutzoll des russischen Angriffskrieges inzwischen in die Hunderttausende geht.

Beide Konflikte können tatsächlich auch als Momente eines globalen Hegemoniekampfes begriffen werden, der zwischen den fragilen Bündnissystemen der absteigenden USA und dem aufstrebenden China geführt wird. Auf der geopolitischen Ebene ließe sich von einem Kampf des von China angeführten Eurasiens gegen das Ozeanien der Vereinigten Staaten sprechen. Washington verfolgt eine Eindämmungsstrategie gegenüber der chinesisch-russischen Allianz, bei der über den Pazifik und Atlantik hinausgreifende Bündnissysteme eine zentrale Rolle spielen. Und Taiwan ist im pazifischen Raum ein essenzieller Baustein dieser Containment-Strategie, bei der Washington bemüht ist, auch Südkorea, Japan, die Philippinen, Vietnam und Australien einzubinden.

Mit dieser Eindämmungsstrategie werden mehrere Ziele verfolgt: Zum einen soll die ungehinderte Formierung der rasch wachsenden chinesischen Militärmacht verhindert werden. Die globale Interventionsfähigkeit bildete die militärische Grundlage der Hegemonie der USA in den Dekaden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Peking forciert derzeit ein gigantisches, rasch voranschreitendes Flottenrüstungsprogramm, um die US-Marine zu überflügeln. Bis 2024 soll die Zahl chinesischer Kampfschiffe von 340 auf rund 400 ansteigen, während die US-Navy nur über knapp 300 Schiffe verfügt. Die Effektivität dieser chinesischen Marinemacht würde aber von US-Stützpunkten unterminiert, die Washington am liebsten in allen Nachbarstaaten Chinas errichten würde, die den Machtzuwachs Pekings mit Unbehagen beobachten.

Andererseits geht es bei diesem Containment auch darum, angesichts der sich zuspitzenden sozioökologischen Krise die ungehinderte Extraktion von Rohstoffen und Energieträgern in der Peripherie des Weltsystems durch Peking zu verunmöglichen. Die militärische Absicherung der Schifffahrtswege ist für China unmöglich, solange Washington Bündnispartner vor der chinesischen Küste hat.

Eskalationsdynamik im Spätkapitalismus

Wo verlaufen die Grenzen Ozeaniens und Eurasiens? Diese geopolitische Frage, die in der Ukraine militärisch ausgefochten wird, stellt sich auch in Taiwan, das Peking als Teil Chinas betrachtet. Der Taiwan-Konflikt ist folglich innerhalb Chinas besonders stark national und ideologisch aufgeladen, während eine überwältigende Mehrheit der Bewohner*innen Taiwans für die Beibehaltung des Status quo oder gar die Unabhängigkeit plädiert. Der Hegemoniekampf zwischen den USA und China ist aber auch ein Kampf um die technologische Dominanz. Washington bemüht sich mit immer weitergehenden Sanktionen, den verbliebenen technologischen Vorsprung gegenüber der Volksrepublik aufrechtzuerhalten. Und Taiwan ist ein wichtiger Standort für IT und Hightech-Produktion. Die wichtigsten Fabrikationsstätten für Computerprozessoren und Chips befinden sich auf der Pazifikinsel. Washington will den Zugriff Pekings auf diese Fertigkeiten verhindern.

Die sich im Pazifik entfaltende Eskalationsdynamik bleibt aber unverständlich, wenn die zunehmenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisentendenzen im spätkapitalistischen Weltsystem ausgeblendet bleiben. Es sind die systemischen Krisenprozesse, die sich immer deutlicher abzeichnenden inneren und äußeren Schranken des Kapitals, die die Staaten in die Konfrontation treiben. Auch der Angriff Russlands auf die Ukraine, der einem Akt nackten Wahnsinns gleicht, bleibt unverständlich, wenn die Aufstände in Belarus und Kasachstan kurz zuvor unberücksichtigt bleiben.

Auf globaler Ebene befinden sich die USA in einer ähnlich schwierigen Lage wie Russland in seinem abgetakelten und sozial zerrütteten postsowjetischen Hinterhof. Das jüngste »Bankenbeben« in den Vereinigten Staaten, das durch den Wertverfall von eigentlich als sicher geltenden US-Staatsanleihen ausgelöst wurde, ist Ausdruck der systemischen Sackgasse, in der die um den Dollar als Weltleitwährung zentrierte neoliberale Globalisierung steckt: Dem an seiner Produktivität erstickenden Weltsystem fehlt ein neuer industrieller Leitsektor, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet werden könnte, es läuft auf Pump. Die globale Verschuldung steigt schneller an als die Weltwirtschaftsleistung.

Dieser globale Verschuldungsprozess vollzog sich vermittels immer größerer Spekulationsblasen in der Finanzsphäre, wobei die Globalisierung zur Ausbildung von Defizitkreisläufen führte. Wirtschaftsstandorte mit Exportüberschüssen führten ihre Waren in Defizitländer aus, die immer größere Schuldenberge anhäuften. Die USA und China waren in diesem Prozess eng miteinander verstrickt. Im großen pazifischen Defizitkreislauf konnte China gigantische Exportüberschüsse gegenüber den USA erzielen, um diese sogleich in amerikanische Staatsanleihen zu investieren. Von China wurden über den Pazifik gigantische Warenmengen in die USA befördert, während in die Gegenrichtung US-»Finanzmarktwaren« (zumeist besagte Staatsanleihen) flossen, die China zu einem der größten Gläubiger der USA machten. (Ein ähnliches »Ungleichgewicht« zwischen dem deutschen Zentrum und der südlichen Peripherie prägte auch die Eurozone bis zum Ausbruch der Eurokrise.)

Mit dem Ende des Nachkriegsbooms, der Finanzialisierung und der Durchsetzung des Neoliberalismus wandelte sich somit die ökonomische Grundlage des westlichen Hegemonialsystems, das zuvor von der fordistischen Expansion getragen worden war: Die sich immer weiter verschuldenden USA wurden zum »Schwarzen Loch« des Weltsystems, das die Überschussproduktion exportorientierter Staaten wie China und der BRD aufnahm – um den Preis voranschreitender Deindustrialisierung und Verschuldung im eigenen Land. Ohne den US-Dollar wäre dies nicht möglich gewesen. Der Greenback als Weltleitwährung verschaffte Washington die Option, sich im Wertmaß aller Warendinge zu verschulden, um etwa seine Militärmaschinerie zu finanzieren. Wenn hingegen ein Erdo?an die Geldpresse anwirft, dann wächst einfach die Inflation.

Bürgerliche Krisenpolitik in der Falle

Diese auf Pump laufende globale Finanzblasenökonomie wurde in den letzten Jahrzehnten immer krisenanfälliger. Die Krisenschübe fielen immer heftiger aus, die Aufwendungen der Politik zur Stabilisierung des Systems wurden immer größer, die Abstände zwischen den Krisenschüben immer kürzer. Mit der einsetzenden Inflationsphase scheint die neoliberale Epoche der Krisenverzögerung am Ende zu sein.

Die bürgerliche Krisenpolitik befindet sich in einer Falle: Sie müsste die Zinsen anheben, um die Inflation zu bekämpfen, während sie zugleich die Zinsen senken müsste, um den aufgeblähten Finanzsektor vor dem Kollaps und die gigantischen Schuldenberge vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Die USA sind im Rahmen der kollabierenden Finanzblasenökonomie und der besagten Defizitkreisläufe nicht mehr in der Lage, als »Schwarzes Loch« der Weltwirtschaft zu fungieren, womit das ökonomische Fundament der US-Hegemonie untergraben wird. Mit den zunehmenden Absetzbewegungen vom US-Dollar in der Semiperipherie des Weltsystems, wo etliche Staaten zu bilateralen Zahlungssystemen mit China übergehen, scheint die Zeit des Greenback als Weltleitwährung abzulaufen, was die Vereinigten Staaten zu einem riesigen, militärisch hochgerüsteten Schuldenstaat degradieren würde.

Die einzige Option, die Washington noch bleibt, um das erodierende Bündnissystem des »Westens« aufrechtzuerhalten, ist die der militärischen Dominanz. Das eigentliche Rückgrat der Vormachtstellung der USA wie auch der Stellung des Dollar als Weltleitwährung bildet der US-Militärapparat. Deswegen ist Washington bereit, dem chinesischen Expansionsstreben mit einer Konfrontationsstrategie zu begegnen – solange die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten noch besteht.

Erstveröffentlicht unter : https://www.akweb.de/ausgaben/693/ozeanien-vs-eurasien-usa-und-china-im-konflikt-um-taiwan/

Tomasz Konicz

Dist Autor und Journalist. Von ihm erschien zuletzt das Buch »Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört«. Mehr Texte und Spendenmöglichkeiten (Patreon) auf konicz.info.

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Oben       —       The World War II Pacific Theater as it appeared in August, 1942.

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Die Illusion der Kontrolle

Erstellt von DL-Redaktion am 17. Juni 2023

Die Grünen bezahlen für ihr Ja einen Preis

Bündnis 90 - Die Grünen Logo.svg

Von:      Stefan Reinecke

Der EU-Asylkompromiss führt nicht zu wesentlich weniger Migration, er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen. Der Kompromiss befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer Kontrolle unterwerfen kann.

Der Mann ließ im Bundestag kein gutes Haar an dem Asylkompromiss. „Anstatt das Asylrecht zu bewahren, soll es nun so weit eingeschränkt werden, dass das einer Abschaffung gleichkommt“, sagte der Bündnisgrüne. Man errichte „Mauern aus Gesetzen und Abkommen“, um sich die Geflüchteten vom Leib zu halten und sie schnell in Drittstaaten zu entsorgen. Wer aus einem Nachbarland kam, hatte kein Recht auf Asyl mehr. Das war ungefähr so, als wenn Irland beschließen würde, dass nur, wer zu Fuß kommt, Asyl beantragen darf.

Diese Szene spielte sich 1993 ab. Konrad Weiß, Abgeordneter von Bündnis 90, redete vergeblich der SPD ins Gewissen. Das Grundgesetz wurde mit SPD-Stimmen geändert.

Der Asylkompromiss vor 30 Jahren und der EU-Asylkompromiss 2023 ähneln sich im manchem. Das Ziel ist: Migranten abschrecken. Dafür werden die Rechte von Asylbewerbern beschnitten, ohne das Asylrecht komplett zu streichen. Auch der Schmierstoff dieser Operation ist ähnlich: Es ist die Konstruktion der sogenannten sicheren Drittstaaten. Ein syrischer Flüchtling, der aus der Türkei in die EU kommt, kann künftig wieder zurückgeschickt werden – auch wenn er in der EU Anrecht auf Asyl hat. Ob und wie oft das passieren wird, ist offen. Aber es ist möglich. Auch die Asylzentren, Kernstück der EU-Reform, folgen einem Vorbild, das 1993 in Deutschland erfunden wurde. Flüchtlinge, die per Flugzeug kommen, landen seitdem nicht in Deutschland, sondern in einer Art Transitraum, in dem die „Fiktion der Nichteinreise“, so der juristische Ausdruck, gilt. Auch in den geplanten EU-Asylzentren finden sich Geflüchtete in einem fiktiven Europa wieder.

Bekannte Argumente, gemischte Gefühle. Das Ganze wirkt wie ein Remake. Nur die Grünen spielen diesmal nicht die tapfere Opposition, sondern die Rolle der SPD. Halb fallen sie, halb zieht es sie hin. Am Ende werden sie wohl, nach ausreichend öffentlich dargebotener Zerknirschung, dem stählernen Gebot der Realpolitik folgen.

Auch wenn die Rhetorik 2023 nicht so aggressiv und fremdenfeindlich klingt wie 1993, tauchen in dem Diskurs ähnlich suggestive Bilder auf. In Talkshows und Bundestagsdebatten werden – mehr oder weniger verklausuliert – drei Erzählungen bedient. Alle drei haben die gleiche Botschaft: Wir müssen uns schützen. Das erste Bild: „Nur ganz wenige Migranten sind Verfolgte. Das Gros sind Wirtschaftsflüchtlinge.“

So ist es nicht – jedenfalls derzeit. Im Jahr 2022 bekamen fast drei Viertel aller Asylsuchenden Schutz und wurden als Verfolgte anerkannt. Nur in 28 Prozent der Fälle wurde der Asylantrag als unbegründet abgelehnt. Trotzdem werden Flüchtlinge generell als Schwindler verdächtigt.

Das zweite Bild: „Die illegalen MigrantInnen kommen nach Deutschland – und arbeiten dann nicht.“ Auch das stimmt so nicht. Es ist kompliziert, die Daten etwas schütter. Aber: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ist aus demografischen Gründen günstig. Auch Ungelernte werden verzweifelt gesucht. So gehen Experten davon aus, dass trotz Hürden wie der Sprache rund 55 Prozent jener Migranten arbeiten, die 2015/16 nach Deutschland kamen. Tendenz steigend. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist aufwendig und kostspielig. Aber Leute, die hier sind, auszubilden ist effektiver, als Arbeitskräfte in der Ferne zu umwerben, die dann lieber nach Kanada gehen. Das Bild vom Flüchtling, der es sich in der sozialen Hängematte bequem macht, ist jedenfalls falsch.

Wer Menschen ausschliesst – sperrt sich selber ein !

Drittens: „Wir müssen an der Grenze durchgreifen und die illegalen Migranten (böse, weil Wirtschaftsflüchtlinge) von den verfolgten Asylsuchenden (nehmen wir auf, weil wir gute Menschen sind) trennen.“ Dieses Bild ist vielleicht das wirksamste. Und abgründigste. Es legt nahe, dass die Politik an der Grenze für Ordnung sorgen kann, wenn sie es nur will. Hart, aber fair. Repressiv, aber gerecht. Man muss nur entschlossen das richtige Anreiz- oder vielmehr Abschreckungssystem etablieren – schon lässt sich globale Migration steuern, und das Problem ist wenn nicht gelöst, so doch entscheidend gemildert. Dieses Bild ist so fatal, weil es eingängig und schwer zu widerlegen ist. Migration ist ein vielschichtiger, komplexer, verwirrender, sich wandelnder Prozess. Gerade deshalb ist es attraktiv, an einfache, gerade Lösungen zu glauben, die man sich nur trauen muss.

Diesem Geist entspricht der EU-Asylkompromiss mit den geplanten haftähnlichen Lagern und verkürzten Verfahren. Er befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer weitgehenden Kontrolle unterwerfen kann.

Doch das wird nicht so sein – und das ist der Unterschied zwischen 1993 und 2023. Deutschland gelang es damals auch mittels Drittstaaten, Zahlen radikal zu senken: von fast einer halben Million im Jahr 1992 auf 19.000 im Jahr 2007. Die Bundesrepublik machte sich einen schlanken Fuß auf Kosten geduldiger Nachbarn. Als 2011 auf Lampedusa Tausende Flüchtlinge ankamen, erklärte CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich in einer bemerkenswerten Mixtur aus Dummheit und Arroganz, das sei Italiens Problem. Das kam 2015/16 als Bumerang zurück.

Die Lage in der EU ist 2023 anders. Denn die dienstbaren Drittstaaten, die Flüchtlinge abwehren, existieren so nicht. Die EU hat zwar moralisch abgründige Deals mit Autokraten in Afrika geschlossen, die rosafarben „Mobilitätspartnerschaften“ getauft wurden. Entwicklungshilfe und Handelsvergünstigungen für Länder wie Ägypten, Marokko und Niger wurden an die Bedingung gekoppelt, Migrantenrouten zu unterbrechen. Die EU hat kreativ ein komplexes Netz entworfen, um zweifelhafte Regime mit Geld dazu zu bringen, Abgeschobene wieder zurückzunehmen.

Staatsgrenzen zeichnen sich nicht mehr, wie der Staatstheoretiker Thomas Hobbes einst schrieb, dadurch aus, dass sie „bewaffnet sind und auf die anliegenden Nachbarn gerichtete Kanonen haben“. Grenzen im globalen Kapitalismus sind flexible, oft nach vorne verlagerte Systeme, mit denen sich die reichen Zentren die Zuwanderung aus den armen Peripherien vom Leib zu halten versuchen. Der Soziologe Steffen Mau hat diese Grenzen mit ausgefeilten Überwachungssystemen und diffusen Rechtsräumen griffig als „Sortiermaschinen“ beschrieben. Sie haben etwas Ausuferndes. Im Vergleich mögen die Grenzen der Ära der klassischen Nationalstaaten mit ihren Schlagbäumen wenn nicht harmlos, so doch verlässlich und übersichtlich erscheinen.

Lesbos refugeecamp - panoramio (2).jpg

Doch so beängstigend diese Sortiermaschinen mitunter wirken – sie sind prekär, anfällig, fragil. Die EU ist auf die politischen Kalküle autokratischer Regime angewiesen. Die EU verfügt nicht über die imperiale Macht, den (nord)afrikanischen Staaten den eigenen Willen zu diktieren. Einzelne europäische Länder haben mehr als 300 Rücknahmeabkommen mit Staaten geschlossen, um Migranten wieder loszuwerden – mit durchwachsenem Erfolg. Fast 80 Prozent der Abschiebebefehle wurden 2021 in der EU nicht umgesetzt. Auch der gerade heftig umworbene tunesische Staatschef hat wenig Neigung, als Europas gekaufter Grenzpolizist zu gelten.

Die Sortiermaschinen funktionieren manchmal, mal stottern sie, mal fallen sie aus, dann laufen sie wieder auf Hochtouren. Migration ist nur bedingt regulierbar. Sogar die repressive Grenze zwischen Mexiko und den USA, an der Trump brutal Tausende Kinder von ihren Eltern trennte, funktioniert – aus US-Sicht – nur wie ein mehr oder weniger guter Filter. Auch unter Joe Biden werden Millionen festgenommen, abgewiesen, abgeschoben. Trotzdem leben in den USA mehr als elf Millionen sogenannte illegale Migranten.

In einem hoch vernetzten, weltumspannenden Markt mit extremem Wohlstandsgefälle, in dem Kapital und Waren, Informationen und Datenströme so frei und schnell wie nie zuvor fließen, ist es ein Kinderglaube, dass man Flüchtlinge nach Belieben stoppen und in brauchbare und lästige aufteilen kann. Im globalen Dorf weiß man auch in Ecuador und Nigeria, welche Migrationsrouten gerade funktionieren.

Die Idee, man werde mit dem EU-Kompromiss nun „die Zahlen in den Griff kriegen“, so CSU-Mann Manfred Weber, hat etwas Einfältiges. Denn wer in Westafrika viel Geld investiert, den Tod in der Sahara und das Ertrinken im Mittelmeer riskiert, sich Schlepperbanden anvertraut, Kriminelle und Frontex einkalkuliert, der wird sich kaum davon abschrecken lassen, dass die EU beschleunigte Verfahren einführt. Dieser Asylkompromiss führt nicht zu wesentlich weniger Migration. Er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen.

Quelle          :            TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Kolumne FERNSICHT Israel

Erstellt von DL-Redaktion am 17. Juni 2023

Verhängnisvoller Bruderkuss unter Erzfeinden

Vogelbeobachtung (8618362879).jpg

Von Hagan Dagan

Im Nahen Osten wird es nicht langweilig. Während sich die Augen der Welt auf das Drama in der Ukraine richten, verändert sich zwischen dem Mittelmeer und dem Persischen Golf die geopolitische Landkarte.

Iran entwickelt sich Schritt für Schritt zur Atommacht. Aktuell sieht es nicht so aus, als würde das noch jemand verhindern können. Die zweifellos beeindruckenden Operationen des Mossad konnten die iranische Kernentwicklung allenfalls verzögern. Ähnlich auch die Kontrollen der Internationalen Atomenergie-Organisation.

ExpertInnen gehen davon aus, dass Iran in erschreckend kurzer Zeit in der Lage sein wird, eine Atombombe herzustellen. Die USA und Europa streben nach einer Wiederaufnahme der Atomvereinbarungen, und offenbar gibt es an dieser Front einen deutlichen Fortschritt. Wobei Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei jüngst bekanntgab, dass selbst eine Wiederaufnahme der Verhandlungen Iran nicht daran hindern werde, das Atomforschungsprogramm fortzusetzen. Teheran könnte so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: das Ende der wirtschaftlichen Sanktionen und trotzdem Fortschritte auf dem Weg zur Atombombe.

Überraschend kommt das jüngste Kooperationsabkommen zwischen Teheran und Riad. Saudi-Arabien und Iran sind erbitterte Feinde, die um die Vorherrschaft und Einfluss im Nahen Osten ringen. Der Krieg im Jemen – in dem Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi gegen die schiitischen Huthi-Rebellen stützten, die praktisch als ein verlängerter Arm Teherans fungieren – gehört dazu. Saudi-Arabien verhedderte sich in dem Krieg, der Riad Milliarden Dollar kostete und der schwere Schäden unter anderem an der Ölinfrastruktur hinterließ, ohne dass es gelang, die verhältnismäßig überschaubaren gegnerischen Truppen zu schlagen. Ein klares Schwächezeichen. Das andauernde Blutvergießen, gepaart mit der kalten Schulter, die die USA – eigentlich ein Verbündeter – Riad zeigten, brachte den energischen Regierungschef, Kronprinz Mohammed bin ­Salman, zu einer dramatischen Kehrtwende: Er reichte dem Erzfeind die Hand zum Frieden. Inzwischen flirtet bin Salman auch mit den Chinesen. Mit Verpflichtungen zu tra­di­tio­nel­len Bündnissen nimmt es der Kronprinz offensichtlich nicht so genau.

Was den Iran betrifft, so mögen dem Kooperationsabkommen ein langfristiges Kalkül zugrunde liegen oder politische Intrigen. Vermutlich aber war es reiner Pragmatismus. Iran agiert hier nicht aus Verstocktheit und Eifersucht, sondern als ein Land, das Chancen ergreift. Die internationalen Sanktionen haben der Wirtschaft Irans schweren Schaden zugefügt, dazu kommen die inländischen Proteste. Die Annäherung an Saudi-Arabien und in der Folge vielleicht an weitere Golfstaaten stärkt das Land und führt zu mehr Stabilität. Und sie ist eine sicherere Karte, als sich im Krieg gegen die Ukraine an der Seite Russlands zu positionieren.

Quelle         :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Am autoritären Kipppunkt

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Juni 2023

Antidemokratische Tendenzen sind auf dem Vormarsch

The Gaza Ghetto

Ein Denattenbeitrag von DANIEL MULLIS und  MAXIMILIAN PICHL und  VANESSA E. THOMPSON

In Deutschland werden autoritäre Ereignisse mehr und die politischen Räume enger. „Law and Order“-Politik hat Hochkonjunktur. Wir müssen jetzt handeln.

Wir machen uns Sorgen. Gesellschaftlich steht viel auf dem Spiel. In Deutschland ähnelt die Situation immer mehr der, die wir seit einiger Zeit in Ungarn, den USA, Indien oder Italien beobachten: autoritäre Kipppunkte werden überschritten. In der Klimaforschung ist ein Kipppunkt ein Moment, an dem – laut Weltklimarat – „eine kritische Grenze“ erreicht wird, „jenseits derer sich ein System umorganisiert“, neue Prozesse sich verfestigen, negative Dynamiken sich beschleunigen. Dies lässt sich auf gesellschaftliche Kipppunkte übertragen. Kipppunkte entstehen nicht zufällig, sie sind das Ergebnis länger zurückliegender destruktiver Prozesse. Im Gegensatz zum Klima sind gesellschaftliche Prozesse nie unumkehrbar. Allerdings sind etablierte Diskurse, Strukturen und Normen oft nicht rückgängig zu machen. Sind autoritäre Kipppunkte überschritten, wird der Boden brüchig, auf dem plurale und demokratische Gesellschaften stehen.

Die autoritären Ereignisse überschlagen sich in einer derart rasanten Geschwindigkeit, dass es kaum möglich ist, Schritt zu halten; stets geht es darum, europäische Privilegien, imperiale Lebensweisen und etablierte Machtstrukturen zu erhalten. Antidemokratische Tendenzen sind auf dem Vormarsch. Die AfD erreicht in Umfragen Spitzenwerte. Und die Ampelregierung hat den gravierendsten Asylrechtsverschärfungen der letzten 30 Jahre zugestimmt. Dabei werden Menschen an den EU-Grenzen seit Jahren systematisch entrechtet und brutal zurückgewiesen.

Rassismus hat in Deutschland Tradition und tödliche Folgen. Jahrelang mordete der NSU ungehindert. Der Rechtsterror von Hanau mit neun Toten steht in dieser Kontinuität. Untersuchungen zeigen, dass Opfer von Polizeigewalt kaum Chancen haben, die Tä­te­r*in­nen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Schwarze Menschen, Mi­gran­t*in­nen und People of Color, besonders arme und geflüchtete Personen sind einer mitunter tödlichen und nur unzureichend aufgearbeiteten Polizeipraxis ausgesetzt, wie zuletzt Mouhamed Dramé in Dortmund.

Dabei werden die politischen Räume enger. Wie in Lützerath bei der Räumung des Klimaprotestes. Verschärft tritt der autoritäre Umgang mit der Letzten Generation zutage. Die Bewegung wird als terroristisch diffamiert und kriminalisiert. Auch die Reaktion des Staates in Leipzig Anfang Juni nach dem Urteil im sogenannten Antifa-Ost-Komplex hat eine neue Dimension erreicht: Der große Polizeikessel und die stadtweiten Versammlungsverbote sind ein Angriff auf die Demokratie. „Law and Order“-Politik hat Hochkonjunktur. Dabei verliert der Staat das rechtsstaatliche Maß. Ein Beispiel sind die selbstverständlicher angewandten Schmerzgriffe der Polizei, die in der Rechtswissenschaft zum Teil als Verstoß gegen das Folterverbot diskutiert werden. Die Zahl der „Einzelfälle“ rechter Netzwerke in Polizei und Bundeswehr ist kaum noch zu überblicken. Kritik an diesen Zuständen führt nicht zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Staatsapparaten und ihren Funktionen im neoliberalen und zunehmend autoritären Kapitalismus, sondern wird diszipliniert und kriminalisiert. Rechtsaußen wird der Kulturkampf gegen feministische Errungenschaften und LGBTIQ+ geschürt. In der Opposition machen sich die Unionsparteien diese Rhetorik zu eigen. Während die extreme Rechte in vielen ostdeutschen Bundesländern faktisch an die Macht strebt, Grundrechte und Schutz Schwarzer Menschen, von Mi­gran­t*in­nen und People of Color, von Jüdinnen und Juden sowie Linken real bedroht sind, wird von bürgerlicher Seite eine „Cancel Culture“ und ein „Wokeism“ als „größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit“ bezeichnet. So CDU-Vorsitzender Friedrich Merz.

Tribute to White Power

Nicht nur hier im Land, nein auch in der EU ziehen Idioten erneut ihre Kreise.

Die Ereignisse sind für sich genommen beängstigend, aber nicht neu. Unsere Sorge vor einem autoritären Kipppunkt wächst jedoch. Denn diese Ereignisse beeinflussen und beschleunigen sich wechselseitig. Das Ganze findet in einer Zeit allgemein erhöhter Unsicherheit statt. Die ökologische Transformation sozial und demokratisch zu gestalten, ist eine enorme Herausforderung. Hinzu kommt der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Zusammen mit der vorhandenen Unzufriedenheit über politische Sprachlosigkeit, Armutsrisiken, Wohnungsnot oder mangelhafte soziale Infrastruktur ergibt sich ein explosives Gefüge. Mit der AfD ist eine Partei in der Lage, diese Stimmungen bundespolitisch aufzufangen. Deutlich treten die Grenzen der neoliberalen Politik und des liberalen Humanismus der vergangenen Jahrzehnte zutage, die keineswegs Antworten auf die soziale Frage, die Klimakatastrophe und globale Fluchtbewegungen liefern. So werden zunehmend im demokratischen Spektrum autoritäre Mechanismen übernommen. Die Rechte wird jedoch nur dann zurückgedrängt, wenn ihre Diskurse geächtet, ihre Ideologie ausgeschlossen und ihre Räume verengt werden. Sie nachzuahmen, ihren Forderungen nachzukommen, stärkt sie, macht ihre Erklärungen plausibel.

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Spaltung der Linken

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Juni 2023

Sozialismus mit rechtem Code

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Ein Debattenbeitrag von Thorsten Holzhauser

Nationalisten und „Linkskonservative“ – ein Blick ins europäische Ausland gibt eine Ahnung vom Programm einer möglichen neuen Wagenknecht-Partei.

Die politische Zukunft von Sahra Wagenknecht ist offen, nach dem jüngsten Beschluss des Linken-Vorstands umso mehr. Und trotzdem zeichnet sich bereits das Programm einer möglichen Wagenknecht-Partei ab. Nimmt man ihre Bücher und Stellungnahmen als Richtschnur, dann setzt Wagenknecht auf eine Mischung aus linken, konservativen und nationalen Positionen: klassische Sozialstaatspolitik; „Friedenspolitik“, die sich ungeachtet von Putins Kriegen um gute Beziehungen zu Russland bemüht; und ein gesellschaftspolitisch konservativer Kurs, der sich nicht mit den Rechten „immer kleinerer und immer skurrilerer Minderheiten“ aufhält, wie Wagenknecht es ebenso plakativ wie polemisch umschreibt. Sie will damit die vermeintlich „normale“ Bevölkerung ansprechen, die sie als Opfer linksliberaler Eliten und ihres Kosmopolitismus sieht.

Ganz neu ist dieser von Wagenknecht selbst als „linkskonservativ“ bezeichnete Politik-Mix nicht. Während europäische Linke und Sozialdemokraten wie aktuell in Österreich darüber streiten, wie viel konservative Rhetorik ihrem Profil guttut, haben sich vielerorts rechte Populisten gezielt sozialdemokratischer Rezepte bedient. Politikerinnen wie Marine Le Pen greifen längst linke Schlagworte in der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf und bauen sie zu einem wohlfahrtschauvinistischen Nationalismus um. Sie haben sich so als Anlaufstelle für sozialen Protest und als Sprachrohr jener etabliert, die sich als Inbegriff „des Volkes“ verstehen.

Le Pen ist längst nicht das einzige Beispiel. Besonders verbreitet ist die Melange aus links und rechts, national und sozial, in jenen Ländern Mittel- und Osteuropas, die Wagenknechts Erfahrungen mit einer liberal-kapitalistischen Transformation teilen. In vielen postsozialistischen Gesellschaften war es in den 1990er Jahren unerheblich, ob die Reformer aus dem postkommunistischen oder „bürgerlichen“ Lager stammten – sie betrieben eine Transformationspolitik, die ihren Bevölkerungen mehr Rechte und Freiheiten brachte, aber auch erhebliche soziale Pro­bleme verursachte. In den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger wurde der westliche Liberalismus so zum Inbegriff sozialer, politischer und kultureller Zumutungen – ein Bild, das auch Sahra Wagenknecht gerne zeichnet.

Die Reaktion war nach der Jahrtausendwende ein Comeback antiliberaler Kräfte, die in Form neuer nationalpopulistischer Sammlungsparteien auftraten, vereint hinter einer prominenten Führungspersönlichkeit. Die bekanntesten von ihnen, Viktor Orbán in Ungarn und Jarosław Kaczyński in Polen, haben sich als Antikommunisten hervorgetan, treten aber mit einer ökonomischen Rhetorik auf, die aus dem linken Schulbuch zu stammen scheint. So versprechen sie ihren Bevölkerungen, sie vor ökonomischer Ausbeutung und kulturellen Veränderungen gleichermaßen zu schützen.

Marine Le Pens wohlfahrtschauvinistischer Nationalismus bedient sich linker Schlagworte

Was aber passiert, wenn sich Sozialisten rechter Codes bedienen, zeigt das Beispiel Slowakei. Dort gründete der Postkommunist Robert Fico 1999 eine neue politische Plattform namens „Smer“ (zu deutsch „Richtung“), die sich schnell als maßgebliche Partei links der Mitte etablieren konnte. Mit einer sozialdemokratischen Identität und scharfer Kritik an der Austeritätspolitik der Vorgängerregierungen gewann Fico die slowakische Parlamentswahl 2006 – und regierte fortan, sehr zum Ärger seiner Partner aus der europäischen Sozialdemokratie, im Bündnis mit Nationalisten und Rechtspopulisten.

Giorgia Meloni, Ursula Von der Leyen

Als langjähriger Regierungschef tat sich Fico mit Kritik an der EU und ihrer Russland-Politik hervor, versprach, die Slowakei vor Einwanderung zu schützen, und machte den amerikanischen Unternehmer George Soros als Schuldigen für die politische Instabilität im Land aus. Ganz ähnliche Positionen vertritt die Parteivorsitzende der bulgarischen Sozialisten, Korneliya Ninova. Auch sie verspricht ihren Wählerinnen und Wählern eine Alternative zum liberalen Westen: In der Wirtschaftspolitik will sie zu linken Rezepten zurückkehren, in der Gesellschaftspolitik gegen die „Gender-Ideologie in den Schulen“ kämpfen – und die „Ehre“ Bulgariens vor „fremden Herren“ schützen.

Dass sich Ninova und Fico nicht als Rechte definieren, sondern als Sozialisten und Sozialdemokraten, haben sie mit Sahra Wagenknecht gemein. Ihre Positionen unterscheiden sich in vielem aber kaum von denen ihrer rechtsautoritären Pendants. Dass sich der starke protektive Nationalstaat nur dann aufrechterhalten lässt, wenn er sich auf die Interessen der „normalen“ Bevölkerung konzentriert, gehört zu ihren gemeinsamen Ideen. Mit ihrer Konstruktion einer antiliberalen „Normalität“ tragen sie aber zu einem politischen Diskurs bei, in dem sich Populisten mit autoritär-nationalistischen Parolen und Verschwörungserzählungen gegenseitig zu überbieten versuchen, zulasten gesellschaftlicher Minderheiten und des politischen Klimas.

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Oben       —    „maischberger. die woche“ am 13. November 2019 in Köln. Produziert vom WDR. Foto: Sahra Wagenknecht, Die Linke (ehemalige Fraktionsvorsitzende)

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2.) von Oben        —       Giorgia Meloni, Ursula Von der Leyen

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Tagesschau : Russen jagen

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Juni 2023

US-KETTENHUNDE DER ARD

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Hunde, die an der Kette liegen, sind besonders aggressiv. Sie beissen wild um sich, wenn sie ihr Territorium verteidigen. Die Tagesschau-Redaktion glaubt, dass sie das Deutschländchen verteidigen muß.

Und weil das Ländchen den USA gehört, muss der Feind der USA erst verbellt und dann gebissen werden. Den deutschen Redakteuren hat man lange genug eingeimpft, die Russen seien der Feind der USA und der Deutschen. Deshalb sind sie so besonders verbissen bei der Russenjagd.

Faß den Iwan!

Jüngst erzählte die Tagesschau von der Zerstörung des Kachowka-Staudamms. Mit einer kommentierenden Zwischenüberschrift „Genaue Hintergründe noch unklar“, versucht die Redaktion den Russen die Schuld an der Zerstörung zuzuschieben. „Faß den Iwan!“. Dass die Washington Post Ende Dezember 2022 einen ukrainischen Generalmajor zu Wort kommen ließ, der ungeniert die Zerstörung des Staudamms erwog, war in der Tagesschau nicht zu lesen oder zu hören. Da hat man Beißhemmungen.

Taiwanesische Regierung liegt auch an der Kette

Keine Hemmungen kennt die ARD, wenn sie über die Bedrohung der Volksrepublik China berichtet. Unter der Überschrift „Penghu-Inseln Kriegsspiele, wo Taiwaner Urlaub machen“ breitet man sich zwar über das taiwanesische Militär aus, aber legt einer anonymen Touristin die antirussische Stoßrichtung in den Mund: „Angst, dass es so ausgeht wie in der Ukraine“. Die taiwanesische Regierung liegt auch an der Kette der USA, das schafft Solidar-Effekte.

Kläff, kläff – selten von Verstand begleitet

Dass man sogar von den Kettenfreunden beim SPIEGEL erfahren konnte, dass die USA ihren Militär-Stützpunkt auf Taiwan aufstocken, dass es also die USA sind, die mal wieder die internationalen Spannungen anheizen, das hat die Hundehütte der ARD nicht erreicht. „Kläff, kläff“ ist selten von Verstand begleitet.

Zuschauer machen mit

Auch diese Ausgabe der MACHT-UM-ACHT stützt sich auf eine Vielzahl von
Zuschauer-Zuschriften, die an diese Adresse gesandt wurden:
DIE-MACHT-UM-ACHT@apolut.net Dafür bedankt sich die Redaktion ganz
herzlich.

Hier geht es zum Video:

https://apolut.net/die-macht-um-acht-131/

Urheberrecht

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Grafikquelle :

Oben      —     I found this quite amusing, that the guard dog was sitting under the guard dog sign! Black Jacks Cottage, near Harefield, Hillingdon, Greater London. Flickr’s autotags think this is a black bear. GOC Hertfordshire’s walk on 13 June 2015, in and around Rickmansworth and Batchworth Heath in Hertfordshire and Harefield in the London Borough of Hillingdon. Maritn T led this walk of 9.6 miles, with 14 attendees. The purpose of the walk was to have a view of the small part of Hertfordshire countryside that will be affected by the construction of HS2. Please check out the other photos from the walk <a href=“https://www.flickr.com/photos/anemoneprojectors/albums/72157661179076000„>here</a>, or to see my collections, go <a href=“https://www.flickr.com/photos/anemoneprojectors/collections/„>here</a>. For more information on the Gay Outdoor Club, see <a href=“http://www.goc.org.uk“ rel=“nofollow“>www.goc.org.uk</a>.

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KOLUMNE – NAFRICHTEN

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Juni 2023

Es sind doch bloß Bauchschmerzen

Congrès international fasciste de Montreux 1934 (caricature).jpg

Von Mohamed Amjahid

Warum haben so viele deutsche Po­li­ti­ke­r*in­nen immer Bauchschmerzen? Ich kann verstehen, dass man bei Wärmepumpenkompromissen oder Details zur Bahnreform Bauchschmerzen verspürt, wenn man nicht hundert Prozent der eigenen Vorstellungen umsetzen kann. Aber bei der Abschaffung fundamentaler Menschenrechte? Bauchschmerzen? Eigentlich sollte man dabei umfallen und nie wieder aufstehen. Strikt politisch gesprochen, versteht sich. Die EU-Innenminister*innenkonferenz hat vor Kurzem mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems das Recht auf Asyl faktisch abgeschafft. Denn wenn die Reform umgesetzt werden sollte, werden Geflüchtete in Gefängnissen an den EU-Außengrenzen festgehalten. Dort soll ihre Aussicht auf Asyl in einem Turboverfahren innerhalb weniger Wochen geprüft werden. Wer den oberflächlichen Test nicht besteht, soll zurück in einen unsicheren Drittstaat oder ins Ursprungsland abgeschoben werden. Das wird freilich Schutzsuchende nicht daran hindern, Schutz zu suchen, aber Asyl zu beantragen wird in der EU faktisch unmöglich werden.

Die EU hat sich auf einen guten Weg gemacht ? Auf Scholz folgt das Holz ?

Vor allem viele Grüne klagten in den Tagen nach dieser historisch-katastrophalen Entscheidung öffentlichkeitswirksam über Bauchschmerzen. Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang schickte einen schmerzvollen Tweet in die Welt hinaus: „Das ist eine verdammt schwierige Entscheidung, die sich niemand leicht gemacht hat. Deshalb habe ich Respekt für alle, die in der Gesamtabwägung zu einem anderen Entschluss gekommen sind als ich.“ Da kommt einem der Magensaft hoch. Schlimme Dinge tun und sich dann öffentlich selbst bemitleiden, darin sind Deutsche erprobt. Es zeigt, dass es jenen Grünen, SPDlern und sogar einigen bei der FDP, die sich als „progressiv“ bezeichnen und die nun mal gerade das Sagen haben, nur um sich selbst geht. Wenn eine Reform so ausgeht, als ob die Union mit der AfD koalieren würde, stimmt etwas grundsätzlich nicht. Eine gute Behandlung gegen solche Schmerzen würde alles infrage stellen: Ernährung, Schlafrhythmus, politische Leitlinien, Kompromissbereitschaft zum Abbau von Menschenrechten.

Quelle        :           TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben     —       Caricature de R. Fuzier sur le congrès international fasciste de Montreux. Outre les fascistes italiens en chemise noire, on reconnaît un franciste français et un nazi allemand (en réalité, le parti d‘Hitler n’était pas représenté au congrès).

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Wer profitiert davon ?

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Juni 2023

Die Macht der künstlichen Intelligenz

Plenarsaal

Ist so viel selbst aufgeblasene Intelligenz nicht schon zu viel für das Volk ?

Ein Schlagloch von Georg Diez

Die Machtfrage wird bei KI zu verengt gestellt. Es geht nicht nur um den technologischen, sondern auch um den ökonomischen Aspekt.

Wir leben in einer propagandistischen Periode. Das heißt, dass das Verhältnis von Wahrheit und Lüge durch die Interessen der Macht gekennzeichnet ist, vor allem derjenigen von Politik und Kapital, und sich stark zur Lüge hin verschiebt. Der Unterschied zum vorangegangenen Regime der Wahrheit besteht darin, dass sich die Wahrheit damals im politisch-medialen Raum in einem elastischeren Verhältnis zur Lüge verhielt. Man nannte das Spin, also den entscheidenden Dreh, der aus der Wahrheit etwas anderes machte als die Wahrheit selbst.

„Die Rente ist sicher“ ist so ein Spin-Satz oder „Merkel rettet Griechenland“ oder auch „Wir schaffen das“: Wahrheit plus Intention plus Interessen gab der Aussage einen Drall, aber die Verbindung zur Wahrheit war, im Unterschied zur Lüge, nicht vollständig gekappt. Ein Beispiel für Propaganda aus den letzten Tagen ist zum Beispiel der Satz von Innenministerin Nancy Faeser von der SPD, wonach die harsche neue EU-Richtlinie zur Migrationspolitik ein „historischer Erfolg“ sei „für den Schutz der Menschenrechte“.

Von ähnlich propagandistischer Qualität ist so gut wie alles, was in den vergangenen Wochen und Monaten von Google, Microsoft oder Sam Altman von OpenAI zum Thema künstliche Intelligenz gesagt wurde – hier warnten Menschen vor den Folgen der Technologie, die sie gerade selbst entwickeln, als hätten sie es nicht selbst in der Hand, diese Technologie so zu gestalten, dass sie nicht gefährlich ist.

Mehr noch, es sind mächtige Privatunternehmen wie Google, die seit Jahren genau die Stimmen stigmatisieren oder aus dem eigenen Unternehmen drängen, die bei der Entwicklung etwa von KI vor Rassismus oder Sexismus warnen – und daraufhin entlassen wurden, Kate Crawford etwa oder Timnit Gebru.

Ungleichheit durch unregulierten Einsatz von KI

Die Straßen sind nicht privat kontrolliert, warum sollte es die Infrastruktur im Digitalen also sein?

Seltsamerweise verbreiten fast alle Medien diese Propaganda ziemlich unhinterfragt und eins zu eins: Wenn sehr viele weiße Männer einen mahnenden Brief unterschreiben und davon raunen, dass die Technologie, noch mal, die sie selbst entwickeln, zur „Auslöschung“ der Menschheit führen könne – und diese Aussage eben nicht nur sci-fi-haft vage und unpräzise ist, sondern vor allem gegenwärtigen Machtmissbrauch genau dieser Firmen verschleiert – etwa in Bezug auf Kooperationen mit dem Militär oder der Überwachungspraxis auch in demokratischen Staaten oder auch mit Blick auf die „Auslöschung“ von Arbeitsplätzen oder die plausible Perspektive exponentiell wachsenden Reichtums verbunden mit massiv zunehmender Ungleichheit durch den unregulierten Einsatz von KI.

Wenn nun etwa Sam Altman einen PR-Blitz mit dem US-amerikanischen Kongress und Ursula von der Leyen und allen möglichen Staatschefs vollführt und davon spricht, dass seine Industrie dringend reguliert werden sollte, dann muss man eigentlich kein Gedankenkünstler oder Hardcore-Marxist sein, um zu vermuten, dass er sicher nicht meint, dass er etwas von der Macht oder dem Einfluss oder dem Gewinnpotenzial der Firma ­OpenAI abgeben will, die er mitbegründet hat.

Aber weil der Diskurs über Digitalisierung im Allgemeinen und künstliche Intelligenz im Speziellen so einseitig und kurzatmig geführt wird, bleiben die Fragen der politischen Ökonomie weitgehend ausgeblendet: Wer profitiert also von „Regulierung“, die ja am Ende doch weitgehend selbst gestaltet sein sollte, so die Logik, und vor allem den technologischen und nicht den ökonomischen Aspekt betrifft.

Technologie nicht von Ökonomie zu trennen

Tatsache ist aber, dass die Technologie nicht von der Ökonomie zu trennen ist. Gefährlich wird die künstliche Intelligenz auf absehbare Zeit vor allem dadurch, dass sie eben kapitalistischen Profitinteressen unterworfen ist: Erst dadurch entsteht die eklatante Intransparenz bei der Entwicklung, das Zukunftsversprechen als „Blackbox“.

Erst dadurch ergeben sich das manipulative Potenzial und die private Kontrolle über einen gewaltigen technologischen Entwicklungssprung, der wie alle technologischen Entwicklungen letztlich eine Form von Infrastruktur annimmt. Die (allermeisten) Straßen sind auch nicht privat kontrolliert, warum sollte es die Infrastruktur im Digitalen also sein?

Die beiden Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu und Simon Johnson haben auf diese notwendigen marktwirtschaftlichen Fragen der Regulierung von KI gerade in einem Essay für die New York Times hingewiesen. Letztlich kommen sie zu dem Schluss, dass nicht in erster Linie die Macht von KI, sondern die Macht- und vor allem die Kapitalkonzentration der Firmen wie Microsoft oder Google das drängendste Problem sind.

Höhere Steuern für Google

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Solidarität – Julian Assange

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Juni 2023

Ein mörderisches System gegen Pressefreiheit und die Dokumentation von Kriegsverbrechen

Demonstration in front of Sydney Town Hall in support of Julian Assange, 2010, December 10

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von               :      Thespina Lazaridu (Free Assange Köln) /

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 479, Mai 2023, www.graswurzel.net

Julian Assange ist der Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks. Ihm drohen 175 Jahre Gefängnis für die Veröffentlichung von Dokumenten, die Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak dokumentieren. (1)

Julian Assange: „Wir sind nicht in dem Geschäft, um Likes zu sammeln. WikiLeaks macht Dokumente über mächtige Organisationen öffentlich. Für die Mächtigen werden wir immer die Bösen sein.“Seit 2010 ist er seiner Freiheit beraubt. Seit mehr als vier Jahren ist er in Isolationshaft im Londoner Hochsicherheitsknast Belmarsh, eingesperrt und psychischer Folter ausgesetzt.WikiLeaks war eine Antwort auf das globalisierte Vakuum von Verantwortlichkeit und änderte die Spielregeln zugunsten der Gegenwehr von Einzelnen. Die Idee von WikiLeaks ist der freie Zugang zu Informationen, die öffentliche Angelegenheiten betreffen. Auf der Enthüllungsplattform können Dokumente anonym veröffentlicht werden, die durch Geheimhaltung als Verschlusssache, Vertraulichkeit, Zensur oder auf sonstige Weise in ihrer Zugänglichkeit beschränkt sind.

Julian Assange gründete Wiki-Leaks 2006 zusammen mit einer aus Männern und Frauen bestehenden internationalen Gruppe von Dissident:innen, Computerspezialist:innen und Journalist:innen. Immer schon gab es ein Missverhältnis zwischen den traditionellen Machtzentren und deren Kontrolle durch die investigative Berichterstattung. Konsortien, Banken, Regierungen und Geheimdienste steuern zunehmend die Informationsbereitstellung. Die Deutungshoheit über das, was im Interesse der Öffentlichkeit ist, wird zunehmend zu einer rigiden Machtdemonstration.

Die erstaunlichen Sicherheitsvorkehrungen von WikiLeaks garantieren internationalen Hinweisgeber:innen Sicherheit und Anonymität. Diese Whistleblower nutzen die Gelegenheit und geben mehr als zehn Millionen (!) geheimgehaltener Dokumente weiter, u.a. konkrete Nachweise zu Korruption, Umweltverbrechen, Folterungen und Kriegsverbrechen. Jedes einzelne Dokument wird vor der Veröffentlichung auf die Echtheit überprüft.

Ab 2010 intensivierten die US-amerikanische Regierung und ihre Geheimdienste die Anstrengungen, um WikiLeaks auszuschalten. Cloud-Dienste und Konten wurden gesperrt und Internetdomains, mit denen WikiLeaks arbeitete, wurden blockiert. Aber WikiLeaks erfuhr eine breite, auch finanzielle Unterstützung, spiegelte die Daten auf hunderte anderer Server, änderte Domainnamen und veröffentlichte weiter.

Die US-Behörden sahen sich gezwungen ihre Strategie zu ändern. Sie richteten den Fokus auf die Person Julian Assange, statt auf die Plattform WikiLeaks und die Hetzjagd begann. Julian Assange wurde nun zum heissen Eisen für die grossen Medienhäuser, die vorher von seinen Veröffentlichungen profitiert hatten. Sie liessen ihn fallen. Die investigative Presse bemühte sich nicht, die erhobenen Vorwürfe zu untersuchen. Nicht lange nach den Veröffentlichungen der grössten Leaks der US-Militärgeschichte und den Beweisen für Folter und Kriegsverbrechen, wurde Julian Assange der Vergewaltigung bezichtigt.

Zu den erfolgreichsten in Umlauf gesetzten Fake-News des vergangenen Jahrzehntes gehört, wie dank der Untersuchungen von Professor Nils Melzer offenbart wurde, die Erzählung, dass zwei Frauen im August 2010 bei der schwedischen Polizei gegen Julian Assange Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet hätten. Der WikiLeaks-Gründer hätte sich anschliessend durch Flucht nach England der schwedischen Justiz entzogen. Nils Melzer war bis 2022 UNO-Sonderberichterstatter für Folter. Er spricht fliessend Schwedisch und konnte somit alle Originaldokumente lesen.

Eine bizarre Geschichte kurz erzählt:

Eine Frau in Begleitung einer zweiten, erschien bei der Polizei. Die Frau wollte lediglich wissen ob sie, nach einvernehmlichem Sex mit Assange, ihn zu einem AIDS-Test verpflichten kann. Sie bemerkte, dass die Polizei offenbar etwas anderes daraus machen wollte, war schockiert und verliess die Wache. Bereits Stunden später titelte die schwedische Boulevardpresse: „Julian Assange der zweifachen Vergewaltigung beschuldigt“. Einen Tag nach der Einvernahme der ersten Frau bei der Polizei und der Schlagzeile in der Presse, erschien die Begleiterin und bezichtigte Assange, er habe gegen ihren Willen ungeschützten Sex mit ihr gehabt. Nach schwedischen Gesetzen käme das einer Vergewaltigung gleich.

Im Verlauf meldete sich Assange mehrfach bei der Polizei, um Stellung zu nehmen, die hielt ihn hin. Nils Melzer: „Die schwedischen Behörden waren an der Aussage von Assange nie interessiert. Sie liessen ihn ganz gezielt ständig in der Schwebe.“ Auf Assanges Bitte, das Land verlassen zu können, bekam er die schriftliche Einwilligung der Staatsanwaltschaft und reiste weiter nach London. Aber kaum, dass er das Land verliess, wurde ein internationaler Haftbefehl gegen ihn erlassen. Er bot auch in London der schwedischen Justiz weiterhin seine Kooperation an.

Dann bekam er Wind von einem Komplott gegen ihn. Er forderte fortan von der schwedischen Regierung eine diplomatische Zusicherung, dass er nicht weiter an die USA ausgeliefert wird, wenn er in Schweden aussagt. Die Schweden mauerten und die britische Justiz mischte sich ein, um eine Einstellung des Verfahrens zu verhindern. Nils Melzer: „Stellen Sie sich vor, Sie werden neuneinhalb Jahre lang von einem ganzen Staatsapparat und von den Medien mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert, können sich aber nicht verteidigen, weil es gar nie zur Anklage kommt.“ Die grossen Medienhäuser wie die New York Times, der Guardian, der Spiegel und andere, hatten am Honigtopf der WikiLeaks-Informationen partizipiert.

Beispiele für die Aufklärungsarbeit von WikiLeaks

Durch die Arbeit von WikiLeaks wurden unter anderem folgende Informationen veröffentlicht: Korrupte Geschäftspraktiken der Schweizer Bank Julius Baer, Dokumente über die Praktiken der Scientology-Sekte, der Giftmüllskandal der Firma Trafigura, die illegale Rodung des Regenwaldes in Peru durch den norwegischen Ölkonzern Statoil, die enge Verbindung des damaligen französischen Präsidenten Hollande mit der französischen Waffenindustrie.

File:Reporters Sans Frontières manifeste à Londres en Soutien de Julian Assange.jpg

Das Dokument „Black-Shock“ der russischen Zentralbank mit Hinweisen auf den Diebstahl grosser Geldsummen aus dem staatlichen Haushalt. Ebenso E-Mail-Korrespondenzen der russischen Regierung zu geheimen Treffen mit dem Chef des Ölkonzerns BP, die die umstrittene Ölförderung auf der Insel Sakhalin offenlegten. US-Diplomatendepeschen mit Informationen über Korruption und Menschenrechtsverletzungen in Russland und über seine politischen Führer, einschliesslich des Premierministers Putin.

Eine andere grosse Dokumenten-Sammlung enthüllte, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) in grossem Umfang E-Mails, Telefonate und Faxnachrichten von deutschen Bürger:innen ausspionierte und diese Daten mit dem US-amerikanischen Auslandsgeheimdienst National Security Agency (NSA) teilte.

Für Aufsehen sorgte auch die Dokumentation der TiSA-Leaks zu TTIP, dem transatlantischen Freihandelsabkommen zwischen USA und der EU. Weitere wichtige Publikationen betrafen die Spionage-Praktiken der CIA (Central Intelligence Agency) und die Verwendung von Hacking-Tools und Malware, um Computer-Systeme in europäischen Botschaften und Konsulaten zu infiltrieren und Daten abzufangen. Dokumente mit Hinweisen auf ein chinesisches Massen-Überwachungssystem zur Unterdrückung von Muslimen in Xinjiang wurden ebenfalls veröffentlicht.

Die „Afghan War Diary“ umfasste ca. 77.000 Afghanistan-Protokolle; Dokumente, die sich auf die Kriege in Afghanistan und im Irak bezogen. Darunter war ein interner Bericht der CIA, der PR-Strategien erörtert, wie in der Bevölkerung Deutschlands und Frankreichs die Akzeptanz für den Einsatz in Afghanistan weiter erhalten werden kann – demnach seien die Rechte afghanischer Frauen ideal, um den Kriegseinsatz in den Augen der Deutschen als human darzustellen. Sie enthalten auch Informationen über die Rolle Grossbritanniens in diesen Konflikten und belegen, dass britische Truppen Zivilist:innen töteten und Gefangene folterten.

Im April 2010 veröffentlichte WikiLeaks das Video „Collateral Murder“ und machte damit Kriegsverbrechen des US-amerikanischen Militärs im Irak bekannt. Das Video ist eine Aufzeichnung aus einem US-Kampfhubschrauber. Es zeigt, wie amerikanische Soldaten grundlos und mit zynischem Eifer auf irakische Zivilist:innen, auch auf bereits Schwerverletzte und Menschen, die zu Hilfe eilen, schiessen. Zwölf Menschen wurden dabei getötet, zwei Kinder schwer verletzt. Zwei der Getöteten waren Journalisten der Agentur Reuters. Die Weltgesellschaft reagierte mit Empörung.

Die „Iraq War Logs“ – tausende Feldberichte von 2004 bis 2009 von US-Soldaten, aus einer Datenbank des Pentagon – wurden öffentlich. Auch die Informationen, dass von den 109.032 irakischen Kriegsopfern 66.081 Zivilist:innen waren, kamen ans Licht. Es handelte sich also keinesfalls um einen „sauberen“ Krieg.

Es gab mehr als 700 Protokolle über das Gefangenen-Lager Guantanamo – Dokumente über Gefangene, die ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren Folter erlitten. Weitere Dokumente folgten, wie zum Beispiel zu undemokratischen Wahlkampftaktiken von Hillary Clinton und dem Betrug des Clinton-Teams an Bernie Sanders während der US-Präsidentschaftskampagne.

Dokumente und Informationen über CIA-Leaks „Vault 7“, ein geheimes CIA-Programm, das zu breiter Überwachung über verschiedene elektronische Geräte wie Smartphones, Fernseher und Computer abzielte, waren das grösste Leak in der Geschichte der CIA.

Alles oben aufgezählte ist nur eine kleine Auswahl der brisanten Informationen von WikiLeaks, die auch Hinweise auf das Schicksal von Julian Assange und seine Verfolgung geben. Julian Assange, der den Mächtigen der Welt die Stirn bot, verblasste hinter dem Bild eines Vergewaltigers. Aber damit war es nicht genug. Weitere Vorwürfe tauchten auf. Das Pentagon behauptete, Assange habe auf WikiLeaks Material veröffentlicht, ohne darin Namen zu schwärzen. Damit habe er Menschen in Gefahr gebracht. Ein damaliger Spiegel-Journalist, der an dem Material mit WikiLeaks arbeitete, belegte, dass zum einen Guardian-Journalisten verantwortlich für die Veröffentlichung waren und, dass zum anderen, Assange als er davon erfuhr, sofort das US-Aussenministerium anrief und warnte. Das Ministerium allerdings reagierte nicht.

Es ist den US-Behörden nicht gelungen, Nachweise für ihre Behauptung zu erbringen. Der Chaos Computer Club (CCC) meldete im Dezember 2022, dass er an hochsensible biometrische Daten von 2.632 afghanischen Personen gelangte. Das US-Militär habe massenhaft Geräte zur biometrischen Erfassung von Menschen in Afghanistan genutzt. Beim Abzug der US-Truppen blieben die Geräte zurück. Einige Geräte „erbeutete“ der CCC bei einem Online-Aktionshaus. Die Daten sind nicht verschlüsselt. Das US Department of Defense wurde informiert, verwies aber bloss an den Hersteller. Wie viele der Geräte den Taliban in die Hände fielen und ihnen eindeutige Personen-Identifikationen ermöglichten, ist nicht bekannt.

Bezüglich der Veröffentlichungen der E-Mails des „Democratic National Congress“ (DNC), die den Betrug des Clinton-Teams an Bernie Sanders offenbarten, wurde WikiLeaks immer wieder vorgeworfen, russischen Propagandazwecken und gezielter Desinformation zu dienen. Dabei hatte selbst der damalige US-Präsident Obama keine Hinweise auf eine Zusammenarbeit von WikiLeaks mit Russland. Inzwischen gehen sogar die US-Behörden davon aus, dass die Dokumente von einer privaten Firma gekommen sind, die für die CIA arbeitete. Ebenso sollen diese Veröffentlichungen für den Wahlsieg Donald Trumps verantwortlich gewesen sein. Dass viele Menschen Hillary Clinton und ihr politisches Lager womöglich auch wegen ihrer korrupten Machenschaften nicht mehr wählten, wird dabei ausser Acht gelassen.

Nach Obama und Trump ist Biden der dritte US-Präsident, der auf eine Auslieferung Assanges besteht. Das erklärte Ziel dürfte ein Schauprozess sein, in dem Assange kaum das Recht zugestanden wird, sich zu verteidigen. Denn die Inhalte, auf die er eingehen müsste, werden selbst vor Gericht weiterhin als Staatsgeheimnisse behandelt.

Nachdem dem Auslieferungsgesuch Schwedens von Grossbritannien zugestimmt wurde, ersuchte Julian Assange 2012 um Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London. Das Asyl wurde ihm gewährt und später wurde ihm auch die ecuadorianische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Fortan lebte er sieben Jahre auf winzigem Raum. Er konnte die Botschaft niemals verlassen. Vor dem Gebäude stand Tag und Nacht ein riesiges britisches Polizeiaufgebot, um ihn sofort zu verhaften. Assange wurde kein Tageslicht und auch kein Spaziergang gewährt. Ärztliche Behandlungen waren nur in der Botschaft möglich. Assange veröffentlichte mit WikiLeaks weiter. Internationale Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Presse kamen zu ihm.

Später stellte sich heraus, dass die Sicherheitsfirma, die die Botschaftsüberwachung betreute, heimlich für die CIA arbeitete. Die Räume waren verwanzt. Nicht nur Assange wurde rund um die Uhr ausspioniert, sondern auch alle seine Besucher und Besucherinnen. Die Anwaltsgespräche erfuhren besondere Aufmerksamkeit. Alle gesammelten Daten, inklusive gestohlener Dokumente, wurden an die US-Behörde weitergeleitet. Fast nichts blieb verborgen. UN-Experten kamen 2016 zu dem Schluss, dass Assanges Aufenthalt in der Botschaft einer willkürlichen Verhaftung gleichkomme und er auf freien Fuss gesetzt werden sollte.

Professor Melzers Vorwürfe gegen die Behörden in Schweden, Ecuador, Grossbritannien und den USA sind drastisch. Sie haben „mit ihrer geballten Macht“ aus „einem Mann ein Monster“ gemacht, ist in einem Interview zu lesen (2), und wesentlich umfassender in Melzers sehr empfehlenswertem Buch (3). Die Regierung Ecuadors wechselte und auf Druck der USA wurde Assange in der Botschaft immer restriktiver behandelt. 2019 wurde ihm unrechtmässig die Staatsbürgerschaft über Nacht aberkannt und die britischen Behörden bekamen Zugang.

Am 11. April 2019 wurde Assange verhaftet, gerade als die USA eine Anklageschrift enthüllten, in der Julian Assange eine kriminelle Verschwörung vorgeworfen wurde, die zu „einer der grössten Kompromittierungen von Geheiminformationen in der Geschichte der Vereinigten Staaten“ geführt habe.

Das Auslieferungsgezerre zog sich hin. Assange wurde nach seiner Verhaftung wegen Verstoss gegen Kautionsauflagen, ein Bagatellvergehen, 2019 in den Hochsicherheitsknast Bellmarsh eingesperrt und sitzt seitdem die meiste Zeit in Isolationshaft. 2021 urteilte ein britisches Gericht gegen die Auslieferung, da das Selbstmordrisiko Assanges bei einer Überstellung in unverantwortlichen Masse steigen würde. Assange blieb auch weiterhin in Isolationshaft in Belmarsh, die USA legten erfolgreich Berufung ein.

Sodann entschied der Oberste Gerichtshof Grossbritanniens, dass Assange keine Berufung gegen die Entscheidung der unteren Instanz einlegen könne, da sein Fall „keine vertretbare Rechtsfrage aufwerfe“. Einen Monat später wurde der Auslieferungsantrag der USA formell genehmigt und im nächsten Schritt in die Hände von Innenministerin Priti Patel übergeben, die den Auslieferungsbeschluss unterzeichnete.

Das britische Innenministerium erklärte, die britischen Gerichte hätten nicht feststellen können, dass eine Auslieferung mit Assanges „Menschenrechten, einschliesslich seines Rechts auf ein faires Verfahren und auf freie Meinungsäusserung“ unvereinbar sei. Die Verteidigung Assanges hat Revision eingelegt, eine Entscheidung ob sie angenommen wird, steht seit langer Zeit aus. Die Sprecherin des US-Justizministeriums bestätigte derweil kürzlich, dass die USA ihre Bemühungen um die Auslieferung fortsetzen werden. Soviel zum Überblick, trocken und mit vielen Auslassungen. Hoffentlich aber mit genügend Informationen, die euch neugierig machen.

Wir schreiben über den Fall von Julian Assange, weil wir versuchen, auch über Aktionen darauf aufmerksam zu machen. Warum tun wir das? Weil wir erkannt haben, welche Auswirkungen der politische und juristische Umgang mit Julian Assange auf unser aller Leben und Agieren hat. Julian ist ein Mensch, der systematisch vernichtet wird. Die vielgelobte Achtung der Menschenrechte, grade wieder viel beschworen, gilt nicht für ihn, der unter anderem US-amerikanische Kriegsverbrechen für uns öffentlich gemacht hat. Die Rechtsstaatlichkeit, derer sich demokratische Staaten rühmen und sich dadurch als demokratisch definieren, wird in den Verfahren gegen Assange ausser Kraft gesetzt. Nicht rechtsstaatlich, sondern willkürlich und roh geht die Justiz gegen ihn vor. Er hat niemanden geschont in seinen Veröffentlichungen, auch die Machteliten der sogenannten demokratischen Staaten nicht, inklusive der Presse, die sich vor der Macht wegduckt. Dafür rächen sie sich.

Aber es ist nicht nur Assange, um den es geht. Wir alle sollen an seinem Beispiel sehen, was uns geschieht, wenn wir uns auflehnen. Wir sollen lernen, dass es gesünder für uns ist, möglichst wenig Aufstand zu proben. Es soll eine Lektion in Sachen Wehrlosigkeit sein: „Wen interessiert, was ihr zu sagen habt oder durchsetzen wollt, ihr habt keine Chance; schaut, wie weit wir gehen können.“ Leider schauen viele weg, und lernen zu schweigen. Aber immer mehr und mehr durchschauen diese Machtdemonstration. Unsere Aktionsgruppe Free Assange Köln wird weiterhin hörbar und sichtbar auf Julian Assanges Situation aufmerksam machen; auf unser Recht und auf die Notwendigkeit von freier Information und die Auflehnung gegen Missstände.

Fussnoten:

(1) Vgl. Schwerpunkt GWR 456, Februar 2021: Freiheit für Julian Assange! Über Folter und Willkür westlicher Staatsräson, https://www.graswurzel.net/gwr/2021/02/freiheit-fuer-julian-assange/

(2) https://www.republik.ch/2020/01/31/nils-melzer-spricht-ueber-wikileaks-gruender-julian-assange

(3) Nils Melzer: Der Fall Assange – Geschichte einer Verfolgung, Pieper Verlag. Das Buch erscheint im Juni 2023 auch als Taschenbuch

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Scientist Rebellion

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Juni 2023

Erster Professor wegen Klimaprotest vor Gericht

Blockade Kronprinzenbrücke durch Science Rebellion, Berlin, 06.04.2022 (51990580737).jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Scientist Rebellion

Am 20. Juni 2023 um 9.30 Uhr wird der Klimaprotest von Prof. Dr. Nikolaus Froitzheim am Amtsgericht Tiergarten, Kirchstraße 6, 10557 Berlin, in einem öffentlichen Gerichtsverfahren verhandelt.

Der Geologie-Professor, der an der Universität Bonn forscht und lehrt, nahm am 06. April 2022 gemeinsam mit elf weiteren Wissenschaftler:innen an der Blockade der Kronprinzenbrücke nahe des Regierungsviertels in Berlin teil. Soweit uns bekannt, handelt es sich im Zuge der immer zahlreicher werdenden Klimaproteste um die erste Gerichtsverhandlung in Deutschland, bei der ein Professor aufgrund seiner Beteiligung angeklagt wird.

Anlass des Protests von Scientist Rebellion war die Veröffentlichung des dritten Teils des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarates zwei Tage zuvor. Dieser Bericht machte mehr als deutlich, dass es keinen plausiblen Weg mehr gibt, unter 1,5 °C Erderhitzung zu bleiben. Die Regierungen, inkl. der deutschen, haben damit die sichere Klimazone nicht verteidigt. Prof. Froitzheim, der an der Universität Bonn regelmäßig über die Klimakrise lehrt und eine öffentliche Ringvorlesung zu diesem Thema abhält, sieht seine Beteiligung an Klimaprotest-Aktionen des zivilen Ungehorsams als durch den Klimanotstand gerechtfertigt an, unter anderem zum Schutz seiner drei Enkelkinder. Die Anklage gegen den 65-Jährigen aufgrund seiner friedlichen Straßenblockade lautet auf versuchte Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.

Der Strafprozess fügt sich ein in eine Reihe von Gerichtsverhandlungen wegen Klimaprotesten von Wissenschaftler:innen der Initiative Scientist Rebellion, die seit Februar diesen Jahres laufen. Am 09. Mai stand der promovierte Physiker Dr. Michael Hofmann aufgrund seiner Teilnahme an drei Klimaprotest-Blockaden in Berlin vor Gericht.

„Als Physiker sehe ich die bittere Notwendigkeit, die Treibhausgasemissionen bis 2030 auf Null zu bringen, weil wir in den letzten Jahrzehnten wiederholt unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben.“, erklärt Dr. Hofmann. „Ansonsten würden wir das Pariser Klimaschutzabkommen nicht einhalten und Dynamiken in Gang setzen, welche wir später nicht mehr rückgängig machen können.“

Die Richterin sprach Dr. Hofmann in allen Punkten frei. Sie zeigte Verständnis für die Beweggründe des Angeklagten, ging jedoch nicht weiter auf das Thema ein. „Die Grenze zwischen aktivem und passivem Widerstand verschwimmt“, so die Richterin, „wenn leichte Behinderungen durch Ankleben oder Anketten Gewalt darstellen soll. Beides ist in meinen Augen gleichrangig mit wegtragen lassen und damit straffreier, passiver Widerstand.“

Ebenfalls im Mai wurde vor dem Amtsgericht München der Klimaprotest der promovierten Epidemiologin, Ökotrophologin und Mutter zweier Teenager Dr. Cornelia Huth verhandelt, die im Oktober 2022 an einer Straßenblockade von Scientist Rebellion in der Münchner Innenstadt teilgenommen hatte. Das Gericht unterstellte die beiden Beweisanträge zur Gefahr durch die Klimakrise und zur Wirksamkeit von Aktionen zivilen Ungehorsams als wahr. Zudem betonte die Richterin, dass es auf sie Eindruck mache, wenn sich hochgebildete Wissenschaftler:innen an den Klimaprotesten beteiligten. Dennoch sprach sie Frau Dr. Huth und ihre beiden Mitangeklagten Pater Dr. Jörg Alt und Luca Thomas der Nötigung für schuldig und verhängte eine Strafe in Höhe von je 10 Tagessätzen – ein Strafmaß, das deutlich unter der Forderung des Staatsanwaltes lag.

Prof. Froitzheim, Dr. Hofmann und Dr. Huth betonen, dass sie mit ihrem Protest nicht nur auf den rasanten Zusammenbruch eines stabilen Klimas und die nicht annähernd ausreichenden Gegenmaßnahmen der Regierung aufmerksam machen möchten, sondern auch verdeutlichen wollen, dass die Klimaproteste der breiteren Klimabewegung legitim und aufgrund der immer größeren Dringlichkeit und existenziellen Bedrohung sogar erforderlich sind.

Prof. Marco Bohnhoff, Geophysiker am GeoForschungsZentrum Potsdam, sagt dazu: „Es besteht eine überwältigende Einigkeit in der Wissenschaft über die Notwendigkeit, umgehend Maßnahmen zu ergreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat bestätigt, dass die Politik nicht verfassungskonform agiert. Dass nun diejenigen, die im Rahmen von zivilem Ungehorsam darauf hinweisen, vor Gericht gestellt werden und im wahrsten Sinn aus dem Verkehr gezogen werden, kann ich nicht gutheißen. Deswegen unterstütze ich meinen Kollegen Prof. Froitzheim und die Aktivist:innen von Scientist Rebellion.“

Die Bonner Geographie-Professorinnen Nadine Marquardt und Lisa Schipper haben einen offenen Brief mit dem Titel „Protest gegen die Klimakrise darf nicht kriminalisiert werden. Solidarität mit Professor Niko Froitzheim“ geschrieben, der bereits von zahlreichen Wissenschaftler:innen aus dem In- und Ausland unterzeichnet wurde.

Direktlink Offener Brief: https://docs.google.com/document/d/1c4Ko0CQC-tLvDptJBzyF1nBaHtWB5vxplYmGdyw5FEg/edit

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Oben      —   Blockade Kronprinzenbrücke durch Science Rebellion, Berlin, 06.04.2022

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Unten        —         Aktivist von Scientist Rebellion wird von der Polizei nach Brückenblockade unter Anwendung von Schmerzgriffen abgeführt. Sein nackter Fuß schleift über den Asphalt. Kronprinzenbrücke, Berlin, 06.04.22

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Trans im Verteidigungsfall

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Juni 2023

Eine Lösung könnte sein, den Kriegsdienst mit der Waffe geschlechtsunabhängig zu gestalten

Ein Debattenbeitrag von Jayrome C. Tobinet

Russlands Krieg gegen die Ukraine wirkt bis in den Referentenentwurf für das neue Selbstbestimmungsgesetz hinein. Leider auch hier natürlich negativ.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat unerwartete Kollateralschäden. So wurde in den Referentenentwurf für das Selbstbestimmungsgesetz eine wenig diskutierte Regelung aufgenommen: die Diskriminierung von trans Frauen und nichtbinären Menschen im Kriegsfall. Der von der Bundesregierung am 9. Mai 2023 vorgelegte Gesetzentwurf soll es trans, inter und nichtbinären Menschen ermöglichen, ihren Geschlechtseintrag und Vornamen ohne psychiatrische Gutachten und langwierige Gerichtsverfahren zu ändern.

Paragraf 9 des Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG) sieht vor, dass für die Dauer eines Spannungs- oder Verteidigungsfalles die amtliche Zuordnung zum männlichen Geschlecht bestehen bleibt. Konkret bedeutet das: Eine trans Frau oder eine nichtbinäre Person wird zum „Dienst mit der Waffe“ verpflichtet, wenn sie ihren Geschlechts­eintrag weniger als zwei Monate vor dem Eintritt des Spannungs- oder Verteidigungsfalles geändert hat.

Laut dem Bundesverband Trans* e. V. (BVT*) scheint diese Regelung aus der Befürchtung heraus entstanden zu sein, dass im Spannungs- oder Verteidigungsfall cis Männer eine Änderung ihres Geschlechtseintrags missbrauchen könnten, um sich der Wehrpflicht zu entziehen. Dabei werde jedoch übersehen, dass es in Deutschland das Recht gibt, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern (Art. 4 Abs. 3 GG). Im Jahr 1954, zwischen dem Indochina- und dem Algerienkrieg, schrieb der französische Schriftsteller Boris Vian das Lied „Le Déserteur“, das Wolf Biermann später auf Deutsch sang. In der Zeit der französischen Kolonialkriege hatten Vian und sein Deserteur etwas Heldenhaftes. In einem Angriffskrieg sieht das Bild des Pazifisten zum Teil anders aus. Dennoch ist es, so der BVT*, gesellschaftlich weniger stigmatisierend, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern, als den Geschlechtseintrag zu ändern. Schon aus diesem Grund erscheint es unwahrscheinlich, dass ein Kriegsdienstverweigerer den Weg der Transgeschlechtlichkeit wählt. Sollte es doch einmal eine Ausnahme geben, so wäre dies ein Hinweis darauf, wie schrecklich es für Männer sein kann, sich gezwungen zu sehen, militärisch zu dienen.

Als in der Ukraine bekannt wurde, dass Frauen zum Militärdienst eingezogen werden sollten, war die Empörung groß. Zwar sollten sie nicht an die Front, aber als Ärztinnen und Krankenschwestern sollten sie sich um Verwundete kümmern oder in Berufen einspringen, in denen die Männer wegen des Kriegseinsatzes fehlten – etwa in Bäckereien oder der Buchhaltung. In einer Online-Petition war von „Missbrauch von Frauen“ die Rede. Aber ist es nicht ein queerfeministisches Anliegen, dass alle Geschlechter gleichbehandelt werden?

Zudem ist zu betonen, dass Paragraf 9 SBGG eine Ungleichbehandlung von trans Frauen und nichtbinären Menschen einerseits und trans Männern andererseits darstellt. Im Vergleich zu trans Männern, die ihren Geschlechtseintrag auch im Spannungs- oder Verteidigungsfall problemlos ändern könnten, würden trans Frauen und nichtbinäre Personen durch die Regelung des Paragrafen 9 benachteiligt. Dies ist eine klare Ungleichbehandlung, die dem Grundsatz der Gleichbehandlung aller Geschlechter widerspricht.

Eine mögliche Lösung könnte darin bestehen, den Kriegsdienst mit der Waffe geschlechtsunabhängig zu gestalten. Damit würde sich Paragraf 9 erübrigen. Statt nur Personen mit männlichem Geschlechtseintrag zur Landesverteidigung heranzuziehen, könnte die Wehrpflicht auf alle Geschlechter ausgedehnt werden. Dies würde Diskriminierung verhindern und den Gleichbehandlungsgrundsatz stärken. Generell muss sich Deutschland in vielen Bereichen Gedanken darüber machen, wie es mit Menschen umgehen will, deren Geschlechtseintrag divers oder leer ist. Von der Anerkennung der Elternschaft über Regelungen im Sport und im Strafvollzug bis hin zu Quotenregelungen.

Ein Beispiel für eine fortschrittliche Gesetzgebung in diesem Bereich ist Argentinien. Seit 2012 gibt es ein Selbstbestimmungsgesetz, das die Änderung des Geschlechtseintrags ohne ärztliches Gutachten, Hormonbehandlung oder Gerichtsverfahren ermöglicht. Darüber hinaus hat die argentinische Regierung eine Quotenregelung für trans Personen im öffentlichen Dienst ab 2021 eingeführt. Das Gesetz legt eine Mindestquote von einem Prozent der staatlichen Arbeitsplätze für Transvestiten, Transsexuelle und Transgender fest. Um dies zu gewährleisten, müssen alle staatlichen Institutionen, Ministerien und nichtstaatlichen öffentlichen Einrichtungen bei allen regulären Einstellungsverfahren eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen schaffen, die ausschließlich mit Transvestiten, Transsexuellen und Transgendern besetzt werden. Wenn Be­wer­be­r:in­nen keinen Sekundarschulabschluss haben, können sie unter der Bedingung eingestellt werden, dass sie diesen nachholen.

Quelle        :       TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben       —       On Saturday 21 January 2023, hundreds of protesters marched from Downing Street to Hyde Park to demand real equality for trans people, an end to transphobic violence and an immediate reversal of the UK government’s decision to block Scotland’s progressive Gender Recognition Reform Bill which simplifies the procedure for a trans person to obtain a gender recognition certificate, which until now has been highly „intrusive, medicalised and bureaucratic.“ www.stonewall.org.uk/about-us/news/statement-uk-governmen… The LGBTQ oranisation Stonewall commented – „This is a piece of legislation that simply seeks to make the process for legally recognising a trans man or trans women’s gender more respectful and straightforward. Scotland’s Bill aligns it with leading international practice endorsed by the United Nations and adopted by 30 countries, including Canada, Australia, New Zealand, Irealand and most of the United States of America.“ www.stonewall.org.uk/about-us/news/statement-uk-governmen… The bill had received cross-party support in the Scottish parliament and was supported by 88 members – the overwhelming majority of Scottish MSPs – only 33 voted against and just 4 abstained. The legislation was also clearly within the scope of what the Scottish parliament can legislate according to its devolved powers. However, for the first time ever, the British government used section 35 of the Scotland Act to unilaterally veto the reforms. This photo was used in the following article online – gal-dem.com/finland-gender-recognition-law-trans-scotland…

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Juni 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Reichelt, Rammstein, RBB: Zeit, sich zu trennen. Die Linke will ohne Wagenknecht weitermachen. Nazi-Splatter-PornoSchwulst und ein beleidigter Springer Verlag. Der RBB sucht eine neue Intendanz.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Die Logik der Gewalt.

Und was wird nächste Woche besser?

Frieden langsam gern auch unlogisch.

Die geplante Verschärfung des EU-Asylrechts stößt bei vielen Grünen auf Empörung. Wird sich die Ablehnung durchsetzen?

Ausgangsgedanke war, Geflüchtete gerecht über die EU zu verteilen. Ergebnis ist: Es kommen keine mehr rein. Wer das Pech hat, aus einem Land mit niedriger Anerkennungsquote zu fliehen, wird ohne Ansehen der Person zurückgeschickt. Langsam wird’s wohlfeil, stets auf Polen und Ungarn zu zeigen, die ihre Maximalposition durchgesetzt haben. Letztlich hilft es der Ampel, das Thema rechtzeitig vor der Europawahl abzuräumen – hoffen sie. Interessant wäre eine Überprüfung, ob die deutsche Zustimmung mit dem Grundgesetz vereinbar ist: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Fragt uns nicht, wo.“

„Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht“ heißt es in einem am Samstag einstimmig gefassten Beschluss des Parteivorstands. Hat die Linke eine Zukunft?

Kann sein. Vor allem aber: Klammheimlicher Dank von Union, SPD, Grünen und FDP, denen bisher nichts Durchschlagendes gegen die AfD eingefallen ist. Wagenknecht gärt einen trüben Sud aus Sozialismus und Nationalismus. Der modert in umgekehrter Reihenfolge auch bei der Höcke-Mehrheit in der AfD wie früher bei der NPD. Bei den derzeitigen Umfragewerten ist es zu spät, rechte und linke Autoritäre säuberlich in 2 mal 4,9 Prozent zu zerlegen, doch schön wär’s schon. Wagenknechts „Aufstehen“-Initiative war ein organisatorisches Fiasko; eine schwammige Idee ohne Kernaussage: Sahra. Wagenknecht wird nie Knecht wagen, nicht vor einer Idee noch einer Person. Also erst mal abwarten, ob sie Partei kann. Die Linke bangt um jedes Mandat und verliert durch die geplante Wahlrechtsreform den Fraktionsstatus. In der Situation einer Erpressung zu trotzen hat: meinen Respekt.

Die Rammstein-Konzerte laufen in ausverkauften Stadien munter weiter. Nur das Lied „Pussy“ wurde von der Setlist genommen und die Peniskanone ist verschwunden. Muss noch was weg?

Rammstein hat immer den kürzesten Weg zum Skandal gesucht, und nun schaut er mal bei ihnen vorbei. Nazi-Splatter-Porno-Schwulst, aber richtig teuer, bei nicht sonderlich innovativer Musik. Nun gibt es Frauen, die nicht mehr von der Kunstfreiheit gedeckt werden wollen. Wo es bisher bewundernd raunte: „Die sind wirklich so!“, erschaudert es nun: „Die sind wirklich so.“ Vorwürfe gegen die Band – eigentlich erst mal gegen Lindemann und Mitwisser – werden strafrechtlich geprüft. Hoffentlich wird das gerecht aufzuklären sein. Man stolpert aus der medialen Aufregung und staunt: Wäre schön gewesen, wenn’s alles gelogen und nur Geschäftemodell wäre. Vielleicht nehmen viele Fans das mit.

Die am 16. Juni anstehende In­ten­dan­t*in­nen­wahl beim RBB „eskaliert“, schreibt die FAZ. Können Sie die Angelegenheit analysierend deeskalieren?

Interimsintendantin Vernau hat mit harten Einsparungen Teile der Belegschaft verängstigt. Sie möchte weitermachen, dabei aber die Wahl überspringen. Ein Favorit von Belegschaft und Freien wurde vom Rundfunkrat wegen angeblich zu hoher Gehaltswünsche aussortiert. Dazwischen gibt es drei gremiengefällige Kandidatinnen. Ein funktionierendes Aufsichtsgremium müsste einer Intendantin klarmachen, dass es Wahlen gibt – und hat de jure keine Gehaltsverhandlungen zu führen. Dieser Rundfunkrat hingegen schafft es, fünf KandidatInnen zu beschädigen. Falls die „Affäre Schlesinger“ auch ein Gremieninfarkt war, setzen die Nachfolger dort fort.

Zwischen dem Axel-Springer-Verlag und dem ehemaligen Bild-Chef Julian Reichelt hat es am Freitag vor dem Berliner Arbeitsgericht nicht für eine gütliche Einigung gereicht. Überrascht Sie das?

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Wann ist sein Papagei dran?

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Juni 2023

PREIS FÜR HABECKS KATZE

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Am Rande der Hannover Messe wurde der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mit einem Preis für die Energiewende ausgezeichnet. Der wurde ihm von seinem Bruder Hinrich überreicht. Hinrich ist nicht nur Habecks Bruder, sondern auch Chef der Wirtschaftsförderung Schleswig-Holstein. Die Wirtschaftsförderung wird von der Landesregierung Schleswig-Holstein finanziert und gesteuert.

Prinzip der Allparteien-Koalition

Wer die Tatsache, dass eine Landesregierung einem Bundesminister publikumswirksam einen Preis zuschanzt, für politischen Inzest hält, der versteht das Prinzip der deutschen Allparteien-Koalition nicht: Alle, die da mitmachen, sind preiswert zu korrumpieren. Dieser oder jener mit noch einem teuren Amt, andere mit einem fadenscheinigen Preis – bezahlt wird die komplette Kirmes vom Steuerzahler.

Wappentier ist die Blindekuh

Wie immer geht es um das Wichtigkeits-Karussell: Du findest mich gut, dann finde ich dich gut, später finden wir vielleicht auch einen guten Grund – die Geschlossenheit. Wer geschlossen ist, der macht kein Fass auf, der schließt vor jedem auftauchenden Polit-Verbrechen die Augen. Das Wappentier ist die Blindekuh, die Flagge besteht aus Löchern, die Hymne beginnt mit „Einigkeit“. „Recht und Freiheit“ sind aus Gründen der Koalitionsdisziplin gestrichen.

Keine Blutschande sondern Reinzucht

Dass der Bruder dem Bruder einen Preis zuschiebt, ist keine Blutschande sondern Reinzucht: Nur wer sich familiär im Kreise dreht, hält sich rein. Das wussten schon die alten Ägypter. Dort machte es der Bruder mit der Schwester. In Deutschland treibt es der Bruder mit dem Bruder: Platz da für neue Geschlechter ist ein grünes Prinzip.

Nur der Bruder ist kein Luder

Das Habeck- Prinzip „Nur der Bruder ist kein Luder“ ist so hermetisch, dass keinerlei Alternative möglich ist. Da bleibt die grüne Fahne hoch und die Reihen sind fest geschlossen. Wer aus der Reihe tanzt, wird zur Tarantella nicht unter drei Runden verurteilt.

Grüne Massensuggestion

Die Tanzopfer leiden unter Tarantismus, einer psychischen Erkrankung in Verbindung mit Massensuggestion. Wer diese Krankheit erwischt, der hält GRÜN für die Farbe der Hoffnung, Deutschland für eine Demokratie und seine Medien für vielfältig.

Eau de Robert bei Douglas

Noch ist das Höchstmaß an Geschlossenheit nicht erreicht. Erst wenn Habecks Katze den Grammy für ihr Maunzen bekommen hat, wenn sein Papagei mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde und sein Schweiß als Eau de Robert bei Douglas Höchstpreise erzielt, ist die Zeit für das Vierte Reich gekommen. Jenes Reich, in dem die Schließer die Macht übernommen haben und die Ketten als Schmuck für alle gelten.

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Oben      —   Hauskatze, langhaarig, weiß mit braun-grauen Tigerflecken

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Flüchtende suchen Zuflucht

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Juni 2023

Flüchtlinge gelten als Feinde unseres Wohlstands

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Wird hier aus der EU – Ein- oder Ausgeschlossen  ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Heribert Prantl / 08  

Der Migrationsdruck wird ein grosses Thema dieses Jahrhunderts. Das Schicksal zweier Kontinente wird sich darin entscheiden.

Es gibt Interviews, die man nicht vergisst. Ein knappes Jahr nach der Änderung des Asylgrundrechts im Jahr 1993 habe ich mit dem damaligen Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) ein Gespräch darüber geführt, was diese Grundgesetzänderung bewirkt habe.  Kanther äusserte sich hochzufrieden. Wir sprachen auch über den Brandanschlag von Solingen: Drei Tage nach der Asyl-Abstimmung im Bundestag waren bei einem Brandanschlag fünf türkische Frauen und Mädchen von Rechtsextremisten ermordet worden. Den entsetzen Kommentar dazu konnte man damals auf eine Hauswand gesprüht lesen: „Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch“. Kanther sah das anders. Er sagte: „Jetzt kommen nicht mehr 30’000, sondern 10’000 Flüchtlinge (im Monat. Red.). Das ist immerhin etwas, dieses Ergebnis bestätigt die Richtigkeit unserer Politik. Es wäre nicht erzielbar gewesen ohne die öffentliche Auseinandersetzung – die natürlich auch Hitzegrade erzeugt hat.“ Er sagte tatsächlich „Hitzegrade“!

Zwanzig Jahre lang hatte der Asylstreit bis dahin gedauert. 1973 war im Bundestag zum ersten Mal von Asylmissbrauch die Rede gewesen. Die Debatte darüber hatte sich in den späten Achtzigerjahren ins Orgiastische gesteigert. Über den Artikel 16 des Grundgesetzes wurde geredet, als wäre er der Hort von Pest und Cholera. Der sogenannte Asylstreit hat das politische Klima in Deutschland verändert wie kaum eine andere Auseinandersetzung in der Geschichte der Bundesrepublik.

Was Fliehkraft bedeutet

Davon handelt mein kürzlicher SZ-Plus-Text („Asylbetrüger … sind nicht Flüchtlinge, die Schutz vor Verfolgung und Hilfe in der Not suchen – sondern die Politiker, die ihnen Schutz und Hilfe verweigern“).  Er zeichnet den Weg nach von der deutschen Grundgesetzänderung im Jahr 1993 zu den EU-Elendslagern von heute und zu den Plänen für die „Festung Europa“, die nun bei der bevorstehenden EU-Ratssitzung verabschiedet werden sollen.

50 Jahre Asylstreit insgesamt. Die Flüchtlinge gelten als Feinde des Wohlstandes. Die EU schützt sich vor ihnen wie vor Straftätern. Sie werden betrachtet wie Einbrecher, weil sie einbrechen wollen in das Paradies Europa. Man fürchtet sie wegen ihrer Zahl und sieht in ihnen so eine Art kriminelle Vereinigung. Deswegen wird aus dem „Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit“, wie sich Europa selbst nennt, die Festung Europa.

Die Flüchtlinge, die vor dieser Festung ankommen, sind geflüchtet, weil sie eine Zukunft haben wollen. Sie sind jung, weil nur junge Menschen die Fliehkraft haben, die man als Flüchtender braucht. TV und Internet locken noch in dreckigsten Ecken der Elendesviertel mit Bildern aus der Welt des Überflusses. Noch bleibt der allergrösste Teil der Menschen, die wegen Krieg, Klimawandel und bitterer Not ihre Heimat verlassen, in der Welt, die man die dritte und vierte nennt. Mehr und mehr aber drängen sie an die Schaufenster, hinter denen die Reichen der Erde sitzen.

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Der Druck vor den Schaufenstern wird stärker werden. Ob uns diese Migration passt, ist nicht mehr die Frage. Die Frage ist, wie man damit umgeht, wie man sie gestaltet. Migration fragt nicht danach, ob die Deutschen ihr Grundgesetz geändert haben und womöglich noch einmal ändern wollen. Sie fragt nicht danach, ob die EU-Staaten sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention hinausschleichen. Die Migration ist da und der Migrationsdruck wird ein ganz grosses Thema dieses Jahrhunderts sein. Und das Schicksal zweier Kontinente wird sich darin entscheiden, ob der europäischen Politik etwas anderes einfällt als Abriegelung und Mobilmachung gegen Flüchtlinge.

Seit 1992, seit den „Londoner Entschliessungen“ zur Ablehnung von Asylanträgen hat sich EU-Konferenz um EU-Konferenz mit den Bauplänen für die Festung Europa befasst; das Projekt lief immer unter dem Namen „Harmonisierung des Asylrechts“.  Nun, bei der bevorstehenden EU-Ratssitzung in ein paar Tagen, sollen die Pläne fertiggestellt werden. Es sind keine guten Pläne. Es gibt eine Formel, die eine Schlüsselformel für gute, für bessere Pläne sein könnte: „Asyl ist für Menschen, die uns brauchen. Einwanderung ist für die Menschen, die wir brauchen.“ Es ist dies, es wäre dies der Grundgedanke für eine gute europäische Migrationspolitik. Es braucht eine respektierte Autorität, die sie propagiert.

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Oben      —     Grenzpatrouille an der Anlage

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Kolumne-Fernsicht-Japan

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Juni 2023

Die Abtreibungspille in Japan ist nur ein Teilerfolg

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Von  : Priyanka Borpujari

Welches Land ist wirklich fortschrittlich, wenn es darum geht, Frauen zu erlauben, über ihren eigenen Körper zu entscheiden? Dass ich hier von „erlauben“ spreche, sagt ja schon alles:

In Japan wurde nun, nach jahrzehntelangen Kampagnen, jetzt ein Medikament zugelassen, das den Abbruch einer Schwangerschaft in frühem Stadium herbeiführt. Japan ist eines der wirtschaftlich fortgeschrittensten Länder der Erde. Wenn es um sichere Methoden zur Beendigung einer Schwangerschaft geht, hinkt es aber ziemlich hinterher. Bisher sind dort nur Abtreibungen mittels gynäkologischem Eingriff erlaubt, und das auch nur, wenn der Ehemann oder Partner zustimmt.

Die USA drohen ja schon länger mit dem Streit um das Medikament Mifepriston weiter in viktorianische Verhältnisse zurückzudriften. Und auch in Japan können die Pillen mit Mifepriston und Misoprostol erst nach einer ärztlichen Konsultation erworben und eingenommen werden, sie kosten umgerechnet 570 Euro. Ein gynäkologischer Eingriff kostet mindestens ebenso viel. Und, wenig überraschend, die Krankenkasse in Japan übernimmt die Kosten nicht.

Doch selbst bis hierher war es ein mühsamer Weg: 12.000 Stellungnahmen wurden online gesammelt, bevor das Gesundheitsministerium aktiv wurde. Und auch jetzt ist noch nicht klar, ab wann die Abtreibungspille verfügbar sein wird. Das japanische Gesetz zu Schwangerschaften verlangt, dass der Partner einer Abtreibung zustimmen muss, es sei denn, er ist unbekannt oder kann seine Haltung nicht mitteilen. Das gilt auch bei einem medikamentösen Abbruch. Selbst unverheiratete Frauen müssen die Zustimmung eines Mannes vorweisen – so patriarchal ist die japanische Gesellschaft geprägt.

In Japan fordern viele auch einen besseren Zugang zu einer Verhütung durch die „Pille danach“. Vor ihrer Verabreichung ist bisher die Zustimmung eines Arztes nötig, und sie muss vor den Augen eines Apothekers eingenommen werden.

Es gibt bis heute kaum ein Land, in dem nicht versucht wird, Kontrolle über die Körper von Frauen und ihre Reproduktionsfähigkeit auszuüben. In Irland, wo ich lebe, wurden Schwangerschaftsabbrüche erst vor fünf Jahren gesetzlich zugelassen. Protestiert wird aber weiter: Weil sie nur bis 12 Wochen nach der Empfängnis erlaubt sind. Außerdem müssen drei Tage zwischen der Genehmigung durch einen Arzt und dem Eingriff selbst verstreichen. Im Notfall müssen Frauen für eine Abtreibung weiterhin per Flugzeug in ein anderes Land reisen.

Andererseits ist in Indien, dem Land meiner Geburt, Abtreibung bis zur 20. Schwangerschaftswoche erlaubt, was unter besonderen Umständen bis zur 24. Woche verlängert werden kann. Doch noch ist nicht dafür gesorgt, dass alle Frauen ausreichend über Wege und Mittel informiert sind, um eine Schwangerschaft abbrechen zu können.

Quelle         :         TAZ-online           >>>>>       weiterlesen

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Juni 2023

Die Öffentlich-Rechtlichen machen sich plötzlich locker

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Die Plüschmaus patrouillierte über die Digitalmesse re:publica. Ansonsten waren die Öffentlich-Rechtlichen aber offen für digitale Tranformation.

„Re:­pu­bli­ca 23: Weniger Katzenbilder, mehr Hiobs­botschaften“, titelte die Berliner Zeitung zum alljährlichen Hochamt der Digitalcommunity, das diese Woche über die Bühne ging. Das versprühte ein Gefühl von „Die fetten Jahre sind vorbei“. Gut, re:­pu­bli­ca-Mitgründer Markus Beckedahl gab in seiner Rede zur Lage der Digitalnation schonungslose Einblicke in die Abgründe eines der reichsten Länder.

Pro Jahr geht es digital gerade mal ein paar Meter Glasfaserkabel weiter. Dafür öffnet Deutschland zum „Ausgleich“ seinen geheimen Diensten fürs Datensaugen immer weiter Tür und Tor. Aber es gab auch beruhigende Nachrichten! ChatGPT kann Wörter raten, manchmal sogar mit Zusammenhang. Mehr aber nicht. Journalismus wird also nicht überflüssig, und ob bei dem ganzen Spaß wirklich wenigstens bessere Überschriften rauskommen, bleibt abzuwarten.

So richtig fett haben dafür endlich die Öffentlich-Rechtlichen die re:­pu­bli­ca für sich entdeckt. Also nicht nur Arte, die wegen der französischen Rechtslage digital eh schon immer mehr durften und praktisch von Anfang an dabei sind. Auch ARD und ZDF waren mit gut gemachten Ständen und vor allem eigenen Programmstrecken präsent. Und während frühere ARD-Vorsitzende als leichte Fremdkörper durch die Hallen geschleift wurden, kam Kai Gniffke im coolen schwarzen T-Shirt und sah überhaupt nicht nach ARD-Vorsitzendem aus.

Übung im Dialog führen

Was ja dringend in dem Laden mit seinen ganzen Anstalten, Arbeitsgruppen, Kommissionen, GSEAs (Gemeinsame Einrichtung ARD), neuen Kompetenzzentren und vor allem Befindlichkeiten dringend gebraucht wird, hat hier locker-flockig funktioniert. Es geht um einen unbürokratischen Dialog aller auf Augenhöhe.

Und das Führen dieses Dialogs muss nicht nur mit den ÖRR-Konsument*innen und Beitragszahlenden gelernt werden, sondern er findet offenbar auch intern immer noch viel zu wenig statt. „Na, dafür muss ja erst noch ein Konzept für internen Dia­log in der ARD-ZDF-Medienakademie entworfen und mit allen abgestimmt werden“, meint die Mitbewohnerin.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Technologieoffenheit FDP

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Juni 2023

Warten auf unrealistische Lösungen

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Von Bernhard Pötter

In den Debatten über Heizung und E-Fuels blockiert die FDP. Ihr Argument: Technik und Markt würden das Problem lösen. Experten sehen das anders.

Die Liberalen können noch überraschen. „Es gibt keine blockierende FDP“, sagt der klimapolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Lukas Köhler, wenn man ihn auf die Debatte in der Ampelkoalition rund um Energie und Klimaschutz anspricht.

Die Liberalen sagen von sich, sie seien das Korrektiv für Marktwirtschaft und Technologieoffenheit in der Regierung, „Blockieren hieße, dass wir ohne Bedingungen sagen, es darf nichts kommen. Das machen wir nicht“, so Köhler. „Nach dieser abwegigen Logik müsste man daher auch immer, wenn die Grünen nicht zu hundert Prozent unsere Vorschläge teilen, sagen: Die Grünen blockieren ein Gesetz.“

Der allgemeine Eindruck ist derzeit ein anderer. Demnach sagen die Liberalen zu den Plänen des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck zur Energiewende konstant Njet, verzögern oder stellen unannehmbare Forderungen. Habeck ist beim Thema Heizungsgesetz inzwischen so geladen, dass er der FDP Wortbruch vorwirft. Was ist also dran an diesen verschiedenen Sichtweisen? Hat die FDP gute fachliche Argumente, die Grünen zu bremsen?

Es begann im Februar mit dem Streit über die E-Fuels: FDP-Verkehrsminister Volker Wissing legte sein Veto gegen eine EU-Regelung ein, die die Zulassung von Verbrennerautos nach 2035 untersagte. Parteifreund Köhler steht zu dem dann gefundenen Kompromiss. Er sagt: „Wir widersprechen der Prämisse, dass E-Fuels in der Zukunft global gesehen teuer und knapp sein werden. Jeder Versuch, die Zukunft der Märkte vorherzusagen, ist in der Vergangenheit gescheitert.“

Champagner der Energiewende

Im Prinzip, so Köhler, seien E-Fuels einfach herzustellen. Er kann sich andererseits „nicht vorstellen“, wie die weltweit 1,3 Milliarden Autos rechtzeitig für die Klimaziele des Pariser Abkommens von E-Autos ersetzt werden. Auch weil unklar sei, wo der ganze grüne Strom dafür herkommen soll.

Experten halten E-Fuels für den „Champagner der Energiewende“ – Köhler sagt: „Absoluter Quatsch!“ Dagegen zeigen Kalkulationen von Agora Verkehrswende, der Bundesregierung und der EU-Kommission, dass E-Fuels bisher drei- bis fünfmal so teuer wie E-Mobilität sind und dass E-Autos fünfmal so effizient die Energie einsetzen wie ­E-Fuels.

Gibt es sie, würden sie für die Industrie oder den Flugverkehr gebraucht, wo es keine E-Alternativen gibt, das sagt auch offiziell das FDP-geführte Forschungsministerium. Deshalb seien diese Treibstoffe knapp und teuer, jedenfalls bis Grünstrom im Übermaß vorhanden ist.

Wasserstoff nur die Ausnahme

Die FDP vertraut da auf den Markt: Der habe es auch geschafft, durch explodierende Nachfrage die Preise durch „Skaleneffekte“ massiv zu senken – beim Solarstrom etwa sind deshalb weltweit in den letzten Jahren die Preise um 80 Prozent gesunken. Aber selbst dann, so Wasserstoffexperte Falko Ueckerdt vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, blieben die Treibstoffe „auf absehbare Zeit knapp und vergleichsweise teuer. Eine Wette darauf, dass es anders kommt, als die Wissenschaft berechnet, ist keine robuste Strategie.“

Ähnlich bei dem Streit fossile Heizungen im „Gebäudeenergie-Gesetz“. Für Habecks Ministerium ist die Heizung auf Basis von grünem Strom über die Wärmepumpe die Regel, nur in Ausnahmefällen sollen Holzpellets oder grüner Wasserstoff zum Tragen kommen.

Die FDP aber sieht Wasserstoff nicht als knappes Gut, „bei der großen Nachfrage in den Industrieländern und der Zahlungsbereitschaft wird das Angebot in den nächsten Jahren massiv zunehmen“, ist sich Köhler sicher. „Das ist kein Hexenwerk“, er setze darauf, dass klimaneutraler Wasserstoff „sehr günstig werden wird“. Auch hier sieht allerdings das Forschungsministerium „bereits heute effizientere Alternativen“ beim Heizen als Wasserstoff.

Emissionen verschieben

Beispiel Tempolimit: Die FDP glaubt nicht, dass sich durch langsameres Fahren der Verkehr verringern oder verlagern würde. Eine Studie des Umweltbundesamts, die deutliche CO₂-Reduktion durch das Tempolimit im Straßenverkehr errechnete, konterte die FDP-Fraktion mit einer umstrittenen „Kurzstudie“. Auch Köhler hält eine Reihe der Annahmen aus der Studie für fragwürdig. Den Verdacht eines Gefälligkeitsgutachtens wies das Amt empört zurück.

Streitpunkt Klimaschutzgesetz (KSG): Die FDP hat erreicht, dass darin die scharfen Sektorziele aufgeweicht werden, nach denen die betroffenen Ressorts wie Verkehr und Gebäude jährlich CO₂-Minderungen nachweisen müssen. Weil das CO₂-Gesamtbudget aber sinkt, müssen andere Bereiche wie Industrie oder Kraftwerke mehr einsparen, wenn etwa der Verkehr seine Ziele nicht erreicht.

Nur Intelligenz geht in der Politik freiwillig ! Dummheit sitzt Probleme aus.

Wie soll das gehen? „Es gibt diese Flexibilitäten zwischen den Sektoren“, ist sich Köhler sicher. „In den letzten beiden Jahren haben wir die Klimaziele eingehalten, weil Industrie und Energie weniger emittiert haben als geplant. Wir verschieben die Emissionen ja jetzt schon: Mehr Elektroautos und mehr elektrische Wärmepumpen bewegen die Emissionen von Verkehr und Gebäuden hin zu den Kraftwerken.“ Diese aber unterliegen dem Emissionshandel – also müssten sie laut FDP wie geplant sinken.

Allerdings: Die Verschiebung der Emissionen durch E-Autos und Wärmepumpen (und dadurch deutlich sinkende Emissionen bei Verkehr und Gebäuden) ist derzeit in der Statistik noch kaum sichtbar. Auch hier geht die FDP eine Wette darauf ein, dass die Situation in der Zukunft besser ist, als es sich derzeit abzeichnet.

Der Glaube an die Kernfusion

Am deutlichsten wird diese Begeisterung für die Technik wohl beim Beispiel Kernfusion. Zum Erstaunen vieler Fachleute erklärte FDP-Bildungsministerin Martina Stark-Watzinger Ende 2022, sie hoffe auf Strom aus der Kernfusion in einem Zeitraum von „ich sag mal zehn Jahren, es kann auch etwas länger dauern“. Das widerspricht selbst den optimistischsten Planungen der Kernfusionsfans in der EU: Eine „kommerzielle Stromproduktion“, die zu den Klimaschutzzielen beitragen könne, sei „erst nach 2050 denkbar“, heißt es von der EU-Kommission, die das Projekt unterstützt.

Köhler verteidigt seine Parteifreundin Stark-Watzinger: „Als Liberale blicken wir optimistisch auf den technologischen Fortschritt. Und als liberale Forschungsministerin blickt sie daher genau mit diesem Optimismus auf die Schaffenskraft von Menschen und Unternehmen.“ Für ihn sind die Milliardensummen, die aus der Privatwirtschaft in den letzten Jahren in Start-ups zur Fusionstechnik fließen, ein Hinweis darauf, dass an der Kernfusion etwas dran ist. Als seien nicht schon früher Milliardensummen von Wagniskapital für technologische Blütenträume verbrannt worden.

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Blast from the Past

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Juni 2023

Vom SS-Schergen zum Fernsehstar

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Von Karina Urbach

Reinhard Spitzy war in den 1990er Jahren ein Zeitzeugenstar. In den 50ern kehrte der Ex-SS-Mann aus Südamerika nach Österreich zurück.

Der SS-Hauptsturmführer Reinhard Spitzy war in den 1990er Jahren ein Zeitzeugenstar. In deutschen und internationalen TV-Dokumentationen tauchte Spitzy (1912–2010) als gefragter Experte für alles Braune auf.

Seine Markenzeichen: österreichische Joppe, Charakterkopf und immer ein leicht spöttisches Lächeln im kantigen Gesicht. Wobei nie ganz klar war, wen er hier spöttisch anlächelte – den übereifrigen Interviewer, die faszinierten Zuschauer oder seine toten Opfer?

Spitzy war ein charmantes Monster, das mit animalisch sicherem Instinkt wusste, was das Publikum wollte. Über den „Anschluss“ seiner Heimat Österreich ans „Deutsche Reich“ verkündete er: „Ich war im sechsten Wagen hinter Hitler und hatte Tränen in den Augen.“ Und auf die Frage, warum die Nazis Juden hassten: „Jeder Anwalt war Jude.“

Natürlich kannte Spitzy auch die besten Herrenwitze über das „Flitscherl“ Eva Braun. Er war immer und überall dabei gewesen. Auf das Cover seiner Memoiren setzte er einen authentischen Schnappschuss vom Münchner Abkommen 1938, bei dem er zwischen Hitler und Chamberlain als neugieriges Groupie hervorlugt.

Amoralischer Influencer

Seine Erinnerungen und die Fernsehsendungen machten ihn zum amoralischsten Influencer der 1980er und 1990er Jahre. Seine Botschaft lautete: Demokratien boten keine Lösungen, ich wurde deshalb ein illegaler Nationalsozialist in Österreich. Es war alles eine große Hetz. Leider gab es halt auch ein paar Ausrutscher.

Der größte „Ausrutscher“ war in Spitzys Augen sein erster Chef, Außenminister Joachim von Ribbentrop. Ihm sympathischere Vorgesetzte fand er dann beim Reichssicherheitshauptamt. Walter Schellenberg entsandte ihn in die Spionagehochburg Spanien, wo er mit dem SD-Mann Prinz Max Egon zu Hohenlohe-Langenburg (1897–1968) ein Dream-Team bildete.

File:Bundesarchiv Bild 183-R69173, Münchener Abkommen, Staatschefs.jpg

Eine von Spitzys größten Begabungen war es, nach 1945 seine kriminellen Freunde zu Wohltätern der Menschheit zu stilisieren. Max Hohenlohe kam bei ihm besonders gut weg: „Gestützt auf seine Stellung, verzweigte internationale Verbindungen und finanzielle Unabhängigkeit, beschäftigte sich Max Hohenlohe gerne mit der Außenpolitik, wie dies seit dem Mittelalter in seiner Familie Tradition war.“

In Wirklichkeit hatte diese „Beschäftigung mit der Außenpolitik“ eine sehr finstere Seite. Generationen von Hohenlohes hatten als Fürstenberater gedient, und Max diente jetzt dem neuen Fürsten Hitler. Hinter den Kulissen agierte er besonders effektiv in der Sudetenkrise. Die Briten hielten ihn für ihren Vermittler und fanden später heraus, dass Hohenlohe aufgrund seines „verdeckten Einsatz für die Nazis“ mit dem Vorstandssitz des tschechischen Munitionsherstellers Škoda in Brünn belohnt worden war.

Nach Kriegsausbruch arbeitete Hohenlohe für Göring an Desinformationskampagnen, wechselte später zu Himmler, und am Ende versuchte er es auch noch bei den Amerikanern (die die Geldanlagen seiner schwerreichen mexikanischen Ehefrau verwalteten).

Als „innerer Widerständler“ ausgegeben

Spitzy bewunderte die Agilität seines hochadeligen Freundes und lernte viel von ihm. Gegen Kriegsende gab auch er sich als „innerer Widerständler“ aus, aber dummerweise stand er auf einer alliierten Fahndungsliste und musste untertauchen. Die katholische Kirche und sein Kumpel Hohenlohe halfen ihm 1946 aus dem Schlamassel: „Wir saßen gerade beim Pfarrer, zu Abend“, schrieb Spitzy in seinen Memoiren, „als ein Postbote ihm ein Telegramm von Max Hohenlohe aus Madrid brachte … Dies war der vereinbarte Code und hieß, ich müsse augenblicklich untertauchen.“

Spitzy bekam genug Geld zugesteckt, um die Adolf-Eichmann-Reiseroute nach Argentinien zu nehmen. Das Familienmotto Max Hohenlohes lautete „ex flammis orior“ (ich werde mich aus den Flammen erheben), und genau das schafften er und sein Freund Spitzy in den 1950er Jahren wieder.

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Oben     —    Die königliche Familie beobachtet das Vorbeifliegen, Trooping the Colour Juni 2013

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Ohnmacht durch KI

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Juni 2023

Es geht um Grundfragen: Wer wollen wir sein?

Ein Schlagloch von Matthias Greffrath

Künstliche Intelligenz dürfte die Menschheit schneller verändern als die Entdeckung des Feuers. Während Kulturkritiker und Soziologen versuchen zu begreifen, was da geschieht, werden die Claims gesteckt.

Natürlich habe auch ich Chat-GPT ausprobiert. Am schönsten war es, als ich den Rhein eine Laudatio auf Heinrich Heine habe halten lassen: „In den Tiefen meiner Fluten formten sich seine Gedanken, seine Inspiration und seine künstlerische Leidenschaft. Ich hatte das Privileg, seine Wiege zu sein, seine musikalische Begleitung während seiner Jugendjahre entlang meiner Ufer … Aber Heine sah mich nicht nur als romantische Kulisse, sondern auch als Symbol für politische Macht und soziale Konflikte.“ Wow!

Die Freude an solchen unterhaltsamen Spielchen, mit denen man viel Zeit verdaddeln kann, verging mir, als ich das Video einer Sitzung des US-Senats ansah. Der Vorsitzende, Senator Richard Blumenthal, umriss in einer einleitenden, pointierten Rede einige der Probleme der künstlichen Intelligenz. Er tat es mit ruhiger Stimme – und mit geschlossenem Mund. Denn er hatte Chat-GPT um diese Einleitung gebeten, und die Stimme hatte das Computerprogramm aus dem Rohmateral früherer Senatssitzungen geklont.

„Stellen Sie sich vor“, sagte Blumenthal, „ich hätte das Programm gebeten, mit meiner Stimme die Kapitulation der Ukraine zu fordern oder Putin zu unterstützen …“ Seine Konsequenz: Wir sollten nicht noch einmal den Zeitpunkt für wirksame Kontrollen verpassen, wie bei Social Media. Und Sam Altman, der Erfinder von Chat-GPT, bat die Regierung um eine Agentur zur Regulierung der Technik.

Das zweite Erlebnis, nicht weniger spooky: der Auftritt von Sascha Lobo auf der OMR („Online Marketing Rockstars“)-Konferenz von 70.000 Influencern und Online-Marketeers in Hamburg. Auch Lobo konnte sich den Klon-Trick mit einem Grußwort von Olaf Scholz nicht verkneifen, aber dann war, eine halbe Stunde lang, seine gemäßigt hysterisierte Botschaft an die Gemeinde: Ihr wart die Pioniere der Social Media, ihr müsst jetzt die Entwicklung vorantreiben, KI in jeden Winkel bringen, damit „Deutschland auch noch in zwanzig Jahren ein reiches Land“ ist.

Jeder hat persönlichen KI-Influencer

Lobo mokierte sich über die Bedenkenträger, die mit den Fakes und Bots das Ende der Demokratie, gar der Zivilisation kommen sehen, und blickte in eine lichte Zukunft, in der jeder seinen persönlichen KI-Influencer hat, eine „Person“, die das Intervall zwischen Wunsch und Bestellung radikal verkürzen könnte. Die Chinesen seien uns weit voraus, auch weil sie „großartige, fantastische“ Datenmengen aus den privatesten Chatbots ihrer Bürger abgreifen können, was hierzulande „manche Menschen ein bisschen verstört“.

Plenarsaal

Hat nicht heute schon Jeder der hier sitzenden mehrt Influenz-er als Finger an den Händen ?

Und deshalb: Gehet raus und überzeugt die Menschen, das zu beschleunigen, was ihr gerade mal ein wenig und sie noch gar nicht verstehen. Die Versammlung der kapitalistischen Zukunftsfreunde; die Furcht von Politikern vor einer Entkernung demokratischer Verfahren; die Angst von Militärs vor dem automatisierten Drohnenkrieg; die Verschärfung von Wahn und Fake in den Social Media – all das füttert meine Ohnmachtsgefühle.

Und ich bin umgeben von Menschen, denen es auch so oder ähnlich geht, und das sind nicht nur Rentner. Viele, die sowohl mit der Technik wie mit den Regulierungsversuchen vertrauter sind als ich, sind überzeugt, dass die Schwelle, über die „wir“, die Menschheit also, in globaler Gleichzeitigkeit gehen, ungefähr die Größenordnung des Übergangs zur Alphabetisierung, wenn nicht gar zur Sesshaftigkeit hat, nur nicht so allmählich wie die Ausbreitung von Feuer, Schrift und Webstuhl.

Und während Kulturkritiker und Soziologen noch versuchen zu begreifen, was da geschieht, werden die Claims gesteckt: in der globalen Privatisierung der digitalen Infrastrukturen, im „Chip War“ zwischen den beiden Supermächten. Die KI-Revolution ist global, sie erfordert eine globale Kontrolle – der Satz ist wirkungsloser als die Beschlüsse der Pariser Klimakonferenz. Europa humpelt hinterher, auch das ist ein Allgemeinplatz ohne Folgen. Belastbare Ahnungen vom Umfang kommender Arbeitslosigkeiten gibt es so wenig wie Ideen über ihre Kompensation.

Womöglich hilft Hölderlin

Politische Metaphysiker halten sich an Hölderlin: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Ja, es stimmt: Eine Bewirtschaftung der Erde für 10 Milliarden Menschen, die noch ein paar Schmetterlinge und Urwälder übrig lässt, werden wir nur mit viel KI hinkriegen, mit smarten Gesellschaften, mit kollektiver Verhaltenssteuerung durch jede Menge Apps auf jeder der Milliarden Smartphones und Smart Watches auf Erden. Rückwärts nimmer und vorwärts im Nebel; wenn’s gut geht, mit politischen und nicht nur profitorientierten Lotsen.

Quelle        :          TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben      —   Prompt: „1990s home movie footage of iridescent artificial intelligence carnival“ via Midjourney v4

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Die große Kränkung

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Juni 2023

Den Mut, für die Pflege mehr Geld zu fordern, wird die Ampel in dieser Legislatur wohl nicht mehr haben

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Ein Debattenbeitrag von Barbara Dribbusch

In der Pflege erleben wir die Grenzen der Solidarität im Sozialstaat. Das Pflegerisiko wird individualisiert. Wer betroffen ist, muss improvisieren.

Die Überschriften sagen schon einiges: „Pflege-Reform schrumpft Löhne und Renten“, titelte die Zeitung B. Z., und die Bild warnte: „Lauterbachs Pflegeplan: So schrumpft IHR Gehalt ab Juli“. Die Titel bezogen sich auf das kürzlich verabschiedete sogenannte Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG). Damit werden die Beiträge zur Pflegeversicherung erhöht, um ein paar Verbesserungen zu finanzieren und dem steigenden Finanzbedarf in der Pflege Rechnung zu tragen.

Die Beitragserhöhung beträgt 0,35 Prozentpunkte vom Bruttolohn, gestaffelt nach der Kinderzahl, beziehungweise 0,6 Prozentpunkte mehr für Kinderlose. Wobei Ar­beit­neh­me­r und Arbeitgeber davon jeweils die Hälfte zahlen. Dass solche Erhöhungen schon den öffentlichen Unmut anstacheln, zeigt, wie es um die Pflege steht: Die solidarische Absicherung des Pflegerisikos kippt.

Die Pflege entwickelt sich in einer Gesellschaft der Langlebigen zum schwarzen Loch im Sozialstaat. Es gibt von der Sozialversicherung oder vom Staat immer zu wenig Geld für die Betroffenen und die Pflegekräfte. Die Erhöhungen für Pflegeleistungen um 5 Prozent im ersten und 4,5 Prozent im zweiten Jahr durch das PUEG, nach vielen Jahren der Stagnation, decken nicht mal die Inflation ab. Aber die Einzahlungsbereitschaft der Bür­ge­r:in­nen für die Pflegekasse ist eben auch sehr begrenzt und die Ar­beit­ge­be­r:in­nen klagen über die steigenden Sozialversicherungsbeiträge. Würde von den Steu­er­zah­le­r:in­nen auch noch eine Art „Pflege-Soli“ eingefordert, wäre das Gejammer groß.

Stattdessen wurde das Pflegerisiko schon in den letzten Jahren still und leise zunehmend privatisiert. Die Eigenanteile beim Pflegeheimaufenthalt liegen inzwischen im Schnitt bei 2.400 Euro im Monat. Wer die ambulanten Dienste der Sozialstationen in Anspruch nimmt, muss ebenfalls mehr aus eigener Tasche zuzahlen. Von Pa­tientenschutzorganisationen, wie der Biva, hört man, dass es in den Pflegehaushalten zu Unterversorgungen kommt. Das liegt am Personalmangel bei den ambulanten Diensten, aber eben auch am fehlenden Geld der Betroffenen für die Eigenanteile. Sie wollen im Alter nicht zum Sozialamt gehen, um dort „Hilfe zur Pflege“ zu beantragen.

In den sozialen Netzwerken der Pflegekräfte liest man Debatten, ob und wie die sogenannte „Doppel Inko“, also das hautschädigende Übereinanderziehen von zwei Windeln bei Inkontinenz, in Ordnung ist, wenn es der Hochbetagte selbst so wünscht, um Anfahrten und Kosten für die Pflegedienste zu sparen. Das menschenwürdige „Ausscheidungsmanagement“ (heißt wirklich so) ist eine der größten Herausforderungen für den Sozialstaat.

Die drei von der Ampel ?

Dabei kann es jeden treffen. JedeR dritte 80- bis 85-Jährige wird pflegebedürftig, jeder Siebte in dieser Altersgruppe wird dement. Wir haben nicht die lebenslange Kontrolle über Körper und Verstand. Diese Kränkung muss man akzeptieren.

Angesichts der Pflegemisere kann man natürlich versuchen, Schuldige zu benennen: Die Politik ist schuld, der Gesundheitsminister, der Finanzminister, die Pflegeheimbetreiber! Diese Schuldzuweisungen mögen zum Teil ihre Berechtigung haben, aber sie lösen das Problem nicht. In einer Gesellschaft der Langlebigen ist das Thema Pflege zu groß, um es mal eben mit einer Reform bewältigen zu können. Demografisch bedingt gibt es mehr Pflegebedürftige und weniger Pflegekräfte, das verschärft den Mangel.

Wir werden mit Unzulänglichkeiten, mit einem gewissen Mangel leben müssen, wir werden mehr improvisieren und uns von Regeln verabschieden müssen. In den Heimen zeichnet sich ab, dass man mehr mit Hilfskräften arbeitet. Mehr Assistenzkräfte in Heimen schlägt auch die sogenannte Rothgang-Studie vor, Taktgeber für die künftige Personalbemessung. Einige Pflegehilfskräfte werden vielleicht nicht besonders gut Deutsch sprechen können, man wird deren Sprachunterricht mehr auf den konkreten Bedarf in der Alltagspflege ausrichten müssen.

Pflegebedürftige aus der Mittelschicht werden mehr Geld von ihrem Vermögen, von ihren Immobilien für die Pflege aufwenden müssen, auch wenn das neue Pflegegesetz die Zuschüsse zu Heimaufenthalten aus der Sozialkasse etwas verbessert.

In den Haushalten wird die Pflege individueller gestaltet werden. Manche Ba­by­boo­me­r:in­nen können ein Lied davon singen, wie die Betreuung für die bedürftigen Eltern zusammengestückelt wird aus Hilfe durch die Kinder, Schwarzarbeit, womöglich halblegaler osteuropäischer Pflegehilfskraft und dem Personal der Sozialstationen.

Quelle      :         TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben           —     Schwester Janine aus Gelsenkirchen.

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Juni 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

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Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Kriegsgewöhnung mit Eva Högel, Lina E. und Bundeswehr: Selbstgetöpferter Tyrannenmord. Wer immer nur hören möchte, was er in seiner schmutzigen Seele eh schon geahnt hat, der wählt halt AfD – und hört dumpf weiter Rammstein.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Ukraine: Die Gewöhnung.

Und was wird nächste Woche besser?

Keine Gewöhnung an Gewöhnung.

Im Deutschlandtrend erreicht die AfD bei der Sonntagsfrage einen neuen Höchstwert, 18 Prozent. Damit liegt sie nun mit der SPD gleichauf. Ist die Ampel daran schuld?

Unschuldiger als die AfD kann man an ihrem Erfolg nicht sein. Nicht der Euro, Migration, Corona oder irgendwelche trendig braunen Accessoires beflügeln ihre Umfragen. „Die da oben können es nicht, und das aus bösem Willen“ hat auf ehemaligem DDR-Staatsgebiet eine gewisse Tradition – und klingt aktuell nach einer Selbstauskunft der Ampelmänner. Wer immer hören möchte, dass Habeck alles vergeigt, die FDP alles blockiert und Scholz alles laufen lässt, kann sich diese News beim Originalerzeuger abholen. Die Ampel – das Factory Outlet für Ampelstress. In uns schlummert mehr vordemokratische Sehnsucht nach dem, „der mal auf den Tisch haut“, als in dem, der mal auf den Tisch haut.

Haben Sie gerade noch Fragen an Robert Habeck?

Hm. „Wie wär’s mit Landwirtschaft?“ Das hat er gelernt in Schleswig-Holstein, auch Energiewende und Umwelt. Im Bund stapelt er auf die skurrile Gas­umlage eine Vetternwirtschaft-Affäre und ein Heizungsgesetz, das zunehmend an ein Schwarzes Loch erinnert: Wer zu nah dran kommt, den verschlingt’s. Habeck hat es meisterlich verstanden, sich beliebt zu machen. Nun kommt Stufe zwei: das Gegenteil überleben.

Lina E. wurde am Mittwoch zu 5 Jahren und 3 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Sind wir die Sorge Linksextremismus jetzt los?

Wer mit dem Hammer auf politische Gegner eintrümmert, ist nicht links oder rechts, sondern in erster Linie kriminell. Wir sind noch ein gutes Stück weit weg vom selbstgetöpferten Tyrannenmord und täten gut daran, jedwede politische Ummäntelung roher Gewalt nicht zu hoch zu heben. Die Taten müssen uns nicht sympathischer sein als die irgend eines Fußball-Hooligans, der seinen Gewaltfetisch halt mit einer anderen Ausrede auslebt.

Das deutsche Bildungssystem steckt in der Dauerkrise. Nun fordern Gewerkschaften und Bildungsverbände ein Sondervermögen von mindestens 100 Milliarden Euro. Wäre da die Forderung „Reiche Eltern für alle“ nicht am Ende realistischer?

Wenn das Schulsystem schon nicht funktioniert, kann es mit weiteren 100 Milliarden noch viel schöner nicht funktionieren – klar. Andere forderten bereits ein Sondervermögen Wohnen und eines für Bahn und Klima. Viel mehr als die Gesten kommt beim Modeartikel Sondervermögen nicht herum. Das deutsche Schulsystem selektiert statt zu fördern, man möchte sich nicht ausmalen, wie es jetzt noch 100 Milliarden besser selektiert.

SPD-Politikerin Eva Högel schlägt als Wehrbeauftragte eine Rückkehr zur Musterung vor, für alle Geschlechter. Bei Eignung sollen die jungen Menschen selbst entscheiden, ob sie sich „engagieren“ wollen. Wie würden Sie sich aktuell entscheiden?

Quelle     :         TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Rezzo Schlauch sagt Maßlos

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Juni 2023

Die Justiz gegen die Letzte Generation

Von Gastautor Rezzo Schlauch

Rezzo Schlauch, Rechtsanwalt und Grüner seit mehr als 40 Jahren, ist kein Fan der Letzten Generation. Aber die Einstufung als kriminelle Vereinigung und Gefängnis fürs Festkleben hält er für einen Skandal. Vor allem verglichen mit den Strafen, die Betrüger von Autokonzernen für Milliarden-Schäden an der Gesellschaft kassieren.

Im nachfolgenden Beitrag geht es mir nicht um die Frage, ob die Straßenblockaden mit Ankleben der Letzten Generation eine strafbare Nötigung nach §240 Strafgesetzbuch (StGB) sind oder nicht. Es geht auch nicht um die Sinnhaftigkeit dieser Aktionen (ich persönlich halte diese im politischen Kampf gegen den Klimawandel für kontraproduktiv). Es geht ausschließlich um die in den vergangenen Wochen gegen die Klima-Aktivisten eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen und um einzelne völlig überzogene Urteile.

Ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung nach §129 StGB der brandenburgischen Staatsanwaltschaft in Neuruppin war seit Dezember 2022, mithin über fünf Monate, ein Solitär in der Strafverfolgung gegen die Klima-Aktivisten. Und konnte deshalb auf das Konto eines möglicherweise politisch übermotivierten Provinzstaatsanwaltes gebucht werden.

Dies umso mehr, als gewichtige Staatsanwaltschaften wie die Generalstaatsanwaltschaften Stuttgart und Berlin und auch andere Staatsanwaltschaften bundesweit dieser Auffassung nicht gefolgt sind. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat sogar die Strafanzeige eines eifernden CDU-Abgeordneten des Berliner Abgeordnetenhauses wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung mit ausführlicher Begründung abgewiesen. Unter anderem mit der Feststellung, es fehle der Letzten Generation am erforderlichen Gewicht.

Rechtsstaatliche Sicherungen durchgebrannt

Dann aber, fünf Monate nach diesem Auftakt, holte die Generalstaatsanwaltschaft München den ganz großen Knüppel aus dem Sack der Strafprozessordnung. Sie beauftragte zusammen mit dem LKA die „Bayrische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus“, um eine großangelegte Aktion gegen die Letzte Generation durchzuführen. 170 martialisch uniformierte und schwer bewaffnete Polizisten durchsuchten 15 Wohnungen in sieben Bundesländern und beschlagnahmten Dokumente, Konten und Vermögensgegenstände.

Parallel dazu wurde die Webseite der Letzten Generation gekapert, auf das bayrische LKA umgeleitet und der unzweideutige Hinweis platziert, bei der Letzten Generation handele es sich um eine kriminelle Vereinigung nach §129 StGB. Zudem wurde vor Spenden gewarnt, dies stelle ebenfalls eine strafbare Unterstützung einer kriminellen Vereinigung dar. Auch wenn die Generalstaatsanwaltschaft später zurückruderte, den Eintrag korrigierte und lediglich von einem Anfangsverdacht sprach: Dieses skandalöse Vorgehen zeigt, dass den staatsanwaltlichen Akteuren im Verbund mit der Antiterror-Abteilung des LKA sämtliche juristische und rechtsstaatliche Sicherungen durchgebrannt sind und sie sich im rechtsfreien und damit rechtswidrigen Raum bewegten.

Zum Vorliegen des Tatbestands einer kriminellen Vereinigung, die man gemeinhin mit der Mafia oder gewalttätigen rechtsradikalen Gruppierungen assoziiert, bedarf es zweier grundlegender Voraussetzungen. Nämlich: Zum einen müssen sich Menschen zusammenschließen mit dem vorrangigen Zweck, Straftaten zu begehen. Zum anderen muss von ihnen eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wie der BGH es formuliert hat.

Die Letzte Generation hat sich zusammengeschlossen, um der Regierung in Sachen Klimaschutz ihre Defizite und ihre Langsamkeit aufzuzeigen und ihr Beine zu machen. Mit Forderungen unter anderem nach einem Tempolimit und einem bundesweit gültigen 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Verkehr.

Dazu führt sie Gespräche mit Politikern, mit Bürgermeistern und Ministern, beispielsweise mit Verkehrsminister Volker Wissing (FDP). Sie organisiert Veranstaltungen, ihre Sprecher treten in Talkshows auf. Und ja, sie begehen auch Straftaten, wenn man Straßenblockaden mit oder ohne Ankleben als strafbare Nötigung bewertet, wie es bislang in der Mehrheit der Urteile geschieht.

Es gehört schon eine massiv von politischen Interessen geleitete Interpretation dazu und hat wenig mit einer nüchternen juristischen Auslegung des Straftatbestands zu tun, wenn dieses Bündel von Zielen, Zwecken und unterschiedlichen Aktivitäten der Klima-Aktivisten als Zusammenschluss mit dem vorrangigen Zweck zur Begehung von Straftaten eingeordnet wird, um eine kriminelle Vereinigung zu konstruieren.

49 Stunden im Stau – ohne Blockaden

Noch abwegiger wird es, wenn aus der Tatsache, dass eine überschaubare Anzahl von Autofahrern für eine überschaubare Zeitdauer durch die Blockaden gezwungen wird im Stau zu stehen, eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Ordnung abgeleitet wird. Der durchschnittliche Autofahrer steht bundesweit 30 Stunden, in Berlin 40 und in München 49 Stunden im Jahr im Stau. Ohne jede Behinderung durch Klima-Aktivisten, allein durch das normale Verkehrsaufkommen, Baustellen, Unfälle und so weiter.

Quelle       :           KONTEXT-Wochenzeitung-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Aufstand der Letzten Generation Aalen 2023-03-13

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Deutschland-Show 2023:

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Juni 2023

Von Klums ’freiwilligen Slips’ und Högls ’freiwilliger Musterung’

Heidi Klum wird gemustert wo Eva Högl (SPD) noch versucht herum zu Schustern

Ein Kommentar von Dr. Nikolaus Götz

Sind sie nicht wundervoll, diese alten Ideen aus der Mottenkiste der Wehrmacht des Dritten Reiches? ’Männer’ und heute im Rahmen der Gleichberechtigung auch ’Frauen’ sollen sich „freiwillig“ zur ’Musterung’ (1) melden! Gerne soll auch die Arbeitskraft von Jugendlichen generell wieder wie bei den Sklaven der Antike oder auf den Plantagen der amerikanischen Südstaaten kostenlos (?) zur Verfügung stehen, meint denn die Wehrbeauftragte der BRD Frau (sic.) Eva Högl (SPD). Solche dümmlich-politische Rhetorik passt nach den beiden Jahren der so schrecklich tödlich wütenden Corona-Pandemie in den Ungeist des Jahres 2023 mit der sozialen Ausbeutung und der medial gestützten Staatskassenplünderung in Kriegshysterie! Anstatt sich den Aufgaben des weitergehenden Ausbaues eines modernen europaweiten Staatswesen zu stellen und dabei Reformen im Energiesektor, im Umweltschutzbereich, im Transportwesen, im Krankenhausausbau oder generell im Sozialsektor usw. für alle Bundesbürger anzugehen, betreiben nun im beginnenden politischen Sommerloch von 2023 gewisse Regierende im Dreierpack scheinbar eher den Rückgriff in das „Politikarsenal der Steinzeit“.

Eine „freiwillige Musterung“ für jedermann fordert die SPD, vielmehr deren Wehrbeauftragte. Hier wird doch eher wohl – von dieser deutschen „Vertreter-Partei der Arbeiterklasse“ – eine kostenlose medizinische Vorsorgeuntersuchung für Heranwachsende gefordert! Eine solche freiwillige Körperuntersuchung genießen bisher nur alle Deutsche im Rentenalter. Bestimmt will Frau Högl eine ’Lücke’ bei den Untersuchungen der körperlichen Vorsorge schließen und die Medien haben wie immer „nix versteh!“ Von der deutschen Wehrbeauftragten ist doch bei der Formulierung der „freiwilligen Musterung“ nicht dieser bekannte, unwürdige ’Blick ins Arschloch’ der ’Jungs’ gemeint, gar um etwa ’Schwule’ vorab auszusortieren? Nein, nein: dieser Vorwurf gegen die einstige Männergesellschaft der ’Bundes-Wehr-Macht’, wurde so nur unter der Hand kolportiert! Der übliche medizinische ’Kontrollblick in den After’ dient allein, um Hämorrhoiden im Frühstadium zu erkennen. Der ’freiwillige Blick’ bei den weiblichen Kandidatinnen in die Ober- wie Unterleibsregion wird bestimmt zu einem erneuten Anstieg der Prozesse wegen „sexueller Belästigung“ vielleicht gar möglicher „Vergewaltigung“ führen und die bekanntermaßen diesbezüglich unbeschäftigte Justiz mit der genüsslichen Erforschung intimer Details der ’freiwilligen Musterung’ erfreuen. Bestimmt wurde dieser weibliche Aspekt bei der Erfassung der ’human resource’ von Frau Musterung vorab schon eingeplant. Und so schließt sich der alte Kreis der Zusammenarbeit von Militär und Justiz in der Bundesrepublik Deutschland wieder und der Traum von Altkanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt, „Von Deutschland soll nie wieder Krieg ausgehen!“, zerschellt an der deutschen Staatsrealität des wohl alsbald kommenden „freiwilligen“ Militäreinsatzes zum „Brunnenbohren“ in der Ukraine!

Doch die totale Unsinnigkeit des aktuellen Vorschlages dem ’Militär’ menschliches Kanonenfutter zuzuführen (Wir! Dienen! Deutschland!) ist bei Betrachtung moderner robotergesteuerter Angriffstechnologien und Drohnen direkt einsehbar. Sinnführend für diesen echt genialen Vorschlag ist eher der Gedanke, damit das mediale Sommerloch 2023 zu füllen. Gleichzeitig werden so die zahlreichen Meldungen wie die sachgerechte Kommentierung der Massenmedien über die aktuelle Unterwäschewerbung von Heidi Klum verdrängt (2). ’Deutschland’ sucht im Sommer 2023 bundesweit nicht nur den passenden freiwilligen Frauenslip der Marke Calzedonia (3), sondern mit Frau Högl endlich auch die „freiwillige Musterung“. Für unsere volksnahen TV-Produzenten wäre mit der „Freiwilligen Musterung“ eine originelle Showidee zu den langweiligen Sendungen wie ’Trödeltrupp’ oder ’Naked Island’ gefunden. Na denn ’ran ihr Boys und Girls! Meldet Euch! Die todbringenden ’Abenteuer’ bei der Bundeswehr locken schon!

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Dr. Eva Högl –  SPD angetren zur Musterung beim Kriegsminister

Anmerkungen:

1 Die ’Musterung’ (Sprachgebrauch in der BRD) ist eine Untersuchung der körperlichen und geistigen Eignung einer Person für den Dienst beim Militär. Der Imperativ „Haben sie gedient!“ war somit im deutschen, autoritären Staat über Jahrhunderte hinweg auch die Frage nach der körperlichen Gesundheit eines Mannes und damit auch für die Fähigkeit seiner Verheiratung (Siehe auch: Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick, 1931: de.wikipedia.org/wiki/ Carl_Zuckmayer).

2 Siehe zur Werbung beispielsweise: www1.wdr.de/nachrichten /heidi-klum-leni-unterwaesche-werbung-diskussion-100.html; www.bild.de/unterhaltung/leu- te/leute /heidi-klum-und-leni-klum-stress-wegen-dieses-dessous-fotos-83799602.bild.html.

3 „Bei Calzedonia findest Du alle aktuellen Bademode Trends der Sommersaison und kannst alle Blicke auf Dich ziehen.“ Siehe: www.calzedonia.com/de/damen/bikinis_und_bademode. Bedauerlicher Weise wurden die Werbeträger auch Angriffsziel sexualverklemmter Fundamentalisten („Wie wieder Heidi Klum“) besonders auch in türkisch-arabischen Wohngegenden der Großstädte mit Sprühkommentaren in arabischen Schriftzeichen (!), weswegen gerade diese Werbekampagne ihr Werbeziel voll erreicht hat.

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Oben     —       Mural Heidi Klum near Hermannplatz in Berlin

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Fallbeispiele der Dissidenz

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Juni 2023

„Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von         :    Frank Bernhardt / Johannes Schillo

„Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“ (A. Baerbock). Mit dieser krassen Aussage sorgte die deutsche Aussenministerin im Januar für etwas Aufsehen – gilt doch bei dem andauernden Stellvertreterkrieg des Westens gegen die russische Militärmacht nach wie vor als Dogma der deutschen Politik: Wir sind keine Kriegspartei! Als die russische Seite sich über den neuen Klartext beklagte, folgte die Klarstellung aus Berlin. Demnach geht es um die Gesinnung, die für uns und den versammelten Wertewesten zur verbindlichen, nicht hinterfragbaren Norm geworden ist, denn Putin, die Verkörperung des Bösen, hat die Ukraine grundlos angegriffen, so dass wir als die Guten dagegen halten müssen. Wobei die Vertreter der „regelbasierten Weltordnung“ in diesem Moment von ihren eigenen Angriffskriegen nichts mehr wissen wollen…Moralisch gesehen befinden wir uns also eindeutig im Krieg mit Russland. Und es gibt jetzt hierzulande wieder eine Obrigkeit, die keine Parteien und keinen Widerspruch im Volk mehr kennen will und die den entsprechenden Patriotismus einfordert – zur Zeit eben „nur“ als die richtige Gesinnung, da ja der Krieg bisher „from behind“ geführt wird und bislang noch kein deutscher Soldat an dem fürchterlichen Gemetzel auf ukrainischem Boden beteiligt ist (bis auf die Freiwilligen aus dem rechten Umfeld, die dort gegen das Böse kämpfen). Ein „proletarisches Einverständnis“ mit der Herbeiführung der neuen Weltkriegslage ist dabei inbegriffen – von einer Arbeiter- oder Gewerkschaftsbewegung, die sich aus einem internationalistischen Geist den nationalen Kriegsherren entgegenstellt, ist weit und breit nichts zu bemerken.

Bedenken jedweder Art fallen vielmehr unter den Generalverdacht, die politisch erklärte Feindschaft zu Putin zu unterlaufen. Da ist man schnell „Putin-Freund“, vielleicht sogar Wehrkraftzersetzer, hat jedenfalls nichts mehr zu melden, da man nicht umstandslos für das Gute Partei ergreift. So die Kritik der neuen Flugschrift „Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“ von Norbert Wohlfahrt und Johannes Schillo, die Ende Mai beim VSA-Verlag erschienen ist. Parteinahme für den gerechten Krieg, so führt die Schrift aus, ist nicht hinterfragbar, ja selbst ein Hauch von pazifistischer Dissidenz nicht mehr tolerierbar. Im öffentlichen Diskurs ist seit der „Zeitenwende“ vielmehr das Bekenntnis zur antirussischen Linie Zulassungsbedingung. Mit Ablehnung, Distanz oder „Kriegsmüdigkeit“ (Baerbock) hat Schluss zu sein.

Zur Zielsetzung der neuen Publikation hier ein Gespräch zwischen den beiden Gewerkschaftskollegen Frank Bernhardt (GEW) und Johannes Schillo (Verdi), dem Ko-Autor der Publikation.

Fallbeispiele der Dissidenz

Bernhardt: Was zur Zeit an Formierung der Öffentlichkeit und der Meinungsbildung in Deutschland stattfindet, was z.B. heutzutage wissenschaftlich untragbar ist, war ja im Overton-Magazin schon mehrfach Thema. Aber auf Wissenschaft, Medien und Bildungsbetrieb ist das ja nicht beschränkt. So wird etwa der Friedensbewegung des „Hamburger Forums“ der Zugang zu Gewerkschaftsräumen erschwert, sie müssen zukünftig ihr Konzept einreichen; wenn es nicht abgelehnt wird, können sie die Räume zahlungspflichtig buchen. Dann die Meldung vom Frühjahr: Der DGB und Linke marschieren erstmals beim Hamburger Ostermarsch nicht mit (ndr.de, 3.4.23). Ein Jahr zuvor hatte es dazu noch den DGB-Aufruf „Nie wieder Krieg“ gegeben.

Und der Vertreter der „freien Wissenschaft“, der Hamburger Uni-Präsident Prof. Heekeren, versagt auf Anraten des Verfassungsschutzes dem ASTA kurzfristig die Räumlichkeiten für eine internationale Konferenz „Die kapitalistische Moderne herausfordern – wir wollen unsere Welt zurück“, die früher in der Uni stattfinden durfte. Der neue Zeitgeist duldet auch hier keine Kritik!

Du hast dazu ja schon einiges publiziert. Dabei kam auch zur Sprache, dass der legendäre öffentliche Diskurs, der die hiesige Demokratie auszeichnen soll, von vornherein seine Staatsverbundenheit kennt – Kritik ist im Grundsätzlichen nur als konstruktive statthaft – und die damit gegebenen Imperative befolgt, dass so gesehen die Dissidenz einer Gegenöffentlichkeit nichts Neues ist. Was will die Flugschrift, an der Du mitgewirkt hast, dazu im Einzelnen beitragen? Schillo: Zunächst einmal macht sie Fälle namhaft – ähnlich wie die, die Du gerade aus Hamburg genannt hast –, wo es in der Öffentlichkeit zu Ausgrenzung kommt. Da gibt es etwa das Beispiel der Bonner Politik-Professorin Guérot.

Sie hat 2022 zusammen mit einem Wissenschaftler einen Essay über das Versagen Europas angesichts der aktuellen Kriegslage veröffentlicht, worauf eine regelrechte Kampagne gegen sie auf Touren kam, an der sich die Medien, aber auch Universitätskollegen, Studenten und schliesslich die Universitätsleitung beteiligten.

Die Unwissenschaftlichkeit des Essays „Endspiel Europa“ soll darin bestehen – so kann man die Vorwürfe auf den Punkt bringen –, dass er einem alten Europa-Ideal huldigt und nicht dem aktuellen Nato-Narrativ folgt. Mittlerweile hat das Bonner Uni-Rektorat Guérot gekündigt und sie hat sich auf ein Arbeitsgerichtsverfahren eingelassen, bei dem es um die Höhe einer Abfindung geht, weil alles andere wohl ein langwieriger, eher aussichtsloser Kampf um ihre Rehabilitierung gewesen wäre.

Interessant ist hier, dass dieser Akt der Zensur keiner sein soll. Vielmehr wird er als Strafe für unwissenschaftliches Arbeiten dargestellt, da die Politologin in ihren Streitschriften zu Europa (oder vorher zu Demokratiedefiziten der Pandemiebekämpfung) hier und da bei der Berufung auf wissenschaftliche Autoritäten die Anführungszeichen samt Quellenangaben vergessen habe. Schaut man sich die Beispiele an, stellt man schnell fest, dass es um absolute Lappalien geht.

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Innenraum eines Krankentransportwagens der Bundeswehr in Breitenburg

Selbst der namhafte Plagiatsforscher Stefan Weber musste das in seinem Telepolis-Beitrag, der die akademischen Sünden Guérots bekannt machen wollte, zugeben. Es seien auch schon andere Wissenschaftler über Plagiate in ihren Arbeiten gestolpert, räumte er ein, aber es „ist in den seltensten Fällen so, dass Wissenschaftler genuin wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens berufliche Nachteile haben“. Und man merkt dem Mann die Bauchschmerzen an, mit denen er die politische Einflussnahme auf diese – angeblich – rein innerwissenschaftliche Kontroverse registriert. Dazu habe ich ja auch einen Kommentar „Der Fall Guérot II“ beigesteuert.

Bernhardt: Wie ist der aktuelle Stand in dieser Sache? Ist das damit erledigt, geht das so einfach über die Bühne? Schillo: Ende April sollte ein Gütetermin zum Arbeitsgerichtsverfahren stattfinden, der aber zu keiner Einigung führte. Für die Uni ist die Sache klar, Guérot „habe sich während ihrer Dienstzeit an der Universität des Plagiats schuldig gemacht. Die zuständigen Gremien hätten den Sachverhalt geprüft und sähen ihn als erwiesen an“. Der Bonner Richter stellte jedoch fest, „dass es sich nicht um klassische wissenschaftliche, sondern populärwissenschaftliche Werke handele. Die Frage ist nun, inwiefern auch hier die Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens gelten.“ (FAZ, 3.5.23)

Vor dem Arbeitsgericht demonstrierten übrigens zwei Dutzend Studenten und Studentinnen, die der ASTA unter der Parole „Kein Platz für Verschwörungsideologien – Keine Professur für Guérot“ mobilisiert hatte. Wesentlich mehr Personen – zumeist aus der Friedensbewegung – protestierten allerdings gegen die Kampagne der Bonner Uni. Dort soll übrigens im Wintersemester eine Vorlesungsreihe stattfinden, die sich mit dem „Fall“ auseinandersetzt. Man darf gespannt sein, ob und in welcher Form das zustande kommt. Zum aktuellen Stand der Dinge hat sich Guérot jetzt auch in einem Interview bei Telepolis geäussert.

Patriotische Moral

Bernhardt: Solche Zensurmassnahmen sind bisher doch eher Einzelfälle (wie man etwa auch an den Beispielen Krone-Schmalz oder Baab sehen kann). Das soll nun nicht verharmlost werden, nur muss man doch festhalten, dass sich die Experten – ob sie jetzt aus dem Medien- oder dem Wissenschaftsbetrieb kommen – ziemlich einig sind, wenn es um die Gültigkeit des so genannten NATO-Narrativs geht. Von einer grossartigen Spaltung der Öffentlichkeit, von einem Niedermachen minoritärer Meinungen auf breiter Front oder von einer systematischen Praxis staatlicher Eingriffe ist doch bis auf die angesprochen Fälle wenig zu sehen.

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Friedensbewegter Protest ist auch in Gewerkschaftskreisen-Kreisen weiterhin zulässig. Zum Antikriegstag hiess es vom DGB: „Die Waffen müssen endlich schweigen!“ (Aufruf „Für den Frieden“, 1.9.22). Der DGB HH hält zu Themen wie Aufrüstung und Lieferung schwerer Waffen eine „breite und offene Debatte“ für „notwendig“ (Aufruf „Gegen den Krieg“, 24.3.23). In der Bildungsgewerkschaft GEW, z.B. im Landesverband Hamburg, wo ich als Personalrat tätig war und mich weiterhin an Debatten beteilige, war man seit Jahren auf Anti-Kriegskurs. Das alte Motto der GEW „Gegen die Militarisierung des Bildungswesens!“ wurde nicht gecancelt. „Waffen schaffen keinen Frieden“ (gew.de, 28.3.22) – auch mehr davon nicht. Denn „Mehr Waffen bedeuten mehr Blutvergiessen“ (wienerzeitung.at, 17.6.22), so ein Mitglied der ukrainischen Friedensbewegung. Aber es gibt seitdem Nadelstiche, die die Arbeit der Friedensbewegung erschweren bzw. verhindern sollen – mit dem Hinweis z.B., es mangele an Abgrenzung gegenüber den Rechten in der Kriegsfrage.

Im Grundsätzlichen wurden Positionen beibehalten: „Krieg als schulisches Thema gehört in die Hand der dafür ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen, zum Beispiel in der politischen Bildung“ (welt.de, 9.3.22), so A. Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied der GEW Bund. Dazu seien Fachleute in den Schulen vorhanden, um Ängste und Nöte junger Menschen altersangemessen zu besprechen. Gegen die verstärkt erhobene Forderung „Bundeswehr in die Schulen!“ sah auch die GEW die Gefahr, dass die Offiziere letztlich unwillkürlich Werbung für den Soldatenberuf machen. „Durch die Präsenz von Militär an Schulen sollen die Kinder und Eltern an die Normalität des Krieges gewöhnt und die Schüler_innen als neue Soldat_innen geworben werden“, so wurde das Bündnis „Schule ohne Militär“ auf welt.de zitiert.

Schillo: Das stimmt, es ist nicht so, als wären „von oben“ administrativ und repressiv widerspenstige Volksmeinungen auf Linie und Organisationen wie die Interessenvertretungen der Arbeiter, die ja laut DGB-Aufruf die Hauptleidtragenden von Kriegen sind, zur Räson gebracht worden. Ich habe in meinem Text zur proletarischen Einverständniserklärung die Parallele zum Jahr 1914, zum Beginn des Ersten Weltkriegs, gezogen, als sich die Arbeiterbewegung, die ursprünglich mit einem internationalistischen Programm angetreten war, umstandslos zur Nation bekannte.

Mit der von Kanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ ist jetzt in Deutschland auch eine „Gesinnungswende“ erfolgt, die in ihrer raschen, flächendeckenden Umsetzung zwar atemberaubend ist, die aber mit dem Umbruch von damals, als das Zeitalter der Weltkriege begann, nicht zu vergleichen ist. Seit dieser Zeit sind ja die (ehemaligen) Arbeiterparteien oder die Gewerkschaften als nationale Ressource in die Grossmachtkonkurrenz, die ihre Kriegsherren austragen, fest eingebaut. Die patriotische Moral, die auf politische Ansage mit den jeweiligen Freund- und Feindbildern der Nation vertraut gemacht wird, ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Das versuchen wir in unserer Flugschrift zum Thema zu machen, auch mit kritischen Überlegungen dazu, wie überhaupt die moralische Deutung der in- wie ausländischen Konkurrenzlagen funktioniert – und wie sie an der Sache vorbei geht.

Bernhardt: Die Zustimmung zu nationalen Feindbildern kann ich bestätigen. Der DGB Hamburg wendet sich in seinem diesjährigen Aufruf „Gegen den Krieg“ ausdrücklich nur gegen den „Angriffskrieg Russlands“, er beklagt die vielen Opfer auf der ukrainischen Seite, verliert über das verheizte Menschenmaterial auf der anderen Seite kein Wort. Im April folgt der DGB-Aufruf zu den Ostermärschen „Gegen Unterdrückung, Gewalt und Krieg!“. Wie im Aufruf zum Antikriegstag 2022 werden die Kriege weltweit angesprochen und trotz dieser Leitparole nimmt der DGB Partei für den Stellvertreterkrieg des Westens – also für eine Art der Kriegsbeteiligung, die das gegenseitige Abschlachten verlängert, die Milliarden kostet, wobei Deutschland als Hauptsponsor in der EU für die Tötungsmaterialien im Krieg und für den Unterhalt des maroden ukrainischen Staates aufkommt. Dazu gesellen sich die Kosten des Wirtschaftskriegs, der viele Menschen an der „Heimatfront“ durch die Energiekrise, durch die unverschämten Preiserhöhungen in Not bringt. Warum wird der Zusammenhang zwischen dem Krieg der konkurrierenden Staaten und ihren kapitalistischen Ökonomien schlicht ignoriert?

Schillo: Wie gesagt, wenn solche Konflikte aus dem Blickwinkel einer gefestigten patriotischen Moral betrachtet werden, findet eine Verschiebung statt. Dann kann z.B., das greifen wir im Buch am Beispiel der Osteuropaforschung auf, auch das sonst verpönte Schlagwort Imperialismus wieder zu Ehren kommen, nämlich als zusätzliche Charakterisierung der puren Bösartigkeit des Putin‘schen Regimes.

Der Imperialismusbegriff zielt der Sache nach auf die weltweit ausgreifenden kapitalistischen Benutzungs- und Abhängigkeitsverhältnisse, in denen die konkurrierenden Staaten immer wieder mit der Frage konfrontierte werden, ob sie ihre Gegensätze noch aushalten wollen oder zu anderen Mitteln greifen müssen. In der gültigen Weltordnung, die von den USA – nach ihrer eigenen Wahrnehmung: die einzig verbliebene Supermacht – bestimmt wird, ist der Gewalteinsatz zur eigenen Reichtumsmehrung untersagt; in der ökonomischen Konkurrenz sollen die Nationen ihr Mittel suchen.

Wo aber dessen Einsatz zu Erfolgen führt, die die überkommene Hierarchie der Staatenwelt in Frage stellen – siehe den Aufstieg der VR China zur Weltwirtschaftsmacht –, oder wo sich ein (schlimmstenfalls atomar unterlegter) Grossmachtanspruch zu Wort meldet – siehe die Russische Föderation mir ihren eigenen Vorstellungen einer europäischen Sicherheitsordnung –, muss gegen die Störer mit Gewalt vorgegangen werden. Das hat die US-Führungsmacht in endlosen Gemetzeln mal mit, mal ohne ihre NATO-Gefolgschaft, mal mit, mal ohne völkerrechtliche Legitimation durchexerziert. Und dafür ist in Osteuropa nach dem Ende des Ostblock, anknüpfend an den früheren „Rüstungswettlauf“, den Gorbatschow verloren gegeben hatte, eine gigantische NATO-Front aufgebaut und scharf gemacht worden – wobei diese Mal, was natürlich stimmt, der Russe zuerst geschossen hat (wenn man einmal den achtjährigen Bürgerkrieg in der Ukraine seit 2014 beiseite lässt).

Doch soll man deshalb in der Rivalität der Grossmächte Partei ergreifen? In einem Konflikt, der bis zur atomaren Apokalypse eskalieren kann und in dem wie eh und je das Fussvolk der Kapitalstandorte für die Durchsetzung seiner Kriegsherren sein Leben opfern muss? Für Patrioten ist dies eine Konsequenz, die sie zwar erschreckt oder beunruhigt, Einzelne sogar in Dissidenz treibt, die aber im Paket mit drin ist, wenn man in einer rundum freiheitlichen und zur Verteidigung ihrer Werte bereiten Nation leben will (bei Putin soll es natürlich pure Gewaltherrschaft sein, die ihm das Kanonenfutter zur Verfügung stellt). Wir versuchen daher in unserer Flugschrift vor allem dieses bemerkenswerte Gebilde einer patriotischen Moral, das für die meisten Insassen eines nationalen Gewaltzusammenhangs als Selbstverständlichkeit gilt, auf den Prüfstand zu stellen.

Einige Anregungen zu deren Kritik – fussend auf den Grundsatzüberlegungen der VSA-Flugschrift – sind jetzt auch auf der IVA-Website erschienen. Angegriffen werden dort grundsätzlich die moralischen Deutungen, mit denen die Parteigänger einer Konkurrenzgesellschaft ihre Lebensschicksale bewältigen. Sie tun dies, bevor nationale Feindbilder ins Spiel kommen, in der alltäglichen Unterordnung unter einen Rechtszustand, der ihnen die Freiheit der Interessenverfolgung gewährt. Sie überhöhen die Gebote des Staates zu sittlichen Massstäben, deren Befolgung zu allseitiger Harmonie führen müsste – wobei dann erst in einem zweiten Schritt das Ausland oder die Ausländer ins Visier der Menschen guten Willens geraten, wenn diese die bösen Kräfte auf dem Globus dingfest machen.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —        Die Aufklärungsdrohne PD-100 von Prox Dynamics als „Nano UAS“ im Dienst der Spezialkräfte des Heeres.

Author    ; Boevaya mashina          /        Source    :    Own work         /      Date      :      17 August 2019

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2.) von Oben       —     Innenraum eines Krankentransportwagens der Bundeswehr in Breitenburg

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Macht + Gewalt – ohne

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Juni 2023

Die «letzte Generation» und ihre Verfolger

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Heribert Prantl /   

Es ist eine kriminelle Vereinigung, behauptet die Münchner Staatsanwaltschaft. Warum das zwar nicht kriminell, aber falsch ist.

Wäre dies hier das Skript für ein politisches Kabarett, dann würde ich jetzt fragen, ob die Generalstaatsanwaltschaft in München eine kriminelle Vereinigung ist, weil sie die „Letzte Generation“ auf ziemlich abenteuerliche Weise als kriminelle Vereinigung verfolgt. Für solche Kalauer aber ist die Sache zu ernst. Beide Seiten machen Fehler: Die Klimaschützer machen kleine Fehler, weil sie mit ihren Klebeaktionen da und dort die Grenze zur Strafbarkeit überschreiten. Und die Strafverfolger machen grosse Fehler, weil sie auf die Klebeaktionen völlig unverhältnismässig reagieren. Sie treiben die Klimaschützer in eine Ecke, in die sie nicht gehören. Beides ist unklug, beides schadet der jeweiligen Sache, ist also dumm; aber Dummheit ist nicht kriminell.

Polit-populistische Aktionen im juristischen Gewand

Es ist gewiss so: Wer, wie die Klimaschützer, zivilen Widerstand leistet, darf das Strafrecht nicht fürchten; das lehrt die Erfahrung. Wer aber das Strafrecht nutzt, um die Widerständler pauschal zu kriminalisieren und sich populistisch zu profilieren, der hat den Wert der Demonstrationsfreiheit nicht verstanden; das lehrt das Verfassungsrecht. Darf ich Sie an dieser Stelle fragen, worüber Sie sich mehr aufregen: Über die nervigen Protestaktionen der Klimaschützer – oder über die Einschüchterungsaktionen der Münchner Generalstaatsanwaltschaft gegen die „Letzte Generation“? Die Münchner Strafverfolger beschuldigen diese Klimaschützer als „kriminelle Vereinigung“. Kriminelle Vereinigungen sind, so steht es im Strafgesetz, Vereinigungen „deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Straftaten zu begehen“. In ganz Deutschland haben die Strafverfolger mit diesem seltsamen Vorwurf Razzien veranstaltet, Webseiten gesperrt und Konten beschlagnahmt, sie haben einen sogenannten Vermögensarrest durchgeführt, also die Gelder eingefroren – gerade so, als handele es sich bei den Klimaschützern um geldwaschende russische Oligarchen, die auf der EU-Sanktionsliste stehen. War das rechtmässig? War das eine polit-populistische Aktion im juristischen Gewand?

2017-01-09-Heribert Prantl -hart aber fair-9637.jpg

So ein Verdacht liegt sehr nahe: Es handelt sich um einen juristisch verbrämten Populismus. Unter anderem und besonders lautstark hatte die CSU nach strafrechtlichen Massnahmen gerufen – und: voilà! Die Staatsanwaltschaften in Deutschland sind nicht unabhängig von den Regierungen, sondern weisungsgebunden, sie sind nicht Judikative, sie sind Exekutive.  Daran hat sich nichts geändert, obwohl der Europäische Gerichtshof die politische Weisungsgebundenheit der deutschen Staatsanwaltschaft schon vor Jahren massiv kritisierte. Es ist so: Sie verdankt ihr Leben „dem Bedürfnis der Regierung, sich jederzeit Einfluss auf die Strafrechtspflege zu sichern“.  So schrieb das die Juristenzeitung schon zur Weimarer Zeit. Das ist bis heute so geblieben. Die einschlägigen Fälle sind selten, aber dann brisant – so wie gegen die Klimaschützer. Davon handelt mein heutiger SZ-Plus-Text.

Ich fürchte, es ist so: Die Gegner der Klimaschützer radikalisieren sich selbst in einer Weise, wie sie es den Klimaschützern vorwerfen.

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Oben      —     Blockade der A100 durch den Aufstand der Letzten Generation, Berlin, 29.06.2022

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Juni 2023

Den neuen heißen Scheiß verteidigen – das funkt

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Die Otto-Brenner-Stiftung (OBS) versteht sich ja als so eine Art „STRG_F“ des Medienbetriebs. Ihre Studien zu Redaktionen, medialen Spielarten und der Welt der Öffentlichkeit sind eintauchend und aufdeckend. Nah und journalistisch. Ehrlich und empathisch. Von daher ist es eine lustige Quadratur des Kreises, dass sich die gewerkschaftsnahe Truppe jetzt mit „STRG_F“ beschäftigt hat.

Genauer gesagt geht es um die teilinvestigativen Reporter*innen- und Presenterformate bei funk, also auch um „reporter“, „follow me.reports“ und „Die Frage“. Sie haben Erfolg, heimsen Grimme- und andere Preise ein und sind – schlimm. Das suggeriert jedenfalls der schön zugespitzte Studientitel „Journalistische Grenzgänger. Wie die Reportage-Formate von funk Wirklichkeit konstruieren“. Wie immer im Leben muss aber nichts so heiß gegessen werden, wie es gekocht oder gepressemeldet wird. Denn in Wirklichkeit ist die Studie des Journalistikprofessors Janis Brinkmann von der für innovativ-praxisnahe Ansätze bekannten Hochschule Mittweida (Offenlegung: Wir kennen uns und ich find die gut) eine Verteidigung der funk-Formate.

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Denn funk wird ja vorgeworfen, es verschmutze „die mentale Psyche und Gesundheit“ (Wolfgang M. Schmitt) bzw. dort würde „Vielfalt zur Einfalt“ verdichtet (Neue Zürcher Zeitung). Das ist allerdings das gleiche Missverständnis, das schon ein gewisser Sokratoteles mit der Jugend hatte. funk hat eine andere Zielgruppe, genauer gesagt junge Menschen. Und funk, bzw. die von Brinkmann akribisch untersuchten Formate, sind junger Journalismus bzw. „New Journalism“, wie es in der Studie heißt.

Der bricht nun „mit vielen klassischen journalistischen Normen und setzt statt auf nüchterne Information radikal auf Subjektivität, Personalisierung und Emotionen“, so Brinkmann. „Den neuen heißen Scheiß verteidigen, weil die Formate eigentlich durch das Prüfregister gefallen sind“, meint die Mitbewohnerin. „Aber auch nur, weil das Prüfregister veraltet klassisch journalistisch, das Neue aber leider geil ist; und einer muss die Brücke wohl schlagen.“

Quelle         :       TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Wahlen in der Türkei

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Juni 2023

Urnengang im Kartenhaus

Ein Debattenbeitrag von Cem-Odos Güler

Erdoğan hat ein fragiles Finanzsystem mit starken Abhängigkeiten geschaffen. Die wirtschaftliche Dauerkrise erhöht auch den Druck auf die Demokratie.

Recep Tayyip Erdoğan dürfte in einem Punkt richtiger liegen, als er selbst denken mag. Als der türkische Präsident in der Nacht zu Montag seinen Wahlsieg verkündete, sagte er, seine Mitbürger hätten bei der Abstimmung „ihren Willen an den Urnen verteidigt“. Immer wieder hat er in seiner Kampagne den demokratischen Willen der Türkei betont, und man muss sagen, dass er recht behalten hat – entgegen seiner eigenen Politik, die Opposition im Land systematisch zu schwächen.

Es scheint paradox: In der Türkei wählt eine Mehrheit erneut Erdoğan, einen religiös-nationalistischen Präsidenten, der das Land zuletzt in eine massive Wirtschaftskrise geführt hat. Der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu kämpft sich auf 48 Prozent der Stimmen. Das ist angesichts der geschwächten Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und einer massiven Denunziationskampagne gegen ihn ein Erfolg.

Genau hierin zeigt sich auch der demokratische Wille in der Türkei, den Erdoğan eigentlich meinen sollte: Trotz ihrer systematischen Benachteiligung ist die Opposition der Regierung bei einer Wahl so gefährlich geworden wie in den vergangenen 20 Jahren nicht. Das ist angesichts der hohen Erwartungen, die durch Prognosen über einen Sieg der Opposition beflügelt wurden, zwar ein schwacher Trost für die Menschen in der Türkei. Doch die demokratischen Institu­tio­nen im Land haben sich als bemerkenswert resilient erwiesen.

Das zeigt sich an der hohen Wahlbeteiligung mit über 86 Prozent am 14. Mai und noch 84 Prozent bei der Stichwahl am Sonntag. Die Be­ob­ach­te­r*in­nen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bezeichneten die Wahlen als „gut organisiert“. Kritik äußerte die Organisation dagegen wiederholt an den ungleichen Wettbewerbsbedingungen und „einem ungerechtfertigten Vorteil des Amtsinhabers“ etwa wegen einer klaren Benachteiligung der Opposition in den Medien des Landes und „den anhaltenden Beschränkungen der Meinungsfreiheit“.

Wahlbetrug unwahrscheinlich

Trotzdem haben auch die Oppositionsparteien bis zuletzt keinen Einspruch gegen das Wahl­ergebnis erhoben. Die CHP von Kemal Kılıçdaroğlu hatte nach eigenen Angaben anderthalb Jahre an der Wahlvorbereitung gearbeitet und dabei auch die parteiinterne Wahlbeobachtungsmission massiv verstärkt. Im Vorfeld der Stichwahlen bezeichnete die CHP ihre Anstrengungen diesbezüglich als „sehr erfolgreich“. Man muss davon ausgehen, dass die Türkei wirklich so abgestimmt hat, wie es das Ergebnis zeigt.

Der Alltag in der Türkei wird derzeit von einer massiven Wirtschaftskrise bestimmt, für deren Fortgang viele Menschen im Land Erdoğan verantwortlich machen, darunter durchaus auch seine eigenen Wähler*innen. Nach seiner Wiederwahl verlor die türkische Lira erneut an Kraft: Der Wechselkurs zum Euro liegt bei inzwischen etwa 22 zu 1, noch 2017 waren 4 Lira etwa 1 Euro wert.

Wer Schulden im Ausland hat, und das trifft auf die privatwirtschaftlichen Unternehmen in der Türkei in großem Maße zu, muss diese Verbindlichkeiten immer teurer bezahlen. Mit schuldenfinanzierten Ausgaben wird die Wirtschaftsleistung weiter aufrechterhalten. Erdoğan übt dafür auch Druck auf die Zentralbank aus, damit sie den Leitzins niedrig hält und Unternehmen günstige Kredite aufnehmen können.

Die Auswirkungen dieser Geldpolitik sind in der Türkei überall zu spüren: an dem Run auf Sachwerte, an den massiven Preissteigerungen bei Immobilien, an den stark gestiegenen Lebensmittelpreisen. Die Inflation vernichtet die Kaufkraft der Menschen, dennoch wird die Konjunktur des Landes durch ein massives Kreditprogramm weiter aufgeheizt. Die National-Religiösen haben in der Türkei ein fragiles Kartenhaus geschaffen, das bei dem leisesten Stoß in sich zusammenzufallen droht.

Erdoğan hat sich unentbehrlich gemacht

Was passiert, wenn die Nachfrage vollends einbricht? Was passiert, wenn die Vereinigten Arabischen Emirate als einer der größten Gläubiger der Türkei ihre Kreditvergabe überdenken? Erdoğan hat sich in dieser fragilen Wirtschaftsordnung unentbehrlich gemacht: Er verteilt die auf Pump finanzierten Konjunkturgewinne in Form von Mindestlohnsteigerungen und Rentenerhöhungen. Diese Geldspritzen verpuffen wegen der Inflationsrate zwar direkt wieder, schaffen aber kurzzeitige Linderungen, die besonders vor den Wahlen auf Zuspruch stoßen.

Quelle      :         TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —       Recep Tayyip Erdoğan, Angela Merkel, Rita Süssmuth, Halil Akkanat

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Unten     —   https://twitter.com/Smiley007de

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte   

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Juni 2023

Habeck, Discounter und Klimaaktivismus: – Letzte Generation Aldi

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Silke Mertins

Der Discounter hat die Lösung zum schnellen Energiesparen für jeden Haushalt: Ein Balkonkraftwerk im Montageset. Kann das die Wogen in der Ampel glätten?

Die Minderjährige, die zu meiner Hausgemeinschaft gehört, findet mich distanzlos. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt. Man kann schließlich nicht jedes Mal fragen, bevor man mal schnell eine kleine Umarmung braucht. So ging es auch dem Mann, der sich diese Woche in Frankfurt unbemerkt in den Konvoi des Bundeskanzlers einreihte und Olaf Scholz nach dem Aussteigen am Flughafen „überraschend innig“ umarmte, wie es aus Regierungskreisen hieß.

Überraschend ist der Vorfall gleich in mehrfacher Hinsicht. Erstens: Jemand möchte Olaf Scholz umarmen. Zweitens: Olaf Scholz wird tatsächlich noch erkannt, obwohl er sich beim Regieren vorzugsweise unsichtbar macht. Drittens: Typisch deutsch wäre unter Männern eigentlich ein herzlicher Händedruck oder dieses eine Umarmung andeutende Schultergeklopfe gewesen. Aber wer weiß heute schon noch, was typisch deutsch ist?

Neulich sagte mir ein junger Syrer, typisch deutsch sei für ihn, dass die Züge nie pünktlich seien. Er will jetzt für ein Auto sparen. Innige Umarmungen jedenfalls finden in der Bundesregierung nur noch in „Game of Thrones“-Manier statt: um das Messer leichter in den Brustkorb des anderen rammen zu können. Bei den Liberalen sitzt die Klinge besonders locker. Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck möchte eigentlich Finanzminister Christian Lindner nicht einmal mehr mit spitzen Fingern die Hand geben.

Könnte ja sein, dass der FDP-Mann ihn blitzschnell an sich zieht für eine möglicherweise unangenehme Umarmung. Doch Lindner und seine Getreuen haben auch andere Methoden. Sie müssen als Jugendliche am selben Kurs teilgenommen haben wie die Minderjährige: „Zehn Wege, Absprachen zu unterlaufen“. Man kann zum Beispiel durch endlose Fragen die Dinge in die Länge ziehen.

Mit Aldi verschwägert?

Muss etwa der Hund auch dann ausgeführt werden, wenn man gerade vom Leben sehr erschöpft ist, ein sehr wichtiges Telefongespräch mit einem sehr netten Jungen führt oder man nicht weiß, was man anziehen soll? In Habecks Fall ziehen die Liberalen den Prozess mit über hundert Fragen zum geplanten Gebäudeenergiegesetz in die Länge. Rechtfertigen neue Umstände nicht auch einen Wortbruch?

Wie hätten die Liberalen denn wissen sollen, dass der Klimawandel tatsächlich konkretes Handeln erfordert und wir deshalb jetzt alle viel mehr über Wärmepumpen wissen, als wir jemals wissen wollten? CO2-reduzierte Heizmethoden werden aller Voraussicht nach so stark subventioniert, dass sie kaum teurer sind als konventionelle Heizungsanlagen.

Aber hey, das ist unglaublich schwer zu verstehen. Und überhaupt: Wo steht eigentlich, dass man Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einhalten muss? Es hat 2021 festgelegt, dass das bisherige Klimaschutzgesetz nicht weit genug geht und die Freiheit der jungen Generation gefährdet. Aber die FDP hat da noch so viele Fragen an das Verfassungsgericht, mindestens hundert.

Außerdem stellt sich die Frage, ob einer von Habecks Staatssekretären oder er selbst vielleicht mit dem Aldi-Konzern verschwägert oder durch Trauzeugerei verbunden ist. Aldi Nord bietet nämlich ab Juni ein „Balkonkraftwerk“ zum Discountpreis an. Letzte Generation Aldi. Gut, dass Christian Lindner nicht bei Discountern einkauft und die woke Unterwanderung der Wirtschaft mit Technologien, die irgendwie nicht technologieoffen sind, nur aus der Ferne mitansehen muss.

Quelle        :       TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Mit Mut: „Letzte Generation“

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Mai 2023

Solidarität mit der Letzten Generation

Wo denn sonst könnte ein „Demokratisch“ sich nennender Staat, schöner seine politische Unfähigkeit unter Beweis stellen ? Er hat doch nicht einmal seine eigene Gewalt unter Kontrolle.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Hans Christoph Stoodt

Die Razzien gegen die Aktivisten von „Letzte Generation“ zeigen einmal mehr, wo sich Staat und Justiz derzeit positionieren.

Razzien gibt es nicht wegen des sehr wahrscheinlichen Bruchs der Verfassung und ihres Artikels 20a GG im Rahmen der derzeitigen Verkehrs- oder Energiepolitik.

Kein Manager irgendeiner der betrügerischen Autofirmen, die im Zusammenhang der „Dieselgate“-Affäre nicht etwa, wie es verharmlosend hieß, „geschummelt“, sondern wissentlich und mit voller Profitabsicht Menschen und Mitwelt massiv geschädigt haben, wurde in der heute zu erlebenden Art und Weise drangsaliert, Razzien gibt es auch nicht gegen die RWE-Manager, die Landesregierungen von NRW und anderen Bundesländern, die ebenfalls wissentlich für das Profitinteresse großer Energiekonzerne riesige und nicht wieder gut zu machende Schäden angerichtet haben, auch nicht gegen die Autobahn-GmBH, die DEGES und die schwarzgrüne Landesregierung von Hessen, die beim Bau der A49 mitverantwortlich für die nun zu befürchtende Trinkwasservergiftung mit krebserzeugenden Rückständen der Sprengstoffproduktion bei Stadtallendorf für die frühere Nazi-Wehrmacht ist, und von der sie seit Jahren wissen konnten.

Nein. Razzien gibt es gegen Menschen, die mit fast schon religiösem und oft genug auch verzweilfeltem Eifer die Gewaltfreiheit ihrer Aktionen Zivilen Ungehorsams betonen und penibel praktizieren, auch wenn sie von wütenden Autofahrer:innen getreten, geschlagen, beschimpft, bespuckt, angezeigt wurden. Solch ein Verhalten soll den Tatbestand der Bildung einer „Kriminellen Vereinigung“ erfüllen.

Die Flut der Anzeigen von in ihrer Mobilitäts-Freiheit sich eingeschränkt fühlenden Büger:innen hat nun, so hört man es aus München, zu den heutigen Razzien gegen „Letzte Generation“ geführt.
Gegen sie wird als mögliche „kriminelle Vereinigung“ ermittelt.

Das ist bodenlos, absurd, das ist staatliche Gewalt. Das ist zutiefst irrational – denn kein Milligramm CO2 weniger wird durch diese Aktion in die Atmosphäre gegast, nichts ändert sich in der Sache, um die es geht, zum Besseren. Das ist die in der Klimafrage in Wahrheit hilflos mit ihren Machtmitteln fuchtelnde Demonstration eines um sich schlagenden Staats, der diejenigen bestraft, die ihn, leider wohl allzu illusionär, an seine Amtspflichten erinnern.

File:Letzte Generation Friedlicher Protestmarsch 04 2023 Berlin.jpg

Ich möchte, anstatt vieles andere zu zitieren, einfach nur daran erinnern, daß der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau, Pfarrer Dr. Volker Jung, vor nicht allzulanger Zeit seine Solidarität mit „letzte generation“ bekundet und sie ausdrücklich gegen Kriminalisierungsversuche in Schutz genommen hat (https://www.ekhn.de/aktuell/detailmagazin/news/tempolimit-kirchenpraesident-drueckt-fuers-klima-auf-die-bremse.html).

Es bedarf schon eines CSU-Verständnisses von Christentum und Schöpfung, staatliche Machtmittel im heute zu erlebenden Ausmaß gegen Klimagerechtigkeitsaktivist:innen in Marsch zu setzen.

Alle, die die Hoffnung auf eine Welt nicht aufgegeben haben, in der soziale Gerechtigkeit, Frieden und ein rationaler, zukunftsfähiger Umgang mit den natürlichen Grundlagen der menschlichen Zivilisation als Möglichkeit in Blick und Reichweite bleiben, sind aufgerufen, sich lautstark und deutlich mit „Letzte Generation“ zu solidarisieren – völlig gleichgültig, ob man mit dieser oder jener Aktion der Gruppe voll und ganz einverstanden ist.

Urheberrecht
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Oben       —       Caris und Solvig, zwei Mütter vom Aufstand der Letzten Generation, haben sich im Naturkundemuseum festgeklebt. Caris hat einen Sohn und Solvig vier Kinder. Hier löst die Polizei den Kleber. Ein Knochen des Sauriers, ein Imitat, ist abgebrochen. Berlin, 30.10.22

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Kolumne-La dolce Vita

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Mai 2023

Kümmert euch um das Problem selbst!

Aber Pollitiker haben noch nicht einmal das gelernt und sind auf ihre Knüppelbarden angewiesen.

Von    :    Amina Aziz

Debatte über Rassismus in der Polizei. – Nach der Kritik der Dozentin Bahar Aslan am Rassismus in der Polizei diskutieren alle über die Art der Diskussion – doch viel zu selten über die Sache.

Als Horst Seehofer vor zwei Jahren Hengameh Yaghoobifarah mit einer Anzeige gedroht hat, habe ich ihm Yaghoobifarahs Roman „Ministerium der Träume“ geschickt. Es war unfassbar für mich, dass ein deutscher Innenminister so gegen ihm unliebsame Jour­na­lis­t*in­nen vorgehen will.

Jetzt wurde mal wieder durch eine rassifizierte Person eine Polizeidebatte ausgelöst. Bahar Aslan hat als Dozentin für interkulturelle Kompetenz bei der Polizei in einem Tweet vom „braunen Dreck bei den Sicherheitsbehörden“ gesprochen und ist ihren Job los. Dagegen klagt sie. Aus Solidarität mit ihr haben Hunderte einen offenen Brief unterzeichnet.

Während es in anderen Ländern völlig normal ist, auf Polizei und Politik zu schimpfen, verzeiht man in Deutschland so eine Wortwahl nicht. Der Ton macht die Musik und ist bisweilen wichtiger als das Anliegen. Die Anfeindungen gegen Aslan sind nur ein Beispiel für eine intolerante Rechte, die alles noch so Banale zum Anlass nimmt, ihren Rassismus so auszuleben, dass migrantische Personen gecancelt werden und eine Öffentlichkeit glauben gemacht wird, dass so eine Aussage tatsächlich schlimm sei.

Die Debatte, die das entfachte, ist gesellschaftspolitisch und intellektuell armselig. Das liegt auch an dem offenen Brief. Darin wird sich von der Wortwahl Aslans distanziert. Dieser Wortwahl stehen die im Brief selbst erwähnten Beamten gegenüber, die Nazis sind, aber nicht beleidigt werden sollen. Wo kämen wir da hin, Nazis zu beleidigen?

Der Streit um den Knochen?

Der Brief beginnt mit dem Satz: „Wir stehen hinter der Polizei.“ Es ist erschreckend, wie viele Menschen diese Aussage unterzeichnet haben, als ob es der einzige Weg ist, Solidarität mit Aslan zu äußern. Es gibt keinen Grund, hinter einer Staatsgewalt zu stehen.

Als seien migrantische Cops cooler

In Brief und Debatte werden auch weder die Opfer von Polizeigewalt erwähnt, noch problematisiert man Antirasissmus-Workshops bei der Polizei. Als ob es eine rassimussensible Polizei geben könnte und migrantische Cops cooler wären.

Der Brief zeigt, dass die Kritik an der Polizei, die seit dem Mord an George Floyd und der Debatte mit Seehofer geäußert wurde, in der Breite nicht angekommen ist.

Stattdessen wird über die Art und Weise diskutiert, wie man Kritik äußern sollte. Als wäre dieses Land Herr von Knigge persönlich und nicht eins, über dessen Bevölkerung es Studien zu ihrem autoritären Charakter gibt.

Quelle      :    TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben     —    Kostüm von Danilo Donati für „Il Casanova“, Film von Federico Fellini en 1976, Schauspieler Donald Sutherland. – Anita Ekberg – Giulietta Massina et Marcello Mastroianni / Kostüme, Accessoires, Dessins, Dekore, Scénarios, Fotografien, Montage, Postproduktion.

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DIE * WOCHE

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Mai 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

BVB, Verfassungsschutz und Netflix:Vaterländische Flatulenz.Nemand fragt, wer künftig Scholz umarmt. Erdbeeren haben mehr Vitamin C als Orangen. Und dann wären da noch die Borussen.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Die 96. Minute im Westfalenstadion.

Und was wird besser in dieser?

Wir können schweigen.

Unser Inlandsgeheimdienst nennt sich Verfassungsschutz. Wie könnten wir Personenschützer nennen, die dafür verantwortlich sind, dass sich in Frankfurt ein Autofahrer mit seinem Privatwagen dem Konvoi von Bundeskanzler Olaf Scholz anschließen und diesen auf dem Rollfeld umarmen konnte?

Tendenziell arbeitslos. Die Behördenchefs bis rauf zur Innenministerin kündigen Konsequenzen an, also bei der Bundespolizei, zuständig für den Flughafen, und beim BKA, zuständig für die Bodyguards. Irgendwer hat nicht in den Rückspiegel geschaut, jemand anderes die Nummernschilder nicht kontrolliert. Aber niemand fragt, wer künftig Scholz umarmt und ihm einen guten Tag wünscht. Traurig.

Account-Teilen wird teurer. Netflix will seine Umsatzeinbrüche mit Zusatzkosten für Nut­ze­r*in­nen ausgleichen. Gehen Sie da mit?

Klassiker. Der Dealer gibt den ersten Schuss umsonst, und hängt man dran, wird’s teuer. Interessant, dass ein Standard-Abo plus 1 Gast haarscharf bei der öffentlich-rechtlichen Haushaltsgebühr landet, ein komfortableres Angebot deutlich drüber. Klar, Netflix ist kein Zwang, doch was alles gegen die ÖR-Gebühr polemisiert wird, läuft in diesem Vergleich schwungvoll ins Leere. Fernsehen kostet, Punkt. In den frühen TV-Jahren rüstete man sich mit Bier und Kartoffelsalat, um Nachbarn zu überfallen, die bereits ein Empfangsgerät hatten. Das hatte eine sehr vorübergehende soziale Wirkung. Mein Schwager könnte damit handeln inzwischen.

CDU und CSU möchten ein „Bundesprogramm Patriotismus“ einführen, das die Sichtbarkeit nationaler Symbole im öffentlichen Raum und den 3. Oktober als „verbindenden nationalen Erlebnismoment“ stärken soll. Ein Ziel: das „Integrationspotential“ von Patriotismus nutzen. Kann das funktionieren?

Ein auch in dieser Höhe verdientes 3 zu 0 gegen England; ein ausnahmsweise mal authentischer deutscher Beitrag zum ESC und ein paar pünktliche ICEs: Das täte mehr Wirkung als der 60er-Jahre-Souvenirshop von Friedrich Merz. Kohls 3. Oktober wie auch der zufällige 23. Mai als Verfassungstag sind nicht durchblutet, ein deutscher Schicksalstag wäre eher der 9. November. Kernsatz der vaterländischen Flatulenz ist die Warnung, das schlaaandige Potenzial „keinesfalls den gesellschaftlichen Rändern zu überlassen“. Hinterm patriotischen Schaum dräut Angst vor AfD und Linksnationalen wie Wagenknecht. Patriotismus entsteht, wenn es so okay läuft, dass man keinen braucht.

Ist es Ihnen noch wichtig zu wissen, wer nun die Nord-Stream-Gaspipeline hat explodieren lassen?

Ja, wegen des Schwejk-Faktors. „Nach dem Krieg um halb sechs“ treffen sich alle Überlebenden im Wirtshaus und finden, Nord Stream war eigentlich eine gute Idee. Geboren in der Ära Jelzin, dessen knallkorrupte Oligarchie auch von den USA durchgefüttert wurde, auch mit klarem Blick auf gute Geschäfte mit russischem Gas und Öl. Nach Putin mag das dann wieder so sein. Regime-Change in Moskau ist ein Ziel der aktuellen Choreo, und ob nun westliche, russische, ukrainische Täter es waren: Es wird eine fein absurde Pointe werden, wenn es je rauskommt. So schimpft der Rohrspatz.

Orangensaft wird immer teurer. Grund dafür sind schlechte Ernten in Brasilien, wo 90 Prozent der Orangen für Säfte angebaut werden. Auf welches Produkt auf O-Saft-Basis können Sie diesen Sommer verzichten?

Quelle        :         TAZ-online        >>>>>      weiterlesen

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Die ungleichen Partner

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Mai 2023

Der Krieg hat China und Russland zusammenrücken lassen.

VON    :       SUSANNE WEIGELIN-SCHWIEDRZIK

Doch unter der Oberfläche zeigen sich grundverschiedene Weltbilder. Europa sollte die strategischen Chancen nutzen. In der Volksrepublik China wird interessengeleitet entschieden. Radikale Kehrtwendungen sind jederzeit möglich.

Am 10. und 11. Mai 2023 fanden in Wien unter strenger Geheimhaltung Gespräche zwischen dem amerikanischen Sicherheitsberater Jake Sullivan und dem für internationale Fragen zuständigen Mitglied des Politbüros der KP Chinas, Wang Yi, statt. Sullivan und Wang Yi redeten an diesen beiden Tagen insgesamt über acht Stunden miteinander. Chinesischen Berichten zufolge hat Wang Yi das Angebot wiederholt, ein Entgleisen der Konkurrenz zwischen den beiden größten Wirtschaftsmächten in einen offenen Konflikt zu vermeiden – anknüpfend an die zwischen Xi Jinping und Präsident Biden getroffenen Vereinbarungen in Bali.

Seit dem Zwischenfall um den „Spionageballon“ im Februar 2023 waren die Gesprächskanäle zwischen den USA und der Volksrepublik China eingefroren. Die chinesische Seite betrachtete den Abschuss des Ballons als völlig unangemessen: Er zeige, dass Washington in einer Krisensituation nicht bereit sei, mit China einen Weg zu beschreiten, der rational, angemessen und lösungsorientiert sei. Mehrere Versuche der amerikanischen Seite, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, scheiterten, bis schließlich Anfang Mai der amerikanische Botschafter in Peking von Außenminister Qin Gang empfangen wurde.

Peking lässt Washington zappeln, denn in Peking meint man zu wissen, warum US-Außenminister Antony Blinken so dringend mit der chinesischen Seite verhandeln möchte: China soll helfen, die große Verlegenheit, in der die Biden-Regierung steckt, zumindest abzuschwächen, auf keinen Fall aber zu verschärfen. Es ist die lodernde Finanzkrise in den USA und – damit verbunden – das schwindende internationale Vertrauen in den US-Dollar als Leitwährung.

In Peking weiß man, dass man hier einen wichtigen Hebel in der Hand hält. Wenn man sich nur genügend Zeit lässt, werden die USA nicht anders können, als ihre Politik gegenüber China zu ändern. Die Tatsache, dass seit geraumer Zeit allenthalben US-amerikanische Staatsanleihen verkauft werden, bereitet der Regierung Biden erhebliche Probleme und erschüttert das amerikanische Finanzsystem. Sollte China aus seinen immer noch großen Beständen weiter amerikanische Staatsanleihen verkaufen und seine Dollarreserven schneller als bisher abstoßen, würde dies die Krise in den USA erheblich verschärfen und gleichzeitig die schwelende Vertrauenskrise gegenüber dem Dollar als internationale Leitwährung vertiefen. Andersherum würde ein Verzicht auf weitere Veräußerungen von US-Staatsanleihen oder der Ankauf weiterer Staatsanleihen die Situation in den USA entspannen. Blinken wollte deshalb bereits im Februar nach China reisen, aber seit dem Abschuss des chinesischen Ballons klopft er vergeblich an die Türen des chinesischen Außenministeriums.

File:The President of Russia arrived in China on a state visit. 02.jpg

In der Zwischenzeit hat sich Peking an Moskau angenähert. Chinas Staatsführung sieht sich offenbar gezwungen, von der Wunschvorstellung einer einvernehmlichen Lösung mit den USA, ja einer erhofften geteilten Verantwortung bei der Führung der Welt Abstand zu nehmen. Die logische Konsequenz waren Xi Jinpings Reise nach Moskau und seine offen bekundete Freundschaft mit Wladimir Putin, der sich als Bewunderer des chinesischen Entwicklungsmodells bereitwillig den wirtschaftlichen Plänen öffnete, die Xi Jinping im Gepäck hatte.

China fühlt sich vom Westen, insbesondere von den USA, bedroht und bereitet sich auf eine früher oder später einsetzende – und von beiden Seiten betriebene – Abkoppelung seiner Wirtschaft vom Westen vor. Die vielen Projekte, die im Zuge der „Neuen Seidenstraße“ entstanden sind, haben Chinas Einfluss auf den Globalen Süden vermehrt, aber wirtschaftlich nur bedingt einen positiven Effekt gehabt. Nun stellt man sich in Peking vor, dass Russland nicht nur viele der Rohstoffe liefern wird, die man für die chinesische Wirtschaft benötigt. China kann sich auch als Modernisierungsmotor in Russland betätigen. So, wie das Engagement der europäischen, japanischen und amerikanischen Wirtschaft seinerzeit nicht nur China, sondern auch den jeweiligen Ländern genutzt hat, so soll Chinas Engagement für die Modernisierung Russlands der chinesischen Wirtschaft einen neuen Wachstumsschub ermöglichen.

Chinas neue Allianz mit Russland hat also nichts mit ideologischer Übereinstimmung zu tun. Ganz im Gegenteil zu dem, was man in Brüssel und Berlin wertegeleitete Außenpolitik nennt, wird in China interessengeleitet entschieden. Radikale Kehrtwendungen sind jederzeit möglich. Chinas Eintreten dafür, dass der Ukrainekrieg so schnell wie möglich endet, ist auch in diesem Sinne zu verstehen. Sein sogenannter Friedensplan ist deshalb auch eine Interessenbekundung: Nur wenn der Krieg baldmöglichst endet, kann China damit beginnen, seine Modernisierungspläne für Russland umzusetzen.

Auch befürchtet es bei einem längeren Krieg, dass die bisherige Resilienz des wirtschaftlichen und politischen Systems in Russland ausgelaugt wird und Russland womöglich in eine Systemkrise hineinschlittert. Diese wäre für China höchst bedrohlich, würde doch ein mögliches Auseinanderbrechen Russlands dem Westen die Möglichkeit eröffnen, durch seinen Einfluss auf die dann eventuell entstehenden Staaten in der russischen Peripherie bis an die chinesische Nordgrenze vorzustoßen. Xi Jinping hat seit dem letzten KP-Parteitag wiederholt Reden gehalten, in denen er von der „Einkreisung“ Chinas durch den Westen gesprochen hat: ein Horrorszenario für die chinesische Führung, die in Xinjiang, Tibet, Hongkong und Taiwan Destabilisierungsversuche des Westens zu erkennen meint. Aus chinesischer Sicht ist es also dringend geboten, Russland so weit zu unterstützen, dass es nicht auseinanderbricht.

Aber klar ist: Strategisch sind Russland und China nur bedingt auf einer Linie. Sie sind sich einig in ihrer Gegnerschaft zu den USA und ihrer Forderung nach einer sogenannten Demokratisierung des Systems der internationalen Beziehungen. In der Frage der zukünftigen Weltordnung sprechen beide von „Multipolarität“. Doch zeigt sich, dass ihre Vorgangsweise nicht wirklich abgestimmt ist. Während sich Chinas KP die Führung in der Welt am liebsten mit den USA teilen würde – und die wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen so weit wie möglich aufrechterhalten möchte –, meldet Wladimir Putin mit dem Angriff auf die Ukraine den Anspruch Russlands an, als Dritter im Bunde Weltmacht zu sein.

Putin macht immer wieder deutlich, dass man die Weltordnung grundsätzlich infrage stellen muss. Er agiert als klassischer Revisionist und betont stärker als Xi Jinping die Notwendigkeit der Neuordnung der Welt im Sinne der Multipolarität. Auch an der Frage der Stationierung von Atomwaffen gibt es deutlich Unterschiede in der Haltung Pekings und Moskaus. Während Xi Jinping bei seinem letzten Besuch in Moskau meinte, sich mit Putin darauf geeinigt zu haben, dass keinerlei Nuklearwaffen außerhalb des jeweils eigenen Landes stationiert werden dürften, veranlasste Putin einen Tag nach der Abreise Xis, dass auf dem Boden von Belarus ein Raketensystem stationiert werde, das mit Nuklearwaffen bestückt werden kann.

Anders sieht das Kalkül der politischen Führung Chinas aus. Sie sieht die Möglichkeit und Notwendigkeit, das System der internationalen Beziehungen schrittweise von innen her umzugestalten. Dabei stört Russlands revisionistischer Eifer, und der Krieg in der Ukraine hat in diesem Sinne China einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Chinas schöne neue Welt ist eine Welt, in der die USA China als Weltmacht auf Augenhöhe anerkennen und sich die Welt mit China teilen. Der Westpazifik wird von China kontrolliert und damit der gesamte Warenverkehr zwischen Asien, dem Nahen und Mittleren Osten sowie Europa. Den Ostpazifik dürfen die USA beherrschen. In allen anderen Teilen der Welt gibt es in diesem Szenario lebhafte Konkurrenz, die von den beiden Supermächten so weit kontrolliert werden muss, dass diese nicht in eine kriegerische Auseinandersetzung ausartet. In dieser Zukunftsvision hat Russland keine Weltmachtfunktion. Es wird in den zweiten Rang eingeordnet – dort, wo man auch Europa, Japan und Indien sieht.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —       After Russian-Chinese talks

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Unten      —       Председателем КНР Си Цзиньпином.

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Mai 2023

Börse und Realität entkoppeln sich

Von Ulrike Herrmann

DAX feiert Rekordhoch. – Während die Wirtschaft schwächelt, ist an den Börsen Party. Anleger fühlen sich immer reicher, doch das ist eine Illusion.

Der deutsche Aktienindex DAX hat einen neuen Rekord gefeiert: Am Freitag nach Christi Himmelfahrt stieg er auf 16.331 Punkte. Inzwischen bröckeln die Kurse zwar etwas, aber seit Jahresanfang hat der Index um fast 16 Prozent zugelegt.

Dieser Anstieg mutet etwas seltsam an, denn die deutsche Wirtschaft schwächelt derzeit. 2023 dürfte das Wachstum bei ganzen 0,4 Prozent liegen, wie die Bundesregierung schätzt. Die Unternehmen machen also keine höheren Umsätze, aber ihr Aktienwert explodiert. Wie passt das zusammen?

Was wie ein Gegensatz aussieht, ist keiner. Die Anleger interessieren sich nur am Rande für die Firmenerträge, haben sie doch längst ein neues Angstthema entdeckt: die Inflation. Die Geldentwertung dürfte in der Eurozone in diesem Jahr bei 5,8 Prozent liegen, prognostiziert die EU-Kommission.

Aus der Sicht der Anleger ist klar: Nichts ist so schlimm, wie sein Geld auf den Konten verschimmeln zu lassen und beim Wertverlust zuzusehen. Die Zinsen sind zwar gestiegen, gleichen aber die Inflation bei Weitem nicht aus. Also rein in die Aktien! Dort besteht zumindest die Hoffnung, dass die Kurse zulegen und die Geldentwertung mehr als kompensieren.

Börsenkurse aufzupumpen ist ziemlich einfach

Allerdings kann die Inflationsangst nur zum Teil erklären, warum die Kurse nach oben schießen. Denn die Inflationsraten sind erst ab 2021 nennenswert gestiegen, aber die Börsenkurse legen schon seit 2009 zu. Seit der letzten Finanzkrise pumpt sich also wieder eine Aktienblase auf.

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sich der DAX mehr als verdoppelt. Die Realwirtschaft ist in dieser Zeit keineswegs um mehr als 100 Prozent gewachsen, sondern nur um schlappe 12 Prozent. Die Börsen haben sich von der echten Welt komplett entkoppelt und mit der Realität nichts mehr zu tun.

Börsenkurse aufzupumpen ist nämlich ziemlich einfach. Es ist nur relativ wenig zusätzliches Kapital nötig, um den DAX nach oben zu treiben, weil es zu einem ewigen Kreislauf des Geldes kommt. Der Zusammenhang ist schlicht: Wenn jemand eine Aktie kaufen will, muss ein anderer sie verkaufen.

Quelle       :          TAZ-online         >>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     Left: „Um, gee… how many people came up trying to pass off little scribbled notes saying, „I.O.U. $3.00. Sincerely, Jon Doe?!“ Well, at least I thought it was funny.

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#Missingmails : Der EU

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Mai 2023

Wie die EU-Kommission ihr Transparenzversprechen bricht

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von              :         

Das große Löschen nimmt seinen Anfang mit einer knappen Mitteilung. Am 16. Januar 2015 geht ein Brief an Führungskräfte in der Europäischen Kommission. Es dauere oft zu lange, wichtige Dokumente zu finden, klagt darin Catherine Day, da diese nicht ordentlich abgelegt und archiviert würden.

Die damals höchste Beamtin der Kommission kündigt in der Mitteilung auf einer Seite Maßnahmen an, die das Chaos beim Aktenmanagement beenden sollen. Ab Juli 2015 werde die Kommission alle E-Mails automatisch nach sechs Monaten löschen. Seither gilt: Was nicht zuvor veraktet wird, ist weg.

In derselben Mitteilung ordnet Day an, den Zugriff Außenstehender auf Dokumente einzuschränken. Bei Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz der EU dürften nur Akten herausgegeben werden, die zuvor im Dokumentenverwaltungssystem Ares oder einem anderen Kommissionsarchiv abgelegt wurden. Days Mitteilung steht durch eine Informationsfreiheitsanfrage schon längere Zeit im Internet, außerhalb der Kommission ist sie jedoch so gut wie unbekannt.

Das massenhafte Löschen von E-Mails ist Teil einer Reihe fragwürdiger Praktiken, mit denen die Kommission und EU-Regierungen systematisch die öffentliche Kontrolle ihrer Arbeit behindern. Das Recherchekollektiv #Missingmails hat gemeinsam zu diesen Praktiken recherchiert. Daran beteiligten sich neben Alexander Fanta von netzpolitik.org Journalist:innen von Follow the Money in den Niederlanden, Le Monde in Frankreich, De Tijd und Apache in Belgien, Deo.dk in Dänemark, Die Welt in Deutschland, Context in Rumänien, The Journal & Noteworthy in Irland.

Unsere Recherchen zeigen, wie der schlampige Umgang mit E-Mails und Chatnachrichten den Informationszugang auf rechtlich zweifelhafte Art behindert. Die Verantwortlichen brechen dadurch ihre eigenen Transparenzversprechen und erschweren die Aufarbeitung von Skandalen.

Absprachen mit Uber

Wie das zu einem Problem werden kann, macht der Fall von Neelie Kroes deutlich. Die Niederländerin war zehn Jahre lang EU-Kommissarin, zunächst zuständig für Wettbewerb, dann für digitale Themen. Als Uber 2014 in Europa darum kämpft, seine Taxi-App anbieten zu dürfen, springt die liberale Politikerin für den US-Konzern in die Bresche. Dass ein Brüsseler Gericht Uber das Fahren ohne Taxi-Lizenz verbiete, sei eine „verrückte Entscheidung“. Sie twittert den Hashtag #Uberiswelcome.

Eineinhalb Jahre später, im Mai 2016, verkündet Uber, dass Kroes den Konzern künftig in politischen Fragen berate. Interne Dokumente zeigen, dass die Politikerin schon Monate vor Ende ihrer Amtszeit heimlich mit Uber in Kontakt stand. Der Konzern bot ihr dabei offenbar einen Job an. „Wir holen Neelie Kroes in unser Advisory Board (streng geheim)“, schreibt ein Uber-Manager in einer Mail. Ihre Existenz wird durch die UberFiles-Enthüllungen unseres Recherchepartners Le Mondedes Guardian und weiterer Medien öffentlich. Die Mail datiert auf 25. September 2014, gut ein Monat vor Kroes‘ Ausscheiden aus der Kommission.

Ob Kroes dem Konzern zusagte, geht aus den Dokumenten nicht eindeutig hervor. Dennoch sind die Enthüllungen rechtlich delikat. Sie legen nahe, dass die niederländische Politikerin direkt nach Ende ihrer Amtszeit heimlich für den Konzern lobbyiert hat. Dies wäre ein klarer Verstoß gegen die Ethikregeln der Kommission. Denn für EU-Kommissar:innen ist nach dem Ausscheiden aus dem Amt für die folgenden 18 Monate eine bezahlte Lobby-Tätigkeit untersagt. Die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF ermittelt deshalb.

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Erst Kommissarin, dann Lobbyistin: Neelie Kroes

Der Fall wirft jedenfalls Transparenzfragen auf. Die UberFiles enthüllten E-Mails und Chatnachrichten zwischen dem Konzern, Kroes und ihrem Kabinett. Eigentlich hätten diese Unterlagen im Kommissionsarchiv landen müssen – doch dort sind sie unauffindbar. Gegenüber der Lobbytransparenzorganisation Corporate Europe Observatory erklärte die Kommission, ihr lägen keine E-Mails oder andere Korrespondenz zwischen Kroes und Uber vor.

Hat die Kommissarin ihre Nachrichten mit Uber einfach gelöscht? Auf unsere Anfrage heißt es von der Kommission, sie prüfe die Sache und tausche sich dazu mit OLAF aus.

Interne Kritik an „vagen“ Regeln

In ihren Leitlinien für die Dokumentenverwaltung hat die Kommission festgelegt, dass Dokumente aufbewahrt werden müssen, wenn sie „wichtige Informationen enthalten, die nicht flüchtig sind oder die zu Maßnahmen oder Folgemaßnahmen der Kommission führen können“.

Doch wer entscheidet, was wichtig ist und aufbewahrt werden muss? Selbst innerhalb der Kommission herrscht Verwirrung. Als eine Nachfolgerin von Catherine Day, die amtierende Generalsekretärin Ilze Juhansone, vor zwei Jahren intern um Feedback für eine mögliche Neufassung der Regeln für die Dokumentenverwaltung bat, bezeichnete eine Rückmeldung die geltenden Leitlinien für die Aufbewahrung von Dokumenten als „vage“. Das geht aus internen Diskussion hervor, über die unser niederländischer Recherchepartner Follow the Money berichtet hat. Der juristische Dienst der Kommission hinterfragte demnach insbesondere das Wort „kurzlebig“ in den Leitlinien. „Ist dieser Begriff irgendwo definiert?“

Welche Dokumente in der EU-Kommission archiviert werden, bleibt den handelnden Personen bislang selbst überlassen, sagt Sofia Heikkonen. Die finnische Juristin forscht an der Universität Helsinki zur Dokumentenverwaltung der EU-Kommission. Ihren Recherchen zufolge gibt es keinerlei Kontrolle darüber, ob wichtige Dokumente tatsächlich archiviert werden – eine „problematische“ Aufsichtslücke, sagt Heikkonen.

Heikkonens Chefin Päivi Leino-Sandberg hält die verschwundenen Nachrichten von Neelie Kroes nicht für einen Einzelfall. Die Jura-Professorin spricht aus eigener Erfahrung. Vor einigen Jahren bat sie die Kommission um interne Rechtsgutachten über die Einrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft. Zunächst wurde ihr gesagt, es gäbe keine solchen Gutachten, doch später „fand“ die Kommission auf Nachfrage zehn Dokumente. Leino-Sandberg sagt, das Dokumentensystem der Kommission sei unzureichend und müsse überarbeitet werden.

Auf unsere Anfrage betont ein EU-Kommissionssprecher, die Archivierung von Dokumenten stehe „im Einklang mit der langjährigen Praxis in allen europäischen öffentlichen Verwaltungen und mit internationalen Standards für die Archivverwaltung“. Demnach müsse weg, was nicht mehr bedeutend sei. „Die automatische Löschung von E-Mails, die keinen oder einen geringeren Wert haben und oft sehr flüchtige Informationen enthalten, geschieht daher sowohl aus archivarischen als auch aus IT-Management-Gründen.“

E-Mails von Scholz schwer auffindbar

Massenhafte Löschung von E-Mails gibt es nicht nur in den EU-Institutionen. Deutsche Ministerien und das Bundeskanzleramt tilgen Mail-Konten von ihren Servern, wenige Monate nachdem der oder die Benutzer:in aus dem Amt scheidet – egal, ob es sich um die Kanzlerin oder einen kleinen Beamten handelt. Das Postfach von Angela Merkel dürfte demnach Mitte 2022 gelöscht worden sein, ebenso jenes von Olaf Scholz aus seiner Zeit als Finanzminister. Eine gesetzliche Regelung oder Entscheidung, die die massenhafte Löschung vorschreibt, gibt es nicht. Eine solche ist nach Angaben des Bundesinnenministeriums auch nicht nötig, da sich in Postfächern ausgeschiedener Mitarbeiter:innen „keine aktenrelevanten Informationen mehr befinden“.

Politisch heikel ist das im Fall des Mailverkehrs von Scholz im Zuge der Cum-Ex-Affäre. Die Nebenrolle des damaligen Hamburger Bürgermeisters und heutigen Kanzlers in dem gigantischen Steuerbetrugsfall ist nicht restlos geklärt. Es geht um die Frage, ob Scholz sich zugunsten einer umstrittenen Privatbank politisch eingemischt hatte. Während seiner Zeit im Bundesfinanzministerium schickte sein Büro E-Mails und Faxe, die seine Rolle in dem Fall erklären sollen.

Könnten die Mails aus Scholz‘ Büro Licht ins Dunkel bringen? Das ist zumindest theoretisch möglich. Nachfragen unseres Recherchekollektivs ergaben, dass in Scholz’ früherem Ministerium selbst gelöschte Mails noch jahrelang auf Speicherbändern verwahrt werden. Von dort sind sie grundsätzlich wieder herstellbar. Jedoch ist das laut dem Bundesinnenministerium, wo eine ähnliche Technologie verwendet wird, sehr aufwändig und sei „tatsächlich kaum durchführbar“. Genauer erläutern, warum das so schwierig sein soll, will das Ministerium aber nicht.

Tote Nerze und ein altes Nokia-Handy

Für Skandale sorgen nicht nur gelöschte E-Mails, sondern auch verschwundene Chat-Nachrichten. In Dänemark ließ die Regierung zu Beginn der Coronapandemie 15 Millionen Nerze töten. Damit sollte eine Ausbreitung des Virus in Zucht-Farmen verhindert werden.

Für die Massentötung der Tiere fehlte allerdings die rechtliche Grundlage, befand später eine vom Parlament eingesetzte Untersuchungskommission. Regierungschefin Mette Frederiksen habe die Öffentlichkeit wissentlich in die Irre geführt.

„Lösch-Mette“ Frederiksen

Chatnachrichten, die den Fall aufklären hätten können, ließ die Regierungschefin automatisch löschen. Der Fall trug Frederiksen in dänischen Medien den Spitznamen „Slette Mette“ ein, die „Lösch-Mette“. Die Affäre ist sogar Vorbild für ein Jump-n-Run-Spiel. Eigentlich müssten wichtige Nachrichten nach dänischem Recht aufbewahrt werden – das gilt auch für SMS und Chats. Doch Frederiksen kommt in der Nerz-Affäre mit einer Rüge des Parlaments davon.

Ähnlich ungeschoren bleibt der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. Vor einem Jahr enthüllte eine niederländische Zeitung, dass Rutte seit Jahren täglich seine SMS löscht. Sein altes Nokia-Handy habe einfach nicht genügend Speicher, erklärte Rutte. „Nokiagate“ nennen das niederländische Medien. Ein Untersuchungsbericht kommt zu dem Schluss, dass Rutte rechtswidrig gehandelt habe. Dennoch perlt die Affäre an Rutte ab.

An der Relevanz der Nachrichten gibt es unterdessen wenig Zweifel. Selbst auf höchster politischer Ebene sind E-Mails und Chatnachrichten zum Standardkommunikationsmittel geworden. Das verdeutlicht ein Bericht über einen EU-Gipfel im Sommer 2015, bei dem über einen weiteren Schuldendeal für Griechenland gestritten wurde.

Nach stundenlangen, ergebnislosen Verhandlungen habe der niederländische Premier Rutte spätnachts einen Kompromissvorschlag geschickt. Er habe die Gespräche – und damit womöglich den Euro – gerettet, meldete damals die Nachrichtenagentur AP. Was Rutte schrieb, ist bis heute unbekannt

In Deutschland hat Angela Merkel 16 Jahre lang praktisch per SMS regiert. „Handy-Jahre einer Kanzlerin“, fasst ein Bericht im Magazin der Süddeutschen Zeitung ihre Vorliebe für direkte Kommunikation zusammen. Dennoch landete bis heute keine ihrer Nachrichten im Bundesarchiv.

Die eigenwillige Logik der Kommission

Die Bedeutung des direkten Austausches unterstreicht auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Der New York Times erzählt sie in einem Interview von ihren Telefonaten und Nachrichten mit dem Konzernchef von Pfizer, Albert Bourla. Mit diesem habe sie persönlich einen Deal über 1,8 Milliarden Dosen Covid-Impfstoff eingefädelt. Doch auf eine Anfrage von netzpolitik.org sagt die Kommission, dass sie die Nachrichten nicht herausgeben könne.

Die Begründung folgt einer eigenwilligen Logik der Kommission. Demnach seien SMS und Chatnachrichten „kurzlebig“ und landen daher grundsätzlich nicht ein einem Archiv der Kommission. Zugleich besagen die internen Regeln, wie oben beschrieben, dass nur Dokumente herausgegeben werden, die zuvor archiviert wurden. Im logischen Zirkelschluss bedeutet das: Zu unwichtig fürs Archiv, ergo irrelevant für die Öffentlichkeit. Das soll selbst für Chats gelten, in denen nach eigenen Angaben ein milliardenschweres Geschäft vereinbart wurde.

Im Wege steht dieser Logik allerdings der Buchstabe des Gesetzes. In der EU-Verordnung über den Dokumentenzugang heißt es wörtlich: „Diese Verordnung gilt für alle Dokumente eines Organs“. Also nicht bloß für die, die auch im Archiv liegen. Die Europäische Ombudsfrau Emily O’Reilly erklärt nach einer Beschwerde von netzpolitik.org, die Kommission müsse die Herausgabe der Nachrichten Von der Leyens prüfen, selbst wenn diese nicht archiviert seien. Doch die Kommission weigert sich – und gibt weiterhin keine einzige Chatnachricht heraus.

Ob Von der Leyen und ihre Beamten damit durchkommen, entscheidet bald das Gericht der Europäischen Union. Die New York Times und ihre Brüsseler Bürochefin Matina Stevis-Gridneff klagen dort auf Herausgabe der Chats. „Amtsträger sollten nicht in der Lage sein, die Gesetze zur Informationsfreiheit zu umgehen, indem sie einfach von E-Mails auf Textnachrichten umsteigen“, sagt eine Pressesprecherin der Zeitung. Die Öffentlichkeit müsse in der Lage sein, „demokratische Kontrolle über die Regierung“ auszuüben.

Abgeordnete: Regeln an Realität anpassen

Obwohl der Spiegel bereits Ende 2021 über die umstrittene Löschpraxis der Kommission berichtete, hat sie bislang kaum Proteste ausgelöst. Doch inzwischen machen einige EU-Abgeordnete Druck auf die Kommission, transparenter zu werden. Die Weigerung der Kommissionschefin, sich an die Transparenzgesetze zu halten, zeigten „eine tiefe Verachtung für Demokratie und Rechenschaftspflicht“, kritisiert die niederländische Liberale Sophie in ‚t Veld gegenüber dem Recherchekollektiv #Missingmails. Die Kommission stehe nicht über dem Gesetz.

Die aktuellen Regeln stammten aus einer Zeit vor dem Internet, sagt der Grünenpolitiker Daniel Freund. „Wir müssen uns hier den Realitäten anpassen. Wenn heute per SMS oder WhatsApp über Milliardenverträge verhandelt wird, dann kann man sich nicht rausreden und behaupten, das seien keine relevanten Dokumente.“

Dass das Dokumentenmanagement der Kommission nicht auf der Höhe der Zeit ist, gesteht selbst Vizepräsidentin Věra Jourová ein. Ihr sei spätestens während der Covidpandemie klar geworden, „dass die Art, wie wir kommunizieren, sich verändert hat“. Die Kommission werde ein neues Gesetz vorschlagen, oder zumindest interne Regeln schreiben, verspricht Jourová. Darin werde sie klarstellen, welche Nachrichten archiviert werden müssen.

Dieses Versprechen Jourová liegt inzwischen eineinhalb Jahre zurück. Getan hat sich bislang wenig. Auf unsere Anfrage hin verweist der Pressesprecher auf das Arbeitsprogramm der Kommission für 2023. Darin steht, die EU-Behörde werde sich mit „Instrumenten zur Stärkung ihres Transparenzrahmens befassen, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu Dokumenten“. Was konkret geplant ist, lässt er offen.

Von der Leyen schweigt

Jourovás Chefin Von der Leyen schweigt inzwischen. Als sie wegen ihrer Rolle in den milliardenschweren Impfstoffkäufen Europäischen Parlament vorgeladen wird, setzen ihre Verbündeten durch, dass ihre Befragung hinter verschlossenen Türen stattfindet.

Für Von der Leyen sind Ausweichmanöver in Sachen SMS nichts Neues. Noch als deutsche Verteidigungsministerin gerät sie wegen Rüstungskäufen unter Druck. Als ein Untersuchungsausschuss im Bundestag die freihändige Vergabe von Beratungsverträgen kritisiert und Einblick in ihre SMS fordert, lässt sie bei ihrem Diensthandy eine „Sicherheitslöschung“ vornehmen. Ob Kriegswaffen oder Impfdosen, Von der Leyen lässt sich nicht in die Karten schauen. Kritik lässt sie, wie Rutte oder Frederiksen, an sich abperlen.

Als Von der Leyen Kommissionspräsidentin wird, veröffentlicht sie „politische Leitlinien“ für ihre Amtszeit. Ein Satz daraus sticht heute besonders hervor: „Wenn die Europäer Vertrauen in unsere Union haben sollen, müssen ihre Institutionen offen und über jeden Vorwurf in Bezug auf Ethik, Transparenz und Integrität erhaben sein.“

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Oben           —     202* 9.30 delovna seja članov in članic Evropskega sveta; stavba Evropa, BRUSELJ Foto: Nebojša Tejić/STA

NOG Brussel: Neelie Kroes

Unten           —         Danmarks statsminister Mette Frederiksen (S) håller sitt partiledartal vid Folkemødet i Allinge på Bornholm. Photo: News Øresund – Johan Wessman © News Øresund – Johan Wessman (CC BY 3.0). Detta verk av News Øresund är licensierat under en Creative Commons Erkännande 3.0 Unported-licens (CC BY 3.0). Bilden får fritt publiceras under förutsättning att källa anges. .The picture can be used freely under the prerequisite that the source is given. News Øresund, Malmö, Sweden News Øresund är en oberoende regional nyhetsbyrå som är en del av det oberoende dansk-svenska kunskapscentrat Øresundsinstituttet.. <a href=“http://www.newsoresund.org“ rel=“noreferrer nofollow“>www.newsoresund.org</a>. <a href=“http://www.oresundsinstituttet.org“ rel=“noreferrer nofollow“>www.oresundsinstituttet.org</a>

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Mai 2023

Symbolschwere Gruppenbilder mit und ohne Dame

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Das erste Fotopaar der Tage rund um den 19. Mai 2023: In Hiroshima posieren Staatsoberhäupter der sieben Industrienationen für ein Gruppenfoto. Im Hintergrund ein Blick auf einen ruhigen See.

In Xi’an tun die Staatsoberhäupter der fünf zentralasiatischen Staaten mit Chinas Parteichef Xi Jinping in der Mitte dasselbe; auf einer Bühne, gesäumt von Staatsfahnen, im Hintergrund eine traditionelle chinesische Malerei, die schroffe Bergketten im Wolkenmeer zeigt. Steht das symbolisch für sieben maritime Na­tio­nen plus die EU gegenüber einer neuen Weltmacht mit fünf kontinentalen Nachbarn als potenziellen Verbündeten?

Das zweite Fotopaar: Die G7- SpitzenpolitikerInnen, zwei Frauen sind dabei, sitzen um einen runden Konferenztisch, dicht an dicht, auf Holzstühlen. Drei Männer, Joe Biden, ­Fumio Kishida und Emmanuel Macron, drehen sich zur Kamera und spenden so alle zusammen einem imaginären Publikum hinter der Kamera ihr pflichtbewusstes Lächeln.

Zum Vergleich: eine geräumige runde Tischreihe mit sechs schweren, wohlgepolsterten Sofas, ebenso geräumig voneinander getrennt. Frontal in die Kamera, also in eine imaginäre Weltöffentlichkeit, blickt nur Xi Jinping, Chinas starker Mann. Alle fünf Staatsführer sitzen mit dem Rücken zum Publikum. Niemand sieht ihre Mimik, vielleicht nur angedeutet, wie sie ihren Blick auf Xi richten. Steht das symbolisch für ein demokratisch gleichberechtigtes Miteinander gegenüber einem ehrerbietigen Audienzkreis?

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Das dritte Fotopaar: hier ein Arbeitsessen zu Abend – jede und jeder hat seine und ihre Portion vor sich, zu sehen sind noch Mikrofone –, da eine lange Tischreihe, reichlich gedeckt, Blumengesteck und allerlei Leckerbissen, im Hintergrund ein weitläufiger Vorhof, wo für die Tischgäste Tänze und Lieder dargeboten werden. Wie der chinesische Begleittext berichtet, sind die Darbietungen allemal in der Pracht der Tang-Dynastie, die nach offizieller Geschichtsschreibung die Blütezeit der chinesischen Zivilisation repräsentiert – mit blühendem Handel durch die Seidenstraße, deren Anrainer alle zentralasiatischen Staaten heute sind. Sie sind Geldempfänger aus Peking für das Projekt der chinesischen Weltstrategie One Belt One Road. Auch diesmal klingelte es wieder vielversprechend in der Kasse: 26 Milliarden Dollar als Darlehen, wenn die fünf in Zentralasien Pekings Willen Folge leisten.

Was die Fotos erzählen, mag der Fantasie eines jeden Einzelnen überlassen bleiben. Und: Peking will offiziell noch nicht gelten lassen, der Gipfel in Xi’an sei eine Gegendarstellung zu Hiroshima. Dennoch ist der Kontrast unübersehbar: In Hiroshima dreht sich alles darum, Russlands Aggressionskrieg bald zu beenden. Der Verlierer ist Moskau. Kein Wort davon in Xi’an. In Hiroshima betonten die G7 den Entschluss, auch Chinas erpresserischem Vorgehen gegen wirtschaftlich schwächere Staaten entgegenzutreten. Genau das wird in Xi’an dargeboten, wenn auch versüßt mit feudalem Prunk. Mit einer vielsagenden Fußnote: In Xi’an ist Chinas Verbündeter Russland abwesend. Moskau hat bis dato nie gefehlt, wenn es um Zentralasien, also um Russlands Hinterhof ging. Nutzt China Russlands Schwäche aus, um die eigene Einflusssphäre auszuweiten als ein neuer Hegemon, dem sich der Westen stellen will?

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Die „Klimakleber“

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Mai 2023

Tanz um die goldene Radkappe

Ein Debattenbeitrag von Claus Leggewie

43 Millionen Privat-PKW sind in Deutschland zugelassen, der Individualverkehr hat Fetischcharakter angenommen. Das Auto ist der Elefant im Raum der Klimawende.

Der als eher konservativ geltende Soziologe Niklas Luhmann hatte ein Faible für den Protest und Protestierende, ohne dabei den aufrührerischen Theorieschulen sozialer Bewegungen wie Anarchismus oder Marxismus anzugehören. Der Studentenbewegung um 1968 bescheinigte der Systemtheoretiker, sie nehme zu Recht Anstoß am Status quo, an dem der CDU-Staat damals krampfhaft festgehalten hatte, denn es bedürfe einer außerparlamentarischen Opposition, wenn die staatstragende Opposition wie das Establishment unfähig seien, „Alternativen zur Entscheidung zu bringen“.

Dem Protest, auch dem wilden, radikalen, system­oppositionellen, wies er die Rolle zu, die Gesellschaft ins Lot der Selbststeuerung und Systemerneuerung zurückzuversetzen. Dieser Stabilisierungsauftrag gefiel 68ern natürlich weniger; es war aber eine durchaus treffende Diagnose ihrer tatsächlichen Leistung, nämlich der Gesellschaft der Bundesrepublik jene „Fundamentalliberalisierung“ zu verschaffen, die ihnen Luhmanns Gegenspieler Jürgen Habermas rückblickend bescheinigte.

Neue soziale Bewegungen vermögen damit, was den Teilsystemen der Gesellschaft abgeht: „Sie beschreiben die Gesellschaft, als ob es von außen sei.“ Und in dieser Totale entdecken sie auch, was alten sozialen Bewegungen verborgen geblieben war: „Gesellschaft nicht mehr bloß vom Kapitalismus her zu sehen, sondern in Bezug auf die Tatsache, daß manche etwas für ein lebbares Risiko halten, was für andere eine Gefahr ist“.

Früher als andere interessierten Luhmann ökologische Risiken, die den neuen Typ „grün-alternativer“ Proteste hervorriefen: „in der Ablehnung von Situa­tio­nen, in denen man das Opfer des riskanten Verhaltens anderer werden könnte.“ Besser sind die Sorgen von Fridays for Future, Extinction Rebellion und Letzter Generation kaum zu beschreiben. Luhmann antizipierte allerdings auch deren Schwächen: „Das Geheimnis der Alternativen ist, dass sie gar keine Alternative anzubieten haben“ – weil sich ja stets die anderen bewegen, ändern, korrigieren müssten.

Hysterischer Reflex

Das macht Protest wenig anschlussfähig, zumal, wenn er im Kern Angst thematisiert und moralisierend auftritt, wie seinerzeit die Atomkraftgegner. Es ist zu früh zu entscheiden, ob die Klimaschützer in die Ahnenreihe der neuen sozialen Bewegungen von der Studentenrevolte und die Frauenemanzipation über die Anti-AKW-Bewegung und den Antirassismus gehören oder ihr Protest eine neue Qualität annehmen wird.

Ein wesentlicher Unterschied besteht schon darin, dass sie anders als die Vorläufer etwas fordern, was auch die Mehrheit wünscht (wenn auch nicht praktiziert): Gefährlicher Klimawandel und Artensterben beunruhigt auch den Mainstream, und einschneidende Änderungen von Lebensstilen und Gewohnheiten propagiert keineswegs nur eine zukunftsängstliche, apokalyptisch getönte „Letzte Generation“.

Erst die in Protestnischen stets angelegte Selbstradikalisierung und der hysterische Reflex gegen den vermeintlichen Ökoterror polarisiert, aber nicht das von „Klima­klebern“ geforderte 9-Euro-Ticket oder eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen. Die Blockadeaktionen der Letzten Generation, in deren Windschatten die konzilianteren und konsensorientierten Fridays for Future geraten sind, stoßen auf breite Ablehnung.

Protest am Genfer Flughafen

Man kann eine Gesellschaft nicht frontal attackieren, die anders als 1968 und in den 1980er Jahren mit den Protestzielen im Prinzip übereinstimmt. Die „Klimakleber“ überdehnen die legitimen Mittel zivilen Ungehorsams wie Blockaden und Boykotts. Andere Teile der Klimaschutzbewegung kali­brie­ren das wesentlich besser. Ein jüngstes Beispiel sind die 100 Aktivisten, die sich an die Zugänge von Privatjets ketteten, die bei einem Business-Event am Genfer Flughafen ausgestellt waren, und den Haupteingang der Jet-Show versperrten, um die Kundschaft am Betreten zu hindern.

Jets gelten zu Recht als äußerst schädliche Produkte, „die unseren Planeten zerstören, unsere Zukunft verheizen und Ungleichheit befeuern“. Die NGO „Stay Grounded“ erweiterte den Kreis der Zielpersonen: „Während viele sich Essen und Miete nicht mehr leisten können, zerstören die Superreichen unseren Planeten, damit muss endlich Schluss sein.“

Quelle      :         TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben      —   Strangely satisfying seeing this old barge floating towards me- I don’t see too many surviving from this period outside shows. For some reason, Google car insurance tells me this is a very rare Rolls Royce Camargue, but they look nothing like this, plus were only released the next year. Registration number: HSU 668 ✔ Taxed Tax due: 01 April 2015 ✔ MOT Expires: 22 April 2015

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Mai 2023

Schluss mit stiller Post und auf nach Mainz!

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

25 Medienverbände, Institute und Initiativen haben den offenen Brief #UnsereMedienMitgestalten zur Reform der Öffentlichen-Rechtlichen veröffentlicht.

Offene Briefe haben ja eine lange Tradition. Luther hat seine Thesen an die Kirchentür genagelt und damit die Reformation ausgelöst. Bismarck sorgte mit der Emser Depesche für den Deutsch-Französischen Krieg anno 1870/71. Vor ein paar Wochen schrieben Kin­der­ärz­t*in­nen wegen des Medikamentenmangels offen an Karl Lauterbach. Und die Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen kommen aus der Poststelle gar nicht mehr raus.

Zum Schicksal offener Briefe gehört leider auch, dass sie gerne mal kalt weggelächelt werden. Das passiert regelmäßig, wenn sie den Adres­sa­t*in­nen nicht so passen und niemand „Stimmt aber trotzdem“ ruft. Von daher bleibt abzuwarten, was aus dem offenen Brief „#UnsereMedienMitgestalten“ von über 25 Medien- und Branchenverbänden, Instituten und Initiativen zur Reform der Öffentlichen-Rechtlichen wird. Entstanden ist er unter Federführung der Deutschen Akademie für Fernsehen (DAFF) und meldet bei der zuständigen Rundfunkkommission der Länder Bedarf an einem „ständigen Medienkonvent“ an.

Der will parallel zum bereits eingesetzten Zukunftsrat bei den Reformen mitmachen. „Und warum dürfen die nicht alle in der gleichen Liga mitspielen?“, fragt die Mitbewohnerin. „Sonst kommen doch nur Gelaber und Forderungen auf so vielen und unterschiedlichen Inseln raus.“

Perspektive der Ma­che­r*in­nen und Nut­ze­r*in­nen

Un­ter­zeich­ne­r*in­nen sind die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Redakteursausschüsse (AGRA), die Neuen Deutschen Medienmacher*innen, die ARD-Freien, Verbände der Gewerke von Drehbuch und Casting übers Maskenbild bis zur German Stunt Association. Der Verband der Deutschen Filmkritik ist genauso dabei wie die Freunde des Grimme-Preises (Transparenzhinweis: Ich war da bis letztes Jahr Vorsitzender). Das Grimme-Institut selbst fehlt, aber dessen Leitung hat es mit der Diskussion eh nicht so dolle und will lieber tief schürfen.

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Razzia auf Letzte Generation

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Mai 2023

Razzia bei der Letzten Generation ist ein Anschlag auf den Rechtsstaat

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Wer sich als Freistaat bekennt, sollte auch der „Letzten Generatin“ den Freistaat bieten ! Im anderen Fall strecken die Bürger-innen den Freistaat die Zungen heraus.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Kommentar von Edith Bartelmus-Scholich

Heute fand eine bundesweite Razzia gegen Aktivist*innen der Letzten Generation statt. Den Aktivist*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung wird vorgeworfen eine kriminelle Vereinigung gegründet und Geld für Straftaten gesammelt zu haben. Beschlagnahmt wurden Konten und die Homepage der Letzten Generation. Auf der Webseite der Letzten Generation war über Stunden folgender Text zu lesen: „Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung nach § 129 StGB dar!“

Offenbar wurde im Freistaat Bayern die Gewaltenteilung aufgehoben. Kein Gericht hat nämlich jemals geurteilt, dass die Letzte Generation eine kriminelle Vereinigung ist. Dennoch maßt sich das bayerische LKA an, dies als Feststellung zu veröffentlichen.

Die Razzia gegen die Letzte Generation ist durch nichts zu rechtfertigen. Der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung greift ins Leere. Die Aktivist*innen der Letzten Generation begehen keine Verbrechen, sondern leisten zivilen Ungehorsam um Aufmerksamkeit auf die Folgen des Klimawandels zu lenken. Mit symbolischen Aktionen fordern sie die Politik auf, endlich wirksame Maßnahmen gegen die Erd-Erhitzung zu ergreifen. Selten war eine politische Basisbewegung friedfertiger und defensiver in ihren Aktionsformen.

Die Aktivist*innen der Letzten Generation nehmen große Nachteile und ihre Kriminalisierung in Kauf damit unsere Kinder und Enkel auch zukünftig noch in einem erträglichen Klima leben können. Wie traumatisierend die heutige Razzia für die direkt Betroffenen war, zeigt ein Video, in dem Carla Hinrichs ihre heutigen Erlebnisse schildert:

https://twitter.com/i/status/1661360741893517313

Hinrichs schildert die Angst, als die Polizei mit gezogener Waffe ihre Wohnung stürmte. Noch größer ist jedoch ihre Angst vor der kommenden Klimakatastrophe. Diese viel größere Angst teilen viele tausende Aktivist*innen. Deswegen sind Einschüchterung, Gewalt und Repression keine Mittel die Klimaproteste einzudämmen.

Das Mittel gegen Klimaproteste ist wirksame Klimapolitik. Hier jedoch versagen diejenigen, die politische Verantwortung tragen. Der Planet steuert auf eine Temperaturerhöhung von 4 Grad Celsius zu. Überall sind dadurch die Ökosysteme gefährdet, das Artensterben wird vorangetrieben, Katastrophen wie Dürren oder Überschwemmungen nehmen zu – bei gleichzeitiger Verknappung des Süßwassers. Milliarden Menschen, vor allem im globalen Süden, werden durch die Folgen des Klimawandels ihrer Lebensgrundlagen beraubt und die meisten dieser Menschen werden sterben, ebenso wie übrigens viele Kranke und Ältere in den sich überhitzenden Städten auf der Nordhalbkugel.

Dass dennoch die Bundesregierung keine wirksamen Maßnahmen gegen den Klimawandel beschließt, ist unverantwortlich. Weder kann die Wärmewende länger aufgeschoben werden, noch kann weiter so gewirtschaftet werden wie bisher. Der Ausstieg aus der von fossilen Energien angetriebenen Profitmaschine und der Einstieg in eine klimaneutrale, nachhaltige Kreislaufwirtschaft ist überfällig. Politische Realität ist jedoch, dass die Bundesregierung selbst Maßnahmen wie ein Tempolimit auf Autobahnen und ein Verbot von Inlandsflügen nicht anpackt.

Wenn sie nun statt auf wirksame Klimapolitik auf brutale Repression gegen Menschen, die zivilen Ungehorsam leisten, setzt, verlässt sie zusätzlich den Boden des Grundgesetzes. Deswegen ist die Solidarität mit der Letzten Generation auch ein Kampf um den Rechtsstaat.

Edith Bartelmus-Scholich, 24.5.2021

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Oben       —      Großes Wappen des Freistaats Bayern

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Mai 2023

Eine große Woche für den Antisemitismus geht zu Ende

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Adriane Lemme

Das Prinzip Antisemitismus funktioniert – immer anders, aber zuverlässig. Das haben diese Woche Elon Musk und Roger Waters vorgeturnt.

„A Great Day for Freedom“ heißt ein Song von Pink Floyd. Ein ziemlich guter, wie viele ihrer Songs. Diese Woche war leider eher a great week for Antisemitismus. Auch und vor allem dank Roger Waters, einst Mitgründer und Chef-Songschreiber von Pink Floyd, heute eher singender Reichsbürger.

Okay, den Davidstern auf dem Schwein lässt er inzwischen weg. Und er hat – sicher ist sicher – vorher per Durchsage kundgetan, kein Antisemit zu sein. Puh, ach so, na dann. Rock on. Die Show in Berlin war dann aber, nach allem, was kolportiert wird, doch nur eine seiner Weltanschauung. Die ist as plump as possible, Gut gegen Böse. Und böse ist nicht etwa Putin, sondern Biden und Obama. Und wenn man schon nichts gegen Juden oder Israelis sagen darf, buhu, dann halt: „Fuck Krieg gegen den Terror“, hehe, immer schön quergeschnitten mit dem Leid der Palästinenser. Da versteht auch jeder, wer und was gemeint ist. Das ist Gehirnwäsche, keine Kunst.

Deshalb sind auch alle Verteidigungen à la „Freiheit der Kunst“ bei solchen Typen unangebracht. Klar, Kunst muss frei und in ihrer Freiheit geschützt sein, das steht außer Frage. Aber sie muss halt den Anspruch von Kunst erfüllen, um solche zu sein: Ein Mindestmaß an Transzendenz. Denn, sorry, ein politisches Statement ist genau das – aber eben noch lange keine Kunst. Aber genau deshalb kann natürlich Kunst selbst von solchen Firecrackers wie Waters – sprich seine alten Songs – weiter Kunst und als solche geschützt sein. Aber dazu haben sich diese Woche ein paar klügere Leute als ich im Haus der Wannseekonferenz Gedanken gemacht.

Aber ganz ehrlich: In jüngster Zeit habe ich persönlich ziemlich viel Agitprop gesehen, die sich einfach das Label Kunst aufgeklebt hat. Ja, ich denke da auch an die vergangene documenta. Aber hey, in Berlin störte sich anscheinend niemand an Waters’ Judenhass-Show – zumindest gab’s keinen großen Protest. Aber vielleicht ist er in guter Gesellschaft.

Israels Politik vergleichbar mit die der Nazis?

36 Prozent der Deutschen finden einer Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge, dass Israels Politik mit der der Na­tio­nal­so­zia­lis­t:in­nen verglichen werden kann. Und die Amadeu Antonio Stiftung hat am Mittwoch ihr jüngstes „Zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus“ vorgestellt.

Kabinett Hitler

Darin geht’s unter anderem um die enge Verbindung des durchaus auch in linken Kreisen verbreiteten Antiamerikanismus zu antisemitischen Wahnvorstellungen; und darum, wie sich infolge des Ukrainekriegs, auch getrieben von diesem Antiamerikanismus, eine neue „Friedens“-Querfront bildet. Klar, der wahre Feind ist kein russischer Kriegsverbrecher, sondern der Kapitalismus und dieser ganze modernistische Materialismus.

Wie absurd derlei Logiken sind, wurde die Woche perfekt vorgeturnt von Elon Musk – einem, vorsichtig ausgedrückt, prominenten Vertreter des Kapitalismus. Über den Finanzier und Holocaustüberlebenden George Soros twitterte der Twitter-Chef, dieser hasse die Menschheit und wolle „die Struktur der Zivilisation zersetzen“.

Antisemitische Bilder immer zurechtgehauen

Er erinnere ihn an den ­Marvel-Schurken ­Magneto – in den Comics ebenfalls ein Holocaustüberlebender und später selbst Massenmörder. Soros ist immer wieder Angriffsziel von US-Rechten – denen Musk nahesteht. Einer ihrer Vorwürfe: Soros unterstütze bei Wahlen eher tendenziell linke Staatsanwälte.

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Vom täglichen Leid

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Mai 2023

Wir lalle eben auf Kosten von anderen

Ein Schlagloch von Ilija Trojanow

Während der Bundespräsident die üblich einschläfernde Rede in der Paulskirche hält, treffen sich aktive Menschen gleich nebenan zur Global Assembly.

Vielleicht war das wichtigste Ereignis in unserem Land letzte Woche ein Treffen in der Evangelischem Akademie in Frankfurt. Direkt am herausgeputzten Römer, wo am Tag darauf der Bundespräsident eine gewichtige Rede mit einschläferndem Potenzial hielt zu Ehren des ersten deutschen demokratischen Parlaments vor 175 Jahren in der Paulskirche. Die knapp fünfzig Aktivistinnen, die in einem hellen, nüchternen Raum vier Tage lang debattierten, waren sich des deutschen Jahrestags zwar bewusst, aber sie wollten nicht Vergangenheit abfeiern, sondern Zukunft einfordern. Mit robuster Leidenschaft und unerbittlicher Zärtlichkeit.

„Global Assembly“ heißt das Ereignis, und es lockte Menschen aus allen Ecken und Enden der Welt nach Frankfurt, divers in Herkunft, Aussehen und Zungenschlag. Eingeladen von zivilgesellschaftlichen Kräften hierzulande, von engagierten Bürgerinnen. Ohne Bürokratie. Ohne staatliche Kontrolle. Ohne ideologische Einfärbung. Mit klarer Sehnsucht, aber ohne feste Absicht.

Denn die Gäste aus aller Welt sollten selbst ausloten und aushandeln, welche Schritte und Forderungen für sie zentral sind, um die vielen Krisen der Gegenwart im Sinne aller zu überwinden. Was mitten in Deutschland letzte Woche stattfand, war ein kleines Wunder: ein selbst organisiertes Treffen, eine offene Struktur, ein ebenbürtiges Miteinander, ein Reden auf Augenhöhe, ohne Vorgaben, ohne Einschränkungen, ohne Tabus.

Schon am ersten Tag fiel auf, wie angemessen miteinander geredet wurde. Menschenwürde wurde nicht vollmundig vor einem großen Buffet beschworen, sondern im Umgang miteinander gelebt. Der gegenseitige Respekt sowie die Fähigkeit, zuzuhören und einander ausreden zu lassen, beweisen, dass es durchaus Alternativen gibt zu dem hasserfüllten kommunikativen Masturbieren in den sozialen Medien, das teilweise auch unsere professionellen Medien infiziert hat. Vielleicht erstrahlte die Würde jedes Einzelnen so sehr, weil es sich um Menschen handelt, die Schreckliches erlebt haben. Der Kampf um Menschenrechte und Gerechtigkeit provoziert nicht nur leere Versprechen und hohle Zusicherungen, sondern auch Gewalt. Nicht nur in Diktaturen.

Unvermittelt sprach jemand von Unfassbarem. Vom Morden der Generäle in Myanmar, von einer Bombe in Afghanistan, die den eigenen Bruder zerfetzt hat, von Nickelförderung und -veredelung in Indonesien, für die es viel Energie und wenig Menschen braucht, weswegen die örtliche Bevölkerung brutal vertrieben und ein Kraftwerk errichtet wurde. „Für eure E-Autos“, so endete die Geschichte. Ohne Vorwurf in der Stimme. Ohne Agitation. Einfach so, als eine Wahrheit, die wir weiterhin nicht wahrhaben wollen: Dass wir auf Kosten anderer leben und technologische Lösungen die ökologische Zerstörung nicht aufhalten.

Darin bestand für einen aufmerksamen Chronisten aus Mitteleuropa die enorme Stärke dieser Global Assembly: Bei der Diagnose wurde nicht von Theorien oder ideologischen Positionen ausgegangen, sondern von dem täglich erlittenen Leid. Das hat eine zwingende Prägnanz. Wer selbst auf einer Müllhalde lebt, lässt sich nicht vorgaukeln, Müll wäre eine feine Sache. In diesem Zusammenhang wurde von fast allen Anwesenden die Doppelmoral des Westens, die atemberaubende Heuchelei des herrschenden kapitalistischen Weltsystems hervorgehoben.

Zwei Könige im Austausch.

Als Navid Kermani bei der Eröffnungsveranstaltung in der Paulskirche von seinen Recherchen im äthiopischen Tigray berichtete, von den unzähligen Abgeschlachteten, von den vergewaltigten Frauen (weit über hunderttausend), dürfte jedem klargeworden sein, wie unsere Wahrnehmung und unser Mitgefühl hierzulande Konjunkturen des Selbstinteresses unterliegt, wie entfernt wir von einer universellen Haltung sind, von einem Weltethos, von einer kosmopolitischen Praxis.

All das soll die Global Assembly fördern. In dem schon erfolgten Treffen wurden die Rahmenbedingungen und Themenschwerpunkte diskutiert und definiert, teilweise in Arbeitsgruppen: Frauenrechte, Klimawandel, autoritäre Herrschaft, unternehmerisches Handeln verpflichtend an die Menschenrechte binden. In einem nächsten Schritt, der eigentlich aus vielen kleineren Schritten besteht, werden die Teilnehmerinnen einerseits die formulierten Themen bis zum nächsten März hinsichtlich der Herausforderungen und Aufgaben präzisieren, zum anderen aber exemplarische Geschichten sammeln. Denn immer wieder kam zur Sprache, wie wichtig Geschichten seien, als Vergewisserung der eigenen Erfahrung und als neue Narrative für eine bessere Welt. Als Visionen, als Utopien.

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Die Menschenrechtsliga

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Mai 2023

GRUNDRECHTE-REPORT 2023 der Öffentlichkeit vorgestellt

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Von Internationale Liga für Menschenrechte

Heute, am 23. Mai 2023, dem Tag des Grundgesetzes, wurde der diesjährige „Grund­rechte-Re­port. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ im Haus der Demokratie in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt.

Der 27. Grundrechte-Report wirft unter dem Titel „Krieg, Klima, Krise“ einen Blick auf die aktuellen Gefährdungen der Grundrechte und zentraler Verfassungsprinzipien an­hand konkreter Fälle des Jahres 2022. Der Report analysiert und kritisiert Entschei­dun­gen von Parlamenten, Behörden und Gerichten, aber auch von Privatunternehmen.

Hierzu gehören für das Jahr 2022 grundrechtliche Auswirkungen der Maßnahmen an­läss­lich des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und die wachsende Armut in Deutschland. Darüber hinaus werden im Report tödliche Polizeigewalt, rassistische Poli­zeikontrollen und Grundrechts­ver­letzungen an geflüchteten Menschen thematisiert so­wie Einschnitte in die informationelle Selbstbestimmung und Probleme in der deutschen Justiz besprochen.

Susanne Baer, ehemalige Richterin des Bundesverfassungsgerichts und Professo­rin für Öf­fent­liches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin, präsentierte den Grundrechte-Report in diesem Jahr: „Der Krieg in der Ukraine, die wirtschaftliche Lage, die viele Menschen belastet, und die Klimakrise fordern Politik und Gesellschaft – und sie fordern auch die Grundrechte heraus. Gerade wenn es eng wird, kommt es auf diese Rechte an. Der Grundrechte-Report deckt da Probleme auf. (…) Klar ist jedenfalls: Grund­rechtsfragen gehen alle an – und um überzeugende Antworten müssen wir ringen“.

Simon Lachner, Aktivist der „Letzten Generation“, berichtete bei der Pressekon­ferenz von seinen Erfahrungen mit dem staatlichen Umgang mit Aktionen der Klimaak­tivist*innen. Er sagt: „Wie die Engagierten bei der Letzten Generation vom Rechtsstaat behandelt werden ist teils erschreckend. Immer wieder sehe ich meine Freunde, wie sie mit Schmerzgriffen von der Straße gezerrt werden oder in die Justizvollzugsanstalt ge­sperrt werden – teils ohne Gerichtsverfahren, sondern auf Grundlage des Polizeiauf­ga­bengesetzes in Bayern. Auch ich war für zwei Nächte in der Justizvollzugsanstalt in München.“

Benjamin Derin, Rechtsanwalt und Mitglied des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte­vereins e.V. (RAV), resümiert stellvertretend für die gesamte Redaktion des Grund­rechte-Reports: „Ob staatliche Überwachung, Ausweitung von Straf- und Polizei­gesetzen oder Abbau von sozialen Sicherungen, wir weisen immer wieder darauf hin, wo die Grundrechte in Gefahr sind. Teile von Staat und Politik scheinen aber umgekehrt die Grundrechte mancher Menschen als Gefahr zu betrachten. Das Beharren auf diesen Rechten ist deshalb ein wichtiger Teil des Einsatzes für eine freiheitliche und soziale Gesellschaft für alle.“

Seit 1997 widmet sich der Grundrechte-Report der Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Als »alternativer Verfassungsschutzbericht« dokumentiert er die vielfachen Bedrohungen, die von staatlichen Institutionen für diese Rechte ausgehen. Der aktuelle Report nimmt mit dem Jahr 2022 unter anderem die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine, die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und die intensivierten Auseinandersetzungen um den  Klimawandel in den Blick. Zu den rund 40 behandelten Themen gehören daneben auch die Versammlungsfreiheit, Überwachungsmaßnahmen durch Polizei und Geheimdienste, die Kriminalisierung von Armut, menschenrechtswidrige Abschiebungshaft und die Entwicklungen um das Abtreibungsverbot in Deutschland.

  • Grundrechte-Report 2023 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland (FISCHER Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M.),
    Juni 2023, ISBN 978-3-596-70882-6, 224 Seiten, 14.00 Euro / http://www.grundrechte-report.de/2023/
  • Herausgegeben von: Rolf Gössner, Rosemarie Will, Britta Rabe, Benjamin Derin, Wiebke Judith, Sarah Lincoln, Lea Welsch, Rebecca Militz, Max Putzer, Rainer Rehak.
  • Der Grundrechte-Report ist ein gemeinsames Projekt von: Humanistische Union, verei­nigt mit der Gustav Heinemann-Initiative • Bundesarbeitskreis Kritischer Juragrup­pen • Internationale Liga für Menschenrechte • Komitee für Grundrechte und Demokratie • Neue Richtervereinigung • PRO ASYL • Republikanischer Anwältinnen-und Anwälte­ver­ein • Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen • Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verant­wor­tung • Gesellschaft für Freiheitsrechte
  • Inhaltsverzeichnis und Vorwort („Krieg, Klima, Krise“): https://www.book2look.com/book/9783596708826
    Info zur Präsentation des „Grundrechte-Reports“: http://www.grundrechte-report.de/2023/praesent/
  • Bezugsmöglichkeiten: Das Buch ist ab sofort über den Buchhandel oder die Webseite der Herausgeber zu beziehen (http://www.grundrechte-report.de/quermenue/bestellen/ ).
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