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RENTENANGST

Archiv für die 'Finanzpolitik' Kategorie

Blast from the Past

Erstellt von DL-Redaktion am 1. August 2023

In Großbritannien braut sich ein Bankenskandal zusammen

Die königliche Familie Juni 2013.JPG

Von Karina Urbach

Der österreichische Außenminister Czernin klagte im Ersten Weltkrieg, dass es schwer geworden sei, etwas geheim zu halten. Jedes politische Geheimnis wäre „Hunderten von Personen bekannt, den Hofräten im Ministerium des Äußeren, den Chiffrierern, bei den Botschaftern und Gesandten und dem Personal“.

Manchmal erweist sich eine durchgestochene Nachricht jedoch auch als geschicktes Täuschungsmanöver. Das passierte jüngst dem BBC-Wirtschaftsjournalisten Simon Jack. Jack hatte allen Grund, seine Quelle für zuverlässig zu halten: Ihr Name ist Dame Alison Rose, CEO der Bankengruppe NatWest, 2023 geadelt, Jahresgehalt fünf Millionen Pfund. Rose steckte Jack, warum sie einem berühmten Kunden das Konto gekündigt habe. Der Mann hätte einfach nicht mehr genug Einlagen für sein Privatkonto bei Coutts gehabt (Coutts gehört zur NatWest Gruppe). Bei dem Kunden handelte es sich um den Brexiteer Nigel Farage. Er hatte kurz zuvor seine Kontokündigung als politisch motiviert angeprangert.

Farage ist nicht der beliebteste Mann des Königreichs. Ohne ihn und seine Ukip-Partei hätte es wahrscheinlich keinen Brexit gegeben. Die BBC-Meldung wurde daher begeistert von allen Medien weiterverbreitet. Als Farage-Kritiker wollte man sie einfach glauben.

Es gibt allerdings ein paar Geheimnisse, die man nicht brechen sollte: Das Wahl-, Beicht-, Arzt- und eben auch das Bankgeheimnis. Alison Rose musste gehen. Wie sich mittlerweile herausstellte, hatte sie nicht nur das Bankgeheimnis mit ihrer gezielten Fehlinformation gebrochen. Ein sehr viel größerer Skandal scheint verschleiert zu werden: NatWest schloss – ohne Angabe von Gründen – die Konten von über 8.000 Kunden. Andere Banken sollen sich ähnlich verhalten haben. Lag es am politischen Engagement der Kunden?

Politisch exponierte Personen (PEP) werden von Banken zunehmend als Belastung gesehen. Der Labour-Abgeordnete Lloyd Russell-Moyle sagte, er habe aufgrund seiner politischen Einstellung ständig Probleme mit Banken. Unter anderem habe ihn eine Wohltätigkeitsorganisation gebeten, nicht mehr für sie in Erscheinung zu treten, weil sie sonst Ärger mit ihrer Bank bekämen. Russell-Moyle ist politisch das Gegenteil von Farage. Er hat viele Anti-Brexit-Proteste organisiert und setzt sich für LGBT-Rechte ein. Trotzdem unterstützt er jetzt Farages Kampagne gegen „De-banking“. Ebenso wie die Anti-Brexit-Aktivistin Gina Miller. Auch sie wurde von ihrer Bank einfach „entsorgt“. Sogar die Sunday-Times-Kolumnistin Camilla Long, die 2015 von Nigel Farage wegen angeblich „unwahrer Äußerungen“ angezeigt wurde, stellte sich auf seine Seite.

Kontoschließungen erleben in Großbritannien jedoch nicht nur Politiker. Alexandra Tolstoy organisiert beruflich Pferdereisen. Sie bekam ebenfalls einen NatWest-Abschiedsbrief von Alison Rose (Zitat: „Wir sind nicht verpflichtet, Ihnen die Gründe dafür zu nennen“). Tolstoy hat drei Kinder mit einem russischen Expartner, der keinen Unterhalt zahlt. Wie alle Menschen ist sie darauf angewiesen, ein Bankkonto zu besitzen, auch um ihre Kinder zu ernähren. Die Frage stellt sich – lag die Kündigung des Kontos an Tolstoys „verdächtigem“ Nachnamen oder am russischen Exfreund, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat? Nach dem Rauswurf von NatWest weigerten sich sechs weitere Banken, Tolstoy als Kundin anzunehmen.

Dank des Skandals weiß jetzt jeder im Land, dass man bei seiner Bank ein „data subject access request“ stellen kann (eine Auskunft darüber, welche Daten über einen gespeichert sind). In den nächsten Wochen werden britische Banken in einer Flut solcher Anfragen ersticken.

Quelle          :        TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —    Die königliche Familie beobachtet das Vorbeifliegen, Trooping the Colour Juni 2013

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Der USA Kapitalismus

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Juli 2023

Ist der ‚demokratische Kapitalismus‘ der USA wirklich wichtiger als eine respektvolle Völkerverständigung?

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

In den USA scheint das Volk und die Regierung das Denken den Denkfabriken zu überlassen. Selbst denken macht nur Kopfschmerzen. Die Denkfabrik American Compass ist sehr aufschlussreich für die Gedankenwelt der Mehrheit der Amerikaner z.B. in Sachen China. Das wirtschaftliche De-Risking (Risikominimierung) ist nicht genug, man muss den harten Bruch mit China angehen.

‚America First‘ ist immer und überall das Leitmotiv. Völlig abgehoben und wirklichkeitsfremd wird von dieser Denkfabrik eine amerikanische Traumwelt voller Widersprüche verherrlicht. Ein Fanal ist der US-‚demokratische Kapitalismus‘, den es weltweit zu stärken und durchzusetzen gilt und der ein Merkmal für die unvereinbare Politik von China und den USA sein soll. Der ‚Rost Belt‘ quer durch die USA als Folge geiler Profitgier im US-Kapitalismus und die damit einhergehende Verelendung sind da wohl in Vergessenheit geraten, ebenso wie die Behebung der Armut in China in nur 40 Jahren.

Welcher Kapitalismus ist da wohl demokratisch? Und der Sturm vor allem der US-Industrie auf den chinesischen Markt hat nichts mit demokratischen Werten zu tun, sondern nur mit den geilen Preisen, die man durch die billige Produktion auf chinesischen Werkbänken erzielen konnt und natürlich nicht an die US-Bevölkerung weitergegeben hat. Dass damit zwangsläufig ein Technologietrasfer stattfand, hat man überhaupt nicht bedacht. Hauptsache billig und gut.

Aber die Chinesen machten es vielfach noch besser, denn dem guten Beispiel zu folgen, gilt in China als Tugend. Alles Jammern über Verletzungen des geistigen Eigentums in und durch China ist schlicht dumm, denn China hat sich zeitgleich mit seiner Öffnung dem internationalen ‚Patent Cooperation Treaty’ (Vertrag für die Zusammenarbeit im Patentwesen) angeschlossen und handelt seitdem streng nach diesen weltweit geltenden Regeln.

In ihrem ‚demokratischen Kapitalismus‘ blind für die Entwicklungen in der Welt und insbesondere ihrer Werkbank China, wollen die USA jetzt und schreckhaft aufgeweckt China isolieren und dessen Entwicklung abwürgen. Da haben sie ihre Rechnung aber offensichtlich ohne den Wirt gemacht, denn viele Völker schätzen die kooperative Einstellung Chinas bei der Völkerverständigung mehr als die ‚regelbasierte Ordnung‘ nach US-Diktat. Nein, zunehmed will die Welt nicht am US-Wesen genesen, sondern sich vielmehr von den US-Zwängen des Kapitalismus und Militärs lösen. Dass das die USA beängstigt, ist offensichtlich.

Aber panta rhei, alles fließt und vergeht. So auch der Hegemon USA. Die Problrme auf der Welt heute können nur durch respektvolle und koordinierte Zusammenarbeit gelöst werden und eben nicht durch Dummheit und Stolz amerikanischer Denkfabriken. Jahrzehnte lang war China gut als Werkbank für den ‚demokratischen Kapitalismus‘ der USA. Heute hat China einen Spitzenplatz in der Welt und ist zum Rivalen und Feind Nr.1 der USA mutiert.

Welch simple Weltsicht, an die wir uns keinesfalls anschließen dürfen. Was jahrelang gut lief und nur durch Pandemie und Krieg gestört wurde, soll man den sich stets ändernden Umständen angepasst zum Wohl aller Menschen weiterentwickeln. Da aber sind die USA mit ihrem ‚demokratischen Kapitalismus‘ nun wirklich kein Vorbild. ‚America First‘ oder immer nur die eigenen Interessen durchboxen ist out, obsolet. Respektvolle Völkerverständigung ist angesagt.

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Oben      —     Theater District, New York, NY, USA

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Juli 2023

Wo das Geld steckt – Sparpläne der Bundesregierung

Kolumne von Ulrike Herrmann

Die neuen Sparpläne der Bundesregierung sorgen für Ärger. Dabei wäre es doch so einfach, an Geld zu kommen, wie ein Blick in den Bundeshaushalt zeigt.

Der geplante Bundeshaushalt sorgt für hitzige Diskussionen. Stichworte sind: gestrichenes Elterngeld für Paare mit einem Jahreseinkommen von über 150.000 Euro, deutlich weniger Mittel fürs Bafög oder eingefrorene Zuschüsse für Krankenkassen, obwohl das Gesundheitswesen mehr Geld benötigt. Da wären innovative Ideen willkommen, wie der Staat neue Geldquellen auftun könnte.

Dass Kerosin von der Energiesteuer befreit ist, kostet den Staat 8,3 Milliarden Euro.

Um hoffnungsfrohe Erwartungen gleich zu zerstören: Neues ist nicht zu erwarten; die Debatte dreht sich seit Jahren im Kreis. Jeder denkbare Steuervorschlag wurde schon vielfach ventiliert – ohne dass sich Nennenswertes geändert hätte. Trotzdem sind manche Ideen so gut, dass eine Wiederholung nicht schadet.

Erster Vorschlag: Die Erbschaftssteuer wird endlich gerecht ausgestaltet – und belastet auch Firmenerben. Sie müssen nämlich gar keine Erbschaftssteuer zahlen, wenn sie es schlau anstellen, selbst wenn sie ein Milliardenvermögen übernehmen. Das verstößt gegen das Grundgesetz, wie das Bundesverfassungsgericht längst festgestellt hat. Profitieren würden die Länder, die notorisch klamm sind, denn sie kassieren die Erbschaftssteuer komplett.

Allerdings nutzen selbst die Machtworte des Verfassungsgerichts bisher nichts, weil die Familienunternehmen geschickte Lobbyarbeit betreiben und den Eindruck erzeugen, ihr Betrieb würde sofort in den Konkurs rutschen, wenn sie Erbschaftssteuer abführen müssten. Das ist nachweislich falsch. Früher mussten Firmenerben nämlich Steuern zahlen, aber Pleiten gab es dadurch nicht.

Zweiter Vorschlag: Die umweltschädlichen Subventionen werden abgeschafft. Das Umweltbundesamt hat eine lange Liste vorgelegt und unter anderem errechnet, dass es allein 8,2 Milliarden Euro im Jahr kostet, Diesel nicht so hoch zu besteuern wie Benzin. Die Entfernungspauschale schlägt mit weiteren 6 Milliarden Euro zu Buche, das Dienstwagenprivileg führt zu Mindereinnahmen von 3,1 Milliarden Euro, und die Befreiung des Kerosins von der Energiesteuer kostet 8,3 Milliarden Euro. Diese Zahlen stammen von 2018, neuere gibt es nicht.

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

Theoretisch ließe sich so also viel Geld mobilisieren. Aber man stelle sich einmal vor, die Entfernungspauschale würde entfallen. Die Wut in den Vororten wäre grenzenlos, was keine Partei riskieren möchte. Zudem scheitern alle diese Vorschläge daran, dass es direkte oder indirekte Steuererhöhungen wären. Die hat die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag aber ausgeschlossen, wie FDP-Finanzminister Lindner bei jeder Gelegenheit betont.

Bleibt ein dritter Vorschlag, der sich sofort umsetzen ließe und für Mehreinnahmen sorgen würde: Die Regierung hebt den Mindestlohn deutlich an. Wenn die Niedriglöhner endlich mehr verdienten, würden sie auch mehr Steuern zahlen. Zugleich würden sie mehr Beiträge in die Renten- und Krankenkassen abführen, sodass die staatlichen Zuschüsse dort abnehmen könnten.

Quelle       :          TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben      —     Left: „Um, gee… how many people came up trying to pass off little scribbled notes saying, „I.O.U. $3.00. Sincerely, Jon Doe?!“ Well, at least I thought it was funny.

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300 Jahre Adam Smith

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Juli 2023

Ausbeutung macht arm

KOLUMNE FINANZKASINO  von  Ulrike Herrmann

Adam Smith war einer der wichtigsten Ökonomen und Moralphilosoph. Er wusste: Reich wird man nur, wenn auch die anderen reich sind.

Was waren die herausragenden Leistungen von Adam Smith? Das ist umstritten. Der schottische Aufklärer wurde vor 300 Jahren geboren, und aus diesem Anlass schrieb der Ökonom Konstantin Peveling kürzlich in der taz, dass Smith zwar ein sehr wichtiger Moralphilosoph gewesen sei, aber „nicht Gründer der Volkswirtschaftslehre“. Was für ein Irrtum. Smith war einer der kreativsten Ökonomen aller Zeiten, und sein Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ von 1776 ist noch heute hochaktuell.

Übrigens war es früher gängig, dass die Ökonomie von Fachfremden vorangetrieben wurde, denn die Volkswirtschaftslehre hat sich erst sehr spät als Fach etabliert. Karl Marx war bekanntlich auch Philosoph, und der wichtigste Ökonom des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes, hat zunächst als Mathematiker begonnen.

Doch zurück zu Smith: Er wollte erklären, wie es zu Wohlstand und Wachstum kommt. Bis dahin hatten die Fürsten naiv angenommen, dass man nur Gold- und Silbermünzen anhäufen müsse, um reich zu sein. Smith hingegen zeigte, dass die Edelmetalle nicht zählen, sondern dass die Arbeit entscheidend ist.

Heute erscheint es uns selbstverständlich, dass es ohne Arbeit keinen Wohlstand geben kann. Aber hinter dieser Einsicht verbirgt sich eine theo­retische Revolution, die die Ökonomie für immer verändert hat. Gold und Silber sind Vermögenswerte, im Wirtschaftsdeutsch auch „Bestandsgrößen“ genannt. Man hat Goldmünzen – oder man hat sie eben nicht. Indem Smith jedoch die Arbeit in den Mittelpunkt rückte, lenkte er den Blick auf das Einkommen, also eine „Strömungsgröße“. Reichtum wurde neu definiert: Es ist kein Besitz, den man in Tresoren lagern kann, sondern wird erst durch den Produktionsprozess erschaffen.

Smith entdeckte die zentrale Rolle der Kapitalisten

Aber wer erwirtschaftet dieses Einkommen? Wieder gelang es Smith, die Ökonomie völlig neu zu ordnen, indem er drei zentrale Gruppen ausmachte – die Landbesitzer, die Arbeiter und die Unternehmer.

So erstaunlich es heute erscheinen mag: Frühere Theoretiker hatten die Bedeutung der Kapitalisten völlig übersehen. Typisch waren etwa die französischen Physiokraten, die nach Wirtschaftszweigen und nicht nach sozialer Rolle unterschieden hatten. Bei den Physiokraten war die Landwirtschaft eine Klasse, in der dann sowohl Landbesitzer wie Landarbeiter versammelt waren – während sich in einer anderen Klasse die Manufakturbesitzer, Handwerker und Fabrikarbeiter wiederfanden.

Erst Smith bündelte die Kapitalisten in einer Klasse – und die Arbeiter in einer anderen. Bei ihm spielte es keine Rolle mehr, ob die Tagelöhner auf dem Land oder in der Fabrik schufteten, denn sie waren alle abhängig beschäftigt. Zugleich zeichneten sich Unternehmer branchenunabhängig dadurch aus, dass sie in die Produktion investierten, um Gewinne zu machen. Uns erscheint diese Erkenntnis trivial, aber es war eine theoretische Revolution, den Kapitalisten als eine zentrale Figur im Kapitalismus zu erkennen.

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Aber wer wird Kapitalist und wer Arbeiter? Wer wird reich und wer muss schuften? Wieder war Smith seiner Zeit weit voraus, denn er sagte eindeutig: Mit der Begabung des Einzelnen hat es überhaupt nichts zu tun, ob er Tagelöhner oder Philosoph wird. Smith glaubte nicht an Intelligenzunterschiede zwischen Arm und Reich, sondern hielt es für eine soziale Zufälligkeit, wer das Glück hat, in die höheren Ränge hineingeboren zu werden. Die neoliberale Rhetorik von den „Leistungsträgern“ hätte er als naiv abgetan.

Die Angst vor der Globalisierung ist nicht neu

Smith wollte die Tagelöhner daher besser stellen: Er forderte höhere Löhne und hätte Gewerkschaften begrüßt. Auch sollten die Kinder von Tagelöhnern zumindest Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Erneut war Smith revolutionärer, als es heute erscheint: Die allgemeine Schulpflicht wurde in England erst 1871 eingeführt.

Schon zu Smith’ Zeiten gab es Diskussionen, die überaus vertraut anmuten. Großbritannien war damals die führende Industrienation, und die Engländer machten sich Sorgen, dass die anderen europäischen Länder genauso reich werden könnten, wenn man ihre Waren unbeschränkt importierte. Die Angst vor der Globalisierung ist also nicht neu – nur dass man sich damals vor Frankreich fürchtete, während jetzt vor allem Chinas Aufstieg gemischte Gefühle auslöst.

Smith versuchte seine Mitbürger zu beruhigen, indem er auf ein Phänomen hinwies, das bis heute zu beobachten ist: Reiche Länder handeln vor allem mit anderen reichen Ländern, denn nur wo Wohlstand herrscht, kann Nachfrage nach auswärtigen Produkten entstehen.

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —     St. Giles Adam Smith, Edingburgh

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Unten       —       MAISCHBERGER am 6. März 2019 in Köln. Produziert vom WDR. Thema der Sendung: „Attacke auf die Reichen: Beschimpfen, besteuern, enteignen?“ Foto: Ulrike Herrmann, Journalistin

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Die Gratismentalität der FDP

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Juli 2023

Leistung muss sich lohnen, findet die FDP.

NRW-Landtagswahlkampf 2012. Münster, 14. April 2012

Wenn Hände reden, kann auf den Kopf verzichtet werden !

Ein Debattenbeitrag von : JASMIN KALARICKAL

Aber wessen Leistung ist gemeint? Nicht nur beim Streit übers Elterngeld steht die Partei an der Seite der Reichen. Die Leistung-muss-sich-lohnen-Logik gilt für die Liberalen immer nur für Ärmere, nie für die eigene Klientel.

Ausgerechnet die als Porsche fahrende Männerpartei verschriene FDP ist plötzlich besorgt um die Gleichstellung. Stichwort Elterngeld. Als die grüne Familienministerin Lisa Paus im Zuge des Lindner’schen Sparkurses entschied, dass Spitzenverdiener-Haushalte kein Elterngeld bekommen sollen, war die FDP schnell auf den Barrikaden. Das träfe die „Mitte der Gesellschaft“, mahnten FDP-Politiker*innen und zeigten, wie verrutscht ihre Maßstäbe sind. Paus plant, dass es kein Elterngeld mehr für Haushalte geben soll, die ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von 150.000 Euro haben. Das wären 5 Prozent der Elterngeldbezieher*innen. Das durchschnittliche Jahreseinkommenlag 2022 in Deutschland bei knapp 40.000 Euro brutto im Jahr. Wenn reiche Haushalte nun auf Elterngeld bestehen, könnte man das mit Lindners Worten „Gratismentalität“ nennen.

Es ist bezeichnend, dass die fehlende Finanzierungsgrundlage für eine vernünftige Kindergrundsicherung oder einen angemessenen Mindestlohn zu Inflationszeiten nicht ansatzweise so viel Protest hervorbrachte. Dabei betrifft beides viel mehr Menschen. Doch ärmeren Menschen und Familien fehlt eine schlagkräftige Lobby. Die Unternehmerin Verena Pausder, die die Petition gegen die Elterngeldkürzung der Spit­zen­ver­die­ne­r*in­nen startete, hatte zumindest 2017 genug Geld übrig, um der FDP rund 50.000 Euro zu spenden. Das als Anekdote am Rande.

FDP-Bundestagsabgeordnete Katja Adler fand die Elterngeldkürzung so schlimm, dass sie vorschlug, stattdessen lieber bei der Antidiskriminierungsstelle und der Demokratieförderung zu sparen – mitten im AfD-Umfragehoch. Adler beklagte, dass die Familienministerin ausgerechnet bei den „Leistungsträgern unserer Gesellschaft“ kürze – was Grundsätzliches über das Selbstverständnis der FDP erzählt. In der Vorstellung der FDP ist wohl nur Leis­tungs­trä­ge­r*in, wer 75.000 Euro brutto aufwärts verdient. Also – wer viel Geld verdient, leistet viel. Dabei gehören viele der systemrelevanten Berufe nicht zu den Spitzenverdiener*innen. Hatte das Land in der Pandemie nicht noch für Pflegekräfte und Kas­sie­re­r*in­nen geklatscht? Wie viel unbezahlte, wertvolle Arbeit wird in diesem Land geleistet, etwa von pflegenden Angehörigen? Wer sticht den Spargel auf den Feldern? Wie viele Menschen müssen trotz Arbeit aufstocken? Die FDP blendet diese Realitäten bewusst aus. Es sind nicht ihre Zielgruppen.

Für die Partei gilt der Satz: Leistung muss sich lohnen. Die, die arbeiten, sollen mehr haben als die, die nicht arbeiten. Das muss nicht falsch sein. Doch die Partei argumentiert so gegen jede Erhöhung von Sozialleistungen, sei es Bürgergeld oder Kindergrundsicherung. Menschen, die für niedrige Löhne schuften, werden damit gegen jene ausgespielt, die auf Sozialhilfe angewiesen sind.

Das wahre Problem wird gar nicht adressiert: Der so genannte Lohnabstand ist oft nur deshalb so gering, weil Deutschland im europäischen Vergleich einen großen Niedriglohnsektor hat.Viele Menschen arbeiten und kommen trotzdem nicht über die Runden. 820.000 Beschäftigte mussten 2022 zusätzlich Sozialhilfe beziehen – besonders Alleinerziehende. Zwar sinkt der Anteil der Aufstocker*innen, 2011 waren es noch 1,35 Millionen. Dennoch gilt: Manche Unternehmen haben Ausbeutung zum Geschäftsmodell gemacht. Das wird als gegeben hingenommen.

6 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland zum Mindestlohn, viele sind weiblich, viele leben im Osten – doch wenn es um dieses Thema geht, ist Gleichstellung der FDP nicht so wichtig. Die Partei stemmt sich gegen weitere Mindestlohnerhöhungen, das würde den Wirtschaftsstandort schwächen und sei nicht Aufgabe der Politik. Zwar hat die FDP in der Ampelregierung die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro mitgetragen. Im Gegen­zug hat sie darauf bestanden, dass die Minijobgrenze an den Mindestlohn gekoppelt wird. Das ist zunächst für Mi­ni­job­be­r*in­nen eine Verbesserung – doch Gewerkschaften warnen, dass damit reguläre, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verdrängt werden. Ein Ergebnis schlechter Löhne ist: Jedes fünfte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet.

Das Perfide ist: Die Leistung-muss-sich-lohnen-Logik der FDP wird nur in Bezug auf arme Menschen angewandt. Denn eine Reform der Erbschaftsteuer ist ein absolutes No-go für die FDP. Dabei könnte das durchaus ein Thema sein für eine liberale Partei, die für Leistungsgerechtigkeit eintreten möchte. Erben ist ja nichts anderes als leistungsloses Einkommen. Aber da zeigt sich die Doppelmoral der FDP: Es geht ihr um die Besitzstandswahrung.

Quelle         :         TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben     —       NRW-Landtagswahlkampf 2012. Münster, 14. April 2012

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Die politischen Schleimer

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Juli 2023

Wenn Milliarden locken, werden «westliche Werte» zur Makulatur

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Um Mohammed bin Salman versammeln sich viele westliche politusche Stinker.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von           :          Pascal Derungs / 

Saudi-Arabiens Herrscher Mohammed bin Salman entlarvt das Gesicht mancher westlicher Schönredner. Der Diktator ist salonfähig.

Der saudische Staatschef trotzt allen Drohungen, ihn zu isolieren. Kronprinz Mohammed bin Salman hat wiederholt den Reichtum und Einfluss Saudi-Arabiens genutzt, um die internationale Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen des Königreichs zu ignorieren. In seinem Artikel vom 10. Juni 2023 berichtet Ben Hubbard in der New York Times über die wundersame Verwandlung Bin Salmans vom «Paria» zum Partner.

Wie aus Moralisten Wendehälse wurden 

Bei seiner Kandidatur für das Weisse Haus hatte Joe Biden geschworen, den saudischen Kronprinzen wegen der Ermordung des Dissidenten Jamal Khashoggi zum «Paria» zu machen. Erst im vergangenen Herbst drohte er dem Prinzen erneut mit «Konsequenzen», sollte er sich den amerikanischen Wünschen in der Ölpolitik widersetzen. Der republikanische Senator Lindsey Graham nannte Prinz Mohammed eine «Abrissbirne», die «niemals eine Führungspersönlichkeit auf der Weltbühne sein» könne.

Jetzt klängen diese Worte hohl, schreibt Hubbard, Präsident Biden habe Prinz Mohammed bei seinem Besuch in Saudi-Arabien per Handschlag begrüsst und schicke regelmässig hohe Beamte zu ihm, einschliesslich seines Aussenministers Antony J. Blinken. Senator Graham habe neben dem Prinzen gegrinst während eines Treffens im April. «Daran sieht man, dass Geld eine grosse Rolle spielt, denn dieser Mann sitzt auf einer Ölquelle und hat so viel Geld, dass er sich im Grunde aus allem herauskaufen kann», zitiert Hubbard den entschiedenen Gegner der Monarchie Abdullah Alaoudh, den saudischen Direktor der «Freedom Initiative», einer in Washington ansässigen Menschenrechtsorganisation.

Der Kronprinz hat gelernt und das Machtspiel durchschaut 

Während seines achtjährigen Aufstiegs zur Macht, so die NYT, habe der 37-jährige Prinz Mohammed immer wieder den Erwartungen getrotzt, dass seine Herrschaft in Gefahr sei, und gleichzeitig den Reichtum des Königreichs, seinen Einfluss auf die Ölmärkte und seine Bedeutung in der arabischen und islamischen Welt genutzt, um wiederholten Drohungen, ihn mit internationaler Isolation zu bestrafen, zu entgehen.

Auf seinem Weg habe er nicht nur seine Vision für die Zukunft Saudi-Arabiens als selbstbewusste Regionalmacht mit einer wachsenden Wirtschaft und grösserem politischem Einfluss geschärft, sondern auch Lehren aus seinen Rückschlägen gezogen, um seine Methoden zur Erreichung seiner Ziele zu verfeinern, so Analysten und Beamte, die Hubbard befragte.

Zumindest im Moment scheine dem Kronprinzen alles gut zu gelingen, stellt Hubbard fest. Die starke Ölnachfrage der letzten Jahre hat die Kassen des Königreichs gefüllt. Es kaufte einen englischen Fussballverein, zahlte eine beachtliche Summe, um Cristiano Ronaldo in seine nationale Liga zu holen, und versucht, immer neue internationale Stars anzuwerben, um das saudische Image aufzuwerten.

Auch im Profi-Golfsport zeichne sich eine prestigeträchtige Partnerschaft ab zwischen der renommierten PGA und der neu gegründeten, von Saudi-Arabien unterstützten LIV Golf Liga, weiss Hubbard. Sollte dieser Golf-Deal zustande kommen, würde ein enger Vertrauter von Prinz Mohammed zu einer der mächtigsten Persönlichkeiten des Sports werden und Saudi-Arabien eine weitere wichtige Plattform bieten, um sein internationales Image zu verbessern.
[Red. Unterdessen ist der Deal zustandegekommen: Wie sich Saudi-Arabien ins Herz des Golfsports einkauft]

Aus dem «jungen Wilden» wurde ein besonnener Staatslenker

Das alles, so die NYT, seien bedeutende Fortschritte für einen jungen Prinzen, der weithin als gefährlicher Emporkömmling gegolten habe, als sein Vater 2015 König wurde. Noch im selben Jahr startete der Prinz eine Militärintervention im Jemen, die enorm viele zivile Opfer forderte und «in einem Sumpf versunken» sei. Später schockierte er die diplomatische Gemeinschaft mit der Entführung des libanesischen Premierministers und versetzte die Geschäftswelt in Schrecken, indem er Hunderte reicher Saudis im Rahmen einer angeblichen Korruptionsbekämpfungsaktion wochenlang in ein Luxushotel sperrte.

Sein internationales Ansehen ging 2018 stark zurück, nachdem ein saudisches Killerkommando den regimekritischen saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Konsulat des Königreichs in Istanbul getötet und zerstückelt hatte. Prinz Mohammed bestritt, von dem Anschlag gewusst zu haben, aber die CIA kam zum Schluss, dass er die Operation wahrscheinlich angeordnet hatte.

Das sei vermutlich sein Tiefpunkt gewesen, schreibt Hubbard. Doch in den folgenden Jahren habe der Kronprinz dank des beträchtlichen Reichtums und der Macht seines Landes einen Grossteil seines Einflusses zurückgewonnen. Schon früh habe er interne Rivalen ausgeschaltet, um seine Kontrolle im eigenen Land zu festigen. Die von ihm angestossenen sozialen Veränderungen, wie die Erlaubnis für Frauen, Auto zu fahren, und die Ausweitung der Unterhaltungsmöglichkeiten in einem Land, in dem Kinos früher verboten waren, hätten ihm Fans unter der Jugend des Königreichs eingebracht.

Staatsoberhäupter von der Türkei bis zu den Vereinigten Staaten, die Prinz Mohammed einst verschmähten, hätten ihn in den letzten Jahren als die Zukunft Saudi-Arabiens akzeptiert, analysiert Hubbard. Der Kronprinz habe auch die Beziehungen des Königreichs zu China vertieft. So habe China Saudi-Arabien zu einem diplomatischen Durchbruch mit dem langjährigen regionalen Rivalen Iran verholfen.

Letztlich gewinnt der lange Atem des Autokraten

Bin Mohammed wisse genau, dass er als «König im Wartestand» in einer Monarchie mit viel Geduld spielen könne. Tatsächlich wird er sich nie zur Wiederwahl stellen müssen, und er hat es bereits mit dem dritten amerikanischen Präsidenten zu tun. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele weitere kommen und gehen werden, während er im Amt bleiben wird.

Seine «Genesung» von der Khashoggi-Affäre habe gezeigt, dass das Geld des Königreichs einen langen Weg zurücklegen könne und dass, egal wie sehr westliche Regierungen über Menschenrechte reden würden, andere Interessen schliesslich Vorrang hätten, bilanziert Hubbard.

Das Einfordern von Menschenrechten hielten die arabischen Golfstaaten «für einen Witz», zitiert Hubbard Dina Esfandiary, Senior-Beraterin für den Nahen Osten und Nordafrika bei der «International Crisis Group»: «Sie sind sich ihres Wertes für die westliche Welt bewusst, als Partner, als Energieproduzenten, als Länder mit wirtschaftlicher Macht. Also können sie mit dieser leeren Drohung leben, weil sie einfach zur Beziehung gehört.»

Ben Hubbard

Ben Hubbard ist der Leiter des Istanbuler Büros der New York Times. Er hat mehr als ein Dutzend Jahre in der arabischen Welt verbracht, darunter in Syrien, Irak, Libanon, Saudi-Arabien, Ägypten und Jemen. Er ist Autor des Buches «MBS: The Rise to Power of Mohammed bin Salman».

Big Business erringt Vorrang vor Moral und Ethik

Als der Dissident Khashoggi getötet wurde, verteidigte der damalige US-Präsident Trump den Kronprinzen nachdrücklich, indem er unter anderem herausstrich, dass die saudischen Waffenkäufe den Vereinigten Staaten zugutekämen. Auch der republikanische Senator Graham aus South Carolina, der damals sagte, Prinz Mohammed sei nicht geeignet, die Führung zu übernehmen, ist mittlerweile umgeschwenkt, indem er sich bei Bin Salman im April für den Kauf amerikanischer Flugzeuge bedankte: «Sie haben für 37 Milliarden Dollar Flugzeuge gekauft, die in meinem Staat und meinem Land hergestellt wurden», sagte der Senator dem saudi-arabischen Fernsehsender Al Arabiya. Und fügte an: «Als Senator der Vereinigten Staaten behalte ich mir das Recht vor, meine Meinung zu ändern.»

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dessen Regierung Einzelheiten über die Ermordung Khashoggis an die Öffentlichkeit durchsickern liess, habe seine Einwände schliesslich fallen gelassen, schreibt Hubbard. «Letztes Jahr übertrug ein türkisches Gericht das Verfahren gegen Khashoggis Mörder an Saudi-Arabien und beendete damit den letzten Prozess, der die Verantwortlichkeit für das Verbrechen sicherstellen sollte». Und er ergänzt vielsagend: «Kurz darauf hat das Königreich der türkischen Zentralbank Einlagen in Höhe von 5 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt, um die türkischen Finanzen zu stützen.»

Die Einflusssphäre der USA schwindet zunehmend

Viele der Entscheidungen von Kronprinz Bin Salman in den letzten Jahren seien durch das wachsende Gefühl innerhalb des Königreichs beeinflusst worden, dass die USA ein unzuverlässiger Partner geworden seien, schreibt Hubbard in der NYT. Der Kronprinz habe es bereits mit drei US-Präsidenten beider Parteien zu tun gehabt, die alle das amerikanische Engagement im Nahen Osten zurückfahren wollten.

Die Risiken eines solchen Rückzugs für Saudi-Arabien seien 2019 deutlich zu Tage getreten, als Drohnen- und Raketenangriffe, deren Orchestrierung die USA dem Iran vorwarfen, saudische Öleinrichtungen trafen und fast die Hälfte der Produktion des Königreichs vorübergehend zum Erliegen brachten. Präsident Trump lehnte damals eine Intervention ab, woraufhin Prinz Mohammed und seine Amtskollegen in den Vereinigten Arabischen Emiraten zum Schluss gekommen seien, dass die USA ihnen nicht mehr den Rücken freihielten und dass sie selbst für ihre Sicherheit sorgen müssten.

Seither sei es unwahrscheinlicher geworden, dass Saudi-Arabien automatisch auf amerikanische Forderungen eingehe, stellt Hubbard in der NYT fest. Bin Salman habe sich geweigert, die westlichen Sanktionen mitzutragen, mit denen der russische Präsident Putin nach der Ukraine-Invasion isoliert werden sollte. Stattdessen habe Saudi-Arabien die Importe von verbilligten russischen Ölprodukten sogar erhöht.

Abschlägig beschieden wurde auch die Forderung der Regierung Biden, die Ölproduktion hoch zu halten, um die Gaspreise in den Vereinigten Staaten vor den Zwischenwahlen im November zu senken. Im Gegenteil: Im Oktober einigte sich das Königreich mit den anderen Mitgliedern des Ölkartells OPEC Plusdarauf, die Produktion stattdessen zu drosseln, um die Preise hoch zu halten.

Doch die von Präsident Biden angedrohten «Konsequenzen» seien nie eingetreten. Das mache deutlich, dass selbst die USA ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Saudi-Arabien für zu wichtig hielten, um sie zu gefährden, analysiert Hubbard.

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte

Die Wahrnehmung, dass sich die USA aus dem Nahen Osten zurückziehen, habe Prinz Mohammed dazu veranlasst, die diplomatischen Beziehungen Saudi-Arabiens auszuweiten, insbesondere zum grössten Rivalen der USA, zu China. China ist der wichtigste Handelspartner des Königreichs und der grösste Abnehmer saudischen Öls. Ben Hubbard schreibt, beim chinesisch-arabischen Gipfeltreffen in Riad im Dezember 2022 hätten die beiden Staatsoberhäupter darüber gesprochen, dass China als Vermittler fungieren könnte, um den Konflikt mit dem Iran zu entschärfen. Tatsächlich sei es bereits einige Monate später zu einem überraschenden diplomatischen Durchbruch gekommen, als Saudi-Arabien und Iran ankündigten, wieder normale diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Laut Hubbard ist dies ein doppelter Gewinn für Prinz Mohammed, der dadurch die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts mit seinem Hauptfeind in der Region verringert und gleichzeitig dem US-Rivalen China eine Vermittlerrolle zugespielt habe. Die USA seien aufgrund ihrer eigenen angespannten Beziehungen zu Teheran nicht in der Lage gewesen, eine iranisch-saudische Vereinbarung zu vermitteln.

Vom Saulus zum Paulus?

Mittlerweile würden selbst einige ehemalige Kritiker des Königreichs in Kronprinz Bin Salmans Bemühungen, die Region zu stabilisieren, positive Zeichen erkennen, schreibt Hubbard. Er zitiert Dennis Horak, einen ehemaligen kanadischen Botschafter, der 2018 wegen saudi-kritischen Twitter-Beiträgen von seinem Posten in Riad verwiesen wurde: «Riad baut wieder Brücken und versucht, die Hand auszustrecken und eine konstruktivere Kraft in der Region zu sein».

Die Frage sei nur, ob dies von Dauer sein könne, stellt Hubbard abschliessend fest.

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Grafikquellen        :

Oben      —   Arab leaders, U.S. president Joe Biden and Mohammed (fifth from right) at the GCC+3 summit in Jeddah, 16 July 2022

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Unten           —         Speaking with U.S. president Donald Trump in Washington, D.C., 14 March 2017

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Juni 2023

Nur Rationierung ist gerecht

Von Ulrike Herrmann

Wassermangel im Dürresommer. Angeblich leben wir in einer Marktwirtschaft. Doch wenn wichtige Güter knapp werden, hilft die nicht weiter. Dann muss rationiert werden.

Wer bekommt wie viel Wasser? Und wofür? Wie lange darf man noch den Rasen sprengen oder Pools füllen? Solche Fragen werden auch in Deutschland relevanter. In den vergangenen Wochen hat es kaum geregnet, ein Ende der Dürre ist nicht abzusehen. Vor allem im Osten Deutschlands sind die Dürrekarten tiefrot eingefärbt.

Es steht ein Wort im Raum, das eigentlich nur aus Kriegszeiten bekannt ist, wenn alles knapp wird: Rationierung. Ganz selbstverständlich arbeitet die Berliner Umweltsenatorin schon an einem Notfallplan, und auch die BürgerInnen staunen nicht, dass Wasser demnächst staatlich zugeteilt werden könnte.

Diese allgemeine Erwartung an den Staat, dass er die Regie übernehmen soll, ist jedoch längst nicht so naheliegend, wie die meisten BürgerInnen offenbar intuitiv annehmen. Denn angeblich leben wir in einer „Marktwirtschaft“. Zumindest FDP und Union sind davon fest überzeugt. In einer „Marktwirtschaft“ würde jedoch der Preis regeln­, wer wie viel Wasser bekommt. Marktwirtschaft wäre: Wenn Wasser knapp ist, wird es eben teuer. Der Effekt wäre, dass die Reichen weiter ihre Pools füllen und Golfplätze bewässern lassen, weil sie sich die erhöhten Wasserpreise mühelos leisten können. Dafür würde es dann in den armen Quartieren nicht mehr für eine Wassertoilette reichen.

Doch offenbar sind die Deutschen keine Marktwirtschaftler, wenn wichtige Güter wie Wasser knapp werden. Dann soll nicht mehr der Preis regieren – sondern die Gerechtigkeit. Jede soll mehr oder minder das Gleiche bekommen. Wenn die Reichen dann auf Pools und Golf verzichten müssen, haben sie eben Pech gehabt.

Das hat einen sehr rationalen Kern: Deutschland ist eine Demokratie, geht also davon aus, dass alle Menschen gleich sind und daher jeder eine Stimme hat. Dieser fundamentale Gleichheitsgedanke wird auch ökonomisch zentral, wenn es darum geht, wichtige Güter zu verteilen, sobald sie knapp werden.

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

Nun ist Wasser ein Extrembeispiel, weil Menschen nicht lange überleben können, wenn sie nicht regelmäßig trinken. Da liegt es nahe, auf Rationierung zu setzen, damit alle versorgt sind. Spannend wird es bei Gütern, die nicht unentbehrlich sind. Werden auch sie irgendwann rationiert? Da ist zum Beispiel das Fliegen, ein Lieblingshobby der Deutschen. Schon jetzt ist klar, dass es der Luftfahrt in den nächsten Jahrzehnten nicht gelingen wird, klimaneutral zu werden. Klimaneutralität ist nur möglich, wenn man aufs Fliegen verzichtet. Software-Milliardär Bill Gates weiß auch schon, wie er dieses Problem gern lösen würde: Kerosin muss eben sehr teuer werden. Dann könnte er weiterhin mit seinen Privatjets fliegen, während der große Rest finanziell überfordert wäre und am Boden bleiben muss.

Quelle        :       TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     Left: „Um, gee… how many people came up trying to pass off little scribbled notes saying, „I.O.U. $3.00. Sincerely, Jon Doe?!“ Well, at least I thought it was funny.

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Die Welt – Finanzkrise

Erstellt von DL-Redaktion am 19. Juni 2023

Die Schuldenkrise wird multipolar

Zunächst gibt es zwischen den 17 betrachteten Staaten bis etwa 1995 noch deutliche Renditeunterschiede, die Bandbreite verringert sich aber zunehmend; um 2000 sind die Renditen fast auf gleicher Höhe, nachdem anschließend einige weitere Staaten aufgenommen werden wird das Spektrum 2002 zunächst wieder etwas weiter, bis schließlich auch diese um das Jahr 2006 in einem ca. 2,5-Prozenzpunkte-Spektrum zwischen 2,5 und 5 Prozent liegen. Ein erstes Auffächern lässt sich nach 2008 zur Finanzkrise feststellen, ab Ende 2009 (Beginn Eurokrise) werden die Differentiale immer größer, wobei insbesondere Griechenland nach oben ausbricht (Spitzenwert knapp unter 30 Prozent); der deutsche Wert unterliegt seit 2008/9 einem Abwärtstrend.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Immer mehr Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien sind überschuldet oder stehen sogar vor dem Bankrott. Von dieser Krise ist als Kreditgeber auch China betroffen, das Notkredite vergeben muss, um eigene Banken vor Zahlungsausfällen zu schützen.

Die Zinserhöhungen der westlichen Notenbanken, mit denen diese die hartnäckige Inflation bekämpfen wollen – in den USA liegt der Leitzins mittlerweile bei fünf bis 5,25 Prozent, im Euro-Raum bei 3,75 Prozent –, haben in den USA bereits zum Kollaps von drei Regionalbanken geführt und dämpfen das Wirtschaftswachstum beiderseits des Atlantik. Doch sind diese Turbulenzen nichts im Vergleich zu den Erschütterungen, denen viele wirtschaftlich schwächere Länder ausgesetzt sind. Weil es immer teurer wird, neue Kredite aufzunehmen, fällt es diesen immer schwerer, ihre zumeist in US-Dollar laufenden Auslandsschulden zu bedienen.

Insbesondere in Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten finden sich immer mehr Länder in einer klassischen Schuldenfalle wieder, bei der konjunkturelle Stagnation, Rezession und steigende Kreditkosten in eine fatale Wechselwirkung treten. Die Situa­tion wird bereits mit dem »Volcker-Schock« von 1979 verglichen, als der damalige Präsidentder der US-Notenbank, Paul Volcker, die Leitzinsen in den USA auf zeitweise über 20 Prozent anhob, um die langjährige Stagflation zu bekämpfen, was besonders in Ländern in Südamerika und Afrika eine Schuldenkrise auslöste.

Mitte April meldete die Financial Times unter Berufung auf eine Studie der NGO Debt Justice, dass der Auslandsschuldendienst einer Gruppe von 91 der ärmsten Länder der Welt in diesem Jahr durchschnittlich 16 Prozent ihrer staatlichen Einnahmen verschlingen werde, wobei dieser Wert im kommenden Jahr auf 17 Prozent ansteigen dürfte. Zuletzt wurde ein ähnlich hoher Wert 1998 erreicht. Am stärksten betroffen ist demnach Sri Lanka, dessen Schuldendienst in diesem Jahr rund 75 Prozent der prognostizierten Einnahmen entspricht, weswegen die Financial Times erwartet, dass der Inselstaat in diesem Jahr »den Zahlungen nicht nachkommen« werde.

Sambia, das wie Sri Lanka schon im vergangenen Jahr einen Staatsbankrott durchstehen musste, ist ebenfalls akut gefährdet. Ähnlich schlimm sehe es in Pakistan aus, wo in diesem Jahr 47 Prozent der Regierungseinnahmen zur Bedienung von Auslandskrediten aufgewendet werden müssten. Die Folgen für die Bevölkerung sind in diesen und vielen anderen Ländern bereits jetzt dramatisch: Regierungen können beispielsweise Gehälter nicht mehr zahlen oder Importe von Energieträgern oder Nahrungsmitteln nicht finanzieren, der Wertverfall ihrer Währungen verschärft Inflation, Armut und Hunger.

Doch nicht nur die ärmsten Länder sind bedroht. In Argentinien beispielsweise, wo die Zentralbank Geld druckt, um das Haushaltsdefizit zu finanzieren, beträgt die Inflation inzwischen 109 Prozent und droht, in eine destruk­tive Hyperinflation überzugehen. Wie viele andere Krisenstaaten hat Argentinien ein Notprogramm mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) abgeschlossen, das Kredite in Höhe von 44 Milliarden US-Dollar im Gegenzug für Austeritätsmaßnahmen vorsieht. Mitte Mai forderte der argentinische Präsident Alberto Fernández angesichts einer dürrebedingten Missernte beim wichtigsten Exportgut Weizen Neuverhandlungen mit dem IWF. Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner nannte das Abkommen gar »skandalös« und einen »Betrug«.

Eine besondere Rolle spielt in der derzeitigen Schuldenkrise China, das in den vergangenen Jahren zu einem der größten weltweiten Kreditgeber aufgestiegen ist. Allein im Rahmen des weltweiten Entwicklungsprogramms der Belt and Road Initiative, auch bekannt als »Neue Seidenstraße«, wurden bis Ende 2021 Kredite und Transaktionen im Umfang von mindestens 838 Milliarden US-Dollar getätigt, um damit zumeist Infrastruktur- und andere Großprojekte in Afrika, Asien und Lateinamerika zu finanzieren. Den Großteil der Kredite vergaben chinesische Banken. China wollte damit die Grundlage für eine künftige wirtschaftliche Hegemonie legen.

Doch inzwischen – nach der Covid-19-Pandemie und der russischen Invasion der Ukraine, dem globalen Inflationsschub und einer Verlangsamung des Wachstums in China selbst – sind chinesische Banken zurückhaltender bei der Vergabe von Krediten in ärmeren Ländern. Einer Studie der Rhodium Group zufolge sind bereits 2021 rund 16 Prozent der aus China im Ausland vergebenen Kredite mit einem Wert von etwa 118 Milliarden US-Dollar vom Zahlungsausfall bedroht gewesen und hätten nachverhandelt werden müssen.

Nur ein Jahr später hat sich die chinesische Auslandsschuldenkrise laut ­einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) bereits stark ausgeweitet. Demnach sollen 2022 schon 60 Prozent der Kredite ausfallgefährdet gewesen sein, so dass Peking an 22 Schuldnerländer 128 Notkredite im Umfang von 240 Milliarden US-Dollar vergeben musste. Hierbei wird den Schuldnerstaaten zumeist nur ein Aufschub gewährt, indem neue Darlehen zur Tilgung fälliger Zahlungen vergeben werden, was eine »Verlängerung von Laufzeiten oder Zahlungszielen« ermögliche; ein Erlass von Schulden finde »nur äußerst selten statt«, so das IfW.

Die meisten dieser Refinanzierungskredite vergab die chinesische Zentralbank, die damit effektiv jene chinesischen Banken rettet, die die Kredite ursprünglich vergeben haben. Die Autoren der IfW-Studie vergleichen das derzeitige Vorgehen Chinas deshalb mit der Vergabe von sogenannten Rettungskrediten an Griechenland und andere südeuropäische Länder während der Euro-Krise, bei der es ebenfalls um die Rettung von Banken ging, denen Zahlungsausfälle drohten.

Krisen- und Überbrückungskredite fließen vor allem an »Länder mit mittlerem Einkommen«, da auf diese 80 Prozent des chinesischen Auslandskreditvolumens entfallen und sie damit »große Bilanzrisiken für chinesische Banken« darstellten, so das IfW. Länder mit niedrigem Einkommen hingegen erhielten kaum Krisenkredite, da deren Staatspleiten den chinesischen Bankensektor kaum gefährden könnten. Die Verzinsung der chinesischen Krisenkredite soll außerdem durchschnittlich fünf Prozent betragen; beim IWF sind zwei Prozent üblich. Zu den Schuldnerstaaten, die mit Krisenkrediten versorgt wurden, zählen Länder wie Sri Lanka, Pakistan, Argentinien, Ägypten, die Türkei und Venezuela.

Das IfW merkte zudem an, dass bei einem Großteil der Rettungskredite die Modalitäten und der Umfang der Kreditprogramme nicht öffentlich zugänglich sind. Dadurch werde insgesamt »die internationale Finanzarchitektur multipolarer, weniger institutionalisiert und weniger transparent«. Diese Intransparenz betreffe auch zuvor von chinesischen Banken vergebene Kredite. Die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) zitierte kürzlich in einem ausführlichen Bericht über die Schuldenkrise Ergebnisse einer Untersuchung der Forschungsgruppe Aid Data, die allein bis 2021 chinesische Kredite in Höhe von mindestens 385 Milliarden US-Dollar in 88 Ländern registriert hatte, die »versteckt oder unzureichend dokumentiert« gewesen seien.

Picture of a Greek demonstration in May 2011

100.000 Menschen protestieren in Athen gegen die Sparmaßnahmen ihrer Regierung, 29. Mai 2011

Viele der ärmsten Länder in Afrika oder Asien griffen auf dem Höhepunkt der globalen Liquiditätsblase zwischen 2010 und 2020 gerne auf die chinesischen Gelder zu, um damit Infrastruktur- und Prestigeprojekte zu finanzieren, die sich im gegenwärtigen Krisenschub immer öfter in Investitionsruinen verwandeln. Für diese Länder stellt die Geheimhaltung nun ein ernsthaftes Problem dar, denn im Fall einer Zahlungsunfähigkeit müssen sich die internationalen Gläubiger des betroffenen Lands darüber verständigen, wer in welchem Ausmaß Kredite stundet oder auf Rückzahlungen verzichtet. Westliche Kreditgeber und Institutionen wie der IWF oder die Weltbank verweigern derzeit jedoch in vielen Fällen Notfallprogramme, da die Modali­täten der chinesischen Kreditprogramme unklar seien und sie sich mit China nicht einigen könnten. Einige arme Staaten befänden sich deshalb in einem »Schwebezustand«, schreibt AP, da China nicht bereit sei, Verluste hinzunehmen, während der IWF sich weigere, niedrig verzinste Kredite zu ­gewähren, wenn damit nur chinesische Schulden abgezahlt würden.

Belastet werden die Verhandlungen der Kreditgeber zusätzlich von der sich verschärfenden weltpolitischen Konkurrenz zwischen den westlichen Staaten und China. Die zunehmende Fragmentierung der Weltwirtschaft erschwere es, »Staatsschuldenkrisen zu lösen, besonders, wenn es unter den entscheidenden staatlichen Kreditgebern geopolitische Spaltungen gibt«, warnte die Direktorin des IWF, Kristalina Georgiewa, im Januar.

Die westlichen Staaten hoffen unterdessen, die chinesische Auslandsschuldenkrise nutzen zu können, um den Einfluss, den sich China durch seine Kreditvergabe in vielen Weltregionen aufgebaut hat, wieder zurückzudrängen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte im Mai, für die G7-Staaten und ihre Partner gebe es jetzt eine »günstige Gelegenheit«, nachdem »viele Länder im Globalen Süden schlechte Erfahrungen mit China« gemacht hätten und sich in »Schuldenkrisen« wiederfänden, während Russland nur »Söldner und Waffen« im Angebot habe. Der Westen könne, wenn er schnell agiere, Partnerschaften mit diesen Ländern eingehen, die von beiderseitigem Nutzen wären. Unternehmen und Banken könnten an der Ausarbeitung »umfassender Pakete« beteiligt werden, die auch Teile der Produktionsketten in Entwicklungsländer verlagern würden. Die EU wolle »nicht nur die Extraktion der Rohstoffe, sondern auch deren lokale Weiterverarbeitung und Veredelung« fördern. Von der Leyen spekuliert damit auf ein schlechtes Gedächtnis ihrer potentiellen »Partner« im Globalen Süden, die bereits seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts leidvolle Erfahrungen mit westlichen Kreditprogrammen sammeln konnten.

Erstveröffentlicht unter:  https://jungle.world/artikel/2023/22/die-schuldenkrise-wird-multipolar

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Grafikquellen       :

Oben       —       Abb. 4| Zinskonvergenz und -divergenz: Renditen 10-jähriger Staatsanleihen von Mitgliedern der Eurozone, 1993–2017 (EZB)

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Die Welt im Wandel

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Juni 2023

Der Fall kommt im Sog der Überheblichkeit

Das alles für eine Hand voll Dollar

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Es ist nicht mehr zu übersehen, dass sich die Welt seit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg manifest im Wandel befindet, verkürzt: weg von der US-Hegemonie.

Dass sich solch gewaltige Veränderungen nicht ohne Nebenwirkungen vollziehen und über Generationen dauern können, wird Tag für Tag deutlich und spürbar, überall auf der Welt. Zwar will die US-Politik davon nichts wissen oder verdrängt diese unaufhaltsame Entwicklung, aber selbst die US-Amerikaner haben den „American Dream“ aufgegeben und sehen die Zukunft ihres Landes weit überwiegend düster.

Laut einer Umfrage des Pew Research Center vom Frühjahr dieses Jahres schätzen die Lage der USA 2050 so ein: Wirtschaft der USA ist schwächer – 66%, USA weniger wichtig in der Welt – 71%, USA politisch gespaltener – 77%, Kluft zwischen Arm und Reich in den USA größer – 81%. Diese deutliche Volksmeinung wird von der Politik beharrlich mit „America First“ verdrängt. Ebenso plump wie arrogant schieben sie alle Übel auf den neuen Feind Nr.1, China.

Da gibt es z.B. seit 2009 die sog. BRICS-Staaten, die weder von den USA noch von den westlichen Industriestaaten so recht ernst genommen wurden und sich seitdem zu einem starken Wirtschaftsverbund entwickelt haben und schon heute ein reales wirtschaftliches Gegengewicht zu den G7-Staaten darstellen. Das demonstrieren sie auch deutlich durch das weitgehende Abkoppeln vom Dollar und den Handel untereinander in ihren Landeswährungen. Dadurch entfällt die arrogante Kontrolle durch die USA und die Weltbank und BRICS ist jetzt eine Alternative für viele Entweicklungsländer geworden.

Es hat zu politischen und kulturellen Veränderunegn geführt, dass z.B. China seine internationalen Aktivitäten friedvoll und zum gegenseitigen Nutzen betreibt, eine Einstellung, die den USA völlig unbekannt zu sein scheint. Die USA und in deren Schlepptau die G7 müssen ihre Überheblichkeit gegenüber anderen Ländern aufgeben und nicht alles nur nach ihrem finanziellen Vorteil bewerten. Bestes Beispiel sind die Jahre von mitte 1970 bis 2015 im China-Handel.

Der Westen konnte nicht genug billig und gut in China fertigen lassen oder einkaufen, um es mit hohen Gewinnen zu verkaufen. Das Land und sein Volk hat keinen interessiert und die Entwicklung dort hat man total verschlafen, um heute entsetzt aufzuwachen und China als Feind Nr1 abzustempeln, weil es in Rekordzeit zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt geworden ist. Reiner Neid! Aber vor allem Dummheit und immer wieder nur kurzfristige und eigensüchtige Profitgeilheit!

Da folgen viele Länder lieber China und/oder BRICS, halten sich aus dem Ukraine-Konflikt heraus, plädieren für seine diplomatische Lösung und haben sich vom Dollar bereits deutlich gelöst. Diese markanten Umwälzungen in der Weltwirtschaft haben bereits dazu geführt, dass „seit 2000 der Anteil der in US-Dollar gehaltenen Währungsreserven der Zentralbanken um die Hälfte gesunken“ ist.

Die USA und der im blind folgende Westen müssen endlich runter von ihrem hohen Ross und die Probleme der Welt nicht mit Gewalt, sondern mit Respekt vor anderen Völkern und Kulturen lösen und, wenn nötig, deren Potential friedvoll entwickeln helfen. Waffen und Sanktionen sind keine Lösung, wie im Ukraine-Konflikt geradezu grotesk vorgefüht, weil sie dem Westen und der Welt mehr schaden als Russland. Wenn der US-geführte Westen sich nicht schleunigst von seiner Überheblichkeit und seinem hegemonialen Denken verabschiedet, wird er in deren Sog untergehen.

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Oben       — „US Mexico Israeli Style Wall“ by Carlos Latuff.

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Lauterbachs Revolution

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Juni 2023

Krankenhäuser vor dem Aus – Lauterbachs Revolution

von Ulrike Baureithel

Dass das deutsche Gesundheitssystem schlechter ist als sein Ruf, dürfte inzwischen bis in den letzten Winkel der Republik vorgedrungen sein. Doch nur einem kleinen Kreis war bislang bekannt, dass es um die Kinderversorgung besonders schlecht steht. In den Fokus rückte diese erst, seit im November 2022 nicht nur Erwachsene, sondern vor allem der Nachwuchs von heftigen Atemwegsinfektionen betroffen war und sich Eltern die Augen rieben, weil plötzlich weder einfache Fiebersäfte noch Krankenhausbetten für ihre Jüngsten verfügbar waren. Dabei warnen Pädiater:innen schon jahrelang vor dem absehbaren Notstand. So noch vor einem Jahr Wolfgang Kölfen, Verbandssekretär der leitenden Kinderklinikärzte, der im „Deutschen Ärzteblatt“ beklagte, dass in den vergangenen zehn Jahren 30 Prozent der Betten in den deutschen Kinderkliniken verloren gegangen seien.[1]

Das Fiasko in den Kinderkliniken rückt ein Abrechnungssystem in den Blick, das schon längst hätte abgeschafft werden müssen: die Fallpauschalen (DRG). Für viele Häuser rechnen sich die Kinder- und Jugendabteilungen nicht mehr, weil die jungen Patient:innen – auch weil die Eltern darüber mitbestimmen – nicht so lange im Krankenhaus bleiben. „Liegt ein Patient kürzer im Krankenhaus, als die definierte Verweildauer im DRG vorsieht“, so Kölfen, „rutscht der Patient in die Grenzwertverweildauer.“ Das Krankenhaus erhalte dann statt beispielsweise 2000 Euro nur 500 Euro. Einen weiteren Grund sieht Kölfen im Investitionsstau, weil die dafür verantwortlichen Länder ihrem Auftrag nicht nachkommen. Zudem führt die 2020 eingeführte generalistische Pflegeausbildung seiner Ansicht nach zu einem ausgeprägten Mangel an Kinderkrankenpfleger:innen. Wer mit Kindern arbeiten wolle, entscheide sich schon früh dafür und wolle nicht in die Erwachsenenpflege.

Doch beim Gang durch die heutige Ausbildung, bei der die Pflegeschüler:innen durch alle Bereiche geschleust werden, bleiben viele hängen und brechen ab. Dabei sind Schätzungen zufolge zusätzlich 3000 Vollzeitkräfte in der Kinderkrankenpflege nötig. So stand Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) unter akutem Druck, als er auf die Idee verfiel, Pflegepersonal von den Normal- auf die Kinderstationen zu verlegen. Von „Inkompetenz im Ministerium“ sprach der Vorsitzende des Berufsverbands der Kinder und Jugendärzte, Jakob Maske, im „Deutschlandfunk“.[2] Zumal auf den Stationen für Erwachsene ebenfalls Pflegepersonal fehlt.

Zum großen Wurf holte Lauterbach Anfang Dezember aus, als er zusammen mit seiner nur aus Sachverständigen zusammengesetzten Expert:innenkommission sein Konzept zu einer großen Krankenhausreform vorstellte.[3] Er wolle der „Überökonomisierung des Gesundheitssystems“ ein Ende setzen, versprach er, und die Kliniken wieder zu einem Teil der Daseinsvorsorge machen. Er verstieg sich sogar dazu, eine „Revolution“ anzukündigen, die das DRG-System überwinde, den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Medizin rücke und das Gesundheitssystem aus dem „Hamsterrad“ befreie, in dem es die vergangenen 20 Jahre gestrampelt habe. Der Gesundheitsminister stellte außerdem heraus, dass die Kommission ausschließlich aus Expert:innen zusammengesetzt sei und die üblichen Lobbyist:innen keinen Einfluss auf das Konzept gehabt hätten. Das allerdings steht infrage.

Von einer »Revolution« weit entfernt

Doch worin besteht nun diese „Revolution“? Sollte Lauterbach die lange von vielen Akteur:innen im Gesundheitssystem geforderte Abwicklung der Fallpauschalen tatsächlich auf den Weg gebracht haben? Sollte er damit den Krankenhäusern eine auskömmliche Finanzierung bereitstellen, die es erlaubt, dass sich Ärzteschaft und Pflegende wieder um die Hilfesuchenden kümmern, statt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie ihren Häusern möglichst viel Geld eintreiben? Fest steht: Von einer Überwindung oder gar von einem Ende der Fallpauschalen kann keine Rede sein.

Bisher ist es gängige Praxis, dass die Kliniken pro Behandlungsfall nur eine bestimmte Summe abrechnen können – unabhängig davon, ob die Patient:innen länger als geplant in der Klinik bleiben müssen. Der Anreiz für die Klinikleitungen besteht somit darin, möglichst viele, möglichst lukrative, mit möglichst wenig Aufwand verbundene Behandlungen durchzuführen – etwa der insbesondere von privaten Kliniken angebotene Ersatz von Knie- oder Hüftgelenken –, unabhängig davon, ob diese medizinisch indiziert sind. Schwierigere Prozeduren oder Komplikationen, die lange Liegezeiten nach sich ziehen, drücken dagegen aufs Budget.[4]

Rhön-Klinikum AG

Die Expert:innen schlagen nun vor, das System zu modifizieren, indem Kliniken nur noch 60 Prozent ihrer Haushaltsmittel über Fallpauschalen realisieren, während sie die restlichen 40 Prozent unabhängig von ihrer Leistung als Vorhaltepauschale erhalten. Schon jetzt werden jedoch die Mittel für die Pflege – immerhin 20 Prozent des Gesamtbudgets – nicht mehr über Fallpauschalen abgerechnet. Daher werden viele Krankenhäuser auch weiterhin darauf achten müssen, durch lukrative Behandlungen Gewinne einzufahren. Perspektivisch ausgenommen von dieser Regelung sind die Notfall-, Intensiv- und Kindermedizin sowie die Geburtshilfe. Sie sollen im umgekehrten Verhältnis von 40 zu 60 Prozent finanziert werden, weil sie ihre „Patientenströme“ weniger stark regulieren können. Ziel der Reform ist es explizit, „überflüssige“ Operationen unnötig zu machen – wobei die Kommission eine einschlägige Definition von „überflüssig“ schuldig bleibt. Zudem will sie mehr Patient:innen in die kostengünstigere tagesstationäre Versorgung lenken, was mit dem Begriff „Ambulantisierung“ umschrieben wird. Welche Folgen das haben könnte, skizziert Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz: Pflegekräfte würden dadurch zwar entlastet, indem die Behandlung von Patient:innen über Nacht unterbrochen werde. Das aber sei ein „lebensfremdes Hop-on-Hop-off-System“.[5]

Der ländliche Raum wird abgehängt

Die Revolution findet sich dagegen auf einer anderen Ebene: Die deutsche, bisher in drei Versorgungsstufen gegliederte Kliniklandschaft – bestehend aus Grund-, Regel- und Maximalversorgung (beispielsweise in Unikliniken) – soll neu geordnet werden. Unterschieden werden sollen drei Level, die jeweils genau definierte Leistungen vorhalten.

Level 1 umfasst kleinere Krankenhäuser vor Ort, die noch einmal aufgeteilt werden in Level 1n und 1i. Zu dieser Gruppe zählen immerhin 1600 der 1900 deutschen Krankenhäuser. Die 950 Kliniken der Gruppe 1n sollen weiterhin die Notfallversorgung übernehmen und Intensivbetten betreiben können. In den integriert ambulant-stationären Zentren, Level 1i genannt, werden nur zeitweise Ärzt:innen Dienst verrichten. Diese können, so die Vorstellung der Expert:innen, auch von besonders ausgebildetem Pflegepersonal geführt werden. Ein zu operierender Notfall oder die Versorgung eines akuten Schlaganfalls würde dort jedoch nicht mehr möglich sein – der Krankenwagen müsste also weitere Wege fahren. Diese Zentren werden auch nicht mehr über Fallpauschalen, sondern kostengünstigere Tagespauschalen finanziert.

In Level 2 finden sich sogenannte regionale Versorgungszentren wieder, die untereinander ihre Leistungsschwerpunkte aushandeln. Das kann dazu führen, dass ein Krankenhaus sich auf Kardiologie spezialisiert, ein anderes auf orthopädische Eingriffe – was wiederum bedeuten wird, das Patient:innen längere Wege zurücklegen müssen. In den Ballungsgebieten schließlich konzentrieren sich mit umfassender Leistungspalette die Maximalversorger (Level 3). Stärker noch als bisher wird der ländliche Raum auf diese Weise von der qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung abgehängt.

Quelle          :        Blätter-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —       Aufkleber eines Impfkritikers an einer Müllbox in Heikendorf.

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Mai 2023

Börse und Realität entkoppeln sich

Von Ulrike Herrmann

DAX feiert Rekordhoch. – Während die Wirtschaft schwächelt, ist an den Börsen Party. Anleger fühlen sich immer reicher, doch das ist eine Illusion.

Der deutsche Aktienindex DAX hat einen neuen Rekord gefeiert: Am Freitag nach Christi Himmelfahrt stieg er auf 16.331 Punkte. Inzwischen bröckeln die Kurse zwar etwas, aber seit Jahresanfang hat der Index um fast 16 Prozent zugelegt.

Dieser Anstieg mutet etwas seltsam an, denn die deutsche Wirtschaft schwächelt derzeit. 2023 dürfte das Wachstum bei ganzen 0,4 Prozent liegen, wie die Bundesregierung schätzt. Die Unternehmen machen also keine höheren Umsätze, aber ihr Aktienwert explodiert. Wie passt das zusammen?

Was wie ein Gegensatz aussieht, ist keiner. Die Anleger interessieren sich nur am Rande für die Firmenerträge, haben sie doch längst ein neues Angstthema entdeckt: die Inflation. Die Geldentwertung dürfte in der Eurozone in diesem Jahr bei 5,8 Prozent liegen, prognostiziert die EU-Kommission.

Aus der Sicht der Anleger ist klar: Nichts ist so schlimm, wie sein Geld auf den Konten verschimmeln zu lassen und beim Wertverlust zuzusehen. Die Zinsen sind zwar gestiegen, gleichen aber die Inflation bei Weitem nicht aus. Also rein in die Aktien! Dort besteht zumindest die Hoffnung, dass die Kurse zulegen und die Geldentwertung mehr als kompensieren.

Börsenkurse aufzupumpen ist ziemlich einfach

Allerdings kann die Inflationsangst nur zum Teil erklären, warum die Kurse nach oben schießen. Denn die Inflationsraten sind erst ab 2021 nennenswert gestiegen, aber die Börsenkurse legen schon seit 2009 zu. Seit der letzten Finanzkrise pumpt sich also wieder eine Aktienblase auf.

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sich der DAX mehr als verdoppelt. Die Realwirtschaft ist in dieser Zeit keineswegs um mehr als 100 Prozent gewachsen, sondern nur um schlappe 12 Prozent. Die Börsen haben sich von der echten Welt komplett entkoppelt und mit der Realität nichts mehr zu tun.

Börsenkurse aufzupumpen ist nämlich ziemlich einfach. Es ist nur relativ wenig zusätzliches Kapital nötig, um den DAX nach oben zu treiben, weil es zu einem ewigen Kreislauf des Geldes kommt. Der Zusammenhang ist schlicht: Wenn jemand eine Aktie kaufen will, muss ein anderer sie verkaufen.

Quelle       :          TAZ-online         >>>>>      weiterlesen

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Die EU Goldschürfer

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Mai 2023

Westliche Länder wollen der Ukraine Privatisierungen aufzwingen

Будинок Київської контори Державного банку.JPG

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von  Michael Roberts /   

Gegen den Willen der Bevölkerung drängt der Weltwährungsfonds zur Privatisierung von Banken und Staatsunternehmen.

Red. Im Schatten des Kriegsgeschehens sind in der Ukraine Wirtschaftsreformen im Gange, die für westliche Konzerne den Teppich auslegen. Der folgende Artikel ist ein Auszug aus dem Beitrag «Ukraine – die Invasion des Kapitals» des linken Ökonomen Michael Roberts*. Der Beitrag ist in der neusten Ausgabe Widerspruch 80/23 erschienen. 

In einer Reihe von Berichten hat die Wirtschaftsbeobachtungsstelle des Oakland-Instituts dokumentiert, wie die ukrainische Wirtschaft durch ausländisches Kapital übernommen wird, sogar mitten im Krieg.

Gentechnik in der Landwirtschaft

Zwar verhängte die Ukraine im Jahr 2001 ein Moratorium für den Verkauf von Land an AusländerInnen, um die unkontrollierte Privatisierung zu begrenzen. Doch seither war es ein Hauptziel westlicher Institutionen, diese Bestimmung aufzuheben. Bereits 2013 hatte die Weltbank ein Darlehen in der Höhe von 89 Millionen Dollar gewährt für die Entwicklung eines Programms für Beurkundungen und Grundbucheintragungen, das für die Privatisierung und Kommerzialisierung von staatlichem und genossenschaftlichem Land benötigt wird.

Diese Vereinbarung, die damals von Russland als Hintertür zur Erleichterung des Markteintritts westlicher multinationaler Unternehmen angeprangert wurde, beinhaltet die Förderung «moderner landwirtschaftlicher Produktion […], einschliesslich des Einsatzes von Biotechnologien». Sie sieht also die Öffnung ukrainischer Felder für Kulturen von gentechnisch veränderten Organismen vor (Celada 2022).

Agenda für eine «euroatlantische Integration»

Im Juli 2021 trafen sich hochrangige VertreterInnen der USA, der EU, Grossbritanniens, Japans und Südkoreas in der Schweiz zu einer sogenannten Ukraine Reform Conference (URC), deren Agenda sich ausdrücklich darauf konzentrierte, dem Land politische Veränderungen aufzuzwingen. Sie machte folgende Vorgaben: «Stärkung der Marktwirtschaft», «Dezentralisierung, Privatisierung, Reform staatlicher Unternehmen, Landreform, Reform der staatlichen Verwaltung» und «euroatlantische Integration».

Die Agenda war eigentlich eine Fortsetzung der Ukraine-Reformkonferenz von 2018 in Kopenhagen. Diese hatte betont, wie wichtig es sei, den grössten Teil des verbliebenen öffentlichen Sektors der Ukraine zu privatisieren. Das ultimative Ziel der Reform sei «der Verkauf staatlicher Unternehmen an private Investoren» verbunden mit der Forderung nach «Deregulierung, Energiereform, Steuer- und Zollreform». Der Bericht von 2018 beklagt, dass die «Regierung der grösste Vermögensbesitzer der Ukraine ist» und stellt fest: «Die Reform der Privatisierung und der staatseigenen Unternehmen wurde lange erwartet, da dieser Sektor der ukrainischen Wirtschaft seit 1991 weitgehend unverändert geblieben ist.» (URC 2018, 26, 7)

Dabei muss man wissen, dass die meisten UkrainerInnen die Pläne der Ukraine-Reformkonferenz von 2018 ursprünglich ablehnten. Eine Meinungsumfrage ergab, dass nur 12,4 Prozent die Privatisierung staatlicher Unternehmen befürworteten, während 49,9 Prozent sie ablehnten (URC 2018, 27).

Der Krieg lässt jedoch alles in einem anderen Licht erscheinen. Der IWF besteht mit Unterstützung der Regierung Selensky darauf, im Interesse der «Effizienz» und der «Bekämpfung der Korruption», die Banken und Staatsunternehmen umfassend zu privatisieren: «Obwohl in Kriegszeiten üblicherweise Regierungen die Regie übernehmen bei der Zuteilung von Ressourcen, erfordern die ukrainischen Verhältnisse eher marktorientierte Zuteilungsmechanismen, um kosteneffiziente Lösungen zu gewährleisten, welche die staatlichen Kapazitäten nicht überfordern, bestehende Probleme wie die Korruption nicht verschärfen und (unversteuerte) Schwarzmarktaktivitäten nicht fördern. Zu diesem Zweck sollte das Ziel darin bestehen, eine weitgehende und radikale Deregulierung der Wirtschaftstätigkeit zu verfolgen, Preiskontrollen zu vermeiden und eine produktive Umverteilung der Ressourcen zu erleichtern.» (Georgieva 2022)

Die Ukraine Recovery Conference vom Juli 2021 bekräftigte die Pläne, wonach die ukrainische Wirtschaft vom Kapital übernommen werden soll, was die Regierung Selensky uneingeschränkt billigte. Zum Abschluss des Treffens verabschiedeten alle anwesenden Regierungen und Institutionen eine gemeinsame Erklärung, die sogenannte Erklärung von Lugano. Diese Erklärung wurde durch einen «Nationalen Wiederaufbauplan» (National Recovery Plan) ergänzt, der von einem von der ukrainischen Regierung eingerichteten Nationalen Rat für Wiederaufbau (National Recossvery Council) ausgearbeitet worden war (Ukraine’s National Recovery Plan 2022).

Dieser Plan sieht eine Reihe kapitalfreundlicher Massnahmen vor, darunter die «Privatisierung nicht kritischer Unternehmen» und die «definitive Überführung von staatseigenen Unternehmen in private Konzerne» (UNRP 2022, 9). Als Beispiel wird der Verkauf des staatlichen ukrainischen Kernenergieunternehmens EnergoAtom angeführt. Um «privates Kapital in das Bankensystem zu anzulocken», fordert der Plan zudem die «Privatisierung von staatseigenen Banken» (ebd., 32).

Abbau der ArbeiterInnenrechte 

In einem Aufruf zum Abbau des Arbeitsschutzes kritisiert das Dokument die übriggebliebenen arbeitnehmerfreundlichen Gesetze in der Ukraine, von denen einige noch aus der Sowjetzeit stammen. Der Nationale Wiederaufbauplan beklagt «veraltete Arbeitsgesetze, die zu komplizierten Einstellungs- und Entlassungsverfahren, Überstundenregelungen usw. führen». Als Beispiel für die angeblich «veraltete Arbeitsgesetzgebung» nannte der Plan, dass ArbeiterInnen mit einem Jahr Berufserfahrung in der Ukraine «für betriebsbedingte Entlassungen eine neunwöchige Kündigungsfrist» gewährt wird, verglichen mit nur vier Wochen in Polen und Südkorea (UNRP 2022, 31).

Laut internen Dokumenten, die 2021 an die Öffentlichkeit gelangten, schulten britische Behörden ukrainische BeamtInnen darin, wie man eine widerspenstige Öffentlichkeit davon überzeugen kann, dass es richtig sei, Arbeitnehmerrechte aufzugeben und gewerkschaftsfeindliche Massnahmen umzusetzen (European Public Service Union 2021). In den Schulungsunterlagen wird beklagt, dass die öffentliche Meinung auf die vorgeschlagenen Reformen überwiegend negativ reagiere. Es wurden kommunikative Strategien vermittelt, um die UkrainerInnen für die Unterstützung der Reformen zu gewinnen.

Im März 2022 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Notstandsgesetz, das es den ArbeitgeberInnen erlaubt, Tarifverträge auszusetzen. Im Mai 2022 verabschiedete es ein dauerhaftes Reformpaket, mit dem die grosse Mehrheit der ukrainischen ArbeiterInnen vom ukrainischen Arbeitsrecht ausgenommen wird; es betrifft alle, die in kleinen und mittelgrossen Unternehmen arbeiten (Guz 2022).

Dieses Gesetz, das 70 bis 80 Prozent der Beschäftigten des Landes den Schutz des nationalen Arbeitsrechts verweigert, wurde im August 2022 von Präsident Selensky unterzeichnet.

Für Putins Krieg gegen die Ukraine gibt es keine Entschuldigung

Für die die betroffenen Menschen ist ein Krieg das Schlimmste: Komplett zerstörte Infrastrukturen und Wohnhäuser, kein Wasser, kein Strom, viele Tote und noch mehr schwer Verletzte und Vertriebene. Rachegefühle halten sich jahre- oder sogar jahrzehntelang. 

Präventiv geführte Kriege gegen angebliche oder tatsächliche Bedrohungen verstossen gegen das Völkerrecht und gegen die UNO-Charta. Weder feindliche Raketen an der Grenze noch Faschistengruppen noch diktatorische Verhältnisse noch Attentate rechtfertigen einen Krieg oder die Aneignung eines fremden Territoriums. Das gilt für Russland in der Ukraine genauso wie für die Türkei in Syrien, für die saudische Koalition in Jemen oder wie früher für die USA im Irak und in Afghanistan.

Nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Völkerrechtlich sind militärische Kampfhandlungen nur zur Selbstverteidigung erlaubt, falls ein Land – wie die Ukraine – militärisch angegriffen wird. Dann können und dürfen andere Länder dem angegriffenen Land helfen, sich gegen den Aggressor zu wehren.

Wie bei jedem Krieg sollten alle Seiten bestrebt sein, ihn mit einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung zu beenden. Ein erstes Nachgeben liegt beim Aggressor.

Die Redaktion

Deregulierung der Raumplanung und des Baurechts

Im Dezember 2022 verabschiedete das ukrainische Parlament im Eiltempo radikale Änderungen des Planungsrechts (Kolesnichenko 2022). Die überwiegende Mehrheit der Bauwirtschaft unterstützte die Änderungen, aber JournalistInnen, ArchitektInnen und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens schlugen Alarm. Die neuen Vorschriften, die noch vor dem Krieg ausgearbeitet worden waren, werden der ukrainischen Bauindustrie nie dagewesene Befugnisse einräumen. Das Gesetz hatte beispielsweise die Möglichkeiten erheblich eingeschränkt, historische Gebäude unter Schutz zu stellen oder eine Immobilie in kommunales Eigentum zurückzuführen.

[Ende 2022 setzte der IWF weitere Bedingungen für Milliardenkredite fest. Am 31. März 2023 genehmigte das IWF-Exekutivdirektorium 15,6 Milliarden Dollar im Rahmen einer neuen Erweiterten Fondsfazilität (EFF) für die Ukraine. Die Red.]

Die EU und die Kontrolle der Investitionen 

ÖkonomInnen des Center for Economic Policy Research (CEPR) setzen sich für eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union ein. In ihren Worten: «Es spricht viel dafür, dass Europa bei der Koordinierung der Hilfe und bei Entscheiden auf höchster Ebene die Führung übernehmen sollte, da seine wirtschaftlichen und sozialen Anreize eng mit denen der Ukraine abgestimmt sind.» (ebd., 5)

Ganz im Sinne des Mainstreams fordern die ÖkonomInnen eine neue, der EU angegliederte Agentur, die «dazu beiträgt, den Einfluss politischer Kräfte zurückzubinden», mit anderen Worten: die demokratische Kontrolle stark einzuschränken.

Es sieht ganz so aus, dass die USA den Fuss noch vor Europa in die Tür bekommen. Das ukrainische Wirtschaftsministerium unterzeichnete eine Vereinbarung mit Blackrock, der weltgrössten Investmentgesellschaft, um «eine spezielle Plattform zu entwickeln, die privates Kapital anzieht für den Wiederaufbau und die Unterstützung der ukrainischen Wirtschaft» (Ministry of Economy of Ukraine 2022). Die erste Stellvertretende Ministerpräsidentin und Wirtschaftsministerin der Ukraine, Yuliia Svyrydenko, meinte nach der Unterzeichnung des Memorandums: «Wir hoffen, dass diese ‹Wiederaufbau-Plattform› zu einem wirksamen Instrument wird für die Mobilisierung von Investitionen in die Schlüsselsektoren unserer Wirtschaft.» (ebd.)

Damit offenbart die ukrainische Führung den Preis, der für die vorübergehende Freigiebigkeit ausländischer Gläubiger zu bezahlen ist: Ausländische multinationale Konzerne und Regierungen werden die Kontrolle über die ukrainischen Ressourcen übernehmen. Die Übernahme der Ukraine durch hauptsächlich ausländisches Kapital wird damit besiegelt. Das Land darf dann mit der Rückzahlung seiner Schulden beginnen und so dem westlichen Kapital neue Profite bescheren.

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Oben      —    Facade of National Bank of Ukraine Building – Downtown Kiev – Ukraine

This is a photo of a monument in Ukraine, number: 80-382-0657

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Der neue „Cold War 2.0“.

Erstellt von DL-Redaktion am 17. Mai 2023

KALTE KRIEGER IM SILICON VALLEY

Von Evgeny Morozov

Der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China spitzt sich zu. In Washington beschwören manche bereits einen „Cold War 2.0“. Denn große Bedeutung kommt dem Wettlauf um die künstliche Intelligenz zu. Das Pentagon knüpft immer engere Bande zu den Tech-Giganten – die aus dem Hype um KI Kapital zu schlagen wissen.

Der Kalte Krieg ist vorbei“, verkündete 1988 die Werbebroschüre für ein merkwürdiges neues Computerspiel von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs: „… fast“. Dazu eine Zeichnung des Kreml mit ein paar geometrischen Figuren im Vordergrund. Die Broschüre wirbt für die „Sowjetische Herausforderung“ und verkündet: „Ausgerechnet jetzt, wo die Spannungen zwischen Ost und West allmählich nachlassen, landen die Sowjets einen Volltreffer gegen die USA.“

Der Volltreffer heißt „Tetris“.

In goldenen, kyrillischen Lettern prangt der Name des Kultspiels auf leuchtend rotem Grund: Тетрис – wobei das Wort statt mit einem „s“ mit Hammer und Sichel endet. Die Idee für das Werbeheftchen, das heute im National Museum of American History in Washington ausgestellt ist, kam von Spectrum HoloByte, dem US-Vertrieb des Spiels. Spectrum HoloByte bot das gesamte Motivrepertoire des Kalten Kriegs auf, um Tetris in Ronalds Reagans Amerika zum Erfolg zu machen – von russischer Volksmusik bis zu Bildern sowjetischer Kosmonauten. Schon damals wussten einige im Silicon Valley, wie man mit dem Kalten Krieg Kasse macht.1

Wir spulen vor ins Jahr 2023. Gil­man Louie, der damals CEO von Spectrum HoloByte war, ist heute eine Schlüsselfigur im „Cold War 2.0“. So nennen manche in Washington den fortschreitenden Wirtschaftskrieg zwischen China und den USA. Eine entscheidende Arena in diesem Kampf sind die Spitzentechnologien, und dabei geht es heute nicht mehr um Tetris, sondern um künstliche Intelligenz.

Louie, der eine amerikanische Bilderbuchkarriere hinlegte, wurde in den frühen 1980er Jahren als Entwickler von Flugsimulationsspielen bekannt.

Vom Spieleentwickler zum Sicherheitsberater

Die Spiele waren so erfolgreich, dass die US-Luftwaffe zu Louie Kontakt aufnahm. Ende der 1990er Jahre war Louie dann Chef des CIA-eigenen Investmentfonds In-Q-Tel, der auf Investitionen im Hightech-Sektor spezialisiert ist. Aus dem berühmtesten Investment, das In-Q-Tel einging, entstand die Technologie, die später Google Earth ermöglichte.

Als die Trump-Regierung davor warnte, dass die Vereinigten Staaten im Technologiewettlauf unterliegen könnten, tauchte Louie erneut an zentraler Stelle auf. Er wurde Mitglied der National Security Commission on Artificial Intelligence, eines hochkarätig besetzten Beratergremiums unter dem Vorsitz des ehemaligen Google-Chefs Eric Schmidt.

Innerhalb weniger Jahre entstand aus der Zusammenarbeit mit Schmidt eine enge Partnerschaft – so eng, dass Louie inzwischen CEO des 2022 gegründeten America’s Frontier Fund (AFF) ist, hinter dem ebenfalls Eric Schmidt steht. Der AFF ist ebenso wie In-Q-Tel eine Nonprofitorganisation und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Washington dabei zu helfen, „den globalen Technologiewettbewerb des 21. Jahrhunderts für sich zu entscheiden“.

Der Fonds inszeniert sich selbst als eine Art Wunderwaffe und verspricht, „die produzierende Industrie neu zu beleben, Arbeitsplätze zu schaffen, die heimische Wirtschaft anzukurbeln und das amerikanische Heartland [den Mittleren Westen] aus seiner Erstarrung zu befreien“. Auf der eindrucksvollen Liste der Vorstandsmitglieder stehen unter anderem ein ehemaliger CEO von IBM und einer von Trumps Nationalen Sicherheitsberatern.

Die Gründung des AFF ist eine Reaktion auf Chinas wachsenden Einfluss im sogenannten „Deep Tech“-Bereich, also bei künstlicher Intelligenz und Quantencomputing. „Spitzentechnologien entstehen nicht in der Garage“, verkündet der AFF auf seiner Web­site und verabschiedet sich damit vom Mythos des tüftelnden Unternehmergenies, der im Silicon Valley weit verbreitet ist.

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Gilman Louie, der den Kalten Krieg 1.0 für die Vermarktung von Tetris nutzte, nutzt heute den Kalten Krieg 2.0, um den KI-Hype zu befeuern. Oder vielleicht auch umgekehrt, im heutigen Washington lässt sich das nicht mehr

so genau auseinanderhalten. Fest steht nur eines: Der Hype wird konsequent zu Geld gemacht.

Der alte Tetris-Slogan lässt sich im KI-Zeitalter natürlich nicht mehr verwenden. Heute ist die Botschaft: „Der Neue Kalte Krieg ist da. Fast …“. Das kommt bei vielen in den USA gut an – bei den Tech-Konzernen ebenso wie bei Rüstungsunternehmen und bei den Thinktanks, die außenpolitisch für einen harten Kurs werben.

Jenseits aller Rhetorik sind gewisse ideologische Verschiebungen unverkennbar. Die neuerdings um sich greifende Angst, ihr Land könnte den KI-Wettlauf gegen China verlieren, hat Amerikas politische Eliten ganz offensichtlich aus ihrem Schlummer im Wunderland der freien Märkte aufgeschreckt. Diese Eliten reden inzwischen so, als fühlten sie sich nicht mehr den Dogmen des Washington Consensus (Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung) verpflichtet. Bei manchen hört es sich gar so an, als hätten sie die Seiten gewechselt und folgten jetzt dem „Beijing Consensus“.

In Foreign Affairs, dem Lieblingsorgan des außenpolitischen Establishments der USA, erschien kürzlich ein Essay2 , in dem für einen starken Staat argumentiert wird, der die KI nach Kräften pushen soll. Die Autoren, Eric Schmidt und Yll Bajraktari, rechnen auch mit den politischen Irrtümern der Vergangenheit ab: Sie tadeln Washingtons frühere Faszination für die Globalisierung, weil die USA sich dadurch von „strategischen Überlegungen“ habe ablenken lassen, und sie monieren die Orientierung der Risikokapitalbranche an kurzfristigen Gewinnen.

Stattdessen wird in dem Artikel leidenschaftlich für „Beihilfen, staatlich abgesicherte Kredite und Abnahmeverpflichtungen“ geworben. Sie seien die richtigen Instrumente, um Washingtons langfristige Tech-Ziele zu erreichen. Ausgezahlt werden sollen diese Beihilfen natürlich durch Organisationen wie den AFF, denn die wüssten im Unterschied zu herkömmlichen Risikokapitalfonds, wie man das Geld so investiert, dass es langfristigen Interessen zugutekommt.

Stellenweise erwartet man, der Artikel werde im nächsten Absatz eine stramm organisierte Industriepolitik fordern. Dazu können sich Schmidt und Bajraktari aber doch nicht durchringen, denn „Industriepolitik“ sei und bleibe, so heißt es im Text, ein „belasteter Begriff“. Die überarbeitete Version des Washington Consensus zeichnet sich offensichtlich vor allem dadurch aus, dass man mehr staatliche Zuwendungen an die Privatwirtschaft fordert und dabei die Angst ausnutzt, die USA könnten den nächsten Kalten Krieg verlieren.

Die Argumente sind meist so gestrickt, dass sie sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft Anklang finden. Ökonomische und geopolitische Überlegungen müssen ineinandergreifen. Die intensive Förderung von KI wird als Möglichkeit verkauft, den USA zu neuer Größe zu verhelfen, nach außen wie nach innen. Letzteres soll durch die massive Unterstützung neuer KI-basierter Branchen geschehen.

Manche glauben, mit diesem neuen Konsens halte der „Post-Neoliberalismus“ Einzug, aber in Wahrheit gleicht er aufs Haar dem „militärischen Keynesianismus“ aus der Zeit des Kalten Kriegs, als man höhere Militärausgaben für das Mittel der Wahl hielt, um die Sowjetunion zu besiegen und Amerikas wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern.

Drei Jahrzehnte neoliberaler Staatskunst lassen sich allerdings nicht so leicht ausradieren. Offensichtlich kann man nicht einfach zurück in die Tage des Kalten Kriegs, als öffentliche Gelder beinahe unbegrenzt einer Handvoll Rüstungsunternehmen zuflossen. Heute sind schlanke Prozesse und Unternehmergeist gefragt, und für Generäle des US-Militärs ist es nicht gerade eine Traumvorstellung, sich als Silicon-Valley-Start-up neu zu erfinden. Das Pentagon scheut sich sogar, einen eigenen Risikokapitalfonds nach dem Vorbild von In-Q-Tel aufzulegen und die vom US-Kongress dafür bereitgestellten Gelder anzunehmen.3 Vielleicht ist das der Grund, warum der AFF als private Firma gegründet werden musste.

Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Bande zwischen dem Pentagon und dem Silicon Valley enger werden. Vor kurzem schuf das US-Verteidigungsministerium sogar den neuen Posten des Chief Digital & AI Officers – und besetzte ihn mit Craig Martell, der früher beim Fahrdienst-Vermittler Lyft für das maschinelle Lernen verantwortlich war. Die US-Tech-Unternehmen arbeiten sich immer weiter in die Budgets des militärischen Beschaffungswesens vor – daran ändern auch die moralischen Bedenken ihrer Beschäftigten nichts.

Der Google-Mutterkonzern Alphabet legte zwar nach Protesten seiner Ingenieure die Pläne zur Mitarbeit an dem umstrittenen Pentagon-Projekt „Maven“ ad acta, bei dem es um automatische Bilderkennung geht, gründete aber gleich darauf eine Tochtergesellschaft mit dem harmlos klingenden Namen Google Public Sector, die Cloud-Dienstleistungen für militärische Zwecke anbietet.

Alphabet ist kein Einzelfall. Das Know-how des Silicon Valleys bei Cloud Computing und maschinellem Lernen ist und bleibt unverzichtbar für die Pläne des Pentagon. Das gilt insbesondere für die Vision, ein System aufzubauen, das die Daten von Boden- und Luftsensoren aus allen Bereichen der Streitkräfte zusammenführt. Mit Hilfe von KI sollen diese Daten so verarbeitet werden, dass das Militär wirkungsvoller und besser koordiniert reagieren kann. Zu diesem Zweck erteilte das Pentagon Ende 2022 den vier Tech-Giganten Microsoft, Google, Oracle und Amazon den Auftrag, für 9 Milliarden US-Dollar die Cloud-Infrastruktur für dieses kühne Vorhaben zu entwickeln.

Anders als in den Zeiten des Kalten Kriegs ist jedoch keineswegs ausgemacht, wie viel von diesem Geld nach der keynesianischen Trickle-down-Theorie bei der Normalbevölkerung ankommt. Im KI-Bereich fließt das Geld für Arbeitskosten in die Taschen der Staringenieure – und da geht es um ein paar hundert, nicht um Mil­lionen –, oder es landet bei den vielen schlecht bezahlten Vertragsfirmen, die dabei helfen, die KI-Modelle zu trainieren. Die meisten dieser Firmen sitzen nicht einmal in den USA: OpenAI engagiert Dienstleister in Kenia, die dafür sorgen, dass sein beliebter Chatbot ChatGPT keine anstößigen Bilder und Texte auswirft.

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Beim Cloud Computing ist zudem nicht klar, welcher Nutzen von seinem Ausbau zu erwarten ist. Datenzentren zu bauen, ist teuer – und ein positiver Effekt für die Wirtschaft ist nicht erwiesen. Klar ist nur, dass dadurch tendenziell die Grundstückspreise steigen. Problematisch sind auch die ökologischen Kosten von KI und Cloud Computing. Der Glaube an den Multiplikationseffekt des vielen Geldes, das in die militärischen KI-Anwendungen gepumpt werden soll, könnte sich als Illusion erweisen.

Es kann also sein, dass der Kalte Krieg 2.0 nicht die Rückkehr zum „militärischen Keynesianismus“ bedeutet. Sofern die KI nicht die ersehnte „technologische Singularität“ hervorbringt – also die KI selbst technologische Innovationen erzeugt –, wird Keynes nicht auf einen Schlag wieder lebendig, nur weil man noch mehr Geld in der Tech-Branche pumpt. Vielleicht erleben wir eher einen bizarren neuen „militärischen Neoliberalismus“, der durch noch mehr Staatsausgaben für KI und cloudbasierte Dienste die Ungleichheit weiter verschärft und die Aktionäre der Tech-Giganten noch reicher macht.

Kein Wunder, dass manche dieser Aktionäre auf einen Neustart des Kalten Kriegs erpicht sind. Tatsächlich hat niemand so viel dafür getan, dieses neue Narrativ und den dazugehörigen ideologischen Konsens zu festigen, wie der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt.4 Schmidt, dessen Vermögen rund 20 Milliarden US-Dollar beträgt, ist in Washington eine Institution, seit er 2008 für Barack Obama Wahlkampf gemacht hat.

Von 2016 bis 2020 hatte er den Vorsitz im Defense Innovation Advisory Board des Pentagon, für das er hunderte von US-Militärstützpunkten in aller Welt besuchte. Anschließend wechselte er an die Spitze der National Security Commission on Artificial Intelligence, die in ihrem Abschlussbericht 2021 davor warnte, die USA seien im KI-Bereich nicht ausreichend vorbereitet, um mit China konkurrieren zu können. Neuerdings ist Schmidt Mitglied einer Regierungskommission, die sich mit Sicherheitsfragen im Bereich Biotechnologie beschäftigt.

Quelle         :  LE MONDE diplomatique        >>>>>          weiterlesen

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Oben     —   An Aerial view of Meta’s Main Headquarters with the famed sign in view. Taken on a DJI Mavic 3 Classic; screenshotted from a video.

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Söders Märchenstunde

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Mai 2023

E-Fuels und Kernfusion

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Einen Debattenbeitrag von Ulrike Herrmann

Klimaneutralität über den Preis herzustellen klappt nicht. Auch Kernfusion, Minireaktoren und E-Fuels sind reines Wunschdenken. Markus Söder und der FDP ist das egal.

FDP und Union haben erstaunliche Ansichten, wie sich Klimaschutz umsetzen lässt. So wird immer wieder der Eindruck erweckt, die Kernfusion könne eine Lösung sein. In Bayern ist bekanntlich gerade Wahlkampf, weswegen die CSU sogar eine eigene „Demonstrationsanlage für Kernfusion, beheimatet in Bayern“ bauen will.

Dabei käme die Kernfusion viel zu spät, um das Klima zu retten. Unter den Physikern gehen selbst Hyperoptimisten davon aus, dass die Kernfusion frühestens „in Jahrzehnten“ gelingt. Diese Hyperoptimisten sind übrigens selten. Die meisten Physiker winken ab, wenn sie den Begriff Kernfusion hören. Denn bisher ist es noch nie gelungen, durch Kernfusion Nettoenergie zu gewinnen. Stattdessen war die Fusion bisher ein Verlustgeschäft, weil es sehr viel Energie kostet, Atomkerne zusammenzuzwingen.

Aber selbst wenn die Hyperoptimisten recht hätten, dass die Fusion in ferner Zukunft tatsächlich Energie abwirft: Das deutsche Klimaschutzgesetz sieht vor, dass wir schon 2045 klimaneutral sein müssen, damit wir die gefährlichsten Klimakipppunkte noch vermeiden können. Bis 2045 wird aber garantiert kein einziger Fusionsreaktor stehen.

Ähnlich weltfremd ist eine weitere Idee von Union und FDP: Sie trommeln für eine Renaissance der klassischen Atomenergie per Kernspaltung. CSU-Chef Markus Söder hofft vor allem auf „Minireaktoren“, die er natürlich ebenfalls am liebsten in Bayern erforschen würde. Mini­reaktoren: Dieses Konzept klingt futuristisch, ist aber in Wahrheit uralt. Schon in den 1950er Jahren träumte man vom „Kraftwerk in der Kiste“. Die Kleinreaktoren sollten als Flugzeugantrieb dienen oder als „Babyreaktoren“ Räume heizen. Es kam bekanntlich anders. Diese Art von Minireaktoren wurde nie gebaut, und ein Grund war, dass auch sie strahlenden Atommüll hinterlassen, den niemand in seinem Wohnzimmer oder in der Küche haben wollte.

Errichtet wurden stattdessen Großkraftwerke, die sich besser beherrschen ließen. Aber auch dort kam es zu den sattsam bekannten Problemen: Für den deutschen Atommüll gibt es bisher kein Endlager, und zudem wird der Bau neuer Reaktoren immer teurer.

Das Uran würde nur für 13 Jahre reichen, wenn man den ganzen Globus mit Kernenergie versorgen wollte

Was auch gern übersehen wird: Das Uran würde nur 13 Jahre lang reichen, wenn man den ganzen Globus mit Kernenergie versorgen wollte, um die fossilen Brennstoffe zu ersetzen und weltweit Klimaschutz zu betreiben. Momentan ist die Atomenergie ein Nischenphänomen, das weniger als 5 Prozent des globalen Endenergieverbrauchs abdeckt.

Aber technische oder physikalische Grenzen interessieren FDP und Union nicht, weswegen sie sich auch so sehr für E-Fuels begeistern können. Söder fürchtet um den „Industriestandort Bayern“, wenn es zu einem Verbrenner-Aus kommt. Also sieht er „große Potenziale“ bei den synthetischen Kraftstoffen. Doch leider ist es eine große Energieverschwendung, Ökostrom in E-Fuels umzuwandeln. Der Wirkungsgrad liegt bei ganzen 15 Prozent.

Nun könnte man es als Marotte abtun, dass FDP und Union so hartnäckig auf Kernfusion, Atomkraft oder aber E-Fuels setzen, die unwahrscheinlich, unerheblich oder ineffizient sind. Aber die beiden Parteien praktizieren nur besonders ausgeprägt eine Weltfremdheit, die auch anderswo in der Klimapolitik zu beobachten ist. Dieser Irrtum heißt: CO2-Preis.

Technik wird ignoriert

Auf den ersten Blick wirkt die Idee sehr charmant, Treibhausgase mit einem Preis zu versehen, sodass die „Mechanismen des Marktes“ wirken können. Es fällt gar nicht auf, wie vermessen der Ansatz ist, dass ein einziger Preis die gesamte Klimakrise lösen soll. Denn dahinter steht die Annahme, dass sich die physikalischen Realitäten dem „Markt“ schon fügen werden. Technische Probleme und Grenzen werden ignoriert. Die Vermutung ist, dass der Preis alle relevanten Informationen enthält und alles steuern kann. Damit agieren die Volkswirte, als wären sie Gott. Gott soll die Welt erschaffen haben, und ein ähnliches Wunder wollen die Ökonomen nun auch vollbringen. Sie setzen einen Preis – und schon soll sehr bald die Klimaneutralität kommen. Ähnlich wahrscheinlich sind Engel.

Aber von vorn: Wenn wir bis 2045 klimaneu­tral sein wollen, muss es jetzt sehr schnell gehen. Der CO2-Preis müsste in extrem kurzer Zeit rasant steigen, damit 2045 niemand mehr auf die Idee kommt, Gas, Kohle oder Öl zu verbrennen. Ein derartiger Ausstieg aus den fossilen Energieträgern wäre problemlos, wenn genug Ökostrom zur Verfügung stehen würde, der relativ günstig hergestellt werden kann. Wenn jedoch grüne Energie fehlt, wird der Ausstieg brutal.

Die zentralen Fragen sind also technisch, nicht ökonomisch. Um nur einige aufzuzählen: Wie viel Ökoenergie kann man in Deutschland maximal erzeugen? Wie stark kann die Effizienz von Batterien oder Windrädern bis 2045 zunehmen? Was kann die Industrie an Rohstoffen und Energie einsparen? Wie aufwendig wäre der Import von Ökoenergie, die in der Sahara hergestellt wird?

Quelle         :      TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld, zwischen den Kühltürmen die Betonkuppel mit dem Kernreaktor

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US- und EU- Geopolitik

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Mai 2023

Hybris des Westens

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ESSAY VON STEFAN REINECKE

Die neue globale Trennungslinie scheint „Demokratie gegen Autokratie“ zu sein. US-Präsident Joe Biden trommelt Demokratiegipfel zusammen, um eine vom Westen angeführte internationale Front gegen die autoritären Bedrohungen aus Russland und China zu bauen. Der Westen scheint seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wieder auferstanden zu sein, als moralische Wertegemeinschaft und schlagkräftiger politischer Player. Sogar das etwas ausgebleichte Freiheitsversprechen glänzt wieder.

In Europa wirkt diese Erzählung derzeit aus guten Gründen überzeugend. Putins neoimperiale Aggression zielt über die Ukraine hinaus. Die Sicherheit Europas wird, wie seit 1990 nicht mehr, von dem atomaren Drohungspotenzial der USA gewährleistet. Nur wenn der Westen vereint auftritt, wird er der russischen Aggression langfristig Einhalt gebieten.

Das Bild „Demokratie gegen Diktatur“ mag verführerisch klar sein, aber es ist als globales Rezept zu schlicht. Olaf Scholz, ansonsten Bidens treuer Verbündeter, reiht sich zu Recht nur halbherzig in den Feldzug gegen die Diktaturen ein und warnt in einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs vor „einer neuen Zweiteilung der Welt in Demokratien und autoritäre Staaten“. Es gibt triftige Gründe, die gegen die gefeierte Renaissance des Westens sprechen – und noch mehr gegen die Aufspaltung der Welt in ein moralisch überlegenes, überwiegend weißes Zentrum und einen autoritären Rest.

Vielleicht ist die Beschwörung westlicher Werte nur die Begleitmusik, die den globalen Niedergang der USA und Europas übertönen soll. Die USA haben vor 20 Jahren noch achtmal so viele Waren und Dienstleistungen hergestellt wie China, heute ist dieser Vorsprung auf 25 Prozent geschrumpft. In den 38 OECD-Staaten, die sich Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen, also im erweiterten Westen, leben nur 16 Prozent der Weltbevölkerung. Global unangefochten führend ist der Westen nur in einem Metier: Waffen. Die USA geben doppelt so viel Geld für Rüstung aus wie Russland, China und Indien zusammen. In den Nato-Staaten lebt ein Achtel der Weltbevölkerung – aber sie zahlen 50 Prozent der globalen Rüstungsausgaben.

Selbstbestimmung nur für weiße Europäer gedacht

Um die Ambivalenz des mit Waffen und Weltanschauung ausgerüsteten Westens zu verstehen, nutzt ein Blick zurück auf den Moment, in dem der Westen als Verbindung der Macht­zentren USA und Europa auf der Weltbühne erschien. Die Vereinigten Staaten traten 1917 auf der Seiten von Frankreich und Großbritannien, den europäischen Demokratien, in den Ersten Weltkrieg ein. ­Woodrow Wilson fuhr 1919, als erster US-Präsident überhaupt, ins Ausland.

In den früheren Kolonien schaut man auf die westlichen Werte verständlicherweise mit einer gewissen Skepsis

Er reiste mit einer großformatigen Idee im Gepäck nach Europa – dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das zwischen Paris und Belgrad eine gerechte Nachkriegsordnung stiften sollte. Mit Wilsons Reise begann das amerikanische Jahrhundert, in dem die USA in der Doppelrolle als Weltpolizist und Lehrmeister in Sachen Demokratie aufzutreten gedachten. Inder und Vietnamesen, Ägypter, Koreaner und Chinesen waren begeistert von Wilsons Idee, dass die Völker fortan selbst über ihr Schicksal bestimmen sollten. Und sie wurden bitter enttäuscht.

Denn Selbstbestimmung war nur für weiße Europäer gedacht, nicht aber für Bewohner der europäischen Kolonien. Ein 25-jähriger chinesischer Intellektueller notierte 1919 nach dem frustrierenden Ende der Versailler Verhandlungen in sein Tagebuch: „So viel zur nationalen Selbstbestimmung.“ Sein Name war Mao Zedong. Die Verwandlung prowestlicher asiatischer Idealisten in Kommunisten ist, wie der Publizist Pankaj Mishra gezeigt hat, ohne den Rassismus des Westens kaum zu verstehen.

Menschenrechte mit eigenen Interessen abgeglichen

Die Apologeten des Westens betonen heute, dass all das lange her ist. Zudem verfüge der Westen über die Fähigkeit zu Selbstkorrektur und selbstkritischer Vergangenheitsbearbeitung. In den früheren Kolonien schaut man auf die westlichen Werte, vor allem wenn sie von moralischen Fanfarenstößen begleitet werden, verständlicherweise mit einer gewissen Skepsis.

Zudem zeigen zwei Beispiele, dass der Westen Werte und Menschenrechte noch immer kühl mit eigenen Interessen abgleicht. Erstens: Saudi-Arabien führt im Windschatten des öffentlichen Interesses einen brutalen Krieg im Jemen. Es gibt in diesem Stellvertreterkrieg, in dem Iran die andere Seite unterstützt, laut der UNO 380.000 Opfer. Wirtschaftssanktionen gegen Riad? Im Gegenteil. Saudi-Arabien ist seit Jahrzehnten mit dem Westen verbündet und ein verlässlicher Öllieferant. Und EU- und Nato-Staaten beliefern Saudi-Arabien mit Waffen. Die Unterstellung, dass sich der Westen um die Ukraine kümmert, weil dort weiße Europäer sterben, wirkt angesichts des Grauens der russischen Kriegsführung kaltherzig. Völlig abwegig ist sie nicht.

Zweitens: Der Westen hat nach 1990 die Chance verspielt, als Sieger des Kalten Krieges eine stabile Ordnung zu schaffen. Die USA haben in Afghanistan und Irak im Namen von „Menschenrechten und Demokratie“ (George W. Bush) vielmehr genau das Muster wiederholt, das dafür sorgt, dass westliche Werte in vielen Regionen der Welt als Hohn empfunden werden. Beides waren neo­kolonial gefärbte Kriege.

Im Falle des Iraks schufen die USA durch ihren Angriffskrieg mit dem Islamischen Staat erst das Monster, das sie zu bekämpfen angetreten waren. Wenn die USA nach 2000 als Weltpolizist auftraten, dann meist als ein unfähiger Macho-Cop, der auf eigene Rechnung arbeitete und dem das Gemeinwohl schnurz war. „Nichts untergräbt die Idee des Westens mehr als die Verwestlichung mit vorgehaltenem Gewehr, wie sie vom 19. bis ins 21. Jahrhundert immer wieder praktiziert wurde“, so der US-Historiker ­Michael Kimmage.

Ideologen des Westens wie der Publizist ­Richard Herzinger bauen unverdrossen weiter auf dieses Konzept. „Wenn die demokratische Welt Einigkeit, politische Entschlossenheit und militärische Stärke mit konsequentem Eintreten für Freiheitsrechte überall auf dem Globus verbindet, wird sie auch künftig die bestimmende weltpolitische Kraft sein“, so Herzinger. Es gilt also weiterhin den Globus mit den Segnungen des Liberalismus zu beglücken – mit den Menschenrechten in der einen Hand, überlegener Feuerkraft in der anderen. So klingt eine lernunfähige, liberale Ideologie, die blind dafür ist, dass die Mischung aus zivilisatorischem Sendungsbewusstsein und rüder Interessenpolitik in vielen Regionen als Neuauflage des Imperialismus des 19. Jahrhunderts verstanden wird.

Politische Hartwährung im Ost-West-Konflikt

Es stimmt: Mächtige Autokraten instrumentalisieren die Kritik an der Doppelzüngigkeit des Westens, um weiter ungestört die eigene Bevölkerung zu schikanieren. Vor allem Putin und die russische Propaganda bedienen sich oft surrealer, vor Hass triefender antiwestlicher Klischees, um die eigene Herrschaft zu festigen. Doch das schafft die Frage nach der Doppelmoral des Westen nicht aus der Welt. Im Gegenteil.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>      weiterlesen

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Oben      — La Estatua de la Libertad y la Isla de la Libertad vistas desde el mar.

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Mai 2023

Ärger in der BBC-Führung, um Boris‘ besten Freund

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Erst flog auf, dass BBC-Chairman Richard Sharp Ex-Premierminister Boris Johnson einen Kredit besorgte. Jetzt räumt er freiwillig seinen Posten.

Falls jemand auf die Idee kommt, gepflegte Mauscheleien beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk kämen nur beim RBB vor, empfiehlt sich der Blick auf die leidgeprüfte BBC. Da musste vergangene Woche der Chairman, also in gewisser Weise der Verwaltungsratsvorsitzende, seinen Hut nehmen. Wobei er diesen Hut monatelang nicht gefunden hat. Denn dass Richard Sharp ein Gefolgsmann von Ex-Premierminister Boris Johnson ist und ihm und seiner Partei einen ganzen Haufen Gefallen getan hatte, war von Anfang an bekannt. Sharp gehört schließlich zu den Großen, was Parteispenden an die Konservativen angeht.

Gestolpert ist Sharp jetzt über einen Kredit von immerhin 800.000 britischen Pfund. Die brauchte allerdings nicht die Partei, sondern der ja immer mal wieder klamme Boris Johnson: Auch in Großbritannien verdient der Premierminister weniger als ein Intendant – und zwar erheblich weniger.

Während Johnson als Premier ein so genanntes „Entitlement“ in Höhe von 164.080 Pfund im Jahr hatte, wurde das Salär von BBC-Chef Tim Davie im September 2021 sogar nochmal von 450.000 auf sagenhafte 525.000 Pfund erhöht. Da können selbst deutsche In­ten­dan­t*in­nen nur von träumen. „Da bekommen sie wohl eher Alpträume und nehmen Abstand“, vermutet die Mitbewohnerin. „Sie wollen schließlich lieber mit ihren Stärken überzeugen.“

Die Regierung wollte an ihm festhalten

Sharp selbst kennt keine Geldprobleme. Er ist ehemaliger Goldman-Sachs-Banker und „independently wealthy“ wie das schön vornehm auf Englisch heißt. Die 160.000 Pfund, die ihm für den Teilzeit(!)job als oberster BBC-Aufseher zustehen, hatte er versprochen für karitative Zwecke zu spenden. Und natürlich verlieh er nicht selbst die Kohle, sondern brachte Johnson mit einem Freund zusammen, der weiterhelfen konnte. Beim Bewerbungsverfahren im Herbst 2020 um den Posten als BBC-Chairman vergaß Sharp dann dummerweise, seine Rolle bei der Nummer mit dem Kredit zu erwähnen. Was ihm im Nachhinein furchtbar leid tut.

Quelle     :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Aus den Finanzcasino

Erstellt von DL-Redaktion am 14. April 2023

Bildung und Pflege sind wirtschaftlich gesehen nicht produktiv.

Casino bei RWS.jpg

Von Ulrike Herrmann

Gelten deshalb  auch schnell als „teuer“. Aber auch diese Bereiche profitieren vom Wachstum. Lehrer müssen sein. Das ist keine gute Nachricht, wenn man nur das Wachstum erhöhen will Und wirft eine Fatale Optol auf die Probleme.

Was ist eigentlich ökonomisches Wachstum? Diese Frage wirkt banal, hat aber immense Auswirkungen. Selbst scheinbar ferne Bereiche wie Kinderkrippen, Schulen, Krankenhäuser oder Pflegeheime sind davon elementar betroffen. Wenn etwa Pflegekräfte streiken, dann ist die eigentliche Frage, wer vom Wachstum profitieren soll.

Ökonomisches Wachstum ist zunächst einmal ganz simpel: Es existiert immer dann, wenn mehr Waren und Dienstleistungen entstehen als zuvor. Zwar ist dieses „Mehr“ nicht leicht zu messen, aber diese Ungenauigkeiten sollen hier keine Rolle spielen. Es reicht zu wissen, dass es ein „Mehr“ gibt. Diese Güter entstehen durch Arbeit, und trotzdem sind es nicht die Beschäftigten, die das Wachstum erzeugen. Denn die Menschen ändern sich ja nicht wirklich. Sie haben zwei Arme und zwei Beine, und deutlich intelligenter werden sie auch nicht. Wenn es also zu Wachstum kommt, kann es nicht an der Arbeit der Einzelnen liegen. Der Treiber ist die Technik, die ständig besser und effizienter wird. Die Maschinen machen uns reich. Die Ökonomen nennen das auch „Zuwachs an Produktivität“.

Allerdings ist nicht jede Branche gleich geeignet, um Technik einzusetzen. In der Fertigung von Industriegütern arbeiten kaum noch Menschen. So wird in der Automobilbranche fast alles von Robotern geschweißt, und in den riesigen Hallen stehen nur noch einige Beschäftigte, um an Computern die Arbeit der maschinellen Kollegen zu überwachen. Dafür lassen sich andere Bereiche fast gar nicht technisieren: Dazu gehört etwa das Betreuen von Kleinkindern in Krippen.

Kinderbetreuung ist eine Dienstleistung, was häufig zu dem Missverständnis führt, dass sich Dienstleistungen ganz generell nicht technisieren ließen. Doch das Gegenteil ist wahr. Gerade für die Dienstleistungen werden oft sehr viele Maschinen eingesetzt. „Dienstleistungen“ sind für die Ökonomen alle Güter, die man nicht lagern kann, weil Erstellung und Verbrauch zusammenfallen. Typische Beispiele sind ein Flug nach Mallorca oder eine Zugfahrt nach München. Die Bahn produziert keine Reisen auf Vorrat, anders als Audi, wo die Autos zum Teil auf Halde stehen, bevor sie verkauft werden. Trotzdem sind Bahnfahrten oder Flugreisen fast reine Technik, die nur relativ wenig Personal benötigen.

Ein anderes Beispiel sind die Banken, die ebenfalls zu den Dienstleistern zählen und inzwischen fast komplett mechanisiert sind. Kassierer wurden durch Geldautomaten ersetzt, und auch ansonsten wurde sehr viel Personal eingespart, weil die Kunden ihr Banking jetzt online erledigen. Auch das Investmentgeschäft ist weitgehend automatisiert, indem die Computer berechnen, wann welches Derivat gekauft oder verkauft werden sollte.

Betreuung, Pflege und Bildung sind also rare Ausnahmen, weil sie sich nicht technisieren lassen. Aber ausgerechnet diese Branchen sind elementar und nicht ersetzbar. Es wäre falsch, Kinder nicht zur Schule zu schicken. Zwar gibt es Bildungsprogramme, die sich auf dem Laptop ansehen lassen, aber spätestens die Corona-Lockdowns haben zweifelsfrei bewiesen, dass die meisten Kinder schwer leiden und nur geringe Fortschritte machen, wenn sie nicht mit ihren Klassenkameraden und Lehrern zusammen sein können.

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Lehrer müssen also sein. Das ist keine gute Nachricht, wenn man nur das Wachstum erhöhen will – denn in der Bildung gibt es keine Zunahme an Produktivität. Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Das ist keine Kritik an den Lehrern, sondern eine reine Beschreibung der Realität. Im 19. Jahrhundert saßen in den Volksschulen zum Teil 50 Kinder in einer Klasse, heute unterrichtet ein Lehrer nur noch ungefähr 25 Schüler. Wenn man so will, ist die Produktivität der Lehrer sogar noch gesunken. Wo früher einer reichte, werden jetzt zwei gebraucht.

In der Pflege ist es ähnlich: Das Krankenhauspersonal kann nicht ständig noch mehr Patienten betreuen, wenn es allen gut gehen soll. Rund ums Klinikbett steigt die Produktivität also ebenfalls nicht. Das hat enorme Konsequenzen, denn sofort stellen sich gravierende Verteilungsfragen, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Um dieses Verteilungsproblem zu verstehen, hilft es, sich zunächst den – leicht idealisierten – Normalfall in einer Industriegesellschaft anzusehen: Durch den technischen Fortschritt werden ständig mehr Waren und Dienstleistungen hergestellt, sodass auch die Löhne steigen können, weil es ja mehr zu kaufen gibt.

Quelle       :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Unten   —     Ulrike Herrmann (taz, Berlin) und Markus Pühringer (Grüne) beim Querdenken #18 („Der Sieg des Kapitals“) in Linz

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Bankenlobby wetzt Messer

Erstellt von DL-Redaktion am 14. April 2023

Licht ins Dunkel bringt nur eine UBS/CS-PUK

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs Schnell /   

Der Nationalrat hat die Staatsgarantien abgelehnt. Das bleibt wirkungslos. Die eigentliche Arbeit für das Parlament fängt erst an.

Einer der zentralen Punkte nach der Übernahme der CS durch die UBS ist die Frage, was die CS noch wert ist. Und wie sich der Zustand der CS auf die UBS auswirken wird. Wüsste die Öffentlichkeit mehr darüber, könnte seriöser über die Too-big-to-fail-Problematik diskutiert werden. Die UBS ist gegenwärtig daran, mit internen und wohl auch externen Prüfstellen rasch Antworten zu finden. In der Öffentlichkeit hört man nichts darüber.

Einer der Schwerpunkte ist die Beurteilung der Derivate, in denen die CS engagiert ist. Infosperber hat in einer Artikelreihe auf die Bedeutung dieser Papiere hingewiesen. Gemäss Finanzprofessor Marc Chesney belief sich der Nominalwert der Derivate bei Credit Suisse im Jahr 2017 auf 29,9 Billionen Franken. Diese Zahl überstieg das Bruttoinlandprodukt der Schweiz um das 36-Fache.

Dieser Wert oder Unwert der CS-Derivate bildet eines der grossen Risiken, welches der Bund mit seiner Staatsgarantie von 109 Milliarden Franken abdecken muss. Wieweit sich Bundesstellen Einblick in die Prüfung der CS gesichert haben, ist nicht bekannt.

Die Analyse ist eine Herkulesaufgabe. Im Wallstreet-Krisenjahr 2008 hatten die US-Behörden für die analytische Arbeit Blackrock beiziehen müssen, den heute grössten Finanzkonzern der Welt. Nur mithilfe von Blackrock-Topteams waren die US-Behörden imstande, Rettungspläne für die fallenden Investmentbanken Bear Stearns und Citigroup sowie den Finanzversicherungsgiganten AIG zu zimmern.

Die Grossbanken spekulieren mit hoch abstrakten Produkten im Milliardenbereich. Die Geschäfte sind äussert komplex und verlangen modernste Rechenleistungen. Doch sie sind weitgehend intransparent. Ein grosser Teil des Derivatenhandels haben Grossbanken in Schattenbanken ausgelagert, die ausserhalb der nationalen und internationalen Regulierungsvorschriften spekulieren. Kommt eine Bank ins Trudeln, springt der Staat ein.

Für Bankencrashs wurde in den letzten siebzig Jahren immer irgendwie eine Lösung gefunden. Doch zu welchem Preis? Der letzte Supercrash von 2008 führte zu grossen sozialen Verwerfungen. Viele Länder leiden immer noch darunter.

PUK jetzt

In der Schweiz fragen sich Politik und Wirtschaft nun, ob die neue UBS das Land nicht überfordern wird. Die Ratlosigkeit liest sich zwischen den Zeilen und macht sich bemerkbar auch in Fernsehen. Damit sind wir bei der Frage nach einer PUK.

Ja, eine PUK braucht es. Sie muss die CS wie den toten Körper eines Ertrunkenen sezieren, um herauszufinden, wie die intransparenten Geschäfte liefen. Gerade bei den Derivaten. Und beim CS-Eigenhandel. Eine PUK muss Zugriff auf die Resultate der laufenden Analyse durch die UBS bekommen. Die PUK muss ihre Untersuchungen so weit treiben, dass sie der Öffentlichkeit anschliessend Auskunft geben kann, ob die exorbitanten Spekulationsgeschäfte überhaupt einen volkswirtschaftlichen Nutzen haben. Oder ob der grösste Teil der Derivategeschäfte – was bereits ziemlich klar ist – nur den Boni-Empfängern und Aktionären nützt.

Umso dringender stellt sich die Frage, wie eine (Gross-)Bank aussehen soll, damit der Staat sie aus der Vollkasko-Haftung entlassen kann.

Die Bankenlobby wetzt die Messer

Bereits wärmt die Bankenlobby das Uralt-Argument des Wettbewerbsnachteils auf und bringt es unter die Leute. Scharfe Regulierungen würden dem Finanzplatz Schweiz schaden. Andere Banken würden in Mitleidenschaft gezogen und und und. Wie nach 2008 in den USA, Grossbritannien, Frankreich oder Deutschland, als sich besorgte Politiker und Politikerinnen (Merkel war auch dabei) einschüchtern liessen und Angst um ihre Bankenplätze bekamen.

Eines der schönsten Lobby-Beispiele dazu ist die über Jahre geführte Durchlöcherung des Dodd-Frank-Acts von 2010 durch die US-Grossbanken. Neue Regulierungen sollten ein «Too big to fail» in der Zukunft verunmöglichen. Der Chef von JP Morgan Chase hatte mehr als ein Dutzend Kongressabgeordnete höchstpersönlich kontaktiert, um das gewünschte Gegensteuer zu geben. Und Citicorp schrieb eine wichtige Passage der vermeintlichen Wall-Street-Gesetzgebung gleich selber um. Dies, nachdem die Bank im Sturm 50 Milliarden an Rettungsgeldern bekommen hatte.

Auch in der EU wurden vor fünfzehn Jahren Hunderte von Milliarden an Steuergeldern in die Rettung angeschlagener Banken gepumpt. Dafür sollten im Gegenzug deren hochspekulative Geschäfte gesetzlich eingeschränkt und besteuert werden. Doch die Finanzlobby verhinderte das Vorhaben weitgehend – dank dem Internationalen Bankenverband IIF unter Vorsitz des Schweizers Josef Ackermann.

Lief es in der Schweiz bisher anders? Nein. Die Parlamentsprotokolle der entsprechenden Debatten in den letzten Jahren können allesamt nachgelesen werden. Besonders peinlich ist die Lektüre für die FDP. Die gegenwärtigen Kommmunikationsverrenkungen passen dazu. Devise: «Möglichst abwarten und nichts überstürzen.»

Die Schweizer Bankenlobby kann sich freuen.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —     Monte Carlo, Monaco 23rd May 2013 Nico Rosberg, Mercedes W04. World Copyright: Charles Coates/LAT Photographic ref: Digital Image _N7T1433

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Unverstand sucht Schuldige

Erstellt von DL-Redaktion am 12. April 2023

Schon wieder eine Bankenkrise

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Die größten Versager aus 19 Ländern und der EU schleichen sich von Gipfel zu Gipfel für nette Fotos. Alle Jahre wieder – Dummheit trifft auf  Dummheit.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von  :    Suitbert Cechura

Ja, haben die Banken denn gar nichts gelernt? Regieren nur Nieten in Nadelstreifen die Geldwirtschaft? Oder Kriminelle? Hier einige Klarstellungen zu den (mehr oder weniger) dummen Fragen.

Erneut beherrscht ein Krisenszenario die Schlagzeilen: Zuerst war es die amerikanische Silicon Valley Bank, bei der Milliarden von Dollar auf einen Schlag vernichtet wurden, dann traf es die Schweizer Credit Suisse, bei der wiederum Reichtum in Milliardenhöhe von einem Moment zum anderen verschwand. Und plötzlich ist erneut von einer drohenden Bankenkrise mit weltweiten Konsequenzen die Rede.

Was ist da los in der Finanzwelt? Nach der Finanzkrise von 2007 sollten doch angeblich in allen Ländern Lehren gezogen werden, nachdem etwa hierzulande „die Banken mit mehr als 70 Milliarden Euro Steuergeld gerettet wurden“ (FAZ, 1.4.23) und in der Nachfolge neue Regelungen für mehr Sicherheit usw. – in Deutschland wie auf europäischer Ebenen – in Kraft traten. Und jetzt das!? Und dann wird nach der raschen Rettung in der Schweiz auch noch die Staatsanwaltschaft aktiv: „Ermittlungen wegen Credit Suisse“ (FAZ, 3.4.23)! Also schon wieder Straftäter unterwegs, die den Hals nicht vollkriegen konnten?

Eine andere Nachfrage wäre dabei interessanter. Angesichts der Milliardensummen, die jetzt schon wieder innerhalb weniger Tage einfach so „verschwunden“ sind, während in jedem Supermarkt noch der kleinste Diebstahl hart geahndet wird und viele Menschen an der Kasse nach dem letzten Cent kramen, könnte man doch ins Grübeln kommen. Vielleicht sollte man einmal fragen, was „Reichtum“ in dieser Gesellschaft eigentlich ist?

Das Geschäftsgeheimnis: Aus Schulden Vermögen machen

Anlass für die Krise bei der Silicon Valley Bank soll gewesen sein, dass diese viele Wertpapiere mit langer Laufzeit und marktüblichen Zinsen besaß. Das klingt eigentlich nach einer soliden Anlage, konnte die Bank doch mit jährlichen Zinsen und nach Ende der Laufzeit mit der Rückzahlung des Kredits rechnen. Zum Problem wurden diese Wertpapiere dadurch, dass viele Kunden – d.h. mehr, als man erwartet hatte – ihr Geld abzogen und die Bank die Papiere verkaufen musste. Da seit dem Zeitpunkt ihres Kaufs die Zinsen gestiegen waren, erwiesen sie sich allerdings als wertgemindert, ja fast wertlos.

Die Medien warfen der Bank deshalb eine falsche Anlagepolitik vor. Dabei blieb das eigentliche und „normale“ Geschäft außen vor – eine sehr kurzsichtige Kritik! Denn dass die Rückforderung von Geld, das Einzelkunden oder Institutionen einer Bank geliehen haben, zum Problem wird, verweist auf die problematische Grundlage des Geschäfts, das in der Kreditbranche tagein, tagaus betrieben wird, ob es sich nun um die Silicon Valley Bank oder ein anderes Institut handelt.

Vereinfacht dargestellt, sieht dieses Geschäft folgendermaßen aus: Banken leihen sich Geld von denen, die es momentan oder langfristig übrig haben oder auf diese Art und Weise vorsorgen wollen. Dafür zahlen die Banken ihren Kunden Zinsen. Sowohl das Geld ihrer Aktionäre oder Teilhaber – das Eigenkapital im strengen Sinne – wie die Einlagen von Sparern und anderen Kontoinhabern machen dann die ökonomische Potenz einer Bank aus, mit der sie im Geschäftsleben antritt. Der Sache nach handelt es sich aber um nicht viel mehr als Schulden.

Das Geld, über das eine Bank somit treuhänderisch verfügt, bleibt nicht bei ihr. Es ist die Grundlage für ein – mittlerweile – breit gefächertes Kreditgeschäft. Das heißt, es wird weggegeben. Banken verleihen es gegen höhere Zinsen weiter oder legen es ihrerseits in Wertpapieren (Aktien, Unternehmensanleihen etc.) an, wie dies bei der Silicon Valley Bank der Fall war. Dabei beschränken sie sich selbstverständlich nicht darauf, genau so viel Geld zu verleihen, wie sie sich geliehen haben oder worüber sie laut Gründungsakt verfügen: „Bei den größeren Finanzinstituten in Deutschland lag die bilanzielle Eigenkapitalquote 2012 lediglich bei ungefähr 2 Prozent.“ (https://etf.capital/eigenkapitalquote-banken/) In diesem Geschäftszweig lebt man also von vornherein über seine Verhältnisse!

Natürlich bleibt auch vieles, was verliehen wird, innerhalb der Bank und wandert nur von einem Konto auf das andere, weil der Kreditnehmer etwas bei einem anderen Kunden der Bank gekauft hat. Und ein Liquiditätsmanagement – auch durch staatliche Regelungen vorgeschrieben – achtet genau darauf, was in der Kasse ist. Das verliehene Geld verleiht der Bank dann natürlich einen Rechtsanspruch auf Rückzahlung plus Zinsen. Diesen Rechtsanspruch kann die Bank als Wertpapier wiederum beleihen – z.B. bei der Bundesbank – oder an x-beliebige Interessenten verkaufen. Sie erhält so Geld, das sie wieder investieren kann.

Insofern lebt das Geschäft der Banken einerseits davon, möglichst viel Geld zu verleihen, weil die darauf gezahlten Zinsen ihren Gewinn vergrößern. Andererseits müssen die Banken darauf achten, über genügend „Liquidität“ zu verfügen, also mit so vielen Mitteln „flüssig“ zu sein, wie normaler Weise von der Kundschaft abgezogen wird. Wie viel das ist, stellt sich als ein Erfahrungswert in dem Gewerbe heraus, das kontinuierlich mit Ein- und Auszahlungen zu tun hat. Aber das ändert nichts daran, dass es Spekulation bleibt. Immer können Ereignisse eintreten, die die Kontoinhaber dazu veranlassen, vermehrt ihre Konten zu leeren.

Dass zwischen den beiden Seiten – dem Einnehmen und Ausgeben – ein Widerspruch besteht, Banken zugunsten höherer Gewinne dazu neigen, mehr Kredite zu vergeben, als den Liquiditätserfordernissen gut tut, und sich deshalb des öfteren in prekäre Situationen manövrieren, ist übrigens der Grund für die staatliche Aufsicht über das Bankengeschäft. Ein „Bankrott“, also die Pleite einer Bank, würde nämlich wegen der Anzahl der davon unvermeidlich mit betroffenen Gläubiger wie Schuldner und den Auswirkungen auf andere Banken, d.h. letztlich (wie der Crash von 2007/08 gezeigt hat) auf das gesamte Kreditsystem, notwendigerweise größere Folgen nach sich ziehen als die Pleite eines einzelnen Unternehmens, die es in der marktwirtschaftlichen Konkurrenz ständig gibt. Deshalb widmen die Staaten dem Kreditgeschäft eine erheblich größere Aufmerksamkeit und versuchen mit verschiedenen Vorschriften über Eigenkapital, Mindestreservesatz, Liquiditätsanforderungen usw. diesen „systemrelevanten“ Bereich ihrer Wirtschaft „sicherer“ zu machen.

Das Risiko einzuschränken, um die Spekulation sicher zu machen, ist natürlich ein Widerspruch, da sie ja gerade mit der Unsicherheit kalkuliert und aus den unterschiedlichen Erwartungen bzw. Einschätzungen der Marktakteure Profit zu schlagen versucht. Zudem schränken die Auflagen gleich wieder das Geschäft der Banken ein, die ja mit ihrer großzügigen Kreditvergabe die Wirtschaft zum Wachsen bringen sollen – weshalb auch umgekehrt wieder allzu viel an Einschränkung nicht sein darf und sich die Bankiers regelmäßig über „Überregulierung“ beschweren…

Die Schuldner der Banken: per se unsichere Kantonisten

Für das Geschäft der Banken kommt es wesentlich darauf an, dass bei den von ihnen verliehenen oder angelegten Geldern regelmäßige Zinszahlungen, Dividenden bzw. Kurszuwächse bilanziert werden können. Insofern erweist sich das Bankgeschäft abhängig vom Gang der Geschäfte, die mit ihrem Kredit angestoßen wurden. Das Problem im Fall der Silicon Valley Bank hieß nun: Die Wertpapiere der Start-up-Unternehmen hatten ihr lange Zeit Zinseinnahmen gesichert, mit denen sie weitere Geschäfte machen konnte. Als sie die Papiere allerdings vor Ablauf der Laufzeit verkaufen musste, um die Liquidität der Bank zu sichern, erwiesen sie sich – angesichts allgemein steigender Zinsen – als quasi wertlos. Warum?

Der Wert eines Wertpapiers bestimmt sich eben nicht einfach nach dem Kaufpreis. Er wird vor allem im Vergleich zu anderen Wertanlagen ermittelt. Maßstab ist dabei, inwieweit es in der Lage ist, sich zu verwerten, also mehr Geld zu generieren. Steigen allgemein die Zinsen – was in diesem Fall wegen der neuen Vorgaben der US-Zentralbank eintrat –, werden einige Wertanlagen attraktiver und andere damit eventuell entwertet. Hier hat man die ganz normale Geschäftspraxis der Branche vor sich: Die Möglichkeit, aus Geld mehr Geld zu machen, ist der ebenso schlichte wie knallharte Maßstab, an dem sich entscheidet, ob Milliarden von Euros oder Dollars vernichtet werden oder nicht.

Es geht also keineswegs um einzelne Missetaten von Versagern oder kurzsichtigen Gierlappen, um ein paar unsaubere Unternehmen, die den Preis für ihr Missmanagement bezahlen. Die Antwort auf die eingangs gestellte Nachfrage zum Thema Geldvernichtung heißt: Hier hat man es mit dem Wirken des Maßstabs zu tun, an dem nicht nur die Entscheidung für oder gegen ein Wertpapier hängt, sondern der Konsequenzen für die ganze Welt mit sich bringt. Alles dreht sich – im inzwischen internationalisierten Kreditgeschäft – eben darum: um das Gelingen der Spekulation, die Stätten der Produktion in die Welt setzt oder brach legt, Handel antreibt oder scheitern lässt, Menschen in Arbeit bringt, freisetzt oder zum Hungern verurteilt. Denn mit dem entsprechenden Geld verschafft sich der Besitzer die Verfügungsmacht über allen menschlichen wie sachlichen Reichtum in der Welt und kann demnach auch darüber befinden, was an Produktion und Distribution lohnend ist und was nicht.

Das Bankgeschäft ist mit seinen Krediten und Geldanlagen ebenfalls davon abhängig, dass die einen ein lohnendes Geschäft bewirken und die anderen sich gut verzinsen. Die Konkurrenz der Unternehmen untereinander sorgt allerdings mit Notwendigkeit dafür, dass auf keinen Fall alle Investoren mit dem Kredit, den sie sich bei den Banken verschaffen, ein genügend großes Wachstum hinkriegen. Mit anderen Worten: Zahlungsausfälle auf Seiten der Schuldner sind kapitalistischer Alltag – anders geht eine Marktwirtschaft schlicht nicht. Einzelne Ausfälle kann eine Bank dabei verkraften, kommt es jedoch zu einer Vielzahl von Ausfällen, ist die Liquidität des Instituts bedroht. Dann bewerten Anleger wie Einleger die Aussichten ihres Geschäfts neu, ziehen ihr Geld im Fall des Falles ab und die nächste Bankenkrise nimmt ihren Lauf…

Der wirtschaftliche Sachverstand: sucht Schuldige

Bankenkrisen, die mit ziemlicher Regelmäßigkeit auftreten, gehören also systembedingt zum Kapitalismus dazu. Die letzte Finanzkrise ist ja nicht lange her und auch davor gab es in Abständen solche Krisen. Eine ganze Reihe von Banken ist nicht nur deshalb verschwunden, weil sie von anderen aufgekauft wurden, sondern auch, weil sie mit staatlicher Unterstützung abgewickelt wurden. So ist die Zahl der Landesbanken erheblich geschrumpft, um hier nur an einige deutsche Champions von damals zu erinnern. Dennoch suchen Journalisten, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker bei jeder Krise die „Schuldigen“ – ganz so, als ob diese Krisen nicht im Wesen dieses Geschäftes und seiner spekulativen Basis begründet wären:

Jede-r welcher nicht weis, sucht nach Schuldigen oder bestellt sich einen Hausmeister zum Wirtschaftsminister.

„In den letzten zehn Jahren machte die Credit Suisse insgesamt einen Verlust von 3,2 Milliarden Franken – und schüttete in der gleichen Zeit Boni von 32 Milliarden Franken aus. Hohe Boni, hohe Risiken. Das war nach der Finanzkrise so, als der damalige Vorstandschef Brady Dougan unter seinem überforderten Verwaltungsrat Urs Rohner die Bank leitete. Das war unter Nachfolger Tidjane Thiam so, der später wegen seiner Verwicklung in eine Spitzelaffäre gehen musste. Und auch das letzte Führungsduo, Ulrich Körner und Axel Lehmann, änderte nicht viel an der Strategie. Stattdessen glaubten die beiden, mit Durchhalteparolen und Geld von saudischen Aktionären einfach so weitermachen zu können wie bisher.“ (SZ, 24.3.23)

Da müsste sich allerdings die Frage aufdrängen, wie solche Pfeifen dauernd in die Führungspositionen von Konzernen gelangen? Aber es ist ja einfach die billige Tour, hinterher, wenn sich der Erfolg nicht eingestellt hat, mit der Schlaumeierei zu kommen, dass man dieses Geschäft besser unterlassen hätte.

Die landläufige Kritik basiert auf der eher kindischen Vorstellung, dass das ganze spekulative Geschäft von Unternehmen wie Banken sicher zu machen sei. Aus diesem Grunde gibt es eine ständige Diskussion darüber, wie das Bankengeschäft neu oder besser zu regulieren wäre: „Rund 70 Milliarden Euro hat die Rettung der Banken damals allein die deutschen Steuerzahler gekostet. Geld, das man auch in Schulen oder die Bahn hätte stecken können. Und die Frage, die sich viele Menschen gerade nicht nur in der Schweiz stellen lautet: Hat die Welt, hat die Politik, haben vor allem Banken denn gar nichts dazu gelernt?“ (SZ)

Dass Staaten Unmengen Geld in Banken statt in Schulen oder Infrastruktur stecken, ist eben ein Hinweis darauf, was in dieser Gesellschaft Priorität hat. Das Geldgeschäft mit dem Geschäft, das auf Geldvermehrung setzt, muss laufen, davon ist alles in dieser Gesellschaft abhängig gemacht und deshalb werden im Zweifelsfall auch alle Mittel dafür mobilisiert: Banken sind in diesem Sinn tatsächlich so nötig für diese Gesellschaft wie der Blutkreislauf für den Menschen. Schulen können auch später renoviert werden; es braucht sie zwar für den Nachwuchs der Nation, aber dessen Brauchbarkeit ist nicht unmittelbar gefährdet, wenn die Fenster zugig sind oder der Putz bröckelt. Auch die Bahn ist für die nötigen Transporte von Waren und Arbeitskräften unerlässlich, aber das geht auch mit Verspätungen und Überfüllung.

Gelernt haben Politiker und Banken nach der letzten Finanzkrise durchaus. Die Politik hat die Banken zu einer höheren Eigenkapitalquote verpflichtet und so das Kredit- und Anlagengeschäft beschränkt, wobei streng darauf geachtet wurde, dass dies nicht zu sehr die Kreditvergabe der Banken an die Wirtschaft behindert. Die Banken haben ihrerseits alles dafür getan, damit ihr Geschäft auch unter diesen Bedingungen nicht leidet und sie diese Regelungen für sich nutzen können.

Der Rest der Welt wurde dabei nicht gefragt. Und was sollten die kleinen Sparer auch lernen? Ihre Zinsen wurden gekürzt und die Gebühren erhöht, so dass nicht nur ihre Einkommen in den letzten Jahren geschrumpft sind, sondern auch ihre Rücklagen, sofern sie denn welche haben. So geht sie eben, die schöne Marktwirtschaft.

Zuerst erschienen bei Telepolis

Urheberrecht
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Oben       —   Staats- und Regierungschefs beim G20-Gipfel in Rom 2021

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Ackermanns Finanzen

Erstellt von DL-Redaktion am 6. April 2023

Bankchef Josef Ackermann verstand seine eigenen Angebote nicht

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs P. Gasche /   

Es geht um systemrelevante, intransparente Wettgeschäfte in Billionenhöhe, über welche die Medien weitgehend schweigen. (Teil 2)

Wie andere Grossbanken war auch die gestrauchelte Credit Suisse auf undurchsichtigen «Dark Pool»-Handelsplätzen hyperaktiv oder versuchte computergesteuert innerhalb von Millisekunden hohe Gewinne zu erzielen und machte den Kunden und Pensionskassen in ganzseitigen Inseraten «Renditeoptimierungsprodukte» schmackhaft, beispielsweise mit dem unverständlichen Namen «Autocallable Barrier Reverse Convertibles».

Die Finanzindustrie hat die Finanzwelt in ein gigantisches Casino verwandelt, wo Milliarden-Gewinne locken. Man zockt und bereichert sich schamlos auf Kosten anderer – ohne Nutzen für die Volkswirtschaft.

Im «Worst case» können die Spekulanten auf eine Rettung durch Regierungen zählen. Das Risiko eines Crashs trägt die ganze Bevölkerung. 

Infosperber versucht, den Schleier etwas zu lüften. In einem ersten Teil deckten wir auf, dass die unregulierten Schattenbanken weltweit fast die Hälfte sämtlicher Finanzanlagen verwalten. Heute geht es um sogenannte Finanzprodukte, mit denen ohne Nutzen für die Volkswirtschaft spekuliert wird.

Josef Ackermann: «Es werden täglich neue Produkte kreiert. Ich muss mich auf mein Team verlassen»

Sogenannte Derivate sind Spekulationspapiere, deren Wert sich davon ableitet, wie sich die Kurse bestimmter Aktien entwickeln. Wie genau der Wert eines sogenannten «strukturierten Produkts» von den Börsenkursen seiner («Basis»)-Werte abhängt, bestimmen meist schwer durchschaubare mathematische Modelle.

Nur ein geringer Teil der Derivatgeschäfte taucht in den Bilanzen der Banken auf. Beispielsweise fehlen dort alle OTC-Geschäfte (Over the Counter = über den Tresen). Trotz der grossen Bedeutung solcher OTC- und Schattenbank-Geschäfte wissen deshalb weder die Aufsichtsbehörden noch die Notenbanken, wie gross ihr Umfang weltweit derzeit ist.

Finanzjournalistin und Buchautorin Myret Zaki schätzt, dass die gesamte Summe der kaum regulierten Spekulationsgeschäfte weltweit mindestens 150 Billionen Dollar betragen. Zaki warnte in der Sendung «Infrarouge» des Westschweizer Fernsehens: «Wenn die Zinsen weiter steigen, kracht dies alles zusammen, doch niemand interessiert sich dafür.»

In Schweizer Kundenkontos lagen Ende 2019 Derivate in Form von strukturierten Produkten mit einem Volumen von 198 Milliarden Franken (Quelle: Schweizerischen Nationalbank). «Die Schweiz ist mit einem Anlagevolumen von rund 200 Milliarden der weltweit grösste Markt für stukturierte Produkte», rühmten Mitte 2021 die Credit Suisse und der Lobby-Verband der «Strukis», wie man sie zärtlich nennt. Diese undurchsichtigen Spekulationsvehikel würden «viele Arbeitsplätze für Hochqualifizierte» schaffen und angeblich das Eigen- und Fremdkapital für Unternehmen erhöhen.

Als «Basiswerte» von strukturierten Produkten wählen die Mathematiker der Banken Aktien grosser Unternehmen. Ein Nutzen dieser Milliarden-Spekulationen mit Derivaten für diese Unternehmen und für die reale Wirtschaft ist nicht ersichtlich. Falls der Handel mit diesen Spekulationspapieren besteuert oder sonst eingeschränkt würde, «erwarten wir keine substanziellen Nachteile», meinte ein Novartis-Sprecher auf Anfrage. Die SwissRe nannte ebenfalls keine Nachteile: «Wir machen dazu keine Aussagen.» Nestlé wollte auch keine Nachteile für Nestlé erwähnen: «Wir überlassen die kompetente Antwort den Finanz- und Finanzmarktspezialisten.»

Finanzprofessor Marc Chesney warnte am 11. September 2018 in der NZZ:

«Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass der Nominalwert der Derivate der Credit Suisse im Jahr 2017 einen Umfang von 28,9 Billionen Franken betrug. Damit waren diese ungefähr 36-mal so hoch wie ihre Bilanzsumme und 687-mal so hoch wie ihr Eigenkapital. Der Wert dieser Produkte entsprach etwa 43-mal dem BIP der Schweiz und etwas mehr als einem Drittel der Weltwirtschaftsleistung.
Der Nominalwert der Derivate der UBS betrug im gleichen Jahr 18,5 Billionen Franken und war 20-mal so gross wie ihre Bilanzsumme beziehungsweise 361-mal so hoch wie ihr Eigenkapital. Hiermit machte es 28-mal das Schweizer BIP und rund einen Viertel der Weltwirtschaftsleistung aus.
Das Derivatevolumen der Deutschen Bank zeigt ein ähnliches Bild. Es wies 2017 eine Höhe von 48,3 Billionen Euro auf. Dies entsprach 33-mal ihrem gesamten Vermögen und 708-mal ihrem Eigenkapital. Damit war es ungefähr 15-mal so gross wie das Deutsche BIP und machte etwa 67 Prozent der Weltwirtschaftsleistung aus.
Zwischen 2008 und 2018 hat sich der Schattenbankensektor stark entwickelt – wie zum Beispiel die Beteiligungsgesellschaft BlackRock, die ebenfalls «too big to fail» ist und ein Vermögen von mehr als 6 Billionen Dollar verwaltet. Dieser Sektor besitzt eine beunruhigende Macht.»

Derivate in Form von «strukturierten Produkten» sind weit verbreitet. Das Wetten mit ihnen hängt oft von so komplizierten und schwer durchschaubaren Bedingungen ab, dass Bankkunden sie nur schwer verstehen können. Manchmal gaukeln die Banken Produkte mit «100 Prozent Kapitalschutz» vor, obwohl es schon mehrfach zu absoluten Verlusten kam.

In der Schweiz beliebt sind fast unzählige Angebote mit Namen «Barrier-Reverse-Convertibles». Deren gute Noten der Rating-Agenturen seien «für die Kunden irreführend» und «eine echte Gefahr für Privatanleger, Pensionskassen und Gemeinden», warnte Marc Chesney, Finanzprofessor in Zürich. «Eigenartigerweise» würden die Aufsichtsbehörden dies zulassen.

Namhafte Beteiligte an diesen Geschäften der Schattenwirtschaft bezeichnen sich selber als «Investmentbanken». Man denkt an Investionen in Strassen, Schulen und Fabriken. Doch weit gefehlt. Mit mathematischen Modellen entwickeln sie komplexe Anlagepapiere, genannt «Produkte», darunter «strukturierte» Produkte, die Spekulationsgeschäften dienen, jedoch Sicherheit und «Renditeoptimierung» vorspiegeln.

Auf die Frage, ob er als Chef der Deutschen Bank verstanden habe, was die Deutsche Bank zu seiner Zeit da genau anbot und wie hoch die Risiken waren, antwortete Josef Ackermann Anfang 2022 in der NZZ:

«Bei dieser Komplexität der Materie muss sich ein Bankchef auf die Fachkompetenz eines starken Teams verlassen können. Es werden täglich neue Produkte kreiert.»

Selbst der oberste Bankchef versteht also nicht alle «Produkte», welche seine eigene Bank ihren Kunden anbietet. Ebenso wenig verstehen davon überforderte Aufsichtsbehörden oder Parlamentarier, die Bankgesetze beschliessen, oder Regierungen, die Verordnungen erlassen.

Es handelt sich fast immer um spekulative Termingeschäfte, also Wetten auf die Zukunft. Mit sogenannten «Swaps» (deutsch: Tausch) werden Geschäfte zu einem festgesetzten Preis mit Zahlung zu einem späteren Zeitpunkt vereinbart.

Die komplexen Derivate erlauben den «Investment»-Bankern, mit einem geringen Kapitaleinsatz hohe Gewinne abzuschöpfen. Diese rechtfertigen am Jahresende happige Boni.

Die Nominalwerte ihrer offenen Derivatgeschäfte müssen die Grossbanken in der Bilanz nicht einmal ausweisen. Das wird damit begründet, dass sich die Risiken netto ausgleichen würden. Es handle sich um ein «Nullsummen-Spiel», weil immer eine Seite gewinnt und die andere verliert. Nur: Wenn das Casino brennt, müssen die Steuerzahlenden die Zeche zahlen.

Wäre das Wett-Casino tatsächlich ein Nullsummen-Spiel, hätten sich die Risiken 1998 und 2008 tatsächlich gegenseitig neutralisiert und es wäre nicht zu den grossen weltweiten Finanzkrisen gekommen. Warren Buffett bezeichnete die Derivate-Instrumente der Finanzindustrie bereits in den Neunzigerjahren als «Massenvernichtungswaffen».

Das Beispiel Archegos

Auch beim Fall Archegos entpuppte sich das angebliche Netto-Null-Risiko als trügerische Hoffnung. Die Bilanz wies Fonds von 10 Milliarden aus, Archegos stand jedoch mit 50 Milliarden Dollar im Risiko. Zum Wetten mit Derivaten stellte die Credit Kundengelder und eigene Gelder der Archegos Capital Management zur Verfügung. Die CS soll der Archegos regelrecht Geld nachgeschmissen haben, «weil sie sich hohe Gebühreneinnahmen und Provisionen versprach», schrieb die NZZ. Das interne Risiko-Management der Grossbank versagte.

Das Geschäftsmodell von Archegos beruhte auf der Manipulation von Börsenkursen. Die Anklageschrift der New Yorker Staatsanwaltschaft beschrieb das Konstrukt wie folgt (redigiert):

«Archegos lieh sich über Derivate wie sogenannte Total-Return-Swaps viel Geld und kaufte damit riesige Mengen von lediglich etwa zehn verschiedenen Aktien. Diese grosse Nachfrage trieb die Kurse dieser Aktien massiv nach oben. Das führte zu nicht realisierten Gewinnen. Dank diesen verbuchten Gewinnen konnte sich Archegos von Banken wiederum sehr viel Geld ausleihen, mit dem wieder die gleichen Aktien gekauft wurden, was deren Wert weiter in die Höhe trieb.»

Bevor die Credit Suisse in diese riskanten Spekulationsgeschäfte investierte, hatte die Grossbank nicht einmal verlangt, dass Archegos seine weiteren finanziellen Verpflichtungen offenlege. Wirtschaftsjournalist Beat Schmid kommentierte am 2. Mai 2021 in der Sonntags-Zeitung: «Jeder Hausbesitzer und Unternehmer muss, bevor er einen Kredit erhält, offenlegen, bei wem er weitere Kredite am Laufen hat. Bei Archegos, das mit einem x-fach höheren Einsatz spekulierte, verlangten die Banken dies nicht.»

CDS oder Kreditausfallversicherungen

Zu casino-ähnlichen Wettgeschäften entartet sind auch Versicherungen gegen Kreditrisiken oder Währungsverluste. Die Käufe solcher Versicherungs-Zertifikate, genannt Credit Default Swaps CDS, erfüllen ihren Zweck dann, wenn sie ein tatsächlich eingegangenes Risiko gegen Verluste absichern. Kauft beispielsweise ein Investor Obligationen eines Unternehmens, kann er sich gegen einen Zahlungsausfall des Unternehmens absichern, indem er bei einem Finanzinstitut eine Kreditausfallversicherung abschliesst und ein CDS kauft. Der Preis hängt in der Regel von der Bewertung des Unternehmens durch Rating-Agenturen ab. Je unsicherer die finanziellen Aussichten des Unternehmens sind, desto höher steigt der Preis oder der Kurs des CDS.

Der Kurs der CDS steigt also, wenn es dem Unternehmen immer schlechter geht, weil dann eine Rückzahlung der Obligationen unsicherer wird. Die CDS kann man jederzeit kaufen und verkaufen.

Zur Zweckentfremdung kommt es, wenn man an der Börse CDS gegen Kursverluste von Obligationen kauft, ohne dass man Obligationen dieses Unternehmens besitzt. Man hat kein Geschäft abzusichern, sondern spekuliert einfach darauf, dass der der Kurs der Obligation fällt und der Preis der börsengehandelten CDS entsprechend steigt. Dann kann man die gekauften CDS viel teurer wieder verkaufen. Der Erwerb solcher «Versicherungs»zertifikate oder CDS dient dann ausschliesslich der Spekulation.

Chesney erläuterte diese Spekulation mit folgender Analogie:

«Niemand kann eine Autoversicherung abschliessen, ohne ein Auto zu besitzen […] Man kann auch keine zehn oder hundert Versicherungen für das Auto des Nachbarn abschliessen in der Hoffnung, dass er einen Unfall hat. Man hätte dann ein Interesse daran, das Auto des Nachbarn zu manipulieren! In der Finanzwelt aber ist es gang und gäbe, auf die Zahlungsunfähigkeit von Unternehmen, mit denen keinerlei Geschäftsbeziehungen bestehen, zu spekulieren und möglicherweise die Zahlungsunfähigkeit dann zu provozieren. Man wettet auf ihre Zahlungsunfähigkeit, ihren Erfolg oder ihre Rettung.»

Bekannt wurde, dass beispielsweise der frühere Goldman-Sachs-Manager Richard Perry im Jahr 2016 mit seinem Hedge-Funds Perry Capital für eine Milliarde Dollar solche Kreditausfallversicherungen kaufte und auf Pleiten von Unternehmen wettete. Das meldete «Business Insider».

Das Ausmass der Spekulationsgeschäfte mit diesen Vesicherungspolicen CDS ist gigantisch: Heute sichern über 90 Prozent aller gekauften CDS keine realen Geschäfte mehr ab, sondern sind reine Wettgeschäfte.

Der Preis eines CDS hängt davon ab, wie die Rating-Agenturen die «Bonität» des jeweiligen Versicherten zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses einschätzen. Und umgekehrt können Rating-Agenturen die «Bonität» herabsetzen, weil die Preise der CDS steigen.

Die spekulativen CDS können als gefährliche Brandbeschleuniger wirken.

Ein aktuelles Beispiel ist die Credit Suisse. Je tiefer der Kurs der CS-Aktien im Jahr 2022 fiel, desto stärker stiegen die Kurse der CDS. Steigende CDS-Kurse wie letztes Jahr bei der Credit Suisse gelten als Zeichen, dass die grossen Wett-Spekulanten nicht mehr an die Zukunft der Bank glauben oder jedenfalls auf deren Niedergang wetten. Die Bank verliert weiter an Bonität. Das hat zur Folge, dass sie bei der Ausgabe neuer Obligationen oder bei der Aufnahme von Krediten höhere Zinsen zahlen muss.

Ende November 2022 prophezeite Rainer Skierka, Banken-Analytiker bei Research Partners in der NZZ, der Kursanstieg der CDS sei für die CS «noch folgenschwerer als der Rückgang des Aktienkurses». Das war dann tatsächlich der Fall.

Niemand weiss allerdings, welche Finanzinstitute, Hedge-Fonds oder Beteiligungsgesellschaften wie BlackRock oder Vanguard auf eine Insolvenz der CS gewettet haben. Die Akteure bleiben im Dunkeln. Die parlamentarische Untersuchungskommission könnte versuchen, dies herauszufinden.

Mit «Killerinstinkt» gegen Unternehmen wetten

Wenn grosse Hedge-Funds auf den Konkurs eines Unternehmens wetten, können sie die Entwicklung entsprechend beeinflussen beziehungsweise manipulieren. Häufig platzieren sie selber dazu nützliche Beiträge in Medien oder bedienen Wirtschaftsjournalisten mit exklusiven «Insider»-Informationen, die dem Unternehmen schaden.

Auf ihren «Killerinstinkt» sei sie geradezu stolz, meinte Fahmi Quadir, Gründerin des New Yorker Hedge-Funds «Safkhet Capital». Das Setzen auf Kursstürze und Bankrotte von Unternehmen sei nützlich, um schwache Firmen aus dem Markt zu kippen. Beim Unternehmen «Valeant Pharmaceuticals» beispielsweise habe sie ein schlechtes und korruptes Management ausgemacht und dann zehn Prozent des Hedge-Fund-Kapitals eingesetzt, um mit Leerverkäufen* auf einen Kurszerfall bei Valeant zu wetten. Kurz darauf hätten die Valeant-Aktien 90 Prozent ihres Wertes verloren.

UBS zahlte wegen Manipulationen in Dark Pools 14 Millionen Dollar

Anfang 2015 verbreitete Reuters folgende Meldung: 

«Im Rahmen eines Vergleichs zahlt die UBS-Tochter UBS Securities 14,4 Millionen Dollar [Schadenersatz]. Den Market-Makers und Hochfrequenz-Handelsfirmen, welche die Dark Pools genutzt hätten, seien unerlaubterweise Vorteile zu günstigen Konditionen gewährt worden, erklärte die US-Wertpapieraufsicht SEC. Dark Pools sind ausserbörsliche Handelsplätze, an denen Investoren unbemerkt von Rest der Investoren grosse Aktienpakete kaufen oder verkaufen können.»

Lange bringt es grosse Gewinne – beim Absturz helfen Staat und Steuerzahlende

Hat das Wetten gegen die Zukunft eines Unternehmens Erfolg, machen Käufer von CDS ein hervorragendes Geschäft. Deshalb beteiligen sich an diesem lukrativen Geschäft alle grossen Finanzinstitute: Die Deutsche Bank (Derivatvolumen 2015: 75 Billionen Dollar!), JPMorgan, Goldman Sachs und mindestens bis zum Kollaps die Credit Suisse. Das genaue Ausmass des Engagements der Credit Suisse (und der UBS) müsste die parlamentarische Untersuchung aufdecken.

Finanzprofessor Marc Chesney hatte Anfang 2021 gegenüber Infosperber darauf hingewiesen, dass bei der Credit Suisse im Geschäftsjahr 2020 weniger als 1 Prozent der Nominalwerte aller Derivatgeschäfte das Kursrisiko eines Wertpapiers, eines Rohstoffes oder eines Wechselkurses absicherten. «Die restlichen 99 Prozent sind reine Wetten einer Casino-Finanzwirtschaft sowie Marktmanipulationen, die der Realwirtschaft keinen Nutzen, sondern nur Gefahren bringen. «Wer kann da noch glauben, die Situation sei unter Kontrolle?», fragte Chesney.

Regierungen und Parlamente schauen zu und übernehmen die Rettung

Falls es wie 1998 oder 2008 zu einer grösseren Krise oder einem Crash kommt, zählen die Spekulanten darauf, dass andere Banken oder der Staat einspringt. Im Jahr 2008 mussten mit der AIG die grösste Versicherungsgesellschaft der Welt sowie die US-Hypothekenbanken Fannie May und Freddy Macgerettet werden. Bei einem Bankrott der AIG wären CDS in Höhe von 440 Milliarden Dollar fällig geworden. Sie hätten das globale Finanzsystem finanziell aus den Angeln gehoben.

Da flog dann auch Peer ein

Die Jahre der tiefen Zinsen und Negativzinsen verschaffte der Finanzindustrie immer neues, billiges Geld. Doch die «Investmentbanken» stellten der Realwirtschaft nur wenig davon zur Verfügung. Sie verwöhnten zuerst die Aktionäre und schleusten den grössten Teil in die Spekulation, also in erster Linie in das Wettgeschäft mit Derivaten.

Trotz aller Versprechen, das Geschäft mit Derivaten im Dunkel der Schattenbanken stärker zu regulieren, hat kein einziges Land etwas unternommen. Im Gegenteil: Der Derivate-Sektor ist weiter stark gewachsen. Das ganze Finanz-Casino gefährdet unterdessen das globale Finanzsystem, den Wohlstand, die Demokratie und den Frieden mehr denn je.

Die Schweizer Finanzaufsichtsbehörde Finma gibt sich schweigsam. Auch auf Anfrage sagt sie beispielsweise nicht, welcher Anteil der Derivate in der Schweiz nicht über die Börse, sondern ausserbörslich in der Schattenwirtschaft gehandelt wird. Und zur Frage, welchen Nutzen beispielsweise der Handel mit ungedeckten, rein spekulativen CDS für die reale Wirtschaft hat, will sich die Finma auf Anfrage nicht äussern.

Abhilfe gegen dieses Zocken mit Derivaten und CDS brächte eine Mikrosteuer auf allen elelektronischen Transaktionen, also auch auf Käufen und Verkäufen dieser «Produkte».

*Spekulieren mit Leerverkäufen

Bei Leerverkäufen verkauft jemand zu einem festgelegten Preis auf einen späteren Zeitpunkt Aktien, die er noch gar nicht besitzt (Termingeschäft). Der Verkäufer setzt mit Leerverkäufen auf fallende Aktienkurse (er „shortet“ seine Position). In der Zeit bis zum vereinbarten Verkaufstermin muss der Leerverkäufer die Aktien kaufen. Das Geschäft geht schief, falls der Kurs der Aktie steigt.

Im Extremfall kann es vorkommen, dass viel mehr Aktien im Voraus verkauft werden als existieren. Das war beispielsweise beim US-Unternehmen Gamestop der Fall, die Computerspiele und Unterhaltungssoftware verkauft. Als der Aktienkurs aufgrund von Spekulationen von 20 Dollar am 12. Januar 2021 bis auf über 480 Dollar am 28. Januar 2021 emporschnellte, verkauften vor allem Hedge-Funds massenweise Gamestop-Aktien auf Termin, da sie fallende Kurse erwarteten und daraus Gewinne erzielen wollten. Schliesslich wurden 40 Prozent mehr Aktien leer verkauft als es überhaupt gab. Weil sich die Baisse-Spekulanten rechtzeitig mit Aktien eindecken mussten und es zu wenige gab, wären die Kurse in extreme Höhe geschnellt. Dazu kam es nicht, weil ein Online-Broker die Käufe stoppte. Es kam zu Verwerfungen. Gamestop schloss weltweit fast alle Läden und betreibt fast nur noch Online-Handel.

Die Wettgeschäfte mit den Gamestop-Aktien waren alle legal. «Es war die menschliche Gier, welche Anleger zu Gamestop zogen», meinte Werner Grundlehner, Börsenredaktor der NZZ.

Wie das Problem «ganz einfach zu lösen» wäre, sagte einer der es wissen muss. Multimilliardär Peter Peterffy, Mehrheitsaktionär von Interactive Brokers: «Die Regulatoren müssten für die Leerverkäufe nur die Margenvorschriften anzupassen – von bisher 50 Prozent hinterlegtem Eigenkapital auf 100 Prozent plus 1 Prozent von jedem zusätzlichen 1-Prozent-Anteil der bereits auf fallende Kurse gesetzte Papiere. Im Endeffekt wären immer genügend Sicherheiten vorhanden.»

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Oben      —       Relief “Ludwigs Erbe” by Peter Lenk, close to Zollhaus and tourist information, Hafenstraße 5, Ludwigshafen am Bodensee, Bodman-Ludwigshafen in Germany: Right-hand part of the triptych: Josef Ackermann

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Darüber redet kaum jemand

Erstellt von DL-Redaktion am 4. April 2023

Der Deal der Großbanken

Ein Debattenbeitrag von Rudolf Walther

Übernahme von Credit Suisse. Von der Pleite der Credit Suisse und der Übernahme durch die UBS profitieren vor allem Wirtschaftsanwälte und Kanzleien.

In der Schweiz kursiert unter ehrgeizigen Abiturienten, aber auch bei gestandenen Sozialwissenschaftlern, wie mir ein befreundeter, im Schweizer Sozial- und Gesundheitswesen tätiger unabhängiger Firmengründer und Berater mitteilte, der nur auf den ersten Blick erstaunlich gleiche Traum von der nicht verfehlten, erst im nächsten Leben zu korrigierenden Berufswahl. Die Schweizer Abiturienten träumen fast nur noch von der Bedeutung der finanziell aussichtsreichsten Studien- und Berufswahl, möglichst fürs ganze bevorstehende Berufsleben.

Auf den zweiten Blick erstaunt diese Koinzidenz der Träume von alten und angehenden Akademikern über die Berufswahl nicht. Denn den Hintergrund und Anlass für diese Gleichschaltung der Träume bildet die politische Debatte in der Schweiz: die Pleite der Großbank Credit ­Suisse und die ferngesteuerte Übernahme der Credit ­Suisse durch die Konkurrentin UBS.

Deutlich führte das Drama vor Augen: Wenn es um den internationalen Finanzmarkt geht, hat es mit dem Stolz auf Eigenständigkeit, Neutralität und traditionelles Brauchtum, das sich seit geraumer Zeit immer schroffer gegen andere und Fremde richtet, ein ganz schnelles Ende.

Die Träume älterer und angehender Akademiker von der lukrativsten Berufswahl in der Schweiz werden befeuert von der Aussicht auf lebenslang wohlstandssichernde Honorare für Wirtschaftsanwälte und ihre Kanzleien aus anstehenden Gerichtsprozessen, in der es um milliardenschwere Streitwerte geht.

Fremdkapital, das in Eigenkapital umgewandelt wird

Es handelt sich um die Entschädigung der Käufer von sogenannten AT1-Anleihen mit einem Nennwert von gigantischen 16,1 Milliarden Schweizer Franken bei der Pleitebank Credit Suisse.

AT1-Anleihen, auch „Coco-Bonds“ genannt, sind hochriskante „Errungenschaften“ der Finanzindustrie nach der letzten Bankenkrise von 2008/2009. Es ist Fremdkapital, das jedoch ohne Zustimmung der Inhaber in Eigenkapital umgewandelt werden kann – so zumindest die marktwirtschaftsfromme und kapitalmarktkompatible Lesart der Juristen der Schweizer Behörden, die jedoch umstritten ist.

Die Käufer dieser AT1-Anleihen wurden ohne seriöse juristische Prüfung ihrer Regress- und Entschädigungsansprüche enteignet. Und das könnte eine Lawine von Klagen auslösen.

Die Steuerzahler müssen haften

Die ohne Zweifel bevorstehenden Entschädigungs- und Haftungsprozesse enthalten politische Brisanz. Und das nicht nur für die Schweizer Finanzministerin Karin Keller-Sutter, die sich wie eine patriotisch besorgte Politikerin für „ihre“ Banken und deren Geschäftsmodell ins Zeug legt, sondern in letzter Instanz auch ganz erhebliche finanzielle Risiken für den Steuern zahlenden Teil der Schweizer Bevölkerung schafft.

Die Steuerzahler haften nach dem Stand der Dinge auf jeden Fall mit mindestens 9 Milliarden Franken für den Deal. Die Nationalbank ist bereit, 100 Milliarden Franken zu drucken, um die famose Lösung abzusichern und der Übernahme der Credit ­Suisse durch die USB genügend Cash zur Verfügung zu stellen.

Vor allem aber birgt der Deal der Großbanken enorme Prozessrisiken und damit reichlich Futter, also üppige Honorare für Generationen von erfahrenen Wirtschaftsanwälten und -kanzleien mit einer Langzeit-Beschäftigungsgarantie.

Niemand redet vom Image-Schaden

Auch Interessenten der als wertlos eingestuften AT1-Anleihen wie die Investmentbank Goldman Sachs stehen bereits in den Startlöchern und kaufen die Papiere schon mal auf – für den Fall der Fälle. Die Bilanzsumme der zusammengelegten beiden Großbanken umfasst mit etwa 1,6 Billionen Franken mehr als das Doppelte des gesamten Bruttoinlandsprodukts der Schweizer Wirtschaft.

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Fast keiner, und schon gar nicht öffentlich wahrnehmbar, redet vom Imageschaden der Pleite der Großbank für die Schweizer Wirtschaft und für die Demokratie.

In den Medien kümmern sich allenfalls Nischenprodukte wie die linke Zürcher Wochenzeitung, die kleine sozialwissenschaftliche Zeitschrift Widerspruch oder Blogs kritischer Wissenschaftler um die gravierenden Imageverluste des Landes, ausgelöst durch gewohnheitsmäßig an der unscharfen Grenze zur Kriminalität operierenden Banker vom Zürcher Paradeplatz, dem Stammsitz der beiden Schweizer Großbanken.

Als sei nichts passiert

In offen national-chauvinistisch und trotzig-apologetischer Perspektive profilieren sich dagegen Organe der Rechts-Abbieger-Presse wie die einst durchaus lesbare Wochenzeitung Die Weltwoche unter dem heutigen Eigentümer Roger Köppel – ein selbstherrlich über willige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter regierender Chefredakteur, rechter SVP-Politiker und Fan des SVP-Urgesteins Christoph Blocher.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben     —    Occupy movement at Paradeplatz in Zürich (Switzerland)

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von DL-Redaktion am 30. März 2023

Bankenkrise in der Schweiz – Illusion des sicheren Hafens

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Von Ulrike Herrmann

Die Krise der Credit Suisse und die Übernahme durch ihre Konkurrentin UBS demaskieren das Geschäftsmodell der Schweiz. Die Bankenkrise in der Schweiz hat das Geschäftsmodell des Landes mit dem völlig überteuerten Franlen demaskiert.

Die Schweiz wirkt stabil und reich. Doch plötzlich scheint dieses Bild nicht mehr zu stimmen: Die zweitgrößte Bank, die Credit ­Suisse, musste von der Konkurrentin UBS übernommen werden, um eine Pleite zu verhindern.

Die Schweiz ist eine wichtige Steueroase, Anleger halten sie für sicher. Eine Illusion

In der Schweiz wird dieses Desaster als Staatskrise empfunden. Zu Recht. Die Credit Suisse zeigt, dass das eidgenössische Geschäftsmodell nicht mehr funktioniert. Für das kleine Land ist es gefährlich, sich als Steueroase zu inszenieren und weltweit Gelder anzuziehen.

Aber von vorn: Zunächst wirkt die Pleite der Credit Suisse wenig spektakulär, schließlich geraten immer wieder Unternehmen in die Krise. So müssen in Deutschland diverse Filialen der Warenhauskette Galeria Karstadt Kaufhof schließen, weil sie Verluste schreiben. Ähnlich war es auch im Fall der Credit Suisse: Sie hatte hohe Kosten, aber kein profitables Geschäftsmodell. Der relevante Unterschied ist nur, dass die Bank keine Unterhosen verkauft, sondern mit Geld hantiert – was die Pleite brisant macht.

Der Untergang der Credit Suisse­ war langfristig unvermeidlich. Sie hätte nur überleben können, wenn sie ihre Vermögensverwaltung noch weiter ausgebaut hätte. Doch dieser Markt ist schon gefährlich überdehnt, weil auch alle anderen Schweizer Banken davon leben, internationale Gelder zu betreuen.

Wichtige Steueroase

Vor der Coronakrise sammelte sich bei den zehn größten Schweizer Banken ein Finanzvermögen von 3,8 Billionen Franken – obwohl die Wirtschaftsleistung des Landes nur bei 717 Milliarden Franken lag. Die Schweiz erinnert an einen riesigen Geldballon, der nur noch mit einer dünnen Leine am Boden verankert ist.

Die Schweiz ist die zweitwichtigste Steueroase der Welt, und Anleger drängen in das kleine Land, weil sie einen „sicheren Hafen“ suchen. Doch dieser Eindruck beruht auf einer Illusion. Da so viele Investoren Franken kaufen, steigt dessen Wert, woraus die Investoren messerscharf schließen, dass der Franken sehr wertvoll sein muss – weswegen sie noch mehr davon kaufen.#

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In Wahrheit ist der Franken ein Verlustgeschäft. In einem Züricher Restaurant kostet ein schlechtes Kartoffelgratin mit schlechtem Wein 60 Franken. In Berlin wäre das gleiche Essen schon mit 25 Euro zu teuer. Das Schweizer Statistikamt hat genau nachgerechnet: Im Jahr 2021 benötigte man 167 Franken, um einen Warenkorb zu kaufen, der in der EU nur 100 Euro gekostet hätte. Der richtige Wechselkurs wäre also 1,67 Franken für einen Euro gewesen. Stattdessen lagen Franken und Euro fast gleichauf.

Der überbewertete Franken ist eine schwere Bürde für die Schweiz, weil er die heimischen Waren auf dem Weltmarkt zu teuer macht. Von 2012 bis 2021 ist die Schweizer Wirtschaft pro Kopf um 4,5 Prozent gewachsen. Das ist nicht viel für ein Jahrzehnt.

Nur im Ausland reich

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>        weuterlesen

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Oben      —     Protest vor der Credit Suisse auf dem Bundesplatz im Rahmen einer Klimakundgebung 2019

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Fall Credit Suisse

Erstellt von DL-Redaktion am 28. März 2023

Zitate für die Geschichtsbücher zum Fall Credit Suisse

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von        :      Urs P. Gasche / 

Es gab Schönredner, die heute nicht gern an ihre Aussagen erinnert werden. Und es gab Warner, die jetzt zu wenig zu Wort kommen.

Trotz der weltweiten Finanzkrise von 2008 hatten Behörden und Politiker die Eigenkapitalvorschriften für Banken zu wenig verschärft und unzulängliche Notfallpläne erarbeitet. Das genügte jedoch, dass einige Politiker und Experten der Öffentlichkeit Sand in die Augen streuten und zuliessen, dass Grossbanken mit Hilfe ihrer einflussreichen Lobby noch heute mit Fremd- und Eigenkapital weitgehend unbehindert hochriskante Wettgeschäfte eingehen können – auch unkontrolliert ausserhalb der Börsen (siehe «150 Billionen Franken Spekulationsgelder sind ausser Kontrolle»).

Unter anderem dies führte jetzt zum günstigen Verkauf der Credit Suisse an die Grossbank UBS, um damit «eine internationale Finanzkrise zu verhindern» (Urban Angehrn, Direktor der Finanzaufsicht Finma, am 26.3.2023 in der Sonntags-Zeitung).

Neben verharmlosenden Stimmen fehlten auch warnende nicht, aber die Politik überhörte sie. Infosperber dokumentiert eine Auswahl davon. Die Reihenfolge ist chronologisch und die Quellen geben den Ort der Zitate an.

Einige Verharmloser und Beruhiger

Thomas Jordan, Nationalbankpräsident:

«Um Staaten und Steuerzahler aus der Geiselhaft von Grossbanken zu befreien, gibt es grosse Fortschritte zu verzeichnen. Das betrifft zum Beispiel die Kapitalaufschläge.»

22.11.2012, Tages-Anzeiger

Markus Rohner, Chef Notfallplanung bei der UBS:

«Für die Abwicklungsfähigkeit gibt es ein sehr detailliertes Drehbuch. Es zeigt, wie man das systemkritische Geschäft in der Schweiz weiterführen kann, selbst wenn andere Teile des Konzerns abgewickelt werden müssten.»

6.6.2017, NZZ

Kommission der EU:

Die EU-Kommission zieht ihren Vorschlag für ein Trennbankensystem zurück, wonach die grössten Banken in der EU keinen Eigenhandel mehr hätten betreiben dürfen und diesen in eine selbständige Einheit ausgliedern müssen. Die Mehrheit im EU-Parlament habe argumentiert, dass die Finanzstabilität «mit anderen Massnahmen» angegangen worden sei.

26.10.2017, NZZ

Aymo Brunetti, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bern:

«Für die Grossbanken UBS und CS ist das ‹Too big to fail›-Problem stark eingedämmt. Sie können in Konkurs gehen, ohne die ganze Volkswirtschaft mit in den Abgrund zu ziehen […] Bei den Grossbanken sollte technisch nun bald alles aufgegleist sein, dass man sie nicht mehr retten muss.»

1.9.2018, Tages-Anzeiger

Tobias Straumann, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich:

«Bei den Banken ist es recht gut gelungen, die Konsequenzen für die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu ziehen, auch wenn man die Anforderungen an die Reserven ruhig noch verschärfen könnte.»

9.10.2022, Tages-Anzeiger

Aymo Brunetti, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bern

«Wir befinden uns jetzt in einer fundamental anderen Situation als 2008: Die systemrelevanten Banken sind heute aufgrund der gesetzlichen Regulierung viel widerstandskräftiger. Und es existiert ein Rettungsplan für die systemrelevanten Teile im Falle eines Konkurses […] Dann muss der Staat nicht wieder eingreifen.»

10.10.2022 St. Galler Tagblatt

Stellungnahme von Professor Aymo Brunetti (erst am 27. März um 16.00 Uhr eingetroffen)

Die Frage, wie er heute zu diesem Zitat stehe, beantwortete Brunetti wie folgt:

«Zu dieser Aussage stehe ich. Dank der going concern Vorgaben, das heisst den deutlich erhöhten Kapital- und Liquiditätsvorschriften, wenn die Bank lebt, sind sie heute deutlich widerstandskräftiger. Das heisst nicht, dass sie jede Krise überleben können, aber dass sie deutlich mehr Krisen überstehen können als noch 2008. Ohne diese Vorgaben hätte es wohl schon in der Pandemie Finanzturbulenzen grösseren Ausmasses gegeben und die CS hätte den Sturm vom Herbst 2022 nicht überstanden. Der Rettungsplan für den gone concern, also wenn die Bank stirbt, existiert und ist von der FINMA für die Abspaltung des systemrelevanten Schweizer Teils akzeptiert, aber er wurde nicht aktiviert, weil sich eine weniger destabilisierende Lösung fand, als die Aufspaltung und Abwicklung. Damit hat der Staat in einer Güterabwägung hauptsächlich mit Liquiditätsstützung tatsächlich eingegriffen. Auf jeden Fall braucht es jetzt eine genaue Analyse, inwieweit eine Auslösung des Notfallplanes aus Sicht der globalen Finanzstabilität akzeptabel gewesen wäre und je nach Ergebnis deutliche oder weniger weitgehende, zusätzliche Regulierungen.»

Aufsichtsbehörde Finma und Schweizerische Nationalbankam 15. März, vier Tage vor dem Verkauf der CS an die UBS

«Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht FINMA und die Schweizerische Nationalbank SNB informieren, dass von den Problemen gewisser Bankinstitute in den USA keine direkte Ansteckungsgefahr für den Schweizer Finanzmarkt ausgeht. Die für die Schweizer Finanzinstitute geltenden strengen Kapital- und Liquiditätsanforderungen sorgen für die Stabilität der Institute. Die Credit Suisse erfüllt die an systemrelevante Banken gestellten Anforderungen an Kapital und Liquidität.»

15.3.2023, Communiqué der Finma und der Nationalbank

Tobias Straumann, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich, zwei Tage vor der CS-Pleite, nachdem die SNB 50 Milliarden-Franken Liquiditätshilfe sprach:

«Die Credit Suisse hat bis jetzt lediglich eine kurzfristige Liquiditätshilfe – einen Kredit – erhalten […] Die Regulierungen wurden ausgebaut, da haben wir sicher unsere Lehren gezogen […] Ich glaube nicht, dass es zu mehr Regulierungen kommen wird. Es gibt ja – anders als etwa im Nachgang der Finanzkrise von 2008 – kein systemisches Problem. Unter anderem dank den Regulierungen, die damals beschlossen wurden.»

18.3.2023, NZZ

Stellungnahme von Professor Tobias Straumann

Die Frage, wie er heute zu diesem Zitat stehe, beantwortete Straumann wie folgt:

«Während eines Bankruns sollte man nicht Öl ins Feuer giessen, vor allem wenn man nicht weiss, wie schlimm der Bankrun ist. Die Schweizer Behörden haben uns damals mit guten Gründen im Dunkeln gelassen, um die Situation bis zum Wochenende zu stabilisieren.

Weitere Regulierungen bringen meines Erachtens nichts. Man sollte den Leuten endlich mal ehrlich sagen, dass sich Bankenkrisen nicht verhindern lassen. Wir werden früher oder später auch mit der neuen UBS ein Problem haben. Es braucht kein neues Gesetz, sondern einen konkreten Plan, wie man in einer künftigen Krise umgehen muss. Wahrscheinlich muss man die UBS verstaatlichen und zerlegen.»

Etliche Warner

Peter V. Kunz, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bern:

«Eine sinnvolle Regulierung der Finanzindustrie erscheint unerlässlich […] Doch ich war lange genug in der Wirtschaftsadvokatur tätig, um aus eigener Erfahrung zu wissen, dass eine detaillierte Regulierung die Rechtsunterworfenen (und deren Berater) umso mehr anspornt, Lücken zu finden oder zu erfinden. Keine Regulierung wird jemals so effizient sein wie die Kreativität der Wirtschaftsjuristen!»

2010, UniPress

Rudolf H. Strahm, früherer Preisübewacher:

«Man muss den spekulativen Eigenhandel der Grossbanken einschränken. Eigenhandel ist volkswirtschaftlich schädlich und dient nur dazu, die Boni der Investmentbanker aufzufetten. Und weiter muss man das Schattenbanking ausserhalb der Banken mit Hedgefonds und anderen hochspekulativen Finanz-Massenvernichtungswaffen der Finanzmarktaufsicht unterstellen. Denn sie stellen heute das global grösste Systemrisiko dar.»

20.9.2011, Tages-Anzeiger

Peter A. Fischer, Wirtschaftsredaktor NZZ:

«Das europaweit zu beobachtende Fehlen des politischen Willens, unsolide Institute abzuwickeln, ist viel gefährlicher als Mängel bei der Aufsicht […] Die Eigenkapitalausstattung der meisten Banken wirkt […] immer noch recht dünn. Bei den Grossbanken beträgt sie nun rund 5 Prozent.»

31.3.2012, NZZ

Harvay Rosenblum, Forschungschef der Federal Reserve Bank of Dallas:

«Die Problematik ‹Too big to fail› ist die grösste Gefahr für den Wohlstand Amerikas […] Die Grösse erhöht die Komplexität und diese dient letztlich der Verschleierung, so dass weder Geschäftsleitung noch Aufsichtsbehörden Schritt halten können. Als Folge davon sind Bilanzen der Grossbanken noch immer voller toxischen Aktiven […] Das Phänomen von ‹Too big to fail› ist eine Abart des Kapitalismus. Die Wahrnehmung, Marktregeln gälten nicht für die Reichen, Mächtigen und gut Vernetzten hat fatale Auswirkungen. Weder Rechenschaft abzulegen noch Verantwortung zu übernehmen, hat nichts mit Kapitalismus zu tun […] Die Lösung, Grossbanken zu verkleinern, ist günstiger als das Festhalten am Status quo.»

19.5.2012, NZZ

Donato Masciandaro, Wirtschaftsprofessor und Regulierungsspezialist an der Mailänder Elite-Universität Bocconi:

«Die Finanzbranche ist zu gross und zu sehr ineinander verwoben. Dagegen müsste man erstens die Finanzwelt kleiner machen und die Hebeleffekte verringern. Weil es unmöglich ist, die Risiken zu messen, muss die Dimension der Finanzaktivitäten verringert werden.»

27.6.2012, NZZ-Beilage

Gar Alperovitz, Professor für politische Ökonomie an der University of Maryland:

«Hochbezahlte Bank-Lobbyisten sorgen dafür, dass Grossbanken nie wirksam kontrolliert werden können wie andere Unternehmen […] Sehr grosse Konzerne (wie Grossbanken) können Regulierungen und Anti-Trust-Gesetze leicht umgehen. Henry C. Simons, führender Vertreter der Chicagoer Schule, sagte schon 1948, dass die meisten Konzerne ihre Grösse nicht damit rechtfertigen können, dass sie eine höhere Produktivität möglich machen. Simons folgerte: ‹Jeder Grosskonzern sollte entweder harten Wettbewerbsbedingungen unterworfen sein oder dann verstaatlicht werden›. Ich erinnere daran, dass die USA General Motors im Jahr 2009 verstaatlicht haben (Heute gehört GM mehrheitlich Investmentgesellschaften wie Blackrock, Vanguard u.a. Red.). Auch die AIG, eine der grössten Versicherungskonzerne, wurde nationalisiert (Heute gehört GM mehrheitlich Investmentgesellschaften wie Blackrock, Vanguard u.a. Red.).»

23.7.2012, New York Times

Rudolf H. Strahm, früherer Preisübewacher:

«Gewerkschafter Corrado Pardini und Christoph Blocher schlagen gemeinsam eine Trennung der Bankgeschäfte vor: in eine Geschäftsbank, welche die Volkswirtschaft mit Krediten versorgt, und eine Investmentbank, die spekulative Geschäfte mit Derivaten und Devisengeschäften abwickelt. Die USA praktizierten dies von 1933 bis 1999.»

17.9.2013, Tages-Anzeiger

Marc Chesney, Finanzprofessor an der Universität Zürich:

«Grossbanken sind zu wenig reguliert und in ein hochriskantes Wett-Casino verstrickt. Sie sollten im Rahmen eines Trennbankensystems in Investment- und Geschäftsbanken aufgetrennt werden. Die Eigenkapitalanforderungen für Banken sollten mindestens 20 bis 30 Prozent betragen. Over-the-Counter-Transaktionen sollten verboten sein. Sie schaffen zusätzliche Risiken. Derivative Produkte sollten über organisierte Börsen mit zentraler Clearingstelle gehandelt werden, wo sie kontrolliert, registriert und öffentlich gemacht würden. Der Kauf eines CDS (zur Risikoabsicherung) sollte das Halten eines darauf basierenden Wertschriftentitels bedingen. Rating-Agenturen sollten unter öffentlicher Kontrolle stehen.»

10.10.2013, Infosperber

Martin Hellwig, Direktor des Max-Planck-Instituts und Autor des Buches «Des Bankers neue Kleider»:

«Die neuen Mindestanforderungen der Banken nach ‹Basel III› sind völlig ungenügend, Banken sollten eine ungewichtete Eigenkapitalquote von 20 bis 30 Prozent vorweisen müssen.»

19.11.2013, Tages-Anzeiger

Martin Hellwig, Direktor des Max-Planck-Instituts und Autor des Buches «Des Bankers neue Kleider»:

«Die deutlich erhöhten risikogewichteten Eigenkapitalquoten sind manipulierbar […] Ganz wichtige Risiken werden überhaupt nicht erfasst […] Beispielsweise haben Kredite an Regierungen, also Staatsanleihen, die auf die lokalen Währungen lauten, ein Risikogewicht von null.»

29.8.2014, Tages-Anzeiger

Mark Dittli, Chefredaktor der «Finanz und Wirtschaft»:

«Es ist eine Utopie, dass man Banken einfach untergehen lassen kann wie jedes andere Unternehmen. Sie geniessen eine implizite Staatsgarantie […] Die beste Regulierung ist eine überdurchschnittlich robuste Eigenkapitaldecke. Sie wird an der Börse belohnt.»

Mark Dittli, Chefredaktor der «Finanz und Wirtschaft»

Robert U. Vogler, ehemaliger Pressesprecher der SGB (heute UBS):

«Wer glaubt, man könne im Zeitalter des weltweiten computergestützten Börsenhandels, rund um die Uhr, in letzter Minute noch einen Schutzschild vor den systemrelevanten Banken aufbauen, irrt gewaltig […] Ein Sockel massiver Eigenmittel ist dringende Voraussetzung für solide Banken (wohl mindestens ungewichtete 10 Prozent, besser noch etwas darüber).»

20.11.2015, NZZ

Neel Kashkari, Präsident der Federal Reserve Bank of Minneapolis:

«Genügend hohe Eigenkapitalpolster sind der einzige sichere erprobte Wert im Kampf gegen Krisen. Ich schlage eine ungewichtete Eigenkapitalquote von 25 Prozent vor.»

19.2.2016, NZZ / New York Times

Thorsten Polleit, Chefökonom von Degussa Goldhandel und Honorarprofessor an der Universität Bayreuth:

«In den Bilanzen der Banken in Europa stehen Verbindlichkeiten über rund 5400 Milliarden Euro, während deren liquide Mittel auf den Konten bei der EZB lediglich 680 Milliarden Euro betragen […] Das Problem ist so gross, dass es sich nicht mit den ‹bail-in›-Regeln lösen lässt.»

15.4.2016, NZZ

Hans Gersbach, Makroökonomie-Professor an der ETH Zürich:

«Es ist eine absolute Illusion zu glauben, dass sich internationale Grossbanken wie die UBS oder die Credit Suisse in einer Krise geordnet beerdigen lassen.»

21.12.2016, NZZ

Didier Sornette, Professor für Entrepreneurial Disks an der ETH Zürich:

«Ein wahnhafter Glaube an endloses Wachstum hat zu einer extremen Abhängigkeit der Realwirtschaft von der Finanzwelt geführt.»

9.8.2017, NZZ

Michael Ferber, Börsenredaktor der NZZ:

«Es ist davon auszugehen, dass der Markt auch zehn Jahre nach dem Beginn der Finanz- und Schuldenkrise voll ist mit komplexen, wenig transparenten Finanzinstrumenten […] Die Finanzhäuser verdienen an diesen komplexen und exotischen Instrumenten gut, weil sie diese bei Kunden als Innovation vermarkten und die Kosten verschleiern können.»

8.2.2018, NZZ

Hansueli Schöchli, NZZ-Wirtschaftsredaktor:

«Notfallpläne bedeuten nicht, dass sie in der Krise auch sicher funktionieren würden […] Aber es mag bedeuten, dass die Notfallpläne unter Umständen mit einer Wahrscheinlichkeit von deutlich mehr als 10 oder 20 Prozent funktionieren könnten.»

26.2.2020, NZZ

Monika Roth, frühere Bankverein-Vizedirektorin und dann Professorin für Compliance und Finanzmarktrecht an der Hochschule Luzern:

«Die CS-Skandale sind ein Desaster für den Schweizer Finanzplatz. Es ist völlig unklar, ob die Bank sich wieder aufrichten kann … Leider ist heute sogar die Abwicklung ein realistisches Szenario.»

31.7.2022, Blick

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Oben      —    Occupy movement at Paradeplatz in Zürich (Switzerland)

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Politik und Banken

Erstellt von DL-Redaktion am 25. März 2023

 Beruhigende Worte von Scholz und Macron sind wenig wert

File:2021-08-21 Olaf Scholz 0309.JPG

Es war immer schwer politischen Trollen zuzuhören, welche von Banken rein gar nichts verstehen – ansonsten wären sie Banker geworben.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs P. Gasche /   

Um das Vertrauen in Grossbanken zu bewahren, müssen Behörden und Banker lügen. Sie würden lieber das labile Geldsystem fixieren.

Nach dem Zwangsverkauf der Credit Suisse an die UBS «herrscht nach wie vor Unsicherheit an den Börsen», meldete gestern Freitag, 24. März, die Schweizer Tagesschau. Die Aktien der Deutschen Bank beispielsweis hätten am Freitag 8,5 Prozent ihres Wertes verloren. Die Regierungschefs würden «versuchen zu beruhigen».

In Brüssel versammelte Regierungschefs sahen sich veranlasst, die Öffentlichkeit am Fernsehen zu beruhigen.

Olaf Scholz erklärte in der ARD-Tagesschau:

«Die Deutsche Bank hat ihr Geschäft grundlegend modernisiert und neu organisiert und ist eine sehr profitable Bank. Es gibt keinen Anlass, sich irgendwelche Gedanken zu machen.»

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zur gleichen Zeit im Fernsehen:

«Wir haben aus vergangenen Krisen gelernt. In der Eurozone sind die Banken heute am Solidesten, weil sie die Vorgaben für Solvenz und Liquidität, die nach der Finanzkrise von 2008 entstanden, am Gewissenhaftesten befolgen.»

Wie hiess es doch zum Kollaps der Credit Suisse: Sie habe überhaupt keine Liquiditätskrise gehabt. Es seien vielmehr die gestiegenen Zinsen gewesen, Probleme von US-Banken und Gerüchte in Social Media, welche die Grossbank ins Schleudern gebracht hätten.

Falls dies zutrifft, wäre dies ein Beleg dafür, auf wie wackeligen Füssen das gesamte Finanzsystem beruht. Denn steigende Zinsen waren längst vorauszusehen. Ebenso, dass etwa in den USA, Italien, Spanien oder Griechenland einzelne Banken ins Taumeln kommen können. Und Gerüchte in Social Media sollten abermilliardenschweren Grossbanken wohl nichts anhaben können.

Doch dies ist offensichtlich tatsächlich möglich, weil das Bankensystem ein klappriges Kartenhaus ist, das auf nahezu blindes Vertrauen der Sparer, Anleger und Investoren angewiesen ist. Aus diesem Grund dürfen Regierungen, Behörden – und natürlich auch die Banken selbst – nie reinen Wein einschenken.

Auch zu viele Experten befolgen dieses Gebot und warnen nicht rechtzeitig, wenn sie Schwachstellen und Gefahren analysieren. In der ARD-Tagesschau äusserte sich Hans-Peter Burghof, Finanzökonom an der Universität Hohenheim:

«Ich sehe keinen Grund für eine allgemeine Bankenkrise […] Die Banken werden von den Märkten schlecht behandelt.»

Vielleicht haben Experte Burghof, Macron und Scholz recht. Es wäre jedenfalls zu hoffen.

Aber ihre beruhigenden Worte sind nichts wert, weil sie auch so reden müssten, fallls es wirklich ernsthafte Anzeichen einer Bankenkrise gäbe.

Aus diesem Grund sollten die Medien solch beruhigende Aussagen von Behörden, Experten und Banker nicht zum Nennwert weiterverbreiten, sondern stets darauf hinweisen, dass keiner dieser Exponenten je die Wahrheit sagen würde, falls am Bankenhimmel düstere Wolken aufziehen.

Erst nach einem Kollaps können alle Fehler und vergangenen Warnzeichen aufgezählt werden.

Das Vertrauen, das nicht erschüttert werden darf

Das fast blinde Vertrauen in Grossbanken – und damit das Schönreden – muss heute aus folgenden Gründen unzumutbar gross sein:

  • weil Grossbanken nur fünf Prozent ihrer Milliarden-Verpflichtungen mit Eigenkapital gedeckt haben. Es braucht deshalb nur wenige Gross- oder Kleinkunden, die ihre Guthaben in kurzer Zeit zurückziehen.
  • weil Grossbanken mit ihrem eigenen bescheidenen Kapital und mit Kundengeldern hochspekulative Wettgeschäfte betreiben, deren Exzess der computerisierte Millisekunden-Handel darstellt.
  • weil Grossbanken viele riskante Geschäfte über Schattenbanken abwickeln. Weltweit seien 150 Billionen Dollar in spekulative Geschäfte investiert, die ausserhalb der Bilanzen und ohne jegliche Kontrollen abgewickelt würden, erklärte Finanzjournalistin und Buchautorin Myret Zaki in der Sendung «Infrarouge» des Westschweizer Fernsehens. Die Nominalwerte von sogenannten Derivaten, darunter unzählige sogenannte strukturierte Produkte, würden jetzt bei der UBS und CS zusammen etwa das Vierzigfache des Schweizer Bruttoinlandprodukts erreichen. Das sagte der Zürcher Finanzprofessor Marc Chesney in der gleichen Sendung.

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Massnahmen die sich aufdrängen, damit fehlendes Vertrauen nicht so rasch zu einem Crash führt

Professor Chesney hat notwendige Massnahmen bereits vor zehn Jahren auch auf Infosperber aufgezählt. Keine davon wurde seither umgesetzt. Sie drängen sich mehr denn je auf, damit die Märkte wieder normal funktionieren:

  1. Die Eigenkapitalanforderungen für Banken sollten mindestens 20% bis 30% betragen.
  2. Die Banken sollten im Rahmen eines Trennbankensystems in Investment- und Geschäftsbanken aufgetrennt werden, wie dies durch den Glass-Steagall Act von 1933 während Jahrzehnten der Fall war und womit durchaus eine gewisse ökonomische Stabilität gewährleistet werden konnte.
  3. Die Finanzprodukte sollten, bevor sie auf den Markt kommen, zertifiziert werden, so wie dies bei anderen Produkten der Fall ist, wie zum Beispiel im Industrie-, Nahrungs- und Pharmasektor. Die Finanzüberwachungsbehörden sollten für die Vergabe solcher Zertifikate verantwortlich sein. Auf diese Weise würde die Verbreitung «giftiger» Produkte begrenzt.
  4. Die Verbriefungs-Praktiken sollten eingegrenzt werden.
  5. Die Verbreitung «giftiger» Produkte sollte ein Finanzdelikt darstellen, so wie es in allen anderen Wirtschaftszweigen der Fall ist oder zumindest sein sollte. Es würde sich um eine Straftat handeln, welche die wirtschaftliche und finanzielle Sicherheit verletzt.
  6. Das riesige Volumen von Derivaten erzeugt Systemrisiken für die Wirtschaft. Es sollte kontrolliert und drastisch reduziert werden. So könnte man vermeiden, dass die Absicherung bestimmter Produkte zu Wetten auf den Zusammenbruch von Unternehmen werden. Das ist bei den Kreditderivaten Credit Default Swaps oder CDS der Fall. Die meisten sichern keine Risiken ab, sondern sind reine Wettgeschäfte.
  7. Der Kauf eines CDS sollte das Halten eines darauf basierenden Wertschriftentitels voraussetzen, der gegen Verlust abgesichert werden soll.
  8. Die Aktivitäten von Hedge-Fonds oder von Private-Equity-Fonds sollten kontrolliert werden.
  9. Für die Führungskräfte von Banken sollten die Entschädigungssysteme auf der Grundlage von Bonuszahlungen durch Systeme ersetzt werden, die auch wirkliche Bestrafungen (malus) beinhalten. Heute sind es Aktienoptionen und hohe Abfindungen, die den Anreiz zum Eingehen von Risiken schaffen, die letztlich von anderen Teilen der Gesellschaft getragen werden: von Aktionären, Kunden, Arbeitnehmern, Rentnern und schliesslich von den Steuerzahlenden.
  10. Die Effektivität des Risikomanagements und des Risiko-Controllings der Banken sollte stark verbessert werden. Boni für Risiko-Controller wären viel nützlicher als solche für Händler.
  11. Eine Mikrosteuer auf allen elektronischen Zahlungen sollte eingeführt werden. Es geht nicht nur darum, dem Staat mehr Geld zukommen zu lassen, sondern darum, die Spekulation und die Volatilität durch Verteuerung einzudämmen. Wettgeschäfte mit High Frequency Trading würden dadurch begrenzt. (Siehe Dossier Mikrosteuer auf alle Geldflüsse.)
  12. Die Grösse der Banken sollte begrenzt werden. Das Problem des «too big to fail» ist gefährlich, weil es falsche Anreize erzeugt. Finanzinstitute gehen Risiken ein, ohne deren Konsequenzen tragen zu müssen, weil der Steuerzahler im Notfall zur Kasse gebeten wird. Es handelt sich dabei um eine Gratisversicherung auf Kosten der allgemeinen Bevölkerung statt auf Kosten der Verantwortlichen.
  13. Rating-Agenturen sollten unter öffentlicher Kontrolle stehen, weil ihre Macht der demokratischen Funktionsweise der Staaten schadet. Die 2008-Finanzkrise hat gezeigt, dass sie gescheitert sind, da sie Zombi-Banken mit guten Noten bewertet haben. Sie wurden von diesen Geschäftsbanken dafür gut entlöhnt.
  14. Der Inhalt des Unterrichts in Volkswirtschaftslehre und Finance muss gründlich überprüft werden.

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Oben      —     Olaf Scholz, Politiker (SPD) – Zur Zeit Vizekanzler und Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem ist er Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl 2021. Hier während einer SPD-Wahlkampfveranstaltung im August 2021 in München. Titel des Werks: „Olaf Scholz – August 2021 (Wahlkampf)“

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Banken und Politik

Erstellt von DL-Redaktion am 22. März 2023

Die Silicon Valley Bank als das schwächste Glied

Der Hauptsitz der Silicon Valley Bank in Santa Clara, Kalifornien (2023).

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Die aktuellen Verwerfungen in der Finanzsphäre bilden nur das jüngste Kapitel der spätkapitalistischen Systemkrise.

Auf ein Neues? Der Zusammenbruch der Hausbank der IT-Industrie, der kalifornischen Silicon Valley Bank (SVB),1 scheint auf den ersten Blick eine neue Finanzkrise einzuleiten, die Erinnerungen an den Zusammenbruch der transatlantischen Immobilienblase in den Jahren 2007-09 wachruft.2 Mit dem kurz zuvor in Abwicklung übergegangenen Finanzinstitut Silvergate Capital, das sich auf Kryptowährungen spezialisierte, sowie der ebenfalls strauchelnden Signature Bank, droht dem gesamten Finanzsystem ein Flächenbrand, der durch eine umfassende Intervention der US-Politik – die in den vergangenen Jahrzehnten reichlich Erfahrungen beim Krisenmanagement sammeln konnte – abgewendet werden soll.3

Diese Bankenkrise schien somit zuerst vor allem Geldinstitute mit Verbindungen zur IT-Branche zu erfassen. Die SVB spezialisierte sich darauf, Startups der kalifornischen Technikbranche zu finanzieren. Die Bank geriet in Schieflage, nachdem sie Verluste im Umfang von 1,8 Milliarden Dollar beim Verkauf von Wertpapieren akkumulierte.4 Nachdem eine Notkapitalerhöhung gescheitert war und die Bank faktisch zahlungsunfähig wurde, übernahm die Absicherungs- und Aufsichtsbehörde „Department of Financial Protection and Innovation (FDIC) die Kontrolle über das Finanzinstitut. Die Krypto-Bank Silvergate Capital, die ebenfalls neue Technikunternehmen finanzierte, befindet sich ebenso in Liquidation.

US-Präsident Joe Biden und Finanzministerin Janet Yellen gaben sich in ersten öffentlichen Reaktionen alle Mühe, die derzeitigen Krisenmaßnahmen von der Herangehensweise Washingtons nach dem Platzen der Immobilienblase 2008 klar abzugrenzen.5 Yellen schloss eine staatliche Rettung der betroffenen Banken, ähnlich den berüchtigten Bailouts während der Finanzkrise 2008, in einem Fernsehinterview kategorisch aus. Das Bankensystem sei wirklich sicher und widerstandsfähig, erklärte die Finanzministerin unter Verweis auf die Finanzmarktreformen und zusätzlichen Regelungen, die in Reaktion auf die Finanzkrise 2008 implementiert worden sind – obwohl die Trump-Administration einen Teil dieser Regelungen wieder ausgesetzt hat.6

Präsident Biden versicherte in einer Ansprache, dass die US-Bürger sich auf ihr Finanzsystem verlassen könnten, da alle Bankkunden Zugang zu ihren Ersparnissen erhalten würden. In den Vereinigten Staaten sichert die FDIC Einlagen bis zu 250.000 US-Dollar ab, doch Biden kündigte an, alle Bankguthaben in unbegrenzter Höhe abzusichern und deren Auszahlung zu garantieren. Hierdurch will Washington offensichtlich einen Bankensturm verhindern. Der US-Präsident versprach, dass dem Steuerzahler infolge dieser Krisenmaßnahmen keinerlei Kosten entstehen würden, da der Einlagensicherungsfonds, in den die Finanzinstitute einzahlen, hierfür verantwortlich sei. Die Investoren hingegen, die in die betroffenen Finanzinstitute Kapital investiert hätten, seien ein Risiko angegangen und müssten nun ihre Verluste tragen. Das Management der in Abwicklung übergehenden Banken solle zudem entlassen werden, so der US-Präsident.

Die konkreten Krisenmaßnahmen Washingtons fallen indes bei Weitem nicht so populistisch aus, wie es der US-Präsident bei seiner Ansprache versprach. Washington muss dem strauchelnden Bankensektor irgendeine Art von Rettungsanker zuwerfen, um eine unkontrollierbare Eskalation zu vermeiden, wie sie nach der Pleite der Großbank Lehman Brothers 2008 in Form des “Einfrierens” der Finanzsphäre sich entfaltete (Die Kreditvergabe im Interbankenhandel kam damals nahezu zum Erliegen, da die Finanzmarktakteure sich untereinander nicht mehr trauten).7

File:Silicon Valley Bank, Temple, Arizona.jpg

Die Rettungsschnur, die von der Krisenpolitik diesmal dem zerrütteten spätkapitalistischen Finanzsektor zugeworfen wird, trägt den klangvollen Namen Bank Term Funding Program (BTFP).8 Im Kern handelt es sich hierbei um ein Kreditprogramm der US-Notenbank, im Rahmen dessen Banken auch bei manifesten Marktturbulenzen gegen Sicherheiten schnell mit Notkrediten versorgt werden sollen, um Zahlungsausfälle und Liquiditätsengpässe im Finanzsektor zu verhindern. Als Sicherheiten sollen von den Banken vor allem Staatsanleihen, aber auch hypothekenbesicherte Wertpapiere hinterlegt werden können. Der Clou an der ganzen Sache: die Papiere sollen zu ihrem Nennwert, nicht zu ihrem derzeitigen Marktwert als Sicherheiten fungieren.9 Für gewöhnlich müssen Banken ihre Wertpapiere zum Marktwert als Sicherheit hinterlegen, wenn sie von der Notenbank zusätzliche Liquidität erhalten wollen. Die Notenbank setzt somit faktisch den Marktmechanismus außer Kraft, um den zerrütteten Finanzsektor zu stabilisieren. Überdies können Banken das als Diskontfenster bezeichnete Krisenprogramm der Notenbank nutzen, bei dem Anleihen ohne die üblichen Abschläge als Sicherheiten für Kredite hinterlegt werden können.

Staatsanleihen werden, ähnlich wie Aktien, zu einem Marktwert gehandelt, der von ihrem Nennwert bei deren Begebung abweichen kann. Zinsentwicklung und Marktwert der Staatsanleihen verhalten sich dabei umgekehrt proportional. Bei sinkenden Zinsen steigen die Kurse der Anleihen. Umgekehrt verhält es sich bei einem steigenden Zinsniveau, bei dem die Anleihekurse sinken. Und dies ist ja auch logisch: Anleihen, die in einer Phase von Niedrigzinsen begeben worden sind, verlieren aufgrund ihrer niedrigeren Verzinsung in einer Hochzinsphase an Marktwert. Und genau diese Hochzinsphase, die die Notenbanken zwecks Inflationsbekämpfung angeleitet haben, hat zu einem massiven Wertverlust von Staatsanleihen geführt.

Abweichungen zwischen Nennwert und Marktwert von Staatsanleihen sind so lange unproblematisch, wie diese nicht vorzeitig veräußert werden müssen. Staatsanleihen werden ja für gewöhnlich als sichere Anlagen für niedrig verzinste, langfristige Investitionen verwendet. Problematisch wird es nur, wenn Banken aufgrund von Liquiditätsengpässen diese Wertpapiere vorzeitig in einer Hochzinsphase abstoßen müssen. Bei der im Silicon Valley tätigen SVB, wo besonders viele Unternehmen unter der Hochzinspolitik der Fed leiden und überdurchschnittlich oft auf ihre Einlagen zurückgreifen müssen, war gerade dies der Fall. Es waren somit verlustreiche Notverkäufe von US-Staatsanleihen,10 die zur Pleite der SVB führten. Gerüchte über Liquiditätsprobleme bei der IT-Bank lösten dann einen Bankensturm aus, bei dem Kunden binnen eines Tages 42 Milliarden Dollar abhoben.11

Die kalifornische IT-Bank bildete somit nur das schwächste Glied in einem labilen Finanzsektor, da sehr viele Finanzinstitute sich in einer ähnlichen Zwangslage befinden. Sie halten Unmengen von Staatsanleihen in ihren Bilanzen, die aufgrund der Inflationsbekämpfung der Notenbanken rasch an Wert verlieren. Wie groß ist das Problem? Die potenziellen Verluste bei Anleihen, die durch die zunehmende Diskrepanz zwischen Nennwert und Marktwert entstehen könnten, summieren sich laut der Financial Times gegenwärtig allein in den USA auf rund 600 Milliarden Dollar.12

Inzwischen zeichnen sich weitere Krisenkandidaten ab, wie etwa die US-Bank First Republic, die von mehreren Großbanken mit einer Liquiditätsspritze von 30 Milliarden Dollar stabilisiert werden musste.13 Zugleich griffen US-Banken massiv auf die Krisenkreditprogramme der US-Notenbank zurück. Die Fed pumpte über ihr Diskontfenster in einer Woche 152 Milliarden Dollar in den Finanzsektor, womit der bisherige wöchentliche Rekordwert von 111 Milliarden, kurz nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers 2008 erreicht, klar überboten wurde.14 Zum Vergleich: in der Woche vor der Pleite der Silicon-Valley-Bank haben US-Finanzhäuser nur 4,58 Milliarden Dollar über das Diskontfenster der Fed beansprucht.

Somit sind die massiven Wertverluste von Bankaktien in den vergangenen Tagen nur Ausdruck des akkumulierten Krisenpotentials, das zu einer entsprechenden Kapitalflucht führt. Der drohende Bankrott der Credit Suisse zeigt überdies, dass dieses latente Krisenpotenzial nicht auf die USA beschränkt ist. Die Aktien des angeschlagenen Schweizer Bankhauses sind regelrecht eingebrochen, es leidet unter massivem Kapitalabfluss,15 sodass es sich genötigt sah, bei der Schweizer Notenbank um ein “Zeichen der Unterstützung” zu ersuchen.16 Die Schweizer Währungshüter ließen sich nicht lumpen: 50 Milliarden Franken werden in das marode Finanzhaus gepumpt, um es vorläufig zu stabilisieren. Auch bei der eidgenössischen Nobelbank handelte es sich gewissermaßen um ein angeschlagenes Finanzinstitut, das im Gefolge einer Reihe von Skandalen und schlichten kriminellen Machenschaften schon vor einiger Zeit in schweres Fahrwasser geriet.

Damit scheint sich ein wichtiger Unterschied zwischen den gegenwärtigen Verwerfungen und dem Krisenschub von 2007-09 abzuzeichnen. Die große transatlantische Immobilienspekulation ging ja mit der massenhaften Emittierung zwielichtiger Subprime-Hypothekenverbriefungen einher, die nach dem Platzen der Blase ab 2007 sich als toxisch erwiesen und das Weltfinanzsystem gefährdeten. Diesmal sind es biedere, als risikolos geltende Staatsanleihen, die den betroffenen Banken zum Verhängnis zu werden drohen. Diese Papiere werden nicht zwecks Spekulation gekauft, wie es bei den zu “Wertpapieren” gebündelten Hypotheken während der Immobilienblase der Fall war, sondern als Sicherheiten – gerade in unsicheren Zeiten.

Und dennoch: Eigentlich handelt es sich bei diesem jüngsten „Finanzbeben“ bloß um das neuste Kapitel eines lang anhaltenden, systemischen Krisenprozesses,17 bei dem sich latente und manifeste Stadien abwechseln.18 Der starke Wertverfall bei Staatsanleihen ist einfach darauf zurückzuführen, dass sehr viele dieser Wertpapiere in einer lang anhaltenden Phase sehr niedriger Zinsen emittiert worden sind. Mit kurzen Unterbrechungen befand sich das Weltfinanzsystem seit 2008, seit dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und der EU, in einer historisch einmaligen Nullzinsphase. Mit dieser Politik des „billigen Geldes“ haben die Notenbanken die Finanzsphäre stabilisiert, wobei die Nullzinspolitik mit umfassenden Aufkäufen von Schrottpapieren, den erwähnten, „toxischen“ Hypothekenverbriefungen, einherging.

Die Notenbanken sind somit zu Sondermülldeponien des Weltfinanzsystems verkommen, was an ihren aufgeblähten Bilanzen ersichtlich wird. Die EZB und die Fed haben in den vergangenen Jahren Wertpapiere im Billionenumfang aufgekauft,19 und somit faktisch Geld gedruckt. Diese „Liquidität“ der Notenbanken führte zur Ausbildung einer entsprechenden Liquiditätsblase,20 was die Weltwirtschaft stabilisierte und den Boom in der Finanzsphäre befeuerte, der in seiner überhitzten Endphase zu Absurditäten wie der Schwarmspekulation mit Meme-Aktien wie Gamestop21 führte. Die Krisenpolitik, mit der die Folgen der Immobilienblase bekämpft worden sind, legte somit die Grundlagen für die kommende Spekulationsdynamik.

Zudem wurden von den Notenbanken zunehmend schlicht Staatsanleihen aufgekauft, um die Defizitfinanzierung der Staaten – insbesondere in den USA und der Eurozone – zu ermöglichen. Staatsanleihen bilden das Rückgrat der Finanzsphäre, der „Markt“ dafür ist gigantisch, da die Staaten sich in den vergangenen Krisenschüben immer weiter verschulden mussten, um mittels Konjunkturprogrammen und sonstiger Krisenmaßnahmen das spätkapitalistische Weltsystem vor dem Kollaps zu bewahren. Allein der schon seit Monaten kriselnde Markt für US-Treasuries,22 der laut Financial Times unter latentem Liquiditätsentzug leidet (vulgo: Niemand will das Zeug kaufen), umfasst Papiere im Nennwert von rund 23,5 Billionen US-Dollar (Das sind 23 500 Milliarden!). Der aktuell drohende Krisenschub ist somit weitaus gefährlicher, als es den Anschein hat, da nun gewissermaßen das Fundament des Weltfinanzsystems, die Märkte für Staatsschulden der Zentrumsstaaten, brüchig geworden ist. (Näheres siehe: „Schuldenberge in Bewegung“)23

Und das ist eigentlich der springende Punkt: Es gibt hinsichtlich der konjunkturellen Auswirkungen keinen fundamentalen ökonomischen Unterschied zwischen den zwielichtigen Hypothekenverbriefungen aus der Ära der großen transatlantischen Immobilienspekulation und den drögen Staatspapieren, die nun dem Finanzsektor Probleme bereiten. Ob nun der private Sektor Subprime-Hypotheken aufnimmt, um hierdurch die Bauwirtschaft anzukurbeln und die Konjunktur zu befeuern, oder ob Staaten sich verschulden, um durch ihre Konjunkturprogramme und Investitionen die tolle „Wirtschaft“ am Leben zu halten, ist in dieser Hinsicht einerlei. In beiden Fällen wird Nachfrage im Hier und Jetzt generiert, wobei der Kredit einen Vorgriff auf künftige Kapitalverwertung darstellt. Der Hypothekennehmer muss seine Hypothek samt Zinsen genauso abstottern wie der Staat, vermittelst Steueraufkommen, seine Staatsanleihen bedienen muss. Wenn dies nicht mehr realistisch erscheint, dann platzen Spekulationsblasen, die entsprechenden Schuldenberge drohen einzustürzen – und es kommt zu Finanzkrisen.

Die immer wiederkehrenden Finanzkrisen sind somit Ausdruck eines krisengeplagten spätkapitalistischen Weltsystems, das zunehmend schlicht auf Pump läuft. Seit der Durchsetzung des Neoliberalismus in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts, die nur möglich war in Reaktion auf die Stagflationskrise der 70er,24 steigt die globale Verschuldung viel schneller an als die Weltwirtschaftsleistung.25 Gewissermaßen ist der Kapitalismus, der auf der Verwertung von Arbeitskraft in der Warenproduktion basiert, zu produktiv für sich selbst geworden; das System erstickt an seiner Produktivität, es fehlt ihm seit dem Aufkommen der IT-Industrie in den 80ern ein neues Akkumulationsregime, bei dem Lohnarbeit profitabel verwertet werden könnte. Die Produktivkräfte sprengen hierbei gewissermaßen die Fesseln der Produktionsverhältnisse, um Marx zu paraphrasieren.

Das Aufkommen eines globalisierten, neoliberalen Finanzmarktkapitalismus mitsamt einer regelrechten Finanzblasenökonomie ist somit eine Systemreaktion auf diese innere Schranke des Kapitals (Robert Kurz), das durch immer weitere Konkurrenz vermittelst Rationalisierung sich seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit in der Warenproduktion, entledigt. Die fehlende Nachfrage wird hierbei gewissermaßen auf Pump generiert, was immer größere Instabilitäten und die an Intensität zunehmenden Krisen mit sich bringt. Bei diesem historischen Verschuldungs- und Krisenprozess spielen die Staaten als Krisenmanager eine immer wichtigere Rolle. Zum einen vermittelst der vielfachen Konjunkturprogramme, wie auch durch die Aufkäufe von Staatsanleihen und sonstigen Wertpapieren durch die Notenbanken, mit denen die Finanzsphäre stabilisiert und faktisch Geld gedruckt wurde. Die expansive Geldpolitik der Notenbanken ermöglichte die Ausbildung der entsprechenden Liquiditätsblase, bei der die in die Märkte gepumpte Liquidität zu einer Inflation der Wertpapierpreise führte. Bis die Inflation in der realen Wirtschaft kam.26

Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine fungierten letztendlich als äußere Trigger, die diese durch die lockere Geldpolitik der Notenbanken aufgepumpte Liquiditätsblase zum Platzen brachten. Die derzeitige Inflation speist sich somit aus mehreren Quellen: neben der Explosion der Preise für Energieträger im Gefolge des Ukraine-Krieges, den inflationären Folgen der voll einsetzenden Klimakrise (vor allem bei Nahrungsmitteln) und den Versorgungsengpässen während der Pandemie, ist der Preisauftrieb auch auf die Gelddruckerei der vergangenen Jahre zurückzuführen, die nach dem Platzen der Everything-Bubble in der Finanzsphäre sich nun in Form der reellen Teuerung manifestiert.27

Die Geldpolitik sah sich somit zu einem Kurswechsel genötigt, um die Inflation bekämpfen zu können. Die Zinsen wurden sukzessive angehoben, zumindest in den USA wurden die Anleiheaufkäufe durch die Notenbank zurückgeschraubt. Dass diese Politik des knappen Geldes, isoliert betrachtet, einigermaßen erfolgreich war, belegen die jüngsten Inflationszahlen aus den USA, wo die Teuerung inzwischen auf sechs Prozent gesenkt werden konnte – vor wenigen Monaten drohte den Vereinigten Staaten noch eine zweistellige Inflationsdynamik. Die mit 5,5 Prozent nur unwesentlich niedrigere Kerninflationsrate, bei der die Preise für Energieträger und Nahrungsmittel herausgerechnet werden, verdeutlicht überdies, dass der Preisauftrieb nicht nur durch die Schocks im Gefolge des Ukraine-Krieges und der Pandemie befeuert wird.28

Mit der Inflationsbekämpfung wurde aber zugleich der Finanzsphäre die Liquidität abgeschnitten und die im Spätkapitalismus systemisch notwendige Defizitbildung erschwert. Salopp gesagt, kann das System jetzt nicht mehr so einfach auf Pump laufen (Im vergangenen Jahr ist das globale Verschuldungsniveau sogar deutlich zurückgegangen, wie der IWF meldete.).29 Wenige Monate nach der großen geldpolitischen Wende zu einer restriktiven Geldpolitik befindet sich somit die Finanzsphäre wieder am Rande einer ausgewachsenen Bankenkrise, was nur auf den oben skizzierten, systemisch notwendigen Verschuldungszwang des hyperproduktiven spätkapitalistischen Weltsystems verweist.

Dieser Verschuldungszwang des krisengeplagten Spätkapitalismus lässt sich ganz konkret anhand der Bilanzen der Notenbanken nachvollziehen, die, wie dargelegt, immer mehr Wertpapiere und Staatsanleihen aufkaufen mussten, um durch diese indirekte Gelddruckerei das Weltfinanzsystem zu stabilisieren. Mit dem Aufkommen der Inflation und der geldpolitischen Wende zu einer Hochzinspolitik sollte damit Schluss sein. die Bilanzsumme der US-Notenbank ist in der Tat innerhalb der letzten Monate rasch zurückgegangen, da kaum noch neue Anleihen und Wertpapiere aufgekauft wurden. Die Bilanzsumme der Fed sank von ihrem Mitte 2022 erreichten Höchstwert von knapp neun Billionen US-Dollar auf 8,3 Billionen. Doch nach der Bankpanik der vergangenen Tage musste im Rahmen der oben geschilderten Krisenprogramme wieder massiv Liquidität in die Märkte gepumpt werden, sodass die Bilanz der Fed auf mehr als 8,6 Billionen anschwoll. Wenige Krisentage reichten somit aus, um Monate des graduellen Abbau der langsam auslaufenden Wertpapiere in der Notenbankbilanz zu revidieren. Die Notenbanken werden ihre Funktion als Sondermülldeponieren des spätkapitalistischen Finanzsystems einfach nicht los.30

In dieser sich immer deutlicher abzeichnenden geldpolitischen Sackgasse manifestiert sich die langfristige Ausweglosigkeit kapitalistischer Krisenverwaltung. Es ist eine regelrechte Krisenfalle,31 in der sich die Geldpolitik befindet, die faktisch nur den weiteren Weg in die unausweichliche Krisenentfaltung bestimmen kann: Deflation oder Inflation? Entweder lässt man der Inflation freien Lauf, um Konjunktur und Finanzmärkte zu stabilisieren, oder man wählt den Weg der Deflation, der mit einem Finanzmarktbeben eingeleitet würde – wovor etwa das Wall Street Journal jüngst warnte.32

Diese Aporie kapitalistischer Krisenpolitik,33 die nur auf die innere Schranke des an seiner Produktivität erstickenden Kapitalverhältnisses verweist, konnte bislang durch den anhaltenden globalen Schuldenturmbau überbrückt werden, dem die aktuellen Inflationsschübe nun ein Ende zu setzen drohen. Die Politik kann somit letztendlich nur die Form der unausweichlich anstehenden Entwertung des Werts bestimmen: entweder über den Weg der Inflation, der das Geld als allgemeines Wertäquivalent entwerten würde, oder über den Weg der Deflation, bei dem Kapital in seinen konstanten (Fabriken, Maschinen, Produktionsstandorte) und variablen Aggregatzuständen (Lohnarbeitende) entwertet würde.

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https://konicz.substack.com/

1 https://www.ft.com/content/b556badb-8e98-42fa-b88e-6e7e0ca758b8

2 https://www.konicz.info/2007/03/05/vor-dem-tsunami/

3 https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-03/usa-silicon-valley-bank-janet-yellen-signature-bank-notenbank?utm_referrer=https%3A%2F%2Fnews.google.com%2F

4 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/finanzen/kursrutsch-cryptobanken-101.html

5 https://www.dw.com/de/us-regierung-sichert-einlagen-bei-pleite-banken/a-64964942

6 https://edition.cnn.com/2023/03/14/politics/facts-on-trump-2018-banking-deregulation/index.html

7 https://www.konicz.info/2009/09/11/produkt-der-krise/

8 https://www.ft.com/content/72c25414-aabe-432a-a785-a8b2bd6887f9

9 https://www.finanzen.net/nachricht/zinsen/mitteilung-us-notenbank-fed-wirft-rettungsleine-aus-kreditlinie-soll-banksystem-stabil-halten-yellen-optimistisch-biden-verspricht-einlagensicherheit-12249312

10 https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-03/usa-silicon-valley-bank-janet-yellen-signature-bank-notenbank/seite-2

11 https://edition.cnn.com/2023/03/14/tech/viral-bank-run/index.html

12 https://www.ft.com/content/5e444ba2-0afc-49e8-bfec-5fc17ef7ee39

13 https://www.faz.net/aktuell/finanzen/us-banken-stuetzen-first-republic-bank-mit-30-milliarden-dollar-18754703.html

14 https://www.manager-magazin.de/unternehmen/banken/bankenkrise-fed-gibt-ueber-notfallprogramme-derzeit-mehr-geld-aus-als-nach-lehman-pleite-a-ef292d06-47de-40eb-b8ee-e5ebb999d2db

15 https://www.ft.com/content/85f6768d-0a01-41a3-8925-1c636d3f7dbc

16 https://www.ft.com/content/0324c5a6-cecd-4fb3-85b3-7cdc99a33e4e

17 https://www.konicz.info/2021/11/16/zurueck-zur-stagflation/

18 https://www.konicz.info/2019/01/28/die-urspruenge-der-krise/

19 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/

20 https://www.konicz.info/2015/08/26/die-grosse-liquiditaetsblase/

21 https://www.konicz.info/2021/01/30/hedge-fonds-gamestop-und-reddit-kleinanleger-die-grosse-blackrock-bonanza/

22 https://www.ft.com/content/bc7271f9-a0aa-4643-bed3-40d2d5ec80d1

23 https://www.konicz.info/2022/07/22/schuldenberge-in-bewegung/

24 https://www.konicz.info/2021/11/16/zurueck-zur-stagflation/

25 https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2022/12/12/riding-the-global-debt-rollercoaster

26 https://www.konicz.info/2021/08/08/dreierlei-inflation/

27 https://www.konicz.info/2022/09/03/the-walking-debt/

28 https://edition.cnn.com/2023/03/14/economy/cpi-inflation-february/index.html

29 https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2022/12/12/riding-the-global-debt-rollercoaster

30 https://www.federalreserve.gov/monetarypolicy/bst_recenttrends.htm

31 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/

32 https://www.wsj.com/articles/bank-failures-like-earlier-shocks-raise-odds-of-recession-beb1e376

33 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

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Oben       —   Der Hauptsitz der Silicon Valley Bank in Santa Clara, Kalifornien (2023).

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« Jetzt ist die Zeit ! »

Erstellt von DL-Redaktion am 21. März 2023

Der Deutsche Evangelische Kirchentag übt Zensur aus

Auf schwarze Seelen fällt kein Segen

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von        :        Andreas Zumach /   

Die Vertreibung und Flucht von 750’000 Palästinenserinnen und Palästinensern 1948 darf man am Kirchentag nicht thematisieren.

«Jetzt ist die Zeit!» – unter diesem biblischen Motto aus dem Markus-Evangelium findet vom 7. bis 11. Juni in Nürnberg der Deutsche Evangelische Kirchentag (DEKT) statt. Erwartet werden bis zu 100’000 TeilnehmerInnen.  «Wichtige Themen der Zeit werden diskutiert, Fragen nach Frieden und Gerechtigkeit… und der Würde des Menschen gestellt», kündigt der DEKT in seinen Einladungen und Werbematerialien für die Grossveranstaltung an.

Der Präsident des Kirchentages, Bundesminister a.D. (Verteidigung und Innen) Thomas de Maizière (CDU) betont: «Wir brauchen einen offenen, ehrlichen Austausch untereinander, um der Zeit gerecht zu werden und gemeinsame Schritte zu gehen.»

Die Ausstellung wurde schon in über 150 Städten gezeigt

Diese wohlklingenden Ankündigungen gelten allerdings nicht für das Konfliktthema Israel/Palästina. Die Wanderausstellung «Die Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948» thematisiert die Vertreibung und Flucht von rund 750’000 PalästinenserInnen im Jahr 1948 – zunächst durch jüdisch-zionistische Milizen und nach der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948 durch die Streitkräfte des Landes – darf ausgerechnet zum 75. Jahrestag dieses Geschehens auf dem Kirchentag DEKT in Nürnberg nicht gezeigt werden.

Nur mit dieser Verbotsauflage erhielt der Verein «Flüchtlingskinder im Libanon» (FiL) e.V., der die Nakba-Ausstellung im Jahr 2008 aus Quellen israelischer Historiker konzipiert hatte, von der DEKT-Geschäftsstelle in Fulda die Zulassung für einen Stand auf dem Markt der Möglichkeiten beim Nürnberger DEKT.

Dieses von DEKT-Generalsekretärin Kristin Jahn und der für das Kirchentagsprogramm verantwortlichen Studienleiterin Stefanie Rentsch im November letzten Jahres übermittelte Verbot kam sehr überraschend. Denn auf vergangenen Kirchentagen seit 2010 wurde die Nakba-Ausstellung ohne Probleme gezeigt. Ebenfalls seit 2008 in über 150 Städten im In-und Ausland, auch in Basel, Bern, Biel, St. Gallen, Zürich und Bülach sowie bei der EU in Brüssel und der UNO in Genf.

Die Verantwortlichen drücken sich um eine Begründung

Für die Verbotsentscheidung gaben Jahn und Rentsch auch auf mehrfache Nachfragen hin keine Begründung. Die Entscheidung habe das für «das Programm des Kirchentages gesamtverantwortliche DEKT-Präsidium» getroffen «nach vorheriger Durchsicht und Prüfung» der Bewerbung des Vereins Flüchtlingskinder im Libanon «durch ein vom Präsidium eingesetztes Expertengremium».

Auch zahlreiche schriftliche Nachfragen bei dem «gesamtverantwortlichen» Präsidium nach den Gründen für das Verbot seit November letzten Jahres wurden bis Ende Februar nicht beantwortet. Selbst langjährige ehemalige Mitglieder des Präsidiums wie die frühere Kirchentagspräsidentin Elisabeth Raiser und ihr Mann, der ehemalige Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Konrad Raiser, erhielten keine Antwort.

Photo of the village or town

Der aktuelle Kirchentagspräsident Thomas de Maizière reagiert auf Briefpost an seine Dresdner Anschrift bisher nicht. Anfragen per E-Mail-Schreiben an sein Büro lässt der Kirchentagspräsident durch seine Mitarbeiterin, die Flensburger CDU-Landtagsabgeordnete Uta Wentzel mit diesen Worten abwimmeln: «Das Schreiben wurde gar nicht gelesen und daran besteht auch überhaupt kein Interesse. Wenn Sie vom DEKT keine Antwort auf Ihre Frage erhalten, müssen Sie sich halt damit abfinden.»

Von den übrigen 30 Mitgliedern des Präsidums (darunter Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, BWI-Staatssekretär und ATTAC-Mitbegründer Sven Gigold sowie BGH-Präsidentin Bettina Limperg) und den acht «ständigen Gästen» des Präsidiums aus der für den DEKT in Nürnberg gastgebenden Bayerischen Landeskirche, darunter Bischof Heinrich Bedford Strohm, antworteten nur wenige, die an die DEKT-Geschäftsstelle in Fulda verwiesen.

Auffällig viele der Angefragten erklärten zudem, sie seien gar nicht auskunftsfähig. Denn sie hätten an der Präsidiumssitzung, auf der das Verbot der Nakba-Ausstellung beschlossen wurde, gar nicht teilgenommen. Das wirft Fragen auf: Gab es überhaupt eine solche Sitzung? Und wenn ja: Existiert ein ordentliches Sitzungsprotokoll, aus dem Beschlüsse und ihre Begründungen hervorgehen? Wenn nicht: Von welchem Personenkreis wurde das Verbot tatsächlich beschlossen?

Wer die Mitglieder des «Expertengremiums» waren, das zum Verbot der Nakba-Ausstellung geraten hat, hält der DEKT bislang ebenfalls geheim. Nach informellen Informationen aus Kirchentagskreisen soll ein Experte (möglicherweise der einzige?) Christian Staffa gewesen sein, der Antisemitismusbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Staffa ist auch im Vorstand der seit 1961 bestehenden «AG Juden und Christen» beim DEKT.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag ist auskunftspflichtig

Das Verbot der Nakba-Ausstellung auf dem Nürnberger Kirchentag ist ein unakzeptabler Akt der Zensur und des Eingriffs in die Meinungsfreiheit. Der DEKT verhindert damit den demokratischen Dialog. Der bisherige Umgang des DEKT mit Fragen nach einer Begündung des Verbots ist willkürlich und selbstherrlich. Und das DEKT-interne Verfahren, das zu dem Verbot geführt hat, ist offensichtlich nicht einmal für Mitglieder des «gesamtverantwortlichen» Präsidiums transparent.

Der DEKT ist zwar ein Verein. Aber die Grossveranstaltung in Nürnberg ist keine Privatveranstaltung. Sie wird ausser durch Ticketverkäufe, Spenden und Sponsoring ganz wesentlich mit öffentlichen Geldern (Kirchensteuern und anderen Zuschüssen) finanziert. Aus diesem Grund ist der DEKT auskunftspflichtig.

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Zwischen Kriege und Krisen

Erstellt von DL-Redaktion am 21. März 2023

Krisenkeynesianismus der blinden Tat

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von       :     Tomasz Konicz

Während im Krisenalltag viele Elemente keynesianischer Wirtschaftspolitik zum Einsatz kommen, verwildert der Postkeynesianismus in der deutschen Linken zur Ideologie.

Ob stockkonservative Marktjünger1 oder bieder-sozialdemokratische Gewerkschaftler2: In Krisenzeiten sind sie alle Keynesianer. Bei jedem Krisenschub der letzten Jahre, als es mal wieder galt, den dahinsiechenden Spätkapitalismus mittels billionenschwerer Konjunkturprogramme und gigantischer Gelddruckerei vor dem Kollaps zu bewahren, erlebte der britische Ökonom, dessen nachfrageorientierte Konjunkturpolitik bis zur Ablösung durch den Neoliberalismus in den 1980er Jahren dominant war, eine flüchtige öffentliche Konjunktur. Nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase 2008 oder dem pandemiebedingten Einbruch 2020 sprachen plötzlich alle über John Maynard Keynes, der als Hofökonom der alten staatsgläubigen Sozialdemokratie eine aktive Rolle des Staates bei Investitionsprogrammen und Geldpolitik propagierte. Bis es, nach den üblichen Abnutzungserscheinungen im Medienzirkus, keiner mehr tat und der Kapitalismus nach der „keynesianischen“ Stabilisierungsphase wieder zum „Business as usual“ überzugehen schien.

Übrig blieben nur die im neoliberalen Zeitalter aus dem politischen und akademischen Mainstream verdrängten, beständig jammernden Keynesianer, mit denen sich nun die Linke jenseits der Sozialdemokratie herumplagen darf. Doch die beständige Klage aus dem Spektrum der Neokeynesianer und der Modernen Monetären „Theorie“ (MMT), wonach es mehr Keynesianismus brauche, damit alles wieder besser werde und der Spätkapitalismus an die Ära des Wirtschaftswunders anknüpfe, ist angesichts der politischen Realitäten – gelinde gesagt – deplatziert. Viele Instrumente des Keynesianismus kommen bei der Krisenverwaltung weiterhin zu Einsatz, sie werden nur nicht als solche thematisiert und wahrgenommen. Keynes ist längst pragmatischer Krisenalltag, etliche der Krisenmaßnahmen und -Programme, die das System seit 2008 stabilisieren, tragen seine Handschrift.

Und dies ist nur logisch vor dem Hintergrund der historischen Genese dieser Ökonomieschule: Der Keynesianismus erfuhr seinen Durchmarsch zum kapitalistischen Mainstream nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gerade als große „Lehre“ aus der 1929 einsetzenden Krisenphase – und die kapitalistischen Funktionseliten greifen in Krisenzeiten quasi reflexartig zu dessen Instrumentarium. Konsequente Regulierung der Währungs- und Finanzmärkte, der Staat als wirtschaftlicher Ordnungs- und Leitfaktor, der eine aktive Investitionspolitik betreibt, die nachfrageorientierte Lohn- und Sozialpolitik, bei der die Lohnabhängigen der Wirtschaftswunderzeit auch als Konsument*innen begriffen wurden und eine kontrazyklische Konjunkturpolitik, die mittels schuldenfinanzierter Konjunkturprogramme Rezessionen verhindern sollte, um in Boomphasen diese Schulden dann abzutragen – dies waren die inzwischen idealisierten Grundzüge der keynesianischen Wirtschaftsordnung bis zum Durchmarsch des Neoliberalismus unter Thatcher und Reagan, zu der die Neokeynesianer zurückkehren wollen.

Billiger geht’s nicht

Der pragmatische Rückgriff auf das Instrumentarium des Keynesianismus findet seinen klarsten Ausdruck in all den Konjunkturprogrammen, die im Gefolge der an Intensität gewinnenden Krisenschübe aufgelegt wurden. Folglich gewannen auch diese staatlichen Subventions- und Investitionspakete bei jedem Krisenschub an Umfang,3 wie die berüchtigte Unternehmensberatung McKinsey anhand der Weltfinanzkrise 2008/09 und des Pandemieeinbruchs 2020 darlegte.4 Schon Mitte 2020 summierten sich die globalen staatlichen Krisenaufwendungen, mit denen die Folgen des durch die Pandemie getriggerten Krisenschubs minimiert werden sollten, auf rund zehn Billionen Dollar – das Dreifache der Krisenprogramme von 2008/09.

Und es war gerade die 2008 konjunkturpolitisch zurückhaltende Bundesregierung, die damals nur mit der berüchtigten, klimapolitisch verheerenden Abwrackprämie für PKWs Negativschlagzeilen machte, die 2020 besonders weitreichende Krisenprogramme auflegte. In Relation zum deutschen Bruttoinlandsprodukt hat Berlin sogar das größte Konjunkturpaket aller westlichen Industrieländer aufgelegt: es umfasste 33 Prozent des BIP. Zudem leitete die Regierung Merkel auch in der „deutschen“ Eurozone eine graduelle Abkehr vom schäublerischen Austeritätsregime ein, indem sie Mitte 2020 einem europäischen Konjunkturprogramm im Rahmen des europäischen Haushalts zustimmte, das bei einem Volumen von 750 Milliarden immerhin Hilfszahlungen an die Peripherie von 380 Milliarden Euro beinhaltet.5

Und auch bei der Geldpolitik galt bis vor Kurzem bei Europäischer Zentralbank (EZB) wie Federal Reserve (Fed) die Devise, dass es billiger kaum noch gehen könne. Die Leitzinsen aller westlichen Währungsräume sind im 21. Jahrhundert in der Tendenz immer weiter gefallen. Zwischen 2009 und 2021 herrschte – mit kurzem Unterbrechungen – eine Nullzinspolitik, mit der Konjunktur und Finanzsphäre gestützt wurden. Zudem gingen die Notenbanken nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase zur schlichten Gelddruckerei über, indem sie zuerst Hypothekenpapiere und später zunehmend Staatsanleihen aufkauften – und so der Finanzsphäre zusätzliche Liquidität zuführten, die zur Inflation der Wertpapierpreise im Rahmen der großen, 2020 platzenden Liquiditätsblase führten. Im Laufe des 21. Jahrhunderts haben Fed und EZB ihre Bilanzsummen nahezu verzehnfacht, sie sind zu Mülldeponien des zum Dauerboom verurteilten spätkapitalistischen Finanzsystems und den größten Eigentümern von Schuldtiteln ihrer Staaten geworden.

Hyperaktiver Zentralbankkapitalismus

Die Notenbanken sind somit im Verlauf des Krisenprozesses zu zentralen ökonomischen Akteuren aufgestiegen, da ohne deren Intervention sowohl die Finanzsphäre wie die Staatsfinanzierung kollabiert wären. Es ließe sich von einem Zentralbankkapitalismus sprechen, wie es der Politökonom Joscha Wullweber in einem Buch mit diesem Titel tut, in dem die Abhängigkeit eines Teils der Finanzsphäre, des weitgehend unregulierten Marktes für Rückkaufversicherungen (Repos), von der Gelddruckerei der Notenbanken beleuchtet wird.6 Der derzeit aufgrund zweistelliger Inflationsraten unternommene Versuch von EZB und Fed (Einzig die Bank of Japan stemmt sich verzweifelt gegen den Trend),7 mit der Wende zu einer restriktiven Geldpolitik die auf mehrere Ursachen zurückzuführende Inflation (Pandemie, Krieg, geplatzte Liquiditätsblase, Klimakrise)8 einzudämmen, geht aber nicht zwangsläufig mit einem Ende der Aufkäufe von Staatsanleihen einher.

In der Eurozone wurde mit PEPP (Pandemic emergency purchase programme) eigens ein Krisenprogramm in Umfang von 1.850 Milliarden Euro geschaffen, mit dem zwecks Stabilisierung der Eurozone Staatsanleihen bei gleichzeitigen Leitzinsanhebungen aufgekauft werden (Nettozukäufe sollen im kommenden März ausgesetzt werden)9, wodurch die Inflationsbekämpfung faktisch unterminiert wird – und was wiederum die ökonomische Rolle des Staates stärkt, da dieser weiterhin im Rahmen von PEPP sein Haushaltsdefizit finanzieren kann. Zudem sind auch Schritte zu einer aktiven Wirtschaftspolitik des Staates erkennbar, vor allem hinsichtlich des Green New Deals. Neoliberale Hardliner10 klagen im Handelsblatt inzwischen laut über die staatlichen Bestrebungen zur ökologischen „Kreditlenkung“, die vor allem in der Einführung der EU-Taxonomieverordnung zur Definition nachhaltiger Investitionen zum Ausdruck kämen (Ironischerweise gelten dabei auch Investitionen in Erdgas und Atomkraft als „nachhaltig“). Überdies sprach sich Habecks Staatssekretär Sven Giegold – ein Attac-Aktivist der ersten Stunde – schon vor einem Jahr gegenüber der Financial Times (FT) für eine „aktive Industriepolitik“ Berlins aus, die „Innovationen unterstützen“ solle, um aus der BRD eine „ökologische und soziale Marktökonomie“ zu machen.11

Diese von zunehmender Staatstätigkeit geprägte Struktur des Krisenkapitalismus ist aber nicht Folge einer kohärenten Strategie, sondern Ausdruck der jeweiligen Bemühungen, während der akuten Krisenschübe einen Kollaps der Weltwirtschaft zu verhindern. Es ist ein Keynesianismus der blinden Tat, bei dem Funktionseliten quasi reflexartig agierten. Die oftmals als Provisorium eingeführten Notprogramme und Politikwechsel verstetigen sich dann im Krisenverlauf, sie gerinnen zu neuen Strukturen und Dynamiken in latenten Krisenphasen. Man „fährt auf Sicht“, so der damalige Finanzminister Schäuble über das Agieren der Bundesregierung während der Weltfinanzkrise 2009.12 Die Maßnahmepakete bauen schlicht aufeinander auf. Habecks aktive Industriepolitik etwa, für die Giegold in der FT die Werbetrommel rührte, hat ihren Vorläufer in der staatlichen Förderung „nationaler Champions“ unter seinem Vorgänger Peter Altmaier, der angesichts zunehmender Krisenkonkurrenz und informeller Staatssubventionen in China und den USA auch Deutschlands Exportindustrie gezielt fördern wollte.13

Dieses „Fahren auf Sicht“ der Funktionseliten in manifesten Krisenzeiten, bei dem in Reaktion auf Krisenschübe immer neue Elemente staatskapitalistischer Krisenverwaltung zur Anwendung gelangen, verleiht dieser Formation alle Züge eines Übergangsstadiums innerhalb der spätkapitalistischen Krisenentfaltung. Die ökonomischen und ökologischen Krisen, die die Politik zum Krisenkeynesianismus nötigen, sind ja nicht Ausdruck einer „falschen“ Wirtschaftspolitik, sondern der eskalierenden inneren und äußeren Widersprüche des Kapitalverhältnisses, die sich ganz konkret in beständig schneller steigenden Schulden (als die Weltwirtschaftsleistung) und einer unablässig ansteigenden CO2-Konzentration manifestieren.

Aufgrund eines fortwährend steigenden globalen Produktivitätsniveaus unfähig, einen neuen industriellen Leitsektor, ein neues Akkumulationsregime zu erschließen, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet würde, läuft das Weltsystem faktisch immer mehr auf Pump. Der Staat fungiert hierbei durch Gelddruckerei und Deficit Spending zunehmend als letzte Instanz der Krisenverschleppung, nachdem die Defizitbildung im Rahmen der neoliberalen Finanzblasenökonomie (Dot-Com-Blase, Immobilienblase, Liquiditätsblase) auf den heiß gelaufenen Finanzmärkten sich weitgehend erschöpft hat. So ist etwa der breit angelegte US-Aktienindex S&P 500 nach seinem historischen Höchststand von mehr als 4700 Punkten Ende 2021 inzwischen um rund Tausend Punkte eingebrochen.

Moderne Monetäre Ideologie

Die Spätphase des globalisierten Finanzblasenkapitalismus, in der die expansive Geldpolitik der Notenbanken zur Inflation der Wertpapierpreise in der Finanzsphäre beitrug – bis hin zum Schwarminvestmet und den flüchtigen Boom von Meme-Aktien wie GameStop14 – ließ auch eine extreme Form spät- und postkeynesianischer Wirtschaftsideologie aufkommen, die unter Ausblendung jeglicher systemischen Krisenanalyse – insbesondere des Zusammenhangs zwischen Blasenbildung und den offenen Geldschleusen der Notenbanken – behaupten konnte, dass alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Spätkapitalismus durch Gelddruckerei gelöst werden konnten. Die Zinsen und die Inflation blieben ja zwischen 2008 und 2020 niedrig.

Der Modern Monetary Theory (MMT) schien die Quadratur des kapitalistischen Kreises geglückt. Vollbeschäftigung, Sozialstaat, Wirtschaftswachstum und die ökologische Wende – all dies sei nur eine Frage der expansiven Geldpolitik, so die zentrale These der MMT. Dieser neokeynesianischen, in der sozialistischen Linken der Vereinigten Staaten sehr populären Geldtheorie zufolge können Regierungen, die ihre Währung kontrollieren, die Staatsausgaben frei erhöhen, ohne sich um Defizite sorgen zu müssen. Denn sie können jederzeit genug Geld drucken, um ihre Staatsschulden in ihrer Währung abzuzahlen. Inflation sei dieser Theorie zufolge so lange kein Problem, wie die Ökonomie nicht an natürliche Wachstumsgrenzen stoße oder es ungenutzte ökonomische Kapazitäten gebe, wie etwa Arbeitslosigkeit.

Gelddrucken bis zur Vollbeschäftigung – darauf zielt diese spätkeynesianische nachfrageorientierte Wirtschaftsideologie ab, die sich im Windschaden der von ihr unverstandenen, heißlaufenden Finanzialisierung des Kapitalismus ausbildete. Zumeist verweisen Befürworter der MMT auf die expansive Geldpolitik der US-Notenbank Fed, die von 2007 bis 2009 und ab 2020 mit Billionenbeträgen die strauchelnden Finanzmärkte stützte. Da die als „Quantitative Lockerungen“ bezeichnete Gelddruckerei anscheinend keine Inflationsschübe nach sich zog, will die MMT diese Krisenmaßnahmen gewissermaßen zur Leitlinie neo-sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik erheben. Durch expansive Geldpolitik soll das Angebot der Ware Geld so lange erhöht werden, bis eben die Nachfrage gedeckt sei, die Arbeitslosigkeit verschwunden und die Wirtschaft ordentlich brumme. Die historisch beispiellosen Aufkaufprogramme der Notenbanken, mit denen ein auf Pump laufender Spätkapitalismus mühsam stabilisiert wird, will die MMT letztlich zur neuen Normalität erklären – und somit in Ideologie, in die Rechtfertigung des Bestehenden übergehen.

Es ist auch kein Zufall, dass die MMT ihre politische Heimat in den USA hat, die mit dem US-Dollar die Weltleitwährung kontrolliert. Damit kann sich Washington im globalen Wertmaß aller Warendinge verschulden. Wie es aussieht, wenn Staaten der Peripherie dazu übergehen, ihre eigene Währung nach Gutdünken zu drucken, die im US-Dollar ihren globalen Wertmaßstab finden, kann aktuell etwa an der Türkei des „Zinskritikers“ Erdogen studiert werden, wo die Inflationsrate in den dreistelligen Bereich zu beschleunigen droht.15 Die MMT stellt somit nicht nur eine sehr exklusive Ideologie dar, die eventuell noch in der Eurozone Anhänger finden kann, sich aber anhand der Erfahrungen in der Peripherie und Semiperipherie schlicht blamiert.

Der Neokeynesianismus sieht also die Ursache der gegenwärtigen kapitalistischen Malaise hauptsächlich in mangelnder Geldversorgung. Deren tatsächliche Krisenursache bildet aber ein fehlender ökonomischer Leitsektor, ein fehlendes neues Akkumulationsregime, das massenhaft Lohnarbeit verwertete – und das aufgrund des hohen globalen Produktivitätsniveaus nie wieder errichtet werden wird. Irrationaler Selbstzweck des Kapital ist ja seine höchstmögliche Verwertung mittels der Ausbeutung von Lohnarbeit – der einzigen Ware, die als Substanz des Kapitals Mehrwert produzieren kann – in der Warenproduktion. Die keynesianische Nachfragepolitik tut hingegen so, als ob der Kapitalismus schon überwunden wäre, als ob die Bedürfnisbefriedigung – und nicht uferlose Kapitalverwertung – den Zweck der kapitalistischen Wirtschaft bildete. Es ist der übliche keynesianische Taschenspielertrick, der die Irrationalität kapitalistischer Vergesellschaftung einfach ausblendet.

Es ist eine einfache, seit den 1980er Jahren zu beobachtende Krisenregel: Wenn die Akkumulation des Kapitals der realen Wirtschaft stottert, dann setzt ein spekulatives Wachstum der Finanzsphäre ein. Ignoriert wird von der MMT hierbei der Zusammenhang zwischen den quantitativen Lockerungen und dem Wachstum des aufgeblähten spätkapitalistischen Finanzsektors. Die Gelddruckerei der Fed (wie die der Europäischen Zentralbank) führte sehr wohl zu einer Inflation – zur Inflation der Wertpapierpreise auf den Finanzmärkten. Ausgerechnet der von den Keynesianern verteufelte, aufgeblähte Finanzsektor – Fundament der als Konjunkturmotor fungierenden globalen Verschuldungsdynamik – bildete somit den entscheidenden Faktor, der eine Stagflationsperiode verhindere, wie sie in den 1970ern dem Keynesianismus das Rückgrat brach und den Weg für den Neoliberalismus öffnete. Der Neoliberalismus entfesselte die Finanzsphäre gerade in Reaktion auf die Krisenphase der Stagflation, was als Form der Krisenverzögerung zur Ausbildung des auf Pump laufenden, von Blase zur Blase taumelnden Zombie-Kapitalismus16 führte.

Die Rückkehr der deflationären Vergangenheit

Das Kapital geht somit in der Warenproduktion seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit, verlustig, was die mit immer größeren Schuldenbergen konfrontierte Politik in eine Sackgasse treibt: Inflation oder Deflation? Konkret wird die aus der inneren Schranke des Kapitals resultierende Aporie der kapitalistischen Krisenpolitik anhand des öden, seit Jahren gepflegten Streits17 über die Prioritäten der Wirtschaftspolitik zwischen angebotsorientierten Neoliberalen und nachfrageorientierten Keynesianern sichtbar. Der Twitter-Keynesianer Maurice Höfgen praktiziert gerne dieses stupide Schattenboxen.18 Es ist immer dieselbe Leier, abgespult in tausend Variationen: Der neoliberalen Warnung vor Überschuldung und Inflation bei Konjunkturprogrammen wird von den Keynesianern die Mahnung vor der deflationären Abwärtsspirale, ausgelöst durch Sparprogramme, entgegengehalten. Beide Streitparteien haben dabei mit ihren Diagnosen recht, was nur durch die Finanzblasenökonomie des neoliberalen Zeitalters überdeckt wurde. Nun, in der Ära der Stagflation wird es offensichtlich, dass gerade die Geldpolitik der Notenbanken sich in einer Krisenfalle befindet.19 Die Notenbanken müssten der Inflation wegen die Zinsen anheben, und zugleich die Zinsen senken, um eine Rezession zu verhindern.

Übrigens: an eben der oben skizzierten, historischen Stagflationsperiode der 1970er Jahre – zu der das spätkapitalistische Weltsystem auf einem viel höheren Krisenniveau derzeit quasi zurückkehrt20 – ist der Keynesianismus tatsächlich fulminant gescheitert. Nach dem Auslaufen des großen Nachkriegsbooms, der von dem fordistischen Akkumulationsregime getragen wurde, versagten alle Politikrezepte der Keynesianer. Der Neoliberalismus konnte ich also in den 1980ern nur deswegen durchsetzen, weil der Keynesianismus krachend – mit zweistelligen Inflationsquoten, häufigen Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit – gescheitert ist. Wenn ein abgehalfterter Keynesianer wie Heiner Flassbeck – stilecht im Querfrontmagazin Telepolis21 – behauptet, dass es nur die Energie- und Ölpreiskrise war, die damals wie heute den Krisen- und Inflationsschub auslöste, dann lügt er sich selbst in die Tasche. Der Keynesianismus konnte trotz aller Konjunkturprogramme kein neues Akkumulationsregime aus dem Boden stampfen – und er wird es auch jetzt nicht schaffen, neue Märkte hervorzuzaubern, bei deren Erschließung massenhaft Lohnarbeit auf dem globalen Produktivitätsniveau verwertet werden könnte.

Der Neoliberalismus „löste“ das Problem durch das spekulative Abheben der Finanzsphäre, der Finanzialisierung des Kapitalismus, also durch Krisenverschleppung im Rahmen einer regelrechten Finanzblasenökonomie, die durch drei Dekaden hindurch dem Kapital eine Art Zombieleben auf Pump ermöglichte. Dies ist auch der fundamentale Unterschied zwischen der Stagflation der 1970er und der jetzigen Stagflationsphase. Das Krisenniveau ist viel höher – und es läßt sich ganz einfach anhand der Relation zwischen Gesamtverschuldung und Wirtschaftsleistung ablesen, die von rund 110 Prozent zu Beginn des neoliberalen Zeitalters 1980, auf inzwischen 256 Prozent kletterte (ohne Finanzsektor).22

Und ein nachhaltiger Abbau dieses Schuldenbergs ist nur um den Preis einer Rezession möglich – also längerfristig eigentlich gar nicht. Ganz abgesehen davon, dass es ökologischer Wahnsinn ist, auf Rezessionen mit keynesianischen Konjunkturprogrammen zu reagieren. Die Rezessionen von 2009 und 2020, die im Gefolge der damaligen Krisenschübe ausbrachen, hatten die einzigen Jahre im 21. Jahrhundert zur Folge, in denen die CO2-Emissionen zurückgingen. Doch die oben geschilderten Konjunkturpakete führten in den Folgejahren zu den höchsten Emissionsanstiegen dieses Jahrhunderts. 2009 fiel der Ausstoß von Treibhausgasen um 1,4 Prozent,23 um 2010 dank keynesianischer Konjunkturprogramme um 5,9 Prozent24 zuzulegen! 2020 sanken die Emissionen pandemiebedingt wiederum um 4,4 Prozent, während sie 2021 aufgrund vielfacher Konjunkturmaßnahmen um 5,3 Prozent zulegten.25 Verelendung in der Rezession oder Klimatod? Hierin äußert sich die ökologische Aporie kapitalistischer Krisenpolitik.

Ideologisches Material für linken Krisenopportunismus

Verstockte Altkeynesianer wie Flassbeck, wie auch der vollkommen abgedrehte Nachwuchs rund um die MMT ignorieren diese simplen Zusammenhänge verbissen, die schlicht auf die Notwendigkeit der Systemtransformation verweisen. Immer noch wird das Märchen verbreitet, wonach eine falsche Politik zur Finanzialisierung, zum Abheben der Finanzmärkte in der neoliberalen Ära führte – und es nur darum gehen müsse, diese „einzuhegen“. Und selbstverständlich spulen sie routiniert ihr dumpfes Programm ab, um trotz zweistelliger Inflation vor einer restriktiven Geldpolitik zu warnen. Auch wenn es langsam schlicht peinlich wird, mit welcher Akrobatik die Evidenz der Krisenfalle bürgerlicher Politik geleugnet wird, um immer wieder die Inflation als eine „Anomalie“ abzutun, die mit „wahrer“ keynesianischer Politik bekämpft werden solle. Es gibt im rasch in Regression übergehenden Keynesianismus schlicht kein Schamgefühl, selbst wenn die eigenen Vorhersagen sich an der Krisenrealität dermaßen deutlich blamieren wie in der derzeitigen Stagflationsphase.

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Bei Flassbeck, dem notorischen Höfgen, wie bei vielen anderen Keyensianern, die absolut blind gegenüber der Weltkrise des Kapitals sind, gibt es einen Reflex, um alle Evidenz der ideologischen Sackgasse, in der sie sich befinden, abzustreiten. So wie die Inflation keine „echte“ Inflation sei, fordern sie bei der Krisenpolitik den „wahren“ Keynes, da alles, was bislang an Methoden zum Einsatz komme, dem Idealbild nicht entspreche. In aller deprimierenden Offenheit wird dies beim Autor des oben erwähnten Buches über den Zentralbankkapitalismus evident, der ellenlang beschreibt, wie die Notenbanken das aufgeblähte Finanzsystem stützen müssen, um dann zu behaupten, dies sei kein Keynesianismus, da Finanzmärkte nicht an die Kandarre genommen würden:26 „Das derzeitige starke Eingreifen der Zentralbanken in das Finanzsystem und selbst die Unterstützungsmaßnahmen der Regierungen während der Corona-Pandemie sind also kein Zurück zum starken Staat oder ein neuer Keynesianismus. Trotz der Schwere der Krisen ist es zu keinen weitreichenden wirtschafts- und finanzpolitischen Kursänderungen gekommen. Es ist eine Regierungsweise, die sich innerhalb der weiterhin vorherrschenden marktliberalen Wirtschaftsordnung vollzieht. Weder die Funktionsweise des Finanzsystems im Allgemeinen noch die des Schattenbankensystems im Speziellen werden infrage gestellt. Genau das müsste aber passieren, um die Krisenhaftigkeit des Systems zu überwinden.“

Tatsächlich kann der heutige Krisenkeynesianismus nicht dem alten Idealbild entsprechen, da er als Form prekärer Krisenverwaltung mit den Folgen der dekadenlangen Finanzialisierung des Kapitalismus konfrontiert ist. Es ist deprimierend: Joscha Wullweber beschreibt die Folgen dieser Finanzialisierung anhand der von ihm als „Schattenbanksystem“ bezeichnenden Repo-Geschäfte27 und beklagt die Folgen der raschen Expansion der Finanzsphäre, um dann im kapitalistischen Gedankengefängnis zu verbleiben und die strukturellen Dynamiken zur bloßen Frage einer falschen der Politik zu erklären. Und eben dieses Denken macht den Keynesianismus zu einem gern benutzten ideologischen Vehikel für linken Opportunismus.28 Keynesianer werden vor allem in der „Linkspartei“ hofiert, da sie die Systemkrise zu einer bloßen Politikfrage umlügen, was die intendierte Mitmacherei bei der Krisenverwaltung ganzer Linkspartei-Rackets von linksliberal bis rechtsnational legitimiert. Die verkürzte Kapitalismuskritik der Keyesianer ist längst zur Ideologie geronnen.

Postkeynesianische Kriegswirtschaft

Der Keynesianismus mit seinem drögen Deficit Spending und seiner Staatsgeilheit kann die sich zuspitzende innere und äußere Krise des Kapitals selbstverständlich nicht lösen, er kann aber als Übergang in eine neue Krisenqualität fungieren. Keynes kann aber – gerade bei Funktionseliten, die des Öfteren „auf Sicht“ agieren – einen brauchbaren Bootloader, ein Übergangsvehikel, zu einer qualitativ neuen Form autoritärer Krisenverwaltung abgeben. Das haben ideologisch avancierte Postkeynesianerinnen, wie die Taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, längst begriffen:29 In ihrem jüngsten Buch über das „Ende des Kapitalismus“, das eine weitgehend von der Wertkritik abgeschriebene Darstellung der äußeren Schranke des Kapitals mit einem Bekenntnis zur Kriegswirtschaft koppelt – inklusive Ukas (Erlass, russ.) und Rationierung. Dem auf dem rechten Auge blinden, von rechten Seilschaften durchsetzten deutschen Staat will die Taz-Redakteurin mit ungeheurer Machtfülle ausstatten und zur zentralen Instanz der gesellschaftlichen Reproduktion in der Krise machen. Frau Herrmann baut auch hier natürlich auf keynesianisch verkürzter Kapitalismuskritik auf, wo der Staat als großer Gegenspieler zum Kapital erscheint – und nicht als Teil des kapitalistischen Systems, das mit diesem untergeht, wie es reihenweise in den „Failed States“ der Peripherie bereits der Fall ist.

Darauf, auf autoritäre, postdemokratische Krisenverwaltung, exekutiert von erodierenden, mitunter offen verwildernden Staatsapparaten, läuft der Krisengang hinaus. Die Keynesianer spielen nur die – dummen oder perfiden – Jubelperser dieser objektiven Krisentendenz zum anomischen Autoritarismus. Der Keynesianismus, der nur aufgrund der absurden Rechtsverschiebung des gesamten politischen Spektrums als Teil der Linken links der Sozialdemokratie gilt, verkommt somit auch hier zur Ideologie in ihrem reinsten Sinn: Zur Rechtfertigung der drohenden autoritären staatskapitalistischen Krisenverwaltung, die das genaue Gegenteil der überlebensnotwendigen Emanzipation vom kollabierenden spätkapitalistischen Sachzwangregime wäre. Die Linke sollte folglich endlich dazu übergehen, die Keynesianer als das zu betrachten, was sie objektiv sind: als Ideologen.

Zuerst erschienen in: oekumenisches-netz.de, Netz-Telegramm Februar 2023.

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1 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/der-volks-und-betriebswirt/volkswirtschaftslehre-sind-wir-jetzt-alle-keynesianer-1775435.html

2 https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/in-der-krise-sind-alle-keynesianer

3 https://www.konicz.info/2020/10/27/vergleich-der-krisen-2020-vs-2008/

4 https://www.mckinsey.com/featured-insights/coronavirus-leading-through-the-crisis/charting-the-path-to-the-next-normal/total-stimulus-for-the-covid-19-crisis-already-triple-that-for-the-entire-2008-09-recession

5 https://www.sueddeutsche.de/politik/eu-sondergipfel-haushalt-1.4973847

6 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/507732/zentralbankkapitalismus/

7 https://www.konicz.info/2022/12/30/japan-in-der-krise-mehr-alkoholismus-wagen/

8 https://www.konicz.info/2021/08/08/dreierlei-inflation/

9 https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/pepp/html/index.en.html

10 https://www.handelsblatt.com/meinung/homo-oeconomicus/gastkommentar-homo-oeconomicus-kreditlenkung-ist-kein-gutes-rezept-fuer-klimaschutz/27974940.html

11 https://www.ft.com/content/fa740376-da98-4067-92b4-85d315bbb6e2

12 https://wolfgang-schaeuble.de/wir-fahren-auf-sicht-dazu-muss-man-sich-offen-bekennen/

13 https://www.ifo.de/publikationen/2005/aufsatz-zeitschrift/nationale-industriepolitik-brauchen-wir-nationale-champions

14 https://www.konicz.info/2021/01/30/hedge-fonds-gamestop-und-reddit-kleinanleger-die-grosse-blackrock-bonanza/

15 https://www.konicz.info/2022/01/31/werteverfall/

16 https://www.streifzuege.org/2017/wir-sind-zombie/

17 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

18 https://twitter.com/MauriceHoefgen/status/1610588756754534400

19 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

20 https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/wirtschaft/theorie/stagflation-inflationsrate-6794.html

21 https://www.telepolis.de/features/Die-Welt-vor-der-Rezession-Diese-alten-Fehler-werden-die-Lage-verschaerfen-7286773.html?seite=all

22 https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2021/12/15/blog-global-debt-reaches-a-record-226-trillion

23 https://www.reuters.com/article/us-climate-emissions-idUSTRE6AK1OU20101121

24 https://www.reuters.com/article/us-iea-co2-idUSTRE74T4K220110530

25 https://joint-research-centre.ec.europa.eu/jrc-news/global-co2-emissions-rebound-2021-after-temporary-reduction-during-covid19-lockdown-2022-10-14_en#:~:text=In%202021%2C%20global%20anthropogenic%20fossil,the%20world’s%20largest%20CO2%20emitters.

26 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/507732/zentralbankkapitalismus/

27 Repurchase Agreements (Repos) sind Rückkaufvereinbarungen. Hierzu Wullweber (Quelle in Fußnote Nr. 26): „Repos sind Verträge, bei denen Wertpapiere zu einem bestimmten Preis verkauft werden, um diese nach einer definierten Zeit zu einem vorher festgesetzten Preis plus Zinsen wieder zurückzukaufen. … Im Prinzip ist ein Repo nichts anderes als eine Pfandleihe: Die eine Seite benötigt Geld und hinterlegt als Sicherheit ein Pfand in Form eines Wertpapiers. Die andere Seite besitzt Geld und verleiht dieses gegen diese Sicherheit. … Ganz allgemein gibt es im Schattenbankensystem einerseits Finanzakteure wie Hedgefonds und Geschäftsbanken, die Geldmittel benötigen, um durch Geschäfte mit unterschiedlichen Risikoprofilen kurzfristig Profit erzielen zu können oder auch, um eine Unterdeckung von Kapitalreserven aufzufangen. … Auf der anderen Seite finden sich Geldmarktfonds, Vermögensverwalter, Pensionsfonds und andere institutionelle Investoren oder auch Unternehmen, die ihr überschüssiges Kapital mit verhältnismäßig geringen Risiken und vergleichsweise hohen Renditen anlegen möchten.“

28 https://www.untergrund-blättle.ch/politik/deutschland/linkspartei-opportunismus-in-der-krise-7288.html

29 https://www.konicz.info/2022/12/14/rebranding-des-kapitalismus/

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Öffentliches Geld und Gut !:

Erstellt von DL-Redaktion am 5. März 2023

Warum die öffentliche Hand nicht mit Daten handeln darf

Steuer – Zahler und – Kassierer

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Viele kommunale Akteure befürchten, dass die Bereitstellung von Daten nicht mehr finanzieren können, wenn sie ihren Datenschatz nicht monetarisieren dürfen. Aber genau das regelt das Datennutzungsgesetz aus dem Jahr 2021. Warum die Debatte um die Veräußerbarkeit von Verwaltungsdaten falsch geführt wird, zeigt Stefan Kaufmann in dieser Kolumne auf.

Sind Daten von Bund, Ländern oder Kommunen frei zugänglich, handelt es sich dabei oft um „Turnschuh-Open-Data“ – also Datensätze, die händisch aus den Beständen der Verwaltungen exportiert und in die diversen Datenportale geladen werden. Dieser Prozess müsste dringend modernisiert und automatisiert werden, doch bislang ist den Verantwortlichen die notwendige Investition in IT-Architekturen zu teuer.

Zusätzlich stand manchem kommunalen Kämmerer bei der Aussicht, mit den Datenschätzen der öffentlichen Hand auch handeln zu können, bereits das Eurozeichen in den Augen. Vielleicht liegt es an der schrägen Metapher von Daten als „Öl des 21. Jahrhunderts“. Sie erweckt den Eindruck, dass vor allem Fakteninformationen – also die Abbildung möglichst objektiver Beschreibungen unserer Welt – ein privatisier- und handelbares Gut seien.

Vielleicht liegt das Problem aber auch in den noch nicht ausgestorbenen Denkmodellen des New Public Management. In diesem Verwaltungsmodell aus der ausgehenden Thatcher-Ära wird die Bevölkerung zu „Kund*innen“, denen die Verwaltung Dienstleistungen zuteilwerden lässt – immer auch mit der Überlegung, dass Angelegenheiten außerhalb der unmittelbaren Kernaufgaben der jeweiligen Verwaltungsebene privatisiert werden könnten.

Wenn die Vermessungsabteilung jede verwaltungsintern gewünschte Karte in Rechnung stellt, scheint es nur konsequent, auch Dritte außerhalb der Verwaltung dafür bezahlen zu lassen, wenn sie Daten der öffentlichen Hand benutzen möchten. Vermeintlich ist das ein Win-Win: Durch den Handel mit Daten können die notwendigen Investitionen refinanziert werden.

Wissen als öffentliches Gut

Insbesondere die EU scheint sich mittlerweile ein deutlich ganzheitlicheres Vorgehen zu wünschen, das weitsichtig auch die notwendigen IT-Infrastrukturen für die Wiederverwendbarkeit von Informationen schafft. Über die Jahre hat die EU daher die sogenannte PSI-Richtlinie in die Open-Data-Richtlinie weiterentwickelt.

Besonders hochwertige Datensätze sollen gemäß der im Dezember 2022 vorgelegten Durchführungsverordnung kostenlos und unter freier Lizenz veröffentlicht werden. Und auch die nationale Umsetzung in Deutschland scheint sich nun deutlicher auf das Konzept von Wissen als öffentliches Gut zu fokussieren. Im Sommer 2021 wurde das Informationsweiterverwendungsgesetz durch die Verabschiedung des zweiten Open-Data-Gesetzes vom Datennutzungsgesetz (DNG) abgelöst. Was das in der Praxis bedeuten sollte, schien lange Zeit unklar – an einen eigenen Wikipedia-Artikel für das Gesetz traute sich erst im September 2022 ein Wikipedia-Beitragender.

Eine Einordnung lieferte im Dezember 2022 ein Artikel von Martini, Haußecker und Wagner in der Neuen Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ). Auf zwölf Seiten und mit 160 Fußnoten kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Kommunen ihre Daten grundsätzlich nicht gewinnbringend verkaufen dürfen. Nur in wenigen Bereichen bleibt der Handel mit Informationen erlaubt – beispielsweise, wenn Informationen zu rein wirtschaftlichen Zwecken erhoben werden, oder durch öffentliche Unternehmen im Sinne der EU-Definition.

Wo sollen die Mittel für Digitalisierung herkommen?

Wie sich das in der Praxis ausgestaltet, wird die Zukunft zeigen. Das im NVwZ-Aufsatz betonte Diskriminierungsverbot könnte spannende Anwendungsfelder für strategische Klagen mit sich bringen, die darauf abzielen, ebenfalls direkten Zugang zu Informationen zu bekommen. Etwa wenn eine Kommune im Rahmen eines Smart-City-Projekts einer Firma Daten beispielsweise für die Verwendung in einem Dashboard oder einem Datenraum anliefert.

Der NVwZ-Aufsatz schließt etwas nachdenklich mit der Frage, woher denn nun die notwendigen Mittel für Investitionen in die Digitalisierung kommen sollen, wenn der Staat nicht mehr mit Daten handeln darf. Tatsächlich liegt in dieser Regelung eine riesige Chance, mit dem neoliberalen Modell der New-Public-Management-Verwaltung zu brechen und den Fokus auf die überfällige Ertüchtigung der öffentlichen IT-Infrastrukturen für eine nachhaltige Verwaltungsdigitalisierung zu richten.
Tatsächlich gibt es einen reichen Schatz an Informationen aus staatlicher Hand, die bereits an vielen Stellen veröffentlicht und verbreitet werden – die aber derzeit weder behördenintern noch öffentlich automatisiert wiederverwendet werden können.

Ein Hemmschuh auf dem Weg zur Wiederverwendbarkeit dieser Informationen durch die Allgemeinheit sind derzeit noch fehlende Bereitstellungsverpflichtungen als „richtiges“ Open Data, das möglichst viele der 5-Sterne-Kriterien für offene Daten erfüllen muss. Auch der geplante Rechtsanspruch auf Open Data wird erst unter Beweis stellen müssen, wie gut er sich als Motivator und Antrieb zur flächendeckenden Verfügbarkeit weiterverwendbarer Daten eignet.

Die Hürden sind andere

Die viel gewichtigere Hürde dürfte aber im Wildwuchs und der mangelnden strategischen Planung der zugrundeliegenden IT-Architekturen und -Infrastrukturen liegen, auf denen viele vermeintliche Vorzeigeprojekte der Verwaltungsdigitalisierung zwangsläufig aufbauen müssen – vom Dauerbrenner Onlinezugangsgesetz bis zu den Smart-City-Projekten, die von immer mehr Kommunen vollmundig angekündigt werden.

Eine ganzheitliche Herangehensweise würde bedeuten, in den gemeinsamen IT-Unterbau zu investieren, um damit die Wiederverwendbarkeit der ohnehin vorhandenen Informationen so umfassend wie möglich zu gewährleisten. Nicht zuletzt handelt es sich bei vielen dieser vom Staat gehaltenen Informationen entweder um aus Steuermitteln bezahlte Daten oder um pure Faktendaten – an denen es ohnehin keine Eigentumsrechte geben soll.

Die notwendigen finanziellen Mittel dafür scheinen angesichts der vielen öffentlich geförderten Digital-Scheinleuchttürme durchaus vorhanden zu sein – sie werden bisher aber ohne erkennbare Strategie eingesetzt. Mit diesen Scheinleuchttürmen und Klagen gegen Open-Data-Aktivist*innen weiterzumachen wie bisher, wird letztlich teurer sein, als endlich systematisch die Voraussetzungen für eine echte Digitalisierung zu schaffen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Fahren auf Sicht

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Februar 2023

Eine Postkeynesianische Kriegswirtschaft

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Krisenbewältigung und der Übergang zum autoritären Staatskapitalismus: Derzeit kommen viele Elemente keynesianischer Wirtschaftspolitik zum Einsatz. Dies könnte den Übergang zu einer autoritären staatskapitalistischen Krisenverwaltung anzeigen.

Ob stockkonservative Marktjünger oder bieder-sozialdemokratische Gewerkschafter: In Krisenzeiten sind sie alle Keynesianer. Bei jedem Krisenschub der vergangenen Jahre, wenn es mal wieder galt, den dahinsiechenden Spätkapitalismus mittels billionenschwerer Konjunkturprogramme und Gelddruckerei vor dem Kollaps zu ­bewahren, erlebte die Lehre des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, dessen nachfrageorientierte Konjunkturpolitik in der Nachkriegszeit bis zur Ablösung durch den Neoliberalismus in den achtziger Jahren ­dominant war, eine flüchtige öffentliche Konjunktur.

Auch nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase 2008 und dem pandemiebedingten Einbruch 2020 sprach man wieder über Keynes, der als Hofökonom der Sozialdemo­kratie eine aktive Rolle des Staats bei Investitionsprogrammen und eine expansive Geldpolitik propagiert hatte. Nach den üblichen Abnutzungserscheinungen im Medienzirkus verschwindet die Referenz auf Keynes wieder, wenn der Kapitalismus nach der »keynesianischen« Stabilisierungsphase wieder zum business as usual überzugehen scheint.

Übrig bleiben jedes Mal die im neo­liberalen Zeitalter aus dem politischen und akademischen Mainstream verdrängten, beständig jammernden Keynesianer, mit denen sich nun die nichtsozialdemokratische Linke herumplagen darf. Doch die andauernde Klage der Neokeynesianer und der Vertreter der Modern Monetary Theory (MMT, zu Deutsch: moderne Geldtheorie), wonach es mehr Keynesianismus brauche, damit alles wieder besser werde und der Spätkapitalismus an die Ära des »Wirtschaftswunders« wieder anknüpfen könne, ist angesichts der politischen Realitäten – gelinde gesagt – deplatziert. Viele Instrumente des Keynesianismus kommen bei der Krisenverwaltung, die das System seit 2008 stabilisiert, weiterhin zum Einsatz, sie werden nur nicht als solche ­bezeichnet und wahrgenommen.

Das ist nur logisch vor dem Hintergrund der historischen Genese dieser ökonomischen Schule: Der Keynesianismus wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum kapitalistischen Mainstream als die große »Lehre«, die aus der 1929 einsetzenden Krisen­phase zu ziehen sei – und die kapitalistischen Funktionseliten greifen in ­Krisenzeiten quasi reflexartig zu dessen Instrumentarium. Konsequente ­Regulierung der Währungs- und Finanzmärkte, der Staat als wirtschaftlicher Ordnungs- und Leitfaktor, der eine aktive Investitionspolitik betreibt, eine nachfrageorientierte Lohn- und Sozialpolitik, bei der die Lohnabhängigen auch als Konsumenten begriffen werden, und eine kontrazyklische Konjunkturpolitik, die mittels schuldenfinanzierter Konjunkturprogramme ­Rezessionen verhindern soll, um in Boomphasen diese Schulden dann abzutragen – dies waren die idealisierten Grundzüge der keynesianischen Wirtschaftsordnung, bis der Neoliberalismus unter Margaret Thatcher und ­Ronald Reagan dominant wurde; zu dieser Ordnung wollen die Neokeynesianer zurückkehren.

Billiger geht’s nicht

Der pragmatische Rückgriff auf das Instrumentarium des Keynesianismus findet seinen klarsten Ausdruck in all den Konjunkturprogrammen, die im Gefolge der wiederkehrenden Krisenschübe aufgelegt wurden. Da diese immer intensiver wurden, gewannen auch die staatlichen Subventions- und Investitionspakete bei jedem Krisenschub an Umfang, wie die Unternehmensberatungsfirma McKinsey im Vergleich der Weltfinanzkrise 2008/2009 und des ­Pandemieeinbruchs 2020 darlegte. Schon Mitte 2020 summierten sich die globalen staatlichen Krisenaufwendungen auf rund zehn Billionen US-Dollar – das Drei­fache der Krisenprogramme von 2008/2009.

War die Bundesregierung 2008 haushaltspolitisch restriktiv gesinnt und machte nur mit der berüchtigten, klimapolitisch verheerenden »Abwrack­prämie« für Gebrauchtwagen Negativschlagzeilen, legte sie 2020 besonders weitreichende Krisenprogramme auf. In Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) war das deutsche Konjunkturpaket sogar das größte aller westlichen Industrieländer; es belief sich auf 33 Prozent des BIP. Zudem leitete die Regierung unter Angela Merkel auch in der Euro-Zone eine graduelle Abkehr vom Austeritätsregime ein, das die Vorgängerregierung unter derselben Kanzlerin ein Jahrzehnt zuvor durchgesetzt hatte: Mitte 2020 stimmte sie einem EU-Konjunkturprogramm mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro zu. Es beinhaltete Hilfszahlungen an die EU-Peripherie von immerhin 390 Milliarden Euro.

Auch bei der Geldpolitik galt bis vor kurzem bei der Europäischen Zentralbank (EZB) und ihrem US-amerikanischen Pendant, der Federal Reserve, die Devise, dass Kredite möglichst billig sein müssten. Die Leitzinsen in der EU und den USA sind im 21. Jahrhundert in der Tendenz immer weiter gefallen. Zwischen 2009 und 2021 herrschte – mit kurzem Unterbrechungen – Nullzinspolitik, um die Konjunktur und ­Finanzmärkte zu stützten. Zudem gingen die Notenbanken nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase zur bloßen Gelddruckerei über, indem sie zuerst Hypothekenpapiere und später immer mehr Staatsanleihen aufkauften – und so der Finanzsphäre zusätzliche Liquidität zuführten, die zur Inflation der Wertpapierpreise im Rahmen der großen Liquiditätsblase führten, die dann 2020 platzte. Im Laufe des 21. Jahrhunderts haben Federal Reserve und EZB ihre Bilanzsummen nahezu verzehnfacht, sie sind zu Mülldeponien des zum Dauerboom verurteilten spätkapitalistischen Finanzsystems und zu den größten Eigentümern von Schuldtiteln ihrer Staaten geworden.

Hyperaktiver Zentralbankkapitalismus

Die Notenbanken sind somit im Verlauf des Krisenprozesses zu den entscheidenden ökonomischen Instanzen aufgestiegen, ohne deren Intervention sowohl die Finanzsphäre als auch die Staatsfinanzierung kollabiert wären. Es ließe sich von einem Zentralbankkapitalismus sprechen, wie es der Politökonom Joscha Wullweber in seinem Buch dieses Titels tut, in dem er die Abhängigkeit eines Teils der Finanz­sphäre, des weitgehend unregulierten Markts für Rückkaufvereinbarungen (Repos), von der Aufblähung der Geldmengen durch die Notenbanken darstellt. Der derzeit aufgrund hoher Inflationsraten unternommene Versuch von EZB und Federal Reserve, mit der Wende zu einer restriktiven Geldpo­litik die auf mehrere Ursachen (Pandemie, Krieg, geplatzte Liquiditätsblase, stockende Lieferketten, steigende Energiepreise) zurückzuführende Inflation einzudämmen, geht aber nicht zwangsläufig mit einem Ende der Aufkäufe von Staatsanleihen einher.

In der Euro-Zone schuf die Euro­päische Zentralbank mit PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme, zu Deutsch: Pandemie-Notfallkaufprogramm) eigens ein Krisenprogramm in Umfang von 1,85 Billionen Euro, mit dem weiterhin Staatsanleihen aufgekauft werden, was die Inflationsdämpfung durch die gleichzeitigen Leitzinsanhebungen unterminiert und die ökonomischen Spielräume des Staats vergrößert.

Zudem sind inzwischen staatlicherseits konkret Schritte zu einer aktiven Politik wirtschaftlicher Lenkung erkennbar, vor allem im Rahmen des sogenannten European Green Deal. Neoliberale Hardliner klagen inzwischen über die staatlichen Bestrebungen zur ökologischen »Kreditlenkung«, die vor allem in der EU-Taxonomieverordnung zur Definition nachhaltiger ­Investitionen zum Ausdruck kämen – ironischerweise gelten dabei auch ­Investitionen in Erdgas und Atomkraft als nachhaltig. Überdies sprach sich Sven Giegold (Grüne), Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, schon vor ­einem Jahr in der Financial Times für eine »aktive Industriepolitik« der Bundesregierung aus, die »Innovationen unterstützen« solle, um aus der BRD eine »ökologische und soziale Marktökonomie« zu machen.

Diese von zunehmender Staatstätigkeit oder zumindest immer stärkerer staatlicher Einflussnahme geprägte Struktur des Krisenkapitalismus folgt aber keiner kohärenten Strategie, sondern bemüht sich lediglich, einen wirtschaftlichen Kollaps während der Krisenschübe verhindern. Es ist ein quasi reflexartiger Keynesianismus der Funktionseliten. Die oftmals als Provisorien eingeführten Notprogramme verstetigen sich dann im Krisenverlauf, sie gerinnen zu neuen Strukturen. Man »fährt auf Sicht«, so der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble über das Agieren der Bundesregierung während der Weltfinanzkrise 2009.

Die aktive Industriepolitik von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), für die Giegold in der Financial Times die Werbetrommel rührte, hat ihren Vorläufer in der staatlichen Förderung von »Champions« (für besonders wichtig erachteten Großunternehmen) ­unter seinem Vorgänger Peter Altmaier (CDU), der 2019 aufgrund zunehmender Krisenkonkurrenz und informeller Staatssubventionen in China und den USA auch Deutschlands Exportindus­trie gezielt fördern wollte.

Dieses »Fahren auf Sicht« der Funk­tionseliten in Krisenzeiten, bei dem in Reaktion auf Krisenschübe immer neue Elemente staatskapitalistischer Krisenverwaltung zur Anwendung gelangen, verleiht dieser Formation alle Züge eines Übergangsstadiums zu einer autoritären Krisenverwaltung. Die ökonomischen wie zunehmend auch ökologischen Krisen, die die Politik zum Krisenkeynesianismus nötigen, sind ja nicht Ausdruck einer »falschen« Wirtschaftspolitik, sondern der eskalierenden inneren und äußeren Widersprüche des Kapitalverhältnisses, die sich ganz konkret in dauerhaft schneller als die Weltwirtschaftsleistung steigenden Schulden und einer un­ablässig ansteigenden CO2-Konzentration in der Erd­atmosphäre manifestieren.

Aufgrund eines beständig steigenden globalen Produktivitätsniveaus unfähig, ein neuen industriellen Leit­sektor, ein neues Akkumulationsregime zu erschließen, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet würde, läuft das Weltsystem faktisch immer mehr auf Pump. Der Staat fungiert hierbei durch Gelddruckerei und deficit spending (Kreditaufnahme zur Finanzierung höherer Staatsausgaben) praktisch als letzte Instanz der Krisenverschleppung, nachdem sich spekulative Blasenökonomien (Dotcom-Blase, Immobilienblase, Liquiditätsblase) auf den heißgelaufenen Finanzmärkten weitgehend ­erschöpft haben.

Postkeynesianische Kriegswirtschaft

Das Kapital geht somit in der Warenproduktion seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit, verlustig. Sichtbar wird die aus dieser inneren Schranke des Kapitals resultierende Aporie der kapitalistischen anhand des öden, seit Jahren gepflegten Streits über die Prioritäten der Wirtschaftspolitik zwischen angebotsorientierten Neoliberalen und nachfrageorientierten Keynesianern. Es ist ­immer dieselbe Leier, abgespult in unzähligen Variationen: Der neolibe­ralen Warnung vor Überschuldung und Inflation aufgrund von Konjunktur­programmen halten die Keynesianer die Gefahr einer deflationären Abwärtsspirale, ausgelöst durch Sparprogramme, entgegen.

Amerikanisches Plakat ruft im Zweiten Weltkrieg zur Leihgabe privater Ferngläser an die US-Marine auf.

Beide Parteien haben dabei mit ihren Diagnosen recht, ein Dilemma, das nur durch die Finanzblasenökonomie des neoliberalen Zeitalters überdeckt worden war. Nun, da eine Stagflation, also hohe Inflation ohne wirtschaftliches Wachstum, droht, wird es offensichtlich, dass gerade die Geldpolitik der Notenbanken sich in einer Krisenfalle befindet. Sie müssten der Inflation wegen die Zinsen anheben und zugleich die Zinsen senken, um eine Rezession zu verhindern.

An der Stagflation der siebziger Jahre – zu der das spätkapitalistische Weltsystem auf einem viel höheren Niveau globaler Produktivität und Verschuldung quasi zurückkehrt – ist der Keynesianismus gescheitert. Nach dem Auslaufen des großen Nachkriegsbooms, der von dem fordistischen ­Akkumulationsregime getragen wurde, versagte das keynesianische deficit spending, das nur die Inflation befeuerte. Der Neoliberalismus konnte sich in den achtziger Jahren nur deswegen durchsetzen, weil der Keynesianismus krachend – mit zweistelligen Inflationsraten, häufigen Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit – gescheitert war. Wenn abgetakelte Keynesianer wie Heiner Flassbeck, ehemals Staatssekretär im Bundesfinanzministerium unter Oskar Lafontaine (damals SPD), behaupten, dass es nur die Energie- und Ölpreiskrise war, die damals wie ­heute den Krisen- und Inflationsschub auslöste, dann lügen sie sich selbst in die Tasche. Der Keynesianismus konnte trotz aller Konjunkturprogramme kein neues Akkumulationsregime aus dem Boden stampfen – und er wird es auch jetzt nicht schaffen, neue Märkte hervorzuzaubern, bei deren Erschließung massenhaft Lohnarbeit auf dem glo­balen Produktivitätsniveau verwertet werden könnte.

Der Neoliberalismus »löste« seinerzeit das Problem durch das spekulative Abheben der Finanzsphäre und die Finanzialisierung des Kapitalismus, durch Krisenverschleppung in Rahmen einer regelrechten Finanzblasenökonomie, die durch drei Dekaden hindurch dem Kapital eine Art Zombiedasein auf Pump ermöglichte. Das ist auch der fundamentale Unterschied zwischen der Stagflation der siebziger Jahre und der jetzigen Stagflationsphase. Das Ausmaß der Krise ist viel größer – und das lässt sich ganz einfach an der Höhe der Gesamtverschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung ablesen, die nach Angaben des Internationalen Währungsfonds von rund 110 Prozent zu Beginn des neoliberalen Zeitalters 1980 auf 256 Prozent im Jahr 2020 kletterte.

Dieses Verschuldungsniveau zu ­senken, ist nur um den Preis einer Rezession möglich – also längerfristig ­eigentlich gar nicht. Auf Rezessionen wiederum mit keynesianischen Konjunkturprogrammen zu reagieren, wäre auch ökologisch schlicht Wahnsinn. Die Rezessionsjahre 2009 und 2020 waren die einzigen im 21. Jahrhundert, in denen die CO2-Emissionen im Vergleich zum Vorjahr zurückgingen, doch die oben geschilderten Konjunkturpakete führten in den Folgejahren zu den höchsten relativen Emissionsanstiegen dieses Jahrhundert. Verelendung in der Rezession oder Klimatod? In ­dieser Alternative äußert sich die ökologische Aporie kapitalistischer Krisenpolitik.

Der Keynesianismus mit seinem drögen deficit spending und seiner Staatsgläubigkeit kann die sich zuspitzende innere und äußere Krise des ­Kapitals selbstverständlich nicht lösen, er kann aber den Übergang zu einem neuen Krisenmanagement einleiten. Der Rückbezug auf Keynes kann – gerade bei Funktionseliten, die des Öfteren »auf Sicht« agieren – ein brauchbares Startprogramm zu einer qualitativ neuen Form autoritärer Krisenverwaltung abgeben. Das haben ideologisch avancierte Postkeynesianerinnen, wie die Taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, längst begriffen. In ihrem jüngsten Buch über »Das Ende des Kapitalismus« koppelt sie eine weitgehend von der Wertkritik abgeschriebene Darstellung der äußeren Schranke des Kapitals mit einem Bekenntnis zur Kriegswirtschaft, inklusive Zwangsmaßnahmen und Rationierung. Darauf, auf autoritäre, postdemokratische Krisenverwaltung, exekutiert von erodierenden, mitunter offen verwildernden Staatsapparaten, läuft der Krisengang hinaus. Die Keynesianer sind die Claqueure dieser Dynamik.

Der Keynesianismus, der nur aufgrund der absurden Rechtsverschiebung der gesamten politischen Vorstellungswelt mittlerweile links der Sozialdemokratie zu verorten ist und überhaupt als links gilt, verkommt somit faktisch zur Ideologie im Wortsinn: zur Rechtfertigung der drohenden autori­tären staatskapitalistischen Krisenverwaltung, die das genaue Gegenteil der überlebensnotwendigen Emanzipation vom kollabierenden spätkapitalistischem Sachzwangregime wäre.

Erstveröffentlich in Jungle World, 19.01.2023

Link: https://jungle.world/artikel/2023/03/fahren-auf-sicht

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Die Armen zahlen für Reiche

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Januar 2023

Für ihre Superjachten zahlen Milliardäre keine CO2-Abgaben

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Quelle      :        INFO Sperber CH.

Von      :          Pascal Derungs /   

Die EU weitet den CO2-Emissionshandel aus, auch der Schiffsverkehr wird künftig einbezogen. Doch die Superreichen werden verschont.

Ein Mensch in Deutschland verursacht im Schnitt etwa elf Tonnen Treibhausgase pro Jahr, dieselbe Menge produziert eine Superjacht bereits nach einem Dutzend Fahrstunden. Im Jahr können es mehrere Tausend Tonnen CO2 werden. Dennoch sollen die Besitzer oder Mieter von Jachten nach NDR-Informationen weiterhin von einer Ausnahmeregel im CO2-Emissionshandel profitieren. Infosperber fasst im Folgenden die relevantesten Fakten und Erkenntnisse des NDR-Berichts zusammen.

Stossende Ungleichbehandlung im Emissionshandel

Seit 2005 müssen einige grosse Industriebetriebe Zertifikate für ihren Treibhausgas- Ausstoss kaufen, seit 2012 auch Luftfahrtunternehmen für innereuropäische Flüge. Nun wird die EU dieses System ausweiten. Auch der Strassenverkehr und Gebäude sollen erfasst werden, ebenso der Schiffsverkehr. Allerdings müssen ab 2024 nur für sehr grosse Passagier- und Frachtschiffe ab 5000 Bruttoregistertonnen CO2-Zertifikate erworben werden. Für «nicht-gewerbliche Betreiber oder reine Freizeitboote» gelte das nicht, unabhängig von der Grösse. Das teilte die EU-Kommission auf Anfrage des NDR mit. Davon profitieren selbst Milliardäre mit ihren riesigen Schiffen, wenn sie sie selber nutzen. Dabei sind die Emissionen gigantisch.

Superjachten sind wahre Treibhausgas-Schleudern

Das haben unter anderem die beiden US-Wissenschaftler Beatriz Barros und Richard Wilk untersucht. Sie haben die Emissionen von 20 Milliardären weltweit analysiert. «Unter den zahlreichen Besitztümern von Milliardären sind grosse Superjachten die mit Abstand grössten Verursacher von Treibhausgasen», schreiben Baros und Wilk. «Superreiche Jachtbesitzer verursachen an einem Sommertag mehr Umweltverschmutzung als die Mehrheit der Menschen in ihrem ganzen Leben, doch die Politiker lassen sie weiterhin ungeschoren davonkommen», kritisiert auch Jacob Armstrong von der Nichtregierungs-Organisation «Transport & Environment». Er hat analysiert, für welche Mengen an Treibhausgasen Jachten insgesamt verantwortlich sind. Demnach gibt es etwa 1500 grössere Jachten in Europa, die im Schnitt je etwa 725 Tonnen CO2 pro Jahr ausstossen. Sie würden weiter vom Emissionshandel ausgenommen bleiben, so Armstrong. Die EU-Kommission verweist darauf, dass grosse gewerbliche Charter-Jachten unter das EU-Emissionshandelssystem fallen, doch das dürften nur sehr wenige sein. In den Top-Listen der grössten Jachten der Welt finden sich vielleicht fünf Schiffe in dieser Grösse (ab 5000-Bruttoregistertonnen), die zum Chartern angeboten werden.

«Bürokratischer Aufwand zu gross»

Als Begründung dafür, warum die meisten Schiffe beim Emissionshandel aussen vor bleiben dürfen, heisst es von der EU, die grossen Fracht- und Passagierschiffe jenseits der 5000-Bruttoregistertonnen-Grenzen seien für 90 Prozent der Emissionen im Schiffsverkehr verantwortlich. Um kleinere Schiffe ebenfalls zu erfassen, sei der bürokratische Aufwand zu gross.

Laut NDR-Bericht hatte das Europäische Parlament vorgeschlagen, den CO2-Preis einfach auf den getankten Treibstoff aufzuschlagen, ähnlich wie es auch jetzt schon in Deutschland im Strassenverkehr geschieht. Aber das hätten die anderen Institutionen der EU, der Rat und die Kommission, wegen «zu grossem administrativem Aufwand» abgelehnt. Es sei offenbar das Ziel, Besitzern von kleineren Privatbooten, Fischern oder etwa Betreibern von Inselfähren keinerlei zusätzlichen Kosten aufzubürden.

Auch Privatjet-Besitzer bleiben verschont

Auch bei Privatjets werden Ausnahmeregeln weiter bestehen bleiben, besagt ein weiterer NDR-Bericht. Viele Betreiber bleiben unter den festgesetzten Schwellenwerten, ab der sie Emissionsrechte erwerben müssten. Wer privat oder für die eigene Firma einen Jet nutzt, darf bis zu tausend Tonnen CO2 kostenfrei ausstossen. Bei gewerblichen Betreibern, also etwa Charterfirmen, liegt die Grenze sogar bei Zehntausend Tonnen.

Verhöhnung des Verursacherprinzips

Einige reiche Menschen können sich also weiterhin extrem CO2-intensiv fortbewegen, ohne dafür zusätzliche Kosten zu bezahlen, wohingegen etwa der Strassenverkehr künftig europaweit in den Emissionshandel eingebunden sein wird. «Diese Ungleichbehandlung ist wirklich verblüffend und sehr unfair», sagt dazu Armstrong von der NGO «Transport & Environment».

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Oben      —      The port of Saint-Tropez (Var, France).

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Zwei Jahre Brexit :

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Januar 2023

 Das britische Eigentor

Ein schlaffer Sack – schlug den Takt

In ein Finanzcasino mit Ulrike Herrmann

Obwohl das Pfund an Wert verliert, hinkt der Export. Bürokratische Hürden lähmen den Handel zusätzlich. Auch sonst ist der Brexit eine Katastrophe.

Für viele Briten ist es ein herbes Erwachen: Der Brexit hat sie nicht reicher gemacht, sondern ärmer. Die Wirtschaftszahlen werden als geradezu demütigend empfunden, denn kein Land der G20 schneidet noch schlechter ab als Großbritannien – vom schwer sanktionierten Russland einmal abgesehen.

Zugleich ist das britische Pfund abgestürzt und hat gegenüber Dollar und Euro jeweils etwa 20 Prozent seines Werts verloren. Importe werden teurer, was wiederum die Inflation anheizt. Fast alle Länder haben mit einer Geldentwertung zu kämpfen, aber die Briten trifft es erneut besonders hart: Zuletzt lag die Inflationsrate bei 10,7 Prozent.

Die wirtschaftliche Schwäche wirkt sich auch auf die Steuern aus: Der britische Schatzkanzler nimmt pro Jahr 40 Milliarden Pfund weniger ein als ohne Brexit. Nun wird eisern gespart, obwohl das Land investieren müsste – ob in Infrastruktur oder in das Gesundheitssystem. Auch eher unerhebliche Details wurmen: So war es ein Politikum, dass die Londoner Polizei ihre neuen Panzerwagen nicht etwa bei einem britischen Hersteller kauft, sondern bei Audi.

Denn leider sei keine englische Firma „in der Lage, die Anforderungen der Ausschreibung zu erfüllen“. Dabei hatten viele Brexit-Fans davon geträumt, dass ihre heimische Industrie zu ganz neuer Größe erblühen würde. Der Brexit-Deal trat am 1. Januar 2021 in Kraft. Die vergangenen zwei Jahre waren auch deswegen bitter, weil die Briten erleben mussten, wie gering das internationale Interesse an ihrer Wirtschaft ist.

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Zollprobleme beim Handel mit der EU

Geplant war, nach dem Brexit ganz viele Freihandelsabkommen abzuschließen, die den Briten einzigartige Vorteile gewähren sollten. Doch faktisch gab es substanziell neue Abkommen nur mit Australien und Neuseeland, die aber keinerlei Bedeutung haben. Diese Verträge dürften die britische Wirtschaftsleistung langfristig um belanglose 0,1 und 0,03 Prozent steigern.

Der Brexit hat nur Nachteile beschert. Besonders deutlich wird dies bei den Exporten. Eigentlich müssten die britischen Ausfuhren steigen, weil das Pfund so stark gefallen ist und die britischen Waren damit auf den Weltmärkten deutlich billiger werden. Doch die Exporte kommen nicht in Gang – auch weil der Handel mit der EU durch den Brexit so schwierig geworden ist. Die EU war und ist der größte Handelspartner der Briten, was wenig erstaunlich ist.

Schließlich sind die Briten nur 34 Kilometer vom französischen Festland entfernt. Doch seit dem Brexit müssen die britischen Firmen einen Wust von Zollunterlagen ausfüllen, wenn sie ihre Güter nach Europa ausführen wollen. Vor allem Mittelständler sind überfordert. Sie geben entweder ganz auf oder gründen Tochterfirmen in der EU, um sich die Zollprobleme zu ersparen.

„Der Brexit ist für die Briten eine Kata­strophe“, urteilt Finanzexpertin Dorothea Schäfer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Sie hat den Brexit immer kritisch gesehen und ist dennoch „überrascht, dass es sogar noch schlimmer gekommen ist“.

Mehrheit bereut den Brexit

Auch in Großbritannien wächst die Einsicht, dass der Brexit ein Fehler war. In jüngsten Erhebungen sagen nun 51 Prozent der Befragten, dass es falsch war, die EU zu verlassen, während nur 34 Prozent diese Entscheidung noch richtig finden. Politische Folgen hat dieser Sinneswandel aber bisher nicht. Die oppositionelle Labour Party meidet das Thema Brexit lieber, um keine WählerInnen zu vergraulen – und die regierenden ­Tories haben sich auf einen rhetorischen Schlingerkurs begeben.

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So soll Premierminister Rishi Sunak kürzlich darüber nachgedacht haben, das „Schweizer Modell“ zu übernehmen. Bekanntlich ist die Schweiz nicht in der EU, darf aber am Binnenmarkt teilnehmen, ohne nennenswert in die EU-Kassen einzuzahlen. Für die Briten wäre ein ähnlicher Deal perfekt: Sie könnten weiterhin jene 6,8 Milliarden Euro sparen, die sie früher netto an die EU abgeführt haben – und hätten gleichzeitig ihre Exportprobleme gelöst.

Allerdings musste Sunak seinen Vorstoß schnell wieder aufgeben, denn die Tory-Basis zog nicht mit. Einen Nachteil hat das Schweizer-Modell nämlich, jedenfalls aus der Sicht von Brexit-Fans: Sie müssten wieder viele EU-Vorschriften übernehmen, denn der Binnenmarkt kann nur funktionieren, wenn sich alle Teilnehmer an die gleichen Regeln halten. Die Schweiz ist daher ständig damit beschäftigt, ihre Gesetze an die europäischen Entscheidungen anzupassen. Das wollen viele Briten nicht.

Umgekehrt hat auch die EU wissen lassen, dass sie das Schweizer Modell nicht erneut auflegen will. Für Schäfer ist dies nur konsequent: Die EU könne den Zugang zum Binnenmarkt „nicht verramschen“, weil dann weitere Länder austreten würden, um Mitgliedsbeiträge zu sparen. „Das wäre der Spaltpilz.“

Fatale Folgen für Finanzsektor

Quelle        :            TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben       —     Außenminister Boris Johnson spricht im Chatham House in London, 2. Dezember 2016. Lesen Sie mehr

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Japan in der Krise :

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Januar 2023

Mehr Alkoholismus wagen!

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Nach Jahrzehnten der Stagnation stemmt sich die Notenbank der überschuldeten Industrienation trotz anziehender Inflation verzweifelt gegen die geldpolitische Wende (Dritter Teil einer Serie zum derzeitigen Krisenschub).

Und täglich grüßt das keynesianische Murmeltier: Auf umgerechnet 200 Milliarden Dollar beläuft sich das Konjunkturpaket, das die japanische Regierung unter Premier Fumio Kishida im vergangenen Oktober verabschiedete, um die sozialen Folgen der konjunkturellen Misere und der anziehenden Inflation zu mildern. Das Maßnahmenpaket umfasst vor allem Energiesubventionen, mit denen die Teuerungsrate, die zuletzt – für westeuropäische Verhältnisse moderate – 3,6 Prozent erreichte,1 um rund 1,2 Prozentpunkte verringert werden soll. Das Konjunkturprogramm werde das Bruttoinlandsprodukt Japans um 4,6 Prozent wachsen lassen, hoffte der Regierungschef anlässlich dessen Verabschiedung bei einer Pressekonferenz in Tokio.2

Insofern scheint sich in der exportorientierten Industrienation, die jahrzehntelang, ähnlich der Bundesrepublik, Exportüberschüsse aufwies,3 nicht viel geändert zu haben. In den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts galt Japan im Westen, ähnlich dem heutigen China, gar als eine aufsteigende Wirtschaftsnation, die mit ihrer Exportindustrie und ihren Auslandsinvestitionen zur dominanten Großmacht aufsteigen würde. Auf den exportfixierten Industrieboom der 70er und 80er folgte eine Phase des finanzmarktgetriebenen Wachstums in den späten 80ern und frühen 90ern, in dem Japan gigantische Spekulationsblasen auf dem Immobilien- und Aktienmarkt ausbildete.4

Nach dem Platzen dieser Blasen verfestigte sich in Nippon eine lang anhaltende konjunkturelle Stagnation mit deflationären Tendenzen.5 Die Wirtschaft wuchs kaum noch, während die Preise eher im Fallen begriffen waren, was die Binnennachfrage wegen der in Deflationen üblichen Zurückhaltung der Konsumenten abwürgte. Zugleich stagnierte das reale Lohnniveau in Japan, um die Lohnstückkosten in der Exportnation niedrig zu halten. Es war somit eine typische deflationäre Abwärtsspirale, bei der Konjunkturmisere, sinkende Preise und zurückgehende Nachfrage in Wechselwirkung treten, gegen die Japans Wirtschaftspolitik seit Jahrzehnten ankämpfte.6 Und Tokio tat dies durch unzählige keynesianische Konjunkturprogramme, mit denen die Wirtschaft belebt werden sollte.

Seit den 90er-Jahren haben japanische Regierungen mit massiven Investitionsprogrammen immer wieder die Wirtschaft zu beleben versucht, wobei die kurzen konjunkturellen Strohfeuer es nicht vermochten, die langfristige Tendenz zur Stagnation und Deflation zu beenden.7 Der Inselstaat wurde mit immer neuen Infrastrukturprojekten überzogen, mit Autobahnen, Brücken und sonstigen Großprojekten, um an die Boomperiode der japanischen Wirtschaft wieder anzuschließen.8 In der Tendenz nahm die Wirksamkeit dieser Konjunkturprogramme immer weiter ab, während die Industrienation in der Malaise der „verlorenen Jahrzehnte“ versank:9 Das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum betrug zwischen 1991 und 2010 kaum mehr als ein Prozent, während die Löhne im Schnitt um fünf Prozent zurückgingen.

Diese japanische Misere aus Stagnation und Deflation trat ab 2008 mit den globalen Krisentendenzen in Wechselwirkung. Die Weltfinanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und 2009, ausgelöst durch das Platzen der Immobilienblasen in den USA und Europa, führte zu einem massiven Wirtschaftseinbruch in der Exportnation Japan,10 der durch ein entsprechendes Konjunkturprogramm im Umfang von umgerechnet 154 Milliarden Dollar abgefangen werden musste.11

Geht es noch größer? Nach den gigantischen keynesianischen Pyramidenprojekten in der letzten Dekade des 20. und dem Krisenkeynesianismus im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war es die Regierung von Ministerpräsident Shinzo Abe, die ab 2013 mittels einer Mischung aus Konjunkturprogrammen und neoliberalen „Strukturreformen“, wie der Erhöhung der Mehrwertsteuer, die deflationäre japanische Wirtschaft auf einen soliden Wachstumskurs führen wollte. Rund 224 Milliarden Dollar investierte Tokio damals, um das Land aus der Stagnation zu führen – mit flüchtigem, bescheidenem Erfolg. Zugleich ging die japanische Notenbank unter Abe dazu über, ihre Aufkaufprogramme für Anleihen massiv auszuweiten.12

Doch all diese Konjunkturspritzen, die den anhaltenden Burnout der japanischen Arbeitsgesellschaft überwinden sollten, verblassen gegenüber dem Programm, das Tokio 2021 in Reaktion auf die Pandemie auflegte: Rund 490 Milliarden Dollar betrugen die Maßnahmen, mit denen die Folgen des Lockdowns und der Zerrüttung der globalen Lieferketten in der hochgradig international vernetzten japanischen Volkswirtschaft abgefedert werden sollten.13 Schon ein Jahr später legte Premier Fumio Kishida das eingangs erwähnte Konjunkturpaket im Umfang von 200 Milliarden Dollar auf, was auf den sinkenden konjunkturellen Effekt der im Umfang wachsenden Konjunkturpakete in einer kriselnden spätkapitalistischen Wirtschaft verweist. Immer größere Beträge müssen zwecks Stabilisierung in immer kürzeren Abständen in Nippon „verbrannt“ werden, um die stotternde Verwertungsmaschine des Kapitals am Laufen zu halten.

Und es zeichnet sich eine ganze Reihe von Faktoren ab, die darauf hindeuten, dass diese dekadenlange Praxis, mittels immer größerer Konjunkturpakete die Wirtschaft zu stützen, kaum noch aufrecht erhalten werden kann. Ein Umschlag in eine neue Krisenqualität scheint in Nippon möglich. Das Ende der keynesianischen Fahnenstange scheint in Japan erreicht, wie es nicht zuletzt die zunehmende Inflation14 samt der schwindsüchtigen japanischen Währung15 nahelegen. Die große Zinswende der Geldpolitik, die in den USA und der EU vor rund einem Jahr eingeleitet worden ist, bringt das auf Rohstoffimporte hochgradig angewiesene Japan immer stärker unter Druck, da Nippon als einzige große Wirtschaftsnation im Zentrum des Weltsystems sich dieser Zinswende verweigert und an einer lockeren, expansiven Geldpolitik festhält.

Nippons Vabanque

Da die Zinsen im Dollar- und Euroraum steigen, fließt Kapital aus dem Yen ab, was zur Abwertung der japanischen Währung führt – vor allem gegenüber der Weltleitwährung Dollar. Damit importiert aber Japan zugleich Inflation. Importe von Rohstoffen und Energieträgern, die im Greenback abgerechnet werden, werden folglich in Japan immer teurer, was der seit Jahrzehnten im „deflationären“ Japan unbekannten Inflation Auftrieb verschafft. Der Wertverlust der japanischen Währung ist dramatisch: Anfang 2020 kostete der Dollar etwas mehr als 100 Yen, während es im Oktober 2022 schon knapp 150 Yen waren. Nach einer massiven Intervention der japanischen Notenbank im Oktober, bei der die Rekordsumme von 42,8 Milliarden Dollar verfeuert wurde,16 konnte der Yen bei rund 135 Dollar stabilisiert werden. Insgesamt soll die japanische Notenbank seit der Zinswende in den USA und der EU schon 62 Milliarden Dollar zur Stützung des Yen verwendet haben.17 Die Währungsreserven Tokios sind aber mit rund 1,2 Billionen Dollar immer noch ausreichend, um den Yen auch mittelfristig stützen zu können.18

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Diese Währungsabwertung spiegelt sich auch in der japanischen Handelsbilanz wider, da die einstmalige Exportwirtschaft, die seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts über drei Dekaden Ausfuhrüberschüsse verzeichnete, nun immer neue Rekorddefizite einfährt. Zwischen 1981 und 2010 konnte Japans Exportwirtschaft zuverlässig einen Handelsüberschuss Nippons von einem bis zwei Prozentpunkten generieren, was erst im Gefolge des Krisenschubs von 2008/2009 ein Ende fand.19 2012 verzeichnete Japan ein Rekorddefizit von umgerechnet 78 Milliarden Dollar, nachdem krisenbedingt die japanischen Exporte eingebrochen waren und die Nuklearkatastrophe von Fukushima den durch Importe gedeckten fossilen Energiebedarf der japanischen Wirtschaft ansteigen ließ.20 Nach einer kurzen Stabilisierung der Handelsbilanz ab 2015, die bis 2021 mehr oder weniger ausgeglichen war, scheint es nun abermals steil abwärtszugehen: Im November 2022 wurde ein Negativrekord erreicht, als das Defizit auf rund 13 Milliarden Dollar anschwoll – doppelt so hoch wie im Vorjahresmonat.

Die Zinserhöhungen insbesondere durch die Fed, der die EZB folgte, nötigen somit fast alle kapitalistischen Zentrumsländer dazu, sich dieser Zinswende anzuschließen, um Währungsabwertungen und anschließenden Inflationsimport zu minimieren. Die japanische Notenbank legitimiert ihr Festhalten an der Nullzinspolitik mit der miserablen Konjunkturentwicklung in Japan,21 da Nippos Wirtschaftsleistung im dritten Quartal 2022 um 0,8 Prozent schrumpfte.22 Angetrieben wurde diese Konjunkturmisere vor allem von der Industrieproduktion, die zur Jahresmitte besonders stark zurückging.23 Noch Mitte 2022 hoffte Tokio, dass Japans Wirtschaft angesichts der gigantischen Konjunkturprogramme im laufenden Fiskaljahr ein Wachstum von zwei Prozent erreichen würde.24 Für das kommende, im April beginnende Fiskaljahr wird ein Wachstum des BIP von 1,5 Prozent prognostiziert – während die Wachstumsprognose für das laufende Fiskaljahr 2022 auf 1,7 Prozent reduziert wurde.25

Damit wird auch die strukturelle Erschöpfung der besagten keynesianischen Konjunkturpolitik in Japan evident: rund ein Jahr nach der Verabschiedung eines 490 Milliarden Dollar umfassenden Konjunkturpakets droht Japan abermals in eine Rezession abzudriften, was die eingangs erwähnte, abermalige Konjunkturspritze von 200 Milliarden erforderlich mache. Zugleich wird offensichtlich, dass die positiven Effekte von Währungsabwertungen, die im Zeitalter der neoliberalen Globalisierung exportorientierten Ökonomien wie der BRD massive Vorteile verschaffen konnten, längst von den negativen Effekten, den steigenden Rohstoff- und Energiepreisen, überlagert werden. Die Abwertungswettläufe des neoliberalen Zeitalters, bei dem Nationalstaaten durch Währungsabwertungen sich Exportvorteile zu verschaffen versuchten, sind in der neuen Krisenphase26 in Aufwertungswettläufe übergegangen, bei denen die Inflation auf die Konkurrenten abgewälzt werden soll.27

Nur Japans Notenbank stemmt sich gegen den globalen Trend, gegen die Zinswende. Die Financial Times (FT) beschrieb in einem Hintergrundbericht das riskante Vabanque-Spiel, das die japanische Krisenpolitik spielt, um das stagnierende Land durch den aktuellen Krisenschub zu bringen.28 Es ist eine Art volkswirtschaftlicher Spekulation, ein Vabanquespiel, bei dem Japans Funktionseliten auf einen sehr spezifischen Krisenverlauf spekulieren, um größere sozioökonomische Verwerfungen zu vermeiden. Die Aufkäufe von Staatsanleihen durch die Japanische Notenbank, die inzwischen Staatsschulden im Nennwert von umgerechnet 3,6 Billionen Dollar akkumuliert hat, die Konjunkturprogramme Tokios, die Stützungsmaßnahmen der Notenbank für den Yen, die Japans Devisenreserven schrumpfen lassen – diese Krisenmaßnahmen kämen faktisch einem „Kampf gegen die globalen Marktkräfte“ gleich, so die FT.

Und die Bank of Japan setze alles auf eine Strategie, bei der ein „Royal Flush nationaler und internationaler Entwicklungen“ es Nippon erlauben solle, die konjunkturbelebende, expansive Geldpolitik beizubehalten und die Phase einer Hochzinspolitik zu umschiffen. Die Financial Times nennt in diesem Zusammenhang unter anderem einen Anstieg des Lohnniveaus in Japan, eine Stabilisierung des schwindsüchtigen Yen, eine „weiche“, kurzfristige Rezession in den Vereinigten Staaten und ein baldiges Ende der monetären Straffung in den USA, die derzeit den geldpolitischen Aufwertungsdruck global ansteigen lässt. Mit anderen Worten: Tokio spekuliert auf ein baldiges Ende des gegenwärtigen Krisenschubs.

Japans Schuldenberge

Sollte diese Spekulation nicht aufgehen, dann scheint ein geordneter Kurswechsel zur restriktiven Geldpolitik, der ohne schwere ökonomische Erschütterungen vollzogen würde, kaum noch machbar. Wie tief sich die Bank of Japan in ihrer expansiven geldpolitischen Strategie festgerannt hat, machten Bemerkungen von Analysten in der Financial Times deutlich, wonach es kaum noch einen normalen Markt für japanische Staatsanleihen gebe. Demnach sei die Notenbank Nippons dabei, in ihrem Bemühen, die Zinsen für japanische Staatsanleihen niedrig zu halten, die „volle Eigentümerschaft“ über den Markt zu übernehmen, der „bereits beschädigt“ sei und perspektivisch „aufhören wird, zu existieren“. Im Klartext: Die Bank of Japan kauft massiv japanische Staatsschulden auf, um die Zinslast für den japanischen Staatshaushalt aufrecht zu erhalten. Inzwischen hält der japanische Staat vermittels seiner Notenbank rund 45 Prozent der japanischen Staatsschulden.29

Es gibt nämlich einen weiteren Faktor, der Japans Geldpolitiker von einer Hochzinspolitik abhält: es sind die in absurde Dimensionen getriebenen japanischen Schuldentürme. Und die Bedienung dieser Schuldenberge muss möglichst „günstig“ vonstattengehen, soll das traditionelle Haushaltsdefizit Tokios nicht vollends entgleisen.30 Die schier endlose Abfolge von Konjunkturprogrammen, die Nippons Politiker seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts zwecks Konjunkturbelebung auflegten, hat die Staatsschulden Nippons immer weiter anwachsen lassen. Inzwischen beläuft sich Japans Staatsverschuldung auf mehr als 230 Prozent der Wirtschaftsleistung dieser Wirtschaftsnation, die seit Jahrzehnten Teil des Zentrums des Weltsystems ist.31 Zum Vergleich: Italien, der überschuldete potenzielle Krisenkandidat der Eurozone, weist eine Staatsschuldenlast von rund 150 Prozent des BIP auf. Selbst das vom ehemaligen deutschen Finanzminister Schäuble während der Eurokrise in den Ruin gesparte Griechenland wies 2021 mit 199 Prozent eine niedrigere Schuldenquote auf.

Die keynesianische Idee, durch Konjunkturprogramme aus der kapitalistischen Systemkrise32 zu „wachsen“, hat sich in Japan historisch gründlich blamiert, da die durch das „deficit spending“ akkumulierte Schuldenlast schneller anstieg als das BIP. Im Jahr 1995, am Beginn der großen Stagnationsphase, betrug die öffentliche Verschuldung in Japan gerade mal 55 Prozent der Wirtschaftsleistung. 2013, am Beginn der Periode der „Abenomics“, als Premier Shinzo Abe expansive Geldpolitik, Konjunkturprogramme mit Reformen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Japans koppelte, betrug die Staatsschuld Japans schon 196 Prozent des BIP – vier Jahre später, als Hoffnungen laut wurde, dass Nippon nun sein Verschuldungsniveau zumindest stabilisieren könnte, waren es sogar 213 Prozent.33 Tatsächlich konnte in den folgenden Jahre die Schuldenlast etwas gemindert werden: 2018 betrug sie 191 Prozent des BIP. Es folgte die Pandemie, die abermals einen massiven Anstieg der Staatsschuld mit sich brachte.

Es stellt sich somit die Frage, wie solch ein gigantischer öffentlicher Schuldenberg, der im gesamten spätkapitalistischen Weltsystem seinesgleichen sucht, überhaupt akkumuliert werden konnte. Zum einen sind die Schulden Japans vor allem japanische Schulden – der Anteil ausländischer Investoren ist traditionell sehr gering, er beträgt derzeit knapp 15 Prozent.34 Damit wird Nippons Schuldenturm stabilisiert, da in Krisenphasen keine massiven Kapitalabflüsse aus dem Anleihemarkt ins Ausland drohen. Zudem wies Japan – wie erwähnt – jahrzehntelang Handelsüberschüsse auf, was die volkswirtschaftliche Finanzierung dieses Defizits im Staatshaushalt ermöglichte. Doch genau dies ist, wie dargelegt, nicht mehr gegeben, da Nippon nach der Krisenphase von 2008/09 nie mehr eine längere Phase hoher Handelsüberschüsse erreichen konnte – in diesem Jahr droht sogar ein besonders hohes Handelsdefizit.35

In Japans Regierungsviertel würden längst die Turbulenzen auf dem Anleihemarkt Großbritanniens studiert, um eine ähnliche Eskalation zu vermeiden, meldete die FT. Und tatsächlich scheinen sich Japan und Großbritannien36 als die beiden Länder im Zentrum des kapitalistischen Weltsystems abzuzeichnen, die am anfälligsten für eine abermalige Kriseneskalation sind, die eine Finanzkrise – ähnlich den Schockwellen im Gefolge der Pleite von Lehman Brothers – im Weltfinanzsektor auslösen könnte. Wenn die japanische Notenbank ebenfalls auf dem Anleihemarkt mittels verstärkter Anleiheaufkäufe intervenieren müsste, wie die Bank of England im vergangenen Oktober,37 dann „wäre die Dimension der Intervention viel, viel größer – mit einem viel höheren Risiko einer globalen Ansteckung“, warnte die FT.38

Keynesianische Krisensackgasse konkret: Saufen für den Standort!

In einem spätkapitalistischen Weltsystem, das an seiner in blinder Konkurrenz immer höher getriebenen Produktivität erstickt, die nicht mehr in Warenform gepresst werden kann, können fehlende neue Verwertungsfelder nicht in alle Ewigkeit durch Schuldenmacherei ersetzt werden.39 Irgendwann stürzen diese Schuldentürme ein, was inzwischen ganz konkret selbst in Zentrumsländern des Weltsystems, in Japan oder Großbritannien, möglich scheint. Somit manifestiert sich die Sackgasse spätkapitalistischer Krisenpolitik, die sowohl in ihrer neoliberalen wie in der keynesianische Variante in der Krisenfalle eines regelrechten Verschuldungszwangs gefangen ist,40 geradezu mustergültig anhand der zwei klassischen Musterländer der jeweiligen ökonomischen Ideologie: in Großbritannien als dem Heimatland des Neoliberalismus, wie in Japan mit seinen unzähligen Konjunkturprogrammen und keynesianischen Pyramidenprojekten.

„Sake“ Werbung in Japan

http://scharf-links.de/?id=Die ewigen Bemühungen einer „nachfrageorientierten“ Krisenpolitik nehmen im Land der Aufgehenden Sonne vor allem nach Sonnenuntergang inzwischen tragikomische Züge an. „Sake Viva“, so lautet ein von der japanischen Regierung gefördertes Werbeprogramm, das den Konsum von Alkohol – Sake – anregen soll. Das Problem: 2011 betrug der Anteil der Alkoholsteuer am Gesamtsteueraufkommen Japans noch drei Prozent, doch 2020 ist er auf zwei Prozent gefallen. Angesichts der hohen alljährlichen Haushaltsdefizite Tokios ein schwerer Schlag für die Staatskasse. So sei der jährliche durchschnittliche Alkoholkonsum von 100 Litern 1995 auf nur noch 75 Liter 2020 gefallen, wobei die Überalterung der japanischen Gesellschaft den Absatz von Alkoholika zurückgehen lasse. Und schließlich sei auch die Jugend geistigen Getränken nicht mehr so zugeneigt wie die ältere Generation. Junge Japaner würden weniger schwer und „immer öfter überhaupt nicht trinken“, meldete die Financial Times.41 Aus Sorge um die Konjunktur und den Staatshaushalt ziele die Alkoholkampagne der Regierung somit vor allem darauf ab, den Konsum der Droge vor allem in der Generation der 20- bis 39-Jährigen zu popularisieren.

Erstveröffentlicht in Konkret 12/22

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https://www.patreon.com/user?u=57464083

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1 https://sumikai.com/nachrichten-aus-japan/wirtschaft/verbraucherpreise-in-japan-steigen-so-schnell-wie-seit-40-jahren-nicht-mehr-323601/

2 https://www.ft.com/content/eed2bb55-e769-4a0f-b2f1-0141698ae3f3

3 https://www.macrotrends.net/countries/JPN/japan/trade-balance-deficit

4 https://en.wikipedia.org/wiki/Japanese_asset_price_bubble

5 https://www.macrotrends.net/countries/JPN/japan/gdp-growth-rate

6 https://de.wikipedia.org/wiki/Deflationsspirale

7 https://www.intereconomics.eu/contents/year/2019/number/5/article/japanese-economy-two-lost-decades-and-how-many-more.html

8 https://en.wikipedia.org/wiki/Japanese_economic_miracle

9 https://en.wikipedia.org/wiki/Lost_Decades

10 https://www.jcer.or.jp/english/why-was-japan-struck-so-hard-by-the-2008-crisis

11 https://www.nytimes.com/2009/04/09/business/global/09yen.html

12 https://www.cmegroup.com/education/featured-reports/abenomics-a-work-in-progress-after-five-years.html

13 https://www.nytimes.com/2021/11/19/world/asia/japan-stimulus.html

14 https://sumikai.com/nachrichten-aus-japan/wirtschaft/verbraucherpreise-in-japan-steigen-so-schnell-wie-seit-40-jahren-nicht-mehr-323601/

15 https://sumikai.com/nachrichten-aus-japan/politik/abwertung-des-yen-wird-gefaehrlich-fuer-die-japanische-wirtschaft-322344/

16 https://www.reuters.com/markets/asia/japan-likely-spent-record-amount-october-prop-up-yen-2022-10-31/

17 https://www.ft.com/content/f9aca1c2-50c6-4040-8322-6ddfacda6cd6

18 https://www.ft.com/content/d1f06836-4c0b-45c7-bee4-be29c882b95a

19 https://www.macrotrends.net/countries/JPN/japan/trade-balance-deficit

20 https://www.nytimes.com/2013/01/24/business/global/japan-reports-a-78-billion-trade-deficit-for-2012.htmll

21 https://sumikai.com/nachrichten-aus-japan/politik/abwertung-des-yen-wird-gefaehrlich-fuer-die-japanische-wirtschaft-322344/

22 https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/japans-wirtschaft-ist-im-sommer-weniger-geschrumpft-als-erwartet-11974562

23 https://sumikai.com/nachrichten-aus-japan/wirtschaft/japans-wirtschaft-steht-immer-mehr-unter-druck-310691/

24 https://www.japantimes.co.jp/news/2022/07/26/business/economic-growth-slowing-overseas-demand/

25 https://www.reuters.com/markets/asia/japan-govt-revises-up-fiscal-2023-growth-forecast-higher-capex-wages-2022-12-22/

26 https://www.konicz.info/2022/05/24/eine-neue-krisenqualitaet/

27 https://www.konicz.info/2022/07/22/schuldenberge-in-bewegung/

28 https://www.ft.com/content/f9aca1c2-50c6-4040-8322-6ddfacda6cd6

29 https://www.ft.com/content/f9aca1c2-50c6-4040-8322-6ddfacda6cd6

30 https://tradingeconomics.com/japan/government-budget

31 https://www.ceicdata.com/en/indicator/japan/government-debt–of-nominal-gdp

32 https://www.exploring-economics.org/en/study/books/kapitalkollaps/

33 https://www.cmegroup.com/education/featured-reports/abenomics-a-work-in-progress-after-five-years.html

34 https://www.ft.com/content/f9aca1c2-50c6-4040-8322-6ddfacda6cd6

35 https://asia.nikkei.com/Economy/Inflation/Japan-logs-record-73bn-trade-deficit-in-1st-half-of-fiscal-2022

36 https://www.konicz.info/2022/12/16/grossbritannien-the-first-to-fall/

37 https://www.konicz.info/2022/12/16/grossbritannien-the-first-to-fall/

38 https://www.ft.com/content/f9aca1c2-50c6-4040-8322-6ddfacda6cd6

39 https://oxiblog.de/die-mythen-der-krise/

40 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

41 https://www.ft.com/content/d660b8f9-7ef9-4b94-9cb4-fa20f7a9f725#comments-anchor

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Oben      —   Bild von Gerhard SchröderEhemalig Deutsch Kanzlerin (links) toastet mit Vicente FoxMexikanisch Der Präsident, AT Los PinosMexiko-Stadt.

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Duell der Pleitebanker

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Dezember 2022

Wirecard-Betrug vor Gericht

Von den ehemaligen politischen Zuhälter-innen hört niemand mehr etwas ?

Von Patrick Guyton

Enorme kriminelle Energie, Hybris und Gier der Aktionäre: In München wird im Prozess um Wirecard der größte Betrugsfall der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte verhandelt. Nun hat der Kronzeuge ausgesagt.

Schnell, leise und ohne Emotionen liest der Mann seine Erklärung ab. So habe er sich das vorgenommen. Auf den Zuschauerplätzen in dem Münchner Gerichtssaal versteht man mitunter nur Satzfetzen: „… ein System des organisierten Betrugs“, „von Anfang an ein Schwindel“, „ein Krebsgeschwür“. Der Vorsitzende Richter der Wirtschaftsstrafkammer am Landgericht München, Markus Födisch, bittet den Vortragenden, langsamer und deutlicher zu sprechen. „Wir brauchen nicht hetzen, der Prozess endet nicht in einigen Stunden.“ Eine starke Untertreibung.

Der drahtige Mann, der da am Montag vor Gericht aussagt, heißt Oliver Bellenhaus. Er hat einen fast kahl rasierten Kopf, trägt ein weißes Hemd, einen dunklen Anzug und Krawatte. Bellenhaus ist Kronzeuge in einem Mammutprozess.

Es ist der dritte Tag in dem Verfahren gegen drei Ex-Manager der Pleitefirma Wirecard, einst ein hochgejubeltes Star-Unternehmen am Tech-Himmel. Ende Juni 2020 fehlten dann in den Büchern ausgewiesene 1,9 Milliarden Euro. Wie ein Kartenhaus stürzte Wirecard ein. In München sind bislang noch 95 Verhandlungstage angesetzt bis zu Beginn des Jahres 2024, weitere könnten folgen. Der prominenteste Name in dem Kriminalfall: Jan Marsalek, einst Vorstandsmitglied bei Wirecard und bis heute auf der Flucht.

Staatsanwaltschaft sieht kriminelle Bande am Werk

Angeklagt sind in München nun zunächst die drei früheren Köpfe des Unternehmens. Der Vorwurf: bandenmäßiger Betrugs, Veruntreuung, Fälschung von Geschäftsberichten. Die Staatsanwaltschaft sieht die drei Männer als „kriminelle Bande“, von einem „internen Bankraub“ ist immer wieder die Rede. Ziel sei es gewesen, Unternehmensaktivitäten zu fingieren oder drastisch aufzublasen, den Aktienkurs zu halten, das eigene Gehalt und die Boni zu sichern und Firmengeld zu unterschlagen.

An diesem Montag ist Oliver Bellenhaus der erste aus dem Trio der Angeklagten, der sich selbst äußert und nicht nur Anwälte sprechen lässt. 94 Seiten lang ist seine Aussage, es werden weitere 115 Seiten folgen, in denen er auf die zahlreichen Vorwürfe des Strafverteidigers Alfred Dierlamm eingeht. Dieser verteidigt einen der beiden anderen Angeklagten, nämlich Markus Braun, einst CEO, also Wirecard-Vorstandsvorsitzender.

Das Setting dieses komplizierten Falles, der als größter Wirtschaftsbetrug in der Geschichte der Bundesrepublik angesehen wird: Angeklagt ist da zum einen der heute 53-jährige Markus Braun, der ehemalige Wirecard-Chef. Braun behauptet, von dem Milliardenbetrug nichts bemerkt zu haben, dieser sei hinter seinem Rücken durch die anderen erfolgt und er sei selbst ein Opfer.

Ebenfalls vor Gericht steht der 49-jährige Oliver Bellenhaus. Er war einst Leiter des Firmenablegers in Dubai und ist nun geständig. Als Kronzeuge der Anklage könnte er womöglich eine reduzierte Strafe bekommen. Bellenhaus belastet seinen einstigen Chef Braun als Kopf der Bande. „Braun war der Kern, auf den sich alles ausgerichtet hat“, sagt er am Montag. Er sei ein „absolutistischer CEO“ gewesen.

Wirecards Ex-CEO Markus Braun wird als Nerd beschrieben, der nur das Nötigste kommunizierte. Apple-Gründer Steve Jobs soll sein Vorbild gewesen sein

Braun und Bellenhaus – das sind in dem Verfahren die großen Antagonisten. Sie widersprechen sich gegenseitig und zeigen jeweils auf den anderen. Einer sagt die Wahrheit, einer lügt.

Eher einen Statistenplatz im Gerichtssaal nimmt zumindest bislang der Dritte im Bunde ein: Stephan von E. Der 47-Jährige ist ebenfalls angeklagt, einst Chef-Finanzbuchhalter bei Wire­card, an dem eigentlich keine Zahlung, keine Geldschieberei hätte vorbeilaufen sollen. Er schlägt sich laut dem Eröffnungsstatement seiner Anwältin tendenziell auf die Seite Brauns – hat nichts gesehen, nichts gehört, nichts gewusst.

Im Gerichtssaal sitzt normalerweise Bellenhaus seinem einstigen Chef Braun im Nacken, eineinhalb Meter hinter ihm. Am Montag ist es andersherum, Bellenhaus ist nach vorne platziert, weil er in eigener Sache vorträgt.

Kronzeuge Bellenhaus spricht von Fake-Geschäften

Zu Beginn sagt er, dass er das Geschehene „zutiefst bereut“ und einen „immensen Schaden“ angerichtet habe. Es geht um den mutmaßlichen Betrug in Höhe von 3,1 Milliarden Euro, Aktionäre haben 20 Milliarden Euro verloren. Bellenhaus bestätigt im Wesentlichen die Anklage. Er spricht von einem „koordinierten Vorgehen“ der Beteiligten. Vor allem die Geschäfte in Asien habe es in Wirklichkeit nicht gegeben. Immer wieder habe Wirecard Kredite aufgenommen, um sie als Umsatz und Gewinn in die Bilanz einfließen zu lassen. „Man musste Händler erfinden“, sagt Bellenhaus. „Von mir erstellte Abrechnungen dienten ausschließlich dazu, den Umsatz zu erhöhen.“ Wirtschaftsprüfern habe man vollkommen falsche Rahmenbedingungen vermittelt.

Wirecard wurde als digitaler Zahlungsentwickler bezeichnet. Im Prozess ist viel die Rede vom „TPA-Geschäft“, in der Anklage werden Millionen- und Milliarden-Euro-Summen nur so herumgewirbelt, die Namen Dutzender Partner-, Neben- oder Scheinfirmen akribisch aufgelistet. Wer keine Fachfrau und kein Fachmann ist, kann da nur schwer folgen. Doch genau das ist auch Ausdruck dessen, was hier verhandelt wird: eine Start-up-Schaumschlägerei. Mit Insiderbegriffen ließ sich die Aura des Kennertums der neuen digitalen Welt verströmen. Aber außer dem guten Sound stand bei Wirecard nicht viel dahinter.

Im Jahr 1999 wurde Wirecard gegründet, 2000 erhielt der Unternehmensberater Markus Braun den Posten als „Chief Technology Officer“. Der Betrieb stolperte in eine Pleite, mit neuen Geldgebern ging dann die Fahrt ab 2007 vom Stammsitz in Aschau bei München so richtig los. In Singapur wurde ein Ableger gegründet, die Firma expandierte nach Australien, Südafrika und in andere Länder.

Guttenberg, Diekmann und Merkel setzten sich ein

Der CSU-Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg, der über seine gefälschte Doktorarbeit gestürzt war, wurde zum Lobbyisten, ebenso Kai Diekmann, ehemals Chef der Bild-Zeitung. Auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) setzte sich in China für Wirecard ein. Der Ritterschlag erfolgte 2018, als Wirecard in den DAX aufgenommen wurde, den Index der damals 30 größten Aktienunternehmen. Dafür flog die Commerzbank raus.

Eine verheißungsvolle Geschichte wurde da erzählt und gern geglaubt, auch von Aktienkäufern: neue Technologie, Made in Germany. Von der deutschen Antwort auf das Silicon Valley war die Rede. Für den wachsenden Onlinehandel lieferte Wirecard Technik und Know-how, um die Lücke zwischen Kunde und Verkäufer zu schließen – um das Geld sicher von der Bank des einen zur Bank des anderen zu bringen. Angefangen hatte das mit Porno- und Glücksspielangeboten im Internet.

Die TPA-Geschäfte stehen für „Third Party Acquiring“, also Drittpartnergeschäfte. Das heißt nichts anderes, als dass Wirecard seine Geschäfte ins Ausland ausgeweitet hat. Vor allem nach Asien, wo das Unternehmen keine Lizenz hatte und deshalb noch einen dritten Partner mit ins Boot holen musste.

„Das Asiengeschäft blieb immer undurchschaubar“, sagte Jörn Leogrande im Frühjahr in einem Gespräch mit der taz. Er hat bereits als Zeuge ausgesagt, war Wirecard-Innovationschef und hat nach dem Zusammenbruch ein Buch geschrieben mit dem Titel „Bad Company“. In der Firma duzten sich alle, erzählt er. Da war Braun der Markus, Bellenhaus der Oliver. Und Jan Marsalek der Jan.

Parallel zu diesem hippen, lässig-locker erscheinenden Getue gab es aber auch eine strenge Hierarchie und ein Durchregieren von oben nach unten. Jeder der in der Spitze rund 5.200 Beschäftigten sollte nur das erfahren, was ihn unmittelbar betraf und sonst nichts. Die wenigsten wussten etwas über das Asiengeschäft. Leogrande meint, er habe „immer wieder Zweifel an der angeblich enormen Profitabilität dieses Geschäftszweigs“ gehabt. Genauer nachgefragt hat er wie all die anderen aber nicht. Den einstigen Hype um Wire­card und den immer weiter nach oben rasenden Aktienkurs bezeichnet er im Rückblick als „Massenhysterie“.

Florian Eder, Verteidiger des Kronzeugen Oliver Bellenhaus über das Wirecard-Geschäft:  „Alles ein großer Schwindel“

Seit zweieinhalb Jahren sitzen Markus Braun und Oliver Bellenhaus in Untersuchungshaft, jetzt in München-Stadelheim. Braun war bis vor Kurzem in Augsburg-Gablingen untergebracht. Wegen des Prozesses wurde er nach München verlegt, das Verfahren findet in dem vor sechs Jahren eröffneten Hochsicherheits-Gerichtssaal gleich neben der JVA Stadelheim statt. Dieser ist ansonsten für Terrorprozesse oder Verfahren wegen organisierter Bandenkriminalität gedacht. Er liegt fünf Meter unter der Erde, ist bis an die Decke holzvertäfelt und wird von manchen Besuchern mit einer Turnhalle verglichen. Ein Vorteil ist, dass U-Häftlinge direkt vom Gefängnis in den Saal geschleust werden können und ein längerer Transport entfällt.

Datei:Jan Marsalek Suche.pdf

Stunde um Stunde, Tag um Tag würdigen sich Braun und Bellenhaus keines Blickes. Das dürfte auch das ganze Jahr 2023 so weitergehen. Markus Braun, ein gebürtiger Wiener, der dort auch studiert hat, wird als menschenscheuer Nerd beschrieben, der nur über den Job und auch da nur das Nötigste kommunizierte. In der Firma wusste kaum jemand mehr über ihn, als dass er verheiratet ist und eine Tochter hat. Der im Jahr 2011 verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs soll sein großes Vorbild gewesen sein.

Jan Marsalek ist weiterhin untergetaucht

Auch Jan Marsalek kommt aus Wien. Der heute 42-Jährige war Wirecard-Vorstandsmitglied. Er sitzt nicht auf der Anklagebank. Stattdessen hängen in den Polizeidienststellen zwei Fahndungsplakate von ihm aus – eins mit und eins ohne Bart. „Betrug in Milliardenhöhe“ steht darüber. Jan Marsalek ist international zur Fahndung ausgeschrieben.

Er war direkt nach der Pleite geflohen. Ein bisschen wie in einem unglaubwürdigen Actionfilm. Marsalek streute, dass er auf die Philippinen reiste, um persönlich nach den fehlenden 1,9 Milliarden Euro zu suchen. Dort war er auch als Einreisender registriert worden, der sich tags darauf nach China begeben haben soll. Aber die Papiere waren von Grenzbeamten gefälscht worden.

Quelle       :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Hauptsitz der Wirecard AG in Aschheim (bei München), 2019

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EU – Fallobst – England ?

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Dezember 2022

Großbritannien: The first to fall?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Das Vereinigte Königreich scheint das schwächste Glied der Kette der westlichen Industrieländer zu bilden. (Zweiter Teil einer Serie zum derzeitigen Krisenschub)

Ohne Brexit wäre das nicht passiert. Die Häme, mit der Deutschlands Presse den wirtschaftlichen Niedergang Großbritanniens begleitet, wird kaum noch übertüncht. Kaum ein Bericht über die zunehmenden finanziellen und konjunkturellen Turbulenzen auf den Britischen Inseln, der nicht Ökonomen1 oder Zentralbanker2 zitieren würde, die dies auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zurückführten. Nördlich des Ärmelkanals drohe eine lang anhaltende Rezession,3 in deren Folge die britische Wirtschaft von ihren europäischen Konkurrenten abgehängt werde,4 während Großbritannien zunehmend ins Abseits gerate,5 so der pessimistische Tenor der deutschsprachigen Wirtschaftspresse.

Und da ist vieles schlicht wahr dran. Vielen Lohnabhängigen auf den Britischen Inseln droht tatsächlich der soziale Absturz. Mitte November veröffentlichte das Office of Budget Responsibility (OBR – Büro für Haushaltsverantwortung beim britischen Finanzministerium) eine langfristige Wirtschaftsprognose für die kommenden Jahre,6 die es in sich hatte: Demnach stehe der Bevölkerung Großbritanniens bis Ende 2024 ein Rückgang des Lebensstandards um sieben Prozent bevor, was den größten Einbruch seit dem Beginn der Erfassung des entsprechenden statistischen Materials in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts bilden würde.7 Die frei verfügbaren Haushaltseinkommen sollen schon im Fiskaljahr 2022/23 laut dem OBR um 4,3 Prozent zurückgehen – dies ist ebenfalls ein historischer Negativrekord.8 Die Wohlstandsgewinne der letzten acht Jahre sollen hierbei revidiert werden.

Mehrere Faktoren tragen zu dieser sich anbahnenden sozialen Krisis bei: Die von steigenden Energie- und Nahrungspreisen angetriebene Inflation im Vereinigten Königreich ist mit 11,4 Prozent (Oktober 2022) besonders hoch,9 während das Land sich auf eine besonders lange Rezession einstellen muss, in deren Verlauf laut Prognosen des OBR rund 500 000 Lohnabhängige arbeitslos werden dürften und die Arbeitslosenquote von 3,5 auf 4,9 Prozent ansteigen soll. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Großbritanniens soll bis 2024 um zwei Prozent schrumpfen, wobei das Vorkrisenniveau des BIP, das am Vorabend der Pandemie Anfang 2020 erfasst wurde, selbst Ende 2024 nicht erreicht werden soll.

Die Bank of England spricht inzwischen von der „längsten Rezession seit den 30er“ Jahren des 20. Jahrhunderts.10 Die konjunkturelle Vollbremsung setzte auf den Britischen Inseln eigentlich schon im vergangenen August ein, als das BIP leicht um 0,3 Prozent zurückging.11 Im gesamten dritten Quartal 2022 erfuhr Großbritannien eine Kontraktion der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent.12 Zudem soll die Inflation trotz der Zinswende der Notenbank mittelfristig hoch bleiben: auf 7,4 Prozent wird die Teuerungsrate für das kommende Jahr geschätzt.

Zu dem inflations- und rezessionsbedingten Rückgang der realen Einkommen kommen die Folgen der Krise im Finanzsektor und auf dem Immobilienmarkt, sowie der Fallout der geldpolitischen Wende der Notenbank. Viele Hauskäufer und Hypothekennehmer sehen sich mit zusätzlichen finanziellen Belastungen aufgrund der rasch steigenden Zinsen konfrontiert, während der reale Wert ihrer Häuser aufgrund fallender Preise und hoher Inflation rasch zurückgeht. Der prognostizierte durchschnittliche Preisverfall von zehn Prozent bei Immobilien dürfte aufgrund der Inflationsdynamik von mehr als elf Prozent zu einem reellen Wertverlust von rund 25 Prozent binnen der kommenden zwei Krisenjahre führen.13

Als zusätzlicher Inflationstreiber fungiert die schwache britische Währung, die in den vergangenen Monaten gegenüber dem US-Dollar als der Weltleitwährung, in der ein Großteil des Rohstoff- und Energiehandels abgewickelt wird, abwertete, da die US-Notenbank ihre Zinswende rasch vorantreibt.14 Anfang 2022 stand das Pfund noch bei 1,36 Dollar, während es Ende September nur noch 1,08 Dollar waren. Erst nach der Verkündung eines haushaltspolitischen Sparkurses durch London im Oktober stabilisierte sich die britische Währung bei derzeit 1,22 Dollar. Der aufwertende US-Dollar führt somit zum Inflationsimport in Großbritannien, das kaum über eine nennenswerte Exportindustrie verfügt, die von einer schwachen Währung profitieren könnte, was Londons Währungshüter ebenfalls zur „Straffung“ der Geldpolitik nötigt.

Die Erhöhung des Leitzinses auf drei Prozent durch die Bank of England Anfang November,15 der noch weitere restriktive Zinsschritte zur Eindämmung der zweistelligen Inflation folgen sollen,16 lässt wiederum die Zinsen für Kredite und Hypotheken in die Höhe schießen, während viele Kredit- und Hypothekennehmer mit schwindenden Einnahmen konfrontiert sind. Rund zwei Millionen Hauskäufer werden in den kommenden zwei Krisenjahren sich mit höheren Hypothekenkosten konfrontiert sehen, was zu Notverkäufen von Eigentumshäusern und weiterem Preisdruck auf dem Immobilienmarkt führen wird. Zudem laufen viele kreditfinanzierte Unterstützungsmaßnahmen und Konjunkturprogramme der Regierung aus, während die neue Administration von Premier Rishi Sunak Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen implementiert, um das britische Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen.

Auf 55 Milliarden Pfund summieren sich die Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen der britischen Regierung, die sogar eine Ausweitung des Spitzensteuersatzes durch die konservative Administration vorsehen: Die Schwelle des Spitzensteuersatzes wird von 150.000 auf 125.140 Pfund Jahreseinkommen sinken.17 Die Summe des Sparpakets entspricht übrigens dem bisherigen jährlichen Haushaltsdefizit Londons, wobei 30 Milliarden Pfund durch Ausgabenkürzungen eingespart und 25 Milliarden durch höhere Steuern eingenommen werden sollen.18 Mit dem Austeritätskurs soll überdies eine Haushaltskrise verhindert werden, die laut Prognosen des OBR in den kommenden Jahren drohen würde, sollte der bisherige Kurs der schuldenfinanzierten, aktiven Konjunkturpolitik fortgesetzt werden. Ab 2026 wäre demnach das britische Haushaltsdefizit auf mehr als 100 Milliarden Pfund angeschwollen.

Die meisten Austeritätsmaßnahmen sollen ohnehin erst nach den „allgemeinen Wahlen 2024“ wirksam werden, was von Politikern der oppositionellen Sozialdemokraten (Labour) als eine „Falle“ interpretiert worden sei, bemerkte die Financial Times (FT).19 Zudem gibt es eine Ausnahme vom Austeritätskurs: die Subventionierung der Energiepreise, die Verbrauchern einen Preisdeckel garantieren soll, wurde beibehalten, was die öffentliche Verschuldung im November auf 13,5 Milliarden Pfund, 4,4 Milliarden Pfund mehr als Vorjahresmonat, erhöhte.20

Dennoch stellt dieses Sparpaket mitsamt seinen Steuererhöhungen einen fundamentalen Politikwechsel dar, da die vorherige, kurzlebige Regierung unter der glücklosen Premierministerin Liz Truss noch ein umfassendes Steuersenkungsprogramm umsetzen wollte.21 Die Steuersenkungen, insbesondere für Reiche und Konzerne, sollten zu Mindereinnahmen von 45 Milliarden Pfund führen. Truss wollte noch im vergangenen September gar den Spitzensteuersatz gänzlich abschaffen. Nun, rund drei Monate später, werden Steuererhöhungen von 55 Milliarden Pfund von London beschlossen. Der größte Steuersenkungsplan sei 50 Jahren, so die FT über die haushaltspolitischen Pläne von Liz Tuss, werde nun abgelöst von der „größten Steuererhöhung seit 30 Jahren“ unter Premier Sunak.

Das Heimatland des Neoliberalismus verabschiedet sich somit von der Politik der Steuersenkungen und der berüchtigten Doktrin der Trickle-Down-Economics, wonach Mehreinnahmen für Konzerne und Reiche letztendlich auch zur Mittel- und Unterschicht „durchsickern“ würden. Stattdessen steigt die Steuerrate laut OBR auf 37,1 Prozent des britischen BIP, was einen Nachkriegsrekord darstellen werde. Und es waren eben auch letztendlich die „Märkte“, die das Ende dieser in den Zentren des Weltsystems üblichen Krisenpolitik signalisierten, bei der bislang Regierungen einen jeden Krisenschub mit schuldenfinanzierten Krisenmaßnahmen und expansiver Geldpolitik abfangen konnten.

Innerhalb von „sieben Tagen, die Großbritannien erschütterten“, wie es die FT formulierte,22 ist London Ende September zu der drastischen haushaltspolitischen Kehrtwende förmlich genötigt worden. Der britische Markt für Staatsanleihen geriet in Reaktion auf die Steuersenkungen der Regierung Truss in schwere Turbulenzen, die erste Anzeichen einer „finanziellen Kernschmelze“ (FT), also eines Zusammenbruchs des Finanzsystems, aufwiesen. Die Zinsen für britische Staatsanleihen explodierten förmlich binnen weniger Tage, von 3,5 auf fünf Prozent bei 30-jährigen Bonds, was Ausdruck der fallenden Anleihekurse ist. Und die Kurse brachen nur deswegen ein, weil kaum noch Nachfrage nach britischen Bonds bestand, da es vielen Marktteilnehmern nicht klar war, wie London die Steuersenkungen angesichts der rasch anschwellenden öffentlichen Schuldenlast finanzieren könnte.

In seiner 21-jährigen Karriere habe er keine solch dramatische Situation erlebt, klagte ein Fondsmanager gegenüber der FT, da es zeitweise schlicht unmöglich gewesen sei, Käufer für britische Staatsanleihen, für die sogenannten Gilts, zu finden. Selbst während der Finanzkrise von 2008 habe es „immer einen Markt für Gilts“ gegeben. Um die aufkommende „Marktpanik“ (FT) zu ersticken, musste die Bank of England einschreiten und – mitten in einer Phase zweistelliger Inflation – für 65 Milliarden Pfund britische Staatsanleihen aufkaufen, also letztendlich Geld drucken. Dieses „Liquiditätsprogramm“ der britischen Notenbank wurde erst Mitte Oktober, nach der haushaltspolitischen Wende Londons, beendet.23 Der neue Sparhaushalt dient somit auch dem Zweck, den Markt für Gilts zu stabilisieren, da hier eine „G7-Ökonomie“ von einer Marktpanik erfasst worden sei, so die FT. So etwas war bisher eher aus dem globalen Süden oder aus der südlichen Peripherie der EU bekannt, etwa aus Hellas, Spanien oder Portugal am Beginn der Eurokrise. Nun kriecht die Krise in die Zentren des Weltsystems.

Die Märkte für Staatsanleihen sind für gewöhnlich sterbenslangweilig,24 da sie als „sichere Bank“ angesehen werden, wo institutionelle Anleger wie Versicherungen oder Pensionsfonds langfristig Geld sicher anlegen wollen. Und es waren gerade viele britische Pensionsfonds, die aufgrund des Finanzbebens auf dem Anleihemarkt zunehmend unter Druck gerieten.25 Bei einem Crash des Anleihemarktes sind es nicht einfach ein paar Spekulanten, die ihr Geld verlieren – es stehen dann Millionen von Altersbezügen einer ganzen Generation Lohnabhängiger im Feuer. Die Schockwellen einer ausgewachsenen Krise auf dem Anleihemarkt würden somit nicht nur die Finanzsphäre, sondern – vermittels Nachfrageeinbruch und Kreditklemme – die gesamte Ökonomie erschüttern.

Und deswegen ist die abrupte haushaltspolitische Kehrtwende Londons, bei der Mitte Oktober fast alle Steuersenkungen revidiert worden sind, wohl tatsächlich als ein Versuch zu interpretieren, die aufgewühlten „Märkte zu beruhigen“, die kaum noch britische Schuldtitel erwerben wollten, wie es US-Medien in aller Offenheit formulierten.26 Dabei scheinen diese „Beruhigungspillen“ auch bitter nötig zu sein, angesichts des rasant wachsenden britischen Schuldenbergs.27 Die Schuldenlast des britischen Staates entspricht derzeit knapp 101,9 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung Großbritanniens, während es vor Ausbruch der Pandemie nur 84,4 Prozent waren. Das Vereinigte Königreich weist eine höhere Staatsschuldenlast auf als der EU-Durchschnitt, der bei 86 Prozent des BIP liegt. Selbst Frankreich und Spanien haben mit 113 und 116 Prozent nur eine geringfügig höhere Schuldenlast zu schultern.

Die kostspieligen Krisenmaßnahmen Londons nach Ausbruch der Pandemie und des Kriegs in der Ukraine gehen nun mit einer Rezession einher, die den Schuldenberg in Relation zur schrumpfenden Wirtschaftskraft anwachsen lässt. Deswegen ist es fraglich, ob die „Sparpakete“ Londons tatsächlich dazu beitragen können, die öffentliche Verschuldung abzubauen. Volkswirtschaften sind nämlich keine „schwäbischen Hausfrauen“. Sparprogramme führen zu Nachfrageeinbrüchen, die in Rezessionen münden können, was die Schuldenlast gegenüber dem sinkenden BIP schwerer wiegen lässt. Zudem führt Austerität zu sinkenden Steuereinnahmen und steigenden Sozialausgaben – etwa Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld. Aus der Eurokrise ist das Phänomen des regelrechten „in den Bankrott Sparens“ hinlänglich bekannt, das der damalige deutsche Finanzminister Schäuble in seinem Sparsadismus an Griechenland vorexerzierte.

Was sich nun im Vereinigten Königreich voll manifestiert, ist schlicht die grundlegende Krisenfalle28 bürgerlicher Politik, der kein systemimmanenter Ausweg der Krisenverzögerung mehr offen zu stehen scheint. Großbritannien kann zwischen zwei Wegen in die weitere Krisenentfaltung lavieren: London kann Schäuble nacheifern und den deflationären Weg von Sparprogrammen beschreiben, die letztendlich mit zum skizzierten „in die Pleite Sparen“ führen können, oder die britische Regierung nötigt die Notenbank, weiter frisches Geld zu drucken durch den Aufkauf britische Staatsanleihen, was die derzeitige Inflation in eine Hyperinflation umschlagen ließe.

Die neoliberale Ära des schuldenfinanzierten Zombie-Kapitalismus29 geht nun auch an der Themse zu Ende. Der große Unterschied zu der Tragödie in Südeuropa – das während der Eurokrise von Berlin nahezu in den sozialen Kollaps getrieben30 wurde – besteht darin, dass mit Großbritannien nun ein Zentrumsland, ein G7-Staat, sich mit dem vollen Durchbruch der Krisendynamik konfrontiert sieht. Die Weltkrise des Kapitals,31 die in den vergangenen Dekaden schon weite Teile der Peripherie des Weltsystems verwüstete,32 scheint somit endgültig in den Zentren angekommen zu sein. Und sie wird sich zuvorderst ganz konkret in dem eingangs erwähnten „Sinken des Lebensstandards“ der Lohnabhängigen manifestieren, dem gegenüber auch die aktuelle Streikbewegung auf den Britischen Inseln33 machtlos sein wird, solange sie keine antikapitalistische, transformatorische Perspektive34 entwickelt.

Großbritannien ist tatsächlich durch den Brexit zum gewissermaßen schwächsten Glied der Zentrumsstaaten im erodierenden spätkapitalistischen Weltsystem geworden. Italien, das für gewöhnlich als der große Krisenkandidat Europas gehandelt wird, weist zwar einen größeren Schuldenberg in Höhe von 150 Prozent des BIP als das Vereinigte Königreich auf. Doch kann Rom bei seinen Stabilisierungsbemühungen auf die Ressourcen der EZB und der Eurozone bauen, solange Berlin ein fundamentales Interesse an der Beibehaltung der europäischen Gemeinschaftswährung hat. Allein die Größe des europäischen Währungsraums sorgt dafür, dass dieser längere Zeit stabil bleiben und Krisenerschütterungen eher absorbieren kann als isolierte Volkswirtschaften.

London hat nach dem Brexit nur noch die Bank of England und ein BIP, das nur rund 19 Prozent desjenigen der EU umfasst – und das reicht nicht, um mittelfristig nicht zu einer zweiten Türkei zu verkommen, wo die Inflation schon bald dreistellig werden könnte.35 Und dennoch dürfte auch die eingangs erwähnte, deutsche Schadenfreude bald verhallen. Großbritannien geht nur voran, es mag als erstes westliches Zentrumsland fallen, doch die Krise wird sich unweigerlich auch in den restlichen Zentren voll manifestieren.

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1 https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/britischer-ex-zentralbanker-ohne-brexit-muessten-wir-keinen-sparhaushalt-diskutieren-a-7794b387-306e-4da9-8fde-96847cc63deb

2 https://www.welt.de/wirtschaft/article242184557/Grossbritannien-Zentralbank-macht-Brexit-fuer-schlechte-Wirtschaftslage-verantwortlich.html

3 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/grossbritannien-industrieverband-rezession-101.html

4 https://www.spiegel.de/wirtschaft/sehr-reale-sorge-dass-grossbritannien-von-wettbewerbern-abgehaengt-wird-a-32d38199-a9c0-44db-81e7-cdff11e3d67a

5 https://www.derstandard.de/story/2000141668233/brexit-rezession-streiks-britische-wirtschaft-geraet-ins-abseits

6 https://obr.uk/overview-of-the-november-2022-economic-and-fiscal-outlook/

7 https://www.theguardian.com/business/2022/nov/17/obr-confirms-uk-enters-year-long-recession-with-half-a-million-job-losses-likely

8 https://www.ft.com/content/5f081f77-ed30-4a06-864e-7e4cc3204017

9 https://www.ft.com/content/1fcc250c-c1c5-4820-a5f4-4e48662a73aa

10 https://www.theguardian.com/business/2022/nov/03/bank-of-england-raises-interest-rates-to-3-percent

11 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/grossbritannien-rezession-bip-bank-of-england-101.html

12 https://edition.cnn.com/2022/11/11/economy/uk-economy-recession-europe/index.html

13 https://www.ft.com/content/528500c8-7cfa-4aaf-9fca-7692aafeb9ce

14 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/

15 https://www.theguardian.com/business/2022/nov/03/bank-of-england-raises-interest-rates-to-3-percent

16 https://www.theguardian.com/business/2022/dec/11/bank-of-england-set-to-spoil-the-festive-mood-with-another-interest-rate-rise

17 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wie-rishi-sunak-den-britischen-schuldenberg-abbauen-will-18467860.html

18 https://www.ft.com/content/df59e66a-1659-428e-b96a-b0419ed584b1

19 https://www.ft.com/content/5daeca83-dc55-4371-bfe3-b20140cf1fe1

20 https://www.ft.com/content/da60d21b-7fe0-4b1f-85c7-bbf3f4a0b2f6

21 https://www.nytimes.com/2022/09/23/world/europe/uk-tax-cuts-economy.html

22 https://www.ft.com/content/1ace8d42-f3ee-4fdd-a103-5cd4234e8c42

23 https://www.nytimes.com/2022/10/12/business/dealbook/britain-markets-turmoil-gilts-pound-andrew-bailey.html

24 https://www.konicz.info/2022/07/22/schuldenberge-in-bewegung/

25 https://edition.cnn.com/2022/10/08/investing/uk-pension-funds-market-chaos/index.html

26 https://www.cnbc.com/2022/10/17/uks-new-finance-minister-sets-out-.html

27 https://www.ons.gov.uk/economy/governmentpublicsectorandtaxes/publicspending/bulletins/ukgovernmentdebtanddeficitforeurostatmaast/june2022

28 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/

29 https://www.streifzuege.org/2017/wir-sind-zombie/

30 https://www.konicz.info/2015/07/27/willkommen-in-der-postdemokratie/

31 https://www.konicz.info/2011/11/29/kurze-geschichte-der-weltwirtschaftskrise/

32 https://www.konicz.info/2013/05/27/mad-max-im-zweistromland/

33 https://www.nytimes.com/2022/12/14/world/europe/uk-strikes-winter-discontent.html

34 https://www.konicz.info/2022/10/12/emanzipation-in-der-krise/

35 https://www.statista.com/statistics/895080/turkey-inflation-rate/

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Wachstum – Schwindsucht

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Dezember 2022

Die Augenwischerei mit den Wachstumszahlen

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Von      :    Urs P. Gasche /   Regierungen und Wirtschaftsvertreter gaukeln ihren Bevölkerungen vor, dass es wirtschaftlich viel besser geht, als es der Fall ist.

Wachstumskritiker und Konsumentenorganisationen beanstanden schon seit Jahrzehnten, dass das Wachstum des Bruttoinlandprodukts BIP das oberste Ziel des Wirtschaftens sein soll, dem alles andere untergeordnet wird: Lebensqualität, Schutz der Natur, eine möglichst gerechte Sozial- und Steuerpolitik, das Verursacherprinzip oder ausgeglichene Staatsfinanzen.

Alle diese Nachteile müssen sich aus Sicht von Wachstumspredigern lohnen: Die Wirtschaft soll wenigstens tatsächlich stark wachsen. Dann schlucken es vielleicht die Bevölkerungen ohne Aufmucken, wenn die Natur weiter ausgebeutet und verschandelt wird, Steuern die Reichen und Konzerne begünstigen («sie sorgen für Wachstum») oder die Defizite von Staaten immer grösser werden – all dies zu Lasten künftiger Generationen.

Um ihren Erfolg schönzureden greifen Wachstumsprediger – dazu zählen auch internationale Organisationen wie die OECD oder nationale Behörden – zu zwei einfachen Schlaumeiereien. Das Wachstum des BIP erscheint damit in einem viel positiveren Licht, als es in Wirklichkeit ist. Bei dieser Augenwischerei machen die meisten Medien – vierte Gewalt hin oder her – mit:

  1. Häufig wird das erfolgte Wachstum des BIP nominal und nicht real (nach Abzug der Inflation) angegeben. Was soll eine Bevölkerung davon haben, wenn das BIP um drei Prozent gewachsen ist, wenn sich gleichzeitig auch die Preise um drei Prozent erhöhten? Besonders elektronische Medien unterlassen es meistens, bei ihren Wachstumsmeldungen anzugeben, ob von einem nominellen oder von einem realen Wachstum die Rede ist.
  2. Fast immer wird das Wachstum des BIP pro Land angegeben und nicht pro Kopf der im Land lebenden Bevölkerung. Was soll eine Bevölkerung davon haben, wenn das BIP um fünf Prozent gewachsen ist, wenn gleichzeitig auch fünf Prozent mehr Menschen im Land leben? Pro Kopf ist das Geldeinkommen um keinen Cent gestiegen. Die Bevölkerung leidet lediglich an einem etwas grösseren Dichtestress, an gestiegenen Mieten, Land- und Bodenpreisen.

Am 10. Dezember 2022 tat die NZZ so, wie wenn sie überrascht wäre, und titelte als Neuigkeit: «Betrachtet man die Zunahme der Wirtschaftskraft pro Kopf, vermag die heimische Leistung nicht zu überzeugen». Es war Chefökonom David Marmet der Zürcher Kantonalbank, der die Wachstumszahlen unter Berücksichtigung der Inflation und der Bevölkerungszunahme in der Schweiz ausgerechnet hat.

Sein Fazit: Das reale BIP der Schweiz stieg in den letzten dreissig Jahren über 60 Prozent – pro Kopf allerdings nur um 29 Prozent. Das waren deutlich weniger als das reale Pro-Kopf-Wachstum etwa in Deutschland mit 39 Prozent.

Keine neue Erkenntnis

Besonders in der Schweiz mit ihrer überdurchschnittlichen Netto-Zuwanderung zeigten die nationalen BIP-Zahlen schon immer ein stark verzerrtes Bild. Das Buch «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr»* führte im Jahr 2010 folgende Zahlen an:

Von 1990 bis 2009 wuchs die Schweizer Wirtschaft, gemessen am teuerungsbereinigten Bruttoinlandprodukt, total um 26 Prozent. Dieses Wachstum kam zustande, weil die Einwohnerzahl seit 1990 um 15 Prozent zunahm, während das BIP pro Kopf im gleichen Zeitraum um weniger als zehn Prozent anstieg.

Ende 2009 zum Beispiel gab das Staatsekretariat für Wirtschaft (Seco) bekannt, das reale BIP in der Schweiz sei im vorangehenden Quartal um 0,3 Prozent gewachsen. Einige Wirtschaftsjournalisten jubelten: «Die Schweiz sagt der Rezession ade», lautete eine Schlagzeile. Eine andere: «Rezession in der Schweiz beendet». Das stand ähnlich auch in der Pressemitteilung des Seco. Die Behörde wollte gute Stimmung verbreiten. Doch dieses Wachstum um 0,3 Prozent entsprach ziemlich genau der Zunahme der Bevölkerung im gleichen Quartal. Pro Kopf der Bevölkerung hatte sich also am BIP nichts geändert. Die Zunahme an Produkten und Dienstleistungen, gemessen in Geldwert, musste einfach auf mehr Köpfe verteilt werden.

Auf die Frage, warum eine Behörde wie das Seco die Wachstumszahlen nicht pro Kopf publiziere, hatte ein Sprecher eingeräumt: «Das ist eine sehr gute Frage, aber es wird international nicht so gemacht.»

Dass die Schweiz ihre Wirtschaft primär mit Bevölkerungszuwachs ankurbelt, scheint die Wachstumsfreunde nicht zu grämen. «Volkswirtschaften mit Zugriff auf eine wachsende Bevölkerung erhalten die Chance auf zusätzliche Nachfrage», formulierte ein Leitartikler der NZZ und freute sich: «Die Schweiz ist das beste Beispiel.»

Die Zürcher SP-Politikerin Jacqueline Badran stimmte zu: «Solange wir eine auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftsordnung haben, brauchen wir die Zuwanderung.» Das ist neu. Denn bisher setzten wachstumsorientierte Ökonominnen in der dicht besiedelten Schweiz mehr auf Produktivitätssteigerung als auf Bevölkerungswachstum.

Unterstützung erhielt Jacqueline Badran von Serge Gaillard, dem früheren Gewerkschafter und Arbeitsmarkt-Experten im Seco und von 2012 bis 2021 Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung: «Ohne Einwanderung wäre das starke Wachstum nicht möglich gewesen», konstatierte Gaillard in einem Interview. Die Einwanderung habe namentlich die Bautätigkeit unterstützt. Wie lange noch mehr Überbauungen für noch mehr Zuwanderer wünschenswert sind, um ein starkes Wachstum zu ermöglichen, sagte Gaillard nicht.

Die Autoren des Buches «Schluss mit dem Wachstumswahn» meinten damals:

«Ein Wirtschaftswachstum oder ein ‹Konjunkturaufschwung›, der auf dem Bevölkerungswachstum beruht, bringt dem einzelnen Bürger keine materiellen Vorteile. Der Kuchen wird einfach auf mehr Köpfe verteilt. Wir bekommen nur die Nachteile zu spüren, vor allem in dicht besiedelten Ländern wie der Schweiz: Man tritt sich überall noch mehr auf die Füsse. Die Landschaft wird stärker verschandelt, auf Strassen und Schienen stockt der Verkehr. Vor sechzig Jahren teilten sich noch 4,7 Millionen Menschen das begrenzte Land. Heute leben 7,8 Millionen Menschen in der Schweiz. Wenn wir den Trend nicht wenden, so prognostiziert das Bundesamt für Statistik, werden im Jahr 2050 neun Millionen Menschen in der Schweiz leben.»

Das war eine Fehlprognose des BFS: Die Zahl der Einwohner ist bereits heute auf 8,7 Millionen gestiegen. Entsprechend mehr wird in der ganzen Schweiz konsumiert und investiert, so dass stets mit Freude verkündet werden kann, wie stark die Wirtschaft wieder gewachsen sei.

Behörden und Medien werden höchstwahrscheinlich versuchen, auch in Zukunft mit schweizweiten Wachstumszahlen für gute Stimmung zu sorgen – wenn möglich mit nominalen Zahlen (ohne Berücksichtigung der Inflation) und unter Verschweigen des realen Pro-Kopf-Wachstums.

Den Wachstumspredigern ist es egal, was denn überhaupt wächst

Wenn Wachstumszahlen vergangener Jahre veröffentlicht werden, wird geflissentlich verschwiegen, was zum so ersehnten Wachstum beigetragen hat. Nur zwei Beispiele:

  • Haben etwa noch kurzlebigere oder doch langlebige Produkte zum Wachstum beigetragen? Kleider, Möbel, elektronische Geräte? Haben die Kosten der Müll-Entfernung zugenommen? Je grösser die unerwünschte Wegwerfwirtschaft, desto stärker wächst die Wirtschaft.
  • Wurden mehr tonnenschwere Autos gekauft oder viel mehr von den kleinen? Je schwerere und teurere Autos, desto stärker wächst die Wirtschaft.

Wenn Wachstumszahlen vergangener Jahre veröffentlicht werden, wird ebenso verschwiegen, wer vom Wachstum am meisten profitiert hat:

  • Waren es die sozial und wirtschaftlich Schwächsten? Oder vor allem Reiche und Superreiche?

Wachstumsprediger reden sich heraus: Jedes beliebige, möglichst hohe Wirtschaftswachstum sei auch in reichen Ländern weiter nötig, um Armut und Hunger zu beseitigen, Renten zu sichern, genügend Erwerbsarbeit zu schaffen sowie die nötigen Mittel für den Umweltschutz und die Gesundheitsversorgung bereitzustellen.

Wäre dies wirklich der Fall, würden wir längst im Paradies leben. Dies gilt ganz besonders für die USA mit dem fünfthöchsten Pro-Kopf-BIP. Der dortigen Bevölkerung müsste es ausgezeichnet gehen. Doch die Realität zeigt, dass in den entwickelten Industriestaaten das weitere Wachstum des Bruttoinlandprodukts BIP untauglich ist, um den allgemeinen Wohlstand zu messen, geschweige denn Glück und Lebensqualität.

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Oben      —     Scientist Rebellion klebt Aufsätze ans Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Hannoversche Straße, Berlin, 07.04.2022

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Banken bald ohne Geld ?

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Dezember 2022

Steht die Geldpolitik vor dem Bankrott?

Unrasiert und fern der Heimat

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Ein Überblick über die Widersprüche bürgerlicher Krisenpolitik in der aktuellen Stagflationsphase. (Erster Teil einer Serie zum derzeitigen Krisenschub)

Können wir uns Geld überhaupt noch leisten? Oder, anders gefragt: Bekommt die Politik die Teuerung endlich in den Griff? Die New York Times sah Anfang November einen geldpolitischen Hoffnungsschimmer aufkommen, nach vielen Monaten beständig steigender Inflation.1 Laut den aktuellen Daten hat sich die Teuerung in den Vereinigten Staaten leicht abgeschwächt, was eine „willkommene Nachricht für Federal Reserve wie für das Weiße Haus“ sei. Demnach hat sich der Preisauftrieb von 8,2 Prozent im September auf 7,7 Prozent im vergangenen Oktober verlangsamt – prognostiziert waren 7,9 Prozent. Die „Kerninflation“, bei der die Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel herausgerechnet werden, schwächte sich im selben Zeitraum ebenfalls von 6,6 auf 6,3 Prozent ab.

Die Zinserhöhungen durch die US-Notenbank Fed, die den Leitzins binnen dieses Jahres von 0,25 auf bis zu vier Prozent erhöhte, scheinen somit Wirkung zu zeigen.2 Und das Ende der monetären Fahnenstange ist offensichtlich noch nicht erreicht worden. US-Notenbanker ließen durchblicken, dass die Leitzinsen auf ein Niveau von 4,75 bis 5,25 Prozent angehoben werden müssen, um die Teuerung endlich in den Griff zu bekommen.3 Eine „Pause“ sei bei den raschen Zinserhöhungen – dem schnellsten Zinsanstieg seit dem Kampf gegen die Stagflation4 in den frühen 80ern – nicht vorgesehen, erklärten Fed-Vertreter gegenüber US-Medien. Damit scheint der langfristige, in den 80ern eingeleitete5 Trend zur Absenkung des Zinsniveaus6 revidiert, mit dem Wirtschaft und Finanzsphäre von der Geldpolitik stimuliert und stabilisiert werden mussten.

Einen Fed-Leitzins von mehr als fünf Prozent gab es zuletzt 2008, auf dem Höhepunkt der Immobilienblase in den USA und der EU. Hiernach herrschte faktisch eine Nullzinspolitik, die im Rahmen der Krisenbekämpfung nach dem Platzen der Blase implementiert wurde. Versuche, die Leitzinsen anzuheben (2019 auf mehr als zwei Prozent), mussten nach dem Ausbruch der Pandemie (2020) aufgegeben werden.

Neben den raschen Leitzinserhöhungen ist es die „monetäre Straffung“ der Notenbank Fed, die dazu beitragen soll, den Preisauftrieb in den Vereinigten Staaten wieder unter Kontrolle zu bringen. Zur Erinnerung: Das Weltfinanzsystem musste im Gefolge der großen Krisenschübe des 21. Jahrhunderts mittels der berüchtigten quantitativen Lockerungen stabilisiert werden, bei denen die Notenbanken faktisch Geld druckten, indem sie Wertpapiere und Staatsanleihen auf den Finanzmärkten aufkauften, um so diesen zusätzliche Liquidität zuzuführen. Die durch Aufkäufe von Finanzmarktwaren generierte Liquidität ließ die Preise steigen – in der Finanzsphäre. Der Umfang dieser Liquiditätsspritzen, die in der vergangenen Dekade maßgeblich zur temporären Stabilisierung des in einer Liquiditätsblase verfangenen Weltfinanzsystems beitrugen, lässt sich ganz einfach an den Bilanzsummen der Notenbanken ablesen.

Kurze Geschichte des „Zentralbankkapitalismus“

Den Beginn des „Zentralbankkapitalismus“7 markiert die 2008 in den USA und Europa geplatzte Immobilienblase,8 bei der das Weltfinanzsystem mit hypothekenverbrieften Schrottpapieren überschwemmt wurde und – nach der Pleite von Lehman Brothers – in eine Schockstarre überging, die das gesamte Weltsystem bedrohte. Was tun? Aus der Not heraus fing die Fed ab dem Februar 2009 an, diesen Finanzmarktmüll aufzukaufen, um die Kreditvergabe in der „eingefrorenen“ Finanzsphäre wieder in Gang zu bringen. Schon Mitte 2010 hat die Fed mehr als 1,1 Billionen Dollar (das sind 1100 Milliarden) „gedruckt“ und der Finanzsphäre zugeführt, um diese „Mortgage Backed Securities“ (MBS), bei denen auf dem Höhepunkt der Immobilienblase Hypotheken unterschiedlicher Bonität gebündelt wurden, aufzukaufen.

Und diese quasi spontane Krisenreaktion verstetigte sich, ähnlich der Nullzinspolitik, zu einer neuen, politischen Richtlinie, quasi zu einer neuen politischen Konstante, bei der die Notenbanken immer größere Mengen an „Wertpapieren“ in ihren Bilanzen halten.9 Die MBS sind folglich nie wieder – trotz etlicher Anläufe, sie abzustoßen – aus der Bilanz der Fed verschwunden. Der Nennwert dieser Hypothekenverbriefungen stieg sogar langfristig von rund 1,1 Billionen 2010, über mehr als 1,7 Billionen 2016, bis auf 2,7 Billionen im Frühjahr 2022. Versuche, die MBS in der Fed-Bilanz zu reduzieren, führten entweder zu Destabilisierung der Finanzmärkte, sodass sie abgebrochen werden mussten, oder sie wurden – mit dem Ausbruch der Pandemie – von Krisenschüben unterbrochen. Damit wurden die Notenbanken faktisch zu Gefangenen der Liquiditätsblase10, die sie selber in Reaktion auf den Krisenschub von 2007/08 hervorbrachten.

Der drohende Kollaps des Weltfinanzsystems im Gefolge des Immobilienkrachs (Pleite von Lehman Brothers 2008 samt anschließendem „Einfrieren“ der Weltfinanzmärkte) konnte somit nur um den Preis einer erneuten Blasenbildung, letztendlich durch einen Blasentransfer von der Immobilien- zur Liquiditätsblase abgewendet werden. Damit ist die Geldpolitik, die mittels MBS-Aufkäufen den Immobilienmarkt stütze, auch zur zentralen Konjunkturstütze geworden, da der Immobiliensektor einen wichtigen Wirtschaftsfaktor darstellt. Die Spekulationsexzesse in der Finanzsphäre fungieren somit als Konjunkturtreiber für die reale Wirtschaft, da beispielsweise die Immobilienblase in den USA und der EU mit einer starken, letztlich kreditfinanzierten Konjunktur auf dem Bausektor einherging. In Spanien herrschte auf dem Höhepunkt des Spekulationsfiebers ein regelrechter Arbeitskräftemangel, der Hunderttausenden von Arbeitsmigranten aus Bulgarien und Rumänien Verdienstmöglichkeiten im spanischen Bausektor verschaffte. Nach dem Platzen dieser Blasen herrschte auf der Iberischen Halbinsel hingegen eine Arbeitslosigkeit von mehr als 20 Prozent.11

Noch eindeutiger wird dieser Zusammenhang zwischen expansiver Geldpolitik der Notenbanken und konjunktureller Dynamik in der realen Wirtschaft bei der großen Liquiditätsblase,12 die das transatlantische Immobilienfieber ablöste. Die Käufe von Hypotheken-Papieren durch Notenbanken wurden bald überflügelt von den Aufkaufprogrammen für Staatsanleihen. Die US-Notenbank ging ab 2010 dazu über, umfassend die „Treasury“ der US-Regierung aufzukaufen, was letztendlich der Finanzsphäre ihr abermaliges spekulatives Abheben13 und Washington die Konjunkturprogramme und Steuersenkungen vergangenen Dekade ermöglichte. Die Zahlen sind eindeutig:14 2007, kurz vor dem Zusammenbruch der Immobilien-Bonanza, hielt die Fed Staatsanleihen im Wert von rund 700 Milliarden Dollar, 2012 waren es schon mehr als 1,2 Billionen, 2016 gar knapp 2,5 Billionen. (Ähnlich verhält es sich in der Eurozone, wo die Aufkäufe von Staatsanleihen durch die EZB Gegenstand politischer Auseinandersetzungen zwischen der BRD und der südlichen Peripherie waren).15

Diesen Berg an Staatsschulden wollte die US-Geldpolitik ab 2018 langsam abbauen, sodass 2019 die Treasury in der Bilanz der Fed sich „nur“ auf etwas mehr als 2 Billionen Dollar summierten. Dann kam die Pandemie, was den durch die Liquiditätsspritzen aufgeblähten Weltfinanzsektor, der aufgrund der 2018 eingeleiteten monetären Straffung ohnehin destabilisiert wurde, abermals in Schieflage brachte und die Weltkonjunktur durch das partielle Einfrieren der globalen Lieferketten abschmieren ließ. Der Geldpolitik blieb nichts anderes übrig, als die Gelddruckerei ins Extrem zu treiben: Mitte 2022 befanden sich US-Staatsschulden im „Wert“ von 5,7 Billionen Dollar in der Bilanz der US-Notenbank. Zugleich wurden wieder verstärkt MBS aufgekauft, sodass deren Volumen sich von 1,4 Billionen Ende 2019 auf mehr als 2,7 Billionen Mitte 2022 nahezu verdoppelte.

Es ist diese an Umfang gewinnende Gelddruckerei gewesen, die staatliche (Treasury) und private Nachfrage (MBS) generierte und somit die Konjunktur und die Finanzsphäre belebte. Mitte 2022 ist die Bilanz der Fed auf insgesamt neun Billionen Dollar angeschwollen (hauptsächlich Staatsanleihen und Hypothekenpapiere).16 Die „Liquiditätsspritzen“, die dazu beitrugen, die Fed zu einer Art Müllhalde des Weltfinanzsystems zu verwandeln, haben die Konjunktur angetrieben. Und sie haben die Finanzmärkte um den Preis immer neuer Spekulationsexzesse – bis zur absurden Hausse mit Meme-Aktien17 – zeitweilig stabilisiert. Dies war nur deswegen möglich, weil die Inflation im Dollarraum, der ja immer noch als Weltleitwährung fungiert, niedrig blieb. Und die Teuerungsraten blieben nur deswegen niedrig, weil die Gelddruckerei der Notenbanken zu einer Inflation der Wertpapierpreise auf den Finanzmärkten im Rahmen der besagten Liquiditätsblase führte, die mit dem Ausbruch der Pandemie und der aufkommenden Inflation ein jähes Ende fand (Übrigens: Die Neo-Keynesianische „Neue Monetäre Theorie“,18 eine Art Querdenker-Sekte der Ökonomenzunft, brütete während der Liquiditätsblase, aufbauend auf diesem unverstandenen Zusammenhang zwischen expansiver Geldpolitik und Finanzmarktinflation, ihre absurde Krisenideologie aus, wonach Gelddruckerei nahezu unbegrenzt möglich sei, solange nicht Vollbeschäftigung herrsche).

Die eingangs erwähnte Inflation ist somit nicht nur auf die Pandemie, die voll einsetzende Klimakrise und den Krieg in der Ukraine zurückzuführen,19 sondern auch auf das Ende dieser Liquiditätsblase, bei der die durch Aufkaufprogramme generierte Liquidität aus der Finanzsphäre entweicht und nach handfesten, krisenbeständigen Anlagemöglichkeiten in der realen Welt sucht20 – und die Leitzinserhöhungen sind das einzige Mittel, das der Geldpolitik bleibt, um diesen Preisauftrieb zu bekämpfen.

Risse im Fundament

Erst vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund wird die fundamentale Neuausrichtung der Geldpolitik voll verständlich, die nun von der US-Notenbank unternommen wird. Falls die Fed dies durchhält, käme dies einem Paradigmenwechsel gleich, der eine rund 14 Jahren andauernde Ära expansiver Geldpolitik beenden würde. Die Zinserhöhungen der Notenbank gehen mit der Reduzierung des „Wertpapierberges“ einher, den die Fed akkumulierte. Die Bilanzsumme der US-Notenbank ist inzwischen von ihrem Höchststand von 8,93 Billionen im Mai 2022 auf 8,62 Billionen reduziert worden.21 Dies geschieht nicht durch aktive Verkäufe auf den Finanzmärkten, sondern durch eine Reduzierung der Neuaufkäufe von fällig gewordenen Anleihen und MBS. Pro Monat sollen so Staatsanleihen im Wert von 60 Milliarden Dollar von der Fed nicht durch Neuaufkäufe ersetzt werden, was eine „vorhersehbare und geschmeidige“ Reduzierung der Bilanzsumme mit sich bringen solle, so die Notenbank.22 Bei MBS beträgt dieser Wert rund 35 Milliarden Dollar pro Monat.

Doch was bedeutet es für das faktische Rückgrat des Weltfinanzsystems,23 für den amerikanischen Anleihemarkt, wenn die US-Notenbank anfängt, weniger US-Staatsanleihen zu kaufen? Mitte November berichtete etwa die Financial Times (FT) über die zunehmenden „Risse im US-Anleihemarkt“, die im Gefolge der geldpolitischen Wende der Fed sichtbar würden.24 Demnach zeige der mit einem Volumen von 24 Billionen Dollar wichtigste Anleihemarkt der Welt inzwischen ähnliche Instabilitäten wie kurz nach Ausbruch der Pandemie, als die „Ängste vor einem Kollaps der Weltwirtschaft“ zu einem Einbruch der „Preise und Liquidität“ führten, warnte die FT. Im Klartext: Niemand wollte mehr US-Staatsschulden kaufen, sodass die Fed mit ihrer „quantitativen Lockerung“ einspringen musste.

Die Financial Times nennt dabei zwei Indikatoren, die inzwischen ein kritisches Krisenniveau, ähnlich dem im März 2020, erreicht hätten. Die Liquidität des Anleihemarktes sei eingebrochen, so dass es schwerfalle, größere Transaktionen abzuwickeln. Demnach falle es Brokern inzwischen schwer, Bondpakete im Wert von 400 Millionen zu handeln, was zuvor einfach über den elektronischen Handel abgewickelt werden konnte. Zudem sei die Markttiefe rasch gesunken. Hiermit wird das Transaktionsvolumen gemessen, ab dem der Marktpreis beeinflusst werden kann. Im Frühjahr 2020, als das Finanzsystem angesichts der Pandemie kurzfristig in Schockstarre überging, konnten Transaktionen im Umfang weniger als 200 Millionen Dollar den Anleihepreis beeinflussen. Nach der abermaligen Runde von Anleihe-Aufkaufprogrammen der Fed ist die Markttiefe wieder auf mehr als 500 Millionen Dollar pro Transaktion geklettert, um nun, nach Einleitung der „monetären Straffung“ durch die Notenbank, abermals auf weniger als 200 Millionen abzustürzen.

Dabei hat sich das Gesamtvolumen des Marktes für die US-Treasuries im 21. Jahrhundert vervielfacht: von rund drei Billionen im Jahr 2000, über mehr als vier Billionen kurz vor dem Platzen der Immobilienblase 2007, bis zu knapp 16 Billionen am Vorabend der Pandemie, 2019. Derzeit beträgt das Marktvolumen, wie erwähnt, circa 24 Billionen. Die Anleihemärkte seien nun „ein fragiler Raum“, mit einer „furchtbaren Liquidität“, klagte ein Investmentbanker gegenüber der FT, was die „Chancen eines Finanzunfalls“ erhöhe. Mit anderen Worten: die Krisenanfälligkeit des Gesamtsystems nimmt rasch zu, nachdem ihm die „Liquiditätsspritzen“ der Notenbanken entzogen worden sind.

Dieses „Gefühl von Anfälligkeit“ auf dem Markt für US-Staatsanleihen stelle aber ein großes Problem für institutionelle Investoren wie Rentenfonds oder ausländische Regierungen dar, die ihr Geld für gewöhnlich in den als sicher und stabil geltenden Treasuries anlegten, so die FT. Der Markt für US-Staatsanleihen fungiert faktisch als das Fundament des Weltfinanzsystems, wo Geld mit der Aussicht auf sichere, niedrige Renditen von Großanlegern wie Rentenfonds oder Versicherungen investiert wird, die auf verlässliche Einnahmen angewiesen sind. Und dieses Fundament zeigt nun laut FT zunehmend „Risse“. Wenn die „Liquidität“ auf dem US-Anleihemarkt nicht mehr gegeben sei, dann impliziere das „auch etwas hinsichtlich der breiten Stabilität der Finanzmärkte“, erklärte ein Analyst gegenüber dem Londoner Wirtschaftsblatt.

Jede Großkrise auf dem Anleihemarkt werde eine Intervention der Notenbank nach sich ziehen, bemerkte hierzu die Financial Times, doch würde dies „nicht die Art von Stabilität und Sicherheit kommunizieren, auf die Investoren auf der ganzen Welt angewiesen“ seien. Vor allem würde diese „Intervention“ aber darauf hinauslaufen, die oben dargelegte „quantitative Straffung“ auszusetzen – und somit zur Gelddruckerei zurückzukehren, die gerade aufgrund der Inflation überwunden werden soll. Die Notenbanken scheinen somit in ihrer eigenen Liquiditätsblase gefangen zu sein,25 da das sich abzeichnende Ende der inflationstreibenden Gelddruckerei Risse aufkommen lässt im Fundament des Weltfinanzsystems.

Die Liquiditätsparty ist zu Ende

Die große geldpolitische Wende der Notenbanken, die mittels monetärer Straffungen die Ära der quantitativen Lockerungen hinter sich lassen müssen, hinterlässt auch auf den Immobilienmärkten ihre Spuren. Die dekadenlange Party, die Hausbesitzer dank der faktischen Nullzinspolitik der Notenbanken feiern konnten, neige sich ihrem Ende entgegen, meldete die Financial Times im Oktober. Die Umsätze auf den Immobilienmärkten in nahezu allen Ballungszentren der USA und Großbritanniens seien im Sinkflug begriffen, während die rasch steigenden Zinsen Sorgen vor zunehmenden Zahlungsausfällen wecken lassen.26 In Deutschland sollen die Hauspreise laut einer Studie des DIW um zehn Prozent fallen.27 Ähnliche Prognosen von „mehr als zehn Prozent“ Wertverlust werden für viele Großstädte in den USA, für Großbritannien und sogar den Großraum London getätigt.

Ein Lindner geht noch, ein Hausmeister geht noch drauf.

Das Problem mit dem scheinbar moderaten Preisverfall besteht darin, dass er in einem inflationären Umfeld stattfindet. Aufgrund der allgemeinen Inflation von rund elf Prozent in Großbritannien summierte sich der reelle Fall der Immobilienpreise auf rund 25 Prozent, der höher wäre „als die schmerzhafte Korrektur nach der Finanzkrise“ von 2007/08, erläuterte die FT. Der wichtigste Unterschied zum damaligen Krisenschub ist hingegen in den sogenannten Subprime-Hypothekenpapieren zu verorten, bei denen Hauskäufer mit schlechter Bonität Hypotheken erhielten, die mit weiteren Hauskrediten gebündelt und als MBS auf den Märkten gehandelt wurden. Diese Hypothekenverbriefungen waren der wichtigste Faktor, der die Weltfinanzkrise ab 2008 eskalieren ließ – und sie sind diesmal kaum in der Finanzsphäre zu finden. Die größere diesbezügliche Stabilität des Immobilienmarktes kommt bei dem Anteil der Hausdarlehen mit geringem Eigenkapitalanteil von weniger als zehn Prozent zum Ausdruck: Auf dem Höhepunkt der Immobilienbonanza lag er in Großbritannien bei sieben Prozent, nun sind es vier Prozent.

Dennoch wird die Zinswende die Anfälligkeit des im Anschwung befindlichen Immobiliensektors und der korrespondierenden Finanzsphäre erhöhen, da die steigenden Zinsen die finanzielle Belastung in der Mittelklasse erhöhen werden und der Abschwung auf dem Immobilienmarkt diesmal nur ein Teilmoment der Krise ist – er tritt somit mit anderen Dynamiken in Wechselwirkung. Millionen von Hypothekennehmern mit variablen Zinssätzen müssen sich somit auf höhere Belastungen durch steigende Zinsen einstellen, während die konjunkturelle Vollbremsung zu rasch fallenden Einnahmen führt. In Großbritannien etwa soll der Lebensstandard in den kommenden zwei Jahren um 7,1 Prozent fallen, was den höchsten Einbruch in den letzten sechs Dekaden markieren würde.28

Die hohen Zinsen und die drohende Rezession im Gefolge der monetären Straffung destabilisieren somit die gesamte Finanzsphäre, die in der vergangenen Dekade mittels der Geldflut der Notenbanken auf Wachstumskurs gehalten wurde. In der Eurozone, wo die geldpolitischen Auseinandersetzungen zwischen dem deutschen Zentrum und der südlichen Peripherie seit der Eurokrise Tradition haben, musste die EZB angesichts dieser Widersprüche zu einem besonderen monetären Spagat ansetzen: Die Leitzinserhöhungen29 und das Ende der Anleiheaufkaufprogramme der EZB30 gingen einher mit dem Auflegen eines neuen Krisenprogramms, des Transmission Protection Instrument (TPI). Das TPI erlaubt es der EZB, im Notfall – sobald wieder der Zinsabstand zwischen deutschen und südeuropäischen Anleihen ansteigt und ein erneutes Auseinanderbrechen des Euroraums droht – abermals Staatsanleihen und Schuldpapiere des privaten Sektors in unbegrenztem Ausmaß aufzukaufen, um den Euro zu stabilisieren. Die europäischen Währungshüter wagen somit ihre monetäre Straffung nur mit einer Art Versicherungspolice, die ihnen notfalls abermalige Gelddruckerei ermöglicht.

Es sind nicht nur die Märkte für Staatsschulden, die, vor allem in der Eurozone,31 unter der akkumulierten Schuldenlast zusammenzubrechen drohen, auch bei den Unternehmensanleihen wird die Luft allmählich dünn, die Labilität und Anfälligkeit für externe Schocks nimmt zu. Die New York Times berichtete Mitte November über die angespannte Lage auf dem Markt für „Corporate Bonds“, wo laut Prognosen im kommenden Jahr 7,5 Prozent aller Anleihen mit geringer Bonität ausfallen könnten.32 Bei den Verbindlichkeiten von Privathaushalten sieht es nicht besser aus: Diese sind in der gegenwärtigen Stagflation in den USA um 15 Prozent angestiegen.33

Generell sind die vielen Schuldenblasen und Instabilitäten in der Finanzsphäre nur Ausdruck der global zunehmenden Schuldenlast, die von rund 200 Prozent der Weltwirtschaftsleistung zu Jahrhundertbeginn auf mehr als 350 im vergangenen Jahr anstieg. In den OECD-Ländern summiert sich dieser Schuldenberg auf 420 Prozent des BIP, in China sind es 330 Prozent.34 Mit jeder globalen Spekulationsblase wuchs diese Verschuldung weiter stark an, wobei ein großer Teil dieser Kredite gerade nicht für profitable Investitionen, sonder für Konsumausgaben aufgewendet wurde. Das System lief schlicht auf Pump – und es war gerade die expansive Geldpolitik, die diesen Schuldenturmbau auf den Weltfinanzmärkten ermöglichte.

Entscheidend für den Verlauf des derzeitigen Krisenschubs ist die sich nun entfaltende Wechselwirkung zwischen Inflation, konjunktureller Vollbremsung und der labilen Finanzsphäre. Die geldpolitische Wende zur monetären Straffung wird die Konjunktur abwürgen, da die Kreditkosten steigen werden, was wiederum auf den Finanzsektor in Gestalt drohender Kreditausfälle ausstrahlen wird. Reale Wirtschaft und Finanzsphäre können sich somit wechselseitig destabilisieren (mal ganz abgesehen von externen Krisenfaktoren, wie neuen klimabedingten Extremwetterereignissen, oder der Gefahr eines Großkrieges).

Die Krisenfalle

Der große Unterschied zum globalen Finanzkrach von 2008/09 und zum pandemiebedingten Krisenschub von 2020 besteht somit in der Inflation, die nun die übliche Krisenpolitik verhindert. Bislang konnten die Notenbanken schlicht die Zinsen senken und mittels quantitativer Lockerung frische Liquidität in den Finanzsektor pumpen, um die Folgen eines Krisenschubs abzufangen. Im Englischen Sprachraum gibt es die Redewendung „to kick the can further down the road“, mit der die kapitalistische Krisenpolitik der vergangenen zwei Dekaden gut umschrieben wird. Der innere Widerspruch eines faktisch auf Pump laufenden spätkapitalistischen Weltsystems, das ans seiner Produktivität erstickt, wurde durch immer neue Spekulationsdynamiken verschleppt und in immer größere Dimensionen getrieben.

Jede Schulden- und Finanzmarktblase wurde nach deren unweigerlichem Platzen durch einen Blasentransfer, durch Nullzinsen und expansive Geldpolitik, in eine weitere, noch größere Spekulationshausse überführt: von der im Jahr 2000 platzenden Internetaktienblase, über die Immobilienblase 2008, bis zur 2020 im Gefolge der Pandemie kollabierenden Liquiditätsblase. Dies ist nicht mehr ohne Weiteres möglich, die Politik findet sich in einer Sackgasse, in einer Krisenfalle,35 da die Inflationsbekämpfung eine straffe Geldpolitik fordert, während die zunehmende Finanzmarktinstabilität und die sich abzeichnende Rezession eigentlich eine lockere, expansive Geldpolitik nahelegen.

Die Notenbanken müssten somit zugleich expansive und straffe Geldpolitik betreiben, was nur auf die Aporie bürgerlicher Krisenpolitik in der Systemkrise verweist, die durch die Spekulations- und Verschuldungsexzesse im Rahmen der neoliberalen Finanzialisierung des Kapitalismus überbrückt wurde. Dieser grundlegende, durch die Bubble-Economy der letzten Jahrzehnte überbrückte Selbstwiderspruch der Krisenpolitik äußert sich inzwischen auch in Konflikten innerhalb der kapitalistischen Funktionseliten. Innerhalb der US-Notenbank Fed kämpfen in aller Öffentlichkeit zwei Fraktionen um den Krisenkurs.36 Während die monetaristischen „Falken“ der Inflationsbekämpfung Priorität einräumen, fordern die „Tauben“ eine Lockerung der geldpolitischen Daumenschrauben durch rasche Zinssenkungen, um die Krisenfolgen zu begrenzen und eine Eskalation zu verhindern.

Beide Seiten haben somit mit ihren Diagnosen am Krankenbett des Kapitals recht: Hohe Zinsen und straffe Geldpolitik würgen die Konjunktur ab und destabilisieren das System, während expansive Geldpolitik und quantitative Lockerungen die Inflation zusätzlich anheizen. Somit sind aber auch die „Therapien“ beider Fraktionen hinfällig. Diese sich seit Jahren abzeichnende Krisenfalle37 der Politik, die durch Blasenbildung auf den Finanzmärkten überbrückt wurde, könnte diesmal zuschnappen, sodass die politische Klasse nur noch den Verlauf der Systemkrise bestimmen kann: Wird die unausweichliche Entwertung des Kapitals die Verlaufsform einer Deflation oder Inflation annehmen?

Bislang gelang es den kapitalistischen Funktionseliten immer wieder, einen jeden Krisenschub in eine abermalige Blasenbildung zu überführen, den manifesten Entwertungsschub des Kapitals hinauszuzögern (the can was kicked further down the road). Doch das heißt nicht, dass diese Strategie der manifesten Krisenverzögerung – insbesondere aufgrund des inflationären Drucks – auch diesmal gelingen wird. Irgendwann bricht das globale Finanzkartenhaus zusammen, was, wie erwähnt, auch in Wechselwirkung mit externen, klimatischen oder geopolitischen, Faktoren geschehen kann.

Dass es diesmal einen harten konjunkturellen Einschlag geben könnte, legt ein zuverlässiger Frühindikator nahe: der linke Blödheitskoeffizient, laut dem sich der Marginalisierungsgrad von Krisentheorie innerhalb der deutschen Linken proportional zum latenten Entfaltungsgrad des kommenden Krisenschubes verhält. Kurz vor der nächsten Wirtschaftskrise will in der Szene niemand mehr was hören von irgendwelchen Krisen.38 Und das ist derzeit vollauf der Fall. Vom akademischen Schnösel bis zum linken Gewerkschaftsfunktionär will man nur noch über Umverteilung reden und soziale Demagogie betreiben, während die innere Schranke des Kapitals, das an seiner eigenen Produktivität erstickt,39 inzwischen schlichtweg geleugnet wird, da sie der intendierten opportunistischen Mitmacherei im Wege steht. Der nächste ökonomische Krisenschub dürfte somit kurz vor der Tür stehen, da auf die opportunistische Ignoranz40 deutscher Linker schon immer Verlass war.

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1 https://www.nytimes.com/2022/11/10/business/economy/october-inflation-data.html

2 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/419455/umfrage/leitzins-der-zentralbank-der-usa/

3 https://www.cnbc.com/2022/11/16/feds-daly-sees-rates-rising-at-least-another-percentage-point-as-pausing-is-off-the-table.html

4 https://www.konicz.info/2021/11/16/zurueck-zur-stagflation/

5 https://www.statista.com/statistics/1338105/volcker-shock-interest-rates-unemployment-inflation/

6 https://www.statista.com/statistics/247941/federal-funds-rate-level-in-the-united-states/

7 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/507732/zentralbankkapitalismus/

8 https://www.konicz.info/2006/11/30/platzt-die-blase-2/

9 https://www.stlouisfed.org/open-vault/2022/may/how-will-fed-reduce-balance-sheet

10 https://www.konicz.info/2018/02/05/gefangen-in-der-liquiditaetsblase/

11 https://www.konicz.info/2010/03/11/spanische-krankheit/

12 https://www.konicz.info/2015/09/09/anatomie-einer-liquiditaetsblase/

13 https://www.konicz.info/2021/04/13/oekonomie-im-zuckerrausch-weltfinanzsystem-in-einer-gigantischen-liquiditaetsblase/

14 https://www.stlouisfed.org/open-vault/2022/may/how-will-fed-reduce-balance-sheet

15 https://www.konicz.info/2022/06/11/fed-und-ezb-in-geldpolitischer-sackgasse/

16 https://fred.stlouisfed.org/series/WALCL

17 https://www.konicz.info/2021/01/30/hedge-fonds-gamestop-und-reddit-kleinanleger-die-grosse-blackrock-bonanza/

18 https://www.nd-aktuell.de/artikel/1146327.modernen-monetaeren-theorie-gelddrucken-bis-zur-vollbeschaeftigung.html

19 https://www.konicz.info/2022/07/27/ruhm-und-aehre/

20 https://www.konicz.info/2021/08/08/dreierlei-inflation/

21 https://fred.stlouisfed.org/series/WALCL

22 https://www.stlouisfed.org/open-vault/2022/may/how-will-fed-reduce-balance-sheet

23 https://www.konicz.info/2022/07/22/schuldenberge-in-bewegung/

24 https://www.ft.com/content/632411eb-c3fa-4351-a3b6-b0e30bdc0ef7

25 https://www.konicz.info/2018/02/05/gefangen-in-der-liquiditaetsblase/

26 https://www.ft.com/content/528500c8-7cfa-4aaf-9fca-7692aafeb9ce

27 https://www.faz.net/aktuell/finanzen/zinswende-immobilienwert-koennte-um-bis-zu-10-prozent-fallen-18482215.html

28 https://www.ft.com/content/5f081f77-ed30-4a06-864e-7e4cc3204017

29 https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2022/html/ecb.mp221027~df1d778b84.de.html

30 https://www.derstandard.de/story/2000136438818/ezb-stoppt-ankaeufe-von-anleihen-was-sind-die-folgen

31 https://www.derstandard.de/story/2000136438818/ezb-stoppt-ankaeufe-von-anleihen-was-sind-die-folgen

32 https://www.nytimes.com/2022/11/10/business/economy/corporate-bonds-fed-interest-rates.html

33 https://www.cnbc.com/2022/11/16/credit-card-balances-jump-15percent-as-americans-fall-deeper-in-debt.html

34 https://www.marketwatch.com/story/high-debts-and-stagflation-have-set-the-stage-for-the-mother-of-all-financial-crises-11670004647

35 https://www.heise.de/tp/features/Politik-in-der-Krisenfalle-3390890.html

36 https://www.ft.com/content/2fc01b1e-fe5b-43b2-825f-bf6a3679a9fd

37 https://www.heise.de/tp/features/Politik-in-der-Krisenfalle-3390890.html

38 https://www.konicz.info/2020/12/09/der-linke-bloedheitskoeffizient/

39 https://oxiblog.de/die-mythen-der-krise/

40 https://www.konicz.info/2022/10/06/opportunismus-in-der-krise/

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Grafikquellen      :

Oben      —     Christian Lindner, Politiker (FDP), Wahlkampfveranstaltung in München (September 2021). Titel des Werks: „Christian Lindner im Wahlkampf 2021“

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Ceta bleibt falsch

Erstellt von DL-Redaktion am 28. November 2022

Wirtschaftsabkommen EU–Kanada

Es können nie genügend Menschen gegen die persönliche Geldgier der Politiker-innen protestieren um Gehör zu finden ! Diese reiben sich nur vor Verwunderung über den Hass der ihnen entgegenschlägt die Augen ?

Ein Debattenbeitrag von Anne Bundschuh

In dieser Woche soll der Bundestag grünes Licht für Ceta geben. Gegen das EU-Kanada-Handelsabkommen gingen zu Recht Hunderttausende auf die Straße.

Schon 2017 ist Ceta, das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada, zu großen Teilen in Kraft getreten. Während die Große Koalition es jedoch nicht vollständig ratifizierte, geschieht dies nun ausgerechnet unter Federführung eines grünen Wirtschaftsministeriums. Und das, obwohl der Ceta-Investitionsschutz, der nun vollständig wirksam werden soll, Demokratie, Klima- und Umweltschutz gefährdet.

Zwar hatte die Bundesregierung ihre Zustimmung zur Ceta-Ratifizierung Ende Juni an die Verabschiedung einer sogenannten Interpretationserklärung geknüpft. Sie soll zwei der gefährlichsten Klauseln des Sonderklagerechtssystems begrenzen: den Schutz von Investoren vor „ungerechter Behandlung“ und vor „indirekter Enteignung“.

Der zwischen der EU und Kanada abgestimmte Text dieser Interpretationserklärung wurde allerdings bis heute nicht veröffentlicht. Auch der Text­entwurf, den die Bundesregierung gemeinsam mit der EU-Kommission im Rat vorlegte, gelangte Anfang September nur durch ein Leak an die Öffentlichkeit. Welche Änderungen die anderen EU-Mitgliedstaaten oder Kanada danach noch durchsetzten, ist völlig unklar.

Selbst die Bundestagsabgeordneten, die in wenigen Tagen über das Abkommen abstimmen sollen, kennen den Text noch nicht. Ein solches Ausmaß an Intransparenz und an selbst geschaffenem Zeitdruck sollte eigentlich schon genügen, um den Deal abzulehnen. Doch auch inhaltlich gibt es mehr als genug zu kritisieren. Be­für­wor­te­r*in­nen weisen gern darauf hin, dass sich der Ceta-Investitionsschutz von älteren Varianten der Sonderklagerechte unterscheide.

Weiter Sonderklagerechte für Konzerne

Und es stimmt, dass beispielsweise eine Berufungsinstanz eingeführt wurde und dass Schieds­rich­te­r*in­nen unter Ceta von den Vertragsstaaten berufen werden statt von den Streitparteien selbst. Aber: Am entscheidenden Mechanismus hat sich nichts geändert. Internationale Konzerne erhalten weiterhin Sonderrechte und können vor einem extra dafür eingerichteten Schiedsgericht hohe Entschädigungen von Staaten verlangen, deren politische Maßnahmen ihre Konzernprofite einschränken.

Nur beispielhaft sei hier auf die kürzlich entschiedene Schiedsgerichtsklage von Rockhopper gegen Italien verwiesen: Etwa 250 Millionen Euro wurden dem britischen Öl- und Gaskonzern zugesprochen, weil Italien eine Ölbohrinsel nicht genehmigt hatte. Ein Vielfaches der Summe, die der Konzern zuvor in das Projekt investiert hatte.

Nach Recherchen von Greenpeace würden mindestens 360 kanadische Unternehmen durch Ceta Sonderklagerechte gegen Deutschland bekommen – viele davon im Energiesektor. Darüber hinaus könnten auch US-amerikanische Konzerne über ihre kanadischen Tochtergesellschaften den Ceta-Investitionsschutz in Anspruch nehmen, wie auch der Öl- und Gasriese ExxonMobil, der im vergangenen Jahr in Deutschland einen Umsatz von 9,5 Milliarden Euro erzielte.

Die Frage bleibt: Warum sollten diese Investoren Zugang zu einer Sondergerichtsbarkeit bekommen, statt – wie alle anderen Akteure auch – vor ordentliche Gerichte in den EU-Mitgliedstaaten und Kanada zu ziehen? Dass Konzerne Klagen gegen Klimaschutzmaßnahmen einreichen können, daran wird also die Interpretationserklärung nichts ändern: Die Schutzstandards „unfaire Behandlung“ und „direkte Enteignung“ werden nicht aus Ceta gestrichen, sondern lediglich etwas genauer „interpretiert“.

Plenarsaal Straßburg des Europäischen Parlaments - Diliff.jpg

Niemand hatte doch gesagt das kein Außenstehender die leeren Augen sehen dürfe !

Ein großer Spielraum verbleibt somit bei den Schiedsgerichten. Im konkreten Fall werden die beispielsweise darüber entscheiden, ob ein Förderverbot für fossile Energien als angemessene Klimaschutzmaßnahme oder als „indirekte Enteignung“ eines Ölkonzerns zu werten ist. Das Ceta-Abkommen macht keinerlei Vorgaben, ob Schieds­rich­te­r*in­nen über umweltrechtliche Expertise verfügen müssen.

Dafür schreibt es Fachwissen in Völkerrecht sowie optional im Investitions- und Handelsrecht sowie der Streitbeilegung vor. In einem Gutachten haben die Juristinnen Alessandra Arcuri und Federica Violi von der Universität Rotterdam unter anderem darauf hingewiesen, dass diese Gruppe von Schieds­rich­te­r*in­nen in der Vergangenheit häufig Umweltrecht missachtete. Ob man in der Zukunft ausgerechnet ihnen die Entscheidung über die Angemessenheit von Klimamaßnahmen übertragen sollte, darf daher bezweifelt werden.

Quelle      :          TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —   Protest in Brüssel gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA.

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Unten         —       Der Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg während einer Plenarsitzung im Jahr 2014.

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Unbrauchbare Spezialisten

Erstellt von DL-Redaktion am 13. November 2022

Pilot Pirx und der Fluch der Experten

Stanisław Lem 2005

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Ein Hammer erkennt ausschließlich Nägel. Und wer die Welt als Ansammlung von Viren versteht, ist nicht zwingend der geeignetste Gesundheitsminister. Was eine Geschichte von Stanisław Lem über Spezialistentum lehrt.

Eine 1968 veröffentlichte Geschichte von Stanislaw Lem trägt den Titel »Ananke«, nachzulesen in »Pilot Pirx«, 2003, ab Seite 468. Ich will sie hier nicht rezensieren, muss aber kurz schildern, worum es geht: Pirx, Raketenkommandant, wird auf einer Marsbasis Zeuge der Landung des ersten von drei neuen Megatransportraketen. Das computergesteuerte Landungsmanöver verläuft bis in eine Höhe von 5000 Metern plangemäß. Doch plötzlich gibt die Steuerung sinnlos »Meteoritenalarm« und versucht automatisch, eine Rettungsaktion mittels »Alarmstart« auszuführen. Hierdurch gerät die Rakete in einen instabilen Zustand, der sich nicht mehr ausgleichen lässt. Sie stürzt aus fünf Kilometern ab; alle Besatzungsmitglieder kommen ums Leben.

Pirx wird als erfahrener Kommandant in eine Sonderkommission berufen, deren Aufgabe vor allem darin besteht, möglichst rasch die Ursache der Katastrophe zu finden, um eine Wiederholung zu verhindern. Die Kommission, besetzt mit Führungspersonal und Experten aus den zwei Marsbasen, erweist sich als Kopie entsprechender irdischer Gremien und befasst sich vorwiegend mit dem stillen Kampf um ein »Narrativ« der Verantwortung: Technikfehler, Steuerungsfehler, Landekontrollfehler, Zufall?

Die Lage verkompliziert sich noch, als die Zentrale auf Terra die Leitung übernimmt und in Videokonferenzen (mit jeweils acht Minuten entfernungsbedingter Sprachverzögerung) die Ursachen- und Verantwortungserforschung in ein endloses Theorieproblem aufzulösen beginnt, dessen Axiom jedenfalls ist, dass keinesfalls ein Fehler der neuesten, unübertrefflichen Steuerungscomputer vorgelegen haben kann.

Pirx, genervt wie häufig, sitzt zwischen den Stühlen und ahnt, dass das Rätsel woanders liegt. Biografische Erkundigungen, Assoziationen und Erinnerungen führen ihn auf die Spur: Das Anlernen der Rechner geschieht in einem aufwendigen Lern- und Simulationsprogramm, welches die Maschinen mit einem umfassenden Wissen über alle realen und hypothetischen Flugprobleme der Raumfahrtgeschichte ausstattet. Um letzte Sicherheit aus der »Analogie« zu gewinnen, wird jeder Rechner von einem besonders erfahrenen ehemaligen Kommandanten mittels individueller Aufgaben und Anforderungen getestet.

Als Pirx den Namen des für die abgestürzte Rakete zuständigen Experten erfährt, erinnert er sich daran, zufällig einmal gelesen zu haben, dass dieser wegen eines »anankastischen Syndroms« für fluguntauglich erklärt und in den Ruhestand versetzt wurde.

Ursache der Katastrophe war, dass dieser zwanghaft kontrollierende Instruktor, von der Behörde gerade wegen seiner Kleinlichkeit für besonders geeignet gehalten, den Computer zu einer selbstzerstörerischen, sich beschleunigenden Überlastung mit sinnlos angeforderten Massen von Kontrolldaten zwang, die zum tödlichen Panikbefehl »Alarmstart« führte. Pirx, in assoziativer Erkenntnis des Ablaufs, sendet dem alten Kollegen ein Telegramm mit dem dramatischen Poe-Zitat »Thou art the Man«. Der Empfänger erkennt sein Versagen, offenbart es der Raumfahrtbehörde und erschießt sich in derselben Nacht.

Experten

Aus der vorstehenden Einleitung mögen Sie erkennen, dass der Kolumnist sich erstens auf Urlaubsreise befindet und dabei zweitens einmal wieder alle »Pilot Pirx«-Geschichten von Lem liest. Ananke (römisch: »Necessitas«) ist, dies noch ergänzend, die griechisch-mythologische Schicksalsgöttin, symbolisierend den unausweichlichen, objektiven Zwang – sei er gut oder schlecht, günstig oder ungünstig. Die unwiderstehliche Gewalt blinder Notwendigkeit geht, umschlungen mit der Zeit (»Chronos«), dem Willen selbst der Götter vor.

Nun sollen hier nicht fachfremd Probleme der anankastischen Persönlichkeitsstörung bearbeitet werden, denn dazu fehlt dem Kolumnisten die Expertise. Interessant ist vielmehr ein anderer Aspekt des Textes: »Weil der Psychiater (der Werft) nichts von Computern verstand, hatte er angenommen, das sei genau das richtige Betätigungsfeld für so einen Kleinlichkeitskrämer.«

Das wirft die Frage auf, wie es sich mit dem Expertentum, der Erkenntnis und der Beurteilung von beidem im wirklichen Leben verhält, sagen wir: im Rechtsleben oder in der Politik. Viele Ältere werden sich daran erinnern, mit welch verachtendem Hohn einst Bundeskanzler Kohl verfolgt wurde, der sich unvorsichtig als »Generalist« bezeichnet hatte, derweil der Weltökonomie-Oberlehrer Schmidt ein 1945 bis 1949 absolviertes Expertenstudium in VWL und »Staatswissenschaft« vorweisen konnte. Dieserhalb galt Oberleutnant Schmidt, laut Personalakte »auf dem Boden der nat.soz. Weltanschauung« stehend, als deutsche Inkarnation ökonomischer Primärtugend.

Ja – die politischen Experten – sind sie die wahren Ungelernten? 

Generalisten haben es schwer, seit tatsächliche oder plausibel postulierte Universalgelehrte wie da Vinci, Humboldt, Marx oder Weber die Welt verlassen oder sich zu winzigen Quizfragen minimiert haben. Es triumphiert das Expertentum bis in die entlegensten Winkel der Lebensgestaltung. Es gibt, frei nach Habermas, hierzulande annähernd keinen Bereich des Lebens mehr, der dem Zugriff des Marktes und dem Expertentum der Verwertbarkeit entzogen ist.

Daran ist, banal betrachtet, zunächst einmal nichts Furchterregendes. Warum zum generalistisch »praktischen Arzt« gehen, wenn es sich mithilfe von siebzehn Facharztzentren vielleicht ein paar Jahre länger leben lässt?

Andererseits kennt der erfahrene Patient das Folgeproblem: Für die Kardiologen besteht die bekannte Welt aus Arterien, für Onkologen aus Frühtumoren, für Neurologen aus Hirnarealen. Alles sehr wichtig und gut, führt aber weder zur ewigen Jugend noch zum Glück des Aufgehobenseins. Hieraus zu schließen, die besten Ärzte seien Kinderbuchautoren oder hätten eine Ausbildung zum stellvertretenden Vorsitzenden einer Parteigliederung absolviert, wäre übertrieben, weist aber in eine interessante Richtung.

Quelle        :            Spiegel-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Stanisław Lem (1921–2006), Hier 2005 – polnischer Philosoph und SF-Schriftsteller

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2.) von Oben        —       Thomas Fischer auf der re:publica 2016
Ot – Eigenes Werk
Thomas Fischer (Jurist)
CC-BY-SA 4.0
File:Thomas Fischer-Jurist-rebuliva16.JPG
Erstellt: 4. Mai 2016

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Unten       —       Christian Lindner am Wahlabend der NRW Landtagswahl am 14. Mai 2017 in Düsseldorf

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KOLUMNE – Der Postprolet

Erstellt von DL-Redaktion am 13. November 2022

Draußen rumhängen, auch dann wenn’s ungemütlich wird

Kolumne von Volkan Agar

Jedes Jahr gibt es diesen Moment: Ich sitze auf einer Parkbank, habe ein Getränk, vielleicht gute Gesellschaft, im besten Fall auch Musik dabei, und gleich nach dem Hinsetzen merke ich: Es ist einfach zu kalt mittlerweile, um noch draußen rumzuhängen. Natürlich kann man stattdessen in eine Kneipe gehen oder in ein Café. Vielleicht in ein Einkaufszentrum. Oder einfach nach Hause. Aber ich möchte das alles nicht. Ich möchte draußen rumhängen, auch wenn es ungemütlicher wird.

Dabei sollte man es mit dieser Art von Draußenrumhängen ja eigentlich nicht übertreiben. Weil es eine Aktivität ist, die keinen guten Ruf hat. Denn es ist nicht das organisierte Picknick im Park oder die Verabredung auf der Caféterrasse. Sondern ein zielloses Rumhängen, zwischendurch auch Rumlaufen, ohne Zeitgefühl, ohne Auftrag, ohne teuren Konsum. Wer auf diese Weise rumhängt, der hat vermutlich keinen Job. Oder schwänzt die Schule oder hat kein Zuhause. Zumindest niemanden, der sich für ihn interessiert. Möglicherweise ist er auch kriminell. Und hat ein Suchtproblem.

Im Spätsommer, als das Draußenrum­hängen noch angenehmer war, habe ich „Liebe, D-Mark und Tod“ von Regisseur Cem Kaya gesehen. Mit viel Archivmaterial erzählt der Dokumentarfilm die Geschichte der türkischen Popkultur in Deutschland. Man bekommt Einblick in türkische Musik, die in Deutschland entstanden ist, in Partys und Hochzeiten, aber auch in den Alltag der Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, und das Leben ihrer Kinder. Aufnahmen aus deutschen Dokus der 60er, 70er und 80er Jahre zeigen Gastarbeiterkinder in Parks, wie sie auf Baustellen spielen oder einfach auf der Straße rumhängen. Dazu die Erzählung: Die Eltern sind nicht da, sie müssen viel arbeiten, können sich nicht um ihre Kinder kümmern, die wiederum sind sich selbst überlassen. Die Kinder aber schauen oft amüsiert und selbstbewusst in die Kamera.

2016

Der Neueste unter den Republikanern?  Oben Werfen – Unten Auffangen !

Ich bin etwas später, in den 90ern, als Kind von türkischen Gast­ar­bei­te­r-in­nen aufgewachsen. Ich war nicht komplett mir selbst überlassen. Es gab die Schule, die Hausaufgabenhilfe am Nachmittag, den Sportverein am Abend und an den Wochenenden. Es gab halbwegs einen Plan. Aber auch ich habe viel Zeit draußen verbracht. Als Kind hatte ich ein paar Jahre einen Wald in der Nähe. Als wir in eine größere Stadt gezogen sind, hatte ich das Glück, dass man Fußball auch auf dem Aldi-Parkplatz spielen kann. Als Jugendlicher habe ich meine Freunde am Busbahnhof getroffen und wir haben dort Stunden verbracht. Die Vorurteile mancher Mitschüler und ihrer Eltern haben uns damals geschmeichelt.

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Ehemaliger Deutscher Bundeskanzler Gerhard Schröder als Oligarch in Erdöl und Erdgas von russischen Unternehmen Gasprom und Rosneft.

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Die These – Korruption ?

Erstellt von DL-Redaktion am 5. November 2022

Machttrunkene Hybris hat Österreich verdorben

VON RALF LEONHARD

Thomas Schmid ist so etwas wie die Black Box der türkisen ÖVP von Sebastian Kurz. Wenn man sie knackt, findet man jedes Detail der verunglückten Reise dokumentiert. In dem Fall: die Vorbereitungen für den kometenhaften Aufstieg des jungen Hoffnungsträgers bei den österreichischen Konservativen, die generalstabsmäßig durchgezogene Übernahme der Partei und dann der Republik.

Über 300.000 Chat-Nachrichten, die auf Schmids Handy sichergestellt wurden, zeichnen das Sittenbild einer Clique von jugendlichen Emporkömmlingen, die glaubten, das Land gehöre ihnen und niemand könne sie dafür zur Verantwortung ziehen. Die Hybris dieses kleinen Machtzirkels hat in Österreich den Glauben an die Demokratie erschüttert.

Entsprechend groß war das Medieninteresse, als Schmid nach mehreren vergeblichen Vorladungen am Donnerstag vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss „betreffend Klärung von Korruptionsvorwürfen gegen ÖVP-Regierungsmitglieder“, vulgo ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss, erschien. Die Freude der Abgeordneten und der Medienvertreter währte nicht lange: Schmid entschuldigte sich höflich für sein Nichterscheinen bei bisherigen Terminen, verkündete dann aber, er werde von seinem Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch machen. Denn seine Befragung durch die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) sei noch nicht abgeschlossen, jede Aussage könne ihn belasten.

Schmid will durch seine Auskunftsfreudigkeit vor der WKStA den Kronzeugenstatus erlangen und hofft so auf Straffreiheit.

Es half auch nichts, dass ihm im Ausschuss Beugestrafen angedroht wurden. Schmid wollte nicht einmal die Frage, ob er ÖVP-Mitglied sei oder ob er von der WKStA protokollierte Aussagen gemacht habe, beantworten. Das in 15 ganztägigen Befragungen erstellte Protokoll im Umfang von 454 Seiten ist eine wahre Fundgrube an Fakten, deren Stichhaltigkeit von den Strafverfolgungsbehörden noch überprüft wird. Einzelne Chats von Schmid, die an die Medien geleakt wurden, sind inzwischen zu geflügelten Worten geworden. So etwa „Ich bin so glücklich:-)))! Ich liebe meinen Kanzler“, als Kurz dessen berufliche Aufstiegswünsche mit einem „Kriegst eh alles, was du willst“ abgesegnet hatte. In Zusammenhang mit einer Steuerangelegenheit eines Milliardärs erinnerte Schmid einen Mitarbeiter von Kurz: „Vergiss nicht – du hackelst (arbeitest; Anm. d. Red.) im ÖVP Kabinett!! Du bist die Hure für die Reichen!“

Das Selbstverständnis der „Wirtschaftspartei“ ÖVP als Hure der Reichen ist durch Chats und Aussagen von Schmid eindrucksvoll dokumentiert. Der Immobilienmagnat René Benko, in Deutschland bekannt, seit er Kaufhof und Karstadt übernommen hat, bot Thomas Schmid einen Job in seiner Signa Holding mit 300.000 Euro Gage jährlich plus Boni in gleicher Höhe an. Laut Schmid habe sich Benko im Gegenzug eine „steuersenkende Lösung“ für seine Probleme mit dem Fiskus gewünscht. Schmid habe dann Druck auf den zuständigen Beamten gemacht. Aus der Stelle als „Generalbevollmächtigter“ bei Signa wurde dann nichts, weil Sebastian Kurz seinen besten Mann im Finanzministerium nicht gehen lassen wollte.

Zu den Lieblingsmilliardären der ÖVP zählt auch Siegfried Wolf, der mit dem russischen Oligarchen Oleg Deripaska im Geschäft ist und jüngst das MAN-Werk in Steyr übernommen hat. Bei Wolf ging es um Steuerschulden, die dieser nicht oder nur teilweise zahlen wollte. Schmid in seinem Einvernahmeprotokoll: „Er hat mich aus meiner Sicht gedrängt und gepusht zu seinen Gunsten tätig zu werden.“ Tatsächlich zeigte sich der damalige Finanzminister Hans-Jörg Schelling flexibel und verzichtete auf einige Millionen Euro von Wolf. Andere Steuerzahler können von solcher Kulanz nur träumen.

Sebastian Kurz war damals noch Außenminister in einer SPÖ-geführten Koalition. Die Umfrageergebnisse der ÖVP grundelten um die 20 Prozent, Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) war noch in Amt und Würden, er erfreute sich zunehmender Popularität. Populär war auch der damals 30-jährige Sebastian Kurz, der in der alten grauen Tante ÖVP einen von vielen als erfrischend gesehenen Farbtupfer abgab. Mit einer Gruppe von Getreuen aus der Jungen ÖVP entwarf er daraufhin das „Projekt Ballhausplatz“. Ballhausplatz 2 ist die Adresse jenes Trakts der ehemaligen kaiserlichen Hofburg, der die Büros des Bundeskanzlers beherbergt. Die Verschwörer sammelten kompromittierendes Material über politische Gegner in- und außerhalb der eigenen Partei, warben um Sponsoren und Prominente und sägten am Stuhl des eigenen Parteichefs und Vizekanzlers Reinhold Mitterlehner.

Dabei bedienten sie sich einer Methode, die nicht nur moralisch fragwürdig ist, sondern nun auch Kurz hinter Gitter bringen könnte. Die Sache ist so heikel, dass Kurz ein Telefongespräch mit Schmid aufnahm, in dem er seinen ehemals ergebenen Erfüllungsgehilfen offenbar nötigen wollte, alle Schuld auf sich zu nehmen und Kurz reinzuwaschen. Das Ergebnis erwies sich als wenig hilfreich. Es geht um die Frage: Hat Kurz selbst den Auftrag gegeben, manipulierte Umfragen in einem Boulevardblatt zu platzieren und diese Intrige mit Steuergeldern aus dem Finanzministerium zu bezahlen?

Beinschab und Abrissbirne

Schmid spricht vom „Österreich-Beinschab-Tool“ und nannte Kurz als Auftraggeber. Österreich heißt die Gratiszeitung der geschäftstüchtigen Gebrüder Fellner, die sich wohlwollende Berichterstattung über Politiker mit fetten Anzeigen bezahlen lassen. Sabine Beinschab heißt eine Meinungsforscherin, deren Ein-Frau-Betrieb zu großen Teilen von öffentlichen Aufträgen lebte. Sie hatte den Auftrag, Sebastian Kurz nur im besten Licht erscheinen zu lassen. Beinschab, die inzwischen Kronzeugenstatus erhalten hat, ist vollumfänglich geständig. Die Honorarforderungen für ihre Umfragen und Studien, die einzig dem Image von Kurz nützten, reichte sie auftragsgemäß im Finanzministerium ein.

Jetzt mussten sich Kurz und Co nur noch aus der ungeliebten Koalition mit den Roten befreien, um den Marsch auf den Ballhausplatz erfolgreich antreten zu können. Dabei betätigte sich der damalige ÖVP-Innenminister Wolfgang Sobotka als „Abrissbirne“, wie Christian Kern später in einem Interview erzählte: Kurz habe immer wieder den Stillstand und die Streitereien in der Regierung beklagt, die dieser jeden Tag gemeinsam mit Sobotka herbeigeführt habe. Sobotka wurde später mit dem Posten des Nationalratspräsidenten belohnt. Mitterlehner warf schließlich entnervt das Handtuch und gab den Parteivorsitz ab. Kurz triumphierte und steuerte auf Neuwahlen zu, nach denen er mit der rechten FPÖ den idealen Partner fand. Die neue Regierung aus ideologisch Rechten und opportunistischen Neokonservativen strahlte so viel Harmonie aus, so mancher glaubte, sie könne mehr als zwei Legislaturperioden halten. Nur Herbert Kickl, der sich als Innenminister anschickte, eine der wichtigsten Bastionen der ÖVP zu schleifen, störte den Koalitionsfrieden. Dann ploppte der Ibiza-Skandal auf. Im Mai 2019 wurde ein im Sommer 2017 heimlich aufgenommenes Video publik. Die Selbstentblößung des späteren Vizekanzlers Strache musste zu dessen Rücktritt führen. Kurz nutzte die Gelegenheit, um den Störenfried Kickl zu entfernen – und wurde mit einem von der FPÖ mitgetragenen Misstrauensvotum bestraft. Bundespräsident Alexander Van der Bellen ernannte eine Beamtenregierung, die sich großer Beliebtheit erfreute, weil sie auf die tägliche Inszenierung verzichtete.

Quelle         :          TAZ-online           >>>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Wahlplakat der Christlichsozialen Partei in Wien, 1920

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Politische Vollpfosten?

Erstellt von DL-Redaktion am 4. November 2022

Wieviel dürfen Diese dem Volk noch Kosten ?

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Was uns die Politik derzeit bietet bzw. zumutet, ist schier unerträglich und deckt die Riesenlöcher im Netz unserer Demokratie auf. Das Hin-und-Her und Rein-und-Raus hat mit Wählerwille nichts mehr zu tun.

Anstatt auf das Volk mit seinen Nöten zu hören, beruft man sich auf die Koalitionsvereinbarung. Die aber wurde zu einer Zeit und hinter verschlossenen Türen geschrieben, die mit der realen Situation von heute nicht vergleichbar ist. Ein besonders abstoßendes Beispiel für politisches Handeln ist der Auftritt der Ampelregierung in der derzeit heftig diskutierten Situatiom bezüglich China.

Jahre vor der Pandemie mit ihren weltweiten Auswirkungen aller Art hatte Trump einen Handelskrieg mit China aus rein national-egoistischen Gründen losgetreten, der hier kaum interessierte. Unsere Wirtschaft mit China lief ja hervorragend und zu aller Zufriedenheit. Die Regierungsform war noch nie eine Voraussetzung für die Aufnahme von Geschäftsbeziehungen mit anderen Ländern, sondern nur die Aussicht auf den eigenen Vorteil und Profit.

Bei Beziehungen nur mit „lupenreinen“ Demokratien hätten wir nie zum Exportweltmeister werden können. Der Krieg in der Ukraine hat nun unerwartet hart unsere Wirtschaft getroffen und gezeigt, dass Globalisierung sich dann auch negativ auswirken kann, wenn die Politik sich rabiat einmischt und essentielle Warenströme durch Sanktionen abschnürt bzw. darauf hinarbeitet, ohne sich vorher mit der betroffenen Wirtschaft abzustimmen. Im Falle China ist das besonders dümmlich, weil im Wesentlichen alle Geschäfte prächtig liefen und uns so vergessen ließen, dass sie mittlerweile für unser Gemeinwohl geradezu unverzichtbar sind.

In dieser Situation ist es scham- und taktlos, dass die Koalitionspartner Grüne und FDP öffentlich den SPD-Kanzler vor seiner Reise nach China desavouieren, ohne auch nur einen konkreten wirtschaftlichen Grund oder Anlass zu nennen, alles nur Ängste, Vermutungen, Unterstellungen. Glücklicherweise reist der Kanzler mit einer Gruppe höchster Wirtschaftsführer nach China und signalisiert so klar das Interesse an einer Weiterführung der Zusammenarbeit.

Datei:COSCO Hamburg (Schiff, 2001) 001.jpg

Ein (Schiff) Scholz wird kommen

Harbeck hingegen hatte versucht, die Wirtschaft mit strengen Auflagen in China auszubremsen, musste aber seinen Schwanz einziehen. Baerbock will Beziehungen nur mit Ländern, die unsere Werte teilen. Was das soll, sagt sie lieber nicht, denn dann müsste sie ihre Rolle als Steigbügelhalterin für die America-First-Politik und ihre US-Hörigkeit offenlegen. Also lieber nichtssagend vage bleiben. Und Lindner will unseren seit Jahren wichtigsten Wirtschaftspartner durch eine „Lex China“ knallhart diskriminieren und ist überhaupt gegen alles, was nicht auf seinem Mist gewachsen ist, wohlgemerkt: Mist.

Jeder Vertrag-schaft gegenseitige Abhängigkeiten. Daher muss man ihn auch sorgfältig abwägen und diskutieren und sich eben nicht – wie geschehen – gewollt und profitgeil Beziehungen suchen, ohne die Interessen der Gegenseite zu respektieren und die langfristigen Folgen außer Acht zu lassen. Für den Aufbau und die Führung vertrauensvoller Beziehungen brauchen wir keine politischen Vollpfosten mit vierjährigem Verfallsdatum, sondern Wegbereiter mit Erfahrung und Weitsicht, mit Respekt vor den Kulturen und Werten anderer Länder und schließlich mit Anstand und Sitte im Umgang miteinander.

Urheberrecht
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Oben      —   Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Elon Musk und Twitter

Erstellt von DL-Redaktion am 3. November 2022

Der Markt regelt das (hoffentlich)

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Elon Musk hat Twitter gekauft, das verheißt zunächst nicht unbedingt Gutes. Doch es gibt auch eine gewisse Chance, dass die Plattform dadurch besser wird.

Bei politischen Diskussionen zwischen Digitalisierung, Globalisierung und Wirtschaft dauert es selten lange, bis zwei besondere Positionen aneinandergeraten. Die einen beschwören den freien Markt und sehen selbst hartnäckiges Marktversagen stets als Folge eines Marktes, der nicht frei genug ist. Sie begreifen selten, dass ein Markt nur von Gnaden einer wehrhaften, liberalen Demokratie auf sinnvolle Weise frei sein kann, und das auch nur in wertebestimmten Grenzen. Deshalb ist die gesellschaftlich eingehegte, soziale Marktwirtschaft für so viele Leute auf dem Planeten so attraktiv.

Für radikal Marktgläubige geistert seit Jahrzehnten der so abfällige wie diffuse Begriff »Neoliberale« herum, inzwischen manchmal ergänzt um die Bezeichnung »Libertäre« – so nennt man (Pseudo-)Liberale ohne Reflexionsvermögen oder Gewissen. Neoliberale sind oft geschmäht worden, weil sie häufig den Glanz einer stringenten Wirtschaftsphilosophie und schiere Herzenskälte miteinander verwechseln. Auf einer durchschnittlichen Cocktailparty politisch interessierter Menschen in einer beliebigen deutschen Großstadt empfiehlt es sich deshalb eher zu sagen, dass man gern lebendige Kätzchen grillt, als dass man neoliberal ist. Gerade auf Partys, wo das Jahreseinkommen der Anwesenden im Schnitt sechsstellig ist.

Auf der anderen Seite aber stehen Leute mit einer Position, die in ihrer Undurchdachtheit und gleißenden Übervereinfachung zu selten diskursiv gestellt wird, wenn man die Beschimpfungen durch Rechte und Libertäre nicht zur Diskussion zählt. Es geht um Menschen, die im Markt etwas grundsätzlich und strukturell Böses sehen. Sie nur »links« zu nennen, greift zu kurz, auch wenn sich die meisten unter ihnen so fühlen dürften. (Ehrliche, moderne Kommunisten sind hier ehrenhalber ausgenommen, aber die sind zu selten, um sie als relevante Debattengröße zu betrachten.) Vielleicht ist ein Problem, dass diese prinzipiell marktverachtenden Leute anders als ihre »neoliberalen« Gegner keine sinnvolle, wirtschaftspolitisch fokussierte Bezeichnung tragen. »Sozialisten« trifft es nämlich auch nicht, die merkwürdige Märkteverachtung ist viel weiter gefasst, bis tief in bürgerliche Sphären.

Für Twitter ist der Markt vielleicht die einzige Chance

Freie Märkte in toto für etwas Schlimmes zu halten, ist gerade aus linker (nichtkommunistischer) Sicht spektakulärer Unfug, schon weil sich im wirtschaftlichen Prinzip des Marktes ein Massenvotum abbilden kann. Das ist jetzt noch nicht von allein demokratisch. Aber die Stoßrichtung wird klar, wo eines der meistgefürchteten und in Europa meist linken Konzepte ist, Produkte von Unternehmen, die sich unethisch verhalten, zu boykottieren. Endkundenorientierte Märkte sind der Grund dafür, dass sehr viele, sehr große Unternehmen eine ganze Reihe von Positionen übernommen haben, die vor 20, 30 Jahren als sehr, sehr links gegolten hätten. Die Deutsche Bank – im 20. Jahrhundert das unternehmerische Superfeindbild vieler Linker – unternimmt seit Jahren umfangreiche Pride-Month-Aktivitäten  und beendet, zugegeben nur punktuell, Geschäftsbeziehungen zu LGBTIQ-feindlichen Unternehmen. Auch wenn man über Ausmaß und Wahrhaftigkeit dieser Entwicklung streiten kann – hier wirkt der Markt in Form von Kundendruck gesellschaftlich positiv.

Es gibt das schwierige Zitat von Angela Merkel, einer ehemaligen Bundeskanzlerin (CDU), wo sie ankündigt, die »parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist «. Ihr ist deshalb oft vorgeworfen worden, eine »marktkonforme Demokratie« anzustreben, und in der Politik ihrer gefühlt 73 Jahre andauernden Kanzlerinnenschaft finden sich Anzeichen, dass sie tatsächlich ab und zu so denkt, wie man das Zitat zuallererst verstehen muss. Aber wir leben inzwischen in einer Welt, in der die liberale Demokratie von so vielen Seiten attackiert wird, dass sie jeden Verbündeten gebrauchen kann. Und hier kommt der Markt auf vielfältige Weise ins Spiel. Zum Beispiel, dass wirtschaftliche Sanktionen wie derzeit gegen Russland eines der wichtigsten Instrumente sind, um die Ukraine und überhaupt die Demokratie zu unterstützen.

Der derzeit vielleicht interessanteste Fall, wo der Markt vielleicht sogar die einzige Chance auf eine im demokratischen Sinn positive Wendung darstellt, ist Twitter.

Elon Musk hat Twitter gekauft, und das verheißt zunächst nicht unbedingt Gutes. Musk ist ein hervorragender Unternehmer, vielleicht eine der Personen auf dem Planeten, die die Digitalwirtschaft am besten begreifen. Das ist schön für ihn, aber leider bereits Teil des Problems. Musk gehört zu den gar nicht so wenigen Nerds, die digitale Systeme gut verstehen – aber deshalb fälschlicherweise glauben, auch die Welt zu verstehen, ein ideologisches Problem, das der Kulturwissenschaftler Michael Seemann schon vor Jahren skizziert hat .

Musk hat behauptet, wir würden »sehr wahrscheinlich in einer [digitalen] Simulation leben «. Aus dieser doch etwas merkwürdigen Position kann man viel über Musk schlussfolgern. Unter anderem, dass ihm diese Deutung der Welt so gut passt, weil er so sein großes digitales Verständnis einfach der Restwelt überstülpen kann. Elon Musk versteht die Welt aber gar nicht. Wie viele erfolgreiche Unternehmer sieht er die Welt als Ansammlung von Problemen an, die man unternehmerisch lösen könne. Darin spiegelt sich bereits eine gewisse Geringschätzung demokratischer Prinzipien und der dazugehörigen Politik. Elon Musk verhält sich dann in vielerlei Hinsicht auch wie ein Libertärer, also radikal staatminimierend. Ein bekanntes Bonmot umreißt die Position der Libertären  so:

  • »Wie würdest du Libertäre beschreiben?«
  • »Libertäre sind wie Hauskatzen. Sie sind überzeugt von ihrer wilden Unabhängigkeit, aber komplett abhängig von einem System, das sie weder wertschätzen noch verstehen.«

Musks Schaffen und seiner unablässigen Kommunikation kann man entnehmen, dass seine beiden wichtigsten, öffentlich erkennbaren Eigenschaften unterschiedliche Formen von Mut sind: unternehmerischer Mut und Wankelmut. Erst unterstützt er die Ukraine mit kriegswichtiger Digitalinfrastruktur, dann flirtet er auf Twitter  öffentlich mit dem Putinfreund und Ex-Präsidenten Medwedew und postet Vorschläge zur vermeintlichen Lösung des Konflikts, die direkt aus der Feder Putins stammen könnten .

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Musk sympathisiert offen mit den Republikanern

Es ist extrem wahrscheinlich, dass Elon Musk Twitter als persönliches Instrument zur politischen Beeinflussung nach Gutdünken betrachtet, mithilfe einer vorgeblichen Selbstverpflichtung zu Neutralität, Objektivität oder Ausgewogenheit – Elon Musk als ein libertäres Ein-Mann-China, bloß mit starkem Loose-Cannon-Einschlag. Dazu kommt die so absurde wie gefährliche, in Deutschland praktisch unbekannte Philosophie des Longtermism (auf Deutsch würde ich dafür die Begriffe Langzeitismus oder Zukunftismus vorschlagen). Dieser Ideologie hängt Musk erklärtermaßen an .

Dabei ist man, etwas vereinfacht, so sehr auf den langfristigen Erfolg der Menschheit in einer Million Jahren erpicht, dass man schnell bereit ist, ein paar Millionen Leben in der Gegenwart zu opfern, um ein paar Billionen noch gar nicht geborenen Leben in der fernen Zukunft bessere Chancen zu verschaffen. Longtermism ist entgegen des ersten Anscheins eine quasireligiöse, oft menschenfeindlich gewendete Ideologie, die unter dem Deckmantel eines zukunftsorientierten Altruismus alle möglichen faschistoiden Haltungen von Euthanasie bis Sozialdarwinismus zumindest akzeptabel erscheinen lässt. Und Longtermism wird fast immer libertär vorangetrieben, weil die Verfechter nicht an eine demokratische, sondern an eine unternehmerische Umsetzung dieser Zukunft glauben.

In den USA ist die libertäre Position inzwischen oft sehr nah an der republikanischen System- und Staatsverachtung, und so sympathisiert Musk offen mit den Republikanern. Die wiederum an der Abschaffung der Demokratie arbeiten. Befeuert und angetrieben von Donald Trump, für den der famose Schmähschriftsteller Peter Rühmkorf  1953 in seiner Schrift »Der Literaturwilderer« einen perfekt passenden Begriff erfand: Gelegenheitsfaschist. Dass genau dieser Personenkreis von Musks Twitter-Herrschaft sehr angetan ist, konnte man daran erkennen, dass die Verwendung des N-Wortes auf Twitter  nach dem Kauf um 500 Prozent gestiegen ist.

Die angekündigten Strategien sind teils widersprüchlich

Quelle       :          Spiegel-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —       Elon Reeve Musk, alias Elon Musk ist der Gründer, CEO, CTO und Chefdesigner von SpaceX; früher Investor, CEO und Produktarchitekt von Tesla, Inc.; Gründer von The Boring Company; Mitbegründer von Neuralink; und Mitbegründer und erster Co-Vorsitzender von OpenAI. Musk ist einer der reichsten Menschen der Welt. Diese Karikatur von Elon Musk wurde von einem Creative Commons-lizenzierten Foto vonTesla Owners Club Belgiens Flickr-Fotostream.

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Der Oligarchen-Sumpf

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Oktober 2022

Hunter Biden steckt noch tiefer im russischen Oligarchen-Sumpf

Hunter Biden

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von   :    Urs P. Gasche /   

Der Präsidentensohn erhielt 40 Millionen Dollar aus der Schweiz von der Milliardärin Jelena Baturina für Immobilien-Investitionen.

Die russische Milliardärin Jelena Baturina, Witwe des langjährigen Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow, zahlte Hunter Bidens Immobilienfirma Rosemont Seneca im Jahr 2014 nicht nur 3,5 Millionen Dollar für «Beratungen», sondern stellte Bidens Firma auch 40 Millionen Dollar zur Verfügung für Investitionen in Büro-Immobilien in den US-Staaten Texas, Colorado, Alabama, New Mexiko und Oklahoma. Damit war die finanzielle Beziehung zwischen Hunter und Baturina weitaus umfangreicher als bisher bekannt.

Die Finanzierung erfolgte über eine Firma Baturinas mit Sitz im Steuerparadies Zug. Die Inteco Management AG, deren Geschäftstätigkeit laut Handelsregister aus «Unternehmungsberatungen» bestand, befindet sich gegenwärtig in Liquidation. Die Zuger Niederlassung war nur der Steuersitz der Inteco-Gruppe, einem Kunststoff- und Baukonzern, der Baturina zur Milliardärin machte. Forbes schätzt ihr gegenwärtiges Vermögen auf 1,4 Milliarden Dollar. Im April hatte Wikipedia den Zugang zur Seite «Inteco Management» ohne Begründung gesperrt. Ein Wiki-Redaktor, der sich nur als Alex identifizierte, begründete die Löschung gegenüber der New York Post unter anderem damit, dass «wenn man die Seite beibehält», das Risiko bestehe, dass sie «ein Magnet für Verschwörungstheorien über Hunter Biden» werde.[1]

Die engen Beziehungen von Hunter Biden mit Oligarchen aus Russland und Kasachstan geht aus E-Mails hervor, die er dem kasachischen Geschäftsmann Kenes Rakischew schrieb und aus einem Leck bei der kasachischen Antikorruptionsstelle stammen sollen. Die britische Zeitung Daily Mail hat Auszüge aus den Dokumenten am 17. Oktober in Faksimile veröffentlicht. Grosse Schweizer Medien haben bisher darüber nicht informiert, wie aus der Schweizer Mediendatenbank hervorgeht.

Kenes Rakischew wurde zum Freund und Geschäftspartner von Hunter und zusammen mit ihm und Joe Biden fotografiert.

Die Beziehung zwischen dem Sohn des Präsidenten und Jelena Baturina wiederum wurde bereits in einem Senatsbericht als alarmierend bezeichnet, nachdem sie auf mysteriöse Weise 3,5 Millionen Dollar an die Immobilienfirma von Hunter überwiesen hatte. Baturina habe sich geweigert, darüber zu sprechen. Ihr Bruder Viktor Baturin habe jedoch gegenüber Daily Mail erklärt, das Geld sei «eine Zahlung für den Eintritt in den amerikanischen Markt».

Nach Angaben der Daily Mail untersuchen Bundesanwälte die Geschäfte Hunter Bidens mit ausländischen Milliardären. Es gehe um mögliche Geldwäsche, illegale Lobbyarbeit und Steuervergehen.

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Oben      —     Eröffnungsparade von Barack Obama 2009

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Amt gegen Geldwäsche

Erstellt von DL-Redaktion am 19. Oktober 2022

Mafia, Hände hoch, jetzt kommt Christian Lindner

Der Kleine kommt auf schmalen Hacken und will das ganze Land verkacken ?

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Der Finanzminister will eine Behörde gegen Geldwäsche schaffen. Was bei »Die Unbestechlichen« im Kino klappt, sollte doch auch in der Realität funktionieren. Oder?

Finanzielles

Der Mensch als solcher möchte gut sein, schafft dies aber in seiner konkreten Gestalt nicht immer. Sehr viele Menschen begehen vielmehr Handlungen, die unmoralisch, verboten, sogar mit Strafe bedroht sind: Straftaten. Was eine Straftat ist, ergibt sich, sofern man in einem Rechtsstaat lebt, nicht aus der Moral, der Laune der Mächtigen oder dem Volkszorn, sondern aus dem Gesetz.

Eine Straftat ist die Verwirklichung der gesetzlichen Merkmale einer Strafnorm (eines »Straftatbestands«) ohne Rechtfertigung. Diese Tatbestände, die im »Strafgesetzbuch« (StGB), aber auch in vielen anderen Gesetzen enthalten sind, sollen ganz verschiedene Gegenstände, Zustände, Umstände vor Verletzungen und Schäden schützen. Das sind die sogenannten Rechtsgüter. Wir kennen ganz verschiedene Arten von Rechtsgütern: Höchstpersönliche wie Leib und Leben, allgemeine wie die öffentliche Ordnung, individuelle und kollektive, sehr abstrakte wie die »Volksgesundheit« und ganz konkrete wie das Eigentum an einer Sache.

Soweit es um »Geldwäsche« geht, liegt der Gedanke nahe, dass ein enger Zusammenhang vor allem mit der »Vermögens«-Kriminalität im weiteren Sinn besteht. Also mit solchen Straftaten, bei denen die Rechtsgüter Vermögen, Eigentum, Besitz, Kreditwürdigkeit, Urheberrecht oder Wettbewerb verletzt werden. Dieser Gedanke greift allerdings zu kurz. Das versteht man, wenn man sich kurz den Straftatbestand der »Hehlerei« (§ 259 StGB) anschaut: Bestraft wird danach unter anderem, wer eine von einer anderen Person durch Diebstahl, Unterschlagung, Betrug, Raub usw. erlangte konkrete Sache »sich verschafft«.

Wichtig ist hieran, dass die Hehlerei, ein sehr alter Tatbestand, stets auf konkrete Sachen bezogen ist. Wenn also die Räuberin R dem Opfer O mit Gewalt zehn Geldscheine wegnimmt und diese Scheine dann ihrem Freund F schenkt, begeht F, wenn er die Herkunft kennt, eine Hehlerei an den konkreten Geldscheinen. Wenn R das Geld aber auf ihr Konto einzahlt und dann die Summe an F überweist, erlangt er keine Geldscheine, sondern einen Auszahlungsanspruch gegen die Bank. Auch wenn er nun die ganze Summe bar abhebt, begeht er keine Hehlerei, denn natürlich erlangt er nicht die konkret geraubten Scheine.

Eine »analoge« (»entsprechende«) Anwendung des § 259 StGB ist nicht möglich, denn sie wäre wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) verfassungswidrig: Man kann das Wort »Sache« nicht als »Auszahlungsanspruch« auslegen. So ist das nun mal im Rechtsstaat: »Totschlag« ist das Töten eines »anderen Menschen«, und wer einen Hund zu Tode quält, begeht daher keinen Totschlag, sondern eine Tierquälerei.

Weil es aber ungerecht erscheint, die Hehler von Sachen zu verfolgen, die »Ersatzhehler« an unkonkreten »Vermögens«-Werten aber nicht, hat der deutsche Gesetzgeber im Jahr 1992 den Straftatbestand der »Geldwäsche« (§ 261 StGB) eingefügt (»Gesetz zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität«). Nach dieser Vorschrift wird bestraft, wer einen »Gegenstand«, der aus einer anderen Straftat »herrührt«, entweder versteckt oder seine Herkunft verschleiert oder sich oder einer dritten Person »verschafft«. »Gegenstände« im Sinn des Gesetzes sind nicht nur Sachen, sondern auch Rechte. Der Auszahlungsanspruch des F im oben genannten Beispiel ist ein solches Recht. F könnte daher wegen Geldwäsche bestraft werden.

Märchenhaftes

Nach dieser saftig-spannenden Einleitung geht es nun vorübergehend etwas trockener weiter: Wir haben es bei der Geldwäsche-Bestrafung also auf den ersten Blick mit einer sachlich naheliegenden Übertragung der Hehlerei-Strafbarkeit auf Nicht-Sachen zu tun. Ein gewaltiger Haken steckt bei näherem Hinsehen allerdings im Begriff »Herrühren«: Da der Tatgegenstand keine konkrete Gestalt hat, kann er schlichtweg alles sein, was – irgendwie – aus einer (fremden oder eigenen) Tat stammt. »Herrühren« umfasst nämlich auch alles, was mittelbar auf den Gegenstand zurückzuführen ist, der aus der Vortat stammt. Das bedeutet: Solange kein »gutgläubiger« Zwischenerwerb stattgefunden hat, pflanzt sich das Unrecht der Vortat in Gestalt des »Gegenstands« immer weiter fort. Dabei vermischt sich dieser Gegenstand laufend mit allen denkbaren anderen Gegenständen, die nicht aus Straftaten »herrühren«, und »kontaminiert« diese: Wenn zu 90 Euro legal erworbenem Geld 10 Euro hinzukommen, die aus einer (fremden) Straftat stammen, werden die ganzen 100 Euro zu einem »Gegenstand, der aus einer Straftat herrührt«.

Eine weitere Erwägung macht die »Geldwäsche«-Problematik deutlicher. Die Verfolgung der Geldwäsche dient nämlich nicht etwa exklusiv dazu, Gewinne aus kriminellen Geschäften »abzuschöpfen«. Das geht auch ohne § 261, nämlich mittels »Einziehung« (§§ 73 ff., 76a StGB), und auch ganz ohne Strafverfahren. Indem man aber die »Ersatzhehlerei« an allen denkbaren »Gegenständen«, die aus bestimmten Vortaten »herrühren«, als selbstständige Tat strafbar macht, verlängert man die Spur dieser Vortaten ins Unendliche. Zugleich lässt sich das gedanklich umkehren: Wenn man alle »Gegenstände« aufspüren könnte, die aus Straftaten herrühren, könnte man alle diese Taten auffinden und aufklären. Das ist es, was im Kriminalisten-Wording »Der Spur des Geldes folgen« heißt. Es beschreibt nicht weniger als die »Theorie« und die Utopie, mittels Verfolgung der »Geldwäsche« alle Taten, aus denen Gegenstände herrühren können, nicht nur nachträglich aufklären zu können, sondern sie im Vorfeld auch verhindern zu können. Die schlichte Formel lautet: Wenn illegale Geschäfte sich nicht mehr »lohnen«, werden sie auch nicht mehr gemacht.

Dieser – mit Verlaub: etwas kindlich wirkende – Gedanke stammt aus dem Theorienschatz der US-amerikanischen Drogenpolitik und -verfolgung. Da man des illegalen Drogenmarkts offenkundig nicht Herr wurde (und immer weniger wird), kam man dort schon vor Jahrzehnten auf die Idee, ihn zu bekämpfen, indem man »einfach« die durch Drogenhandel generierten Erlöse aus dem Markt zieht. Wenn die Dealer ihre Gewinne nicht mehr in den legalen Geldmarkt einspeisen können, so lautet die Theorie, dann hören sie auf zu dealen.

Das hat, wie man zugeben muss, seit einigen Hundert Jahren bei der Hehlerei nicht geklappt. Aber die Hoffnung lebt ja immer fort: Man muss die wirtschaftlichen Bewegungen der Gesellschaft nur vollständig durchsichtig machen, und schon ist die Kriminalität abgeschafft. Toll!

In den Achtziger- und Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts verbreitete sich diese Strategie mittels der von den USA dominierten internationalen Drogenpolitik, teils auch mittels durchaus massiven Drucks, weltweit.

»Geldwäscheparadies Deutschland«: Wahrscheinlich stand der Begriff vor 20, 30 Jahren in irgendeinem Referatstext einer BKA-Tagung.

Der deutsche Straftatbestand des § 261 führte zunächst eine »Vortatenliste« ein, also eine Aufzählung einiger besonders Geldwäsche-geneigter schwerer Straftaten. Diese Liste wurde über die Jahre, wie es in der Natur solcher Listen liegt, permanent erweitert. § 261 StGB ist die bei Weitem am häufigsten geänderte (meint: erweiterte) Vorschrift des StGB. Besonders bemerkenswert war es, dass schließlich auch die Steuerhinterziehung als »Vortat« und als geldwäschetaugliche Gegenstände auch solche eingestuft wurden, »hinsichtlich derer« Steuern hinterzogen wurden. Das können auch Gegenstände sein, die ganz legal erworben wurden. Auch wer sie »sich verschafft«, wird bestraft.

Quelle         :         Spiegel-online      >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Christian Lindner am Wahlabend der NRW Landtagswahl am 14. Mai 2017 in Düsseldorf

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Wissenschaftslobbyismus

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Oktober 2022

Die Rolle der Bertelsmann-Stiftung in der aktuellen Gesundheitspolitik

Bertelsmann Stiftung 2007-01.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      ;  Joseph Steinbeiss / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 471, August 2022, www.graswurzel.net

Mit vorgeblich rein wissenschaftlichen Studien seiner Stiftung und offensiver Lobbyarbeit treibt der Bertelsmann-Konzern die neoliberale Zerschlagung der dezentralen Klinikstruktur voran.

Die grösste Dreistigkeit, die es rund um die Bertelsmann-Stiftung zu bestaunen gibt, ist im Grunde die, dass sie nach wie vor und ohne wahrnehmbare öffentliche Proteste als „gemeinnützig“ geführt wird. Dieweil sich CDU-Politikerinnen und -Politiker überall im Lande erst vor Kurzem noch grinsend und schmatzend auf die Schulter klopften, weil es ihnen gelungen war, vielen störenden Umwelt- und Bürgerorganisationen die Gemeinnützigkeit aberkennen zu lassen und ihnen so Steuervorteile zu nehmen – der Journalist Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung (SZ) sagte über dieses Verdikt: „Das Urteil (…) hat toxische Wirkung“ (SZ vom 2.3.2019) –, darf eine mit Unsummen ausgestattete Konzernstiftung weiterhin den Eindruck erwecken, nur den besten Interessen der Gesellschaft zu dienen. Diese Illusion wird von der Bertelsmann-Stiftung mit großer Mühe aufrechterhalten. Selbst wenn man mit Kolleginnen und Kollegen spricht, die mit der Stiftung zusammengearbeitet haben oder dort angestellt sind, bekommt man meist zu hören: Nein, man lege größten Wert auf geistige Unabhängigkeit. Auch vom Mutterkonzern. Kein Wunder also, dass es immer wieder Studien der Bertelsmann-Stiftung sind, die von Befürworterinnen und Befürwortern der neoliberalen Umgestaltung des Gesundheitswesens in Deutschland hochgehalten werden.

Eine neue Form des Lobbyismus

In Wahrheit hat die Bertelsmann-Stiftung eine neue Form des Lobbyismus zur Vollendung gebracht: den Wissenschaftslobbyismus. In einer Zeit, in der politische Entscheidungsträgerinnen und -träger nicht länger auf rauchumwölkte Seher, ihre Maitressen oder Beichtväter hören, sondern idealerweise auf die Wissenschaft, ist jeder Lobbyismus zur Ohnmacht verurteilt, der nicht wenigstens den Eindruck erwecken kann, als stütze er sich auf verbürgte Fakten. „Einen Menschen zu überzeugen, ist viel nachhaltiger, als ihn zu bezahlen“ – so ließe sich das Credo der Bertelsmann-Stiftung wohl formulieren.

Olaf Scholz auf Staatsbesuch in Spanien (2022)

Parteibrüder im Geiste, bis zu den Knien in der Scheiße? Der Eine mit Warburg der Andere mit den Klinken ?

Während es in keinem anderen Wirtschaftszweig in Deutschland so viele gemeldete Lobbyistinnen und Lobbyisten gibt wie in der Gesundheitsindustrie, hat die Bertelsmann-Stiftung es geschafft, in der Öffentlichkeit als dem Geschiebe und Gemauschel irgendwie entrückt wahrgenommen zu werden: als eine seriöse, unvoreingenommene Forschungseinrichtung. Niemand sollte behaupten, an ihren Studien seien keine Fachleute beteiligt. Und auch Konzerninteressen werden selten offen hinausposaunt. Eher geht es um die Wahl der Fragestellung, das passende Abstecken des Forschungsfelds, ein sachtes Zurichten der Ergebnisse, ein Verschieben von Aussagen in Nebensätze und Fußnoten oder das Unterschlagen wesentlicher, aber taktisch unerwünschter Fakten. Dass die Stiftung in ihrem berüchtigten zweiten Gutachten zu den beabsichtigten Krankenhausschliessungen im ersten Pandemie-Jahr offen Farbe bekennen musste, war eher die Ausnahme. Normalerweise bevorzugt man leisere Töne.

In der Wolle gefärbt: Zwei Bertelsmann-Studien

Dies soll am Beispiel zweier viel beachteter Bertelsmann-Studien verdeutlicht werden, die auf aufreizende Weise in die gleiche Richtung zeigen, obwohl sie vorgeblich nichts miteinander zu tun haben: 2015 veröffentlichte die Stiftung eine Studie, in der der in der Tat merkwürdige Umstand untersucht wurde, dass Knieoperationen auf dem deutschen Territorium auffällig ungleich verteilt waren. So brachen beispielsweise kleine Krankenhäuser in der bayrischen Provinz alle Rekorde beim Durchführen solcher Operationen, und selbst der eisernste Preuße hätte Schwierigkeiten zu behaupten, just die Bayerinnen und Bayern seien besonders weich in den Knien. Wer einmal die Resultate einer 08/15-Knieoperation, zumal bei älteren Menschen, gesehen hat, den schüttelt es vor Grausen: das Ganze aufgeschnitten, ein wenig drin herumgestochert, dann Fleisch und Haut – Schlapp, Schlapp – wie einen Briefumschlag übereinandergeworfen, zugenäht, und Gottes Segen auf Ihren Weg. Hinzu kommt, dass schlampige Operationen am Knie fast immer weitere Operationen zur Folge haben. Auf Knie-OP folgt Knie-OP folgt Knie-OP … Und immer klingelt die Kasse.

Warum lässt die Bertelsmann-Stiftung eigentlich mit solcher Hartnäckigkeit Missstände an deutschen Provinzkrankenhäusern untersuchen? Gäbe es dort nicht auch ein paar Vorzüge zu erforschen?

Die Empörung über die Ergebnisse der Studie, von interessierter Seite absichtsvoll geschürt, war entsprechend gross. Das Problem ist nur: Man lässt den Krankenhäusern hierzulande gar keine Wahl. Sie müssen verdienen, um nicht in die Insolvenz zu rutschen. Dass auch öffentliche Krankenhäuser in Deutschland unter wirtschaftlichem Druck handeln müssen, hebt die Studie ausdrücklich hervor. Dann aber bricht sie ab. Weder wird eine ausreichende Kritik am Fallpauschalensystem formuliert, das die Misere wesentlich verursacht, noch wird auch nur mit einer Silbe erwähnt, dass es das eigene Stammhaus war, das jahrelang (und letztlich erfolgreich) intensive Lobbyarbeit für diese Art der Krankenhausfinanzierung gemacht hat. Was bleibt, ist der Eindruck, dass an deutschen Provinzkrankenhäusern betrügerische Menschenschinderinnen und -schinder am Werk sind, denen man die Läden besser heute als morgen dicht machen sollte.

Stimmungsmache gegen dezentrale Klinikstruktur

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine andere Studie, mit der sich heute nicht allein Deutschlands Oberkrankenhausabreisser Manfred Lucha (Grüne) aus Baden-Württemberg politisch die Hemdbrust stärkt: Die Studie führt – durchaus überzeugend – den Nachweis, dass komplizierte Operationen und schwierige Pflegeaufgaben (wie etwa die Versorgung von „Frühchen“) statistisch umso besser gelingen, je öfter sie vorgenommen werden. Es sei daher medizinisch und im Sinne der Versorgungsqualität der Bevölkerung angezeigt, sie an wenigen zentralen Standorten durchführen zu lassen und nicht in vielen kleinen, verstreuten Krankenhäusern. Wieder standen die Provinzkrankenhäuser schlecht da, diesmal als überfordert, während die großmannssüchtigen Pläne der Neoliberalen, die dezentrale Klinikstruktur Deutschlands gegen ein paar Groß Kliniken einzutauschen, Rückenwind bekamen.

Diesmal war es die neu gegründete „Volksinitiative Gesunde Krankenhäuser in NRW – für alle“, die zeigte, wo der Hase im Pfeffer lag: Wohnortnahe Krankenhäuser seien im Normalfall nicht für seltene oder schwierige Operationen zuständig, sondern für Erkrankungen und Notfälle der Grund- und Regelversorgung. In dieser Hinsicht stünden sie Universitätskliniken oder teuren Privatkrankenhäusern qualitativ in nichts nach. Wer eine schwere Operation vor sich habe, könne sich heute mühelos nach dem besten Krankenhaus für ihren oder seinen Fall umsehen (so es sich nicht eben um einen der erwähnten Notfälle handele, bei dem ein wohnortnahes Krankenhaus über Leben und Tod entscheide).

Anders ausgedrückt: Niemand muss heute neue, sündhaft teure und ökologisch katastrophale Zentralkliniken aus dem Boden stampfen und gleichzeitig Provinzkrankenhäuser schließen, um ein drängendes gesundheitspolitisches Problem zu lösen. Es gibt in dieser Hinsicht nämlich, schlicht und ergreifend, keins. Man wäre geneigt hinzuzufügen: Wäre eine solide Grundfinanzierung für alle Krankenhäuser gewährleistet, würde wohl niemand auf die Idee kommen, sich an Eingriffen oder Maßnahmen zu versuchen, für die sie oder er nicht oder unzureichend gerüstet wäre, nur um die Bilanzen aufzubessern. Man würde entsprechende Fälle einfach weiterverweisen (wie es, nebenbei bemerkt, auch heute meist geschieht).

Man könnte aber noch viel naiver fragen: Warum lässt die Bertelsmann-Stiftung eigentlich mit solcher Hartnäckigkeit Missstände an deutschen Provinzkrankenhäusern untersuchen? Gäbe es dort nicht auch ein paar Vorzüge zu erforschen? Oder umgekehrt: Gibt es an Maximalversorgerkliniken etwa keine Missstände, die Untersuchens wert wären? Studien wie diese sind von vornherein in der Wolle gefärbt.

Brigitte Mohn, Karl Lauterbach und die Rhön-Klinikum AG

Wie aber profitiert denn nun der Bertelsmann-Konzern von der durch seine Stiftung so vehement geforderten Schließung hunderter öffentlicher Krankenhäuser? Das ist ganz einfach: Ein wesentliches wirtschaftliches Standbein des Konzerns ist die Rhön-Klinikum AG, der grösste private Klinikbetreiber in Deutschland. Er ist seit 1989 börsennotiert, hat seinen Stammsitz in Neustadt an der Saale und betreibt hierzulande sogar private Universitätskliniken. Das ist einzigartig in Europa. Brigitte Mohn, die Tochter der Bertelsmann-Konzern-Erbin Liz Mohn, war lange Zeit Vorsitzende des Aufsichtsrats der Rhön-Klinikum AG. Gleichzeitig leitete sie übrigens den Bereich Gesundheit der Bertelsmann-Stiftung – ein durchaus günstiger Umstand für die Konzernpolitik.

Die Besetzung des Aufsichtsrats ist ebenfalls traditionell exquisit. So sass dort zum Beispiel lange Zeit ein gewisser Karl Lauterbach (SPD), heute Bundesminister für Gesundheit. Natürlich sass er dort nicht allein, denn bei der Rhön-Klinikum AG legt man großen Wert auf eine politisch paritätische Besetzung ihres obersten Gremiums. Man weiß ja nie, wer die nächste Regierung stellt. Ein Aufsichtsratskollege Lauterbachs war so ironischerweise Karl-Theodor von und zu Guttenberg (CSU). Jawohl, eben jener „Freiherr von Google Berg“, der schließlich über eine Plagiatsaffäre monströsen Ausmaßes bei seiner Dissertation stolperte. Und während an Lauterbachs medizinischer Sachkenntnis nicht zu zweifeln ist, fragt man sich leise, welche Fähigkeiten von Guttenberg wohl geeignet erscheinen ließen, der Leitung eines Klinik-Konzerns anzugehören. Womöglich genügte es, dass er in der CSU war und das Ohr von Kanzlerin Merkel hatte.

Selbst Stoiber konnte hier schon seine Züge fahren lassen.

Es ist übrigens recht einträglich, dem Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG anzugehören. Aufsichtsratsmitglieder bekommen 113.300 Euro im Jahr, und zwar für die Teilnahme an „mindestens zwei der vier [jährlichen] Sitzungen“. So der Geschäftsbericht. In besseren Zeiten hätte man solche Summen, ausgezahlt an Politikerinnen und Politiker ohne jede Sachkenntnis für schieres Nichtstun, wohl Korruption genannt.

Dreifacher Profit durch Privatisierungen

Der Bertelsmann-Konzern profitiert über seine Rhön-Klinikum AG in gleich dreifacher Weise von der Schließung öffentlicher Krankenhäuser: Erstens kann er sie übernehmen und in private Krankenhäuser umwandeln. Der Journalist Thomas Schuler, dessen Buch „Bertelsmann Republik Deutschland“ (Frankfurt 2010) dieses Unterkapitel wichtige Informationen verdankt, beschreibt, was dann geschieht: Nach dem Fallpauschalensystem lukrative Angebote werden beibehalten und ausgebaut, weniger lukrative Angebote abgestoßen oder eingestellt, ganz gleich, ob sie in der jeweiligen Region medizinisch notwendig sind oder nicht. Die Liste ließe sich fortführen: Personalkosten werden systematisch gedeckelt, Rechnungen an die Krankenkasse oft überhöht gestellt, Boni an leitende Ärztinnen und Ärzte ausgeschüttet, damit sie einträgliche Eingriffe durchführen, auch dann, wenn andere Möglichkeiten der Behandlung vielleicht sinnvoller wären usw. usf. Der Konzern kann seine Kliniken außerdem jederzeit Schließen, wenn die Profite nicht mehr stimmen. Werner Bartens, Wissenschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung (nicht gerade ein anti-neoliberales Kampfblatt), stellt trocken fest: „Das Prinzip ist immer das gleiche: Einnahmen aus den gesetzlichen Krankenkassen werden privatisiert und dienen zur Steigerung des Shareholder Value. Gerät eine Klinik ins Straucheln […], werden die Ausgaben hingegen auf die Gemeinschaft umgelegt und öffentliches Geld wird beansprucht“. (1)

Aber die Rhön-Klinikum AG muss öffentliche Krankenhäuser gar nicht unbedingt übernehmen, um ihre Profite zu steigern. Denn jede geschlossene öffentliche Klinik lässt die Patientenzahlen privater Kliniken automatisch steigen, so sie denn in ausreichender Zahl vorhanden sind. Das sind sie in Deutschland seit langem. Tendenz: steigend.

Thomas Schuler hat noch auf einen weiteren Umstand hingewiesen, der Krankenhausschliessungen für Bertelsmann auf beunruhigende Weise profitabel macht: Brigitte Mohn beispielsweise hielt während ihrer Zeit als Aufsichtsratschefin der Rhön-Klinikum AG beträchtliche Aktienanteile am eigenen Konzern. Während sie also über dessen Stiftung Lobbyarbeit für Krankenhausschliessungen machen ließ und eine Firma führte, die mit solchen Schließungen Geschäfte machte, wuchs gleichzeitig ihr Privatvermögen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Familienangehörige der Mohns oder leitende Managerinnen und Manager des Konzerns es heute wirklich anders machen. Hinter dem Schleier vorgeblicher Wissenschaftlichkeit macht die Bertelsmann-Stiftung eine marktradikale Politik, die ihrem Mutterkonzern unmittelbar zugutekommt und zum Teil sogar die privaten Taschen von dessen Besitzerinnen und Topmanagern füllt. Gemeinnützig? Gemeingefährlich wäre passender.

Schlussfolgerung

Man sollte sich im Fall der Bertelsmann-Stiftung vom Zauberwort: „Wissenschaftlichkeit“ nicht länger blenden lassen. Der Schreibforscher Otto Kruse, Professor an der Universität Zürich, hat in einer aktuellen Veröffentlichung darauf hingewiesen, dass wissenschaftlich nur denkt und handelt, wer ausdrücklich keine verborgenen Interessen verfolgt. Es gäbe demnach gute wissenschaftliche Gründe, an der Wissenschaftlichkeit von Studien der Bertelsmann-Stiftung künftig größere Zweifel zu hegen.

(1) Werner Bartens, Einleitung zu Thomas Strohschneider, „Krankenhaus im Ausverkauf“, Frankfurt/Main 2022, S. 13.

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In der Wachstumsfalle

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Oktober 2022

Raus aus der Wachstumsfalle

Wie wir mit der britischen Kriegswirtschaft die Klimakrise bewältigen können.

Der Kapitalismus war zweifellos ein historischer Fortschritt, hat aber leider eine fundamentale Schwäche: Er erzeugt nicht nur Wachstum, sondern muss auch wachsen, um stabil zu sein. Ohne ständige Expansion bricht der Kapitalismus zusammen. In einer endlichen Welt kann man aber nicht unendlich wachsen. Und dennoch tun die Industriestaaten so, als könnten sie mehrere Planeten verbrauchen. Bekanntlich gibt es aber nur eine Erde.

Die nächste Epoche wird daher eine „Überlebenswirtschaft“ sein müssen, die den Kapitalismus überwindet. In der Klimadebatte wird stets suggeriert, dass wir die Lösung schon hätten und allein der politische Wille fehle. Doch tatsächlich gibt es bisher kein Konzept, wie sich der Kapitalismus friedlich beenden ließe. Es wird nur über Nichtlösungen gestritten. Bisher setzen die Regierungen darauf, dass sie Wirtschaft und Klimaschutz irgendwie versöhnen könnten. Die typischen Stichworte heißen „Green New Deal“ oder „Entkopplung“ von Wachstum und Energie. Die große Hoffnung ist, dass sich die gesamte Wirtschaft auf Ökostrom umstellen ließe – ob Verkehr, Industrie oder Heizung.

Dieses „grüne Wachstum“ ist jedoch eine Illusion, denn der Ökostrom wird nicht ausreichen. Diese Aussage mag zunächst überraschen, schließlich schickt die Sonne 5000mal mehr Energie zur Erde, als die acht Milliarden Menschen benötigen würden, wenn sie alle den Lebensstandard der Europäer genießen könnten. An physikalischer Energie fehlt es also nicht, aber bekanntlich muss die Sonnenenergie erst einmal eingefangen werden. Solarpaneele und Windräder liefern jedoch nur Strom, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Um für Flauten und Dunkelheit vorzusorgen, muss Energie gespeichert werden – und dieser Zwischenschritt ist so aufwendig, dass Ökostrom knapp bleiben wird. Wenn die grüne Energie reichen soll, bleibt nur „grünes Schrumpfen“.

Es ist kein neuer Gedanke, dass permanentes Wachstum keine Zukunft hat. Viele Klimaaktivisten sind längst überzeugt, dass die Natur nur überleben kann, wenn der Kapitalismus endet. Also haben sie den eingängigen Slogan geprägt: „system change, not climate change“. Auch mangelt es nicht an Visionen, wie eine ökologische Kreislaufwirtschaft aussehen könnte, in der nur noch so viel verbraucht wird, wie sich recyceln lässt. Stichworte sind unter anderem Tauschwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, Konsumverzicht, Arbeitszeitverkürzung oder bedingungsloses Grundeinkommen.

Doch wie lässt sich eine ökologische Kreislaufwirtschaft erreichen? Das bleibt unklar, denn die Vision wird meist mit dem Weg verwechselt. Das Ziel soll zugleich der Übergang sein. Nur selten wird gefragt, wie man eigentlich aus einem ständig wachsenden Kapitalismus aussteigen soll, ohne eine schwere Wirtschaftskrise zu erzeugen und Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Es fehlt die Brücke aus der dynamischen Gegenwart in eine statische Zukunft.

Viele Klimaaktivisten spüren, dass der Abschied vom Kapitalismus schwierig wird. Greta Thunberg wurde kürzlich von einem Anhänger gefragt, wie denn das künftige System aussehen soll. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie. „Es wurde bisher noch nicht erfunden.“

Um sich das „grüne Schrumpfen“ vorzustellen, hilft es, vom Ende her zu denken. Wenn Ökostrom knapp bleibt, sind Flugreisen und private Autos nicht mehr möglich. Banken werden ebenfalls weitgehend überflüssig, denn Kredite lassen sich nur zurückzahlen, wenn die Wirtschaft wächst. In einer klimaneutralen Wirtschaft würde niemand hungern – aber Millionen von Arbeitnehmern müssten sich umorientieren. Zum Beispiel würden sehr viel mehr Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern.

Diese Sicht auf die Zukunft mag radikal erscheinen, aber sie ist im wahrsten Sinne des Wortes „alternativlos“. Wenn wir die emittierten Treibhausgase nicht auf netto null reduzieren, geraten wir in eine „Heißzeit“, die ganz von selbst dafür sorgt, dass die Wirtschaft schrumpft. In diesem Klimachaos käme es wahrscheinlich zu einem Kampf aller gegen alle, den unsere Demokratie nicht überleben würde.

Vorbild Großbritannien 1939

Manche Deutschen fragen sich allerdings auch, ob es überhaupt sinnvoll ist, auf nationaler Ebene über den Klimaschutz nachzudenken. Sie fürchten, dass andere Länder es sogar ausnutzen könnten, wenn wir unsere Treibhausgase reduzieren. So schreibt der Ökonom Hans Werner Sinn: „Ob man nun an Kohle, Erdöl oder Erdgas denkt: Wenn Deutschland weniger kauft und verbrennt, dann können die Chinesen halt mehr kaufen und verbrennen.“ Dieses Misstrauen ist verständlich, verkennt aber, dass fast alle anderen Staaten unter der Klimakatastrophe noch weit stärker leiden als Deutschland. Es liegt in ihrem Eigeninteresse, die Treibhausgase ebenfalls zu reduzieren.

Der Kernfehler der marktorientierten Ökonomen ist, dass sie die Ökoenergie für ein normales Produkt halten, das sich beliebig vermehren lässt, wenn die Nachfrage steigt. Also glauben sie, dass nur „Preissignale“ nötig wären, um den Ausbau von Windrädern und Solarpaneelen zu forcieren. Die Idee ist: Wenn die CO2-Steuern hoch genug sind, wird fossile Energie so teuer, dass alle Firmen und Haushalte begeistert auf Ökostrom umsteigen. Die Ökoenergie ist aber nicht beliebig steigerbar – sondern wird, schon aus physischen und technischen Gründen, knapp bleiben. Grüne Technik verschlingt nämlich nicht bloß Stahl, Beton und Aluminium, was bisher ausreichend vorhanden ist – sondern auch eher knappe Mineralien. Dazu gehören unter anderem Lithium, Nickel, Kupfer, Kobalt, Mangan, Graphit und seltene Erden wie Neodym. Nur zum Vergleich: Ein herkömmliches Auto benötigt 35 Kilo dieser Rohstoffe, während es bei einem E-Auto etwa 210 Kilo sind – also sechsmal so viel. Auch Windräder drehen sich nicht von Luft allein. Pro Megawatt installierter Leistung werden mehr als 10 000 Kilo an Mineralien benötigt, und wenn die Rotoren im Meer stehen, sind es sogar 15 000 Kilo. Solarpaneele erfordern nicht ganz so viele Rohstoffe, kommen aber auch auf 7000 Kilo. Konventionelle Kraftwerke sind da viel sparsamer: Wird Kohle verfeuert, sind 2500 Kilo Mineralien pro Megawatt nötig; bei Gas sind es sogar nur 1200 Kilo. Der Bedarf an Mineralien wird also explodieren, wenn die ganze Welt klimaneutral wirtschaften will. Die Internationale Energieagentur prognostiziert, dass sich die Nachfrage nach Kupfer bis 2040 mehr als verdoppeln, die nach Lithium aber auf das 42fache steigen wird, bei Graphit auf das 25fache, bei Kobalt auf das 21fache, bei Nickel auf das 19fache und bei den seltenen Erden auf das Siebenfache. Doch mit diesen sehr konkreten Fragen befassen sich Ökonomen nicht, sondern sie verharren in ihrer theoretischen Welt der Preise.

Die Brücke wurde 1939 erbaut und ist nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt. 

Die Debatte hat sich inzwischen festgefahren, und zwei Lager stehen sich dabei unversöhnlich gegenüber: Die meisten Politiker, Klimaforscher und Ökonomen hoffen auf „grünes Wachstum“, obwohl die Ökoenergie nicht reichen dürfte. Umgekehrt fordern daher die Wachstumskritiker, dass Einkommen und Verbrauch sinken müssen. Ihnen fehlt jedoch ein Plan, wie sie dabei eine schwere Wirtschaftskrise vermeiden können, die Millionen Menschen in Armut und Verzweiflung stürzt.

Schrumpfen, ohne Chaos zu erzeugen

Gesucht wird also eine Idee, wie sich die Wirtschaft schrumpfen lässt, ohne dass Chaos ausbricht. Zum Glück bietet die Geschichte dafür ein Vorbild. Ausgerechnet die britische Kriegswirtschaft taugt als Anregung, wie sich eine klimaneutrale Welt geordnet anstreben ließe.

Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Nicht jede Kriegswirtschaft eignet sich als Vorbild. Hier wird nur die britische Kriegswirtschaft ab 1939 geschildert. Sie war keineswegs die einzige Kriegswirtschaft, die es in der Weltgeschichte je gegeben hat. Momentan zeigt Putins brutaler Angriff auf die Ukraine, dass jede militärische Auseinandersetzung dramatische Folgen auch für die Wirtschaft hat. Zudem kann es in einem einzigen Krieg gleich mehrere Modelle geben, wie die Ökonomie umgestaltet wird. Im Zweiten Weltkrieg hatten nicht nur die Briten und Amerikaner, sondern auch Hitler und Stalin ihre je eigenen Formen einer Kriegswirtschaft. Nicht jede Kriegswirtschaft eignet sich also als Analogie, wie sich eine ökologische Transformation gestalten ließe.

Die Briten standen 1939 vor einer monströsen Herausforderung: Sie hatten den Zweiten Weltkrieg nicht kommen sehen und mussten nun in kürzester Zeit ihre Wirtschaft auf das Militär ausrichten, ohne dass die Bevölkerung hungerte. Fast über Nacht entstand eine Planwirtschaft, die bemerkenswert gut funktionierte. Die Fabriken blieben in privater Hand, aber der Staat steuerte die Produktion – und organisierte die Verteilung der knappen Güter. Es wurde rationiert, aber es gab keinen Mangel. Die Briten erfanden also eine private und demokratische Planwirtschaft, die mit dem dysfunktionalen Sozialismus in der Sowjetunion nichts zu tun hatte.

Der Krieg als Metapher – und Motivation zu höchster Anstrengung

Natürlich wäre es aberwitzig, die damaligen Maßnahmen einfach zu kopieren – schließlich leben wir fast ein Jahrhundert später und befinden uns auch nicht im Krieg mit dem Klima. Aber einige Parallelen gibt es, die für eine nachhaltige Zukunft sehr instruktiv sind. Denn bei der britischen Kriegswirtschaft ab 1939 kommen mehrere Faktoren zusammen, die sie als Anregung interessant machen. Erstens: Die Briten lebten in einer Demokratie; ihr Premierminister Churchill war frei gewählt. Eine „Ökodiktatur“ wird zu Recht gefürchtet, doch wie die Briten bewiesen haben, sind auch Demokratien fähig, entschlossen zu handeln. Zweitens: Die Briten führten keinen Angriffskrieg, sondern mussten sich gegen Hitler verteidigen. Sie befanden sich in einer unfreiwilligen Notsituation, die zudem verspätet erkannt wurde. Lange Zeit hatten die Briten noch gehofft, sie könnten Hitler durch „Appeasement“ befrieden und von einem Krieg abhalten. Ähnlich erleben wir heute den Klimawandel. Seine Dramatik wurde nur verzögert verstanden, zwingt uns aber jetzt zum Handeln. Drittens: Die Briten mussten ihre normale Wirtschaft in kürzester Zeit stark herunterfahren, damit in den Fabriken Kapazitäten frei wurden, um Militärgüter herzustellen. Von all dem lässt sich lernen, wie sich eine schrumpfende Wirtschaft organisieren lässt.

Wachstumskritikern wird gern unterstellt, dass sie große Freude daran hätten, ihre Mitmenschen zu quälen. „Bevormundung macht denjenigen Spaß, die sich die Verbote ausdenken“, klagt etwa die „Bild“-Journalistin Nena Schink, der davor graut, dass Deutschland „zu einer Verbotsnation mutieren“ könnte. Leider wird es ohne Verbote nicht gehen. Unsere Lebensweise kann nur dann ökologisch sein, wenn nicht jede jederzeit unbegrenzt konsumiert. Die Analogie zum Zweiten Weltkrieg ist daher passend: Sie macht klar, dass es Opfer kostet, eine ökologische Kreislaufwirtschaft aufzubauen. Nur Verzicht sichert das Überleben – wie im Krieg.

Es ist auch nicht ungewöhnlich, vom „Krieg“ zu sprechen, sobald ein großes Problem zu lösen ist. So wurden schon Kriege gegen die Armut, gegen die Drogen oder gegen den Krebs ausgerufen. Allerdings wird das Wort „Krieg“ hierbei nur als Metapher verwendet und soll herausstreichen, dass höchste Anstrengung geboten ist. Auch während der Corona-Pandemie war es üblich, militärische Vergleiche zu ziehen. US-Präsident Trump sagte – nachdem er lange das Virus kleingeredet hatte – in einer Pressekonferenz: „Wir sind im Krieg und wir bekämpfen einen unsichtbaren Feind.“ Der französische Präsident Macron sah sich ebenfalls im Krieg, der eine „Generalmobilmachung“ erforderte, während die britische Königin Elisabeth II. von Pflegekräften „an der Front“ sprach. Diesmal waren die Analogien zum Zweiten Weltkrieg wortwörtlich gemeint, und in einigen Staaten wurden sogar Verordnungen aus Kriegszeiten reaktiviert. Trump holte beispielsweise den „Defence Production Act“ wieder hervor, den man 1950 im Koreakrieg erlassen hatte, um den Autokonzern General Motors zu zwingen, Beatmungsgeräte herzustellen. So wie früher Panzer für die Schlacht produziert worden waren, so galten jetzt Masken und Impfstoffe als „Waffen gegen den Virus“. Und wie im Krieg zog der Staat alle wichtigen Entscheidungen an sich: Binnen Tagen wurden Schulen und Gaststätten geschlossen, die Angestellten ins Homeoffice geschickt, riesige Rettungspakete geschnürt und Grenzen teilweise abgeriegelt. Geld spielte keine Rolle mehr, es ging allein um den „Sieg“ gegen die Pandemie. Hier zeigte sich: Der Staat kann handeln, wenn er will.

Der Staat kann handeln, wenn er will

Diese Tatsache ist auch den Klimaschützern nicht entgangen: Sie neigen ebenfalls dazu, den Kampf gegen die Klimakrise mit dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen. Schon 2018 wünschte sich der Weltklimarat IPCC eine globale „Mobilmachung“, und auch der Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz propagiert diese Idee. Klimaschützer begeistert vor allem, wie schnell es den Alliierten damals gelang, die nötigen Waffenarsenale zu produzieren, um Deutschland und seine Verbündeten zu besiegen. Ähnlich schnell sollen nun Windräder, Solarpaneele und E-Autos hergestellt werden.

Die meisten Autoren interessieren sich allerdings nicht so sehr für Großbritannien, sondern vor allem für die USA, weil dort aus dem Nichts riesige Waffenschmieden errichtet wurden, nachdem die Japaner im Dezember 1941 Pearl Harbor angegriffen hatten. Unter anderem bauten die Amerikaner in nur sechs Monaten eine Flugzeugfabrik in Michigan, in der täglich 24 B24 Bomber produziert wurden, obwohl jedes einzelne Flugzeug 1 225 000 Teile und 313 237 Nieten benötigte.Ähnlich beeindruckend war die US-Produktion der standardisierten „Liberty“-Frachter. Diese Schiffe sollten die Verluste ausgleichen, die durch die deutschen U-Boote im Atlantik entstanden. Anfangs dauerte es acht Monate, um einen einzigen Frachter herzustellen, der aus 250 000 Teilen bestand. Am Ende wurde alle fünf Tage ein Schiff gebaut. Gleichzeitig wurden bestehende Fabriken einfach umgewidmet: Heizungsfirmen stellten Helme her, aus Unterwäsche wurden Tarnnetze, Rechenmaschinen verwandelten sich in Pistolen, und Staubsaugerbeutel fanden sich in Gasmasken wieder. Die Stoffe für Autositze wurden zu Fallschirmen, während die Autokonzerne Maschinengewehre und Kanonen, Jagdflugzeuge und Panzer bauten. Zwischen 1942 und 1945 gab die US-Regierung mehr Geld aus, als sie insgesamt von 1789 bis 1941 verbraucht hatte. In den Kriegsjahren stellten die USA 87 000 Marineschiffe, 300 000 Flugzeuge, 100 000 gepanzerte Fahrzeuge und Panzer sowie 44 Mrd. Schuss Munition her. Auch US-Präsident Roosevelt staunte über dieses „Wunder der Produktion“.

Schmerzfrei ökologisch?

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Grafikquellen        :

Oben      —     Karl Marx, Der Prophet

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Unten         —     Peter Siller (Heinrich-Böll-Stiftung e.V.), Ulrike Herrmann (Journalistin, taz) Foto: <a href=“http://www.stephan-roehl.de“ rel=“nofollow“>Stephan Röhl</a> „Auf der Suche nach der grünen Erzählung III“ Die dritte Ausgabe der Kongressreihe Grüne Erzählung der Heinrich-Böll-Stiftung am 18. und 19. März 2016 in Berlin

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Emanzipation in der Krise

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Oktober 2022

Was ist das Kapital? Was muss überwunden werden?

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

In der sich entfaltenden Systemkrise scheint der abermalige Absturz in die Barbarei vorgezeichnet. Doch das muss nicht zwangsläufig so sein.

Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“

Karl Marx, Friedrich Engels, Deutsche Ideologie1

Es gibt eine Grundvoraussetzung emanzipatorischer Praxis in der sich entfaltenden Weltkrise des Kapitals, die schlicht nicht aufgegeben werden kann. Es gilt, den Menschen zu sagen, was Sache ist. Das, was die meisten Menschen ahnen oder dumpf spüren, muss klar benannt und zur Grundlage sozialer Bewegungen und Kämpfe werden: Der Kapitalismus ist am Ende2 – und in seiner Agonie droht er, die Menschheit mit sich in den Abgrund zu reißen, indem er ihr die sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen entzieht. Das kapitalistische Weltsystem stößt an seine inneren3 und äußeren Entwicklungsgrenzen.4 Die Wirtschafts- und die Klimakrise5 bilden dabei nur zwei Momente desselben Krisenprozesses, bei dem der uferlose Wachstumszwang des Kapitals – das Bestreben, vermittels der Ausbeutung von Arbeit in der Warenproduktion aus Geld mehr Geld zu machen – eine ökologisch verwüstete Welt und eine ökonomisch überflüssige Menschheit produziert.

Es gilt folglich, bewusst im gesellschaftlichen Kampf und Diskurs nach Wegen aus dem Krisen- und Katastrophenkapitalismus zu suchen, da die Welt in Barbarei zu versinken droht. Die Überwindung des Kapitalverhältnisses ist somit Richtschnur aller linken Praxisbemühungen. Soziale Kämpfe, Proteste und Bewegungen müssen somit als Teilmomente eines Transformationskampfes um eine postkapitalistische Gesellschaft begriffen und geführt werden. Dies, die Überwindung des weltweit amoklaufenden Verwertungszwangs des Kapitals, ist das absolute Minimum, die Conditio sine qua non jeglicher Zivilisationsentfaltung im 21. Jahrhundert. Sagen, was Sache ist, bedeutet somit, die Überwindung des kollabierenden Kapitals als zivilisatorische Überlebensnotwendigkeit klar zu benennen. Alle progressive Praxis muss sich an dieser Realität der Systemtransformation orientieren. Und eben dieses Insistieren auf der Notwendigkeit der emanzipatorischen Systemtransformation6 stellt auch die klare Trennlinie zum linken Opportunismus dar, zum Bestreben, in der Krise vermittels Demagogie noch schnell Karriere als Krisenverwalter zu machen.7

Die Überführung des Kapitals in Geschichte stellt den letzten kapitalistischen Sachzwang dar. Jede sich links nennende Gruppe oder Partei, die graduelle Veränderung predigt, ohne dabei die Systemkrise zu thematisieren und die Notwendigkeit der Systemtransformation zu betonen, ist faktisch opportunistisch, wenn nicht gar reaktionär.8 Es gibt in der eskalierenden Systemkrise keine Möglichkeit mehr, Reformpolitik zu machen, die „erfolgreich“ wäre, da diesem Unterfangen schlicht die an Intensität gewinnenden Krisenverwerfungen im Weg stehen. Fortschrittliche Praxis kann sich nur noch anhand des Bemühens um einen progressiven Verlauf der unausweichlichen Systemtransformation entfalten. Dies ist kein linker „Radikalismus“, sondern ein aus Einsicht in den Krisencharakter gewonnener Realismus. Die Krise läuft als ein fetischistischer, unkontrollierbarer Prozess über die Gesellschaft ab,9 der sich konkurrenz- und marktvermittelt entfaltet, ohne auf die Ansichten und Kalküle der Insassen der kapitalistischen Tretmühle zu achten.

Auch wenn die Lohnabhängigen es nicht wahrhaben wollten, auch wenn alle relevanten Bevölkerungsschichten am Kapitalismus sich festklammern würden, wird das System an seinen inneren Widersprüchen zerbrechen. Offen ist hingegen, was danach kommt – und eben darum gilt es den Kampf, den Transformationskampf zu führen. Evident wird diese Agonie des Kapitals an den globalen Schuldenbergen, unter denen viele Ökonomien zusammenzubrechen drohen, sowie an den beständig steigenden CO2-Emissionen, die eine im irrationalen Wachstumszwang verfangene kapitalistische Weltwirtschaft produziert.10 Ein Absturz in die Barbarei während des nun anstehenden, ergebnisoffenen Transformationsprozzesses kann aber nur dann von einer emanzipatorischen Bewegung verhindert werden, wenn dieser von ihr gesellschaftlich reflektiert, begriffen und bewusst im Rahmen des ebenso unausweichlichen Transformationskampfes gestaltet wird. Um dies erreichen zu können, muss die Linke, aufbauend auf radikaler Krisentheorie, den Menschen sagen, was Sache ist. Ansonsten wird die fetischistische Eigendynamik des Kapitals die Welt unbewohnbar machen. Diese einleitenden Thesen sollen im Folgenden ausgeführt und begründet werden.

Unbewältigte Natur

Die widersprüchliche kapitalistische Produktionsweise ist somit nicht nur die Triebfeder11 der sich häufenden Schulden- und Wirtschaftskrisen,12 sie ist auch die Ursache der sich entfaltenden Klimakatastrophe. Und es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass der „menschengemachte“ Klimawandel maßgeblich von dem Gesellschaftssystem – von der Art und Weise der gesellschaftlichen Organisation und Reproduktion – verursacht wird, in dem die Menschen zu leben genötigt sind. Diese Tatsache liegt offen auf der Hand. Die Klimakrise ist eine kapitalistische Klimakrise, es ist ein „kapitalgemachter Klimawandel“. Dass es dennoch als etwas Ungeheuerliches erscheint, diese einfache, unbequeme Wahrheit auszusprechen, liegt an dem ungeheuren ideologischen Druck, der auf dem gesellschaftlichen Diskurs lastet – und der Ausdruck der zunehmenden Dichte wie auch Krisenanfälligkeit kapitalistischer Vergesellschaftung ist, die jedes oppositionelle Denken wie Handeln durch Opportunismus13 oder Repression zu ersticken bemüht ist.14

Der Kern kapitalistischer Ideologie besteht eigentlich seit der Aufklärung darin, den Kapitalismus als eine „natürliche“, in sich widerspruchslose und dem menschlichen Wesen angemessene Produktionsweise zu ideologisieren, als eine Gesellschaftsformation, die einfach nur Ausdruck der menschlichen Natur sei und sich – spätestens seit dem Aufkommen des Sozialdarwinismus – ökonomisch entlang derselben Gesetzmäßigkeiten entfalte, wie die „natürlichen“, ökologischen Systeme. Folglich ist diese synthetische „kapitalistische Natur“ der subjektlosen Herrschaft des Kapitals15 mit ihren Vermittlungsebenen von Markt, Politik, Justiz, Kulturindustrie, etc. immer nur Grundlage, niemals Gegenstand des veröffentlichten Diskurses spätkapitalistischer Gesellschaften. Und gerade deswegen gewinnt in Krisenzeiten die schnell ins Faschistische abdriftende Sündenbocksuche so an Popularität,16 da die „natürliche“ Marktwirtschaft buchstäblich als natürlich, potenziell widerspruchslos imaginiert wird. So erscheint dem „aufgeklärten“ Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft der Kapitalismus so „natürlich“, wie dem mittelalterlichen Menschen der Feudalismus als gottgegeben erschien.

Und dennoch enthält die landläufige Ideologie vom „natürlichen Wesen des Kapitalismus“ ein verzerrtes Körnchen Wahrheit. Es gibt eine Parallele zwischen den ökologischen und ökonomischen Krisenprozessen, die deren Wahrnehmung als „naturgegeben“ befördert: Das Stück „ungebändigter Natur“ inmitten der Gesellschaft, das die Illusion eines kapitalistischen Naturzustandes befördert, besteht aus dem unkontrollierbaren Verwertungsprozess des Kapitals, also aus dem oben erwähnten gesellschaftlichen Fetischismus. Die destruktive Verwertungsdynamik des Kapitals, unbewusst von Marktsubjekten – „hinter ihrem Rücken“, da marktvermittelt – hervorgebracht, erscheint als ein natürliches Phänomen, das über die Gesellschaft abläuft. Insbesondere in Krisenschüben tritt dieser Fetischismus offen hervor, wenn die „Wirtschaft“ plötzlich Amok läuft und „Krisengewitter“ oder „Marktbeben“ ganze Regionen – gleich extremem Wetterereignissen – sozioökonomisch verwüsten. Das Gefühl, an quasi natürliche, anonyme und übermächtige Kräfte ausgeliefert zu sein, wird dann evident.

Diese unbewusst von den Marktsubjekten bei ihrer scheinrationalen Jagd nach größtmöglichen Profiten hervorgebrachte, irrationale Eigendynamik des Kapitals stellt somit das Moment unbewältigter Pseudo-Natur dar, das aufgrund seiner zunehmenden inneren Widersprüche die Zivilisation und deren ökologische Grundlagen vernichtet. Solange das Kapital in seinem uferlosen Formwandel von Geld, Ware und mehr Geld blindwütig unter immer größeren Friktionen durch die Gesellschaft hindurch prozessieren wird, können weder die Klimakrise, noch die soziale Krise überwunden werden.

Es kommt somit darauf an, diesen Fetischismus, diese kapitalistische Pseudonatur zu überwinden, um die natürlichen Grundlagen menschlicher Gesellschaft zu erhalten. Letztendlich muss gewissermaßen der menschliche Zivilisationsprozess zum Abschluss gebracht werden, die unbewusste Reproduktion der Gesellschaft vermittels blind ablaufender Verwertungsprozesse muss in einem ungeheuren Transformationsprozess durch die bewusste Organisation und Diskussion der gesellschaftlichen Reproduktion ersetzt werden, die sich nicht mehr der uferlosen, irrationalen Anhäufung immer größerer Quanta verausgabter abstrakter Arbeit in der Kapitalform unterordnet, sondern die direkte Bedürfnisbefriedigung jenseits der Warenform zum rationalen Ziel hat.

Was ist das Kapital? Was muss überwunden werden?

Aus diesen Ausführungen zum „naturhaft“ erscheinenden gesellschaftlichen Fetischismus erschließt sich auch, was unter dem Begriff des Kapitals zu verstehen ist, das in Geschichte überführt werden muss. Das Kapital ist somit kein Ding, es ist nicht nur das Geld, oder die Fabrik und die Maschinerie. Es ist auch nicht einfach nur eine Person, wie der Kapitalist, der Manager oder der Spekulant. Diese verkürzte Sichtweise führt zur Verdinglichung oder zur Personifizierung des Kapitals, was wiederum Grundlage aller Ideologie im Kapitalismus ist.

Das Kapital ist als ein soziales Verhältnis zu verstehen, als ein Kapitalverhältnis, das die Gesellschaft als ein bloßes Durchgangsstadium seiner uferlosen Plusmacherei bei der Warenproduktion durchschreitet. Erst innerhalb dieser Verwertungsbewegung – der Verfeuerung von Ressourcen mittels Arbeit zwecks Profitmaximierung – müssen Menschen oder Dinge zu Kapital werden. Der Arbeiter und der Manager fungieren nach Feierabend nicht mehr als Kapital. Dasselbe gilt für die Werkzeuge in ihren Hobbykellern, die einfach nur Gebrauchsgegenstände sind, während sie in der Fabrik als (konstantes) Kapital fungieren. Das Kapitalverhältnis ist somit als diese auf permanentes Wachstum geeichte, die ganze Gesellschaft erfassende Verwertungsdynamik zu verstehen. Das Kapital in all seinen sozialen und ökologischen Widersprüchen ist somit eine Realabstraktion, die bei jedem Verwertungskreislauf einen Formwandel von Geld, zu Ware und schließlich zu mehr Geld erfährt: die konkreten Dinge und Menschen werden von ihm in möglichst effiziente Bewegung gesetzt, um in einem irrationalen Selbstzweck immer größere Quanta abstrakter Arbeit (der Quelle und Substanz des Kapitals) zu akkumulieren.

Dieser realabstrakte Wachstumszwang des Kapitals ist somit gewissermaßen totalitär; das Kapitalverhältnis wird zur sozialen Totalität. Auf der Flucht vor seinen inneren und äußeren Widersprüchen okkupiert es alle gesellschaftlichen Bereiche und Nischen – mit Ausnahme der abgespaltenen, weiblich konnotierten Sphäre der häuslichen und familiären Reproduktion17 – und führt diese der Verwertung zu. Der Staatsapparat, die rechtlichen und politischen Institutionen, die politischen, wirtschaftlichen, juristischen und ideologischen Vermittlungsebenen von Herrschaft – sie sind in einem blind ablaufenden historischen Prozess vom Kapitalverhältnis hervorgebracht und geformt worden. Gerade in seiner Agonie hat das Kapital somit die gesamte Gesellschaft, soweit dies möglich war, bis in die subkulturellen Regungen hinein, sich untertan gemacht. Die subjektlose Herrschaft des Kapitals ist in dem historischen Moment total, an dem es an seinen Widersprüchen erstickt. Und es sind eben all diese durch das Kapital hervorgebrachten oder geformten Institutionen und Vermittlungsebenen, die nun gemeinsam mit der Kapitaldynamik kollabieren.

Was überwunden werden muss, ist somit diese blind ablaufende, die menschlichen Gesellschaft wie die Ökosysteme verheerende Verwertungsbewegung des Kapitals. An die Stelle dieses destruktiven Fetischismus muss die bewusste Verständigung der Gesellschaftsmitglieder über den Reproduktionsprozess der Gesellschaft treten, ohne dass dabei die Tätigkeiten geschlechtsspezifisch o.ä. aufgeteilt werden. Dies ist überlebensnotwendig, gerade weil dieser Verwertungsprozess, an dessen Tropf alle kapitalistischen Gesellschaften in Form von Steuern und Löhnen hängen, an seinen Widersprüchen zugrunde geht. Damit aber gehen mit dem Kapital auch die Institutionen und sozialen Strukturen zugrunde, die es historisch hervorgebracht hat. Die postkapitalistische Gesellschaftsreproduktion kann daher gerade nicht in den Formen einer „Verstaatlichung“ ablaufen, wie sie etwa von orthodoxen Linken imaginiert wird, da der Staat in seiner Eigenschaft als „ideeller Gesamtkapitalist“ eine historisch gewachsene, notwendige Institution des Kapitalismus ist, die ja vom Kapital durch Steuern finanziert werden muss – deswegen kollabierten viele überschuldete Staaten der Peripherie schon in den 90ern zu „failed states“, sobald der Krisenprozess einen gewissen Reifegrad überschritten hatte. Der Staat ist nicht die Lösung, sondern Teil des Problems.

Die Krise schreitet in einem historischen Prozess, der schon mit den Schuldenkrisen der „Dritten Welt“ in den 80ern einsetzte, schubweise von der Peripherie des Weltsystems in die Zentren voran. Deshalb kann die Krisenzukunft anhand des Krisenverlaufs in der Peripherie erahnt werden. Ohne bewusste, emanzipatorische Überwindung des kollabierenden Kapitalverhältnisses wird dieses in ähnlich barbarische Formen aus Anomie oder Krisendiktatur verfallen, wie in Somalia, Kongo oder Eritrea18 – sofern dem Zivilisationsprozess nicht durch einen katastrophalen Atomkrieg ein Ende bereitet wird. Mad Max oder 1984 – das ist die systemimmanente Alternative, die der Kapitalismus in seiner Agonie offenlässt.

Motivation: There is no Alternative to Transformation

Aus dem hier geschilderten Krisencharakter als einem fetischistischen Prozess zunehmender innerer Widerspruchsentfaltung des Kapitalverhältnisses resultiert somit die Notwendigkeit des Kampfes um dessen emanzipatorische Überwindung. Es ist – wie schon eingangs erwähnt – schlicht eine Frage des Überlebenswillens. Es gilt folglich, den Überlebenstrieb der Menschen anzusprechen, der in der Krise unbewusst ausagiert wird und zur Intensivierung der Krisenkonkurrenz beiträgt. Und dieser Überlebenstrieb ist bereits, in seiner unreflektierten, quasi reflexhaften Form längst massenhaft wirksam. Unbewusst reagieren die meisten Insassen des Spätkapitalismus längst auf die zunehmenden krisenbedingten Verwerfungen durch eine quasi instinktive Intensivierung des Konkurrenzkampfes. Der Überlebenstrieb gelangt durch die härtere Konkurrenz bereits unbewusst zur Entfaltung, indem das eigene Überleben durch den Absturz der Konkurrenten auf allen Ebenen gewährleistet werden soll (vom Mobbing, über Verdrängungswettbewerb, die Standortkonkurrenz, bis zum Krisenimperialismus). Und es ist ja gerade diese durch den nackten Überlebenstrieb befeuerte Krisenkonkurrenz, die zur Barbarisierung des Kapitalismus und zum Aufstieg der Neuen Rechten – die diese Krisenkonkurrenz mit Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus, religiösen Fanatismus etc. ummantelt – ursächlich beiträgt.

Dieser in der eskalierenden spätkapitalistischen Alltagskonkurrenz verfangene, unbewusst praktizierte Überlebenstrieb müsste im Rahmen emanzipatorischer Praxis „sublimiert“ werden. Hierunter soll die bewusste, analytische Reflexion der unbewussten Ursachen gesellschaftlichen Handelns, in diesem Fall der Wechselwirkung von Konkurrenzgebaren und systemischem Krisenprozess verstanden werden, bei der die verhängnisvolle „barbarisierende“ Wirkung des individuellen Konkurrenzkampfes erhellt würde. So wie der individuelle, „blinde“ Überlebenstrieb nur die Krisendynamik beschleunigt und der Barbarei Tür und Tor öffnet, so könnte ein reflektierter kollektiver Überlebensdrang, der sich der Überlebensnotwendigkeit der gesamtgesellschaftlichen Überwindung des Kapitals versichert hat, einen mächtigen Motivationsfaktor für emanzipatorische Kräfte im Kampf um die Transformation des Spätkapitalismus bilden. Und das ist keine Frage, die nur den linken „Radikalinski“ tangiert. Ein solch bewusst hergestellter Zusammenhang zwischen dem – kollektiven – Überleben und der Notwendigkeit der Systemüberwindung kann auch sehr gut das Anliegen des Spießers werden, der seinen Kindern eine lebenswerte Zukunft hinterlassen will.

Und eben deswegen gilt es, den Menschen zu sagen, was Sache ist. Es kommt darauf an, das „Krisengefühl“ der breiten Massen in ein reflektiertes Krisenbewusstsein zu überführen – gerade weil es kein „revolutionäres Subjekt“ gibt, ist die Ausformung eines massenwirksamen, radikalen Krisenbewusstseins für einen emanzipatorischen Krisenverlauf unabdingbar. Und eigentlich wäre selbst dies nicht die zentrale Schwierigkeit bei der Verbreitung eines emanzipatorischen Bewusstseins in der manifesten Krise, sondern die Vermittlung eines Glaubens an eine gangbare Systemalternative zum kollabierenden Kapital. Der krisenbedingte ideologische Umschlag, bei dem der blinde Glaube ans Kapital als Naturvoraussetzung menschlicher Zivilisation plötzlich zum fatalistischen Kulturpessimismus mutiert, stellt eigentlich die ideologische Standardreaktion in manifesten Krisensituationen dar.

Dieser spätkapitalistischen Produktion von Panik gilt es somit die durch radikale theoretische Reflexion gewonnene Einsicht in die Notwendigkeit der Systemtransformation gegenüberzustellen, die von einem sublimierten Überlebensinstinkt motiviert ist, der sich seiner eigenen sozialen wie ökologischen Voraussetzungen bewusst gewordenen ist. Der rechte „Prepper“ wird sich nicht retten, dies kann nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene kollektiv geleistet leisten. Die Abwendung der drohenden ökologischen wie sozialen Katastrophe vermittels Systemtransformation läuft somit auf die „Beeinflussung“ des Krisenprozesses hinaus, der von seiner fetischistischen Dynamik angetrieben ist, die ja nur den krisenhaften dialektischen Umschlag der dem Kapital innewohnenden Widersprüche darstellt. Präziser: Das Kapital befindet sich in Auflösung, es kommt darauf an, diesen blind ablaufenden Transformationsprozess im Rahmen eines Transformationskampfes in eine progressive, emanzipatorische Richtung zu lenken, um schließlich den Fetischismus zu überwinden und zur bewussten Gestaltung der gesellschaftlichen Reproduktion überzugehen. Dies, diese Überwindung der fetischistischen Vorgeschichte der Menschheit, ist schlicht, wie dargelegt, eine Überlebensfrage. Nochmals: Es gibt keine Alternative zum Kampf um einen emanzipatorischen Verlauf der unausweichlichen Systemtransformation.

Emanzipation und Extremismus in der Systemkrise

Hieraus erschließt sich auch der Begriff der Emanzipation – es ist eine Emanzipation vom gesellschaftlichen Fetischismus, also von der „Fremdbestimmung“ der Subjekte durch gesellschaftliche Dynamiken, die diese Subjekte unbewusst, marktvermittelt selber hervorbringen. Dies kann nur von einer Bewegung geleistet werden, die sich ihrer eigenen Lage, die sich des geschilderten Krisencharakters bewusst ist. Nur bei einem bewussten, aus der Einsicht in die Notwendigkeit resultierenden Kampf um eine postkapitalistische Zukunft könnten eventuell noch Momente der Emanzipation entstehen. Es gibt folglich eine Maxime politischer Praxis, der emanzipatorische Bewegungen, Gruppen oder Parteien im 21. Jahrhundert folgen müssten, wenn sie in der gegenwärtigen Umbruchs- und Krisenepoche noch als fortschrittliche gesellschaftliche Kräfte wirken wollen. Der Kapitalismus muss schnellstmöglich in Geschichte überführt werden, das Kapitalverhältnis muss aufgehoben werden. An diesem kategorischen Imperativ hätten sich alle linken Aktionen, alle Taktik, alle Reformvorschläge, alle Strategien zu orientieren.

Und der Kampf um eine lebenswerte postkapitalistische Zukunft ist kein „Radikalismus“. Es verhält sich gerade umgekehrt: das Festhalten an den in Auflösung übergehenden Formen kapitalistischer Vergesellschaftung, an Markt und Staat, führt in die Barbarei, in den Extremismus der Mitte. Die Erfolge der Neuen Rechten in der Krise resultieren gerade daraus, dass sie die Ideologie, die in der neoliberalen Mitte der spätkapitalistischen Gesellschaft wirksam ist, weiter in die Verrohung treiben kann. Das mit Neidfantasien gegen Sündenböcke angereicherte, neoliberale Konkurrenzdenken wurde von der Rechten ins rassistisch-nationalistische Extrem getrieben. Die Konkurrenz der Marktsubjekte und Wirtschaftsstandorte wird in einen Kampf der Nationen, der Kulturen, der „Rassen“ oder Religionen ideologisch überhöht.

Entscheidend ist hierbei: Bei dieser „rassisch“, religiös oder national legitimierten Konkurrenz gibt es keinen Bruch mit dem Neoliberalismus und seinem implizit nationalistischen Standortdenken. In diesen ideologischen Kontinuitätslinien liegt das gar nicht so geheime Geheimnis des Erfolgs der konformistischen Revolte der Neuen Rechten. Sie betreibt keinen Ausbruch aus dem kapitalistischen Gedankengefängnis und seinen sogenannten Sachzwängen. Stattdessen verharren die autoritären Charaktere im eingefahrenen ideologischen Gleis, das von der neoliberalen Mitte ins barbarische Extrem führt. Deswegen profitiert von der gegenwärtigen Krise vor allem die Rechte. Es ist sehr einfach, Nazi zu werden.

Entscheidend ist deshalb gerade der besagte gedankliche Ausbruch aus dem kapitalistischen Gedankengefängnis, der mit emanzipatorischer Praxis einhergehen muss, um das Abdriften in einen Extremismus der Mitte zu verhindern. Deswegen gilt es, den Menschen zu sagen, was Sache ist. Der Kampf um eine lebenswerte Systemalternative ist angesichts der letalen Krise des Kapitals das einzig Vernünftige, Mittlere, Gemäßigte. Fortschritt kann nur noch jenseits des Kapitals realisiert werden. Nochmals: Dies ist nicht notwendig aufgrund des Wollens der Subjekte oder der Stimmungen, Befindlichkeiten in der Bevölkerung, sondern weil das Kapital als globale fetischistische Totalität an sich selber zerbricht.

Falsche Unmittelbarkeit

Und eben deswegen gilt es, diesen objektiv ablaufenden Transformationsprozess, soweit möglich, durch die Verbreitung eines adäquaten Krisenbewusstseins vor dem Abdriften in ideologischen Wahn und faschistische Barbarei zu bewahren. Vielleicht könnte das Bewusstsein einer gangbaren Alternative zum Klima- und Kapitalkollaps nur in einer kämpfenden Bewegung sich breit entfalten. An Auseinandersetzungen, Aufständen und Kämpfen herrscht ja in der sich beschleunigenden Systemkrise kein Mangel. In Europa sind es, neben Klimaprotesten, oftmals antifaschistische oder arbeits- und sozialpolitische Abwehrkämpfe, die als Kristallisationspunkte oppositioneller Massenmobilisierung dienen – zumeist ohne eine transformatorische Perspektive zu entwickeln.

Diese Bewegungen bleiben oftmals in der falschen Unmittelbarkeit ihrer direkten Forderungen stecken, sie wollen beispielsweise eine bessere Umverteilung des abstrakten kapitalistischen Reichtums, anstatt diesen abschaffen zu wollen. Die zunehmende Verelendung führt zu Forderungen nach mehr Sozialstaat, der Inflation wird mit Forderungen nach deren Eindämmung durch Subventionen, Höchstpreise begegnet. Diese unmittelbar „einleuchtenden“ Forderungen müssen sich an der Krisenrealität blamieren. Ähnlich verhält es sich bei der Diskussion der Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise – wie CO2-Steuer, Flugboykott, Fleischverzicht oder E-Autos -, die angesichts der dramatischen Beschleunigung des Klimawandels und der tatsächlich notwendigen Schritte ein fast schon entmutigendes Missverhältnis aufweisen.

Der Krisentheoretiker Robert Kurz19 thematisierte diesen Widerspruch zwischen systemimanenten sozialen Kämpfen und den sozialen Folgen der Systemkrise schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts:

Die Wertkritik wendet sich nicht gegen kapitalistisch immanente soziale Kämpfe schlechthin. Diese sind ein notwendiger Ausgangspunkt. Es kommt aber darauf an, in welche Richtung sich solche Kämpfe entwickeln. Dabei spielt die Begründung eine große Rolle. Die Gewerkschaften haben sich daran gewöhnt, ihre Forderungen nicht aus den Bedürfnissen ihrer Mitglieder herzuleiten, sondern als Beitrag zum besseren Funktionieren des Systems anzubieten. So wird gesagt, höhere Löhne seien notwendig, um die Konjunktur zu stärken, und sie seien möglich, weil das Kapital hohe Gewinne macht. Sobald aber die Verwertung des Kapitals offensichtlich ins Stocken gerät, führt diese Haltung zum freiwilligen Verzicht und zur Mitverwaltung der Krise im „höheren Interesse“ der Betriebswirtschaft, der Gesetze des Marktes, der Nation etc. Dieses falsche Bewusstsein existiert nicht nur bei den Funktionären, sondern auch an der sogenannten Basis. Wenn sich LohnarbeiterInnen mit ihrer eigenen Funktion im Kapitalismus identifizieren und nur im Namen dieser Funktion ihre Bedürfnisse einklagen, werden sie selber zu „Charaktermasken“ (Marx) eines bestimmten Kapitalbestandteils, nämlich der Arbeitskraft. Sie erkennen damit an, dass sie nur ein Recht zu leben haben, wenn sie Mehrwert produzieren können. Daraus entsteht eine gnadenlose Konkurrenz unter den verschiedenen Kategorien von LohnarbeiterInnen und eine Ideologie der sozialdarwinistischen Ausgrenzung. Das zeigt sich besonders beim defensiven Kampf um den Erhalt von Arbeitsplätzen, der keine Perspektive darüber hinaus hat. Hier konkurrieren oft sogar die Belegschaften verschiedene Betriebe eines einzigen Konzerns gegeneinander ums Überleben. Deshalb ist es wesentlich sympathischer und übrigens auch realistischer, dass französische Belegschaften mit der Sprengung ihrer Fabriken gedroht haben, um eine anständige Entlassungsprämie zu erzwingen. Solche neuen Kampfformen sind nicht defensiv und affirmativ, sondern sie könnten mit anderen Forderungen verbunden werden, etwa für verbesserte Einkommen von Arbeitslosen. In dem Maße, wie aus solchen Kämpfen eine gesellschaftliche soziale Bewegung entsteht, wird sie auch in der Erfahrung ihrer praktischen Grenzen auf die Fragen einer neuartigen „kategorialen Kritik“ am fetischistischen Selbstzweck des Kapitals und seiner gesellschaftlichen Formen gestoßen. Die Konkretisierung dieser weitergehenden Perspektive ist Aufgabe unserer Theoriebildung, die nicht in einem abstrakten Jenseits existiert, sondern sich als Moment der sozialen Auseinandersetzung versteht.“

Angesichts der weit vorangeschrittenen Krisendynamik scheint es kontraproduktiv, nun zu einer Fundamentalkritik anzusetzen, die auf den Aufbau einer „neuen“ transformatorischen und emanzipatorischen Bewegung abzielen würde. Emanzipatorische Bewegungen müssten angesichts der drängenden Zeit, angesichts der sich schließenden Zeitfenster mit dem arbeiten, was noch da ist. Der Rückzug in den Elfenbeinturm der „reinen Lehre“, um auf eine allmähliche „Diffusion“ des adäquaten Krisenbewusstseins innerhalb der Linken hinzuarbeiten, stellt keine gangbare Strategie dar. Stattdessen bleibt eigentlich nur die Option, die Krise für den Versuch zu nutzen, ein adäquates Krisenbewusstsein in die gegenwärtigen Kämpfe direkt hineinzutragen. Wie gesagt: Mensch muss – aufbauend auf Krisentheorie – den verängstigten Menschen sagen, was Sache ist, damit die Protestbewegungen sich in eine emanzipatorische Richtung entwickeln können.

Die Chancen hierfür stehen eigentlich nicht schlecht, da selbst ideologisch verblendete linke Zusammenhänge – etwa aus dem grünennahen, linksliberalen20 oder dem traditionsmarxistischen Spektrum – die Krisenfolgen kaum noch übersehen können. Die Krise ist Feind und Freund der progressiven Bewegung: Sie schnürt die gesellschaftlichen Diskursräume immer stärker zu, sie lässt die Panik ansteigen und den rechtsextremen Wahn anschwellen; aber zugleich nötigt sie alle gesellschaftlichen Kräfte, die ihre Sinne noch einigermaßen beisammen haben, sich der unleugbaren Notwendigkeit einer grundlegenden Überwindung der kollabierenden Kapitalvergesellschaftung zu stellen.

Der Versuch, in die gegenwärtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Konflikte ein dem objektiven Krisenprozess entsprechendes Krisenbewusstsein hineinzutragen, läuft letztendlich auf den Kampf gegen die falsche Unmittelbarkeit hinaus, die diese Auseinandersetzungen prägt. Unter falscher Unmittelbarkeit ist die Tendenz sozialer Bewegungen zu verstehen, unbewusst in Denkformen zu verharren, die den sozialen Zuständen und Widersprüchen entsprechen, gegen die sie sich eigentlich richten.

Die in den zunehmenden krisenbedingten Auseinandersetzungen befindlichen Menschen werden ja gerade nicht von einem „revolutionären Automatismus“ erfasst, der ihnen ein antikapitalistisches Krisenbewusstsein verschaffen wurde. Ganz im Gegenteil. Durch die Fixierung auf konkrete, anscheinend erreichbare Ziele innerhalb des Bestehenden wird dessen Systemlogik selbst im oppositionellen Kampf gestärkt. Der Kampf um die Stilllegung von Braunkohleabbau, gegen die Teuerung und gegen soziale Erosion, um einen höheren Lohn oder gegen Lohnkürzungen, der Windmühlenkampf der hilflosen, sozialdemokratisierten Linken gegen den munter weiter voranschreitenden Demokratie- und Sozialabbau: sie verfestigen die entsprechenden kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen und Vergesellschaftungsformen, in denen und um deren Willen gekämpft wird: Arbeit, bürgerliche Demokratie samt der kapitalistisch kastrierten „Bürgerrechte“,21 der Staat als „Sozialstaat“ gerinnen so auch innerhalb der in sozialen Kämpfen verfangenen Bewegung zu quasi natürlichen Voraussetzungen menschlicher Gesellschaft.

Die unmittelbaren Ziele, die innerhalb des Systems verfolgt werden, sind somit „falsch“, sie führen zur Ausbildung der besagten falschen Unmittelbarkeit, da sie erstens nicht mit der krisengebeutelten Systemlogik brechen, sondern diese im Gegensatz noch zementieren, und da sie zweitens innerhalb einer kollabierenden Kapitalvergesellschaftung erstritten werden sollen, sodass deren Realisierung vollends illusionär ist. Nach dem in Krisenschüben zwangsläufigen Scheitern der großen sozialen Kämpfe – etwa in Südeuropa nach Ausbruch der Eurokrise – setzten deswegen zumeist Resignation und Apathie ein, da diesen Bewegungen gerade eine weitergehende transformatorische Perspektive fehlte, die nur aus einem dem Krisenprozess adäquaten Krisenbewusstsein entspringen könnte. Die an den krisenbedingt zunehmenden sozialen Protesten beteiligten Kräfte wollen zumeist nichts weiter erreichen, als das, was sie postulieren: Kampf gegen Braunkohleabbau, um Arbeitsplätze, um höhere Löhne, gegen Sozialabbau, Arbeitsplatzvernichtung, gegen die beständige Erosion von „Bürgerrechten“, etc.

Es scheint absurd: In der Krise kämpft die Linke für die Aufrechterhaltung der krisenbedingt erodierenden kapitalistischen Vergesellschaftungsformen. Und zugleich ist keine realistische Alternative zu eben diesen Kämpfen gegeben, da es sich hierbei zumeist um mehr oder minder offene Formen des nackten Existenzkampfs handelt. Im Kapitalismus ist die Reproduktion der eigenen Arbeitskraft nur mittels – eigener oder ausgebeuteter – Lohnarbeit möglich. Die Etablierung von Hungerlöhnen, die unter dem Existenzniveau liegen, schreitet auch in den Zentren voran. Der Arbeitsplatzverlust geht immer öfter mit dem Absturz in einen lebensbedrohlichen Pauperismus einher. Der Kampf gegen Demokratieabbau und die allgegenwärtige Faschisierung Europas ist notwendig, um überhaupt noch Manövrierräume für emanzipatorische Politik möglichst lange offen zu halten. Solange das Kapitalverhältnis als die geschilderte gesellschaftliche Totalität fortbesteht, sind auch oppositionelle Kräfte an dessen Vergesellschaftungsformen gekettet.

Das bedeutet aber nicht, dass diese Kräfte den sozial-ökologischen Kampf nur in diesen Formen einfordern, geschweige denn, ihn nur in diesen Formen wahrnehmen müssen. Es ist somit tatsächlich entscheidend, mit welchem Bewusstsein die gegenwärtigen Proteste und Kämpfe geführt werden, selbst wenn deren konkreter Verlauf sich anfangs nicht großartig von den systemimmanenten, reformistischen Kämpfen unterscheiden würde. Die Auseinandersetzung mit Krisenideologie, verkürzter Kapitalismuskritik und der falschen Unmittelbarkeit zielt ja letztendlich darauf ab, den Transformationsprozess ins „politische Bewusstsein“ der sozialen Bewegungen zu heben, um so den unbewusst geführten Transformationskampf als solchen überhaupt erst zu begreifen und entsprechend bewusst zu gestalten.

Der Fokus, die Zielsetzung einer solchen bewusst geführten, anscheinend systemimmanenten Auseinandersetzung (Klimakampf, Lohnkampf, Antifa-Protest, Demos gegen Demokratieabbau, Abwehrkämpfe gegen Sozialabbau) verändern sich, sobald sie von einem transformatorischen Bewusstsein durchdrungen sind; wenn sie also als eine Frühphase des Transformationskampfes begriffen und propagiert werden, der in der Peripherie schon mit aller massenmörderischen Brutalität tobt. Um beim Beispiel der Sozialproteste zu bleiben: Anstatt einfach nur zu postulieren, dass die Reichen zahlen sollen, müsste klar gemacht werden, dass die Reichen für die Transformation zu zahlen haben – solange Geld noch Wert hat und es überhaupt Sinn macht, diese Forderung zu stellen. Der Weg wird zum Ziel: Die Selbstorganisation der Menschen in den entsprechenden Oppositionsbewegungen müsste somit bereits von dem Bestreben getragen sein, Momente einer postkapitalistischen Vergesellschaftung auszubilden.

Es wird sich aber auch über Umverteilungs- und Enteignungsmaßnahmen hinaus die Frage stellen: Wie lässt sich das Gesundheitswesen, Essen, Wohnen usw. organisieren, ohne dass entsprechende Finanzmittel oder rentable Arbeitsplätze vorhanden sind? Spätestens wenn die Inflation das Geld entwertet und alles wegen fehlender Rentabilität geschlossen oder ausgedünnt zu werden droht, steht die Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion nach anderen als nach kapitalistischen Kriterien auf der Tagesordnung. Nicht etwa nach dem Motto ‘Wie lässt sich die Rente finanzieren?‘, sondern ‚Wie lässt sich der materielle und soziale Reichtum organisieren, damit alte Menschen würdig leben können?‘. Nicht ‚Wie können Arbeitsplätze geschaffen werden?‘, sondern ‚Wie müssten Menschen und Ressourcen mobilisiert und was müsste getan werden, damit Essen, Wohnen, Gesundheit usw. realisiert werden können?‘ (und das eben nicht auf Hartz-IV, Slum- oder Gulagniveau). Entweder die Linke lässt sich auf diese Ebene ein, oder sie muss sich daran beteiligen, systemimmante Lösungen umzusetzen, was auf nichts Anderes hinauslaufen wird, als alte Menschen in kostengünstige Pflegegulags zu verfrachten oder sie gleich ‚sozialverträglich‘ umzulegen.

Die Forderungen und Organisationsformen im Widerstand gegen die drohende Klimakatastrophe, gegen die Zumutungen der Krisenverwaltung müssen somit bereits Keimformen postkapitalistischer Vergesellschaftungsformen enthalten. Zentral müsste hierbei eigentlich das Bemühen sein, die systemimmanenten Oppositionsbewegungen zuerst als offene Diskursräume zu gestalten. Der Krisendiskurs, der auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nicht mehr möglich ist (und der von der Linkspartei aus opportunistischem Kalkül sabotiert wird),22 muss zumindest in der Opposition geführt werden. Zudem scheint in der Verständigung über Strategien und Protestformen bereits der angestrebte postkapitalistische Verständigungsprozess über die gesamtgesellschaftliche Reproduktion auf. Die Diskursräume müssten somit, auch angesichts zunehmender Repression, möglichst lange offen gehalten werden. Der offene Diskussionsprozess, die Organisation und Koordination des transformatorischen Widerstandes, sie könnten als Vorform der globalen bewussten Selbstverständigung der Weltgesellschaft bezüglich ihrer Reproduktion fungieren.

Deswegen ist übrigens auch der demokratische Kampf um eine möglichst lang anhaltende Aufrechterhaltung der bürgerlich-demokratischen Restfreiheiten so notwendig, um möglichst lange den Transformationsprozess in Formen nicht-militärischer Auseinandersetzungen beeinflussen zu können. Die Notwendigkeit des Übergangs zwischen demokratischem Kampf und militant-militärischen Auseinandersetzungen ist überdies schwer abzuschätzen, sie ist abhängig vom Grad der Faschisierung und der Zerfallstendenzen des betreffenden Staates und seiner Gesellschaft. Ein solcher bewaffneter Kampf, der emanzipatorischen Kräften in Krisenverlauf aufgenötigt werden kann, stellt aber auch eine Niederlage dar. Die offene Diskursstruktur, die Ansätze zur Selbstverwaltung, die Keimformen künftiger Gesellschaften bilden könnten, drohen den Notwendigkeiten der militärischen Organisation zu weichen. Dann werden tatsächlich die leninschen Praxisvorgaben unabwendbar – und es droht dann eine autoritäre „Sowjetisierung“ der postkapitalistischen Alternativen.

Die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“

http://scharf-links.de/?id=Letztendlich gilt es, die verschiedenen Kämpfe und sozialen Bewegungen als Teilmomente des einen global tobenden Transformationskampfes zu begreifen. Die Welt befindet sich somit längst in einer Systemtransformation, nur wird sie von der krisenblinden Linken nicht als solche wahrgenommen. Wie schon mehrfach erläutert: Dieser blind ablaufende Transformationsprozess ist prinzipiell offen, er ist nicht prädeterminiert, weshalb auch der Ausgang dieser Systemtransformation (falls sie ohne atomaren Holocaust abgeschlossen werden sollte) absolut offen ist. Mehr noch: Da das System sich im Umbruch befindet, da das einstmals betonharte gesellschaftliche Gefüge in Bewegung gerät, die ehemals festen gesellschaftlichen Strukturen sich gewissermaßen verflüssigen, haben kollektive Handlungen einen weitaus größeren Einfluss auf die Formung der Zukunft als in Zeitperioden, in denen der Kapitalismus stabil schien. Doch weisen diese größeren Interventionsmöglichkeiten, die sich emanzipatorischen Kräften in der gegenwärtigen Systemkrise bieten, enge Zeitfenster auf, die sich dann auch irreversibel schließen können.

Offensichtlich ist dies ja beim Klimawandel mit seinen Kipppunkten, doch auch die soziale Krisenentfaltung verläuft nicht linear – es ist keine graduelle Entwicklung. Innerhalb des Transformationsprozesses gibt es entscheidende Momente oder Umbruchsituationen, in denen der weitere Krisenverlauf bestimmt wird. Sobald ein solcher Kulminationspunkt der inneren Widerspruchsentfaltung überschritten wurde, ohne katastrophale Folgen nach sich zu ziehen (Atomkrieg, ökologischer Kollaps ganzer Regionen, etc.), verläuft der weitere Krisenprozess in den in diesem entscheidenden Moment festgelegten Bahnen – die Revision einer solchen Entscheidung durch Interventionen scheint dann kaum noch machbar.

„Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“ Dieses berühmte Zitat von Karl Marx, das den fetischistischen Prozess gesamtgesellschaftlicher Reproduktion im Kapitalismus auf den Punkt bringt, charakterisiert auch den nun voll einsetzenden Auflösungsprozess des kapitalistischen Weltsystems treffend. Das Weltsystem befindet sich bereits in einer Phase des chaotischen Umbruchs, wobei die Richtung und der Ausgang dieses Prozesses nicht prognostizierbar sind – einfach deswegen, weil er von den Handlungen der Subjekte im sich entfaltenden Transformationskampf (vorerst unbewusst) geformt wird. Da es kein „revolutionäres Subjekt“ gibt, ist es eben entscheidend, ob der Krisencharakter in der Bevölkerung in ausreichender Breite reflektiert wird, um auch hier die entsprechenden Kipppunkte zu überschreiten.

Emanzipation und Barbarei scheinen im voll einsetzenden, globalen Transformationskampf somit zeitgleich auf: Die brutale spätkapitalistische Krisenkonkurrenz geht einerseits in einen postkapitalistischen Transformationskampf über, sie überschneidet sich mit ihm teilweise, beide Krisenmomente treten mitunter in Wechselwirkung, wobei die ständigen Metamorphosen unterliegende, spätkapitalistische Krisenideologie diesen Auflösungsprozess zu rationalisieren versucht. Zugleich brechen, mitunter völlig unerwartet, immer öfter Aufstände und Massenproteste gegen die Perspektivlosigkeit des Spätkapitalismus auf, eine globale Umwelt- und Klimabewegung formiert sich, spontane Aufstände brechen in Ländern wie dem Iran aus, etc. Bei Überschreitung sozialer Kipppunkte können Aufstände wie aus heiterem Himmel ausbrechen. Mit zunehmender Krisenintensität werden sich diese Widersprüche und Konflikte verschärfen, die unzähligen Kämpfe in eine globale Auseinandersetzung umschlagen, die durchaus in einen Atomkrieg münden kann.

Dies gilt für den Krisenimperialismus der erodierenden spätkapitalistischen Staatsmonster,23 wie auch für die vielfältigen, an Intensität gewinnenden Konflikte in den krisengeschüttelten Gesellschaften. Dabei gilt es aber, eine „Hierarchisierung“ der Kämpfe in klassenkämpferische Haupt- und sonstige Nebenwidersprüche zu vermeiden. Die klassenkämpferischen Auseinandersetzungen bei Lohnkämpfen oder Sozialprotesten können nur gleichberechtigt mit anderen sozialen Kämpfen (Antifa, Klimakampf, Antimilitarismus, Feminismus, Demokratieverteidigung, sexuelle Selbstbestimmung, etc.) einer transformatorischen Bewegung dazu dienen, deren falsche Unmittelbarkeit im Laufe der Auseinandersetzungen in der oben angedeuteten Weise zu überwinden – um die sozialen Kämpfe, Proteste oder Umverteilungskämpfe durch das Hineintragen eines radikalen Krisenbewusstseins in Momente eines Transformationskampfes zu verwandeln.

Sobald die unterschiedlichen Bewegungen als Teilmomente eines Kampfes um eine emanzipatorische Systemtransformation begriffen werden, könnte auch die sich abzeichnende, destruktive „Bewegungskonkurrenz“ – etwa zwischen Klimabewegung und Sozialbewegung – minimiert werden, die gerade von den reaktionären Teilen der Linkspartei forciert wird.24 Die Linkspartei betreibt übrigens mit ihrer „Sozialkampagne“ gerade das Gegenteil einer emanzipatorischen Transformationsbewegung: unter sozialer Demagogie sollen soziale Bewegungen gekapert werden, um im repressiven Bewegungs- und Krisenmanagement das Aufkommen eines radikalen Krisenbewusstseins zu verhindern.25 Dieser opportunistischen und rechtsoffenen sozialen Demagogie, die sich trotz eskalierender Systemkrise in einer karikaturhaften offensichtlichen, falschen Unmittelbarkeit suhlt, muss in aller Praxis die kollektive Überlebensnotwendigkeit einer emanzipatorischen Systemtransformation entgegengesetzt werden.

So, wie es ist, bleibt es nicht. Diese Einsicht aus Brechts Lob der Dialektik26 könnte zur Handlungsmaxime einer emanzipatorischen Transformationsbewegung aufsteigen, die zuerst lernen müsste, den Transformationsprozess zu beeinflussen. Es stellt sich dabei immer die Frage, welche politischen Strukturen, welche gesellschaftlichen Machtkonfigurationen beim nächsten Krisenschub vorherrschen sollen. Der sich hinter dem Rücken der Subjekte entfaltende Krisenprozess kann ja auf sehr unterschiedlich strukturierte spätkapitalistische Gesellschaften treffen. Sie können oligarchisch, präfaschistisch oder bürgerlich-demokratisch, eher egalitär oder ständehaft, nationalistisch oder kosmopolitisch, säkular oder religionsfaschistisch ausgerichtet sein.

Es geht somit letztendlich darum, in Prozessen, in Entwicklungen zu denken, die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen als im Zerfall begriffen wahrzunehmen, die entscheidenden Widersprüche zu verorten und in Antizipation der gewaltigen künftigen Erschütterungen die besten gesellschaftlichen Voraussetzungen, die optimale Ausgangslage für die emanzipatorische Transformation zu schaffen, was ja nur in Kooperation mit nennenswerten gesellschaftlichen Kräften geschehen kann. Die Schwierigkeit einer solchen Bündnispolitik besteht nun darin, entsprechende Kräfte zu lokalisieren, die den weiteren Transformationsprozess in eine emanzipatorische Richtung lenken würden, sowie in dem Hineintragen des geschilderten radikalen Krisenbewusstseins in diese Bewegungen.

Eigentlich ist es nur die fetischistische, blinde Bewegung des automatischen Subjekts uferloser Kapitalverwertung, die beim Durchschreiten ihrer inneren Schranke in die drohende ökologische Selbstvernichtung und eskalierende gesellschaftliche Kämpfe – perspektivisch einen Atom- und Weltbürgerkrieg – umschlägt. Die spätkapitalistische Wertvergesellschaftung zerfällt, aber der gesellschaftliche Fetischismus – die ohnmächtige Auslieferung der Subjekte an die unbewusst durch sie selbst hervorgebrachte gesellschaftliche Dynamik – beliebt bestehen. Begriffslos taumeln die Akteure, auch gerade in der deutschen Linken, in den drohenden Weltbürgerkrieg als dem Fluchtpunkt der transformationsbedingt einsetzenden Auseinandersetzungen.

Es gibt sie somit tatsächlich, die „wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“, die der junge Marx gemeinsam mit Engels in seiner Frühschrift „Die Deutsche Ideologie“27 konstatierte und als eine progressive Bewegung imaginierte, nur ist es eben kein zivilisatorischer Automatismus, der die Menschheit in den Kommunismus führt. Marx, durch dessen gesamtes Werk sich die Spaltung zwischen überholtem Fortschrittsglauben und wichtiger kategorialer Kritik zieht, brachte hier den Fetischismus des Kapitals zum Ausdruck, um zugleich dem Glauben an den ewigen Fortschritt, an den hegelschen Weltgeist zu erliegen. Die wirkliche, den Spätkapitalismus in seinen Grundfesten erschütternde Bewegung, ist die des blind über die Gesellschaft ablaufenden Verwertungsprozesses des Kapitals, das an sich selber zugrunde geht. Es ist der Fetischismus, den Marx schon damals ahnte.

Es gilt folglich, aller Evidenz zu trotz, darum zu kämpfen, diese unausweichliche Transformationsbewegung, die den jetzigen Zustand totsicher aufheben wird und die in seinem Verlauf und Ergebnis immer noch offen ist, im Transformationskampf zu einer bewusst agierenden Bewegung zu formen. Die Systemtransformation ist unvermeidbar, es kommt darauf an, sie in eine progressive, emanzipatorische Richtung zu lenken – im Kampf gegen die Kräfte der Barbarei, die das Kapital in seiner Krise wieder ausschwitzt.

Wenn es ein Kampffeld gibt, das in der gegenwärtigen Krisenphase Priorität haben sollte, dann ist es ein um eine möglicht breite Bündnisbildung bemühter Antifaschismus, da der Faschismus als die offen terroristische Krisenform kapitalistischer Herrschaft sich bereits deutlich abzeichnet. Die in der deutschen Linken sich längst breitmachende Querfront,28 die tief mit dem deutschen Staatsapparat verflochtene Neue Rechte,29 der im Aufschwung begriffene Präfaschismus30 scharren schon mit den Hufen, um die Krise des Kapitals mit einem abermaligen Absturz in die Barbarei zu beantworten.

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1 http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_009.htm

2 https://konkret-magazin.shop/texte/konkret-texte-shop/66/tomasz-konicz-kapitalkollaps

3 https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/wirtschaft/theorie/stagflation-inflationsrate-6794.html

4 https://www.akweb.de/ausgaben/642/kapitalismus-und-klimakatastrophe-zu-effizient-fuer-diese-welt/

5 https://www.mandelbaum.at/buecher/tomasz-konicz/klimakiller-kapital/

6 https://www.akweb.de/bewegung/die-klimabewegung-braucht-antikapitalistische-leitplanken-fuer-ihre-kommenden-aktionen/

7 https://www.konicz.info/2022/10/06/opportunismus-in-der-krise/

8 https://www.konicz.info/2022/10/06/opportunismus-in-der-krise/

9 https://www.konicz.info/2022/10/02/die-subjektlose-herrschaft-des-kapitals-2/

10 https://www.konicz.info/2022/06/25/schuldenberge-im-klimawandel/

11 https://www.konicz.info/2022/07/22/schuldenberge-in-bewegung/

12 https://www.konicz.info/2022/09/03/the-walking-debt/

13 link: Opportunismus in der Krise

14 https://www.konicz.info/2021/09/20/telepolis-eine-rotbraune-inside-story/

15 https://www.konicz.info/2019/04/27/die-subjektlose-herrschaft-des-kapitals/

16 https://www.konicz.info/2019/08/30/der-alte-todesdrang-der-neuen-rechten/

17 Siehe hierzu: Roswitha Scholz, Der Wert ist der Mann, https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=38&posnr=25&backtext1=text1.php

18 https://www.rnd.de/politik/eritrea-das-nordkorea-afrikas-diktator-mischt-in-tigray-konflikt-mit-UFEFDYU3TZHRJNBTV776QRFO3I.html

19 https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=37&posnr=449&backtext1=text1.php

20 https://www.deutschlandfunk.de/ulrike-herrmann-sieht-kapitalismus-am-ende-100.html

21 Durch die ja im Wesentlichen der Mensch als kapitalverwertungsfähiges Subjekt anerkannt werden soll, wobei die Anerkennung entfällt, wenn die Verwertungsfähigkeit ausbleibt – deutlich zu sehen bei Flüchtlingen. Siehe: https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=20&posnr=554&backtext1=text1.php

22 https://www.konicz.info/2022/10/06/opportunismus-in-der-krise/

23 https://www.konicz.info/2022/06/23/was-ist-krisenimperialismus/

24 https://www.facebook.com/photo/?fbid=5047254132045984&set=a.1916895028415259

25 https://www.konicz.info/2022/10/06/opportunismus-in-der-krise/

26 https://www.deutschelyrik.de/lob-der-dialektik-1934.html

27„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ Quelle: www.mlwerke.de/me/me03/me03_009.htm

28 https://www.konicz.info/category/querfront/

29 https://www.konicz.info/2019/04/01/braun-von-ksk-bis-usk/

30 https://www.tagesschau.de/inland/niedersachsen-afd-101.html

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Die Verstaatlichung ?

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Oktober 2022

– Verworfen, gefordert, umgesetzt und nun?

Auch eine Verstaatlichung würde nich die fehlende Intelligenz in der Politik ersetzen!

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Suitbert Cechura

Der absolute Frevel an der Marktwirtschaft – der Staat eignet sich privates Unternehmertum an. Das geht gar nicht! Oder doch?

Verstaatlichung ist der Horror jedes Liberalen und sonstigen Parteigängers marktwirtschaftlicher Vernunft. Inzwischen ist sie aber nicht mehr nur eine Forderung der Linken, die mit Verstaatlichung die Übel der Marktwirtschaft beseitigen will (vgl. SZ, 12.9.22). Oder eines Gewerkschaftsvertreters, der wie IG-Metall-Vorstandsmitglied Urban die „Überführung“ von Konzernen, die an ihrer Versorgungsaufgabe scheitern, „in die öffentliche Hand“ für sinnvoll hält (vgl. Konkret, 10/22). Die Forderung wird auch von anderen Gruppen hierzulande erhoben und hat es in Berlin sogar bis zu einem erfolgreichen Volksentscheid gebracht (deutschlandfunk.de/volksentscheid-berlin-stimmt-fuer-enteignung-grosser-100.html).

Ob es ums Wohnen geht, das Gesundheitswesen oder jetzt die Energieversorgung, immer soll, wenn sich Not bemerkbar macht, letztendlich Verstaatlichung die Versorgung der Bürger sicherstellen. Berufen wird sich dabei auf das Grundgesetz, das diese Möglichkeit vorsieht, und auf das Ziel der Politik, die Versorgungssicherheit der Bürger zu gewährleisten. Wenn man aber die Praxis dieses gar nicht so ungewöhnlichen Verfahrens betrachtet, zeigt sich schnell, dass es auch nicht für Zufriedenheit im Lande sorgt. Dafür wird deutlich, worum es dem Staat bei Verstaatlichung und Versorgungssicherheit geht.

Marktwirtschaft mit Versorgungssicherheit …

Zur Wahrung der Versorgungssicherheit hat der Staat nicht nur die Regie bei Gasprom Germany übernommen, sondern auch den größten Gasimporteur Uniper verstaatlicht und weitere Verstaatlichungen im Gassektor in Aussicht gestellt. Angekündigt ist zudem ein Gaspreisschirm, der den Gaspreis bezahlbar machen soll. Wie dieser genau ausgestaltet wird, ist noch offen, aber in seinen Grundsätzen bekannt. Verhindert werden soll durch die Aktion, dass die Höhe der Gaspreise Unternehmen ruiniert, und auch die Bürger sollen mit ihrem beschränkten Budget über die Runden kommen. Der Staat stellt sich mit diesem Programm als Garant für das Funktionieren seiner Wirtschaft und für das Zurechtkommen seiner Bürger dar.

Versorgungssicherheit bedeutet natürlich nicht, dass damit jeder sicher sein kann, dass er das bekommt, was er zu seinem Lebensunterhalt oder zur Durchführung seines Geschäfts braucht. Schließlich soll bei der ganzen Aktion Gas auch weiterhin einen Preis haben und dieser Preis soll zum Energiesparen anreizen, wie es so schön heißt. Zum Sparen anreizen bedeutet nichts anderes, als dass es einigen schwerfallen wird, diesen Preis zu bezahlen. Das ist dabei fest einkalkuliert. Schließlich erfordert der Wirtschaftskrieg mit Russland Energieeinsparung in der gesamten Nation. Sicherung der Versorgung unter staatlicher Hoheit zielt eben auf die Sicherung des Geschäftemachens und darauf, dass die Bürger weiter ums Geld der Gesellschaft konkurrieren können. Dass dabei immer welche zu kurz kommen und verarmen ist, fester Bestandteil dieser Wirtschaftsordnung.

Die Gasversorgung ist nur eine Branche, die der Staat als wesentlich für das Funktionieren seiner Gesellschaft betrachtet. Das Herbeischaffen der benötigten Energieversorgung gilt ihm insgesamt als Sektor, dem besondere Aufmerksamkeit zu widmen und der durch entsprechende Gesetze zu regulieren ist. Im Gassektor wird dies an den Regelungen zum Füllstand der Gasspeicher deutlich: Sie müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt soweit gefüllt sein, dass sie als Reserve für Versorgungsschwankungen ausreichen. Neben dem Energiesektor sind die Geschäftssphären Transport, Post und Telekommunikation, der Wohnungssektor, die Agrarindustrie und das Gesundheitswesen als relevante Bereiche für die gesamtgesellschaftliche Funktionsfähigkeit im Visier der Politik. Diese führt hier Aufsicht und macht daher regulierend dem Geschäft in diesen Branchen Vorgaben.

Was hier auffallen könnte, aber von keinem Wirtschaftsteil des deutschen Pressewesens zu hören ist: Wenn die Regierung Uniper und andere große Gasimporteure verstaatlicht, um die Gasversorgung im Lande sicherzustellen, dann stellt sie damit praktisch die Basisideologie der Marktwirtschaft in Frage. Die lebt ja von der Lüge, sie würde immer für die beste Allokation von Gütern sorgen, sprich, dass die Güter dorthin gelangen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Wohin sie wirklichen gelangen, entscheidet sich an der Zahlungsfähigkeit derer, die über die Mittel verfügen, die notwendigen Güter zu kaufen. Das marktwirtschaftliche Credo ernst genommen, macht also nicht der Bedarf, den Menschen haben, die Dringlichkeit aus, sondern ihre Zahlungsfähigkeit. Die Nöte der kleinen Leute zählen da nicht, sie kommen erst als Sorgethema und Berufungstitel ins Visier, wenn staatlicherseits ein allgemeiner Notstand konstatiert wird.

… durch planwirtschaftliche Gestaltung des Geschäfts

Die Sicherung der Versorgung der Gesellschaft durch Schaffung der Voraussetzungen des Produzierens, Handelns und Konsumierens bedeutet für den Staat Kosten, die seinen Haushalt belasten und ihn damit in seiner politischen Handlungsfähigkeit beschränken. Deshalb sind alle Regierungen – gleich welcher Couleur – darauf bedacht, dass möglichst viel an Voraussetzungen für das Funktionieren der Gesellschaft privatwirtschaftlich und damit kostengünstig erbracht wird. Schon die Auslagerung von Aufgaben an Stadtwerke, die nach wie vor vollständig in Besitz der Kommunen verbleiben, erbringt positive Leistungen, indem nicht mehr der kommunale Kredit für den Bau und die Instandhaltung von Wasser- oder Abwasserleitungen strapaziert werden muss. Zudem müssen diese Firmen ihre Gebühren so kalkulieren, dass sich die dort eingesetzten Kredite und eingenommenen Gelder lohnen, d.h. zumindest die Kosten decken oder besser noch den Kommunen zusätzliche Einnahmen bescheren.

Die Kosten für die notwendige Infrastruktur der Gesellschaft erfordern wirtschaftlich betrieben große Kapitalmengen. Die waren in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vorhanden und so wurden Branchen wie die Wasser- und Energieversorgung, die Bahn und Post weitgehend in staatlicher Regie betrieben. Und auch das Gesundheitswesen stand mit der Sicherung der Finanzierung für die meist von den Wohlfahrtsverbänden geführten Krankenhäuser unter staatlicher Kontrolle.

Das Vorhandensein von großen Kapitalmengen in der Gesellschaft und staatlicher Finanzbedarf nach dem Anschluss der DDR lösten dann eine wahre Privatisierungswelle aus. Die Stromkonzerne, die zwar als Kapitalgesellschaften in kommunaler Hand organisiert waren, aber sich mit Versorgungsmonopol und Preisregulierungen nicht als Konkurrenzunternehmen betätigen konnten, wurden von diesen Schranken befreit und sollten sich auf dem europäischen Markt als Kapitalunternehmen bewähren. Die Post wurde zur Post AG, abgespalten davon die Telekom an die Börse gebracht und die Bahn in eine AG umgewandelt. Im Gesundheitswesen wurde das Kostendeckungsprinzip abgeschafft und die Akteure wurden darauf verpflichtet, mit staatlich vorgegebenen Preisen zu wirtschaften. Verkauft wurde die Umwandlung als Aufbruch in die neue Dienstleistungsgesellschaft und als Abschied von der bräsigen Beamtenkultur: Der Bürger wurde zum Kunden, der es nicht mehr mit einer Obrigkeit, sondern mit einem interessanten Anbieter zu tun hat.

Die Wahrheit ist banaler: Privatisierung soll staatliche Ausgaben für die Sicherstellung dieser Leistungen reduzieren und aus den Kosten für diese Bereiche ein Mittel zur Bereicherung für Private machen, die ihrerseits so zu Steuerzahlern werden. Die Reduzierung des Aufwandes für die Versorgung durch Privatisierung erfolgt in erster Linie durch Senkung der Lohnkosten. So wurde z.B. aus Postbeamten ein Heer von Billiglöhnern, die als Mitarbeiter von Konkurrenzfirmen alle die gleichen Haushalte anfahren und die Pakete vor die Tür stellen, die Straßen verstopfen und die Luft verpesten. Für die Kunden werden Leistungen gestrichen und die Post kommt nicht mehr täglich, Postkästen werden abgebaut und Zweigstellen geschlossen.

Das Gleiche auch in den anderen Sektoren, wo mit der Privatisierung das Personal reduziert, Leistungen in nicht tarifgebundene Bereiche ausgelagert wurde usw. Die neue Servicegesellschaft begegnet den Bürgern in Form von Warteschleifen von Callcentern. Oder die Erhebung der Grundsteuer wird zu einem Experiment in Sachen Digitalisierung der Verwaltung, bei dem – wie der FAZ auffiel – der Bürger die Arbeit der Finanzämter machen soll.

Selbst die  Verstaatlichung der Banken in Russland 1917 konnte die Oligarchie nicht verhindern

Die Sicherstellung der Versorgung der notwendigen Dienste für die Gesellschaft durch Private hat so ihre Tücken, wie man an dem ganzen Regulierungswesen sieht. Für private Unternehmen ist nämlich die Versorgung der Gesellschaft Mittel für ihre Bereicherung und findet daher nur dort statt, wo diese in ausreichendem Maße zustande kommt. Und das fällt eben nicht zusammen mit den Zielen des Staates, der diese Voraussetzungen für sich erfüllt sehen will, macht daher jede Menge an Regelungen und Eingriffen in dieses Geschäft notwendig.

Um auf die Gasspeicher zurück zu kommen: Für Gasunternehmen sind die Speicher ein Mittel ihres Geschäftes. Sie füllen sie, wenn die Preise niedrig sind, und verkaufen aus ihnen, wenn die Nachfrage hoch ist und hohe Preise zu erzielen sind. Diese Konjunkturen fallen aber nicht zusammen mit denen, die sich aus der Sicherung der Versorgung entsprechend des jährlich anfallenden Energiebedarfs der Gesellschaft ergeben. Deshalb schränkt der Staat die Spekulationsmöglichkeiten der Gasimporteure ein und verpflichtet sie, in Herbst und Winter entsprechende Vorräte vorzuhalten. Raum für Spekulation lässt er ihnen gleichwohl. In anderen Ländern legen die Staaten eigene nationale Energiespeicher an, um sich so von der Spekulation ihrer Energieunternehmen unabhängig zu machen.

Weil es den Gegensatz gibt zwischen nationaler Versorgungssicherung und privatem Bereicherungsinteresse, greift der Staat in alle diese Versorgungsbereiche mit einschlägigen Maßnahmen ein, setzt dem Bereicherungsinteresse Grenzen oder schafft Anreize, damit sich Anlagen auch dann lohnen, wenn sie sich wirtschaftlich nicht rechnen. So erhalten Stromproduzenten Geld für nur zeitweise genutzte Kraftwerke, damit immer ausreichend Strom in den Netzen vorhanden ist und Black-outs vermieden werden. Für die Unternehmen würden sich sonst Kraftwerke nur lohnen, wenn sich ständig Strom verkaufen ließe; so garantiert der Staat ihnen den Gewinn.

Auch die private Post muss eine flächendeckende Versorgung sicherstellen und sich die Gebühren genehmigen lassen. Ebenso die Telefonanbieter, die beim Erwerb von Funklizenzen ebenfalls entsprechende Verpflichtungen eingehen. Bei der Bahn ist zwar die Umwandlung in eine AG erfolgt, sie bleibt aber in staatlichem Besitz und unterliegt ebenfalls gesetzlichen Vorgaben. Im Gesundheitswesen gibt der Staat allen Beteiligten mit Preisen für festgelegte Leistungen die Kalkulationsgrößen vor, mit denen die Privaten zu wirtschaften haben, und versucht so, die Gesundheitsversorgung sicherzustellen; schließlich werden die Menschen für Staat und Wirtschaft gebraucht.

Mit der Verstaatlichung greift also nicht ein neues, menschenfreundliches Verfahren Platz. Wenn es in einzelnen Sektoren stattfindet, hält der Staat daran fest, dass in den Bereichen nach den Maßstäben der Marktwirtschaft zu handeln ist. Schließlich bleiben auch bei Verstaatlichung die Betriebsformen erhalten. Und wenn die Bahn nicht an die Börse geht, bleibt sie doch eine Aktiengesellschaft in der Hand des Bundes und soll als Wirtschaftsbetrieb handeln.

Wenn der Staat die Gasbranche verstaatlicht, ändert sich für den Kunden gar nichts. Sicherung der Versorgung mit Gas bedeutet ja nicht, dass nun jeder so viel Gas bekommt, wie er zum Heizen und Kochen braucht. Schließlich verlangt auch der neue Eigner für seine Ware Geld und erhält die Unternehmen am Leben, weil er nach wie vor diese Branche als Geschäftsfeld haben will. Was nichts anderes bedeutet, als dass auch in Zukunft der Bedarf der Bürger an Gas ein Mittel zur Bereicherung von Firmen bleiben soll. Dieses Geschäft auf neuer Grundlage wieder in Gang zu bringen, das ist das Anliegen, das der Staat mit seiner Verstaatlichung verfolgt.

Verstaatlichung ist eben etwas anderes als Vergesellschaftung der Produktion und Verteilung von Gütern. Verstaatlichung heißt, dass die hoheitliche Gewalt sich Eigentum, das sie ja gerade garantiert, aneignet, um es nach ihren Kriterien einzusetzen. Und das sind andere, als die Bürger mit dem Notwendigen zu versorgen. Es geht darum, den Erfolg der Geschäftswelt (wieder-)herzustellen, der sich dann am Ende in der wichtigsten Zahl des Wirtschaftslebens manifestiert: dem jährlichen Wirtschaftswachstum.

Vergesellschaftung würde bedeuten, dass die Menschen die Hoheit über Produktion und Verteilung erhalten und durch ihre Selbstverwaltungsgremien organisieren. Damit hat aber die staatliche Verfügung über Teile der Produktion oder des Handels nichts am Hut. Eine gesicherte Versorgung ist eben etwas anderes als eine Versorgung zu einem halbwegs erträglichen Preis. Die Tatsache, dass alles in dieser Gesellschaft einen Preis hat und damit Mittel fürs Geschäft ist, macht ja gerade das Leben zu einer ständigen Bewährungsprobe – momentan offiziell von oben angesagt mit Frieren, Sparen, Einschränken, Verzichten… Um das zu ändern, braucht es mehr als die Verstaatlichung von einigen Bereichen.

Zuerst erschienen bei Telepolis

Urheberrecht
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Oben      — Artikel 15 [des Grundgesetzes] – eine Arbeit von Dani Karavan an den Glasscheiben zur Spreeseite beim Jakob-Kaiser-Haus des Bundestages in Berlin

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Die „UBER – FILES“

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Oktober 2022

Die «Uber-Files» und die akademische Korruption

Quelle      :        INFOsperber CH.

Marc Chesney /   

Mit gut bezahlten Uber-Gutachten blamierten sich Professoren. Das war kein Einzelfall und sollte ein Weckruf sein.

Vor kurzem deckten die Uber-Files auf, dass renommierte Finanz- und Wirtschaftsprofessoren in Frankreich und Deutschland im Jahr 2016 für Uber Berichte verfasst hatten, in denen sie die Verdienste des Unternehmens lobten. Uber würde die Verkehrsanbindung von städtischen Randgebieten fördern und die Produktivität erhöhen.

Es zeugt von einer gewissen Doppelbödigkeit oder sogar von Zynismus, dass die Verfasser der Berichte den Stundenlohn der Fahrer in Höhe von 20 Euro hervorhoben (ohne Berücksichtigung der Versicherungs- und Treibstoffkosten), während sie selbst je 100’000 Euro für diese Lobbyarbeit erhalten haben sollen.

Ganz allgemein ging es darum, die Uberisierung der Wirtschaft zu fördern, was in Wirklichkeit die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen vorantreibt.

Die abgeschirmte akademische Welt der Wirtschafts- und Finanzwissenschaften spielt mit solchen Gutachten und Studien eine entscheidende Rolle bei der Verteidigung von Sonderinteressen. Die Tatsache oder die Hoffnung von Professoren, zusätzliche Honorare von großen (Finanz-) Institutionen zu erhalten, ist Anreiz genug.

Uber ist ein Beispiel von vielen

Die Medien liefern gelegentlich Beispiele dafür. Laut der französischen Monatszeitung Le Monde diplomatique vom Mai 2011 wurde ein renommierter Professor der London Business School vor der Finanzkrise von 2008 großzügig dafür honoriert, einen Bericht über die Glanzleistungen des isländischen Finanzsektors zu verfassen. Bekanntlich gingen in der Folge die drei Großbanken des Landes innerhalb von wenigen Tagen in Konkurs.

Die Spitze des Eisbergs

Diese von den Medien an die Öffentlichkeit getragenen Beispiele sind nur Teil eines Gesamtphänomens und werfen ein grelles Licht auf die Korruption in akademischen Kreisen. Es ist daran zu erinnern, dass die ersten eigenständigen Fakultätsinstitute für Finanzwissenschaft erst in den Achtziger- und Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts entstanden sind. Zu jener Zeit begann der Neoliberalismus mit seinen Deregulierungs- und Privatisierungswellen eine dominierende Rolle zu spielen. Zuvor hatten die wenigen auf diesem Gebiet tätigen Professoren zu den Fakultätsdepartementen für Volks- oder Betriebswirtschaftslehre gehört.

Bankensektor mit radikal neuem Geschäftsmodell

Professoren mit einer herkömmlichen Ausbildung in Volks- oder Betriebswirtschaftslehre konnten auf die neuen Fragen der Finanzinstitutionen keine zufriedenstellenden Antworten liefern. Denn die Finanzinstitute hatten ihr Geschäftsmodell radikal neu ausgerichtet. Die traditionelle Aufgabe der Großbanken, bei der ein Gewinn aus der Differenz zwischen Kreditgeber- und Kreditnehmer-Zins erwirtschaftet wird, war und bleibt ein langsames Geschäft. Dieses traditionelle Geschäft ist für die neuen Bänker Generationen geradezu langweilig.

Aufgrund der Deregulierungs- und Privatisierungswellen einerseits und des technologischen Fortschritts andererseits entwickelten sich weitere Tätigkeitsgebiete, die erhebliche und schnelle Gewinne versprachen. Mit den Aktivitäten der Fusionen & Akquisitionen sowie der Entwicklung riesiger Handelsräume, wo Aktien, Obligationen, Derivate usw. gehandelt werden konnten, entstanden auch neue akademischen Disziplinen rund um die Unternehmensfinanzierung und -bewertung («Corporate Finance»), sowie der Kapitalmarktheorie («Market Finance»). Im letzteren Fall war eine Grundausbildung in Mathematik, Physik oder Informatik häufig nützlicher als ein Abschluss in Wirtschaftswissenschaften.

Zuerst private Business Schools, dann Universitäten

So entwickelte sich schnell eine Casino-Finanzwirtschaft. Die Großbanken erreichten internationale Dimensionen und wurden systemrelevant, sodass sie bei unverhältnismäßigen Risiken und zu großen Verlusten auf staatliche Unterstützung zählen können. Dies alles selbstverständlich im Namen des Liberalismus.

Selbstfahrender Uber-Prototyp in San Francisco.jpg

Es musste daher ein Lehrkörper aus dem Boden gestampft werden, der die zukünftigen Experten auf diesen beiden Gebieten ausbilden konnte. Die Kosten für diese Ausbildungen wie insbesondere der Business Schools, die ursprünglich vielfach der Privatsektor finanzierte, wurden im Rahmen von akademischen Ausbildungen zunehmend der öffentlichen Hand übertragen und somit vom Steuerzahler finanziert.

So werden heutzutage beispielsweise Gelder des öffentlichen Haushalts dazu verwendet, die zukünftigen Manager von Hedgefonds auszubilden. Das Hauptziel dieser Fonds besteht darin, den Superreichen die Möglichkeit zu geben, noch reicher zu werden. Ein Mindestmaß an Anstand würde es erfordern, dass diese privaten Strukturen die besagten Kosten selbst tragen.

Akademische Söldner

Die Großbanken, welche die Schaffung dieses Lehrkörpers vorantrieben, wollten sich bei Bedarf in das Gewand der Wissenschaftlichkeit hüllen können. Sie sehen es beispielsweise gerne, wenn «akademische» Publikationen absurd hohe Vergütungen ihrer Geschäftsleitungen trotz eventuell katastrophaler Leistung «wissenschaftlich» rechtfertigen. Bei Bedarf möchten die betreffenden Finanzinstitutionen über akademische Söldner verfügen können, die sich öffentlich zu ihren Gunsten positionieren, oder über dienstbare Lakaien, die es vorziehen, zu schweigen.

Dies war ein strategischer Schachzug gegen alle, die es wagten, die übermäßig hohen Vergütungen und ganz allgemein die Casino-Finanzwirtschaft zu kritisieren.

In vielen öffentlichen Universitäten, insbesondere in der Schweiz und in Deutschland, werden Finanzprofessoren mit Steuergeldern gut entlohnt. Man sollte erwarten dürfen, dass sich diese Professoren dem Gemeinwohl und den Interessen der Mehrheit widmen, Fehlentwicklungen des Finanzsektors untersuchen sowie auch Lösungen vorschlagen. Es wäre Aufgabe dieser Professoren, die übermäßige Macht des Finanzsektors und die damit verbundene Uberisierung der Wirtschaft aus Sicht des öffentlichen Interesses kritisch zu analysieren.

Doch zu viele richten ihre Lehr- und Forschungstätigkeit nach den Bedürfnissen und Interessen des Finanzsektors aus.

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Eine erste Fassung dieses Artikels hat Le Temps am 19. Juli 2022 publiziert.

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Oben      —    Taxi mit Anti-Uber Banner bei einem Protest in Mexiko-Stadt, übersetzt als „Wenn Villa [vermutlich Pancho Villa] leben würde, wäre Uber nicht hier“

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Heiße Wut auf kalten Winter

Erstellt von DL-Redaktion am 25. September 2022

Kalte Wut macht keinen warmen Winter

Datei:Konstanz im Schnee 2006.jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von     :     Mag Wompel

Wie schon die Hartz-Proteste die „leistungskonforme Sozialpolitik“ nicht verhindern konnten.

Zu Recht ist breit die unstrittige Notwendigkeit von sozialen Protesten gegen die (mal wieder) einseitige Abwälzung der Kosten der Profit-Preis-Spirale nicht nur im Energiesektor Thema. Richtig und wichtig sind dabei Überlegungen um die Protestformen, will mensch einerseits möglichst viele der ausnahmslos betroffenen Lohnabhängigen einbinden, dabei andererseits deren abzuschreckenden Vorab-Diffamierungen trotzen und sich dabei von rechten Mobilisierungen distanzieren. Zu kurz gerät dabei die Diskussion der bei den Protesten zu stellenden Forderungen, dabei können die richtigen Ziele den wirksamsten antifaschistischen Schutzwall darstellen und für ihre nicht nur ökologische Nachhaltigkeit sorgen.

Das, was wir gerade erleben und erleiden ist nichts Neues, mögen es auch neue Gründe sein, warum „wir“ den berühmten Gürtel enger schnallen sollen (#Opferbereitschaft!). Natürlich verkürzend erinnere ich aus der jüngsten Vergangenheit an die – durchaus stattgefundenen – Proteste gegen die Hartz-Gesetze (2004/05), die Finanzkrise (2007ff), die „Flüchtlingskrise“ und Festung EU (2015ff) und seit 2 Jahren die Corona-Pandemie. Gemeinsam ist diesen Bewegungen, dass sie für uns linke Menschen das Problem beinhalteten, sich gegen rechte Okkupierungen zu wehren. Und ihre Erfolglosigkeit. „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ war dabei der Grundtenor – doch erst wurden dennoch (zu Lasten gesellschaftlicher Daseinsvorsorge) die Banken gerettet, dann die Pandemiegewinner, nun die Energiekonzerne…

Lange habe ich übrigens als (leider durchaus verdiente) Beleidigung empfunden, dass die Politik den Respekt vor uns Bürger:innen verloren hat, uns wenigstens anständig zu belügen. Diese Offenheit hat allerdings den nun offensichtlichen Vorteil der immer breiteren Desillusionierung.

Erfreulicherweise gibt es breite Wut darüber, wie offensichtlich ausgerechnet die armutsbetroffenen Menschen die Zeche zahlen sollen für immer brutalere Folgen der jahrzehntelangen Politik der Umverteilung und Gewinnsicherung zugunsten des Kapitals und zu Lasten der Gesellschaft, ihrer Infrastruktur wie der Umwelt. Es ist breite und berechtigte Empörung über verletztes Gerechtigkeitsempfinden zu spüren.

Doch wer sich nur moralisch empört und höchstens für gerechtere Behandlung des „kleinen Mannes“ oder gar “ sozial Schwacher“ protestiert (und diese Titulierung akzeptiert), wird sich nicht wundern dürfen, mit einer kurzfristigen Befriedung abgespeist zu werden, die schlimmstenfalls eine „gerechte“ Angleichung nach unten darstellt und keinesfalls die andauernde Umverteilung von unten nach oben tangiert. An den drängenden sozialen Unzumutbarkeiten und dramatischen Umweltfolgen werden und können auch 100 Euro von den 100 Milliarden nichts ändern.

Daher ist es richtig und wichtig, dass nun eine Debatte stattfindet, wie die Proteste dieses Mal erfolgreicher gestaltet werden können – egal ob gegen Gasumlage, drohende Obdachlosigkeit oder für die Fortführung des 9-Euro-Tickets etc. (ich verzichte hier auf Beispiele und verweise auf die Berichterstattung im Labour Net Germany in den diversen Dossiers).

„Erfolgreicher werden“ wird dabei meist mit der wachsenden Größe der Proteste gleichgesetzt. Zwangsläufige Folge ist die – durchaus gesehene – Gefahr, dass ein linker Populismus sich an rechte Mobilisierungsstrategien der einfachen (und durchaus berechtigten) „Wut auf die da oben“ annähert. Schon hat sich der Hashtag #Wutwinter (leider) durchgesetzt…

Übrigens sollten wir Linke (ich meine damit immer die Bewegung) selbstbewusster werden und aufhören, unsere Forderungen daran zu messen, ob sie denen der Nazis gleichen – was sie wollen, wollen sie immer nur für sich, teutsche. Wofür wir kämpfen, sollten wir für alle wollen und nicht nur hier.

Doch die Erfahrungen der Proteste gegen die Hartz-Gesetze haben bereits auch gezeigt, dass „in die Breite gehen“ bedeuten kann, für kosmetische Linderungen auf wesentliche Veränderungen der Politik zu verzichten. Denn diese setzen auch Veränderungen in den Köpfen (und im Verhalten) der betroffenen Bevölkerungsteile voraus.

Am Scheitern der Proteste gegen die Hartz-Gesetze, die die Sozialpolitik endgültig ökonomisiert haben, war nicht die mangelnde Masse schuld. Es war die breit verankerte Ideologie der „Leistungsgerechtigkeit“, die durch latente Akzeptanz des Menschenbildes der Agenda 2010 dem Widerstand das Genick gebrochen hat. Ich erlaube mir, meine eigene Kritik von 2005 zu zitieren (Mag Wompel: Vom Protest zur Revolte?):

Schroemuentekunz.jpg

Vertrauen auf die – welche alles versauten(verkauften) ?

„… die bei vielen der Montagsdemos verbreitete Kritik an Hartz IV, nach Jahrzehnten des Buckelns und nach nur 12 bzw. 18 Monaten auf das Sozialhilfeniveau zu fallen, bezeugt ein für Spaltungen und Sozialneid anfälliges Gerechtigkeitsverständnis. Anstatt diesen Versicherungsbetrug als solchen anzuprangern – wie auch die Tatsache, dass Sozialversicherungen allgemein durch die zunehmende Privatisierung der Lebensrisiken zu verdeckten Steuern verkommen – grenzt man sich vielmehr von als »Schmarotzern« empfundenen Sozialhilfeempfängern ab, während es (im Gegensatz zu den Angriffen auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) jahrzehntelang nicht kümmerte, dass sie längst unter der Hartz’schen Verfolgungsbetreuung litten und ihre Grundsicherung kontinuierlich gekürzt wurde. Diese an den Sozialhilfeempfängern erprobten Maßnahmen wurden erst als menschenunwürdig erkannt, als es auch die Menschen betraf, die sich bislang fernab und als »bessere Gesellschaftsmitglieder« wähnten. »Ein diskriminierendes, verarmendes, repressives System wird angeklagt, weil es einen selbst trifft – ein interessantes Phänomen, das allerdings in dieser Gesellschaft voller Untertanen zum gängigen Bewusstseinsrepertoire gehört.« Dieser Haltung müssen wir unbedingt eine solidarische entgegensetzen, bevor uns die andauernde Massenerwerbslosigkeit weitere Spaltungen beschert. (…)
Als die größte Klippe für wirksame einheitliche Proteste und den Widerstand gegen die Hartz-Gesetze hat sich die breite Akzeptanz des Leistungsprinzips und der Lohnabhängigkeit als einziger Quelle der Existenzsicherung erwiesen. Dies gilt für die Gewerkschaftsbürokratie gleichermaßen wie für die meisten der (noch?) beschäftigten wie erwerbslosen Lohnabhängigen selbst. (…)
In dieser gewollten Konzentration auf das Notwendige, auf die blanke Existenz, sollen wir alle Hoffnungen und Träume von Menschenwürde, Luxus und Muße vergessen. Denn die Praxis von Hartz und Agenda 2010 heißt Entwürdigung: um den Job zu bekommen oder um ihn zu behalten. Grundrechte als unveräußerliche, also auch »unverdiente« werden abgeschafft, denn »nichts ist umsonst«. Neben dem ökonomischen Elend, das dadurch keinesfalls vernachlässigbar wird, muss auch dieses kulturelle Elend in den Blick geraten, wenn Protest und Widerstand nicht nur bloße Abwehr, sondern auch ein wirklich besseres Leben bewirken sollen. Denn bloß den schon immer repressiven Sozialstaat verteidigen zu wollen, beließe uns in der Defensive und überließe uns permanent erneuten Zumutungen und Angriffen
…“

Es ist traurig, die Kritik aus aktuellem Anlass wiederholen zu müssen. Denn der immer noch breit vorhandene Glaube an die prinzipielle „Leistungsgerechtigkeit“ auch bei durchaus breiter Kritik an der „neoliberalen“ aktuellen Politik mag zwar viele aus der berühmten „Mitte“ gegen das verletzte moralische Empfinden auf die Straße locken. Aber mit „Leistungsgerechtigkeit“ wird genau diese Politik gerechtfertigt. Die Spaltung der Belegschaften, die Spaltung in den Sozial-, Kranken- und Rentensystemen. Die Spaltung in „faule“ Arme, Erwerbslose und „Leistungsträger der Gesellschaft“ – die nicht erst Lindner betreibt. Und nicht zuletzt legitimiert die „Leistungsgerechtigkeit“ die Ausgrenzung nicht „verwertbarer“ Migrant-innen, wie sie CDU/CSU nicht erst seit 2014 betreibt und sie gerade eben in Freiburg in der Ausweisung einer Pflegekraft mündet. Überhaupt können nicht nur Pflegekräfte belegen, wie verlogen „Leistungsgerechtigkeit“ gerade bei „systemrelevanten“ Berufen buchstabiert wird…

Will ein berechtigter Protest daher nicht nur zum Dampfablassen (womöglich auch nur am Stammtisch) dienen, darf er nicht bei (moralischen) Forderungen nach „Gerechtigkeit“ stehen bleiben, schon gar nicht, wenn sie lauten, dass AUCH die Reichen sparen sollen.

Natürlich ist alles richtig, vom Abschiebestopp über Lohnerhöhung, Mieten- und Gaspreisdeckel, Anhebung aller Sozialleistungen bis zur Übergewinnsteuer und Wiedereinführung der Vermögensteuer usw.

Doch so wie bei der Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld eine höhere Grundsicherung die größte Not lindert, doch keinesfalls gleichberechtigte Bürger-innenrechte sicherstellt, ist eine Gaspreisbremse (bzw. Gaspreisdeckel) nur der kurzfristige Tropfen auf dem heißen Stein gegenüber der notwendigen Enteignung und Vergesellschaftung nicht nur der Immobilien- und Energiekonzerne, sondern aller Bereiche der Daseinsvorsorge, der gesamten sozialen Infrastruktur. Durch Gemeingüter unter gesellschaftlicher Kontrolle ließen sich auch die Lehren der Pandemie und die Notwendigkeiten der Klimakatastrophe verbinden.

Und, ja, natürlich kommen wir um die Überwindung des Kapitalismus nicht vorbei. Die weltweite ökonomische Entwicklung seit Beginn des Ukraine-Kriegs stellt sich zunehmend als eine Systemkrise dar und es gibt bereits wachsende Kritik – hatten wir schon 2007ff selbst in bürgerlichen Feuilletons… Um diese Kritik in richtungsweisende Forderungen zu lenken, müssen wir Linke eine erotischere Vision liefern (und vorleben), als „gleiches Elend für alle“, wie sozialistische Ideen breit übersetzt werden.

Auch das „richtige“ Fordern allein ändert natürlich nichts, auch wenn die Höhe der Tarifforderungen z.B. schon einiges über die Kampfwilligkeit aussagt. Aber so, wie ich immer die Forderung nach einem BGE als „trojanisches Pferd“ für die Loslösung vom „Fetisch Lohnarbeit“ bezeichne, können Forderungen nach Entprivatisierung der gesellschaftlich relevanten Wirtschaftsbereiche ein Ende des Kapitalismus denkbar und verlockend machen – und zugleich Nazis und ihre Mitläufer-innen abschrecken.

Und: Noch vor dem Ende des Kapitalismus muss das Recht auf soziale bedingungslose Grundrechte und Infrastruktur breit als notwendige und machbare Selbstverständlichkeit verankert werden, sonst wird das neue System kein emanzipatorisches. Auch deshalb droht die Selbstbeschränkung auf aktuelle, die Not bloß lindernde Forderungen ohne diese Basis möglichst vieler lohnabhängiger Menschen, die sich an den Grenzen des kapitalistischen Systems reiben, die Emanzipation zu behindern.

Offensichtlich (doch!) breit bestehende Bedürfnisse nach einer gerechten und solidarischen Gesellschaft müssen daher alltäglich – so weit wie möglich – gelebt werden und nicht nur wöchentlich gefordert. Solidarisch zur Seite und nach „Unten“, respektlos nach „Oben“ – ich nenne es bisher „Linkssein im Alltag“ – es muss ein breit gelebtes „Menschsein im Alltag“ werden. Erst wenn der Protest auf der Straße die Krönung und keinen bloßen Puffer darstellt, hat er das Potenzial, wirksam und nachhaltig zu werden.

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Oben      —        Konstanz, Deutschland, im März 2006

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2.) von Oben          —       Franz Müntefering (l.) und Gerhard Schröder (r.) bei der Abschlusskundgebung im Bundestagswahlkampf 2005 in Frankfurt am Main

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Schrumpfen statt Wachsen

Erstellt von DL-Redaktion am 19. September 2022

Kapitalismus und Klimaschutz

Ein Essay von Ulrike Herrmann

Klimaschutz ist nur möglich, wenn Kapitalismus und Wachstum enden. Millionen Menschen werden sich beruflich umorientieren müssen.

Der Nachwuchs verzweifelt an den älteren Generationen. Die Klima­krise gefährdet die Zukunft, doch unablässig entstehen neue Treibhausgase. „Was macht unsere Eltern nur so ratlos?“ fragt sich etwa Klimaaktivistin Luisa Neubauer. Genauso wenig kann sie begreifen, warum die langjährige deutsche Kanzlerin weitgehend untätig blieb. „Merkel ist Physikerin. Müsste sie da nicht verstehen, was es bedeutet, wenn Klimagraphen in die Höhe rasen?“

Die jungen Klimaschützer vermuten, dass allein das nötige Geld fehlt, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Populär ist der Spruch: „Wenn die Erde eine Bank wäre, hättet ihr sie längst gerettet.“ Die Klimakatastrophe wird also betrachtet, als wäre sie eine normale Krise wie etwa ein Finanzcrash. Sie ist zwar existenziell, aber angeblich schnell zu beheben – wenn nur die nötigen Milliarden fließen.

Leider ist es nicht so einfach. Der Klimaschutz scheitert nicht, weil die Politik korrupt wäre oder nicht genug Geld bewilligen möchte. Der Wille, den Planeten zu retten, ist vorhanden. So bilanziert Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erschüttert: „Niemand würde sein Eigenheim so sehr heizen, dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent in dreißig Jahren abbrennen würde. Genau das tun wir derzeit aber mit dem Eigenheim Erde.“

Die Menschheit fackelt ihr Zuhause ab, weil Klimaschutz nur möglich ist, wenn wir den Kapitalismus abschaffen. Anders als Kapitalismuskritiker glauben, ist dies keine frohe Botschaft. Der Kapitalismus war außerordentlich segensreich. Mit ihm entstand das erste Sozialsystem in der Geschichte, das Wohlstand erzeugt hat. Vorher gab es kein nennenswertes Wachstum. Die Menschen betrieben eine eher kümmerliche Landwirtschaft, litten oft unter Hungerkatastrophen und starben im Durchschnitt mit 35 Jahren.

Der Kapitalismus war ein Fortschritt, hat aber leider eine fundamentale Schwäche: Er benötigt dieses Wachstum, um stabil zu sein. In einer endlichen Welt kann man aber nicht unendlich wachsen. Momentan tun die Westeuropäer so, als könnten sie drei Planeten verbrauchen. Bekanntlich gibt es aber nur die eine Erde.

Systemwandel statt Klimawandel

Bisher setzen die Regierungen darauf, dass sie Wirtschaft und Klimaschutz irgendwie versöhnen könnten. Die große Hoffnung ist, dass sich die gesamte Wirtschaft auf Ökostrom umstellen ließe – ob Verkehr, Industrie oder Heizung. „Grünes Wachstum“ ist jedoch eine Illusion, denn der Ökostrom wird nicht reichen. Diese Aussage mag zunächst überraschen, schließlich schickt die Sonne 5.000-mal mehr Energie zur Erde, als die acht Milliarden Menschen benötigen würden, wenn sie alle den Lebensstandard der Europäer genießen könnten.

An physikalischer Energie fehlt es also nicht, aber die Sonnenenergie muss erst einmal eingefangen werden. Solarpaneele und Windräder liefern jedoch nur Strom, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Um für Flauten und Dunkelheit vorzusorgen, muss Energie gespeichert werden – entweder in Batterien oder als grüner Wasserstoff. Dieser Zwischenschritt ist so aufwendig, dass Ökostrom knapp und teuer bleiben wird. Wenn die grüne Energie reichen soll, bleibt nur „Grünes Schrumpfen“.

Es ist kein neuer Gedanke, dass permanentes Wachstum keine Zukunft hat. Viele Klimaaktivisten sind längst überzeugt, dass die Natur nur überleben kann, wenn der Kapitalismus endet. Also haben sie den eingängigen Slogan geprägt: „system change, not climate change“. Auch an Visionen mangelt es nicht, wie eine ökologische Kreislaufwirtschaft aussehen könnte, in der nur noch so viel verbraucht wird, wie sich recyceln lässt. Stichworte sind unter anderem Tauschwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, Konsumverzicht, Arbeitszeitverkürzung oder bedingungsloses Grundeinkommen.

Wie sich klimaneutral leben ließe, hat die wachstumskritische Degrowth-Bewegung liebevoll beschrieben: Man würde nur noch regionale und saisonale Produkte nutzen, könnte Freunde treffen, notwendige Reparaturen selbst vornehmen und Kleider nähen. Die meisten Gebrauchsgegenstände würde man mit den Nachbarn teilen, zum Beispiel Rasenmäher, Bohrmaschinen, Spielzeuge oder Bücher.

Kein Zurück in die Steinzeit

Diese klimaneutrale Konsumwelt klingt vielleicht romantisch und nach alten Zeiten, aber eine Rückkehr in die Vormoderne ist nicht gemeint. Auch die Degrowth-Bewegung schätzt die Maschinen, die der Kapitalismus entwickelt hat und die das Leben so bequem machen. Waschmaschinen, Computer und Internet sollen bleiben. Niemand muss fürchten, dass wir „wieder in der Steinzeit landen“ und „in Höhlen wohnen“, wenn der Kapitalismus endet.

Dies zeigt bereits eine kleine Rechnung: Würden wir auf die Hälfte unserer Wirtschaftsleistung verzichten, wären wir immer noch so reich wie 1978. Auch damals ließ es sich gut leben. Es war das Jahr, als Argentinien Fußballweltmeister wurde und der erste Teil von „Star Wars“ in den Kinos lief. Es gab zwar keine „Flugmangos“ aus Peru, aber wir waren so zufrieden wie heute.

Es fehlt die Brücke aus der dynamischen Gegenwart in eine statische Zukunft

Eine ökologische Kreislaufwirtschaft wäre also möglich. Doch wird diese Vision meist mit dem Weg verwechselt. Das Ziel soll zugleich der Übergang sein. Nur selten wird gefragt, wie man eigentlich aus einem wachsenden Kapitalismus aussteigen soll, ohne eine schwere Wirtschaftskrise zu erzeugen und Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Es fehlt die Brücke aus der dynamischen Gegenwart in eine statische Zukunft.

Viele Klimaaktivisten spüren, dass der Abschied vom Kapitalismus schwierig wird. Greta Thunberg wurde kürzlich von einem Anhänger gefragt, wie denn das künftige System aussehen soll. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie. „Es wurde bisher noch nicht erfunden.“ Um sich dieses „grüne Schrumpfen“ vorzustellen, hilft es, vom Ende her zu denken. Wenn Ökostrom knapp bleibt, sind Flugreisen und private Autos nicht mehr möglich, weil sie zu viel Energie verbrauchen.

Banken wären überflüssig

Banken werden ebenfalls weitgehend obsolet, denn Kredite lassen sich nur zurückzahlen, wenn die Wirtschaft wächst. In einer klimaneutralen Wirtschaft würde niemand hungern – aber Millionen von Arbeitnehmern müssten sich umorientieren. Investmentbanker oder Flugbegleiter wären überflüssig, dafür würden aber sehr viel mehr Arbeitskräfte in der ökologischen Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen der Klimakrise zu lindern.

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —      Teile des Calf Canyon/Hermits Peak Fire am 9. Mai 2022

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Unten      —     Ausgrabungsstätte HILAZON Juli 2006

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„Bonn war ein Dorf“

Erstellt von DL-Redaktion am 18. September 2022

Ein Gespräch über die Stasi, Ostpolitik der SPD und F. J. Strauß

Bundesbüdchen Bonn.jpg

Ein Interview von Felix Zimmermann mit Hartmut Palmer hat als Journalist die beiden Hauptstädte Bonn und Berlin bearbeitet – als Romanautor in Rente darf er nun tun, was Journalisten nie dürfen: etwas dazuerfinden. Ein Gespräch über von der Stasi gekaufte Stimmen, die Ostpolitik der SPD und den Charakter von Franz Josef Strauß.

Für das Gespräch hat Hartmut Palmer einen Treffpunkt im alten Bonner Regierungsviertel vorgeschlagen: das Bundesbüdchen, den berühmtesten Kiosk der damaligen Hauptstadt. Minister und Journalisten trafen sich dort zwischen Plenarsaal und Ministerien, das Kanzleramt war auch nicht weit. Jetzt steht Palmer hier in der Sonne, Rucksack auf dem Rücken, Pullover um die Schultern gelegt, wir sind gleich beim Du.

taz am wochenende: Hartmut, du hast beide Hauptstädte als Journalist erlebt, Bonn und Berlin. Was war Bonn für eine Welt?

Hartmut Palmer: So überschaubar, dass hier eigentlich nichts geheim blieb. Jedenfalls glaubten wir das damals. Die Journalisten hockten mit den Lobbyisten und den Politikern dicht aufeinander. Vor allem in den vielen Kneipen, die es damals gab, „Provinz“, „Schumann-Klause“, wie sie alle hießen. Bonn war in der Tat ein Dorf. Aber das machte auch den Charme aus. Für uns Journalisten war alles fußläufig erreichbar. Manchmal erfuhr man im Vorübergehen mehr als auf jeder Pressekonferenz.

Duzte man sich da unter Politikern und Journalisten?

Also ich habe bei den Sozis viele geduzt. War man in der Kneipe zusammen, duzte man sich eben. Durch Kneipenkontakte erfuhr ich manches. Ich wohnte etwas außerhalb auf der anderen Rheinseite. Da gab es eine Dorfkneipe und da gab’s einen, der im Bundestag als Pförtner arbeitete, und einen, der im Kanzleramt saß, auch als Pförtner. Mit denen habe ich oft einen gezwitschert. Und so bekam ich manchmal Informationen, wenn zum Beispiel besonders viele prominente Politiker im Kanzleramt vorfuhren, abends. Da war irgendwas in der Luft. Und dann rief der einfach mal an und sagte, hömma, da ist irgendwas. Zum Beispiel beim Rücktritt von Brandt. Der Regierungssprecher war unerreichbar, aber der Pförtner sagte mir, da sind so’n paar zusammengekommen, guck dir das mal genauer an! Und dann kam mein Chef von einem Hintergrundgespräch, da war auch irgendwas durchgesickert, und da haben wir das zusammengebracht und hatten das früher als die dpa.

Hat diese Nähe die Arbeit auch leichter gemacht?

Ja. Und erschwert. Du musstest ja manchmal Leuten richtig wehtun, indem du schreibst, was da für Sauereien gelaufen sind, in die sie verwickelt waren. Nähe ist gut, aber sie kann auch korrumpieren. Duzen ist gut, aber es kann auch korrumpieren.

Wir duzen uns ja jetzt auch.

Aber unter Kollegen.

Du hast jetzt einen Krimi geschrieben, „Verrat am Rhein“. Es geht um das Misstrauensvotum Barzel gegen Brandt 1972. Oppositionschef Rainer Barzel unterlag knapp, Brandt blieb Kanzler. Später kam raus, dass die Stasi die Stimmen eines CDU- und eines CSU-Abgeordneten gekauft hatte. Und du meinst, auch der damalige CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß habe gegen Barzel gestimmt.

Ich hatte schon damals das Gefühl, dass irgendein Geheimdienst dahintersteckte. Wahrscheinlich der BND, dachte ich. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass es tatsächlich die Stasi war und auch Franz Josef Strauß seine Finger mit im Spiel hatte.

Beim Misstrauensvotum ging es um die Ostpolitik Brandts, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Konservative empfanden das als Verrat, auch in der sozialliberalen Koalition gab es Kritik, die dünne Mehrheit schwand. Barzel beantragte das Misstrauensvotum. Der war sich sicher, dass er das gewinnt, oder?

Absolut. Die CDU/CSU-Fraktion hatte vorher eine Probeabstimmung gemacht, da hatten alle beteuert, sie würden für den Antrag stimmen. Damit wäre Barzel Kanzler gewesen.

Aber?

Es war irre spannend. Ich saß auf der Tribüne im Plenarsaal, neben mir mein damaliger Chef Hans-Werner Kettenbach, Leiter des Bonner Büros vom Kölner Stadtanzeiger. Brandt sprach zum Schluss, vorher hatte Scheel geredet, damals Außenminister, FDP-Mann. Ihm war anzumerken, dass er die Sache aufgegeben hatte. Er appellierte an Barzel, seine Kanzlerschaft nicht auf Lug und Trug zu bauen, also auf Überläufern. Brandt hat noch mal seine Ost-Politik erläutert und verteidigt. Dann die Abstimmung und die Stimm­auszählung. Nach ungefähr einer halben Stunde kam der SPD-Abgeordnete Dietrich Sperling in den Plenarsaal, hielt den Daumen hoch und ging zu Wehner und Brandt, die in der ersten Reihe saßen. Sperling flüsterte denen was zu, das konnte ich von oben sehen. Und dann passierte etwas ganz Eigenartiges: Herbert Wehner sprang auf, riss Brandts Hand hoch, drückte sie, er verneigte sich, setzte sich wieder hin und guckte, wie vorher, starr geradeaus. Dann wurde es unruhig, immer mehr Leute liefen durch den Saal, hinter Sperling kam ein CDU-Stimmenauszähler mit hängendem Kopf, einer von der FDP hocherhobenen Hauptes. Es war schiefgelaufen für Barzel. Der saß nur da und schüttelte den Kopf. Das Ergebnis war in dem Moment klar, wir kannten nur die Zahlen nicht. Aber Brandt stand auf und setzte sich demonstrativ wieder auf den Platz des Kanzlers.

Was für Szenen!

Dann läutete die Glocke des Präsidenten. „Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis bekannt … abgegebene Stimmen soundso, Jastimmen 247“ – und es brach ein ohrenbetäubender Jubel los. Damit war es offiziell. Barzel brauchte 249 Stimmen, hatte aber nur 247. Hans-Werner Kettenbach und ich haben auf der Tribüne getanzt, seitdem waren wir per Du. Schön, ne?

Ja. Aber tanzen für den Kanzler? Journalisten sind doch eigentlich auf Distanz zum Gegenstand ihrer Berichterstattung aus.

Da war das nicht mehr möglich.

Warum nicht?

Weil dieses Misstrauensvotum die Journalisten so derartig gespalten hatte. Kein liberaler Journalist ging mit irgendeinem Bild-Zeitungsmann auch nur ein Bier trinken. Die einen waren für die Ostpolitik, die anderen dagegen. Das war Feindschaft. Neben uns im Bundestag saß der ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal. Der heißt bei mir im Krimi Rehberg. Und Löwenthal – die Szene habe ich ja beschrieben, das war wirklich so – sprang auf und drohte dem Kanzler: „Wir kriegen dich noch!“

Das hat er wirklich gesagt?

Geschrien, ganz laut. Daraufhin kamen zwei Spiegel-Leute, Erich Böhme und Klaus Wirtgen. Zwei solche Schränke. Die bauten sich vor dem auf, es hätte fast eine Schlägerei gegeben. Gott sei Dank ist ein Saaldiener dazwischengegangen.

Wir kriegen dich noch!“ klingt nach Gaulands „Wir werden Sie jagen“ zu Merkel.

Ja, ja, genau. Ich habe Löwenthal beschrieben als ein „geiferndes Denkmal des Kalten Krieges“. Damals hatten wir natürlich keine Ahnung, was hinter dem gescheiterten Misstrauensvotum steckte. Manchmal glaubte man in Bonn eben nur, man sei ganz nah dran, aber man wusste trotzdem nichts.

Wann ist das eigentlich bekannt geworden?

Nach und nach. Los ging es ein Jahr später. Julius Steiner, einer der beiden Abgeordneten, die von der Stasi gekauft worden waren, behauptete gegenüber dem Spiegel, er habe sich enthalten, weil er es Barzel nicht zugetraut habe, die Bundesrepublik zu regieren.

Hm.

Kaum hatte Julius Steiner das Spiegel-Büro verlassen, erwartete ihn draußen Paul W. Limbach, Spitzname „Käp“, der Bonn-Korrespondent der Quick. Er wusste von einer Sekretärin im Spiegel-Büro, dass Steiner dort war. Limbach und Klaus Krohe, genannt KK, haben ihn in einen VW Käfer gesteckt und sind nach Süddeutschland gefahren. Fast zehn Tage war Steiner für die Öffentlichkeit unerreichbar. Die haben den so lange bearbeitet, bis er sein erstes Geständnis widerrief und sagte, dass er Geld genommen hätte, 50.000 D-Mark von Karl Wienand, dem Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion.

Oh.

Damit hatten sie genau die Affäre, die sie haben wollten, um die SPD und die Ostverträge zu desavouieren.

Aber hatte ihm die Stasi nicht das Geld gegeben?

Das kam erst nach der Wende raus. Die DDR-Regierung hatte die Bestechung unter dem Tarnnamen „Operation Brandtschutz“ in die Wege geleitet. Bis heute ist nicht klar, ob Steiner außer von der Stasi nicht auch von der SPD Geld bekommen hat.

Welche Rolle spielte Franz Josef Strauß? Der ist in deinem Krimi zentral, weil auch er Barzel seine Stimme verweigerte.

Was damals keiner wusste, was aber später im Untersuchungsausschuss herauskam: Julius Steiner war früher BND-Agent. Sein Führungsoffizier hieß Erwin Hauschildt, der übrigens auch der Führungsoffizier des BND-Zuträgers Klaus Krohe war.

In deinem Krimi Hausmann.

Genau. Und dieser Erwin Hauschildt organisierte für den BND die Waffenexporte in Spannungsgebiete – große Geräte, Panzer und so was. Zugleich war er ganz eng mit Strauß. Der wusste alle Interna aus dem BND von Hauschildt. Strauß war manchmal besser über den BND informiert als das Kanzleramt.

Wie ging das alles weiter?

31 Jahre später bekam sie Bedeutung für mich. Ich besuchte 2004 Rainer Barzel in München. Er erzählte mir, er wisse genau, dass Strauß es war, der ihn nicht unterstützt hatte. Ich dachte zuerst, der Mann spinnt. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto nachvollziehbarer erschien es mir. Hauschildt war Steiners Führungsoffizier, 1972 hat er ihn nach Ostberlin geschickt, damit er sich von der Stasi anwerben lässt, zugleich war Hauschildt Zuträger von Strauß über BND-Interna – warum nicht?

Du weißt das nur von Barzel, vieles passt zusammen, aber es gibt keine zweite Quelle.

Wenn es eine zweite Quelle gegeben hätte, hätte ich einen journalistischen Report geschrieben und keinen Roman. Das war mein Dilemma. Ich hätte mir nicht zugetraut, dass ich überhaupt etwas erfinden kann. Das habe ich erst jetzt gelernt beim Romanschreiben. Ich musste mir, um die Plausibilität von Barzels Verdacht zu unterfüttern, etwas einfallen lassen. Also habe ich eine Stasi-Akte erfunden, die es nie gab, in der ein Telefongespräch abgedruckt ist, das die Rolle von Strauß verdeutlicht.

Den Spiegel hätten die Erfindungen des Redakteurs Claas Relotius fast zu Fall gebracht. Im Journalismus streng verboten, im Roman erlaubt – wie sehr hat dich die Fiktion gereizt?

Ich habe lange überlegt, ob man es darf. Weil ja alle wussten, dass ich Journalist bin. Nicht, dass sie es deswegen als bare Münze nehmen. Deshalb habe ich es im Nachwort ganz klar erklärt: Die Stasi-Akte ist erfunden. Anders hätte ich es nicht gemacht.

So konntest du das persönliche Gespräch mit Barzel nutzen, in dem er dir verraten hat, dass er glaubte, auch Strauß habe gegen ihn gestimmt.

Er tat das unter der Bedingung, dass ich es zu Lebzeiten nicht verwenden darf. 2006 ist er gestorben, im Nachruf im Spiegel habe ich den ersten Testballon losgelassen und eingeflochten, dass er glaubte, Strauß habe ihm die Stimme verweigert. Reaktion der Familie Strauß damals: null. Und auch jetzt: nichts, auch nicht von der CSU. Ich dachte: Gut, wenn sie mich verklagen, ist es Reklame für das Buch. Da nun aber nichts kam, habe ich das Gefühl, dass sie wahrscheinlich selbst glauben, dass es so war.

Was hätte Strauß davon gehabt?

Das erschloss sich bei näherem Zusehen aus seiner ganzen Persönlichkeit. Man muss nur überlegen, wie der den Barzel damals fertiggemacht hat, weil der nur „so nicht“ statt „Nein“ gesagt hat zu den Ostverträgen. Wie der über den hergezogen ist!

Aber es wäre zumindest das Ende der Kanzlerschaft Brandts gewesen. Warum wollte Strauß das verhindern?

Er war elf Jahre älter als Barzel. Den zu verhindern ließ seine Chancen steigen, selbst noch Kanzler zu werden. Strauß hielt sich für den einzig kompetenten Führer dieser CDU/CSU. Deshalb ergibt es Sinn, was Barzel gesagt hat.

Vielleicht kommen wir jetzt einmal zur SPD heute mit Kanzler Scholz …

… Oh.

Der Krieg in der Ukraine zeigt doch, dass der SPD-Grundsatz „Wandel durch Handel“ eigentlich gescheitert ist, oder?

Also, da sage ich mal was vorweg.

Bitte.

Quelle       :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Das wiederaufgebaute Bundesbüdchen in Bonn im ehemaligen Regierungsviertel.

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2.) von Oben      —       Für dokumentarische Zwecke behielt das Deutsche Bundesarchiv häufig die Original-Bildunterschriften, die sein kann fehlerhaft, voreingenommen, veraltet oder politisch extrem. Pressekonferenz der SPD im Fraktionssaal der SPD (Bundeshaus)

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Wer sind die Oligarchen?

Erstellt von DL-Redaktion am 17. September 2022

Der Reichtum aus den Trümmern der UdSSR

Datei:Karte der UdSSR.svg

Von    :      von Ibrahim Warde

Viele der russischen Superreichen erlangten ihr Vermögen durch die Privatisierungen der 1990er Jahre. Heute sollen die Sanktionen gegen diese Oligarchen dazu dienen, Putin unter Druck zu setzen. Dabei steht nur ein Viertel der russischen Milliardäre auf Sanktionslisten; und ihr Einfluss auf den Kreml wird überschätzt.

Laut der alljährlich vom US-Magazin Forbes veröffentlichten Liste gibt es 2022 in Russland 83 Dollarmilliardäre. Das ist ein deutlicher Rückgang gegenüber dem Vorjahr, als es noch 117 waren. Die Oligarchenkaste ist innerhalb eines Jahres also deutlich geschrumpft.1 Die drakonischen Sanktionen, die der Westen nach der russischen Invasion in der Ukraine verhängte, beginnen zu wirken, zusätzlich zu den aus dem Krieg und der Schwäche des Rubels entstehenden Verlusten. Allerdings sind laut Forbes nur 25 russische Mil­liar­däre durch die USA, Großbritannien und die EU mit Sanktionen belegt. Der Rest steht – zumindest bislang – noch nicht auf den Sanktionslisten des Westens.

In seiner Rede zur Lage der Nation am 1. März kündigte US-Präsident Joe Biden die Einrichtung einer dem Justizministerium unterstellten Arbeitsgruppe an, „speziell für die Verfolgung der Verbrechen russischer Oligarchen“. Unter dem Beifall der Kongressabgeordneten warnte Biden alle russischen Milliardäre, die Putin unterstützen: „Wir arbeiten mit unseren europäischen Verbündeten zusammen, um eure Jachten, eure Luxusapartments und Privatjets zu finden und zu beschlagnahmen. Wir werden eure unrechtmäßig erworbenen Reichtümer aufspüren.“

Allerdings ist das Verhängen von Sanktionen mit zahlreichen Tücken behaftet, wie der Fall von Roman Abramowitsch zeigt. Gegen den ehemaligen Eigentümer des Fußballklubs Chelsea London und deswegen wohl berühmtesten Oligarchen der Welt wurden in der EU und in Großbritannien Sank­tio­nen verhängt, nicht aber in den USA. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski selbst hatte darum gebeten, Abramowitsch wegen seiner Rolle als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine vorerst zu verschonen.

Reichtum aus den Trümmern der UdSSR

Abramowitsch selbst, der neben der russischen auch noch die israelische und portugiesische Staatsbürgerschaft besitzt, ist jedoch offensichtlich bewusst, dass sich das jederzeit ändern kann. Das lässt sich etwa an den Bewegungen seiner Jachten ablesen. Die beiden größten, die Superjachten „Ec­lipse“ und „My Solaris“, ließ er im Hafen von Marmaris in der Türkei ankern. Der türkische Präsident Recep Tayyip Er­do­ğan verurteilt zwar die Invasion in der Ukrai­ne, weigert sich aber, russische Oligarchen mit Sanktionen zu belegen.

Villa  – Roman Arkadjewitsch Abramowitsch

Zwei weitere Boote befinden sich vor der Küste von Antigua in der Karibik. Ein fünftes, von dessen Existenz man lange nichts wusste, soll unter mysteriösen Umständen just am Tag der Invasion in der Ukraine verkauft worden sein.2 Allein dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, in einem Land, in dem mehr als die Hälfte des Reichtums in Steueroasen verbracht wurde, Vermögenswerte zu identifizieren, geschweige denn einzufrieren oder zu beschlagnahmen.3

Die russischen Oligarchen schürften ihren Reichtum aus den Trümmern der Sowjetunion, genauer gesagt: Sie profitierten von den Privatisierungen der 1990er Jahre, die auf einen schnellen und unumkehrbaren Übergang zur Marktwirtschaft und die Schaffung von Privateigentum abzielten. Die „Schocktherapie“ unter Anleitung US-amerikanischer Berater und des Internationalen Währungsfonds (IWF) versprach wunderbare Ergebnisse. Präsident Boris Jelzin, der sich als Bezwinger des Kommunismus sah, versicherte, die Privatisierungen würden „Millionen von Eigentümern statt einer Handvoll Millionäre“ hervorbringen.4

Die Realität sah anders aus: Ein kleiner Kreis von Insidern, die dem Machtzentrum nahestanden, rissen sich den Reichtum des Landes unter den Nagel, während die große Mehrheit der Bevölkerung verarmte. Die Ungleichheit nahm groteske Ausmaße an: Zu Sowjetzeiten war der reichste Bürger sechsmal so reich wie der ärmste; im Jahr 2000 war dieses Verhältnis auf 250 000 angestiegen.5

Obwohl Jelzin höchst unbeliebt war, wurde er 1996 wiedergewählt – dank der Unterstützung der ersten Oligarchen, allen voran der Geschäftsmann Boris Beresowski. Im Jahr darauf wurden erstmals vier russische Milliardäre in die Forbes-Liste aufgenommen.

Nach der russischen Wirtschaftskrise 1998/99, als der Staat praktisch zahlungsunfähig war, entwickelten sich die Oligarchen zu den Paten einer ausgebluteten Volkswirtschaft. Gemäß einer Orwell’schen Logik wurden das Chaos und der Anstieg der Finanzkriminalität in die Sprache der Legalität, der Reform und des Markts gekleidet.6 Eine verhängnisvolle Rolle spielten dabei US-amerikanische Consultingfirmen, wie Stephen F. Cohen von der Princeton University in einem 2001 erschienenen Buch beschreibt.7

Die Betrügereien, mittels derer die Reichtümer des Landes geplündert wurden, nannte man „Reformen“. Das Mafiasystem wurde als „Markt“ bezeichnet, die Geldentwertung und die damit einhergehende Rückkehr zum Tauschhandel und zur informellen Wirtschaft als „monetaristische Politik“, Geldwaschanlagen firmierten als „Banken“, und die Kredite, die sie dem Staat zu unfairen Konditionen im Austausch für verschleudertes Staatsvermögen gewährten, wurden als „Privatisierungen“ bezeichnet. In inter­na­tio­na­len Finanzkreisen wurde Russland als „erfolgreichstes Schwellenland“ gefeiert.

1999 bestimmte der kranke Boris Jelzin Wladimir Putin zu seinem Nachfolger, einen in der Öffentlichkeit kaum bekannten ehemaligen KGB-Agenten. Als dieser 2000 an die Macht kam, versprach er, „die Oligarchenklasse auszumerzen“. Zwar gewährte Putin mit einem seiner ersten Dekrete seinem Vorgänger und dessen Familie volle Immunität, aber der neue Präsident wollte tatsächlich die Autorität des Staates wiederherstellen und zeigen, dass er jetzt das Sagen hatte.

So übernahm der Kreml wieder direkt die Kontrolle über den strategisch und symbolisch wichtigen Energiesektor, insbesondere Gas und Öl. Überall sonst ersetzte Putin Oligarchen, die sich zu unabhängig gebärdeten, nach und nach durch Gefolgsleute, denen er neue Spielregeln aufzwang: Seither dürfen sie weiter ihren lukrativen Geschäften nachgehen, solang sie Steuern zahlen und gegebenenfalls auf Wunsch der Regierung auch wenig gewinnbringende Investitionsprojekte von nationaler Bedeutung unterstützen. Und natürlich dürfen sie sich nicht in die Politik einmischen und vor allem nicht den Präsidenten kritisieren.8 Wer sich nicht ­daran halten wollte, wählte den Weg ins Exil, wie etwa Beresowski, der seit 2000 in London lebte und dort 2013 starb.

Der Showdown zwischen Präsident Putin und dem damals reichsten Mann Russlands, Michail Chodorkowski, im Jahr 2003 war eine Warnung an alle Oligarchen.9 Der Ölmagnat Chodorkowski war aus Sicht des Kreml zu mächtig geworden; er wurde wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und anderer Verbrechen angeklagt.

In einem im Fernsehen übertragenen Schauprozess sah man ihn schweigend in einem Käfig sitzen, während die Staatsanwälte die Anklagen herunterspulten. Am Ende wurde Chodorkowski enteignet und zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Nachdem er seine Strafe verbüßt hatte, kündigte er seinen Rückzug aus dem Geschäftsleben an. Heute lebt er im Exil in London und gilt in seinem Heimatland offiziell als „ausländischer Agent“.

Zugleich machte Putin sich daran, die internationalen Wirtschaftskreise zu beruhigen. Während eines Aufenthalts in New York 2003 beteuerte er, Russland teile die Werte einer „normalen europäischen Nation“. Die Politik der wirtschaftlichen Liberalisierung und der Steuersenkungen werde nicht infrage gestellt.

Millionen ausgeben, um Milliarden zu verstecken

Das Problem der Wirtschaftskriminalität blieb allerdings weiter ungelöst. Auf dem Papier waren die Gesetze streng, aber sie wurden höchst selektiv angewandt und ließen sich durch entsprechende Schmiergeldzahlungen leicht umgehen, denn große wie kleine Beamte forderten ihren Anteil am Kuchen. Viele von ihnen pflegten einen Lebensstil, der unmöglich allein durch ihr offizielles Gehalt zu finanzieren war. 2013 verabschiedete das russische Parlament zudem eine umfassende Amnestie, durch die tausende wegen Geldwäsche, Steuerhinterziehung und anderer Wirtschaftsdelikte verurteilte Unternehmer wieder freikamen.

Die Veröffentlichung der „Offshore Leaks“ im April 2013 durch das Internationale Netzwerk Investigativer Journalisten (ICIJ) in Zusammenarbeit mit dutzenden Zeitungen gab den ersten großen Einblick in die Welt der Steuer­oasen. Der Datensatz enthielt Informationen über rund 130 000 Personen weltweit. Seitdem gab es zahlreiche weitere Leaks: die „Swiss Leaks“ (2015), die „Panama Papers“ (2016), die „FinCEN Files“ (2020), die „Pandora Papers“ (2021) und zuletzt die „Suisse Secrets“. All diese Datenpakete gaben Auskunft über unterschiedliche Bereiche eines globalen Schattenfinanzsystems, das auf Steuerhinterziehung beruht und gigantische Geldtransfers ermöglicht.

Was in Russland die Oligarchen sind im Westen die „Pandora Papers“

Dieses System aus Banken, Anwaltskanzleien, Briefkastenfirmen, komplexen Finanzinstrumenten, Strohmännern und Vermittlern aller Art verwischt Spuren und verschleiert die Herkunft der Gelder. Die Kleptokraten dieser Welt können auf diese Weise ungestraft die Reichtümer ihrer Heimatländer plündern. Wenig überraschend tauchen Oligarchen aus Russland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den Datensätzen regelmäßig ganz oben auf (siehe Kasten).

Korruption gab es schon immer. Aber im Zeitalter der Finanzglobalisierung ist ein Element hinzugekommen, das die internationalen Wirtschafts­beziehungen grundlegend verändert hat: Kleptokraten können den kriminellen Ursprung ihrer Gewinne problemlos verschleiern und sie der Kontrolle durch nationale Behörden entziehen. Durch ein wenig kreative Buchführung können sich riesige Summen scheinbar in Luft auflösen, bevor sie dann in einem „freundlicheren“ Umfeld wieder auftauchen. Den betroffenen Ländern fehlt dadurch das Kapital für Investi­tio­nen in wirtschaftliche Entwicklung.

Wer sich allerdings einzig auf die Oligarchen konzentriert, übersieht ein wesentliches Rädchen im Getriebe des Systems: die Netzwerke der Komplizen und Vermittler, die das Verstecken von Vermögen im großen Stil erst ermöglichen. Frank Vogl, ein Veteran der Korruptionsbekämpfung und Mitgründer von Transparency International, hat ein Buch über die Rolle dieser Helfer geschrieben.10

Laut Vogl handelt es sich um „Heerscharen von Finanz- und Rechtsberatern, Immobilienmaklern und Verkäufern von Luxusjachten, Kunsthändlern und Auktionshäusern, Diamanten- und Goldhändlern, Buchhaltern und Beratungsfirmen mit Sitz in London, New York und anderen globalen Geschäftszentren, die den Kleptokraten helfen und sie geradezu ermutigen, ihre Beute gegen hohe Honorare zu verstecken“.

Eine ganze Industrie der Vermögensverwaltung ist entstanden, die es den Wohlhabenden erlaubt, „Millionen auszugeben, um ihre Milliarden zu verstecken“.11 Und diese Industrie hat mit dem Auftritt der Oligarchen aus der ehemaligen Sowjetunion ein enormes Wachstum erfahren.

In seinem Buch über die „Amerikanische Kleptokratie“ erinnert der investigative Journalist Casey Michel daran, dass die USA mit Bundesstaaten wie Delaware über ihre eigenen Steueroasen verfügen. Mehr als die Hälfte der börsennotierten Unternehmen haben ihren Sitz in diesem Bundesstaat, den Joe Biden lange Zeit im US-Senat vertrat.

Die Gesetze in den USA haben trotz ihrer scheinbaren Strenge viele Schlupflöcher. Dafür sorgten die Lobbyisten, etwa im  Immobilienbereich: Russische Oligarchen oder andere Schwerreiche erwerben Luxuswohnungen in Städten wie New York oder Miami einfach über Investmentgesellschaften. So können sie ihre Identität verschleiern – wider alle Transparenzversprechen der Regierung.12

In Großbritannien hatte die konservative Regierung von John Major 1994 sogar ein sogenanntes goldenes Visum eingeführt, das Ausländern im Gegenzug für eine Investition in Höhe von mehr als 1 Million Pfund eine Aufenthaltsgenehmigung gewährte, als ersten Schritt zur Erlangung der britischen Staatsbürgerschaft.

Dank diesem Gesetz, (das am 17. Februar 2022 aufgehoben wurde), wurde London zum Lieblingssitz der Oligarchen. Die Stadt interessierte sich nicht dafür, woher die Gelder kamen, die ihre Wirtschaft beflügelten. Heute können Schaulustige Sightseeing-Touren durch die Viertel Knightsbridge und Mayfair buchen – die inzwischen als „Londongrad“ bekannt sind – und dort mit eigenen Augen die prächtigen Häuser von Oligarchen und Kleptokraten aus aller Welt bestaunen.

Der Journalist Oliver Bullough, der übrigens eine dieser „Klepto-Touren“ durch London anbietet, erklärt in seinem neuesten Buch, wie das britische Empire, dessen Niedergang spätestens seit der Suezkrise 1956 nicht mehr aufzuhalten war, die Rolle Londons zunehmend auf die eines Drehkreuzes für internationale Finanzgeschäfte reduzierte. Schließlich sei die Stadt zum „Butler der Welt“ geworden, der eine beispiellose Palette von diskret und effizient ausgeführten Dienstleistungen anbietet.13

Während Berufsgruppen wie Bankiers und Anwälte bei der Geldwäsche behilflich sind, sorgen andere Dienstleister wie Gärtner, Hausangestellte, Personenschützer und Nannys dafür, dass die Kleptokraten ein Luxusleben führen können. Besondere „Vermittler“ bieten den Neuankömmlingen an, sie gegen entsprechende Entlohnung in die bessere Gesellschaft einzuführen. Um ihre Integration zu beschleunigen, wird den Oligarchen beispielsweise nahegelegt, Wohltätigkeitsorganisationen, Universitäten und Museen zu finanzieren und sich gegenüber der politischen Klasse großzügig zu zeigen.

Bullough zufolge pflegte die britische Regierung die reichlich naive Vorstellung, dass durch den Kontakt mit der englischen Geschäftswelt „die großen russischen Unternehmen die Grundsätze der guten Unternehmensführung, Transparenz und Ethik erlernen“ würden.

Die klägerfreundlichen britischen Antidiffamierungsgesetze waren zweifellos ein weiterer Faktor, der das Vereinigte Königreich für russische Magnaten besonders attraktiv machte. Sie lernten nicht nur ihr Image zu verbessern, sondern auch, wie sie mithilfe dieser Gesetzgebung allzu neugierige Journalisten leicht abschrecken konnten. Zwei rote Linien wurden in der Berichterstattung nur selten überschritten: die Herkunft ihres Vermögens und ihre Verbindungen zu Putin. So blieb ihre schmutzige Vergangenheit lange im Verborgenen.

Dennoch häuften sich die Verleumdungsklagen. Und so war die Ankunft der russischen Milliardäre in Großbritannien auch ein echter Glücksfall für Anwälte, die sich auf solche Fälle spezialisiert hatten. Eines der bekanntesten Gesichter in dieser Branche ist der Anwalt Nigel Tait, Partner in der Kanzlei Carter-Ruck. Er vertrat den Energie­kon­zern Rosneft bei seiner Klage gegen Catherine Belton, eine britische Enthüllungsjournalistin und Autorin des Buchs „Putins Netz“.14

Auf der Kanzlei-Webseite wird Tait so beschrieben: „Er verhinderte die Veröffentlichung zahlreicher Artikel über seine Kunden, oft reicht ein Anruf oder ein Brief.“15 Manchmal braucht es tatsächlich nicht mehr, um den Eifer von Journalisten zu dämpfen, die über die Verbindungen zwischen Oligarchen und dem Kreml recherchieren.

Nach der russischen Invasion in der Ukraine schien es dem Tory-Abgeordneten Bob Seely wie Schuppen von den Augen zu fallen: „Wie um alles in der Welt haben wir das zugelassen? Eine freie Presse sollte Kleptokraten und Kriminelle einschüchtern. Warum ist es in unserer Gesellschaft, einer freien Gesellschaft, so weit gekommen, dass Kleptokraten, Kriminelle und Oligarchen freie Medien einschüchtern?“16

Die Annexion der Krim 2014 und die darauf folgenden ersten Sanktionen gegen Russland trugen dazu bei, diese Verbindungen ans Licht zu bringen. Nach der Wahl von Donald Trump ins Weiße Haus war das Thema der russischen Einmischung in die westlichen Demokratien dann allgegenwärtig. Die Oligarchen wurden dabei weniger wegen der zweifelhaften Herkunft ihrer Vermögen kritisiert, sondern wegen ihrer mutmaßlichen Nähe zum Kreml.

Am 21. Juli 2020 veröffentlichte der britische Parlamentsausschuss für Sicherheit und Geheimdienste einen ausführlichen Bericht über Russland. Darin heißt es: „Der russische Einfluss im Vereinigten Königreich ist ‚die neue Normalität‘, und es gibt viele Russen mit sehr engen Verbindungen zu Putin, die gut in die britische Geschäfts- und Gesellschaftsszene integriert sind und aufgrund ihres Reichtums akzeptiert werden. Jetzt muss es darum gehen, den Schaden zu begrenzen.“17

Aus Moskauer Sicht erscheint das Ganze jedoch völlig anders: Der Kreml hatte die Oligarchen stets im Verdacht, in den Westen überzulaufen. Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine hat dieses Misstrauen einen neuen Höhepunkt erreicht. Am 16. März wetterte Putin gegen „diejenigen, die eine Villa in Miami oder an der französischen Riviera haben und nicht ohne Gänseleberpastete und Austern leben können“. In ihren Reihen befinde sich eine „fünfte Kolonne“, so der russische Präsident.

Wen die Sanktionen treffen – und wen nicht

Quelle         :      LE MONDE diplomatique-online             >>>>>        weiterlesen

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Oben     —    Karte der UdSSR

Verfasser Saul ip        /       Quelle      :      Hergestellt aus [1]       /      Datum       :      19. April 2008
Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported Lizenz.

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2.) von Oben        —      Château de la Croë in Cap d’Antibes

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Kein Abschied aus der Kohle

Erstellt von DL-Redaktion am 9. September 2022

Australien: Klimapolitische Zeitenwende?

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Oben     —    Das Feuer im Orroral Valley (ACT), Januar 2020

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Fiktion Schuldenbremse

Erstellt von DL-Redaktion am 6. September 2022

Am 9. Oktober wird in Niedersachsen gewählt,
bis dahin darf das Profil der Ampelparteien nicht leiden.

Zur Debatte – von Ulrike Herrmann

Beim Entlastungspaket wären umfangreichere Hilfen locker möglich gewesen, würde Finanzminister Lindner nicht an seiner fixen Idee festhalten.

Das neue „wuchtige“ Entlastungspaket wird 65 Milliarden Euro kosten, was sofort die Frage provoziert: Wo soll denn dieses viele Geld herkommen? Doch die Kosten sind kein Problem. Sie finanzieren sich weitgehend selbst – und zwar durch die Inflation. Wenn die Preise steigen, nimmt der Staat automatisch mehr Umsatzsteuer ein. Zudem fließen höhere Lohnsteuern, wenn die Gehälter zulegen, um die Geldentwertung auszugleichen.

Das Bundesfinanzministerium schätzt, dass die Steuereinnahmen in diesem Jahr um 7,4 Prozent zunehmen werden – obwohl die Wirtschaft höchstens um 2 Prozent wachsen dürfte. Der große Rest erklärt sich durch die Inflation, die die Steuern sprudeln lässt.

Ein weiterer Effekt: Auch die Schuldenlast des Staates verringert sich, wenn das Geld an Wert verliert. 2021 entsprachen die deutschen Staatsschulden 69 Prozent des BIP, aktuell sind es nur noch 66,1 Prozent – obwohl der Staat keinen einzigen Cent zurückgezahlt hat. Die Schulden verlieren an Bedeutung, weil die steigenden Preise automatisch die Wirtschaftsleistung aufblähen.

Auch ist es keinerlei Problem, dass der Staat Zinsen auf seine Schulden zahlen muss. Auf den internationalen Finanzmärkten betrug die Rendite für 10-jährige Bundesanleihen am Montag ganze 1,56 Prozent. Diese niedrigen Zinsen gleichen die Inflation längst nicht aus, die im Euroraum aktuell bei 9,1 Prozent liegt. Die Anleger sind also bereit, enorme Verluste hinzunehmen, nur damit sie ihr Geld beim deutschen Staat parken dürfen. Oder anders gesagt: Finanzminister Lindner bekommt sogar noch Geld geschenkt, wenn er Kredite aufnimmt. Da wäre es schön blöd, eisern zu sparen und die BürgerInnen in der jetzigen Krise allein zu lassen.

Es war daher absolut richtig, ein großes Entlastungspaket zu schnüren. Die Frage ist allein, ob es „wuchtig“ genug ist – und wie sinnvoll die einzelnen Maßnahmen sind.

Besonders umstritten war im Vorfeld, ob es eine Steuerentlastung geben soll, die die „kalte Progression“ kompensiert. Damit ist der Effekt gemeint, dass ein höherer Steuertarif fällig wird, obwohl das gestiegene Einkommen nur die Inflation ausgleicht. Die Kaufkraft hat also nicht zugenommen – aber die Steuerlast.

Kritiker monierten, dass von einer korrigierten Progression vor allem die Wohlhabenden profitierten. Denn 70 Prozent der Entlastungen würden den obersten 30 Prozent der Steuerzahler zugute kommen. Dies sei ein „Schlag ins Gesicht“ der Armen, befand etwa der Sozialverband Deutschland.

Diese Schieflage schien bestens ins Bild zu passen: FDP-Chef Lindner bedient mal wieder nur die Reichen. Denn bisher hat der Finanzminister tatsächlich wenig Empathie für die Bedürftigen gezeigt und sich vor allem um seine eigenen betuchten WählerInnen gekümmert.

Ulrike-herrmann-ausschnitt.jpg

Trotzdem ist es richtig, die kalte Progression zu bekämpfen und die Steuersätze an die Inflation anzupassen. Würde die Geldentwertung nämlich nicht berücksichtigt, würde demnächst jeder den Spitzensteuersatz zahlen – auch die Armen.

Eine kleine Rückschau macht dies deutlich. Im Jahr 1958 wurde der heutige Spitzensteuersatz von 42 Prozent für Singles bereits bei einem Jahreseinkommen von ungefähr 20.000 Mark fällig. Das wären heute 10.000 Euro. Inzwischen ist man mit 10.000 Euro aber nicht mehr reich – sondern lebt am Existenzminimum und zahlt fast gar keine Steuern mehr. Der Grundfreibetrag für Singles liegt derzeit bei 9.984 Euro, weil die „kalte Progression“ regelmäßig korrigiert wurde. Lindner setzt nur fort, was unausweichlich ist und alle seine Vorgänger auch schon praktiziert haben.

Problematisch sind vor allem zwei andere Aspekte des Entlastungspakets. Erstens: Die meisten Hilfen kommen zu spät. Das erweiterte Wohngeld oder der erhöhte Hartz-IV-Satz von 500 Euro sollen erst ab dem 1. Januar gelten. Aber wie jeder weiß, wird es schon ab Oktober kalt, sodass sich die Frage stellt, wie die potenziellen Wohngeldempfänger bis zum Jahresende ihre Gasrechnung bezahlen sollen. Hartz-IV-Empfänger bekommen ihre Heizkosten zwar erstattet, werden aber hart von den steigenden Lebensmittelpreisen getroffen. Nun werden sie ein weiteres Vierteljahr vertröstet.

Quelle      :          TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —     Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie An