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Ausserparlamentarische Opposition

Tiefsee-Bergbau stoppen

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Juli 2023

Niemand stoppt Tiefsee-Bergbau in internationalen Gewässern

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Der Mensch :  Erst macht er seiner Erde den Gar-aus, dann höhlt er auch den Meeresboden aus, dem folgen Mond und Sterne – die Erde hatte wirklich Niemand gerne..

Quelle      :        INFOsperber CH.

Susanne Aigner / 

Greenpeace warnt vor Schlick und Giftstoffen und veröffentlicht verdeckte Video-Aufnahmen der jüngsten Tests am Meeresboden.

Bereits von Mitte September bis Mitte November 2022 hatte das kanadische Bergbauunternehmen The Metals Company (TMC) mit dem Tiefseebergbauschiff «Hidden Gem» Tests durchgeführt, welche die Internationale Meeresbodenbehehörde ISA kurzfristig genehmigte. Auch die Schweizer Allseas beteiligte sich daran. Sie besitzt mehrere Spezialschiffe. Die Unternehmen TMC und Allseas würden über einen Lizenzzeitraum von dreissig Jahren einzigartige vielfältige Ökosysteme direkt am Meeresboden zerstören, befürchtet Greenpeace.

Das Testgebiet lag im Pazifik in der Clarion-Clipperton-Zone zwischen Mexiko und Hawaii. Wie irreversibel die Tiefsee zerstört wird, das zeigen vor allem verdeckte Aufnahmen: Zunächst saugen Planierraupen die obersten vier bis zehn Zentimeter des Meeresbodens auf. Dann filtern Maschinen die Manganknollen heraus, um sie anschliessend durch ein Steigrohrsystem an die Wasseroberfläche zu pumpen und an Land weiter zu verarbeiten. Insgesamt wurden auf einer Länge von achtzig Kilometern mehr als 3000 Tonnen metallhaltige Knollen eingesammelt.

16’000 Quadratkilometer Lebensraum sollen zerstört werden

Ende Juli will die ISA (International Seabed Authority) die ersten Extraktionslizenzen vergeben. Demnach dürfen grosse Bergbauunternehmen innerhalb eines Zeitraumes von dreissig Jahren rund 16’000 Quadratkilometer Meeresbodens zerstören, eine Fläche etwa so gross wie die Kantone Aargau, Bern, Luzern und Graubünden zusammen.

Mit der Entfernung der Manganknollen werden am Meeresboden vor allem die oberen Sedimentschichten zerstört. In diesem Bereich finden nicht nur wichtige biochemische Prozesse statt, er ist auch Lebensraum für die meisten Lebewesen und Mikroorganismen. Neben den vom Meeresboden abgesaugten Sedimenten werden die Produktionsabwässer mit Gesteinstrümmern direkt wieder ins Meer geleitet. Damit werde praktisch das gesamte Ökosystem im zerstört, warnen Greenpeace-Experten. Herab sinkender Schlick und Giftstoffe in den Abwässern kann die Lebewesen auch über das Abbaugebiet hinaus schädigen und ersticken.

Steigende Nachfrage macht den Abbau unter Wasser attraktiv

Die grössten Vorkommen von Manganknollen liegen in einer Tiefe zwischen 4000 und 6000 Metern. Im Rahmen des Programms MiningImpact hat ein Forschungsschiff auf der Expedition SO295 in den Explorationslizenzgebieten in der Clarion-Clipperton Zone im Nordpazifik Ende des vergangenen Jahres Versuche auf dem Meeresboden durchgeführt.

Dabei wurden die oberen vier bis zehn Zentimeter – die mit den Knollen bedeckte Zone des Meeresbodens – komplett entfernt. Aufgrund des abgestorbenen Planktons werde sich diese Schicht erst im Laufe von rund zehntausenden Jahren wieder aufbauen, erklärt Matthias Haeckel, Biogeochemiker am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel.

Zwar wurden die Vorkommen von Manganknollen bereits in den 1960er und 1970er Jahren von einigen Industrienationen als mögliche Rohstoffquellen erkannt, doch erst in den letzten Jahren liessen steigende Rohstoffpreise und eine wachsende Nachfrage nach seltenen Metallen die Pläne zum Abbau der Manganknollen am Tiefseeboden reifen.

Manganknollen strahlen hundert Mal stärker als erlaubt

Auch das gesundheitliche Risiko durch radioaktive Strahlung beim Abbau und der Verarbeitung der Manganknollen wurde bisher offenbar stark unterschätzt.

Wie eine neue Studie zur Radioaktivität von Manganknollen zeigt, ergeben sich potenzielle Gesundheitsgefahren für Menschen im Zusammenhang mit der Förderung und Verarbeitung von Manganknollen sowie der Nutzung der daraus gewonnenen Produkte, erklärt Professorin Sabine Kasten, Projektleiterin der MiningImpact-Vorhaben am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Diese müssten bei weiteren Planungen dringend berücksichtigt werden.

So massen Wissenschaftler des AWI 2015 und 2019 die Radioaktivität in den Manganknollen in der Clarion-Clipperton-Zone. Die Ergebnisse veröffentlichten sie im Mai 2023 im Fachmagazin «Scientific Reports».

Bereits aus früheren Studien war bekannt, dass die äussere Schicht der Manganknollen natürliche radioaktive Stoffe wie Thorium-230 und Radium-226 enthält, die sie über lange Zeiträume aus dem Meerwasser anreichern, weiss die Biogeochemikerin Jessica Volz.

Neu ist die Erkenntnis, dass die äussere Schicht der extrem langsam wachsenden Knollen für bestimmte Alphastrahler Werte des Hundert- bis Tausendfachen einiger Grenzwerte erreichen, die im Rahmen von Strahlenschutzregelungen gelten. Für Radium-226 etwa konnte das AWI-Team Aktivitäten von über fünf Becquerel pro Gramm auf der Aussenseite der Manganknollen nachweisen. Zum Vergleich: Die deutsche Strahlenschutzverordnung sieht für eine uneingeschränkte Freigabe Höchstwerte von lediglich 0,01 Becquerel pro Gramm vor. Zudem war auch die Strahlungsintensität bei der Bildung des radioaktiven Edelgases Radon überraschend hoch. Wenn die Manganknollen verarbeitet werden, können beim Lagern in schlecht belüfteten Räumen gesundheitsschädigende Stäube entstehen. Das Einatmen von Staub kann menschliche Atmungsorgane schädigen oder Krebserkrankungen auslösen. Radioaktive Stoffe reichern sich auch in den verarbeiteten Produkten an. Ob alle Manganknollen in der Tiefsee solche Werte erreichen, ist unklar.

Mariner Bergbau gefährdet Muscheln, Wale, Tintenfische

Bis vor Kurzem glaubte man, dass die grossen Tiefsee-Ebenen im zentralen Pazifik nur dünn besiedelt seien. Doch Wissenschaftler des europäischen Projektes MiningImpact fanden heraus, dass die ökologische Vielfalt gerade dort gross ist, wo viele Manganknollen auf dem Meeresboden liegen. In den unwirtlichen, kalten Bedingungen entwickelten sich hunderttausende Arten – oft mit bizarrem Aussehen. Vom Tiefseebergbau akut gefährdet wären zum Beispiel Vampirtintenfische, Seefledermäuse, Seegurken und Tiefseekraken.

Auch Wale sind vom Tiefseebergbau bedroht. Das zeigt eine aktuelle Studie. So tauchen Pottwale in bis zu tausend Meter Tiefe, um Riesenkalmare zu jagen. Rund 30 Walarten und andere zahlreiche Arten wären vom Aussterben bedroht. Auch Kleinstlebewesen wie Mikroorganismen, Muscheln, Borstenwürmer leben am Meeresboden. Wenn die panzerähnlichen Maschinen beim Abbau der Knollen in der Tiefe lärmen, stört das zudem die Kommunikation zwischen erwachsenen Walen und ihren Kälbern erheblich und könnte deren Gesundheit gefährden. Zusätzlich würden Lärm, Vibrationen, Licht und Schiffe auch andere Tiefseearten verscheuchen. Bei Unfällen könnten Öle und andere giftige Stoffe in die Umwelt gelangen und sie verpesten.

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Auf dem weichen schlammigen Tiefseeboden in mehr als 4000 Metern Tiefe sind die Manganknollen ein wichtiger Lebensraum für viele festsitzende Tiere wie etwa Muscheln oder Anemonen, oder davon abhängige Tierarten, die einen festen Untergrund zum Leben benötigen.

«Wir dürfen nicht zerstören, was wir nicht verstehen!»

Bis sich diese Ökosysteme in der Clarion-Clipperton-Zone erholt haben, könnte es mehrere hundert Jahre dauern, erklärt Till Seidensticker von Greenpeace. Hier müsse das Vorsorgeprinzip gelten. Es dürfe keinen neuen Industriezweig geben, in dem Arbeitskräfte im Nordostpazifik für den Überkonsum einiger weniger reicher Staaten leiden müssen, so der Meeresexperte.

Werden die Abbaupläne in den Tiefen des Meeres umgesetzt, könnte dies den Lebensraum der dort lebenden Tiere zerstören, warnen auch 530 führende Wissenschaftler.

In einer aktuellen Petition appelliert Greenpeace an Robert Habeck, die Ausbeutung der Tiefsee zu stoppen. Bereits im Frühjahr 2021 protestierten Greenpeace-Aktivisten mit dem Schiff Rainbow Warrior bei Tests der Firma Global Seas Mineral Resources (GSR) gegen den Tiefseebergbau. Nachdem die deutsche Bundesregierung fünfzig Millionen Euro in den Tiefseebergbau investiert hatte, sprach sie sich zwar im November für eine «vorsorgende Pause» aus, blieb aber seither weitgehend untätig.

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Grafikquellen        :

Oben      —            Tiefseebergbau in aller Welt. In der Clarion-Clipperton-Zone haben sich zahlreiche Staaten Explorationsgebiete reserviert. Quelle: Meeresatlas 2017 – Daten und Fakten über unseren Umgang mit dem Ozean[1]

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NATO-Gipfel in Vilnius

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Juli 2023

Der Krieg und das letzte Komma

Aus Vilnius Gemma Teres Arilla und Tanja Tricarico

Beim Nato-Gipfel wird vor allem um Worte gekämpft: Der Ukraine wird gegen den russischen Angriffskrieg viel versprochen – aber vieles bleibt vage.

In Vilnius bleibt Wolodimir Selenski nichts anderes, als den Ex-Komiker in ihm durchscheinen zu lassen. Es sind die immer wiederkehrenden Fragen, die die Jour­na­lis­t:in­nen zum Ende des Nato-Gipfels am Mittwochnachmittag an den ukrainischen Präsidenten stellen. Reicht das Angebot der Alliierten an die Ukraine? Ist das Signal der Verbündeten stark genug, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin einzuschüchtern? Kommt die Ausbildung an den F16-Kampfjets?

Selenski bemüht sich um Diplomatie, um das Gute im Unklaren für sein Land im Krieg zu finden. Und verweist irgendwann frotzelnd an Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. „Du kannst diese Fragen auch alle beantworten.“ Lachen im Saal des Pressezentrums in Vilnius. Mitgefühl für den Präsidenten im Krieg ist zu spüren – und die unausgesprochene Gewissheit, dass allen klar ist: Die Zukunft der Ukraine ist ungewiss.

Es geht um diesen Schlüsselsatz im Abschlussdokument der 31 Nato-Staaten: „Wir werden in der Lage sein, die Ukraine zu einem Bündnisbeitritt einzuladen, wenn die Verbündeten sich einig und Voraussetzungen erfüllt sind.“ Bedingungen für ein Land im Krieg, in einem Krieg, von dem keiner weiß, wie lange er noch dauern wird? Übersetzt heißt das: Die Ukraine wird Teil der Nato – aber nicht jetzt. Auf einen breiteren Konsens konnten sich die Staats- und Regierungschefs beim Nato-Gipfel in Vilnius nicht einigen. Vor allem, weil Washington und Berlin nicht mitziehen wollten. Zu allem bereit wären die baltischen Staaten oder Polen gewesen.

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan positionierte sich klar für einen Beitritt. Stattdessen folgt eine windelweiche Formulierung: Wenn der Krieg zu Ende ist, dann gelten Bedingungen für die Aufnahme der Ukraine. So sollen etwa militärische Systeme miteinander funktionieren, auf rechtsstaatlicher Ebene müssen Regeln eingehalten werden. Bei allen Punkten wollen die Alliierten unterstützen.

Abschlussdokument der 31 Nato-Staaten :

„Wir werden in der Lage sein, die Ukraine zu einem Bündnisbeitritt einzuladen“

Die deutsche Außenministerin Annalena Baer­bock spart nicht an Pathos, wenn sie von der gemeinsamen Vereinbarung spricht. Für sie schlägt „der Pulsschlag für die Ukraine“ in Europa nirgends so stark wie in Vilnius. „Die Nato ist unsere Lebensversicherung. Diese Lebensversicherung funktioniert aber nur, wenn einer für alle und alle für einen einstehen“, sagt Baerbock, sichtlich bemüht. Das zeige sich im Abschlussdokument des Gipfels und den Vereinbarungen für die Ukraine. Und das gelte natürlich auch für andere Konflikte. Für den Indopazifik-Raum und Asien etwa, für mehr Unabhängigkeit von China. Wie sehr der Puls der Li­taue­r:in­nen für die Ukraine schlägt, zeigt sich bereits am Dienstagabend.

Ein Meer ukrainischer Flaggen und Hunderttausende von Menschen, die ebenfalls in Gelb und Blau gekleidet sind, füllen den zentralen Platz der litauischen Hauptstadt. Auf der Bühne prangt ein riesiges Banner mit der Aufschrift #ukraine­nato33: Nach dem türkischen grünen Licht für die Aufnahme Schwedens am Montagabend wäre die Ukraine das 33. Nato-Mitglied. Selenski wird in wenigen Momenten zu den Li­taue­r:in­nen sprechen. Gerade angekommen in Vilnius, ist dies sein erster öffentlicher Auftritt. Mit den Nato-Verbündeten wird er erst am Folgetag sprechen. Während internationale Jour­na­lis­t:in­nen verzweifelt seit Tagen schreiben, dass es unklar ist, ob Selenski nach Vilnius zum Nato-Gipfel eintreffen wird, wussten die Vil­ni­u­se­r:in­nen längst Bescheid. Wie ein Popstar wird Selenski gefeiert, sobald er auf der Bühne mit seiner Ehefrau erscheint. Anschließend spielt eine litauische Band.

Der Platz ist nicht zufällig gewählt. In Zeiten der sowjetischen Besatzung stand dort in der Mitte eine Lenin-Statue, der Platz war nach ihm benannt. Unweit davon gibt es eine Open-Air-Dauerausstellung über den sogenannten Kaunas-Frühling im Mai 1972. Auslöser war die antisowjetische Protestaktion des Schülers Romas Kalanta, der sich öffentlich verbrannte. Ebenfalls nah ist das KGB-Museum, nun Museum der Opfer des Genozids genannt.

Die 40 Jahre sowjetischer Vergangenheit mit Unterdrückung der litauischen Sprache und Kultur spielen eine Rolle bei der Entscheidung der meisten Litauiner:innen, die Ukraine zu unterstützen. Vilnius ist nur rund 40 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Bis Russland, Richtung Osten, sind es knapp 350 Kilometer, aber im Westen grenzt Litauen mit der russischen Exklave Kalinigrad. Am Dienstag unterschreiben in Vilnius die Verteidigungsminister von Estland, Lettland und Litauen eine Koopera­tionsvereinbarung, die den Zugang für Nato-Staaten zum Luftraum der Baltenstaaten vereinfacht. Die drei Staaten haben keine eigenen Kampfjets.

„Ich werde alle schützen, außer die Russen“, sagt Etno Kelias Virginijus, der zusammen mit einem Freund auf den Platz gekommen ist. Natürlich hat auch er eine ukrainische Flagge dabei. „Im Januar 1991 habe ich auf den Barrikaden gegen die sowjetischen Besatzer hier in Vilnius Widerstand geleistet, aber jetzt wünsche ich mir, dass dieser Krieg zu Ende geht. Hier in Litauen wohnen Menschen, die mehrere Sprachen sprechen – Litauisch, Polnisch, Russisch … – und wir haben kein Problem miteinander. Das Problem ist unser Nachbar und seine expansionistischen Ideen“, fügt Etno hinzu.

Nahezu parallel zu Selenskis Auftritt im Zentrum der litauischen Hauptstadt äußert sich Nato-Generalsekretär Stoltenberg zum ersten Mal zur Abschlusserklärung der 31 Mitglieder – bald 32, mit Schweden. „Die Ukraine wird eine Einladung bekommen, Nato Mitglied zu werden, sobald die Bedingungen erfüllt werden“, so Stoltenberg. Die Ukraine kann nicht auf ewig warten: „Die Menschen sterben dort jeden Tag“, sagt Janina am zentralen litauischen Platz und zitiert empört den berühmten Satz „as long as it takes“ von Bundeskanzler Olaf Scholz und Stoltenberg. „Das ist einfach nicht genug. Russland ist eine Bedrohung, auch für uns“, sagt ihre Kollegin Danute. Auch die Jurastudentin Zuzana will Selenski live sehen, zeigt aber Verständnis für die Nato-Erklärung: „Der Krieg tobt noch, so ist es unmöglich, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Aber wir brauchen klare Zeichen dafür, dass es in einer näheren Zukunft doch klappen wird. Ohne die Nato wird die Ukraine nicht überleben.“

„As long as it takes“ – dieser Satz lässt sich an diesem Abend auch anders interpretieren. Ein junges litauisches Paar mit kleinem Kind und Säugling im Kinderwagen verlässt den Platz und kehrt langsam heim: „Wir haben Selenski gesehen, Papa!“, jubelt das Mädchen auf den Schultern des Vaters. Solidarität über Generationen hinweg.

Während Selenski Wut und Frust vor seiner Ankunft in Vilnius in die akademische Nato-Blase twittert, macht sein Verteidigungsminister Olexij Resnikow bereits den nächsten Waffendeal klar. 11 Bündnis-Staaten haben zugesagt, der Ukraine F-16 Kampfjets zu liefern. Die Niederlande und Dänemark leiten das Bündnis zur Ausbildung ukrainischer Kampfjet-Piloten. Bereits im August soll das Training in Rumänien beginnen. Dabei sind Großbritannien, Polen und Kanada. Deutschland hält sich noch raus.

Aber die Erwartungen an die Bundesregierung sind hoch. Deutschland habe sich gut in der Führungsrolle bei der Kampfpanzer-Koalition gemacht, sagt Resnikow. Warum also nicht dem Kampfjet-Bündnis beitreten? Bundeskanzler Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius reagieren ausweichend auf diese Anforderungen. Aber allen ist klar, dass die Kriegsgerät-Spirale sich weiterdrehen wird.

Mit einem Fünkchen mehr Stolz als bei Verteidigungsministern wohl üblich, verkündet Resnikow, gekleidet im olivgrünen Militäroutfit, dass seine Sol­da­t:in­nen – die Ukrai­ne­r:in­nen – mit ihrer Ausbildung an Panzern oder Patriots nur Wochen brauchten, anstatt der üblichen Zeit von mehreren Monaten. Also werde es bei den Kampfjets auch klappen. Über die umstrittene Streumunition aus den USA ist die Freude nach wie vor groß. Und vorauseilend beschwichtigt Resnikow umgehend die Kritiker:innen: „Wir werden sie nicht in besiedelten Gegenden einsetzen – und auch die Gebiete wieder räumen.“ Um sich gegen die brutalen Angriffe des Putin’schen Regimes zu wehren, bleibe der Ukraine aber keine andere Wahl.

Und Resnikow hofft auf mehr: ein Mehr an Waffen, an Flugabwehr, an Munition – und eine klare Perspektive für den Nato-Beitritt für die Ukraine. Von Frust und Wut über eine ukrainischen Gegenoffensive, die langsamer als erwartet verläuft, will Resnikow aber in Vilnius nicht sprechen. „Dieser Krieg ist keine Show. Er ist Realität.“

Die Brutalität des russischen Angriffskrieges: Daran lassen weder Scholz noch Baerbock und Pistorius Zweifel aufkommen. Und scheuen auch nicht den Realitätscheck im Diplomatiedschungel: „Wir können hier relativ entspannt auf jedes Komma in den Abschlussdokumenten schauen“, sagt Baerbock. Das kann ein Land im Krieg nun mal nicht. Dafür gibt es von den Staats- und Regierungschefs Empathie, Solidarität, Mitgefühl.

Das blau-gelbe Mitgefühl im Zentrum Vilnius, das von Tausenden von Po­li­zis­t:in­nen und Sol­da­t:inn­nen geschützt wird, hat seinen Preis. Die litauische Hauptstadt ist in eine Art Ausnahmezustand versetzt worden. In der Nähe des Messegeländes, wo der Nato-Gipfel stattfindet, herrscht teilweise Chaos. Ausgerechnet dann, als überschwänglich das von manchen gar als „historisch“ betitelte Abschlussdokument präsentiert wird, geht in der Stadt gar nichts mehr.

Über zwei Stunden stecken Jour­na­lis­t:in­nen und Di­plo­ma­t:in­nen am Verhandlungsort fest. Auch der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, wartet in der Sonne an der Bushaltestelle. Wasserflaschen werden von jungen Freiwilligen – natürlich gekleidet in blau-gelben T-Shirt mit der Aufschrift „trust us #wearenato“ – verteilt. Erst als US-Präsident Joe Biden das Gelände verlässt, und etliche andere Staats- und Regierungschefs auf dem Weg zum Gala-Dinner im Palast des litauischen Präsidenten Gitanas Nausėda sind, sind die Straßen wieder frei.

Das Chaos, das solche Gipfeltage, die mit enormen Sicherheitsvorkehrungen verbunden sind, entschädigt Litauens Regierung mit kostenlosen öffentlichen Verkehrsmitteln. Die rund 500.000 Ein­woh­ne­r:in­nen Vilnius tragen es mit Fassung. Dass der Nato-Gipfel stattfindet, ist überall zu spüren. Ukrainische, litauische, Nato-Flaggen hängen an den Bussen und offiziellen Gebäuden. Herzen für die Ukraine kleben an jeder Ecke. Mit Kunstaktionen, Fotoausstellungen und Videoperformances aus dem Krieg wollen die Li­taue­r:in­nen Hoffnung auf einen Beitritt der Ukraine schüren. Am Mittwochabend findet noch eine öffentliche Veranstaltung unter hohen Sicherheitsvorkehrungen an der Vilnius Universität statt: eine Rede des US-Präsidenten Biden.

Quelle         :          TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     On Saturday 25 February 2023, several thousand Peace Now demonstrators gathered in London to demand negotiations to bring about a peaceful resolution to the Ukraine war. PEACE TALKS NOW. Almost all the protesters agreed that their main demand was for a greater effort to end the horrific conflict in Ukraine, in which possibly as many as 200,000 may have already died and with the risk of escalation threatening the end of all human life on earth. WASHINGTON AND LONDON BLOCKED TALKS IN 2022 The evidence suggests that the United States and United Kingdom blocked Ukraine from carrying through with its proposed basis for a peace deal with Russia during negotiations in March-April 2022, with the Ukrainian newspaper Ukrayinska Pravda, citing sources close to Zelensky, claiming that Boris Johnson, on his visit to Kiev on 9 April, personally lobbied the Ukrainian president to abandon peace talks and continue the conflict. <a href=“https://peacenews.info/node/10287/liz-truss-helped-derail-chances-peace-ukraine-now-she-must-back-negotiations“ rel=“noreferrer nofollow“>peacenews.info/node/10287/liz-truss-helped-derail-chances…</a> The former Israeli prime minister, Naftali Bennett, also claimed that Washington blocked his attempts to negotiate a peace deal between Kiev and Moscow. <a href=“https://thegrayzone.com/2023/02/06/israeli-bennett-us-russia-ukraine-peace/“ rel=“noreferrer nofollow“>thegrayzone.com/2023/02/06/israeli-bennett-us-russia-ukra…</a> A VARIETY OF VIEWS ON SENDING ARMS Protesters had a greater variety of views on whether the West should send any arms to Ukraine at all, with many opposing any supply of arms that they believe will only prolong the conflict and suffering and risk further escalation, while others argued that sending some arms was morally justifiable to help Ukraine, but that the supply should be carefully calibrated so as not to make a wider and even more catastrophic world war more likely. JEREMY CORBYN’S SPEECH Jeremy Corbyn, as he concluded his brief speech, declared that ‚if all the protagonists in this conflict can come together to discuss the supply of grain to the world, and come to an agreement by which ships carrying the grain from Ukraine and Russia can go to feed other people in other parts of the world; if the US is capable of contacting Russia to say that president Biden is visiting Kiev, then it is obviously possible they could come together for serious talks and serious negotiations to stop the fighting, stop the killing, stop the conflict, and bring about peace and justice.“ WHY THE WEST NEEDS TO SUPPORT AND NOT BLOCK PEACE NEGOTIATIONS 1. Regardless of one’s opinions on the rights and wrongs of this conflict, it has already claimed at least 100,000 lives, possibly over 200,000, including more than 8,000 civilians <a href=“https://abcnews.go.com/International/russia-ukraine-war-tens-thousands-dead-1st-year/story?id=97247372“ rel=“noreferrer nofollow“>abcnews.go.com/International/russia-ukraine-war-tens-thou…</a> Its continuation also threatens global food supplies and energy prices, plunging thousands into food and fuel poverty across Europe and leading to widespread food shortages and hunger across Africa and parts of Asia. 2. Every day the war continues, and as NATO supplies of ever more powerful weaponry continue to increase, the risk of the war escalating into a terminal nuclear conflict continues to grow. Putin and much of the Russian military establishment will do almost anything to prevent a Ukrainian victory, especially one that might see Crimea, of huge strategic importance and with a clear majority Russian population, be returned to Ukraine. Many strategic analysts and Russia specialists believe that Moscow would be willing to consider using at least tactical nuclear weapons, and that this could quickly escalate into global conflict. The ongoing conflict is also jeopardising all the remaining arms control agreements which prevent another nuclear arms race, so that even if Ukraine is victorious, we risk entering a new cold war which is likely to end, soon rather than later, in a nuclear conflict that will terminate all organised human life on earth. 3. The Ukraine War has led to a huge increase in the consumption of fossil fuels, and the reversal of key policies in the fight against climate change. It also hinders crucial cooperation between Russia and the West on this urgent issue with regards measures to curb emissions, as well as cooperation between Russian and Western scientists, particularly as Russia occupies a large part of the arctic, where research findings are vital for our understanding of how rapidly climate change is occuring. 4. We have to acknowledge that some of the West’s recently declared war aims are highly questionable such as returning Crimea to Ukraine. Not only are the Russians unlikely to ever consider entering peace negotiations over its return, but over 60% of the population is Russian according to the last 2001 Ukrainian census and only 24% ( about 1 in 4) are Ukrainian. So it will be difficult to incorporate the territory back into Ukraine without at least some sort of referendum on Crimea’s status. It also has to be acknowledged that the millions of Russians who live within Ukraine have for years faced harsh discrimination with severe restrictions on the importation of books in the Russian language since 2017 (Russian books had previously accounted for 60% of all titles), restrictions on the use of Russian language in schools and Russophobic attacks in the streets. <a href=“https://en.wikipedia.org/wiki/Racism_in_Ukraine“ rel=“noreferrer nofollow“>en.wikipedia.org/wiki/Racism_in_Ukraine</a> The Russians in the Donbass area have also suffered from years of shelling during a prolonged war Ukrainian forces waged against them, with a total death toll up to December 2021 (including both Ukrainian and insurgent forces) of over 14,000, including over 3,000 civilians killed. Yes, there was an inflow of Russian arms which also stoked the conflict, but many Russians viewed this as legitimate support for a population which was under attack from the Ukrainian army. <a href=“https://ukraine.un.org/sites/default/files/2022-02/Conflict-related civilian casualties as of 31 December 2021 (rev 27 January 2022) corr EN_0.pdf“ rel=“noreferrer nofollow“>ukraine.un.org/sites/default/files/2022-02/Conflict-relat…</a> 5. Finally, whatever one’s views on the Ukrainian conflict, the evidence suggests that Western strategy is failing. Russian forces continue to gain ground in Ukraine on a daily basis, despite an enormous inflow of NATO arms. Russian industry is able to be fully mobilised on a war footing in a way that the West, with its just in time corporate controlled arms industry, can’t compete with. NATO has already acknowledged that by the summer of this year, Ukraine is likely to run out of artillery shells. What is brutally termed the „burn rate“ of NATO supplied military equipment (and indeed of Ukrainian young men) is far higher than its replenishment rate. At the same time, despite all the sanctions the Russian economy is predicted to grow faster this year than either Germany or the United Kingdom. <a href=“https://www.grid.news/story/global/2023/02/01/russias-economy-is-now-forecast-to-grow-faster-than-germanys-and-britains-in-2023-how-is-that-possible/“ rel=“noreferrer nofollow“>www.grid.news/story/global/2023/02/01/russias-economy-is-…</a> The ruble has actually gained slightly in strength against the US dollar, relative to its value a year ago in February 2022, <a href=“https://www.xe.com/currencycharts/?from=RUB&to=USD“ rel=“noreferrer nofollow“>www.xe.com/currencycharts/?from=RUB&to=USD</a> and Russian reserves remain impressively high. Much of the world, including China, India, South Africa and Brazil, remain more than willing to retain good relations with Russia and import its oil and other key commodities. Western strategy is failing to weaken Russia but the war strengthens the position of the nationalists within Russia, and gives the Russian government a pretext to clampdown on dissent. It also pushes Russia ever closer to China, while accelerating Europe’s relative economic decline. So whatever one’s moral view on the conflict, the lack of any coherent strategy to end this conflict and the West’s refusal even to consider peace negotiations appears to be a catastrophic mistake.

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No Herrschaftsverhältnisse

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Juli 2023

Basisbegriffe anarchistischen Denkens

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Demonstration in Jakarta am 1. Mai 2007. Auf dem Transparent steht „Der Boss braucht Dich – Du brauchst den Boss nicht – Netzwerk gegen Autorität“.

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :        Jonathan Eibisch

Herrschaftsverhältnisse und ihre Alternativen. Theorie soll praktisch angewandt werden. Deswegen dient das folgende Schema dazu, eine anwendungsbezogene theoretische Grundlage über Anarchismus zu vermitteln – abseits von oft abgehobenen akademischen Kontexten und teilweise selbstbezüglichen marxistischen Debatten.

Tatsächlich ist es so, dass bestimmte Praktiken oder Perspektiven nicht aus der anarchistischen Theorie folgen. Es sind umgekehrt die Erfahrungen von Aktiven in sozialen Bewegungen, welche das anarchistische Denken prägen. Seine Basisbegriffe wurden in einer mittlerweile fast zweihundertjährigen Geschichte des modernen europäischen Anarchismus entwickelt. Werte wie Gleichheit und Freiheit, Organisationsprinzipien wie Dezentralität und Autonomie und Konzepte wie freie Vereinbarung und Kooperation werden schon seit über 150 Jahre so verwendet. Und es hat Gründe, warum auch Personen, die gerade heute aktiv werden, wieder auf diese Begriffe stossen. In unseren reflektierten Erfahrungen begründet sich ihre Wahrheit.Das bedeutet, dass sie nicht als ein starres dogmatisches System angewandt oder wie ein Plan einfach verfolgt werden können. Stattdessen gilt es immer wieder neu zu entdecken und sich darüber auszutauschen, was wir unter den jeweiligen Begriffen verstehen – wie wir sie mit Leben füllen und konkret anwenden können, um die bestehende Gesellschaftsform und die Herrschaftsordnung zu kritisieren und zu beschreiben, wo wir stattdessen hin wollen. Dies ist für Anarchist*innen besonders wichtig, weil sie davon ausgehen, dass erstrebenswerte Alternativen bereits im Hier und Jetzt vorhanden sind und durch Zwischenraum-Strategien ausgedehnt werden können. Was wir insgesamt anstreben soll daher schon in unseren sozialen Bewegungen, Zusammenhängen und Lebensumfeldern umgesetzt werden. Dabei gilt es nicht starre und übermenschliche Ziele ins Auge zu fassen, welche wir ohnehin nie erreichen werden. Vielmehr können sich auch die Ziele verändern, während wir ihnen auf verschlungenen Wegen entgegengehen. Statt der konservativen Vorstellung von „Prinzipientreue“ brauchen wir kontinuierliche, gemeinsame und offene Diskussionsprozesse um ihre Ausgestaltung.Mit dem hier entfalteten Schema geht es also darum, Orientierung in unsicheren Zeiten zu gewinnen, sich in einer bestimmten Tradition zu verorten und bewusst zu machen, dass es tatsächlich anarchistische Theorie gibt – die wie erwähnt keine Kopfgeburt ist, sondern in kollektiven Reflexions- und Diskussionsprozessen über einen langen Zeitraum entwickelt wird. Unser Bewusstsein ist notwendigerweise immer von der Ideologie und den Erfahrungen der gegenwärtigen Gesellschaftsform geprägt und deswegen von Widersprüchen durchzogen. Diese ergeben sich daraus, dass die Wirklichkeit komplex ist und wir als Einzelne oder Gruppen immer nur Teil-Wahrheiten erfassen können. Widersprüche entstehen aber auch durch den Konflikt mit der Ideologie der Herrschaftsordnung.

Mit emanzipatorischen Vorstellungen zielen wir darauf ab, diese Widersprüche nicht lediglich abzubilden, sondern auf eine höhere Ebene zu heben. Dies kann uns gelingen, wenn wir die damit verbundenen Spannungen als Paradoxien begreifen, welche wie die dargestellten Begriffe nicht abschliessend als Wahrheiten fixiert werden können oder überhaupt einmalig festgesetzt werden sollen. In den Konzepten von Zwischenraum, konkrete Utopie, direkte Aktion, soziale Revolution, aber ebenso in anarchistischen Debatten um Individualismus und Kollektivismus Gewalt, Entfremdung oder Technik, bildet sich eine paradoxe Denkweise ab – die sehr gewinnbringend sein kann, um ein sozial-revolutionäres Projekt heute denkbar zu machen.

Bei der Erstellung des Schemas schien es mir naheliegend zu sein, von der anarchistischen Ethik auszugehen. Dies schliesst keineswegs aus, dabei eine materialistische Weltanschauung zur Grundlage zu nehmen, also z.B. davon auszugehen, dass Klassenverhältnisse äusserst wirkmächtig sind, dass es das Privateigentum abzuschaffen und die Produktionsmittel zu vergesellschaften gilt, als auch zu verstehen, das unser Bewusstsein wesentlich von der materiellen Anordnung der Welt und der Verfügung über sie geprägt ist. Nur ist es eben nicht einseitig und eindimensional geprägt, sondern variiert, ist komplex und lässt Spielräume zu. Vor diesem Hintergrund ist der vorgeschlagene Begriffskatalog als Orientierungsrahmen für eine anwendungsbezogene (anti-)politische Theorie des Anarchismus zu verstehen. Wie alle Schemata reduziert die Auswahl und Anordnung der Begriffe die Wirklichkeit. Andererseits wäre es schon ein ziemlicher Gewinn, wenn zumindest sie allgemeiner unter Anarchist*innen verbreitet und durch gemeinsame Diskussion mit konkreten Inhalten gefüllt werden.

Die hier dargestellten Grundbegriffe können selbstverständlich ergänzt und erweitert werden. Wenn wir aber alleine darum gemeinsame Diskussionen führen, beziehungsweise unsere vorhandenen Diskussionen mit geschärften Begriffen strukturieren, würde dies bereits das Bewusstsein in anarchistischen Szenen anheben. Dabei geht es wie gesagt nicht um Rechthaberei, sondern um die gemeinsame Verständigung zu der möglichst alle Beteiligten befähigt werden sollen, um mitreden zu können.

Ich habe die Begriffe in einem System angeordnet, um deutlich zu machen, dass sie miteinander verknüpft sind. Auf horizontaler Ebene bedeutet dass, dass soziale Freiheit nur mit Gleichheit und Solidarität sowie Vielfalt nur mit Selbstbestimmung zu haben ist. Deswegen kann solidarisches Verhalten z.B. nur in Anerkennung vielfältiger Unterschiede gelebt werden. Organisatorisch gehören Dezentralität, Autonomie und Horizontalität, Föderalismus, Freiwilligkeit unbedingt zusammen. Deswegen führt z.B. die Betonung der Dezentralität eben nicht dazu, dass Aufgaben nicht eine überregionale Ebene übertragen werden. Freiwilligkeit ist in diesem Sinne nicht die individualistische Vereinzelung, wie im Liberalismus. Selbstverständlich führt dies auch zu Spannungen. Doch diese bestehen in unserer Lebenswirklichkeit und der Gesellschaftsform in der wir leben selbst und werden dadurch nur thematisiert. So sind auch die theoretischen Konzepte und die Kriterien für eine sozial-revolutionäre Orientierung jeweils miteinander verbunden.

Auf der vertikalen Ebene soll zumindest angedeutet werden, dass die anarchistische Ethik mit Organisationsprinzipien und theoretischen Konzepten in beide Richtungen vermittelt wird. Um in Vielfalt leben zu können braucht es dezentrale Organisationsformen und eine theoretische Beschäftigung mit Pluralität. Erst die Freiwilligkeit ermöglicht die Umsetzung von sozialer Freiheit und führt zum Nachdenken über gemeinschaftliche Individualität. Unter Autonomie verstehe ich ein Organisationsprinzip, welches so wertvoll ist, weil in die Selbstbestimmung von Einzelnen und das Konzept der gesellschaftlichen Selbstorganisation übergeht.

Dies ist wichtig, weil es eben nicht der anarchistischen Denk- und Herangehensweise entspricht, dass sich autonome Kommunen abschotten und sich dann einen Tyrannen wählen, Frauen unterdrücken oder Kinder schlagen. Dies würde die ethischen Grundwerte verletzen. Ebenso ist die Gleichheit nur formell zu verstehen, wie etwa in einem Wahlvorgang, sondern als tiefgreifende Beziehung aufgrund der Annahme von Kooperation zu realisieren und durch horizontale Organisationsformen umzusetzen. Wie schon gesagt, darf dieses Begriffssystem nicht starrsinnig als Programm verstanden werden, dass es einfach nur umzusetzen gilt. Daher sind auch die jeweiligen Begriffe nicht immer ganz genau ineinander übertragbar. Aber dieser Überblick kann eine Reflexion darüber anstossen, was Anarchist*innen und mit ihnen sympathisierende Leute bereits tun.

Schliesslich möchte ich noch offenlegen, dass ich diese Systematisierung aus einer bestimmten Sichtweise entwickelt habe. Meine Perspektive ist jene der anarchistischen Synthese und des Anarchismus ohne Adjektive. Diese ist nicht besser als andere Sichtweisen, beispielsweise aus dem anarchistischen Mutualismus, Individualismus, Kommunismus, Insurrektionalismus, Syndikalismus oder Kommunitarismus. Mit der Synthese wird lediglich versucht, die besten Punkte, welche Anhänger*innen der jeweiligen Strömungen formulieren, einzubeziehen und ins Gespräch miteinander zu bringen. Daher sind die folgenden Begriffe auch ein Vorschlag, um eine gemeinsame Grundlage in einem sonst äusserst pluralen Anarchismus zu schaffen – dessen Interpretation, Schlussfolgerungen, Ansätze und Praktiken immer noch sehr unterschiedlich sein können.

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Selbstverständlich macht es Unterschiede, ob man sich in Basisgewerkschaften, Affinitätsgruppen oder Genossenschaften organisiert; ob man Arbeitskämpfe, destruktive Akte oder Nachbarschaftsversammlungen für geeignete Mittel hält, um die Verhältnisse unmittelbar zu verändern. Darüber gilt es Diskussionen zu führen und sich zu streiten. Ebenso ist nicht einfach klar, was sich langfristig wirklich als radikal, emanzipatorisch, präfigurativ, konfrontativ und initiativ erweist. Auch hinsichtlich unserer Vorstellungen und Annahmen über Herrschaftsverhältnisse und erstrebenswerter Alternativen zu ihr, braucht es weiteres Nachdenken.

Unter einer Herrschaftsform, die uns nach Identitäten spaltet und durch die Brutalisierung (anti-)politischer Auseinandersetzungen, neigen wir jedoch dazu, vor allem Recht haben zu wollen und anderen unsere Sichtweisen aufzuzwingen, statt uns gegenseitig zu respektieren, uns zuzuhören und aufeinander zu beziehen. Wir lassen uns spalten von Autoritären, welche ihre Machtansprüche mit gesetzten Wahrheiten durchsetzen wollen, anstatt uns gemeinsam auf die Suche nach Wahrheiten zu begeben, die mit unseren verschiedenen Lebenswirklichkeiten verknüpft sind – und Werkzeuge zu ihrer Veränderung an die Hand geben. Dies bedeutet gerade nicht, Begriffe beliebig oder rein instrumentell zu definieren, sondern sie in langen emanzipatorischen Traditionen zu verorten und sich damit auf geteilte Ziele zu verständigen. Sich diesen Aufgaben zu widmen ist zugleich der Weg, gemeinsam sozial-revolutionär zu werden.

Es folgt eine knappe Beschreibung der jeweiligen Werte. Diese ist verkürzt und soll deswegen zur Reflexion und weiteren Diskussionen anregen…

Ethische Werte

Gleichheit hat eine materielle, eine politische und eine ethische Komponente: Alle Menschen erhalten bedingungslos die Ressourcen, um ihre Leben selbst zu gestalten. Sie können gleichberechtigt bei den Entscheidungen mitbestimmen, die sie betreffen. Und es geht um die Herstellung der gleichen Würde aller Personen.

Soziale Freiheit ist ein Verhältnis, in welchem Einzelne ihre Leben in Bezug auf die Anderen gestalten und dadurch erst zu besonderen Individuen werden. Um dies zu entwickeln, werden auch Grenzen respektvoll überschritten und ausgelotet. Es gibt keine echte Freiheit für Einzelne auf Kosten Anderer.

Solidarität ist sowohl Ausgangspunkt wie auch Ergebnis sozialer Kämpfe. Sie beschreibt den Zusammenhalt von Leuten, die sich gegenseitig helfen, auch ohne, dass sie miteinander befreundet sind und sich mögen. Solidarität geschieht insbesondere dann, wenn Menschen in schwierigen Lagen unterstützt werden und Privilegien abgegeben werden.

Mit Selbstbestimmung wird der Wille und die Besonderheit von Einzelnen betont, die über ihre Lebensgestaltung, ihre Tätigkeiten und ihre Körper selbst verfügen. Aufgrund der Ungleichheit unter der Herrschaftsordnung, ist sie erst für alle zu erkämpfen.

Vielfalt: Eine libertär-sozialistische Gesellschaft lässt vielfältige Lebensformen zu. Ebenso gilt es in sozialen Bewegungen und unseren Umfeldern heute Vielfältigkeit zu begrüssen. Vielfalt im anarchistischen Sinne gelingt aber nicht durch die herrschaftliche Konstruktion von Identitäten und liberalen Multikulturalismus, sondern indem einzelne Gruppen und Gemeinschaften sich selbst definieren.

Organisationsprinzipien

Horizontalität bedeutet Organisation auf Augenhöhe. In gegenseitigem Respekt werden Formen verwirklicht, in welchen möglichst alle Gehör finden und einbezogen werden. Dazu gilt es Medien zur Vermittlung der Interessen, Anliegen und Meinungen zu schaffen.

Autonomie heisst, dass jede Gruppe die sich zusammenfindet selbst entscheidet, welchen Tätigkeiten sie nachgehen, welche Positionen sie vertreten und wie genau sie sich strukturieren wollen, statt vorgefertigte Konzepte zu übernehmen oder Aufgaben, welche andere gestellt haben. Autonomie ist auch mit dem Exodus aus den Herrschaftsverhältnissen bei der gleichzeitigen Umsetzung von Alternativen verknüpft.

Föderalismus ist der Zusammenschluss dezentraler, autonomer Gruppen und Kommunen. Anstatt dass diese sich ausschliesslich um ihre eigenen Angelegenheiten vor Ort kümmern, beziehen sie sich aufeinander, tauschen sich aus und treffen Entscheidungen auf einer höheren Ebene um gemeinsam stärker zu sein.

Freiwilligkeit: Niemand darf gezwungen werden, einer Gruppe anzugehören, darin bestimmte Aufgaben oder festgelegte Rollen zu übernehmen. Freiwilligkeit ist wichtig, weil mit ihr auch die Grenzen der Einzelnen ausgelotet werden. Im Zweifelsfall bedeutet dies, aus einer Gruppe auszutreten oder ihre Grundlagen neu zur Verhandlung zu stellen. Doch ist der Grad der Freiwilligkeit hoch, ist die Gruppe auch stabil, stark und kann sich kontinuierlich weiterentwickeln.

Dezentralität: Anarchist*innen gehen davon aus, dass die meisten gesellschaftlichen Funktionen und auch soziale Bewegungen besser dezentral organisiert werden sollen. Zentralisierung ist nicht emanzipatorisch, weil sie immer eine Machtkonzentration bedeutet. Wie genau sich Dezentralität umsetzen lässt, ist dabei von Bereich zu Bereich unterschiedlich geschieht nicht von selbst, sondern ist herzustellen.

Theoretische Konzepte

Das Konzept der Kooperation begründet sich in der Annahme, dass Menschen soziale Wesen sind, die sich erst im gemeinsamen Zusammenwirken selbst entfalten und die Bedingungen für ein gutes Leben für alle herstellen können. Dennoch ist Kooperation kein Naturgesetz, sondern einzuüben, zu praktizieren und auszuweiten.

Mit gemeinschaftliche Individualität wird versucht, denkbar zu machen, wie der scheinbare Gegensatz von Einzelnen und Kollektiven abgebaut werden kann. Es gilt Gemeinschaften zu schaffen, in welchen die Einzelnen nicht gezwungen werden, aber ebenso Einzelne darauf hin zu orientieren, dass sie gemeinschaftlich werden können.

Die freie Vereinbarung zwischen Einzelnen und Gruppen richtet sich gegen den bürgerlichen Vertrag, in welchem Zwangsinstanzen entscheiden, wer im Zweifelsfall Recht und welche Ansprüche hat und diese durchsetzen. Stattdessen klären die Beteiligten ihre Angelegenheiten selbst und verhandeln sie bei Unstimmigkeiten neu. Die schliesst nicht aus, dass sie externe Gruppen für die Begleitung und Beurteilung ihrer Prozesse hinzuziehen.

Selbstorganisation ist ein Begriff der erst seit den 1950er Jahren verwendet wird, aber sehr treffend beschreibt, was Anarchist*innen bereits vorher annahmen. Ähnlich wie Systeme in der Natur könnte sich auch Gesellschaft ohne von ihr abgesonderten Staat selbst organisieren. Dennoch ist dies kein Naturgesetz, sondern bedeutet, dass Räume und Formen der Selbstorganisation aktiv einzurichten sind.

Pluralität: Wie kann Vielfalt ermöglicht und Dezentralität organisiert werden? Dies gilt es mit dem Konzept der Pluralität zu durchdenken, mit welchem ebenso danach gesucht wird, welche gemeinsamen Grundlagen es braucht, damit Unterschiedlichkeit überhaupt möglich wird ohne in Beliebigkeit oder Separatismus zu verfallen.

Sozial-revolutionäre Kriterien

Emanzipation: Soziale Bewegungen sollen emanzipatorisch sein in dem Sinne, als dass sich Gruppen, die unterschiedlich von Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung und Zerstörung betroffen sind, selbst ermächtigen, um die Gesellschaft zu verändern. Nicht für Betroffene, sondern durch sie selbst geschieht der entscheidende Wandel. In diesem Prozess verändern sich Einzelne individuell, Gruppen partikular und die Gesellschaft insgesamt. Dies gilt es zusammen zu denken und nicht gegeneinander auszuspielen.

Radikalität: Im Anarchismus gibt es eine lange und anhaltende Debatte darüber, in welchem Verhältnis Ziele und Mittel gesehen werden. Der Zweck heiligt demnach nicht die Methoden, sondern beide sollen soweit es geht einander entsprechen. Doch im Widerspruch mit der bestehenden Herrschaftsordnung reicht es nicht aus, wenn Mittel zum Selbstzweck werden und sich damit der Auseinandersetzung entziehen. Aus diesen Überlegungen heraus wurde der Ansatz der direkten Aktion entwickelt, welche die Radikalität sozialer Bewegungen begründet. Gesellschaftskritik wird damit praktisch angewandt.

Präfiguration: Anarchist*innen gehen davon aus, dass die Utopie konkret und immanent vorhanden ist. Das heisst, sie wird nicht an anderen Orten oder in andere Zeiten projiziert, sondern ist das Verdrängte und Ausgeschlossene in der Gegenwartsgesellschaft, das sich in unserer Sehnsucht nach etwas anderem manifestiert. Aus diesem Grund wird für ein Handeln im Hier und Jetzt plädiert. Sollen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend ändern, gilt es heute und dort wo wir stehen, damit anzufangen. Präfiguration bedeutet die experimentelle Vorwegnahme der allgemein angestrebten Formen und Beziehungen.

Konfrontation: Eine grosse Diskussion mit verschiedenen Standpunkten gibt es hinsichtlich des Verhältnisses von Negation und Konstruktion. Für die soziale Revolution gehört beides zusammen: Um nach den Möglichkeiten der vorgefundenen Bedingungen zu handeln, sind diese anzugreifen. Aus dieser Herangehensweise des auflösenden Aufbaus heraus sollen soziale Bewegungen die Konfrontation suchen. Dies kann je nach Situation und Konstellation verschiedene Ausprägungen annehmen.

Initiative: Im Anarchismus wird die Herangehensweise einer Avantgarde, welche mit einer ausgebildeten Ideologie und geschlossenen Kadergruppen soziale Bewegungen anführt, abgelehnt. Stattdessen sollen sich die Unterdrückten und Ausgebeuteten selbst ermächtigen. Um sich zu organisieren und zielgerichtet zu kämpfen, braucht es aber bestimmte Bedingungen, unter anderem Zeit, Bildung, Überzeugungen und Zugehörigkeit. Da die Voraussetzungen dafür sehr unterschiedlich verteilt sind, wollen Anarchist*innen soziale Bewegungen begleiten, motivieren und orientieren. Sie bilden eine Art „convoyer-garde“, ergreifen Initiative, versuchen diese aber ebenso bei anderen anzuregen.

Herrschaftsverhältnisse und ihre Alternativen

Staat / Föderation dezentraler autonomer Kommunen

Im Staat verdichtet sich das politische Herrschaftsverhältnis, dass in der Moderne mit der Nation als konstruierter Zwangsgemeinschaft verbunden ist. Er funktioniert nach den Prinzipien des Autoritarismus, der Zentralisierung und Hierarchisierung und weitet diese in alle gesellschaftlichen Bereiche aus. Damit wird gleichzeitig Staat als Ansammlung unterschiedlicher Institutionen zusammengehalten, welche das Politische monopolisieren und auf sich hin zuordnen. Obwohl der Staat in seinem Kern auf nackter Gewalt und direkter Unterwerfung beruht, übernimmt er auch unterschiedliche Funktionen, sich zu kümmern, umzuverteilen und die öffentliche Infrastruktur zu organisieren. Daher ist für viele schwer vorstellbar, dass wir ohne Staat besser leben würden.

Als Gegenmodell streben viele Anarchist*innen eine Föderation dezentraler autonomer Kommunen an. Diese ist eng mit der Rätedemokratie verwandt. Statt einer Kaste professioneller Politiker*innen werden engagierte Leute in ihren jeweiligen Kommunen Aufgaben übertragen. Dabei wird die Ausübung dieser Mandate kontrolliert und rotiert. Dieses Modell ist kein konstruiertes Idealbild, sondern ergibt sich aus der Lebenswirklichkeit von Parallelstrukturen, die in Ansätzen überall vorhanden sind. Wenn dieses Modell in grösserem Massstab umgesetzt wird, sind Mechanismen zu schaffen, dass es nicht Macht kontinuierlich verteilt wird, damit es nicht wieder staatliche Züge annimmt.

Kapitalismus / dezentraler Sozialismus

Kapitalismus ist ein ökonomisches Herrschaftsverhältnis, welches auf Privateigentum, der Aneignung von Gemeingütern, sowie dem freiwilligen Zwang zur Lohnarbeit beruht. Der Kapitalismus bringt notwendigerweise eine Klassengesellschaft mit sich, die ohne staatliche Kompensation, wie das Prinzip der Profitmaximierung, selbstzerstörerisch ist. Weil er durch Ausbeutung von Arbeitskraft und Natur unglaublichen Reichtum geschaffen hat, gelang es auch grosse Teile der Arbeiter*innenklasse zu befrieden. Seine Folgen alles andere als sozial, nachhaltig oder effektiv, doch hat der Kapitalismus die Fähigkeit, sich flexibel anzupassen und Widerstand gegen ihn einzubeziehen.

Dagegen streben viele Anarchist*innen einen dezentralen Sozialismus an. Wie auch der staatliche Kapitalismus weist dieser planwirtschaftliche Elemente auf, überlässt aber den einzelnen Akteur*innen die Entscheidung, wie sie auf Anfragen nach der Produktion oder Verteilung von Gütern reagieren. Weiterhin basiert der dezentrale Sozialismus auf unterschiedlichen Genossenschaften, in welchem Menschen ihre Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung und Kultur kollektiv und lokal organisieren. Die technischen Voraussetzungen für eine solche Organisation der Wirtschaft sind in jedem Fall gegeben. Die individuelle Verfügung über Güter wird geringer sein. Dafür ist die Grundabsicherung gewährleistet, gibt es wesentlich mehr Zeit zur freien Verfügung sind die Möglichkeiten nach sinnerfüllenden Tätigkeiten wesentlich höher, wobei anstrengende und belastende Arbeiten besonders gewürdigt werden.

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Patriarchat / egalitäre Geschlechterverhältnisse

Herrschaft bildet sich auch in ungleichen Geschlechterverhältnissen ab, wobei das Patriarchat in verschiedenen Ausprägungen schon viele Jahrtausende besteht und weltweit durchgesetzt wurde. Es beinhaltet die Privilegierung von gesunden hetero Cis-Männern gegenüber allen Menschen in anderen Positionen. Zur Legitimierung wird eine vermeintlich natürliche Überlegenheit behauptet. Dass das Patriarchat ein wesentliches Herrschaftsverhältnis ist, zeigt sich auch am brutalen Kulturkampf, der von rechten Akteur*innen gegen emanzipatorische Bestrebungen geführt wird. Teilweise gelingt es dabei die Kategorie der Frauen von Menschen mit anderen Geschlechtsidentitäten zu spalten. Stattdessen setzen sich Anarchist*innen für die Gleichbehandlung aller Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht und Begehren ein. Dies bedeutet materielle Anliegen umzusetzen wie gleichen Lohn und gleiche Arbeitsrechte für Frauen, sowie eine echte Wertschätzung und Gleichverteilung von Care-Arbeiten und Reproduktionstätigkeiten, die abwertend feminisiert werden. Weiterhin gilt es Angehörige in Minderheitspositionen besonders zu unterstützen. Die Konstruktion von Geschlechtsidentität überhaupt ist mit der modernen Gesellschaftsform verknüpft, die Menschen kategorisiert und in welcher sie sich definieren müssen. Dies ist an sich problematisch, weswegen die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht als solche zu problematisieren ist.

weisse Vorherrschaft / gegenseitiger Respekt

Die Entstehung des modernen Nationalstaates ist ebenso wie jene des Kapitalismus mit rassistischer Diskriminierung und Unterdrückung verknüpft, die ebenso wie das Patriarchat Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Aussehens in Kategorien presst, ihnen Eigenschaften zuschreibt und sie in einer Hierarchie anordnet. Dabei bildete die Versklavung Schwarzer Menschen in der Neuzeit eine der ökonomischen Grundlage kapitalistischer Ausbeutung, welche davon ausgehend auf das Lohnarbeitsverhältnis übertragen wurde. Rassismus zeigt sich in globalen wirtschaftlichen Abhängigkeiten, schlechten Arbeitsbedingungen, geringen Bildungszugängen, ethnischer Segregation und Polizeigewalt. Anarchist*innen wollen die weisse Vorherrschaft als gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis überwinden, welches den Rassismus hervorbringt und aufrechterhält. Der Kampf gegen dagegen ist auf verschiedenen Ebenen zu führen und beinhaltet auch die Reflexion eigener rassistischer Vorurteile und Verhaltensweisen. Allen Menschen soll unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Aussehen und ihrer Sprache der gleiche Respekt zukommen.

Naturbeherrschung / konviviales Naturverhältnis

Die Herrschaft des Menschen über die Natur ist viele tausend Jahre alt, hat sich in modernen Gesellschaftsformen aber massiv gesteigert. Menschen setzen sich in das Zentrum des Kosmos, ordnen ihnen alle anderen Lebewesen unter und verwerten sie für ihre Zwecke. Um dies zu ermöglichen, wird erst eine künstliche Trennung von „Natur“ und „Kultur“ gezogen, die unsinnig ist, weil alles was Menschen bauen verarbeitete Natur ist, wie sie selbst auch. Deswegen werden mit der Naturbeherrschung letztendlich auch die Möglichkeiten eines guten Lebens für alle Menschen untergraben. Anarchist*innen wollen nicht „zurück zur Natur“, weil dies eine Projektion ist, sondern ein Brechen mit der verselbständigten Technokratie und dem anthropozentrischen Weltbild. Es gilt ein konviviales, also auf Gegenseitigkeit beruhendes, gesellschaftliches Naturverhältnis auszuweiten und die Produktion grundlegend umzugestalten. Darüber hinaus braucht es eine Dezentrierung des Menschen, um ihn entgegen des Zustands seiner Entfremdung, im Zusammenspiel mit der Welt und anderen Lebewesen zu erfahren.

weitere Anregungen unter: paradox-a.de

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Grafikquellen          :

Oben        —       Demonstration in Jakarta am 1. Mai 2007. Auf dem Transparent steht „Der Boss braucht Dich – Du brauchst den Boss nicht – Netzwerk gegen Autorität“.

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Im Pariser Mai 68

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Juli 2023

„Überall muss das Unglück zurückgeschlagen werden“

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Vieles hat sich verändert – nur die Dummheit der Politiker-innen nicht

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von              :      Hanna Mittelstädt

René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68. Zur Neuherausgabe der deutschsprachigen Ausgabe von René Viénet, Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68 in der Edition AV.

Ein Auszug aus dem aktuellen Vorwort:Schnell! war eine der Parolen, die im Pariser Mai 1968 auf den Mauern auftauchten. Schnell ist auch dieses Buch erschienen. Das französische Manuskript wurde schon Ende Juli 1968 an den Verlag Gallimard übergeben. Es enthält eine genaue Schilderung der Ereignisse mit Schwerpunkt auf Paris und Umgebung (die Universitäten, die Fabriken und Unternehmen) und im Anhang Flugblätter und andere Dokumente. Es ist eine parteiliche Zusammenstellung, keine ausgewogene oder wissenschaftliche Darstellung. Die Texte geben die Unbedingtheit der Forderungen, die Direktheit der Gesten wieder und verströmen die empfundene Dringlichkeit des Projektes, seine ganze Heftigkeit.In deutscher Übersetzung erschien das Buch 1977 in einer einmaligen Auflage in der Edition Nautilus (Übersetzung Pierre Gallissaires und Barbara Merkel) und war seit langem vergriffen. Für die neue Ausgabe konnte die damalige recht rohe Übersetzung bearbeitet und ein neues Vorwort beigesteuert werden.

Die Situationistische Internationale, deren Mitglied der Autor René Viénet seit 1966 war, hatte seit ihrer Gründung Mitte der fünfziger Jahre an einer „Neudefinition der Revolution“ gearbeitet und diese Art einer autonomen Eruption ausserhalb der üblichen Institutionen der Arbeiterbewegung, wie sie im französischen Mai 68 hervorbrach, vorhergesehen. Die Situationisten waren also in gewisser Hinsicht vorbereitet und hatten ein Verständnis von dem, was sich abspielte. Sie hatten ein begriffliches Instrumentarium entwickelt und konnten so in die Unruhe, die sich ausbreitete, praktisch intervenieren.

Dass sich in Frankreich, anders als z.B. in Deutschland, diese Art des Denkens entfalten konnte, lag unter anderem auch an den unterschiedlichen Auswirkungen des gerade beendeten faschistischen Regimes. Während in Deutschland die revolutionären Erfahrungen der Klassenkämpfe durch die extreme Zäsur des Nationalsozialismus, den Angriffskrieg und die rassistische Vernichtungsmaschine abgewürgt waren und die Nachkriegsgeneration mit der Einhegung der grauenbeladenen Schuld beschäftigt war, hatte sich der antifaschistische Widerstand Frankreichs in den hegemonialen Vorstellungen der Résistance kondensiert. Diese Kommandovorstellungen der KPF mit ihrem Heldenpathos galt es nach Kriegsende zu demontieren und statt dessen die Bezüge zur Pariser Commune und zur Räteorganisation aufzufrischen und zu beleben, um zu neuen Aktionsformen und einer neuen Sicht auf die Gesellschaft und ihre Veränderung zu gelangen.

So hatten die Situationistischen im November 1966 eine „vorbereitende“ Aktion unternommen, indem sie mit einigen Studenten der Universität Strassburg eine Broschüre in grosser Auflage publiziert und verteilt hatte, welche die Zurichtung der studentischen Ausbildung auf die kapitalistischen Verwertungsinteressen und das damit einhergehende Elend im Studentenmilieu offenlegte (Über das Elend im Studentenmilieu), das schnell etliche Störmanöver an den Universitäten ausgelöst hatte. Die Eskalation dieser Störungen führte von der Universität Nanterre aus zur Besetzung der Sorbonne, zur Öffnung der Universität für alle, zu Strassenkämpfen im Quartier Latin mit Errichtung von bis zu sechzig Barrikaden, zu Fabrikbesetzungen in ganz Frankreich. Die Chronologie ist in diesem Buch aufgezeichnet.

Schnell griff der Impuls des Widerstands auf alle möglichen Bereiche der Gesellschaft über, von den Student*innen und Arbeiter*innen zu den Fussballern, die ihren Sport von den Bossen zurückverlangten, zu den jungen Ärzten, die die Funktion der medizinischen Ausbildung und Versorgung der Menschen zu Diensten des kapitalistischen Funktionierens denunzierten, die Werbeleute, die die Abschaffung der Werbung forderten, die Angestellten des Medienkaufhauses FNAC, die ohne eigene Forderungen in den Streik traten, um ihre Solidarität kundzutun, die Menschen, die in den umkämpften Vierteln wohnten und freigiebig Essen, Wasser gegen das Tränengas und kurzzeitiges Asyl vor polizeilichen Verfolgungen boten.

Wir sind nichts, wir werden alles! ist die Parole, die eine „jugoslawische Genossin, die viel weiss“, ihrem Text in diesem Buch voranstellte. Sie fordert „Gesten, die keine Bezahlung verlangen; die spontane Organisation in den Händen der Produzenten; die leidenschaftliche Organisation und die Grosszügigkeit als Komplizin …“ Das versteht sie unter der Macht der Arbeiterräte. Die Macht zerstören, ohne sie zu ergreifen, nennt sie „erlebte Poesie“. „Die Revolution kann nur alltäglich sein, wenn man gegen die Faszination der Macht kämpft. Der Wunsch zu beherrschen, bleibt noch das Gesetz des Augenblicks, die Mentalität des befreiten Sklaven, der Schwindel des Gehorsams … die Mystik der Institutionen und die Religion der Ordnung. … Wir sind alle Herren oder wir sind nichts. Unter dieser Bedingung wird die Arbeit ein grosser Lachanfall oder alles. Es lebe die Macht der Arbeiterräte. Nieder mit der jugoslawischen Selbstverwaltung.“

Es versteht sich von selbst, dass der neue Begriff von „Selbstverwaltung“ nicht bedeutete, das Vorhandene oder hierarchisch Bestimmte selbst zu verwalten, sondern autonom zu entscheiden, was und wie gemeinsam verwaltet, oder eher organisiert, produziert, gelebt werden soll. Die generalisierte Selbstverwaltung bedeutete im Sprachgebrauch der Situationisten nichts weniger als die bewusste Bestimmung des gesamten Lebens durch alle, d.h. die geschichtliche Konstruktion der freien individuellen Beziehungen, in der die Räte die einheitliche und permanente individuelle und kollektive Emanzipation ermöglichen, indem sie das Imaginäre der Geschichte verwirklichen. Jeder revolutionäre Moment führt zur sofortigen Steigerung der Lebenslust, und aus jeder praktischen Aktion filtert sich die theoretische Verbesserung (und umgekehrt). Die Selbstverwaltung ist Mittel und Zweck des Kampfes, Form und Inhalt, sie ist die Materie, die sich selbst bearbeitet.

Lauf schneller, Genosse, die alte Welt ist hinter dir her!

Im französischen Mai 68 war die Bewegung der Besetzungen (mit 11 Millionen wild, d.h. spontan und ohne das Einverständnis und die Struktur von Gewerkschaften und linken Parteien streikenden Arbeiter*innen) das grösste revolutionäre Ereignis seit der Pariser Kommune. Es war der erste wilde Generalstreik der Geschichte, und in diesem Monat Mai bildeten sich erneut Strukturen der direkten Demokratie heraus (Vollversammlungen, jederzeit abrufbare Delegierte, Aktionskomitees, Besetzungskomitees). Die Staatsmacht wich in einem heute kaum mehr vorstellbaren Mass zurück. Dieser Nullpunkt der Macht dauerte nur einen kurzen Moment, dann vereinigten sich die Führungskräfte der Alten Welt zum Gegenschlag, und die Besetzungen wurden mit allen Mitteln aufgelöst: Versprechungen, Lügen, militär-polizeiliche Gewalt. Seit den weltweiten sozialen Infragestellungen der „Alten Welt“ der späten sechziger Jahre verschärfte diese ihre Verteidigungslinien in Form von Kriegsmaschinen, die keinen Nullpunkt mehr zulassen sollen und die dabei sind, ihre Herrschaft auf den gesamten Menschen (physisch und mental) auszudehnen.

Die „Alte Welt“, das war damals die Welt der Familie, der Religion, der Konventionen, die Identifizierung mit der gesellschaftlichen Rolle, die vorhandenen und verknöcherten Institutionen des Klassenkampfes. All das wurde im Moment des Aufstands über den Haufen geschmissen, mit grosser Wucht und wenig praktischen Erfahrungen, was sicher die Schwäche dieses Aufstands wie vieler anderen gescheiterten Aufstände ausmacht.

Was andererseits die Stärke dieses Aufstands (und vieler anderer ebenso) auszeichnet, ist das spontane Wissen, dass alle Entfremdungen zusammen und gemeinschaftlich abgelehnt werden müssen, dass keine Ideologie mehr Gültigkeit hat und dass alle alten Institutionen ausgedient haben. Das Verlangen nach direktem Dialog, nach dem freien Wort, nach echter Gemeinschaft schuf sich in den besetzten Gebäuden Raum, die verhasste entfremdete Arbeit wurde für wenige Wochen ersetzt durch das Spiel und das Fest und die praktische Solidarität. „Ein Hauch von Wahnsinn lag in der Luft“, beschrieb Le Monde die Atmosphäre. Frauen und Männer, Franzosen und Menschen aus anderen Ländern kämpften spontan und gemeinschaftlich. Sie waren nicht mehr getrennt nach Hierarchien, Funktionen oder Rollen, sie kommunizierten in einer gemeinsamen Raum-Zeit. Die kapitalisierte Zeit stand still.

Wütende aller Länder, vereinigt euch!

Der Text René Viénets und die Dokumente im Anhang, ihr Ton (grossmäulig, zumeist männlich, heftig, ungezügelt etc.) und ihre Angriffslust mögen für viele eine Zumutung sein, damals wie heute. Sie zeigen uns heutigen Lesenden den Unterschied auf zum aktuellen Diskurs in einer „gezügelten“ Sprache. Sie öffnen einen geschichtlichen Raum: So fing es an, hier stehen wir heute. Wir haben an Sensibilität gewonnen, an Achtsamkeit, an Vorsicht, Rücksichtnahme, Respekt vor Schwächen, Blick auf Diversitäten. Aber wir haben auch verloren, die Wertschätzung des Negativen als Kraft der Aufhebung, d.h. der echten Veränderung, das Bewusstsein über die Notwendigkeit des Bruchs, die Verweigerung und die klare Sicht auf unsere Einbindung in die Gesellschaft des Spektakels, in die Logik der Ware, auf welcher Stufe ihrer Hierarchie auch immer.

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Das, was die Situationisten die „totale Emanzipation“ nannten, die universelle und einheitliche Befreiung ohne jede Trennungen, ist fast gänzlich aus der Debatte verschwunden. Seitdem die „Überflussgesellschaft“ durch den kapitalistischen globalen und totalen Extraktivismus zu einer Gesellschaft des Ausnahmezustands geworden ist, die ständig im Modus von Katastrophe, Krieg und Kollaps operiert, fordert die ideologische Zurichtung ein verstärktes Zusammenstehen, um die permanente Krise zu bewältigen. Wir sollen nun die Welt, wie sie ist oder wie sie vermeintlich einmal war, durch Verzicht und ständige Anpassung an die weiterentwickelten Ausbeutungsformen gemeinsam retten. Der damals so heftig vollzogene Bruch mit der „Alten Welt“ der hierarchischen Ausbeutung kann uns noch einmal vor Augen führen, wie total oder auch totalitär die aktuellen Klassenverhältnisse auf die Menschen zugegriffen haben, wie weit sich das „Spektakuläre“ von einer äusserlichen Entfremdung in den Menschen hineingefressen hat. So dass es heute noch klarer als damals ist, dass alles zusammenhängt und alles „total“ und einheitlich, d.h. universell verändert werden muss.

Es ist kein Wunder, dass die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich 2018, genau sechzig Jahre nach dem Mai 68 und mitten in einem sich seit Jahren im Ausnahmezustand befindlichen Land, die Spur der „wilden Streiks“ und der „wilden Demokratie“, der wilden Organisations- und Aktionsformen wieder aufgenommen hat. Und dass sie wie ein Gespenst der Revolution wieder aufgetaucht ist, das die herrschende Klasse zu sofortiger und brutaler Bekämpfung durch ihre Anti-Aufstandseinheiten und durch permanente mediale Denunziation veranlasste. Die Schmach der staatlichen Schwäche im Mai 68 sollte sich nicht wiederholen. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass das, was im Mai 68 einen Monat angehalten hat, bei den Gelbwesten mehr als ein Jahr andauerte, und dass die Formen der Aktionen und Vernetzung erheblich weiterentwickelt wurden. So konnte in der Gegenwart die Vergangenheit verbessert und die Tür zum verdrängten Imaginären wieder einen Spalt geöffnet werden.

Da sich die Lebensverhältnisse im Modus von Krieg und Krise nicht verbessern lassen, sondern weiter verschlechtern werden, werden auch Verweigerung und Bruch wieder wichtige Impulse werden. Autonome Strukturen des Gemeinsamen zu finden, d.h. menschliche Sicherheit und Fürsorge, planetare Nachhaltigkeit, Gesundheit für alle, Freiheit der Vielen Verschiedenen, den globalen Schutz der menschlichen und ökologischen Singularitäten in einer Gesellschaft ohne Ausbeutung zu gestalten, das heisst, die „Bewegung des Kommunismus“ als ein ständiges Werden anzugehen. Und vielleicht können die Unverschämtheit der Thesen dieses Buches, ihre Grossmäuligkeit und Frechheit uns heute, mit dem Abstand von sechzig Jahren, ein grosses Lachen schenken, das Lachen, von dem die jugoslawische Genossin, die viel weiss, sprach und das uns die Möglichkeiten einer Öffnung in eine gänzlich andere Welt aufzeigt, in unsere Autonomie und Selbstbestimmung jenseits der spektakulären Warengesellschaft.

René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68. Edition AV, Bodenburg 2023. 281 S., ca. 24.00 SFr., ISBN 978-3-86841-292-5.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —      Posters on a wall – the remnants of May 1968.

Urheber Robert Schediwy           /        Quelle    :     Selbst fotografiert    /      Datum       :    Juli 1968

Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.

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Unten     —         Antikriegsdemonstration in den USA, 1968

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Ein zukunftsfähige EU

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Juli 2023

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

Marsch der Entschlossenen - Gräber vor dem Bundestag (18406716313).jpg

Eine freie EU kann  es nur ganz ohne Grenzen geben – sowohl nach Außen als nach Innen

Von Oleksandra Matwijtschuk

Der verstärkte Beschuss ziviler Ziele durch die russische Armee lenkt den Blick erneut auf die zahlreichen Kriegsverbrechen der Besatzungstruppen in der Ukraine.

Eine der wichtigsten Organisationen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren, ist das Center for Civil Liberties aus Kiew. Gegründet wurde die Menschenrechtsorganisation 2007, um die Demokratisierung des Landes voranzutreiben. Mit Beginn der russischen Invasion im Donbass und der Annexion der Krim 2014 begann sie zudem, politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten zu dokumentieren. Im vergangenen Herbst erhielt die Organisation rund um ihre Vorsitzende, die Juristin Oleksandra Matwijtschuk, den Friedensnobelpreis.

Am 9. Mai hielt Oleksandra Matwijtschuk die diesjährige „Rede an Europa“ auf dem Wiener Judenplatz. Das Format wurde vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen, der ERSTE Stiftung und den Wiener Festwochen ins Leben gerufen, um renommierten Intellektuellen die Möglichkeit zu bieten, einer breiten Öffentlichkeit originelle Denkanstöße zur Zukunft des europäischen Projekts zu geben. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Katharina Hasewend.

Die Geschichte kann nur schwerlich idealisiert werden, wenn man sie kennt. Das 20. Jahrhundert brachte zwei verheerende Weltkriege, schreckliche Kolonialkriege, Millionen von Toten und eine totale Entmenschlichung hervor, die ihre konkreteste Form im Holocaust und den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten annahm. Diese schrecklichen Ereignisse machten entschlossenes Handeln nötig. Die Tatsache, dass man gewillt war, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen, kam im Mahnruf „Nie wieder!“ zum Ausdruck. Staats- und Regierungschefs schufen die Vereinten Nationen und unterzeichneten internationale Abkommen. Die Schuman-Erklärung markiert den Beginn des Projektes eines vereinten Europas. Getragen von der Auffassung, dass jeder Mensch frei und gleich an Würde und Rechten geboren ist, entstand in der Nachkriegszeit ein neuer Humanismus.

Aber das Böse lässt sich nicht für immer besiegen. Menschen müssen sich jeden Tag aufs Neue entscheiden. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wurden nur in einem Teil Europas zur gelebten Praxis, und der totalitäre sowjetische Gulag wurde nie gerichtlich verurteilt. Und so kehrt das Böse immer wieder zurück: das Massaker von Srebrenica; die Zerstörung von Grosny, wo damals eine halbe Million Menschen lebte; die russische Bombardierung von Aleppo; die Brandbomben auf Mariupol; die Leichen der Ermordeten auf den Straßen von Butscha.

Wie können wir im 21. Jahrhundert Menschen, ihre Würde, ihre Rechte und ihre Freiheit verteidigen? Können wir uns auf das Recht stützen – oder werden Waffen das Einzige sein, was zählt?

Ich stelle diese Fragen nicht nur als Bürgerin eines Landes, das sich gegen eine militärische Aggression Russlands verteidigt. Ich stelle diese Fragen als Bürgerin Europas. Europa muss auf die Herausforderungen der heutigen Zeit reagieren. Europa muss seine Rolle in einer globalen Welt wahrnehmen, in der Autoritarismus und Demokratie, Interessen und Werte, Macht und Recht, schnelle Gewinne und langfristige Perspektiven gegeneinanderstehen. Es ist die Entschlossenheit zum Handeln, die eine Gesellschaft zukunftsfähig macht.

Das gelungene Europa…

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl sollte nicht nur eine gemeinsame Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung schaffen. Vielmehr vertieften die Bemühungen für ein gemeinsames europäisches Projekt die Solidarität zwischen Ländern, deren Beziehungen jahrhundertelang durch blutige Auseinandersetzungen belastet waren. Der Europäischen Union ist es gelungen, dieses Erbe zu überwinden und Frieden zwischen ihren Mitgliedsstaaten zu gewährleisten. Die kontinuierlichen Bemühungen der Regierungen um die Förderung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ermöglichten über Jahrzehnte hinweg ein stabiles Wachstum. Dies ist jenes Europa, dem es gelungen ist, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern.

Dieses Europa befindet sich nach wie vor auf dem schwierigen Weg der Selbstfindung. Auch wenn es sich heute mit neu entdeckten guten Absichten schmückt, kommt es nicht umhin, das verheerende Erbe seiner kolonialen Vergangenheit anzuerkennen. Europa steht vor der Herausforderung, eine Einheit zu erzeugen, ohne auf Uniformität zu drängen; Integration zu gewährleisten, ohne Homogenität zu erzwingen. Es muss lernen, seine Vielfalt als Quelle der Solidarität zu nutzen. Es darf nicht zulassen, dass Autoritarismus und Imperialismus in seinen Gesellschaften Wurzeln schlagen.

Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, ist fast vollständig von uns gegangen. Die nachfolgenden Generationen sahen sich nicht gezwungen, ihr Blut zu vergießen. Sie haben die Werte der Demokratie von ihren Eltern übernommen. Und sie begannen, Rechte und Freiheiten als selbstverständlich zu betrachten. Zunehmend verhielten sie sich weniger als Träger dieser Werte denn als deren Konsumenten. Sie verstanden Freiheit immer öfter bloß als die Möglichkeit, im Supermarkt zwischen verschiedenen Käsesorten zu wählen. Und so sind sie bereit, Freiheit gegen Profit, Sicherheitsversprechen oder persönlichen Komfort einzutauschen. Es sollte nicht überraschen, dass populistische Kräfte in den entwickelten Demokratien an Boden gewinnen; Kräfte, die die Grundsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte infrage stellen.

Unsere heutige Welt ist schnelllebig, komplex und vernetzt. Die technologische Entwicklung, der Klimawandel, Verletzungen der Privatsphäre, wachsende Ungleichheit, die Entwertung von Wissen und andere globale Herausforderungen verlangen nach Antworten, die nicht im Rückgriff auf Vergangenes formuliert werden können. Jahrzehnte des relativen Wohlstands und das wachsende Verlangen nach einfachen Lösungen haben den Blickwinkel der entwickelten Demokratien verändert. Sie verstehen nicht mehr, dass der Frieden in Europa nicht ohne Anstrengungen erhalten werden kann, die dem Grad der Gefährdung angemessen sind.

…und die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen

Die Europäische Union umfasst bei weitem nicht ganz Europa. Sie ist jener Teil Europas, der es geschafft hat, den Grundsatz zu verwirklichen, dass Frieden, Fortschritt und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Dann sah sie sich der Gefahr der Stagnation gegenüber. Das gelungene Europa sollte die Bewegung anderer Länder in Richtung europäischer Werte unterstützen. In einer sich ständig verändernden Welt überleben nur offene Systeme und wandlungsfähige Kulturen. Mauern und Grenzen können nicht vor globalen Herausforderungen schützen. Wer aufhört, nach vorne zu schreiten, wird untergehen.

Die gegenwärtige Lage hängt nicht nur von den Entscheidungen und Handlungen des gelungenen Europas ab, sondern auch von seiner unmittelbaren Umgebung. Es ist das eine, von Ländern umgeben zu sein, die sich ebenfalls den Werten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verschrieben haben. Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn man von Staaten umringt ist, die diese Werte ablehnen. Wenn solche Länder an Stärke gewinnen, werden sie versuchen, euch zu zerstören.

Das gelungene Europa hat sich lange Zeit geweigert, gegenüber anderen Ländern der Region Verantwortung zu übernehmen, und dadurch die Etablierung autoritärer Regime zugelassen. Dieses Europa hat vergessen, dass Länder, die Journalisten töten, Aktivisten inhaftieren und friedliche Proteste auflösen, nicht nur für ihre eigenen Bürger eine Gefahr darstellen. Solche Staaten sind eine Bedrohung für die gesamte Region, ja, für die ganze Welt. Aus diesem Grund hätte es einer Reaktion auf systematische Menschenrechtsverletzungen bedurft. Menschenrechte sollten bei politischen Entscheidungen eine ebenso wichtige Rolle spielen wie wirtschaftlicher Nutzen oder Sicherheitsfragen. Ein Ansatz, der diesem Imperativ Rechnung trägt, muss auch in der Außenpolitik verfolgt werden.

Das zeigt sich sehr deutlich im Fall Russlands, das seine eigene Zivilgesellschaft Schritt für Schritt zerstört hat. Doch die entwickelten Demokratien haben davor lange die Augen verschlossen. Sie schüttelten russischen Repräsentanten die Hände, bauten Gaspipelines und machten weiter wie bisher. In vielen Ländern begingen russische Streitkräfte über Jahrzehnte hinweg Verbrechen, die stets ungeahndet blieben. Sogar bei der Annexion der Krim, einem beispiellosen Vorgang im Europa der Nachkriegszeit, zeigte die Welt kaum eine Reaktion. Russland glaubte tun zu können, was ihm beliebt.

Das gescheiterte Europa

Im Februar 2014 begann Russland einen Krieg gegen die Ukraine und besetzte die Halbinsel Krim sowie Teile der Oblaste Donezk und Luhansk. Zu diesem Zeitpunkt war die „Revolution der Würde“ in der Ukraine gerade zu einem Ende gekommen. Millionen von Menschen hatten sich mutig gegen ein autoritäres und korruptes Regime aufgelehnt. Im ganzen Land gingen sie auf die Straße und forderten eine weitere Annäherung an Europa und an wahrhaft demokratische Werte. Sie kämpften für das Recht, einen Staat aufzubauen, in dem die Rechte jedes Einzelnen geschützt werden, in dem Behörden Rechenschaft ablegen müssen, Gerichte unabhängig sind und die Polizei nicht auf friedlich demonstrierende Studenten einprügeln darf.

Es sollten die Politiker-innen eingesperrt werden, welche den Menschen die Freiheit verwehren !

Einige von ihnen zahlten dafür den höchsten Preis. Im Herzen der Hauptstadt erschoss die Polizei mehr als hundert friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten. Menschen starben unter den Bannern der Ukraine und der Europäischen Union.

Als das autoritäre Regime zusammenbrach, erhielt die Ukraine ihre Chance auf einen demokratischen Wandel. Um den Fortschritt der Ukraine zu einer wahren Demokratie aufzuhalten, begann Russland im Februar 2014 seinen Krieg. Im Februar 2022 weitete es diesen Krieg zu einer umfassenden Invasion aus. Nicht die Nato ist es, die Putin fürchtet; er hat Angst vor der Demokratie. Diktatoren fürchten die Idee der Freiheit.

Nun versucht Russland, den Widerstand zu brechen und die Ukraine zu besetzen, indem es der Zivilbevölkerung größtmögliches Leid zufügt. Russische Streitkräfte zerstören gezielt Wohnhäuser, Kirchen, Schulen, Museen und Krankenhäuser; sie schießen auf Evakuierungskorridore; sie halten Menschen in Filtrationslagern gefangen; sie führen Zwangsdeportationen durch; sie entführen, foltern und töten Menschen in den besetzten Gebieten. Europa gelang es nicht, dem ein Ende zu setzen.

Dies ist nicht zuletzt ein Krieg der Werte. Russland versucht, die ukrainische Nation davon zu überzeugen, dass ihre Entscheidung für die europäische Integration ein Fehler war. Russland versucht, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ein Betrug sind, dass sie falsche Werte sind. Denn in Kriegszeiten schützen sie niemanden. Russland will beweisen, dass ein Staat mit einem mächtigen Militär und Atomwaffen der gesamten internationalen Gemeinschaft die Spielregeln diktieren und sogar international anerkannte Grenzen verschieben kann. Es handelt sich also nicht um einen Krieg zwischen zwei Ländern, sondern um einen Krieg zwischen zwei Systemen – Tyrannei und Demokratie. Der Kampf wütet bereits. Die Menschen begreifen dies zwar erst, wenn ihnen die Bomben auf den Kopf fallen, aber dieser Krieg hat noch andere Dimensionen: Er ist ein Wirtschaftskrieg, ein Informationskrieg, ein Krieg der Werte. Ob wir den Mut haben, es einzugestehen oder nicht, dieser Krieg hat bereits die Grenzen zur Europäischen Union überschritten.

Russland hat Europa den Krieg erklärt. Russland kämpft gegen jene Werte, die Europa ausmachen. Europa muss also Verantwortung übernehmen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte können nicht ein für alle Mal erkämpft werden. Vielmehr müssen die Werte der modernen Zivilisation verteidigt werden. Wir müssen für sie kämpfen.

Das ängstliche Europa

Europa weiß nicht, wie es den Krieg beenden soll. Immer wieder fordern einzelne Stimmen die Ukraine dazu auf, Frieden zu schließen. Niemand will den Frieden mehr als die Ukrainer. Aber es gibt keinen Frieden, wenn das angegriffene Land die Waffen streckt. Das ist kein Frieden, sondern eine Besatzung, und Besatzung ist lediglich Krieg in anderer Gestalt.

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Oben     —     Spontaneously errected grave at the Marsch der Entschlossenen demonstration in Berlin, Germany

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Die Anti-AKW-Bewegung

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Juli 2023

Es ist noch nicht vorbei

Ein Debattenbeitrag von Reimar Paul

Die Anti-AKW-Bewegung bleibt auch nach Abschalten der Meiler nötig: Das Müllproblem bleibt, Atomforschung und Brennstäbeproduktion gehen weiter.

Am 15. April war Schluss. Eine Minute vor Mitternacht ging mit dem Reaktor Neckarwestheim II das letzte von einst 36 Atomkraftwerken in Deutschland vom Netz. Die Produktion von Atomstrom und Atommüll ist seitdem Geschichte – ein jahrzehntelanger gesellschaftlicher Großkonflikt scheint mit einem großen Erfolg der Anti-AKW-Bewegung be­endet. Schließlich hat sie mit langem Atem mächtige Gegenspieler aus Wirtschaft und Politik zum Umlenken gebracht. Zahlreiche geplante Atomkraftwerke wurden nie gebaut, nukleare Wiederaufarbeitungsanlagen im Wendland und in Wackersdorf verhindert, den Anstoß für den Siegeszug der erneuerbaren Energien gab die Bewegung ebenfalls. Wie viele Gerichtsbeschlüsse und vor allem das Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeigen, wurde auch die Demokratie in der Wilstermarsch und in Gorleben verteidigt.

Dennoch fiel die Freude über das AKW-Aus bei vielen aus der Bewegung eher verhalten aus. Denn der Konflikt um Atomkraft und Energiewende ist mit der Abschaltung der Meiler nicht vorbei. Nicht nur der laufende Betrieb von Atomkraftwerken, auch der sich über Jahrzehnte hinziehende Abriss birgt Gefahren. Zehntausende Tonnen teils stark verstrahlten Schrotts müssen abgetragen und abtransportiert werden. Die Strahlenschutzverordnung erlaubt es, radioaktiv belastetes Material wie kontaminierten Bauschutt oder Metallteile als „normalen“ Müll zu entsorgen – sofern ein bestimmter Grenzwert nicht überschritten wird. Erst vor wenigen Tagen sorgte die Meldung für Unruhe, dass der Betreiber des Gorlebener Zwischenlagers Hauben von Castorbehältern bei einem örtlichen Schrotthändler entsorgen ließ. Vollständig ist der Atomaussstieg auch nicht: Die Brennelementefabrik in Lingen und die Urananreicherungsanlage in Gronau, die Atomkraftwerke in halb Europa mit frischem „Brennstoff“ beliefern, haben unbefristete Betriebsgenehmigungen. Die Lingener Fabrik will ihre Produktion in einem Joint Venture mit dem russischen Atomkonzern Rosatom sogar ausweiten und Brennstäbe künftig auch nach Osteuropa exportieren. Diverse Forschungsreaktoren sind ebenfalls noch in Betrieb. Und in die Atomforschung etwa in Karlsruhe oder Aachen fließen nach wie vor erhebliche Summe aus öffentlicher Hand.

Noch nicht einmal ansatzweise erledigt hat sich das Atommüllproblem. Es betrifft einerseits die neu aufgerollte Suche nach einem Endlager für die hochradioaktiven Abfälle. Nachdem die mit der Suche betraute Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) 2020 einen ersten Zwischenbericht veröffentlichte, der mehr als die Hälfte des Bundesgebietes als potenziell geeignet ausweist, soll die Suche zunächst im Verborgenen weiterlaufen. Es besteht die Gefahr, dass die BGE erst in einigen Jahren weitere Gebietsausschlüsse veröffentlicht, wenn sie Standortregionen benennt, die ober­irdisch geprüft werden sollen. Damit blieben die Betroffenen erneut außen vor. Maßgeblich dem Einsatz Anti-AKW-Bewegter ist es zu verdanken, dass diese „Transparenzlücke“ wenigstens öffentlich problematisiert wurde. Völlig ungeklärt ist der dauerhafte Verbleib des schwach und mittelradioaktiven Atommülls. Zwar wird dafür seit Jahren das frühere Eisenerzbergwerk Konrad umgebaut, doch der Standort steht nach massivem Bürgerprotest auf der Kippe. Die Kritik: Konrad entspricht nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik, es handelt sich um ein altes Bergwerk, es gab kein vergleichendes Auswahlverfahren. Außerdem wäre Konrad viel zu klein – für die Abfälle, die aus dem maroden Atomlager Asse geborgen werden sollen, und für die Rückstände aus der Urananreicherung gäbe es dort gar keinen Platz.

Ebenso umstritten ist das auf dem Gelände des früheren AKW Würgassen in Nordrhein-Westfalen geplante Bereitstellungslager, in dem die Abfälle für Konrad zunächst gesammelt und neu verpackt werden sollen. Durch dieses Lager würde sich die Zahl der gefährlichen Atommülltransporte durch Deutschland deutlich vermehren. Dazu kommt: Die Genehmigungen für die in den vergangenen Jahrzehnten an den AKW-Standorten hochgezogenen Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle laufen in absehbarer Zeit aus. Ein Endlager wird wohl erst zur Jahrhundertwende betriebsbereit sein. Bis dort alle rund 1.900 Castoren aus den 16 Zwischenlagern eingelagert sind, werden weitere Jahrzehnte vergehen.

Quelle        :           TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben           —       Zehntausende Menschen demonstrierten am 6. September 2009 in Berlin gegen Atomkraft. Das Motto: Endlich mal abschalten.

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Die Letzte Generation

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Juni 2023

Als ein Lehrstück zum Umgang mit Kritikern

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von                 :          Suitbert Cechura

Kritik mundtot machen – dafür braucht es keine Autokratie, das kann jeder Rechtsstaat.

Dass in anderen Staaten Kritiker der Regierung schikaniert werden, ist regelmäßig Thema der hiesigen Öffentlichkeit: nämlich als Ausweis der mangelnden Rechtsstaatlichkeit anderswo, wenn nicht gar der vollendeten Gewaltherrschaft, die bekanntlich bei den Autokraten zuhause ist. Dabei zielt die Beweisführung immer auf Staaten, die sich deutschen Anliegen verschließen und ihre Interessen „gegen uns“ geltend machen. Jetzt hat der deutsche Staat aber einmal mehr gezeigt, dass er im Umgang mit Kritikern nicht weniger zimperlich ist:

„Bei Tagesanbruch am Mittwoch haben bayrische Strafermittler eine riesige Ausforschungsaktion gestartet, einen Lausch-, Späh- und Wühlangriff mit bundesweiten Ausmaßen. Sie haben Wohnungen aufbrechen lassen, sie haben mit Taschenlampen ins Privateste hineinleuchten lassen, in Schlafzimmer, in Schränke, und sie haben den Menschen, die da im Pyjama vor ihnen standen, zu verstehen gegeben, dass in ihre Privatsphäre eingedrungen wurde und Telefongespräche womöglich mitgehört und abgespeichert wurden.“ (Ronen Steinke, SZ 25.5.2023)

Gegen die Gruppe Letzte Generation werden jetzt alle Register staatlicher Einschüchterung und Terrorisierung aufgefahren, wobei abgeklärte Journalisten gleich erkennen, dass hier mit ungewöhnlicher Robustheit und einer Strapazierung rechtsstaatlicher Regeln ein Exempel statuiert werden soll: „Es ist eine Ermittlungsaktion, die so brachial ist, dass ihre Unverhältnismäßigkeit ins Auge sticht.“ (Steinke, SZ)

Da fragt sich doch glatt, in welchem Verhältnis denn staatliche Gewalt im Umgang mit Kritikern stehen darf, so dass auch Vertreter der Mainstream-Medien aus der Abteilung liberale Bedenkenträger zufrieden sind.

Harmloser Protest?

Von professionellen Kommentatoren wird gerne auf die Harmlosigkeit der Kritik verwiesen, die von der Gruppe Letzte Generation kommt. Sie mahne doch bloß die Einhaltung der Vereinbarungen und Absichtserklärungen der Politiker an, die im Pariser Abkommen eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad beschlossen und in vielen Erklärungen einen Zeitplan verkündet haben, in dessen Rahmen der CO2-Ausstoß reduziert und fossile Brennstoffe ersetzt werden sollen.

Die Kritik der Letzten Generation entzündet sich also an dem Missverhältnis zwischen offiziellen Versprechen und den realen Taten. Worauf die Kritik stößt, ist also nichts Ungewöhnliches. Politiker kennen eben viele wichtige Ziele neben dem Kampf gegen den Klimawandel, so dass sich die Bestrebungen in Sachen Klimaschutz an anderen Aufgaben zu relativieren haben. So verlangt gerade der Wirtschaftskrieg mit Russland, dass zur Versorgung der deutschen Wirtschaft mit billigem Strom der Braunkohleabbau weiter betrieben und die Braunkohlekraftwerke hochgefahren werden, womit sich der CO2-Ausstoß wieder erhöht.

Die konkreten Maßnahmen, die im Bund oder im Land NRW gerade von der grünen Ökopartei mitgetragen, ja forciert werden, machen gleichzeitig deutlich, wie Klimaschutz, den ja alle anstreben, von Seiten der Regierenden verstanden wird. Die Maßnahmen sollen Deutschland bei der Energieversorgung durch Windkraft und Sonnenenergie von anderen Ländern unabhängig und die eigene Wirtschaft zu einem maßgeblichen Exporteur der entsprechenden Technologien machen, so dass die anderen letztendlich in Abhängigkeit geraten. Dieses Ziel bzw. die dazu erforderlichen Umrüstungs- und Transformations-Maßnahmen erscheinen vielen Kritikern – nicht nur in der Letzten Generation – als eine einzige Inkonsequenz in Sachen Klimaschutz.

Insofern sind diejenigen, die der Politik der regierenden Parteien ihre früheren Versprechungen vorhalten und auf deren unbedingte Einlösung drängen, einerseits naiv. Denn sie glauben wirklich, dass es der Politik umstandslos um die Rettung des Planeten ginge und nicht um die Stärkung Deutschlands in der Welt. Und sie liefern einen nicht zu unterschätzenden Vertrauensbeweis für Scholz, Habeck und Co. ab. Andrerseits ist diese Sorte Kritik für die Regierenden lästig, hält sie ihnen doch immer wieder ihre eigenen hehren Ziele vor und untergräbt so den Glauben an ihre Tatkraft und Entschlossenheit. Damit – mit der Beschädigung des kostbarsten politischen Guts, der Glaubwürdigkeit – handeln sich die Kritiker die Gegnerschaft der Regierenden ein.

Die Reaktion der Parteien aller Couleur bis hin zu den Fridays for Future (die sich ja auch als Anwalt des Klimas verstehen) war eine Methodenkritik. Man teile zwar das Ziel der Klimarettung, wurde behauptet, aber die Methoden dieser Gruppe würden nicht dazu beitragen, Unterstützer für das wichtige Anliegen zu finden: „Ich verstehe das Anliegen, ich teile aber nicht die Aktionsform“ (Britta Haßelman, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, SZ, 24.5.2023).

Währenddessen erklärt der Kanzler die Gruppe für „völlig bekloppt“ (SZ, 24.5.2023), weil deren Aktionen den Klimaschutz nicht voranbringen würden. Eine Kritik, die sowohl heuchlerisch als auch verfehlt war und ist: Mit der Behauptung, die Methoden der Straßenblockaden und Schmieraktionen wären kontraproduktiv für die Werbung von Unterstützern für die gemeinsame Sache, die vorangebracht werden soll, wird unterstellt, was gerade nicht der Fall ist, dass es nämlich allen gleichermaßen um die Realisierung der Klimaschutzziele geht. Dabei machen doch die Regierenden gerade deutlich, dass sie andere Prioritäten kennen – siehe die Braunekohleverstromung oder die Nutzung des umweltschädlichen LNG, aber auch die gigantische Umweltverschmutzung durch Aufrüstung und Krieg –, die auf ihrer Agenda ganz oben stehen und mit Milliarden und Abermilliarden zu finanzieren sind.

Verfehlt ist die Kritik deshalb, weil es der Letzten Generation nicht mehr darum geht, aufzuzeigen, dass Klimaschutz notwendig ist. Ihre Aktivisten unterstellen vielmehr im Prinzip bereits die gelaufene Diskussion um die Notwendigkeit der Begrenzung der Erderwärmung – als einen Konsens, der eigentlich allen klar ist. Sie fordern die Konsequenzen aus dieser Diskussion ein. Im Gegensatz zu den Fridays for Future, die mit ihren Schulstreiks auf das Problem der Klimaveränderung hinweisen und die Menschen aufrütteln wollten, um dahin zu kommen, dass sich alle in ihrem Konsumverhalten ändern (so zumindest der Mainstream dieses Protestes und sein Verständnis von „system change“), macht die Letzte Generation einen Unterschied zwischen den Machern der Politik, die alles Wesentliche bestimmen, und den Bürgern, die dazu aufgefordert sind, die Machthaber zur Einhaltung ihrer Versprechen zu zwingen.

Meinungsfreiheit am Limit

Mit ihren Aktionen will die Letzte Generation auf das Missverhältnis zwischen dem Pariser Abkommen inklusive Bundesverfassungsgerichtsurteil, das die Politik auf die Sicherung der Zukunft der jungen Generation verpflichtet hat, und den Taten der Politik hinweisen; die Politiker sollen damit zum Handeln in die entsprechende Richtung, in die sie ja selber gehen wollen, bewegt werden. Mit der Störung des Straßenverkehrs und den Farbaktionen geben sie sich im Gegensatz zu üblichen Demonstrationen nicht damit zufrieden, bloß ihre Unzufriedenheit mit der Politik kundzutun und dann wieder nach Hause zu gehen. Die Störungen sollen über eine unverbindliche Meinungsäußerung hinausgehen, indem sie zur Störung des Alltags werden, auf die die Politik reagieren muss.

Damit überschreitet die Letzte Generation aber die Grenzen der Meinungsfreiheit, nämlich das Recht, das Bürgern zwar erlaubt, ihre Kritik zu äußern, das aber die Kritiker auch dazu verpflichtet, Abstand davon zu nehmen, ihre Kritik durchsetzen zu wollen, in dem Fall also einen buchstäblichen „Druck der Straße“ aufzubauen. Das wäre schließlich eine Einschränkung der Freiheit der Politik, die uneingeschränkt von irgendwelchen Kritikern ihre Entscheidungen nicht nur fällt, sondern auch durchsetzt. Mit ihrem Drängen auf eine andere Politik verstößt die Letzte Generation somit gegen dieses Gebot und begeht einen Rechtsverstoß. Ihre Aktivisten werden daher nicht nur von der Straße gelöst und weggeschleppt, sondern auch bestraft:

„Freiheitsstrafen ohne Bewährung, Präventionshaft, kriminelle Vereinigung – der Staat packt seine Instrumente aus, um den radikalen Protest von der Straße zu räumen.“ (Wolfgang Janisch, SZ, 23.5.2023)

Bei aller Klage über das Vorgehen der Politik und Justiz, weiß auch hier der rechtlich geschulte Journalist, wo die Ursache des Übels anzusiedeln ist: „ Der ‚Letzten Generation‘ gelingt es gerade, Politik und Justiz zur wütenden Überreaktion zu provozieren. So etwas hat dem Staat noch nie gutgetan.“ (Janisch, SZ) Und um letzteren sorgt sich schließlich ein verantwortungsvoller Journalist, der genau weiß, dass sich der Staat einen solchen Protest auf Dauer nicht gefallen lassen darf, und der deshalb einmal das ganze Menschheitsanliegen beiseite lässt und sich in Stilkritik ergeht.

Dass die Letzte Generation Rechtsverstöße begeht und daher bestraft gehört, darin sind sich Politiker wie Medienvertreter einig. Diskussionen beziehen sich dann auf die Einstufung des Rechtsvergehens und auf die Frage, ob man ihm mildernde Umstände zugestehen kann:

„Gerichte verbieten ja nicht jegliche Verkehrsbehinderung – symbolische, kurzfristige Blockaden werden als kommunikativer Akt hingenommen. Wenn die Kleber die Grenzen überschreiten, dann müssen sie mit (Geld-)Strafen wegen Nötigung rechnen; sie wissen was sie tun.“(Janisch, SZ)

Während die einen von Nötigung reden, sprechen die anderen von krimineller Vereinigung. So CSU-Dobrindt: „Eindeutig eine kriminelle Vereinigung“ (Tagesspiegel, 28.5.2023) Der Staat verfügt im Umgang mit Kritikern offenbar über einen großen Interpretations- und Handlungsspielraum, wie sich ja gleichzeitig am Dresdener Antifa-Prozess ablesen lässt, wo ein militanter „Kampf gegen rechts“ (sonst ein ehrenwerter Titel, den das Innenministerium für sich in Anspruch nimmt) auch als Werk einer kriminellen Vereinigung eingestuft wurde.

„Es liest sich wie die Chronik einer unaufhaltsamen Eskalation. Wurde anfangs noch diskutiert, ob die Verkehrsblockaden der ‚Letzten Generation‘ aus Gründen des Klimaschutzes wirklich eine strafbare Nötigung seien, sind nun bereits die ersten Aktivisten zu Gefängnisstrafen ohne Bewährung verurteilt worden. Und inzwischen hält sich hartnäckig die Diskussion, ob man noch einen Schritt weiter gehen sollte. Ob die Klimaschützer als ‚kriminelle Vereinigung‘ einzustufen seien. Bisher ist das freilich eine Sondermeinung im Land Brandenburg…“ (SZ, 20./21.5.2023)

Eskalation ist kein Prozess, der von alleine in Gang kommt. Da muss es schon Leute geben, die eskalieren, auch wenn das liberale Blatt aus München keine Personen kennen will und zum unpersönlichen „man“ greift, das da die Verschärfung diskutiert. Und offenbar gibt es auch hierzulande willfährige Richter, die die Intentionen dieser Diskussion gleich in Urteile umsetzen:

„In München hat man daran gezweifelt, in Stuttgart hat der Generalstaatsanwalt sogar offen kein Geheimnis daraus gemacht, dass er das Vorpreschen der Neuruppiner Juristenkollegen für abenteuerlich halte. Für überzogen. Jetzt aber haben sich in München die Strafverfolger aus der Deckung bewegt und sich erstmals der Position der bislang allein auf weiter Flur stehenden Brandenburger angeschlossen.“ (SZ, 25.5.2023)

Ein Meinungsumschwung, der bekanntlich in eine Razzia gegen die Letzte Generation mündete. Und während private Meinungsänderungen im Wesentlichen folgenlos bleiben, ist dies bei staatlichen Meinungsänderungen nicht der Fall. Wer da meinungsbildend tätig ist, ist auch kein Geheimnis, schließlich sind die Strafverfolgungsbehörden weisungsgebunden. Meist braucht es keine Weisung, weil karrierebewusste Juristen mitbekommen, was die politische Obrigkeit von ihnen erwartet. Schließlich war es ja Herr Dobrindt, der den Vorwurf der kriminellen Vereinigung erhob, und die Frau Ministerin des Innern und der Heimat, Nancy Faser (SPD), betonte, dass der Rechtsstaat sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen dürfe (Die Zeit, 24.5.2023). Das war nichts anderes als ein Aufruf zum Einsatz von Gewalt gegen diese Gruppe.

§ 129 – Protest als Straftat

Mit dem Paragraphen 129 Strafgesetzbuch hat sich der Staat eine Rechtsgrundlage geschaffen, mit der er sehr frei mit unliebsamen Bürgern umgehen kann. Schließlich ist es die Politik, die bestimmt, was Recht ist und was nicht. Sie gibt den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten die Maßstäbe vor, nach denen diese handeln und urteilen sollen. Strafbar macht sich, wer einer Gruppe angehört oder diese unterstützt, die strafbare Handlungen begeht. Dabei hat der Staat sich frei davon gemacht, dem Einzelnen irgendwelche Tatbeteiligung nachzuweisen. Es reicht, dass er irgendwie dazu gehört oder irgendwie unterstützt. Dann drohen Freiheitsstrafen:

„Mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht ist. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine solche Vereinigung unterstützt oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt.“ (§ 129 Strafgesetzbuch – StGB).

Mit der Ermittlung, die jetzt gemäß diesem Paragraphen läuft, wird behauptet, der Gruppe Letzte Generation ginge es nicht um den Klimaschutz, sondern um die Begehung von Straftaten – ganz so, als ob die Störungen des Straßenverkehrs Selbstzweck wären. Die Aktion gegen die Gruppe zeigt aber auch, dass es gar keine Verurteilung braucht, um sie politisch zu erledigen. Es reicht ein Anfangsverdacht:

„Die bayrischen Terrorermittler leiten ihren Verdacht nun aus der Finanzierung der Gruppe und ihren Aktionen her. Die Fahnder werfen den Beschuldigten vor, eine Spendenkampagne zur Finanzierung weiterer Straftaten für die ‚Letzte Generation‘ organisiert zu haben.“ (SZ, 25.5.2023)

Konsequenz war die Beschlagnahme der Konten der Organisation, die Sperrung der Website und die Anklage auch von Mitgliedern, die sich nicht an Aktivitäten beteiligt hatten. Zudem setzte die Staatsanwaltschaft eine Drohung ins Netz: „Achtung: Spenden an die Letzte Generation stellen mithin ein strafbares Unterstützen der kriminellen Vereinigung dar!“ (SZ, 26.5.2023)

Auch wenn diese Drohung bald zurückgezogen wurde, steht sie im Raum und dokumentiert den Versuch, der Letzten Generation die finanzielle Unterstützung abzuschneiden. Mit der Beschlagnahme der Konten, Rechner und Akten, der finanziellen Austrocknung soll der Gruppe verunmöglicht werden, ihre politischen Aktivitäten aufrecht zu erhalten. Schließlich wird ihr damit die materielle Grundlage bestritten, Geld für Räume, Materialien usw. weggenommen. Und das für die Dauer der Ermittlungen. Das veranlasste einen Frankfurter Strafrechtsprofessor zu der Aussage: „Das ist ein klarer Einschüchterungsversuch. Rechtlich funktioniert das leider.“ (Matthias Jahn, SZ 26.5.2023)

Dabei ist Einschüchterungsversuch eine harmlose Umschreibung für das, was da mit den Kritikern der aktuellen Klimapolitik geschieht, schließlich wird ihnen physisch und materiell die Grundlage ihrer politischen Arbeit bestritten, sie persönlich werden mit Gefängnisstrafen bedroht und ihre bürgerliche Existenz vollends ruiniert. Das Ganze zeigt Wirkung, auch ohne Prozess und förmlich erhobene Anklage; das eilt jetzt auch gar nicht. Schließlich ist von Seiten der Politik erreicht, was sie wollte, und da spielt es keine Rolle mehr, ob es später einmal zu einer Verurteilung kommt oder nicht.

Urheberrecht
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Oben       —       Aktivistinnen vom Aufstand der letzten Generation isuchen den Klimakanzler Olaf Scholz bei einer Ölaktion vor dem Bundeskanzleramt, Berlin, 09.07.22 Activists from the last generation uprising in Chancellor Olaf Scholz costumes spill oil in front of the Federal Chancellery

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Rezzo Schlauch sagt Maßlos

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Juni 2023

Die Justiz gegen die Letzte Generation

Von Gastautor Rezzo Schlauch

Rezzo Schlauch, Rechtsanwalt und Grüner seit mehr als 40 Jahren, ist kein Fan der Letzten Generation. Aber die Einstufung als kriminelle Vereinigung und Gefängnis fürs Festkleben hält er für einen Skandal. Vor allem verglichen mit den Strafen, die Betrüger von Autokonzernen für Milliarden-Schäden an der Gesellschaft kassieren.

Im nachfolgenden Beitrag geht es mir nicht um die Frage, ob die Straßenblockaden mit Ankleben der Letzten Generation eine strafbare Nötigung nach §240 Strafgesetzbuch (StGB) sind oder nicht. Es geht auch nicht um die Sinnhaftigkeit dieser Aktionen (ich persönlich halte diese im politischen Kampf gegen den Klimawandel für kontraproduktiv). Es geht ausschließlich um die in den vergangenen Wochen gegen die Klima-Aktivisten eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen und um einzelne völlig überzogene Urteile.

Ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung nach §129 StGB der brandenburgischen Staatsanwaltschaft in Neuruppin war seit Dezember 2022, mithin über fünf Monate, ein Solitär in der Strafverfolgung gegen die Klima-Aktivisten. Und konnte deshalb auf das Konto eines möglicherweise politisch übermotivierten Provinzstaatsanwaltes gebucht werden.

Dies umso mehr, als gewichtige Staatsanwaltschaften wie die Generalstaatsanwaltschaften Stuttgart und Berlin und auch andere Staatsanwaltschaften bundesweit dieser Auffassung nicht gefolgt sind. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat sogar die Strafanzeige eines eifernden CDU-Abgeordneten des Berliner Abgeordnetenhauses wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung mit ausführlicher Begründung abgewiesen. Unter anderem mit der Feststellung, es fehle der Letzten Generation am erforderlichen Gewicht.

Rechtsstaatliche Sicherungen durchgebrannt

Dann aber, fünf Monate nach diesem Auftakt, holte die Generalstaatsanwaltschaft München den ganz großen Knüppel aus dem Sack der Strafprozessordnung. Sie beauftragte zusammen mit dem LKA die „Bayrische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus“, um eine großangelegte Aktion gegen die Letzte Generation durchzuführen. 170 martialisch uniformierte und schwer bewaffnete Polizisten durchsuchten 15 Wohnungen in sieben Bundesländern und beschlagnahmten Dokumente, Konten und Vermögensgegenstände.

Parallel dazu wurde die Webseite der Letzten Generation gekapert, auf das bayrische LKA umgeleitet und der unzweideutige Hinweis platziert, bei der Letzten Generation handele es sich um eine kriminelle Vereinigung nach §129 StGB. Zudem wurde vor Spenden gewarnt, dies stelle ebenfalls eine strafbare Unterstützung einer kriminellen Vereinigung dar. Auch wenn die Generalstaatsanwaltschaft später zurückruderte, den Eintrag korrigierte und lediglich von einem Anfangsverdacht sprach: Dieses skandalöse Vorgehen zeigt, dass den staatsanwaltlichen Akteuren im Verbund mit der Antiterror-Abteilung des LKA sämtliche juristische und rechtsstaatliche Sicherungen durchgebrannt sind und sie sich im rechtsfreien und damit rechtswidrigen Raum bewegten.

Zum Vorliegen des Tatbestands einer kriminellen Vereinigung, die man gemeinhin mit der Mafia oder gewalttätigen rechtsradikalen Gruppierungen assoziiert, bedarf es zweier grundlegender Voraussetzungen. Nämlich: Zum einen müssen sich Menschen zusammenschließen mit dem vorrangigen Zweck, Straftaten zu begehen. Zum anderen muss von ihnen eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wie der BGH es formuliert hat.

Die Letzte Generation hat sich zusammengeschlossen, um der Regierung in Sachen Klimaschutz ihre Defizite und ihre Langsamkeit aufzuzeigen und ihr Beine zu machen. Mit Forderungen unter anderem nach einem Tempolimit und einem bundesweit gültigen 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Verkehr.

Dazu führt sie Gespräche mit Politikern, mit Bürgermeistern und Ministern, beispielsweise mit Verkehrsminister Volker Wissing (FDP). Sie organisiert Veranstaltungen, ihre Sprecher treten in Talkshows auf. Und ja, sie begehen auch Straftaten, wenn man Straßenblockaden mit oder ohne Ankleben als strafbare Nötigung bewertet, wie es bislang in der Mehrheit der Urteile geschieht.

Es gehört schon eine massiv von politischen Interessen geleitete Interpretation dazu und hat wenig mit einer nüchternen juristischen Auslegung des Straftatbestands zu tun, wenn dieses Bündel von Zielen, Zwecken und unterschiedlichen Aktivitäten der Klima-Aktivisten als Zusammenschluss mit dem vorrangigen Zweck zur Begehung von Straftaten eingeordnet wird, um eine kriminelle Vereinigung zu konstruieren.

49 Stunden im Stau – ohne Blockaden

Noch abwegiger wird es, wenn aus der Tatsache, dass eine überschaubare Anzahl von Autofahrern für eine überschaubare Zeitdauer durch die Blockaden gezwungen wird im Stau zu stehen, eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Ordnung abgeleitet wird. Der durchschnittliche Autofahrer steht bundesweit 30 Stunden, in Berlin 40 und in München 49 Stunden im Jahr im Stau. Ohne jede Behinderung durch Klima-Aktivisten, allein durch das normale Verkehrsaufkommen, Baustellen, Unfälle und so weiter.

Quelle       :           KONTEXT-Wochenzeitung-online         >>>>>         weiterlesen

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Vom Prozess gegen Lina E.

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Mai 2023

Hieß Antifa für sie Angriff?

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Aus Dresden von Konrad Litschko

Der Leipziger Autonomen Lina E. und drei Mitangeklagten werden Angriffe auf Neonazis vorgeworfen, nun soll das Urteil fallen. Es drohen harte Strafen.

m vergangenen Mittwoch ergreift Lina E. doch noch einmal das Wort. Fast den gesamten Prozess hatte die 28-jährige Studentin geschwiegen. Nun fragt Richter Hans Schlüter-Staats reihum, ob sie oder ihre drei Mitangeklagten zum Prozessende noch letzte Worte sprechen wollen. Alle verneinen – außer Lina E.

„Ich werde nichts zu den Vorwürfen sagen“, beginnt die Frau mit dem Dutt und dem grauen Pullover. Aber sie wolle sich bedanken. Bei ihren Eltern, ihren „starken Omis“, ihren Anwälten und ihren Freunden, die ihr in der Haft schrieben, sie besuchten, „unermüdlich“ den Prozess begleiteten.

Sie liest die Worte aus einem blauen Hefter ab, ihre Stimme stockt. „Mein letztes Wort in diesem Prozess soll ‚Danke‘ sein.“ Dann schweigt Lina E. wieder. Und unter den Zuhörenden im Saal bricht Applaus aus. Der Richter kann ihn nur mühsam beenden.

Einmal noch wird Lina E. nun das Hochsicherheitsgebäude des Oberlandesgerichts Dresden betreten, hinter Sicherheitsglas, begleitet von Justizwachleuten – am kommenden Mittwoch. So wie 98 Prozesstage zuvor. Und wieder werden im Publikum ihre Mutter und Un­ter­stüt­ze­r:in­nen sitzen. Und diesmal dürfte es noch lauter werden. Dann, wenn das Gericht sein Urteil gegen sie und die anderen drei sprechen wird. Es wird wohl keine Freisprüche geben.

Seit September 2021 wird in Dresden gegen Lina E. und die drei Mitangeklagten verhandelt – drei junge Autonome aus Berlin und Leipzig, Jannis R., Lennart A. und Philipp M., alle drei bisher auf freiem Fuß. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen die Bildung einer kriminellen Vereinigung und sechs schwere Angriffe auf Rechtsextreme auf, verübt zwischen 2018 und 2020 in Leipzig, Wurzen und Eisenach.

Lina E. sei die „Rädelsführerin“ gewesen. Schon vor zweieinhalb Jahren wurde sie in ihrer Wohnung in Leipzig-Connewitz verhaftet, sitzt seitdem in der JVA Chemnitz in U-Haft – wo auch die NSU-Terroristin Beate Zschäpe einsitzt.

Es gibt derzeit keinen anderen Prozess in Deutschland, der politisch so aufgeladen ist. Es sind die schwersten Vorwürfe gegen die linksradikale Szene seit Jahren. Lina E. und die drei Mitangeklagten schweigen dazu bis heute. Die Bundesanwaltschaft wirft dem Quartett „potenziell lebensgefährliche Gewalt“ vor, fordert bis zu acht Jahre Haft. Die Verteidiger sehen dagegen eine „politische Justiz“ und einen „unbedingten Verfolgungseifer“, sie wollen weitgehend Freisprüche.

Und die linksradikale Szene ruft für den Samstag nach der Urteilsverkündung zu einem „Tag X“ und einer Großdemonstration nach Leipzig und in andere Städte, um ihre Wut über die erwarteten Haftstrafen auf die Straßen zu tragen. Für sie ist Lina E. längst eine Symbolfigur, der Slogan „Free Lina“ omnipräsent.

Die Staatsmacht lässt keinen Zweifel daran, wie ernst sie dieses Verfahren nimmt. Bereits Ende 2019 gründete das sächsische LKA eine „Soko LinX“, um nach Angriffen und Brandanschlägen der autonomen Szene endlich Täter zu ermitteln. Die Verhaftung von Lina E. ein Jahr später war ihr größter Erfolg, den Fall übernahm die Bundesanwaltschaft. Mit einem Helikopter wurde die Studentin zum Haftrichter nach Karlsruhe geflogen. Es folgten weitere Durchsuchungen, inzwischen rechnet die Bundesanwaltschaft rund 15 Beschuldigte der Gruppe um Lina E. zu.

In Dresden wird wie in einem Terrorprozess verhandelt: mit Polizeischutz, peniblen Besucherkontrollen, Hubschrauber über dem Gebäude, maskierten Polizeizeugen. Die Richter und die Oberstaatsanwältin sollen unter Polizeischutz stehen. Von einem „polizeilichen Popanz“ spricht die Verteidigung.

Im Saal wurde nun seit anderthalb Jahren über Indizien gerungen – die attackierten Rechtsextremen und Zeugen konnten bis zum Schluss die vermummten Angreifer nicht identifizieren. Aber Lina E. war im Dezember 2019 nach einem Angriff auf den rechts­extre­men Kampfsportler und Kneipenwirt Leon R. in Eisenach in einem Fluchtauto gefasst worden, zusammen mit Lennart A. Es war der VW Golf ihrer Mutter, die Kennzeichen lagen noch auf der Rückbank. Ein zweites Fluchtauto wurde später in Hessen gestoppt.

Zuvor schon war in Leipzig der frühere NPD-Mann Enrico B. niedergeschlagen worden, ebenso wie der Kanalarbeiter Tobias N., der eine rechtsextreme Mütze trug. In Wurzen traf es den Rechtsextremen Cedric S. und später eine sechsköpfige Neonazigruppe, die von einem Aufmarsch in Dresden zurückkehrte. In Eisenach wurde gleich zweimal der Szenekader Leon R. attackiert. Nur einen Tag vor dem zweiten Angriff war Lina E. in einem Baumarkt erwischt worden, wie sie zwei Hämmer klaute. Die Rechtsextremen wurden teils mit Hämmern und Schlagstöcken angegriffen, erlitten Platzwunden und Knochenbrüche. Tobias N. musste eine Metallplatte ins Gesicht eingesetzt werden.

Oberstaatsanwältin Alexandra Geilhorn sprach im Prozess von „massiver Gewalt“ und einem „außergewöhnlichen Maß an krimineller Energie“. Lina E. sei mit ihrem seit drei Jahren untergetauchten Verlobten Johann G. die „treibende Kraft“ der Gruppe gewesen, bei jeder Tat dabei. Sie habe Opfer mit ausgewählt, Fluchtautos gestellt, Kommandos gegeben. Auch die drei Mitangeklagten hätten sich an einzelnen Übergriffen und der kriminellen Vereinigung beteiligt.

Es sind Vorwürfe, die Lina E. und den Mitangeklagten die härtesten Strafen seit Jahren gegen Linksradikale einbringen könnten. 2009 war die „militante gruppe“ (mg) für Brandanschläge zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Nun sollen es nach Willen der Bundesanwaltschaft weit mehr werden.

Lina E. verfolgte den Prozess gelassen, zumindest äußerlich. Auch am vergangenen Mittwoch kommt sie morgens lächelnd in den Saal, winkt ihrer Mutter zu, verteilt Luftküsse. Die Un­ter­stüt­ze­r:in­nen im Saal begrüßten sie schon zu Prozessbeginn mit stehendem Applaus, bis heute erheben sie sich, wenn sie den Raum betritt, klopfen anerkennend auf Stühle, wenn die Ver­tei­di­ge­r:in­nen die Anklage oder das Gericht kritisieren – bis Richter Schlüter-Staats sie zur Ruhe ruft. Während der Verhandlung hört Lina E. aufmerksam zu, ab und an macht sie sich mit Bleistift Notizen.

Nur einmal hatte sich Lina E. zuvor zu Wort gemeldet. Im Oktober 2022, Prozesstag 72, schilderte sie ihren Lebenslauf. Ihre Jugend in Kassel, die Mutter Erzieherin, der Vater Oberstudienrat. Ihr Wunsch, Sozialpädagogin zu werden, ihre Arbeit mit beeinträchtigten Kindern, das Studium der Erziehungswissenschaften in Halle. Ihre Bachelorarbeit schrieb sie zum Umgang mit Rechtsextremen in der Jugendarbeit, am Beispiel des NSU in Jena-Winzerla. Über ein Buch zum NSU sei sie auf das Thema „akzeptierende Jugendarbeit“ gestoßen, erklärte Lina E. den Richtern.

Was sie nicht sagte: Dass der NSU 2006 auch in ihrer Heimatstadt Kassel mordete, ein Verfassungsschützer war mit am Tatort. Fünf Jahre später flog die Terrorserie auf. Sie soll Lina E. laut Bekannten politisiert haben.

Bisher hat sie keine Vorstrafen. In der Haft arbeite sie nun als Tischlerin, erzählte Lina E. den Richtern. Ihr Anwalt ergänzte später, wie sie dort mit einer Rheumaerkrankung kämpfe. Vom Bild der militanten Autonomen war in diesem Moment nichts zu erkennen.

Oberstaatsanwältin Alexandra Geilhorn aber verwies im Prozess auf die Festnahme von Lina E. nach dem Eisenacher Überfall – und auf ihr konspiratives Verhalten. In ihrer Wohnung fanden Ermittler einen gefälschten Ausweis, Perücken und elf Handys, die meisten davon in einem Stoffbeutel an der Wohnzimmertür. In einer Box auf einem Leipziger Dachboden, den Ermittler für das Depot der Gruppe halten, entdeckten sie Hämmer, Schlagstöcke und weitere Handys – und DNA-Spuren von Lina E. und anderen Beschuldigten.

Immer wieder verwies die Oberstaatsanwältin auf Lina E.s Partner Johann G., von dem sich am Eisenacher Tatort Blutspritzer fanden und der auch bei anderen Taten dabei gewesen sein soll. Die Verteidiger wiesen brüsk zurück, dass dann immer auch Lina E. dabei gewesen sei. Das sei eine haltlose „Bonnie-&-Clyde-Logik“.

Zwar wollen einige Zeugen unter den vermummten Angreifern eine Frau ausgemacht haben. Lina E. identifizieren konnte aber niemand. Der Eisenacher Leon R. meinte, sie nachträglich an der Stimme erkannt zu haben. Aber auch das blieb fraglich. So blieben die zentralen Fragen: Sitzen hier die Richtigen auf der Anklagebank? Waren sie an allen Taten beteiligt? Gab es tatsächlich eine feste Gruppe?

Gerade die Aussagen Leon R.s sind mit Vorsicht zu genießen: Im April 2022 wurde er selbst mit drei Gesinnungskameraden festgenommen, ebenfalls im Auftrag der Bundesanwaltschaft. Der Vorwurf auch hier: Bildung einer kriminellen Vereinigung. Leon R.s Eisenacher Kampfsporttruppe „Knockout51“ verübte in der Region schon seit Jahren Gewalttaten, wollte einen „Nazikiez“ errichten. Vermeintlich Linke und Polizisten wurden attackiert, nach den Angriffen auf sich soll Leon R. auch die Tötung von Linksextremen als Ziel ausgegeben haben. Als ein Eisenacher Zeuge über Knockout51 im Lina-E.-Prozess aussagte, wurde ihm später von Leon R.s Bekanntem die Nase gebrochen.

Auch ein zweiter angegriffener Rechtsextremer – der Leipziger Enrico B. – wurde zwischenzeitlich von der Bundesanwaltschaft festgenommen, auch hier unter dem Verdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Der Leipziger Cedric S. wiederum hatte sich 2016 an einem Überfall von 250 Rechtsextremen auf den Leipziger Alternativstadtteil Connewitz beteiligt.

Wiederholt beklagten die Verteidiger im Prozess, dass die Bundesanwaltschaft diese rechtsextreme Gewalt ausblende. „Der gesellschaftliche Kontext wird von der Bundesanwaltschaft vollständig negiert“, schimpfte Lina E.s Verteidiger Ulrich von Klinggräff. Das antifaschistische Motiv könne man daher ja auch strafmildernd sehen.

Stattdessen habe die Bundesanwaltschaft mit „unfassbarer Einseitigkeit“ ermittelt und nur Belastendes zusammengetragen, so von Klinggräff. „Im Zweifel gegen die Anklagten.“ Die geforderten Haftstrafen seien „maßlos“. Das harte Vorgehen gegen Lina E. stehe in Kontrast mit milden Urteilen gegen Rechts­ex­tre­me. Das stimmt in vielen Fällen – allerdings wurde im gleichen Gerichtssaal auch die rechtsextreme Gruppe „Freital“ als Terrorgruppe zu Haftstrafen bis zu zehn Jahren verurteilt.

Die Verteidigung kritisierte, dass die Bundesanwaltschaft den gesellschaftlichen Kontext ausblende – die rechtsextreme Gewalt

Monatelang rang der Prozess mit Indizien. Über eine DNA-Spur auf einer Plastiktüte, die in Teilen zu Lina E. passt und sich am Tatort beim einstigen NPD-Mann Enrico B. fand. Sachverständige waren sich über die Aussagekraft uneins, die Bundesanwaltschaft hält sie für verwertbar, die Verteidigung nicht.

Oder über Fotos vom Fußballplatz von Cedric S., die auf einer Kamera von Li­na E. gefunden wurden. Unklar, so die Verteidigung, ob diese wirklich die 28-Jährige gemacht hatte. Über Videoaufnahmen aus einer Regionalbahn vor dem Angriff auf die Neonazis in Wurzen, die Lina E. zeigen sollen. Aber beweisen sie auch eine Ausspähung? Über ein abgehörtes Gespräch, in dem Johann G. über den Angriff auf den Kanalarbeiter Tobias N. sagt, „das waren wir“. Auch das halten die Verteidiger für mehrdeutig: Das „Wir“ könne etwa auch „die Connewitzer“ bedeuten.

Zudem konnten zwei Mitangeklagte Alibis präsentieren. Mittels Handydaten konnte Jannis R. nachweisen, dass er beim ersten Eisenacher Angriff in Leipzig war. Philipp M. konnte auf gleichem Weg nachweisen, dass er sich damals in einer Berliner Kneipe befand. Seine Verteidiger warfen der Bundesanwaltschaft vor, das gewusst und in der Anklage bewusst vorenthalten zu haben. Diese Alibis gestand die Bundesanwaltschaft ein – sonst aber blieb sie bei ihrer Anklage, forderte auch für die Mitangeklagten bis zu knapp vier Jahre Haft.

Oberstaatsanwältin Geilhorn räumte ein, dass es „keine Smoking Gun“ gebe, keinen eindeutigen Beweis. Zusammengenommen würden alle Indizien aber das Bild der kriminellen Vereinigung bestätigen und Lina E. und die anderen überführen. Sie berief sich auch auf einen Kronzeugen: Johannes D.

Der 30-Jährige gehörte zur weiteren Gruppe um Lina E, bis ihn die Szene im Herbst 2021 als „Vergewaltiger“ öffentlich verstieß und er sein Schweigen brach. Im Juli 2022 saß Johannes D. dann im Gerichtssaal, großgewachsen, im blauen Hemd, streng abgeschirmt von sechs Personenschützern. Zuvor hatte er elf Tage lang beim sächsischen LKA ausgesagt – ein Jackpot für die Behörden. Nun belastete er auch vor Gericht Lina E. und ihren Partner Jo­hann G. Diese hätten die Gruppe zusammengehalten, Trainings und Leute für Angriffe organisiert. Aus einem „flexiblen Geflecht“ von Autonomen aus mehreren Städten sei dafür rekrutiert worden, immer wieder nannte D. Namen. Ziel sei es gewesen, die Neo­nazis „psychisch zu brechen“. Er selbst räumte ein, beim zweiten Angriff in Eisenach dabei gewesen zu sein, als Späher. Nur: Den eigentlichen Angriff bekam er nicht mit – und auch keine andere der angeklagten Taten.

Die Verteidiger warfen dem Kronzeugen deshalb reine Spekulationen vor. Eine Frau im Publikum rief ihm zu: „Du hast uns alle verraten! Du wirst einsam sterben, Johannes!“ Lina E. und die Mitangeklagten verfolgten D.s Aussagen kommentarlos, zunächst. Dann wollte ein Mitangeklagter zu einer gemeinsamen Erklärung ansetzen, wurde aber von Richter Schlüter-Staats unterbrochen – er dulde keine politischen Erklärungen. Der Text wurde daraufhin im Internet veröffentlicht. Zu Johannes D. gebe es „viel zu sagen“, heißt es darin. Man wolle aber lieber „über die gesellschaftliche Realität rechter Gewalt sprechen, die antifaschistisches Engagement notwendig macht“. Rechter Terror, AfD-Wahlerfolge, rechts­offene Coronaproteste, Neonazi-Übergriffe, „nicht zuletzt in Eisenach“. Dagegen hätten „alle Formen antifaschistischer Arbeit ihre Berechtigung“.

Quelle       :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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FREIRAUM FÜR PROJEKTE

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Mai 2023

Hausdurchsuchung im Projekthaus Amsel44 in Wolfsburg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von      :     Von Amsel 44

Die Repressionswelle gegen die Klimabewegung geht weiter. Am Donnerstag hat die Polizei in Wolfsburg das Offene Projekthaus Amsel 44 in Abwesenheit durchsucht. Laut einer Nachfrage der Lokalpresse bei der Polizei Wolfsburg begründet sich die Maßnahme auf Ermittlungenverfahren wegen mutmaßlicher Graffitis in Wolfsburg und die mutmaßliche Nutzung eines VW-Logos auf einem Flyer.

Sascha Bachmann, Aktivist aus dem Projekthauses Amsel 44, sagt: „Solch grundrechtsverletzende und unverhältnismäßige Maßnahmen wegen Lappalien zeigen ganz klar, dass es nicht um Strafverfolgung, sondern um gezielte Ausschnüffelung, Ausforschung und Einschüchterung von Klimainitiativen geht.“

Seit fast einem Jahr organisieren Aktivist*innen in und um Wolfsburg eine spektakuläre Kampagne mit dem Ziel, Wolfsburg zu einer Verkehrswendestadt umzubauen und das Volkswagen-Stammwerk zu einem gemeinwohlorientierten Kollektivbetrieb umzubauen, in dem Straßenbahnen produziert werden. Das ist dem wirtschaftlich-staatlichen Komplex offenbar ein Dorn im Auge.

„Der Volkswagen-Konzern dominiert die Region Südostniedersachsen, die Stadt Wolfsburg fungiert als Bettvorleger des Konzerns, Polizei und Justiz agieren – wie man an der Durchsuchung sieht – als verlängerter Arm des Autoherstellers. Diese Aktion zeigt wieder wie wichtig es ist, den Filz zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei und Volkswagen zu entflechten, die momentan einer mafiösen Struktur näher kommen als einem demokratischen Staatsapparat“, so Sascha Bachmann.

Die Hausdurchsuchung reiht sich in die unverhältnismäßigen Repressionen der letzten Wochen ein. „Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiter verfolgt. Sie müssen geschützt werden und wir brauchen sie jetzt mehr denn je«, sagte der Sprecher von Uno-Generalsekretär António Guterres, Stephane Dujarric, in New York angesichts der Versuche des deutschen Staates, Umweltschutzorganisationen zu kriminalisieren.

Urheberrecht
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Die Menschenrechtsliga

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Mai 2023

GRUNDRECHTE-REPORT 2023 der Öffentlichkeit vorgestellt

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Internationale Liga für Menschenrechte

Heute, am 23. Mai 2023, dem Tag des Grundgesetzes, wurde der diesjährige „Grund­rechte-Re­port. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ im Haus der Demokratie in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt.

Der 27. Grundrechte-Report wirft unter dem Titel „Krieg, Klima, Krise“ einen Blick auf die aktuellen Gefährdungen der Grundrechte und zentraler Verfassungsprinzipien an­hand konkreter Fälle des Jahres 2022. Der Report analysiert und kritisiert Entschei­dun­gen von Parlamenten, Behörden und Gerichten, aber auch von Privatunternehmen.

Hierzu gehören für das Jahr 2022 grundrechtliche Auswirkungen der Maßnahmen an­läss­lich des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und die wachsende Armut in Deutschland. Darüber hinaus werden im Report tödliche Polizeigewalt, rassistische Poli­zeikontrollen und Grundrechts­ver­letzungen an geflüchteten Menschen thematisiert so­wie Einschnitte in die informationelle Selbstbestimmung und Probleme in der deutschen Justiz besprochen.

Susanne Baer, ehemalige Richterin des Bundesverfassungsgerichts und Professo­rin für Öf­fent­liches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin, präsentierte den Grundrechte-Report in diesem Jahr: „Der Krieg in der Ukraine, die wirtschaftliche Lage, die viele Menschen belastet, und die Klimakrise fordern Politik und Gesellschaft – und sie fordern auch die Grundrechte heraus. Gerade wenn es eng wird, kommt es auf diese Rechte an. Der Grundrechte-Report deckt da Probleme auf. (…) Klar ist jedenfalls: Grund­rechtsfragen gehen alle an – und um überzeugende Antworten müssen wir ringen“.

Simon Lachner, Aktivist der „Letzten Generation“, berichtete bei der Pressekon­ferenz von seinen Erfahrungen mit dem staatlichen Umgang mit Aktionen der Klimaak­tivist*innen. Er sagt: „Wie die Engagierten bei der Letzten Generation vom Rechtsstaat behandelt werden ist teils erschreckend. Immer wieder sehe ich meine Freunde, wie sie mit Schmerzgriffen von der Straße gezerrt werden oder in die Justizvollzugsanstalt ge­sperrt werden – teils ohne Gerichtsverfahren, sondern auf Grundlage des Polizeiauf­ga­bengesetzes in Bayern. Auch ich war für zwei Nächte in der Justizvollzugsanstalt in München.“

Benjamin Derin, Rechtsanwalt und Mitglied des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte­vereins e.V. (RAV), resümiert stellvertretend für die gesamte Redaktion des Grund­rechte-Reports: „Ob staatliche Überwachung, Ausweitung von Straf- und Polizei­gesetzen oder Abbau von sozialen Sicherungen, wir weisen immer wieder darauf hin, wo die Grundrechte in Gefahr sind. Teile von Staat und Politik scheinen aber umgekehrt die Grundrechte mancher Menschen als Gefahr zu betrachten. Das Beharren auf diesen Rechten ist deshalb ein wichtiger Teil des Einsatzes für eine freiheitliche und soziale Gesellschaft für alle.“

Seit 1997 widmet sich der Grundrechte-Report der Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Als »alternativer Verfassungsschutzbericht« dokumentiert er die vielfachen Bedrohungen, die von staatlichen Institutionen für diese Rechte ausgehen. Der aktuelle Report nimmt mit dem Jahr 2022 unter anderem die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine, die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und die intensivierten Auseinandersetzungen um den  Klimawandel in den Blick. Zu den rund 40 behandelten Themen gehören daneben auch die Versammlungsfreiheit, Überwachungsmaßnahmen durch Polizei und Geheimdienste, die Kriminalisierung von Armut, menschenrechtswidrige Abschiebungshaft und die Entwicklungen um das Abtreibungsverbot in Deutschland.

  • Grundrechte-Report 2023 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland (FISCHER Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M.),
    Juni 2023, ISBN 978-3-596-70882-6, 224 Seiten, 14.00 Euro / http://www.grundrechte-report.de/2023/
  • Herausgegeben von: Rolf Gössner, Rosemarie Will, Britta Rabe, Benjamin Derin, Wiebke Judith, Sarah Lincoln, Lea Welsch, Rebecca Militz, Max Putzer, Rainer Rehak.
  • Der Grundrechte-Report ist ein gemeinsames Projekt von: Humanistische Union, verei­nigt mit der Gustav Heinemann-Initiative • Bundesarbeitskreis Kritischer Juragrup­pen • Internationale Liga für Menschenrechte • Komitee für Grundrechte und Demokratie • Neue Richtervereinigung • PRO ASYL • Republikanischer Anwältinnen-und Anwälte­ver­ein • Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen • Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verant­wor­tung • Gesellschaft für Freiheitsrechte
  • Inhaltsverzeichnis und Vorwort („Krieg, Klima, Krise“): https://www.book2look.com/book/9783596708826
    Info zur Präsentation des „Grundrechte-Reports“: http://www.grundrechte-report.de/2023/praesent/
  • Bezugsmöglichkeiten: Das Buch ist ab sofort über den Buchhandel oder die Webseite der Herausgeber zu beziehen (http://www.grundrechte-report.de/quermenue/bestellen/ ).
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Unten      —       Ceremony for the conferment of the Carl von Ossietzky Medall 2014 to Edward SnowdenLaura Poitras and Glenn Greenwald. Opening Speech by ILMR President Fanny-Michaela Reisin.

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Vereint im Schwulenhass

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Mai 2023

LGBTQ-Feindlichkeit in Belarus

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Ein Debattenbeitrag von Alexander Friedmann

Lukaschenko folgt Putin in seinem Feldzug gegen Homosexualität und sexuelle Vielfalt. Beiden dient die antiwestliche Propaganda zur Machtsicherung.

Seit Ende März steht Belarus wieder mal im Mittelpunkt der internationalen Öffentlichkeit. Dort sollen russische taktische Atomwaffen stationiert werden. Wie konkret die Pläne sind, ist umstritten. Fest steht: Um die im Westen verbreiteten Ängste zu schüren, arbeitet sich der belarussische Machthaber und Putin-Vertraute Alexander Lukaschenko am Thema Atomwaffen ab. Mal bringt er sich als Visionär ins Spiel, der die Atomwaffen am liebsten vernichten würde, mal stellt er die Stationierung strategischer Atomwaffen in Belarus in Aussicht und räumt sich das Mitspracherecht bei einem Einsatz russischer Raketen ein.

Lukaschenkos abenteuerliche Atom-Rhetorik macht die westliche Öffentlichkeit rat- und fassungslos. Die Tatsache, dass Lukaschenko in diesem Kontext auch radikale antiwestliche Parolen verbreitet, mit liberalen Werten abrechnet und seine Homophobie explizit zur Schau stellt, wird übersehen. Handelt es sich dabei um spontane Entgleisungen eines unverbesserlichen Schwulenhassers oder steckt dahinter vielmehr ein ideologisches Bekenntnis zu Putins Russland und vor allem eine perfide Strategie der Machtsicherung?

Bei seiner Ansprache an die Nation am 31. März stellte Lukaschenko seine Sicht auf Homosexualität dar: Wenn eine Frau eine gleichgeschlechtliche Beziehung führe, seien Männer daran schuld, denn sie hätten versagt. Für die männliche Homosexualität gebe es hingegen keine Entschuldigung. Diese sei eine verachtenswerte Perversion, deren „Propaganda“ nicht akzeptabel sei. Bei schwulen Männern in höheren Ämtern sei grundsätzlich Vorsicht geboten; ihre Tätigkeit im belarussischen Machtapparat sei zwar nicht zu beanstanden, sie würden sogar „besser“ als „normale Männer“ arbeiten. Als Staatschef wisse er jedenfalls genau, wer in seinem Umfeld homosexuell sei. Konkrete Namen? Diese würde er nicht nennen, noch nicht.

Von schwulenfeindlichen Ressentiments aus der Sowjetzeit geprägt, kommt Lukaschenkos Auftritt beim anwesenden Publikum – die gesamte Elite des Regimes – gut an. Es wird gelacht. Der Staatschef erntet Applaus.

In puncto Schwulenhass ist Lukaschenko ein Wiederholungstäter. Aus seiner homophoben Einstellung hat er nie einen Hehl gemacht. Seine an den früheren Bundesaußenminister Guido Westerwelle gerichtete Bemerkung „lieber Diktator als schwul“ sorgte in den früheren 2010er Jahren für Schlagzeilen. Heute gehört Belarus zu Europas LGBTIQ+-feindlichsten Ländern.

Im Gegensatz zu Russland, wo die homophobe Rhetorik gesetzliche Verbote der „Homo-Propaganda“ flankierte, sah Minsk allerdings lange Zeit von derartigen, im Westen scharf kritisierten Maßnahmen ab, aus pragmatischen Gründen. Als sich Belarus und die EU in der zweiten Hälfte der 2010er angenähert hatten, griff der Machthaber das heikle Thema nicht mehr auf. Der Propaganda-Knüppel „Schwulenhass“ wurde allerdings im Kontext der demokratischen Proteste in Belarus 2020 wieder ausgepackt. Das Regime orientiert sich dabei an Russland, das homophobe Narrative verbreitet und seinen Einfluss im Nachbarland ausbaut.

Seit den späten 2000er Jahren predigt Wladimir Putin den „russischen Sonderweg“, setzt auf die gesellschaftliche Konsolidierung auf Grundlage traditioneller „russischer Werte“ und treibt die „Entwestlichung“ Russlands voran. Im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine verstärkten sich diese Tendenzen erheblich.

Die liberalen demokratischen Werte werden inzwischen als „nicht russisch“ zurückgewiesen und mit der verachteten Homosexualität in Verbindung gebracht. Der von Moskau behauptete Untergang der westlichen Zivilisation wird nicht zuletzt auf einen offenen Umgang mit der Homosexualität zurückgeführt. Die Vorherrschaft von Homosexuellen im Westen wird suggeriert. Der Hass gegen LGBTIQ+-Menschen ist virulent und Gewaltangriffe werden stillschweigend geduldet. Von einer Kriminalisierung homosexueller Beziehungen wie in der UdSSR ist zwar noch keine Rede, man will jedoch Homosexualität als „Krankheit“ oder „Perversion“ aus der Öffentlichkeit verdrängen.

Der Kreml ist bemüht, sich zum Vorreiter eines Kampfes für „wahre Werte“ zu stilisieren. Da der russische Druck auf ihn wächst und die Hoffnung auf Verbesserung der Beziehungen zum Westen sinkt, will Lukaschenko nun ebenfalls „Homo-Propaganda“ verbieten und Putin auf seinem „Sonderweg“ begleiten.

Die homophobe Wende in Russland wurde im Westen verurteilt. Zunächst ging man von einer spezifischen „Wachstumskrankheit“ aus, von einem „Überrest der sowjetischen Vergangenheit“ und wies auf den eigenen langen wie steinigen Weg zu Akzeptanz und Gleichstellung hin. Inzwischen nimmt man Putins Werte-Rhetorik ernst.

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Opfer der Parteipolitik

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Mai 2023

Das Wirtschaftsministerium schuf die Energie-Agentur einst in einer Nacht-und-Nebel-Aktion

Für Arbeiten zu denen Politiker-innen nicht fähig sind, sich aber bezahlen lassen, werden  Mitarbeiter aus den Clans oder der Wirtschaft gesucht !

Ein Debattenbeitrag von Christine Wörlen

Die Energieagentur dena stand immer unter politischem Einfluss. Ihr Hauptjob – die Fachberatung bei der Energiewende – wird so ausgebremst.

Die Deutsche Energie-Agentur (dena) ist in aller Munde. Das ist ein völlig neues Gefühl für die 400 Mitarbeitenden. Als die technische Werkbank der Energiewende würde sie eigentlich schon gerne viele Leute erreichen, aber natürlich nicht mit Skandalnachrichten. Aber bereits die Gründung dieser Bundes-GmbH im Jahr 2000 war von parteipolitischer Trickserei geprägt. Das Bundeswirtschaftsministerium schuf die Agentur, die eigentlich als Gemeinschaftsprojekt geplant war, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, um klarzustellen, wer hier das Sagen haben würde.

Besetzt wurde es auch schon damals mit einem Freund des Hauses, Stephan Kohler – der gleichzeitig ein enger Vertrauter von Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier war, der niedersächsischen SPD-Connection. Der Augsburger war zuvor bereits Chef der niedersächsischen Landesenergieagentur gewesen – technisch also qualifiziert. Politisch aber von Beginn an diskreditiert.

Das ganze Polittheater – damals wie heute – ist eine Katastrophe, denn es schadet dem so wichtigen Mandat einer Deutschen Energie-Agentur: die Energiewende mit Information und Kommunikation voranbringen, sie erklären und Bürger und Unternehmen zum Mitmachen motivieren. Das ist heute dringender notwendig denn je. Durch Putins Krieg und die Energiekrise haben auch die Grünen Probleme, diesem ebenso disruptiven wie langfristigen Transformationsprozess Richtung und Kontinuität zu geben. Und die Klima­kri­se hat leider keine Pause gemacht, während die Politik in den Merkel-Jahren schlief.

Dabei ist die Aufgabe der dena nicht das Machen von Politik. Vielmehr arbeitet die dena im vorpolitischen Raum – da, wo es an die Entwicklung von Ideen geht –, und bei der Umsetzung von Gesetzen. Gerade bei der Umsetzung der Energiewende fehlt es aktuell ganz massiv an Wissen.

Eine echte Deutsche Energiewende-Agentur müsste ein neutraler Informationsgeber für Ent­schei­dungs­trä­ge­r:in­nen sein. Das ist angesichts der vollkommen irrational aufgeladenen Debatte über „Habecks Heizhammer“ nötiger denn je. Zielgruppe der dena sind nicht (nur) Politiker:innen. Wirklich entscheidend ist die Information in die Breite. Energieverbrauchende, Haus­eigentümer:innen und Unternehmen praktisch aller Branchen benötigen leicht zugängliches Wissen darüber, wie sie ihren Energieverbrauch ohne Wohlfahrtsverluste einschränken und ganz praktisch auf erneuerbare Energien umsteigen können.

Hierzu kann die dena direkt beraten. Vor allem aber sollte sie auch Landes- und Kreisenergieagenturen, Verbraucherzentralen, Mietervereine, Schuldnerberatungen, Industrie- und Handelskammern und andere Organisationen in die Lage versetzen, selbst zu Energiewendemittlern zu werden. Diese Informationsfunktion kann keine andere staatliche Institution so systematisch wahrnehmen wie die dena, auch wenn sich die Verbraucherzentralen und NGOs redlich bemühen.

Aber die dena hat weitere wichtige Aufgaben. So leidet die deutsche Energiewende zum Beispiel unter einem erstaunlichen Datendefizit. Unsere Ent­schei­dungs­trä­ge­r:in­nen fliegen in weiten Bereichen im Blindflug oder zumindest in einem dichten Nebel. Wie der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, bereitwillig zugibt, kann er nur recht grob abschätzen, wie hoch der Wärmebedarf überhaupt ist. Aber Bauchgefühl kann teuer werden – zum Beispiel beim Gaseinkauf oder der Pacht von Flüssiggasstationen.

In Deutschland werden Energiedaten von der Industrie zusammengestellt. Früher von der sogenannten Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen, betrieben vom Braunkohleverband, heute vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft. Aber stellt die Gewährleistung der Energiesicherheit nicht eine hoheitliche Aufgabe der Daseinsvorsorge dar? Sollte nicht der Staat selbst sicherstellen, dass er jederzeit die Datenbasis für seine Entscheidungen hat? Im Strombereich, der von der Bundesnetzagentur reguliert wird, sieht es besser aus als in den Bereichen Gas und Wärme. Im Gebäudebereich gab es bis vor wenigen Jahren nicht einmal deutschlandweite Statistiken zur Zahl der Gebäude, geschweige denn zu ihrem Energieverbrauch. Auch hier muss die dena ansetzen.

Das führt zur dritten wichtigen Rolle, die die dena einnehmen sollte. Die dena ist eine Plattform für den Austausch zwischen den Akteuren der Energiewende. Das sind einerseits die Energieunternehmen. Aber dazu gehören auch die Ver­brau­che­r:in­nen und andere Gruppen. Sie haben eine – oftmals unnötige und übertriebene – Angst vor den Veränderungen, die Energiewende und Klimaschutz mit sich bringen. Neben den klassischen Zielgruppen Industrie und privaten Ver­brau­che­r:in­nen betrifft die Energiewende ja mittlerweile auch Kultureinrichtungen, Kirchen, Vereine, Medizin und Sportvereine. Die Energiewende und noch viel mehr der Klimaschutz sind Querschnittsthemen, die einen breiten gesellschaftlichen Diskurs benötigen.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     Head of dena (Deutsche Energieagentur = German Energy Agency) at the VDMA Conference in Berlin 2012

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Beschwerde gegen Fluglärm

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Mai 2023

Krieg ist der größte Klimakiller

Последствия удара ракеты по Голосеевскому району киева (6).jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von  : c/o Waltraud Andruet – Sprecherin FriedensNetz Saar und pax christi Saar

Fast täglich fliegen und üben Militärjets mehrere Stunden lang im Bereich der sogenannten Tra-Lautern Übungsflüge durch, auch über unsere Köpfe hinweg.

Hier dieser Tagesbericht für Montag, 08.05.2023, 5 Stunden und 28 Minuten Kampfjetflüge zwischen 09:26 und 17:02 Uhr, 1 Luftbetankung, ca. 215.800 Liter Treibstoff, ca. 595.608 kg CO?, ca. 1.726 kg NO? – entspricht 3.596.667 gefahrenen Autokilometern.

(Quelle: fluglaerm.saarland/tagesberichte.php)

Und das ist erst der Anfang, denn im Juni blüht uns die größte NATO-Luftübung, welche jemals stattgefunden hat – die Air Defender 2023. Im Juni wird’s am Himmel über Deutschland eng. Bei einem groß angelegten, zweiwöchigen Nato-Manöver wird die Zusammenarbeit der verschiedenen Luftstreitkräfte eingeübt. Ein zentraler Ort wird die Airbase in Spangdahlem in der Eifel sein.

https://www.24rhein.de/rheinland-nrw/air-defender-2023-uebung-nato-kampfjetmanoever-nrw-eurofighter-bundeswehr-luftwaffe-tornado-92181810.html?fbclid=IwAR24pRsb1LaE_6TJyyecrK-pAjKGq9Huk0HYnZbWeKA3ZMygYnCFgs14So0

Dementsprechend plant das FriedensNetz Saar zusammen mit QuatroPax am 10. Juni 2023 eine Mahnwache. Wir alle wissen, dass sich die Welt weder diesen heißen noch einen Jahrzehntelangen Kalten Krieg leisten kann – angesichts der menschheitsbedrohenden Probleme, die nur global und gemeinsam gelöst werden können.

Durch den Ukrainekrieg gerät die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts – die Bewältigung der Klimakrise – in den Hintergrund. Die Welt braucht dringend eine radikale Abkehr von der herrschenden, lebensfeindlichen, wirtschaftlichen und militärischen Logik, welche die Menschheit und unseren Planeten in die Katastrophe treibt. Es braucht eine grundlegende sozialökologische Transformation, in der Bedürfnisse aller Menschen im Zentrum der Politik stehen. Diese scheint derzeit undenkbar. Doch was wäre die Alternative? Eine ungebremste Klimaerwärmung würde die gesamte Weltbevölkerung in die Katastrophe führen. Der Krieg mit seinen Waffensystemen und den Zerstörungen im Energiesektor heizt die Klimakrise nur noch an. Die Ukraine kommt zurzeit an fossilen Energieträgern nicht vorbei und die weltweite Waffenproduktion geschieht mit Sicherheit unter Verwendung umweltschädigender Kohleenergie.

Um das 1,5-Grad-Limit gegen den Klimawandel noch zu erreichen, verbleiben der Menschheit weniger als acht Jahre – entsprechend dem globalen CO2-Budget. Dafür sind gravierende Veränderungen in allen Bereichen dringend notwendig. Es brauche einen sogenannten „systemischen Wandel“, heißt es in dem Anfang April veröffentlichten IPCC-Bericht. Der militärische Sektor wird jedoch ausgeklammert. Zum Schlagwort „military“ finden sich insgesamt sechs Ergebnisse in dem knapp 3.000 Seiten langen Report. Man könnte meinen, der Bereich Militär spiele in Bezug auf die Klimakrise kaum eine Rolle. Die Realität sieht anders aus: Allein der Dauereinsatz von militärischem Gerät führt zu massiver Luftverschmutzung.

Unsere Forderung lautet: Militärische Aufrüstung stoppen, Spannungen abbauen, gegenseitiges Vertrauen aufbauen, Perspektiven für Entwicklung und soziale Sicherheit schaffen, Entspannungs­politik auch mit Russland aber auch mit China, da sich die NATO jetzt gerade warmläuft für die Konfrontation mit China. Deshalb ist es unabdingbar mehr zu verhandeln, dem Frieden zuliebe. Diese Einsichten werden wir überall in unserer Gesellschaft verbreiten. Damit wollen wir helfen, einen neuen Kalten Krieg bzw. die aktuelle Kriegs­gefahr abzuwenden. Keine Erhöhung der Rüstungsausgaben – Abrüsten ist das Gebot der Stunde!

Die Bundesregierung plant, die Rüstungsausgaben zu verdoppeln, auf zwei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung (BIP). So wurde es in der NATO vereinbart. Allein 2019 wurde der Militärhaushalt auf 43,2 Milliarden Euro angehoben und ist damit größer als die Etats für Bildung und Gesundheit zusammen.

Wir können es uns aus globaler und nationaler Sicht nicht leisten, mehr fürs Militär und die Rüstung auszugeben. Deswegen sagen wir: NEIN dazu – Schluss damit! Abrüsten statt Aufrüsten! Militär löst keine Probleme – Eine andere Politik muss her!

Urheberrecht
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Oben           —   The consequences of a missile strike on Kyiv (6)

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Mai 2023

Streiken und Kleben: Fahrerflucht nach vorn

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

KOLUMNE VON LUKAS WALLRAFF

Diese Woche wurde aus guten und schlechten Gründen gestreikt. Derjenige, der nach zwei verpatzten Wahlgängen hätte streiken sollen, hat’s nicht getan.

Das war knapp. Fast wäre diese Kolumne diese Woche ausgefallen. Denn es war ja LKW-Streik. Endlich hatte ich auch mal einen Anlass, meine dienstlichen Verpflichtungen ruhen zu lassen. Ich weiß zwar nicht, ob mein Namenskürzel als Streikbegründung arbeitsrechtlich durchgehen würde. Auch der Verweis darauf, dass ich als Student für die Firma Schlund & Ruppert Klopapier ausgefahren habe, würde vermutlich als verjährt abgetan. Eine larmoyante Klage über das taz-Gehalt zöge kaum, denn im Vergleich zu den georgischen und usbekischen Langstreckenfahrern, die an einer Autobahn in Hessen gegen ihre Ausbeutung durch eine polnische Spedition protestierten, geht es uns bestens.

Aber am Ende ist alles glimpflich ausgegangen. Die LKW-Fahrer erhielten doch noch ihren Lohn, um den man sie betrügen wollte. Auch wenn das nur geschah, um eine besonders lukrative Lieferung in die Schweiz zu sichern, sind die Trucker die Gewinner dieser Woche. Sie bewiesen Mut, bekamen recht und endlich mediales Interesse für ihre katastrophalen Jobbedingungen. Also beendeten sie ihren Streik und ich natürlich auch.

Dafür gab es in Berlin Blockaden auf den Straßen. Und ich gebe zu: Nicht nur als persönlich betroffener LKW bin ich von der Letzten Generation genervt, die jetzt versucht, die Hauptstadt lahmzukleben, sosehr ich versuche, diese Protestform zu verstehen. Wirklich. Aber ich begreife einfach nicht, was die destruktive Behinderung von Autofahrern bringen soll, die ja nicht nur Porsche-Fahrer beim Rasen ohne Tempolimit trifft, sondern auch prekär bezahlte Berufstätige, Krankenwagen oder ­soccer moms und dads, die ihre Kinder zum Auswärtsspiel in umliegende Dörfer bringen, wohin nur einmal am Tag ein Bus fährt. Es scheint mir taktisch ungeschickt zu sein, eine Mehrheit gegen sich aufzubringen, die man bei den nächsten Wahlen eigentlich bräuchte, um klimapolitisch voranzukommen.

Aufmerksamkeit ist auch kein Selbstzweck. Dass es den Klimawandel gibt, weiß inzwischen jedes Kind und jeder Opa. Nur wenige leugnen ihn noch. 80 Prozent sind für mehr Klimaschutz. Nicht das Ziel ist strittig, sondern der Weg, der möglichst gerecht gestaltet werden sollte. Wie kompliziert das ist, zeigt sich beim geplanten Heizungsaustausch. Die Blockierenden signalisieren mit ihren immer gleichen Klebemitteln jedoch vor allem: Ihr checkt es nicht. Wir müssen euch nerven. Denn ihr seid zu blöd, die Dringlichkeit der Klimakatastrophe zu kapieren. Das mag auch bei mir zutreffen, aber eine Beleidigung ist selten ein guter Anfang für ein Erfolg versprechendes Gespräch, das in einer Demokratie nötig wäre. Sie hilft eher den fossilen Hardlinern, die mit vollkommen übertriebener Härte auf die Proteste reagieren.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Vorträgen, Workshops+mehr

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Mai 2023

Klimaaktivist*innen laden zum Camp gegen Haft und Kohlekraft in Grevenbroich ein

File:Ende Gelände Protest auf der Nord-Süd Bahn vor dem Kraftwerk Neurath.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :    pm

Vom 13. bis zum 15. Mai campen Klimaaktivist*innen in Grevenbroich. Anlass ist der Prozesstermin der Aktivistin Tessa P., der am Montag, dem 15. Mai, am Amtsgericht Grevenbroich stattfinden wird.

Neben ihr sind drei weitere Aktivist*innen der Gruppe „Block Neurath“ angeklagt, das RWE-Kohlekraftwerk Neurath im November 2021 blockiert zu haben. Im April ist eine Person bereits zu 9 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt worden. Das Camp läuft unter dem Motto „Campen gegen Haft und Kohlekraft“ und richtet sich gleichzeitig gegen die Verfeuerung von fossilen Energieträgern und gegen die staatliche Verfolgung von Widerstand dagegen.

Das Camp findet auf der Grevenbroicher Waldwiese statt und bietet ein offenes Programm, das sich auch an die Grevenbroicher Stadtbevölkerung richtet. Neben Vorträgen, Workshops und Podiumsdiskussionen wird es auch eine Stadt-Rallye geben. Mit dem Austausch sollen Berührungspunkte gebildet und Barrieren abgebaut werden. Dass die Klimakrise nicht nur ein Thema für Aktivist*innen ist, erklärt Klimaaktivstin Irene T.: „Wir alle haben ein Interesse klimagerecht zu wirtschaften. Niemand möchte in einer 2 Grad wärmeren Welt leben, auch nicht Beschäftigte in der Kohle- oder Automobilindustrie. Der Grossteil der Menschen besitzt kein nennenswertes Eigentum an Produktionsmitteln und hat kaum Mitspracherecht darüber, wie wir wirtschaften. Das muss sich ändern.“

Das Kraftwerk Neurath ist das grösste Kohlekraftwerk in Deutschland und das zweitgrösste in der EU. Es ist für die Emissionen von 32,1 Mio Tonnen CO2 im Jahr verantwortlich. Dies entspricht ungefähr den jährlichen CO2 Emissionen von Neuseeland. Die Aktivist*innen erinnern an die Katastrophen, die durch die Klimakrise verursacht werden, und ziehen fossile Konzerne wie RWE in die Verantwortung. „In Ostafrika hat die Klimakrise bereits eine Hungersnot ausgelöst. In Somalia sind letztes Jahr mehr als 20.000 Kinder unter 5 Jahren durch die Dürre gestorben. In Südeuropa herrscht Dürre und Wassermangel und das schon seit Januar. Nicht die Aktivist*innen sollten für den Schaden an RWE belangt werden. Sondern RWE für die Schäden am Klima!“, fordert Klimaaktivist*in Judith Jansen.

Im November 2021 hat die Gruppe „Block Neurath“ den Kohleausstieg selbst in die Hand genommen. Neun Aktivist*innen haben sich dafür an zwei Stellen an den Gleisen der Kohlebahn festgekettet. Sie fixierten sich an Betonfässer und an Zementblöcke, die unter die Schienen gegossen sind. Auch Rollstuhlfahrer*innen waren dabei. Der Kraftwerksbetreiber RWE musste das Kraftwerk daraufhin runterfahren und die Leistung drosseln. Zwischen 5.000 und 22.000 Tonnen CO2 konnten dadurch eingespart werden. Klimaaktivistin Tessa P. war dabei und wird am Montag vor Gericht geführt.

Tessa P. gibt sich selbstbewusst: „Auch wenn uns oft vorgeworfen wird, dass das Blockieren von Kraftwerken nicht legal sei, war es dennoch legitim und notwendig. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Rechte immer erkämpft werden mussten und die Herrschenden diese nie freiwillig gewährten. Deswegen handeln wir nach dem Motto: Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Wir haben das Kohlekraft nicht blockiert, weil es uns Spass macht, sondern weil das Kraftwerk Neurath uns alle betrifft und massgeblich die Klimakrise anheizt. Die Gleise, Förderbänder und Kraftwerke sollen in die Hände der Gesellschaft übereignet und abgeschaltet werden!“

Im April wurde ein*e Aktivist*in der Gruppe „Block Neurath“ bereits zu 9 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Auch eine Aktivist*in der Letzten Generation erhielt kürzlich eine viermonatige Haftstrafe ohne Bewährung. Klimaaktivist*in Robin A. hat für diese Rechtsprechung kein Verständnis: „Ich sträube mich gegen jede Repression. Egal ob sie sich gegen die Letzte Generation, Baggerblocken, Kraftwerksblockaden oder Abseilaktionen richtet – die Spaltung in guten und bösen Aktivismus lehnen wir ab.“

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —      Ende Gelände 2019: Rund tausend Menschen blockierten vom 21. bis 23. Juni 2019 die für die Versorgung des Kraftwerks Neurath (Hintergrund) benötigte Nord-Süd-Bahn.

Author Manuellopez.ch           /       Source     :    Own work      /      Date       :  21 June 2019

his file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.

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Ein Kontertext

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Mai 2023

Fahrradhelme und Kronen

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von         :     Michel Mettler /   

London zu Zeiten der Thronbesteigung: eine Stadt der scharfen Gegensätze und harten wirtschaftlichen Realitäten. Ein Kurzbericht.

Zweieinhalb Monate lebe ich schon hier, und noch immer verstehe ich sie nicht, diese Stadt – ihre Gegensätze, ihre Masseinheiten, ihre verschiedenfarbenen Münzen, ihren Linksverkehr. Und so bin ich gleichsam als berufener Ignorant in das vermeintliche Jahrhundertereignis hineingestolpert: «Es lebe der König! Long live Charles III!» Palastgeschichten allenthalben, Krönungsfieber, aber auch Krönungsmüdigkeit. Und selbstredend Merchandising, wie immer, wenn es um die Erhabenen geht – man erinnere sich an King Roger und sein royales RF-Signet.

Soll man also eine Tasse kaufen? Ein Küchentuch? Servietten, damit auf dem königlichen Konterfei Olivensteine platziert werden können?

«How do you feel about the coronation?» Bei vielen ist da nur Gleichgültigkeit zu spüren. «Als hätten wir keine grösseren Probleme», sagt die Verkäuferin in der Bäckerei. Und die Frau im georgischen Spezialitätengeschäft, zu dem ich regelmässig radle, um Gewürzkräuter zu kaufen, mag gar keine Worte verlieren – ihr reicht eine abfällige Handbewegung. Ich lächle ihr zu, bezahle und befreie am Poller draussen mein Fahrrad von der dreifachen Ketten-Umschlingung.

Eine Krone ist kein Fahrradhelm. Kronen sollen präsentieren, Helme sollen widerstehen und vor Stürzen schützen. Die Krone aber ist ein zerbrechliches Ding, nicht auf Stürze ausgelegt, sondern gemacht für Kissen, auf denen man sie herumreicht; für Handschuhe, mit denen sie hochgehoben und auf durchlauchte Häupter gesetzt wird.

Die Krone, um die es hier geht, hat in der Vergangenheit viele taumeln und stolpern lassen, da sie – als Gekrönte oder Gehörnte – nun ihren Weg vor den Augen der Weltöffentlichkeit gehen mussten, oft schon in jungen Jahren. Das dürfte diesmal anders sein: Der Titular ist im vorgerückten Alter zum Zug gekommen. Seine erste königliche Tugend war Geduld. Und die Aufmerksamkeit des Erdkreises wird sich schon bald anderen Fragen zuwenden. Den steigenden Meeresspiegeln zum Beispiel oder den steigenden Preisen.

Das öffentliche Interesse soll übrigens selbst auf der Insel um einige Inches geschwunden sein. Doch es ist noch immer gross genug, das zeigt die Präsenz in den sozialen Medien. Viel Selbstgebasteltes kursiert, Scherzbilder, Frotzelverse. Dies beweist, dass das Thema auch die nicht ganz kalt lässt, die behaupten, damit durch zu sein.

«Fahrradhelm oder Krone?» Das ist wohl kein Willensentscheid, anders als die Wahl des Fortbewegungsmittels, etwa bei der Anreise zur Insel: Der Zug fordert Geduld und etwas Nerven, legt aber an Beliebtheit zu, die Fliegerei wird peinlicher mit jedem Tag. Auf die Sänfte würde ich freiwillig verzichten, aber noch niemand hat sie mir angeboten. Auch da, wo ich als Kunde König bin, bleibe ich ungekrönt und muss auf Punkt und Komma berappen, was auf dem Laufband liegt – it’s a material world.

Ein entscheidender Faktor bei Kronen soll das Gewicht sein, nicht anders als bei Helmen. Wer radelt schon gern mit dem Gefühl, einen Riesenkürbis mitzuführen. Elizabeth, die letzte und ausdauerndste Kronenträgerin der Insel, liess die ihre abändern. Sie war ihr zu hoch. Das lasse sie schwerfällig aussehen, fand sie, ausserdem sei das gute Stück arg schwer. So wurde es für die Coronation umgearbeitet, etwas abgeflacht – als wäre die Königin ein Lastkahn, der unter tiefen Themsebrücken durchgleiten muss. Dabei ist doch von blossem Auge zu erkennen, dass die Westminster Abbey höher aufragenden Kopfschmuck toleriert.

Offenbar wird Krönungsbereiten empfohlen, die Krone vor der Zeremonie eine Weile in ihren privaten Räumen zu tragen, um die Hals- und Nackenmuskulatur auf die Aufgabe vorzubereiten. Man müsste hier wohl von einer drohenden Krönungsmigräne sprechen. Oder ist das bereits Majestätsbeleidigung?

*

Hier im East End, wo ich mit Künstler*innen befreundeter Disziplinen lebe, sind die Royals kaum präsent. Das Quartier ist muslimisch geprägt. Viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind bemüht, ein gottgefälliges Leben zu führen. Dabei ist ihnen die Krone wenig behilflich. Fahrradhelme zu tragen, untersagt der Koran übrigens nicht ausdrücklich. Es verstosse gegen kein heiliges Gesetz, sich vor drohenden Gefahren zu wappnen, sagt der Imam, im Gegenteil: «Mit allem, was dein Leben schützen soll, schützt du auch Gott.» Das gilt sogar für Frauen.

Ich habe den Eindruck, Ahmed, der Besitzer des Handy Repair Shop in Bromley-by-Bow, der mir neulich zu Hilfe kam, brauche keinen weltlichen Herrscher im Buckingham Palace, um dem gottgefälligen Leben zu genügen, das er seinen Kindern vorleben will. Selbst dann nicht, wenn dieser Herrscher sich in Gummistiefeln beim Jäten ablichten lässt. Aber stören wird Ahmed die Zeremonie deshalb noch lange nicht. Ohnehin sei das alles viel zu weit weg – das geschehe in einer anderen Stadt. Beim Zuhören denke ich: wohl auch in einem anderen Land, sogar auf einem anderen Planeten. Für das Wohl von Ahmeds Familie steht keine Herrscherfamilie ein. Ein Fahrradhelm schon eher, auch wenn Ahmed stolz auf sein japanisches Hybridauto ist, das immer vor dem Laden steht, stellvertretend für den erreichten Wohlstand. «Pearl white», sagt er lächelnd; ein Lächeln, weit weg von Westminster, ein Lächeln, das näher zu Gott will und doch nicht auf das tägliche Wirtschaften verzichten kann.

Ich lege gerne Geld in seine Hand, viel lieber, als ich zuhause Steuern zahle, mit denen später ausgeblutete Banken gerettet werden sollen. Ich weiss, dass Ahmeds Kinder hungrig sind, so wie alle Kinder nach dem Schulausflug, nach dem Lernen, nach dem Herumtoben im Garten. Würde mein Handy erneut streiken, ginge ich jederzeit wieder raus nach Bromley-by-Bow, weil Ahmeds Lächeln nicht nur geschäftstüchtig ist, sondern schlicht und einfach freundlich.

An diesem Krönungssamstag aber will ich in meinen vier Wänden bleiben, die eine Schweizer Kulturstiftung mir in East London grosszügig zur Verfügung stellt. Bei meinen Nachbarn, die in der Stadtmitte einen Anblick von der alten Welt und ihrem Pomp erhaschen möchten, habe ich Krönungsmigräne vorgeschützt.

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Oben      —     Baliuag, Bulacan Province Proper

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Polizeiforscherin zu Gewalt

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Mai 2023

„Gewalttätig sind immer die anderen“

Interview von Katharina Schipkowski

Die Kulturanthropologin Stephanie Schmidt hat Po­li­zis­t*in­nen bei ihrer Arbeit begleitet. Ein Gespräch über Gewalt und gebügelte Uniformen.

wochentaz: Frau Schmidt, was für Musik hören Po­li­zis­t*in­nen im Auto auf dem Weg zum Einsatz?

Stephanie Schmidt: Meistens Radio, einen regionalen Musiksender. Es kam aber auch mal vor, dass K.I.Z gehört wurde. Das war aber nicht auf dem Weg zum Einsatz. Da wird das Radio meistens leiser oder ausgeschaltet, damit die Po­li­zis­t*in­nen sich konzen­trieren können.

Sie haben mehrere Monate als Forscherin bei der Polizei in Frankfurt am Main, Berlin und einem anderen Bundesland hospitiert. Wie wurden Sie aufgenommen?

Die meisten Po­li­zis­t*in­nen sind mir relativ offen begegnet. Auch wenn es immer eine gewisse Skepsis gibt. Man weiß aber aus der ethnografischen Forschung, dass junge weibliche Forscherinnen von Po­li­zis­t*in­nen gelegentlich besser toleriert werden.

Gehen Po­li­zis­t*in­nen anders mit Emotionen um als andere Menschen in ihrem Job?

Das kann man so nicht sagen. Aber es gibt natürlich Spezifika. Po­li­zis­t*in­nen sind berechtigt und verpflichtet, Gewalt auszuüben. Es ist Teil ihrer Arbeit. Damit einher geht ein gesellschaftlicher Anspruch, dass sie Gewalt professionell, also neutral, objektiv und maßvoll ausüben müssen.

Wie schlägt man jemandem neu­tral ins Gesicht?

Das war auch die Ausgangsfrage meiner Forschung: Was heißt es, neutral und objektiv Gewalt auszuüben? Und in welchem Verhältnis steht diese Gewalt-Arbeit zum Affekt? Aus Sicht der Polizei ist es wichtig, dass die Gewaltausübung als polizeiliche Maßnahme erkannt wird und nicht als „Der Polizist ist wütend und schlägt zu“. Ob das immer klappt, steht absolut infrage. Die Polizei versucht, durch Körpertechniken und Sprache, Neu­tra­li­tät in ihren Handlungen herzustellen.

Indem sie den Faustschlag „polizeiliche Maßnahme“ nennt?

Der Begriff „Gewalt“ spielt in polizeilichen Selbstbildern kaum eine Rolle. Die Polizei präsentiert sich selbst über Begriffe wie „Ordnung“ oder „Sicherheit“. Gewalttätig sind immer die anderen, während polizeiliche Gewalt als „Maßnahme“ oder „Zwang“ bezeichnet wird. Das Gleiche gilt für Emotionen. In ihren Einsatzberichten beschreiben die Be­am­t*in­nen ausschließlich ihr Gegenüber in seiner Emotionalität. Zum Beispiel: „Die Person wurde aggressiv und daraufhin wurden Maßnahmen getroffen.“ Die Emotionalität der Po­li­zis­t*in­nen wird invisibilisiert.

Ist das nicht normales Beamtendeutsch?

Zum Teil. Die Polizei ist ja eine bürokratische Organisation. In Polizeiberichten werden oft Passivformulierungen verwendet und Po­li­zis­t*in­nen als Handelnde nur angedeutet. Also nicht: „Der Polizist X hat Y in die Beine getreten“, sondern „Y wurde zu Boden gebracht.“ So stellt man dar: Hier handelt der Staat, nicht Einzelpersonen. Auch die Uniform spielt dafür eine zentrale Rolle.

Inwiefern?

Sie ist extrem wichtig für das Herstellen der „neutralen Unpersönlichkeit“. Die Beamt*innen, die ich begleitet habe, waren viel damit beschäftigt, ob alles richtig geknöpft und gebügelt ist. Teilweise haben sie auch geprüft, ob ich meine Kleidung ordentlich trage. Die korrekt sitzende Uniform dient dem Selbstverständnis, der starke und objektive Staat zu sein. Und: Wenn mich jemand beleidigt, meint er nicht mich persönlich, denn ich trage ja die Uniform.

Warum reagieren Po­li­zis­t*in­nen dann oft so empfindlich auf Beleidigungen?

In meinen Forschungsinterviews haben sich viele Po­li­zis­t*in­nen beim Thema „Respekt und Autorität in der Gesellschaft“ sehr sensibel gezeigt. Sie sehen sich verantwortlich dafür, dass die gesellschaftliche Ordnung aufrecht erhalten wird. Sie sind diejenigen, die dafür sorgen, dass der Alltag von Menschen so weitergehen kann, wie er ist. Wenn das infrage gestellt wird, zeigen sie sich teils sehr sensibel.

Weil es ihre Identität hinterfragt.

Weil es die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit und ihrer Identität als Po­li­zis­t*in negiert oder abwertet. Wenn zum Beispiel „ACAB“, also die Abkürzung für „All Cops are Bastards“, auf einem Pullover oder als Parole an der Wand stand, haben sie das oft kommentiert und auch angezeigt, obwohl sie sich nicht unbedingt persönlich davon angegriffen fühlten.

Ist Po­li­zis­t*in ein Beruf, in dem Persönlichkeit nichts zu suchen hat?

Die Privatheit von Po­li­zis­t*in­nen darf keine Rolle spielen. Sie sind ja der personifizierte Staat. Sie unterliegen dem Legalitätsprinzip, das heißt, sie haben eine Verfolgungspflicht bei Straftaten – egal ob sie im Dienst sind oder nicht. Das bedeutet zugespitzt, dass Po­li­zis­t*in­nen eigentlich nie mehr rein private Subjekte sind.

Aber persönliche Empfindungen und Emotionen sind ja trotzdem da. Was passiert mit denen?

Informell, auf den Dienststellen, sprechen Po­li­zis­t*in­nen sehr viel über Situationen, die belastend oder besonders anstrengend waren. Solche Erzählungen und Deutungen von Geschehnissen, auch von politischen, sind ein fundamentaler Bestandteil polizeilichen Alltags.

Was erzählt man sich da genau?

Das zentrale Narrativ ist: Es kann immer alles passieren, auch wenn meistens nichts passiert. Der Arbeitsalltag ist oft langweilig, selbst in Revieren, die als Kriminalitätsschwerpunkte gelten. Da werden viele Verkehrsunfälle aufgenommen oder Falschparker­tickets verteilt. Und trotzdem müssen sie immer darauf gefasst sein, dass sich das plötzlich ändert.

Wie gehen sie mit einer so spannungsgeladenen Langeweile um?

Sich darauf einzustellen, dass es jederzeit zur Eskalation kommen kann und man dann vorbereitet sein muss, gibt Struktur. Woher soll man wissen, wann etwas Unvorhergesehenes passiert? Dazu orientieren sich Po­li­zis­t*in­nen an stereotypisierten Figuren, denen sie mehr oder weniger Affektkontrolle und damit ein unterschiedliches Eskalationspotenzial zuschreiben. Zum Beispiel „der Randalierer“, „die linken Chaoten“, „die Araber“. Das führt natürlich dazu, dass sie mit unterschiedlichen Personen unterschiedlich umgehen.

Und langweiliges Umherstreifen im Auto bekommt einen Sinn?

Genau. Auch Amoktaten oder Terroranschläge tauchen häufig in den Erzählungen auf. Das verfestigt die Idee, dass Polizeiarbeit dem Erhalt von Sicherheit und Ordnung dient. Aber davon abgesehen sind sie auch viel am Handy und trinken Energydrinks.

Wann setzen Po­li­zis­t*in­nen Aggressivität strategisch ein?

Quelle         :       TAZ-online        >>>>>      weiterlesen

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Oben     —G-20 Inpressionen aus der Hamburger Innstadt

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Dinkel, Hanf, Lupine

Erstellt von DL-Redaktion am 18. April 2023

Aus der Wunderwelt der Hausmedizin

Für Bettina Jung

Die hochwertigen natürlich gewonnene Rohstoffe wie Dinkel, Hanf und Lupine werden in der Zukunft weiter gefragt werden. Die Menschen sind global bereits im Bezug auf ihre Mittel zum Leben stets bewusster.

Dies ist ein gesellschaftliche Entwicklung welche weltweit weiter anhalten werden wird. Daher wächst das Bedürfnis an dem Dinkel als eine sinnige Alternative zum Weizen. Der Dinkel ist reich an Ballaststoffen. Daher sind Dinkel als Dinkelvollkorn Produkte wie Teigwaren in Form von Spagetti zu kaufen. Durch das wachsende Bedürfnis wird es mehr Anbieter für Dinkel auf der Welt wie in Skandinavien geben.

Der Hanf ist ein vielfältig einsetzbarer Rohstoff. Ob für Nahrung mit einem hohen Anteil an Ballaststoffen oder den guten Omega 3 Fettsäuren, hautfreundliche und stabile Kleidung, Kosmetik für die keine Tiere leiden brauchen, der schonen Medizin ohne den THC Wirkstoff oder für die Industrie wie der Baubranche. Der Hanf ist als Pflanze genügsam und wächst überall. Deshalb ist der Preis für Hanf günstig. Daher ist der Hanf eine wirtschaftliche Grundlage für einen Boom. Stärker als es bisher in den Vereinigten Staaten von Amerika der Fall ist.

Die Lupinen sind in der Natur reichhaltig vorhanden. Sie enthalten ebenfalls viel an Ballaststoffe. So können die günstigen Lupinen in Teigwaren und im Fleisch als Zusatz dass Ausmass an Ballaststoffe erhöhen, dabei gleichzeitig das Mass an Fette in den Produkten reduzieren. Dinkel, Hanf und Lupine stellen eine Chance für die Agrarwirtschaft dar eine erhöhte Menge zur Verfügung zu stellen und daran mehr zu verdienen als mit den bisherigen Produkten wie beispielsweise dem Weizen.

Die Hersteller von Nahrung erkennen den Mehrwert von Dinkel, Hanf und Lupinen. Allergien zu den Rohstoffen sind nicht bekannt. Bewusste Menschen können mittels der Einforderung besserer Rohstoffe zu einem egalitär bezahlbaren Preis in ihren Produkten des Alltages beitragen.

Jimmy Bulanik

Nützlicher Link im Internet:

Fotosynthese Lied

www.youtube.com/watch?v=-pkeyxiqxV0

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Grafikquellen          :

Oben     —     A picture of a herbal patch, owned by an individual. The patch is designed in a rectangular pattern (not intermittent). Rectangular intermittent, circular patches as well as elevated patches are also frequently made (not shown here). The width of the patches is about 1 m (this allows easy maintenance). The pathways in between are set to our lawnmower (80 m); however gravel or pure stone would have been better (somewhat more expensive though). Intermittent rectangular patterns also are preferred for even easier maintenance as weeding.

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Technik bei Sea-Watch:

Erstellt von DL-Redaktion am 16. April 2023

Mit Kameras gegen staatliche Repression

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von       :       

Sea-Watch rettet Schiffbrüchige auf dem Mittelmeer. Ihr neuestes Schiff, die Sea-Watch 5, soll noch in diesem Jahr erstmals dorthin auslaufen. Dafür braucht es viel Technik. Wir haben die Verantwortlichen an Bord des Schiffes interviewt.

Die Sea-Watch 5 der gleichnamigen Organisation liegt im Flensburger Hafen. Das über vier Millionen Euro teure Schiff wurde im November 2022 in Hamburg getauft. Derzeit wird es noch von einem ehemaligen Versorgungs- zu einem Rettungsschiff umgebaut. Im Laufe des Jahres soll es erstmals Richtung Mittelmeer auslaufen.

Seit dem Jahr 2015 bergen die Mitarbeiter:innen und Freiwilligen von Sea-Watch Menschen, die auf dem Mittelmeer Seenot erleiden. An Bord nennen sie diese Menschen “Gäste”. Das Mittelmeer ist tödlich: Mehr als 26.000 Menschen sind dort seit dem Jahr 2014 gestorben.

Wir haben Jonas und Phillip, die für Sea-Watch arbeiten, Anfang März in Flensburg besucht. Auf dem Schiff sind die beiden für den Aufbau der IT-Infrastruktur zuständig. Im Gespräch erzählen sie von den widrigen Bedingungen auf See und welche Technik es braucht, um Menschen zu retten und sich selbst vor staatlicher Repression zu schützen.

500 Meter Netzwerkkabel

netzpolitik.org: Jonas und Phillip, was sind Eure Aufgaben auf der Sea-Watch 5?

Jonas: Wir sind dafür zuständig, dass das Schiff mit der Außenwelt kommunizieren kann. Und wir unterstützen die Crew darin, dass sie ihre Arbeit erledigen kann. Neben uns gibt es noch acht weitere Angestellten und Freiwillige an Bord. Bei uns passiert vieles im Ehrenamt.

netzpolitik.org: Welche Computer und Geräte braucht es, damit ein Schiff  Schiff funktioniert?

Jonas: Fast jedes Crewmitglied hat ein eigenes Arbeitsgerät. Das sind meist Laptops. Weil wir unter deutscher Flagge auf dem Mittelmeer unterwegs sind, müssen wir viele Anforderungen der Bürokratie erfüllen – wie etwa die Arbeitszeiterfassung. An zentralen Orten an Bord haben wir noch fest installierte Arbeitsplätze. Das hat den Vorteil, dass wir Rechner sicher befestigen können. Laptops haben die Angewohnheit, bei Seegang öfters mal herunterzufallen.

Neben den Computern gibt es noch weitere Infrastruktur: Wir haben auf dem Schiff etwa 500 Meter Netzwerkkabel verlegt, hauptsächlich für die WLAN-Versorgung und für Kameras. Außerdem sorgen wir dafür, dass manche Daten der Schiffsensorik an das Computernetz weitergeleitet werden, wo sie weiterverwendet werden. Zum Beispiel Daten über unsere Position und unseren Kurs.

Dokumentieren, was passiert

netzpolitik.org: Wofür braucht ihr Kameras an Bord?

Jonas: Wir dokumentieren damit zum Beispiel, was an Bord und rund um das Schiff passiert. Zu diesem Zweck nehmen Kameras rund um das Schiff alles auf. Die Aufnahmen werden dann für bestimmte Zeit gespeichert. Diese Technik anzuschaffen, einzubauen und zu prüfen ist unsere Aufgabe.

Phillip: Die Aufnahmen benötigen wir etwa dann, wenn wir Repression erfahren. Wir stoßen bei unserer Arbeit immer wieder auf die sogenannte libysche Küstenwache. Mit den Kameras können wir nicht verhindern, dass sie uns bedroht. Aber wir können immerhin dokumentieren, wenn sie uns versuchen abzudrängen. Und auch vor der Repression durch europäische Behörden können wir uns so schützen, die meist ein viel größeres Problem darstellt als die libysche Küstenwache. Immer wieder versuchen die Behörden, unsere Arbeit zu kriminalisieren. Dabei machen wir nichts Illegales! Das können wir im Zweifel auch beweisen. Illegal und unerträglich ist vielmehr die Lage an den europäischen Außengrenzen.

Jonas: Auf die Aufnahmen kann nicht jede:r ohne Weiteres zugreifen. Dazu braucht es zunächst das Einverständnis bestimmter Personen. Und natürlich muss man dann sein Interesse begründen. Das ist extrem wichtig, um die Privatsphäre aller Menschen auf dem Schiff zu schützen.

netzpolitik.org: Welche weitere Technik nutzt ihr an Bord der Sea-Watch 5?

Jonas: Wir setzen viel auf Open-Source-Lösungen. Das erleichtert in der Regel auch die Wartung, weil man mehr über die Konsole reparieren kann. Wir betreiben mehrere APU-Boards auf dem Schiff, die mit OpenWRT die Router bilden. APU-Boards sind günstige Kleincomputer und OpenWRT ist ein beliebtes offenes Betriebssystem für Router.

Es gibt verschiedene virtuelle Netzwerken, auf diese Weise trennen wir unterschiedliche Bereiche an Bord voneinander. Das brauchen wir, damit zum Beispiel aus dem Netz, das wir für privaten Datenverkehr nutzen, nicht auf andere Bereiche des Netzwerks zugegriffen werden kann. Und ein VPN soll unter anderem helfen, dass wir nicht überwacht werden und Verbindungen verschlüsselt sind.

Auf dem Deck hat die Sea-Watch-Crew ein Plateau eingebaut, sodass Wasser, das während der Fahrt auf Deck schwappt, einfach abfließen kann. Ein Zelt als Dach für weiteren Schutz der Gäste soll folgen. – CC-BY 4.0 Lennart Mühlenmeier

Schlechtes Netz bei schlechtem Wetter

netzpolitik.org: Schiffe, die auf dem Mittelmeer unterwegs sind, sind auf Satellitenkommunikation angewiesen. Wie gut ist die Verbindung?

Jonas: Wir nutzen für den Uplink Satellitenkommunikation. Der Ping reicht von 800 bis 2000 Millisekunden, das variiert mitunter ganz schön. Da spielt auch das Wetter eine Rolle. Bei Regen oder Gewitter hat man sehr schlechte Netzanbindung – meist nur rund 1 MBit/s.

Phillip: Diese Infrastruktur ist so gut wie immer problematisch: Von den gleichen Knoten könnten beispielsweise Drohnen im Nahen Osten gesteuert werden, und die notwendigen Verträge mit den Providern sind sehr teuer. Sea-Watch überlegt daher, das Produkt für Satellitenkommunikation einer Firma zu kaufen, die einem ziemlich unsympathischen Multimilliardär gehört. Bedauerlicherweise ist dieses Produkt mit Abstand das günstigste auf dem Markt und technisch vergleichsweise fortschrittlich.

Diese Entscheidung ist aber noch nicht endgültig gefallen. Fest steht nur: Wir müssen verantwortungsbewusst mit unseren Geldern umgehen und eine ständige Kommunikation mit dem Schiff gewährleisten.

netzpolitik.org: Gibt es weitere Bereiche, in denen ihr Produkte nutzen müsst, zu denen es ambivalente Meinungen gibt?

Jonas: Wie in der Industrie üblich, sind wir auch auf properitäre Software angewiesen. Diese läuft meist leider nur unter Windows-Versionen. Ein Beispiel ist die Verwaltungssoftware, die jedes Schiff benötigt. Damit werden unter anderem die Laufzeiten von Generatoren und vieles mehr verfolgt. Die Software stellt beispielsweise sicher, dass alle Wartungszyklen eingehalten werden. Das klingt zunächst nicht allzu komplex. Allerdings verknüpfen gute Programme die Lagerbestände an Bord mit den Ersatzteilen, die für die regelmäßige Wartung benötigt werden. Sie können dann Bescheid geben, wenn Lagerbestände knapp werden.

netzpolitik.org: Welche weiteren Hindernisse werden euch aktuell in den Weg gelegt?

Phillip: Vor wenigen Wochen ist ein neues Dekret der italienischen Regierung in Kraft getreten. Seitdem müssen Organisationen wie Sea-Watch, die sich der Seenotrettung verschrieben haben, nach jeder einzelnen Aufnahme von Gästen mit ihren Schiffen wieder einen Hafen anlaufen, den die italienischen Behörden benennen. Nach diesem Dekret wären wir verpflichtet, alle weiteren Seenotfälle, selbst wenn sie in direkter Nähe wären, links liegen zu lassen, bis wir einmal nach Italien und zurück gefahren sind. Stattdessen müssen wir erst die tagelange Prozedur eines Transits unserer Gäste aus der Search-and-Rescue-Zone nach Italien auf uns nehmen.

Die Behörden verfolgen dabei bereits seit längerer Zeit den Ansatz, den sicheren Hafen, den wir ansteuern müssen, möglichst fernab unserer üblichen Schiffsrouten zu wählen. Der liegt dann oft weit im Norden Italiens. Das ist alles Irrsinn.

Kein Kreuzfahrtschiff

netzpolitik.org: Und wenn ihr dann im Hafen angekommen seid?

Jonas: Dann kann das enden wie mit der Sea-Watch 3 und ihrer Kapitätin Carola Rackete. Carola ist aus guten Gründen in den Hafen der Insel Lampedusa eingefahren – obwohl die italienischen Behörden ihr das untersagt hatten. Wir mussten den Notstand ausrufen, weil uns italienische Behörden solange einen Hafen verweigert haben, bis die Zustände an Bord untragbar waren.

netzpolitik.org: Was könnt ihr den Gästen auf euren Schiffen anbieten?

Jonas: Wir können Leute an Bord nehmen und die Erstversorgung übernehmen. Das ist keine Lösung für einen längeren Zeitraum. Die Leute haben meist schlimmste Erfahrungen hinter sich. Sie sind körperlich und geistig ausgelaugt. Unsere Schiffe bieten keinen Komfort und sind daher auch kein Ort, wo sie wieder zu Kräften kommen.

Die Sea-Watch 5 bietet daher vor allem Schutz vor Wasser und Kälte, und wir können Essen und Trinken anbieten. Mitunter gibt es auch Zugang zu Duschen. Aber das ist nur eingeschränkt möglich, weil wir nur begrenzt Wasser aufbereiten und mitführen können. Wir tun, was wir können, um den Menschen ein paar Stunden Sicherheit zu bieten. Aber die Sea-Watch 5 ist kein Kreuzfahrtschiff.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquelle :

Oben     —      Sea-Watch 5 2022 in Hamburg

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Aber wie und mit wem?

Erstellt von DL-Redaktion am 15. April 2023

Gesellschaft verändern heisst Macht von unten aufbauen

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Gröpelingen

Bericht der Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Gröpelingen über ihre Erfahrungen mit Stadtteilbasisarbeit und die Entwicklung des Beratungs-Organisierungs-Ansatzes (BOA).

Seit einigen Jahren wird innerhalb der radikalen und revolutionären Linken immer häufiger von Basisarbeit gesprochen. Einen ersten Aufschwung erlebte die Diskussion während der Debatten um eine Neuausrichtung linksradikaler Politik sowie um neue Klassenpolitik ab ca. 2014. Nachdem das Interesse an Basisarbeit zwischendurch wieder etwas abzunehmen schien, taucht der Ansatz in den aktuellen Diskussionen rund um die Mobilisierungen gegen die Preissteigerungen wieder verstärkt auf. Neben den theoretischen Debatten gab und gibt es auch eine Reihe von praktischen Ansätzen, vor allem mit dem Fokus auf Stadtteilbasisarbeit. Allerdings stiessen viele der Gruppen bei der Umsetzung der theoretischen Überlegungen in den Stadtvierteln an Grenzen.Es zeigt sich, dass es bisher kaum gelang, Strukturen aufzubauen, in denen sich wirklich viele Menschen aus den Stadtteilen organisieren. Häufig bleibt es bei einer Gruppe von Aktivist*innen, die linke Politik im Stadtteil machen und vor allem bereits links politisierte junge Leute ansprechen. Diese Schwierigkeiten in der Praxis haben dazu geführt, dass sich viele Stadtteilbasisgruppen wieder aufgelöst oder ihren Fokus wieder auf klassisch linksradikale Politik und Intervention in Bewegungen und Diskursen gesetzt haben. Wir sind jedoch der Ansicht, dass die Schwierigkeiten in der Praxis auch aus einem unzureichenden Verständnis von Basisarbeit resultieren, sowie mangelnden Erfahrungen, was dieser Ansatz in einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen bedeutet.

Als Organisation, die in Bremen seit 2016 revolutionäre Stadtteilbasisarbeit entwickelt, haben wir über die letzten Jahre viele Erfahrungen sammeln können. Anfang 2020 haben wir uns Zeit genommen und uns in einen Reflexionsprozess begeben, um zu analysieren, was Fehler und Hindernisse in unsere Praxis waren und was wir entsprechend verändern müssen. Neben der Auswertung unserer eigenen Erfahrungen haben wir uns auch tiefer gehend mit den Definitionen von Basisarbeit von anderen Bewegungen weltweit beschäftigt und die Frage diskutiert, was in einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen wirkliche Ausgangspunkte für Organisierung sein können.

Ausgehend von diesen Reflexionen haben wir einen neuen Ansatz der Stadtteilbasisarbeit entwickelt und setzen diesen seit 2021 schrittweise in die Praxis um. Er beruht auf einer Kombination aus Beratung und Organisierung auf der Basis einer Mitgliedschaft, Vollversammlungen, Aktionen und politischer Bildung. Seit der Umstellung unserer Praxis bemerken wir eine deutliche Veränderung. Wesentlich mehr Menschen aus dem Stadtteil werden in der Stadtteilgewerkschaft aktiv und wir sind in der Lage nachhaltigere Organisationsstrukturen aufzubauen. In dem vorliegenden Text möchten wir unsere Reflexionen transparent machen. Wir wollen ausserdem Gruppen oder Genoss*innen in anderen Städten dazu aufrufen, weitere lokale Ableger einer gemeinsamen organisierten Stadtteilbewegung bzw. Stadtteilbasisorganisation mit gemeinsamen politischen Übereinkünften auf der Basis von Beratung und Organisierung in ihren Stadtteilen zu gründen und das Konzept mit uns gemeinsam weiter zu entwickeln. Wir freuen uns auf Rückmeldungen oder Berichte über eure Erfahrungen und Diskussionen.

Zudem möchten wir alle Gruppen oder Einzelpersonen, die sich für den Aufbau einer solchen Stadtteilbasisorganisation in ihrer Stadt interessieren oder bereits in einer Praxis stehen, zu einem gemeinsamen Austauschtreffen einladen. Wenn ihr Interesse habt, schreibt uns gerne eine Mail an: stadtteil-soli@riseup.net.

1. Einleitung

Aus den Strategiedebatten um eine Neuausrichtung linksradikaler Politik ab 2014 gingen zahlreiche revolutionäre Stadtteil- oder Solidarisch-Gruppen hervor, die versuchten, die theoretischen Diskussionen in die Praxis umzusetzen. So auch wir. Nach der Veröffentlichung der 11 Thesen1 durch kollektiv, haben wir uns auf Basis dieser Grundsätze als Gruppe in Bremen gefunden und 2016 begonnen unter dem Namen Solidarisch in Gröpelingen eine Praxis zu entwickeln, die wir als revolutionäre Stadtteilarbeit oder auch Basisarbeit bezeichnen. Unser Ausgangspunkt war damals, linke Inhalte raus aus der Szene, rein in die Gesellschaft zu tragen und dadurch eine neue Klassenpolitik von unten zu entwickeln. Die grobe Richtung war klar: Anhand einer Sichtbarkeit im Stadtteil und Mobilisierung zu einzelnen Themen wie steigenden Mieten, prekären Arbeitsbedingungen oder Rassismus sollten kollektive Strukturen entstehen, in denen sich Menschen organisieren, eine solidarische Kultur entwickeln und ein kritisches Bewusstsein aneignen können.

Wie viele andere auch begannen wir mit Haustürgesprächen, Infotischen, kleinen Kampagnen zu bestimmten sozialen Kampfthemen und der Anmietung eines eigenen Stadtteilladens. Wir organisierten Filmabende, offene Cafés, Mathe-Nachhilfe, politische Veranstaltungen, inhaltliche Kampfkomitees (z.B. Mietkampf- oder Arbeitskampfkomitee) und vieles mehr. Durch die gezielte Mobilisierung von vonovia-Mieter*innen gelang es uns zwischenzeitlich grössere Mieter*innenversammlungen ins Leben zu rufen, ein Mietkomitee auf die Beine zu stellen und einzelne Mietkämpfe anzufachen und zu begleiten.

Dennoch mussten wir Anfang 2020 – inmitten der Hochzeit der Coronapandemie – ähnlich wie einige andere Stadtteilgruppen auch feststellen, dass es uns in den vier Jahren trotz intensiver Praxis nicht gelungen war, wirklich viele Menschen aus dem Stadtteil zu organisieren und somit die Anzahl an Aktivist*innen zu erhöhen und kollektive politische Prozesse in Gang zu bringen. Auch in der bundesweiten innerlinken Debatte schien der anfängliche Aufschwung in Bezug auf Basisarbeit nachzulassen. Einige Gruppen hatten aufgehört, andere ihren Schwerpunkt wieder auf die Organisierung bereits politisierter junger Menschen aus der Stadt gelenkt oder sich darauf beschränkt, Politik im Stadtteil zu machen, ohne wirkliche Beteiligung einer wachsenden Basis, die aus dem Stadtteil selbst kommt.

Wir sind jedoch der Meinung, dass die fehlende Entwicklung der Praxis weder ein Ausdruck des Scheiterns des Ansatzes von Basisarbeit ist noch ein Beweis dafür, dass es in der Bundesrepublik nicht möglich ist, eine Macht von unten aufzubauen. Vielmehr denken wir, dass einige der Probleme in der Praxis aus einem verkürzten Verständnis von Basisarbeit sowie einer unzureichenden Analyse der bundesdeutschen Verhältnisse resultieren. Erste eher theoretische Reflexionen hierzu haben wir in unserem gemeinsamen Text mit Berg Fidel Solidarisch2 unter dem Namen Stadtteilbasisbewegung – die Konstruktion einer Alternative3 veröffentlicht. Darin haben wir beschrieben, was für uns der Unterschied zwischen „einfacher“ und „komplexer“ Basisarbeit ist und warum wir den Aufbau einer überregionalen Stadtteilbasisbewegung als Ziel von Basisarbeit für nötig erachten. Im vorliegenden Text werden wir auf diesen Überlegungen aufbauen, aber vor allem auch unsere konkreten Rückschlüsse auf die Weiterentwicklung der Praxis darlegen.

In den nachfolgenden Kapiteln werden wir zunächst erklären, welches Verständnis von Basisarbeit und vom Aufbau einer Macht von unten wir vertreten. Daran anschliessend stellen wir Kriterien für Basisarbeit dar. Anschliessend berichten wir davon, welche Praxis wir vor 2020 verfolgt haben und welche Entwicklungen darin uns dazu gebracht haben, einen anderen Ansatz zu verfolgen. Diesen Ansatz, den wir Beratungs-Organisierungs-Ansatz (BOA) nennen, stellen wir im Folgenden dar. Als letzten Teil starten wir einen Aufruf für den BOA-Ansatz.

2. Warum nochmal Basisarbeit? Vom Aufbau einer Macht von unten

Der Ausgangspunkt von revolutionärer Basisarbeit ist das Wissen um die Notwendigkeit und Möglichkeit einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung.4 Notwendig, weil das herrschende System (also der Kapitalismus als Ganzes bzw. als Gesellschaftssystem) nicht nur auf der brutalen Ausbeutung von Mensch und Natur basiert, sondern seine Funktionsweise und Reproduktion auch auf der Verschärfung der patriarchal-rassistischen Unterdrückungen basiert und aus all diesen Gründen ständig neue Widersprüche und Krisen produziert. Wir sind an einem Punkt in der Geschichte angelangt, an dem die Frage nach einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft nicht mehr nur eine Frage unter Linken ist, sondern eine, die das Überleben eines Grossteils der Menschheit an sich betrifft.

Gleichzeitig hat sich das Bewusstsein über die Möglichkeit einer solchen Gesellschaftsveränderung in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Während der Bezug auf eine der unterschiedlichen Formen einer sozialistischen Systemalternative in den 1970er/80er Jahren für fast alle linken Bewegungen und Kämpfe weltweit noch selbstverständlich war, kommt ein Grossteil der hiesigen radikalen Linken in der heutigen Zeit ohne Bezugnahme auf ein alternatives gesellschaftliches Projekt aus. Mit der Zerschlagung zahlreicher linker Bewegungen in den 1970/80er Jahren weltweit, der Durchsetzung des Neoliberalismus und dem Zusammenbruch bzw. der Selbst-Delegitimierung des real existierenden Sozialismus ist der Kapitalismus nicht nur faktisch, sondern auch mental in den Köpfen der Menschen hegemonial geworden.

Die Parole von Margaret Thatcher5 „There is no alternative“ hat sich – auch wenn verhasst – als Teil der herrschenden Ideologie nicht nur in den Köpfen und Herzen vieler Menschen, sondern auch der meisten Aktivist*innen fest gesetzt. Zwar bezeichnen sich die meisten weiterhin als antikapitalistisch, aber bei näherer Betrachtung fehlt oft der Glaube daran, dass Systemveränderung wirklich möglich ist. Viele linke Kämpfe werden eher gegen bestimmte Aspekte des Kapitalismus geführt, als für ein grundlegend anderes System. Für viele ist es heute einfacher, sich ein Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.

Die Frage, ob wir von der Möglichkeit einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung ausgehen oder nicht, hat jedoch einen zentralen Einfluss auf unsere politische Praxis. Denn wenn wir nicht davon ausgehen, dass eine grundlegende Gesellschaftsveränderung möglich ist, dann müssen wir uns auch nicht mit der Frage auseinander setzen, wie unsere Praxis mit dem Ziel der Gesellschaftsveränderung konkret in Verbindung steht. Dann reicht es aus, wenn wir politische Aktionen gegen einen der vielen Angriffe des Systems durchführen, Veranstaltungen organisieren oder uns in die Subkultur als Schutzort6 zurück ziehen.

Wenn wir an einer grundlegenden Veränderung festhalten, stellt sich die Frage nach einer Strategie. Dann müssen wir diskutieren, wie wir uns einen emanzipatorischen Kampf für eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung und gegen Ausbeutung und Unterdrückung vorstellen und welche Organisierungsformen wir dafür benötigen. Ausgehend also von all den Erfahrungen der Geschichte und vor dem Hintergrund der aktuellen Begebenheiten stellt sich die Frage: Mit welchen Strategien und Praxen können wir dazu beitragen, dass wir ein Gesellschaftssystem erkämpfen, in der nicht nur die materielle Existenz aller Menschen gesichert ist, sondern in der darüber hinaus alle Menschen die Möglichkeit haben, sich selbst zu ermächtigen und ihr menschliches Potential zu entfalten?

Wir denken, ein wichtiger strategischer Aspekt in diesem Zusammenhang ist der Aufbau von einer Macht von unten (populäre Macht). Denn wir gehen davon aus, dass eine grundlegende emanzipatorische Gesellschaftsveränderung nicht von wenigen für oder gegen die Gesellschaft durchgesetzt werden kann, sondern von einem breiten gesellschaftlichen Prozess getragen werden muss.7 Deshalb ist eines der Ziele unserer Arbeit, durch eine Organisierung von unten Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Wir nennen dies die Schaffung von populärer Macht. Sie ist wichtig, damit sich die Unterdrückten8 sozialstaatliche Elemente abgebaut, der Arbeitsmarkt und Finanzsektor flexibilisiert etc. gemeinsam gegen die Angriffe der herrschende Klassen und anderer Akteur*innen wehren und eine Verbesserung ihrer Situation erkämpfen können.

Langfristig braucht es Macht von unten (populäre Macht), um gegen die herrschenden Strukturen als Ganzes zu kämpfen und diese zu überwinden. Gleichzeitig ist mit der Schaffung populärer Macht verbunden, eigene Räume und Strukturen zu schaffen, in denen Lernprozesse und Prozesse der Politisierung stattfinden können. Denn eine neue Gesellschaft kann nur dann nachhaltig aufgebaut werden, wenn emanzipatorische Denk- und Verhaltensweisen im (Kampf- )Prozess der Gesellschaftsveränderung erlernt werden. Zum Beispiel geht es darum, im Organisierungsprozess und in den eigenen Räumen zu erlernen, wie Basisdemokratie funktioniert (also wie man gemeinschaftlich Entscheidungen trifft, wie Versammlungen funktionieren, wie ein Delegiertensystem aussieht), wie kollektive Selbstverwaltung realisiert werden kann, wie Konfliktlösungen jenseits von staatlichen Organen aussehen können usw., kurz gesagt, wie die Organisierungsstrukturen der Machtausübung von unten aufgebaut werden können. Diese selbstverwalteten Räume und Strukturen denken wir dabei nicht als Nischen und Rückzugsorte für Aktivist*innen, die abgetrennt von der Gesellschaft existieren, sondern wir verstehen darunter Strukturen und Räume, die in einen Organisierungsprozess von unten eingebunden sind. Sie sind als materielle Bedingungen die Grundlage für Organisierung, als Basis zur Selbstermächtigung. Revolutionäre Basisarbeit ist für uns eines der Mittel, um so eine Macht von unten aufzubauen.

Kriterien von Basisarbeit

a) Bevor wir starten: politische Klarheit und Definition von Zielen

Basisarbeit an sich ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug oder eine Methode, die wir benutzen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Deshalb müssen wir definieren, was unser Ziel ist, bevor wir in einen Stadtteil gehen und dort mit Basisarbeit beginnen. Wenn wir Basisarbeit machen, weil wir eine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung anstreben, dann müssen wir uns die Frage stellen, wie das, was wir vor Ort im Stadtteil machen, mit dieser Vision einer Gesellschaftsveränderung strategisch verbunden ist. Je nachdem, wie wir unsere Ziele und Strategien definieren, ändert sich die Art und Weise, wie wir Basisarbeit machen.

Ein Kriterium ist, dass es eine Anfangsgruppe braucht, die gemeinsame Ziele definiert und vor dem Hintergrund dieser Ziele einen strategischen und politischen Rahmen für die Entwicklung der Praxis festlegt. Wir haben festgestellt, dass es Genoss*innen oft schwer fällt, bereits als kleine Anfangsgruppe solche Ziele und Rahmenbedingungen festzulegen, bevor sie in die Stadtteilarbeit starten und auf die Suche nach Mitstreiter*innen gehen. Nicht, weil sie es nicht könnten, sondern, weil die Sorge besteht, dass ein vermeintlich fertiges Konzept abschreckend wirken oder bevormundend/autoritär sein könnte. Um dies zu vermeiden, versuchen neue Stadtteilgruppen häufig von Beginn an möglichst offen zu sein und zu Versammlungen einzuladen, um gemeinsam mit anderen politischen Aktivist*innen oder Nachbar*innen zu diskutieren, was die Ziele und Inhalte der zu entwickelnden Praxis sein sollen. Nicht selten führt dies jedoch im Verlauf zu frustrierenden Diskussionsprozessen, Spaltungen und vielen Unklarheiten, die die Entwicklung einer strategischen Praxis erschweren.

Wir denken, dass es für die Entwicklung einer revolutionären Basisarbeit zu Beginn Klarheit innerhalb der Anfangsgruppe darüber braucht, was die Ziele und der Rahmen der zu entwickelnden Stadtteilarbeit sind, auf deren Basis dann Mitstreiter*innen gesucht werden. Wir müssen wissen, wohin wir gehen wollen, bevor wir aufbrechen. Dafür ist es hilfreich, zu Beginn politische Übereinkünfte zu formulieren, die den Rahmen für die weitere Entwicklung und den Aufbau der Basisorganisation bilden. Die Umsetzung der Ziele in eine Praxis sowie deren ständige Reflexion und Weiterentwicklung ist dann die gemeinsame Aufgabe all derjenigen, die mit den definierten Zielen übereinstimmen, den grundsätzlichen Ansatz teilen und sich gemeinsam auf den Weg begeben. Ohne eine gemeinsame Vorstellung davon, wo wir mit der Basisarbeit hinwollen, ist die Gefahr gross, dass das Projekt beliebig wird oder scheitert.

b) Aufbau einer Basis – die existentiellen Ausgangsbedingungen der Organisierung

Ein zweites Kriterium von Basisarbeit ist, dass sie in der Lage sein muss, viele Menschen zusammen zu bringen und in einem Organisierungsprozess miteinander zu verbinden. Sie muss also in der Lage dazu sein, eine Basis9 aufzubauen. Es ist jedoch schwer, Menschen davon zu überzeugen, sich zu organisieren, wenn die Organisierung nicht zur Lösung von Problemen beiträgt, die im Alltag eine erhebliche Belastung darstellen und ihren Alltag bestimmen (abgesehen vielleicht von jungen Menschen, die sich eher über eine politische Agitation organisieren lassen). Die meisten Menschen organisieren sich anfangs nicht, weil sie die Welt verändern möchten, sondern weil sie sich eine Lösung für die zentralen Probleme versprechen, mit denen sie zu kämpfen haben. Das heisst, der Ausgangspunkt für Organisierung sollte eine existentielle Notwendigkeit sein, ein individuelles Bedürfnis, das viele Menschen teilen, bisher aber vereinzelt angegangen sind. Schaut man in andere Länder so sind oder waren Ausgangspunkte für solche Organisierungsprozesse z.B. Wohnungslosigkeit, Landlosigkeit, Hunger, Arbeitslosigkeit oder rassistische Unterdrückung.

Wenn wir in der Bundesrepublik eine erfolgreiche Stadtteilbasisarbeit entwickeln wollen, dann müssen wir uns deshalb zuallererst die Frage stellen, was existentielle Notwendigkeiten in einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen sind. In einer Gesellschaft, in der der Staat aufgrund seiner imperialistischen Wirtschaftspolitik in der Lage ist, einen Sozialstaat aufrechtzuerhalten, der viele der existentiellen Bedürfnisse oberflächlich befriedigt und viele Menschen direkt oder indirekt an staatlichen Leistungen und soziale Hilfesysteme bindet. Was bedeutet dies für den Aufbau von Massenorganisationen? Wie ist die Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat strukturiert und was könnten darin Ausgangspunkte aber auch Hindernisse für breitere Organisierungsprozesse sein?

Wir denken, dass einer der Fehler vieler bisheriger Stadtteilansätze – unserem inbegriffen – war, dass wir in unsere Praxis gestartet sind, ohne dass wir vorher die Frage nach den existentiellen Notwendigkeiten als Ausgangspunkte der Organisierung ausreichend beantwortet haben. Viele der Stadtteilinitiativen oder Basisprojekte haben – wie wir – damit begonnen, verschiedene soziale, kulturelle und politische Angebote im Stadtteil zu entwickeln oder Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, in denen Leute zusammen kommen können. Aber die Mehrheit der Leute, die in den Stadtteilen wohnt, nutzen diese Räumlichkeiten oder Angebote nicht. Soziale, kulturelle oder politische Veranstaltungen sind wichtig, aber unserer Erfahrung nach kein ausreichender Ausgangspunkt für eine dauerhafte Organisierung. Sie sprechen – bis auf ein paar Ausnahmen – zumeist bereits im weiteren Sinne politisierte, vorwiegend weisse, akademische, junge Menschen an und reproduzieren damit häufig die eigene Szene.

c) Aufbau von verbindlichen Basisorganisationen

Ein drittes Kriterium der Basisarbeit ist, dass sie zum Aufbau von verbindlichen Basisorganisationen beitragen muss. Das heisst, es reicht nicht, wenn wir Stadtteilbasisarbeit machen und uns damit zufrieden geben, dass wir als Gruppe von Aktivist*innen im Stadtteil bekannt werden und Kontakte aufbauen. Unsere Erfolge messen wir häufig daran, dass uns viele Nachbar*innen kennen oder wir mit dem Ladenbesitzer hier und der Taxifahrerin dort ein Pläuschchen halten oder Leute zu unseren Aktionen oder Angeboten kommen. Aber es ist etwas grundsätzlich anderes, ob eine Gruppe von Aktivist*innen im Stadtteil Politik macht und dadurch eine gewisse Bekanntheit und Beliebtheit erreicht oder ob sie über ihre Praxis in der Lage ist, eine Basisorganisation aufzubauen, in der ein Teil der Bewohner*innen des Stadtteils selbst zu aktiven Mitgliedern wird. Wir müssen uns klar machen, dass nicht nur wir – als linke Aktivist*innen – die Subjekte der Gesellschaftsveränderung sind, sondern wir müssen darauf hinwirken, dass sich mehr Unterdrückte als Initiativkräfte für Gesellschaftsveränderung sehen. Das Ziel von revolutionärer Basisarbeit muss also sein, Menschen dazu zu ermutigen und zu befähigen, selbst Teil der Lösung ihrer Probleme und damit Subjekte der Veränderung zu werden.

Das Werkzeug der Veränderung ist die kollektive Organisierung und nicht der Aktivismus einer kleinen Gruppe. Das heisst aber auch, dass eine Praxis, die auf einer Gruppe von Aktivist*innen beruht, die sich immer neue Kampagnen, Aktionen oder Veranstaltungen für den Stadtteil ausdenken, nicht ausreicht. Selbst die Mobilisierung von vielen Leuten zu Aktionen im Stadtteil ist etwas anderes, als viele Leute aus dem Stadtteil, die organisiert sind. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Mobilisierung und Organisierung. Mobilisierungen finden relativ häufig statt, teils spontan oder auch weil eine Gruppe zu etwas aufgerufen hat. Sie konzentrieren sich auf ein bestimmtes Thema oder eine Forderung. Aber nachdem das Ziel erreicht wurde (oder auch nach einer bestimmten Zeit ohne Erfolg), zerstreuen sich die Menschen wieder.

Im Zentrum des Organisierens steht hingegen, eine wachsende Anzahl von Menschen dazu zu bringen, langfristig zusammen zu arbeiten und selbst Träger*innen einer grundlegenden Veränderung zu werden. Wenn wir dem hoch organisierten System etwas entgegen setzen wollen, reichen unverbindliche Angebote, Mobilisierungen zu einzelnen Themen oder das Führen von einzelnen sozialen Kämpfen (selbst wenn diese vorübergehend dynamisch sind, wie viele der Mietkämpfe) aus unserer Sicht nicht aus. Das heisst, dass wir Wege finden müssen, wie wir Menschen dazu motivieren können, sich längerfristig zu organisieren und verbindliche Strukturen so aufzubauen, dass sie nicht zusammenbrechen, wenn einige zentrale Aktivist*innen aus der Praxis ausscheiden.

Verbindliche Strukturen im Sinne einer Basisorganisation sind – anders als bei einer Gruppe – darauf ausgelegt, zu wachsen und Strukturen zu schaffen, in denen sich mehr Mitglieder verantwortlich beteiligen können und sich so zu Aktivist*innen/Initiativkräften entwickeln und ermächtigen (Multiplikation von Aktivist*innen). Um so eine Basisorganisation – und weiter gedacht – überregionale organisierte soziale Bewegung aufzubauen, braucht es ein Verständnis davon, wie eine Basisorganisation aussehen muss, in der sich 100 oder mehr Menschen – nicht nur als passive Mitglieder – organisieren.10 Basisorganisationen als organisierte soziale Bewegung bzw. in Form von politischen Massenorganisationen brauchen unter anderem transparente Strukturen, politische Grundsätze, verschiedene Beteiligungsformen und Arbeitsteilung.11

Sich als Organisation zu verstehen, sollte aber nicht mit einer Gleichmachung und dem Ignorieren von Unterschiedlichkeit gleichgesetzt werden. Wir werden alle auf unterschiedliche Weisen innerhalb dieses Systems unterdrückt und ausgebeutet. Innerhalb der Basisorganisation muss es daher ein Ziel sein, sich als Teil einer Organisation zu verstehen, in der wir gemeinsam füreinander und für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung kämpfen. Wir möchten die Trennungen aufgrund bestimmter struktureller Unterdrückungen, die derzeit gesellschaftlich vorherrschen, überwinden und etwas Gemeinsames schaffen, in dem wir mit in unserer Unterschiedlichkeit gemeinsam Seite an Seite kämpfen.

d) Politische Bildung

„Mehr als alle anderen sollten die Unterdrückten selbst wissen, wie man das kapitalistische System zerlegt und Lösungen für die Probleme von Menschen finden kann. Es ist leicht, diejenigen zu besiegen, die nicht lernen, diejenigen, die aufhören zu denken. Es ist traurig zu wissen, dass viele Studierte nicht in den Kampf eintreten. Aber es ist unverzeihlich, wenn eine kämpfende Person nicht studiert, nicht intellektuell wird. Studieren bedeutet zu verstehen, was mit dir und mit anderen passiert und nach einer Lösung zu suchen. Dies erfordert eine Reflexion über die eigene Erfahrung und die historische Erfahrung der Klasse der Unterdrückten, die Aneignung des angesammelten Wissens. Sich zu bilden bedeutet weder Kurse zu belegen noch den Kopf mit Informationen zu füllen. Es bedeutet, Antworten finden zu können, die die Probleme der Menschen heute betreffen.“ 12

Menschen zusammenzubringen und dazu einzuladen, sich zu organisieren, ist eine Aufgabe der Basisarbeit. Eine andere – und häufig schwierigere – ist, sie dazu zu motivieren, organisiert zu bleiben und deutlich zu machen, warum es einen permanenten Kampf- und Lernprozess sowie eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft braucht. In dem Text „Stadtteilbasiswegung – die Konstruktion einer Alternative“13 haben wir diesen zweiten Aspekt als „Arbeit an der Basis“ bezeichnet. Politische Bildung spielt dabei eine zentrale Rolle und stellt daher das vierte Kriterium für Basisarbeit dar. Aus unserer Praxis heraus wissen wir, dass es häufig einfacher für langjährige Aktivist*innen ist, Dinge selbst zu tun, um Zeit zu sparen und das Gefühl zu haben, dass etwas vorangeht.

Wir sind es gewohnt mit wenigen Leuten in kurzer Zeit Kampagnen, Veranstaltungen oder andere Projekte auf die Beine zu stellen. Aber wenn wir ernst nehmen, dass wir für eine Gesellschaftsveränderung eine breite organisierte Kraft brauchen und Prozesse, die Menschen ermächtigen, ihre Subjektivität zu entfalten, dann ist die Weitergabe von Wissen, Erfahrungen und Fähigkeiten essentiell. Dann muss ein wesentlicher Kern von Basisarbeit die organisierte Verbreitung von kollektivem Wissen zur Überwindung von Unterdrückung und Ausbeutung sein.

Sie gewährleistet, dass das Wissen, dass sich in den Kämpfen der Arbeiter*innen historisch angesammelt hat, zu denjenigen kommt, die heute unterdrückt werden und die das Wissen zum Verständnis und der Veränderung ihrer Situation brauchen. Zum anderen hilft politische Bildung, die vielzähligen rassistischen, sexistischen oder neoliberalen Denk- und Verhaltensweisen zu erkennen und zu hinterfragen. Das heisst, dass wir von Beginn an unsere Strukturen so aufbauen sollten, sodass sowohl neue Leute, die zu uns stossen, als auch langjährige Initiativkräfte die Möglichkeit erhalten, sich darin zu bilden und zu entwickeln.

Politische Bildung hat aber auch die wichtige Funktion Aktivist*innen zu multiplizieren oder andersherum Menschen zu Aktivist*innen auszubilden und somit Wissensunterschiede innerhalb der Organisation zu verkleinern und die Verantwortung von einigen wenigen auf viele auszuweiten. Denn: „Eliten haben keine Angst vor herausragenden Führer*innen. Es ist für sie leicht, diese zu isolieren, zu zerstören, einige der herausragenden Köpfe zu “kaufen”. Die Vermehrung von Aktivist*innen und Aktionen macht all denjenigen Angst, die sich an die Praxis der Herrschaft gewöhnt haben. Deshalb muss die Multiplizierung von Aktivist*innen ein zentrales Ziel der Basisarbeit und der Struktur der Organisierung sein“14.

Viele von uns haben wenig Erfahrung mit solchen organisierten Bildungsstrukturen, die sich an den Notwendigkeiten der Praxis orientieren. Die meisten haben sich ihr Wissen individuell und zufällig angeeignet, wie z. B. durch Bücher lesen, an der Uni oder auf politischen Veranstaltungen. Als Organisation oder organisierte Bewegung ein eigenes Bildungssystem aufzubauen, ist jedoch etwas anderes. Wir können dabei viel von anderen Bewegungen lernen, wie der MST, der kurdischen Bewegung, aber auch neueren Basisorganisationen wie der L.A Tenants Union. Bildung findet dort zum einen über eigene Akademien und Bildungsangebote mit unterschiedlichen Stufen, zum anderen durch die Reflexion der eigenen Lebenssituation (z.B. die Auseinandersetzung mit der Frage, warum manche Menschen mehrere Häuser besitzen und andere zwangsgeräumt werden) statt.

Politische Bildung in einer Basisorganisation findet also auf unterschiedlichsten Ebenen statt: in der Praxis selbst über das Miterleben kollektiver Entscheidungsfindungsprozesse, basisdemokratischer Verwaltung, das Organisieren von Aktionen zur Durchsetzung von Forderungen oder über die gezielte Vermittlung von theoretischem und praktischen Wissen. Wir sollten die konkreten Kämpfe für eine Verbesserung der jeweiligen Lebenssituationen (Kampf gegen Mietsteigerungen, bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne, gegen rassistische Polizeigewalt etc.) als Ausbildung für den Kampf gegen das gesamte System und den Aufbau einer grundlegend anderen Gesellschaft nutzen.

Wenn wir von der Notwendigkeit politischer Bildung sprechen, dann stossen wir immer wieder auf Skepsis oder auch Ablehnung. Politisierung wird mit Autoritarismus in Verbindung gebracht beziehungsweise mit einer vermeintlich arroganten Überzeugung linker Aktivist*innen, mehr zu wissen als andere. Es wird entgegnet, alle Menschen besässen bereits Wissen aus ihren alltäglichen Erfahrungen und der Bewältigung ihres Alltags und bräuchten deshalb keine linken „Besserwisser*innen“.

Es stimmt, dass alle Menschen über Wissen verfügen, sei es über ihre eigene Lebensrealität oder darüber, wie man die alltäglichen Probleme bewältigen kann. Aber es ist auch ein Fakt, dass die Möglichkeiten, sich kritisches Wissen in dieser patriarchal-rassistischen Klassengesellschaft anzueignen unterschiedlich verteilt sind beziehungsweise die Aneignung von kritischem Wissen gezielt erschwert wird. Das führt zu der absurden Situation, dass zum Beispiel teilweise weisse Studierende mehr über die Black Panther Party oder Geschichte der Arbeiter*innenbewegung wissen, als viele Schwarze Geflüchtete oder Arbeiter*innen aus dem Stadtteil. Organisierte politische Bildung heisst, Wissen zu verbreiten. Und zwar weder zufällig noch spontan, sondern als organisierter und fester Bestandteil einer Basisorganisation. Das bedeutet auch, dass wir uns überlegen müssen, welches Wissen wir aus dem Ozean der Theorie und den angesammelten Erfahrungen für das Verständnis unserer Situation und unserer Kämpfe am dringendsten benötigen und uns mit Methoden zu beschäftigen, wie politische Bildung aussehen kann.

e) Mobilisierungen und konkrete Kämpfe

Ein weiteres wichtiges Kriterium von Basisarbeit ist das Führen von konkreten Kämpfen bzw. regelmässige Mobilisierungen und kollektive Aktionen. Sie haben für die politische Selbstermächtigung und die Erfahrung von kollektiver Handlungsfähigkeit eine wichtige Bedeutung. Solidarität und die Kraft von Organisierung lassen sich nicht nur abstrakt vermitteln, sondern brauchen konkrete Beispiele. Wenn wir zum Beispiel mit vielen Leuten vor dem Jobcenter oder einem Unternehmen stehen, ändert das etwas an unserem Gefühl der Ohnmacht und der Individualisierung. Selbst wenn diese Kämpfe nicht erfolgreich sind, kann das Gefühl, Teil einer Organisation zu sein und nicht alleine dazustehen, die politischen Selbstwirksamkeit stärken. Ähnliches passiert, wenn Leute das erste Mal an einer Demonstration teilnehmen, über ihre Probleme in der Öffentlichkeit reden oder gemeinsam Parolen rufen.

Es geht darum zu lernen, dass Druck entstehen und sich Kräfteverhältnisse verändern können, wenn viele Menschen organisiert sind und organisiert auftreten. Dazu braucht es die kollektive Aktion. Mobilisierungen und Aktionen machen also den kämpferischen und politischen Charakter der Basisorganisation deutlich und markieren so den Unterschied zu Sozialer Arbeit. Ausserdem ist das Bewusstsein darüber, dass wir kollektiv etwas bewegen können und müssen, notwendig, um grundlegende Gesellschaftsveränderung überhaupt erkämpfen zu können. Gleichzeitig ist die Strasse selbst ein Lernfeld und Ort der Politisierung. Denn ich erlebe die Wirklichkeit anders, wenn ich in Bewegung bin oder mich in einer Auseinandersetzung befinde, wie z.B. bei der Funktion von staatlichen Institutionen.

f) Schaffung einer organisierten sozialen Bewegung

Eine einzelne Basisorganisation in einem einzelnen Stadtteil wird nicht viel verändern. Die Gefahr ist gross, dass sich die Initiative irgendwann verläuft oder zu Sozialer Arbeit wird. Wenn unser Ziel ist, eine organisierte Kraft von unten aufzubauen, die zu einer politischen Akteurin werden kann und das Potential hat, die gesellschaftlichen Verhältnisse und Hegemonie herauszufordern, dann wird schnell klar, dass der begrenzte Blick auf einen einzelnen Stadtteil nicht ausreicht. Revolutionäre Basisarbeit kann also nicht nur mit dem Ziel verbunden sein, eine lokale Basisorganisation aufzubauen, sondern braucht eine überregionale Perspektive. Wir nennen diese Perspektive organisierte soziale Bewegung.

Wir verstehen unter einer organisierten sozialen Bewegung eine politische und soziale Massenorganisation, die in verschiedenen Stadtteilen und Städten verankert ist, und die gemeinsame Organisierungsstrukturen und politische Übereinkünfte hat. So eine Organisation ist weder eine reine „Organisation der Revolutionär*innen“ im klassischen Sinne, noch eine reine „Organisation der Arbeiter*innen“, sondern verbindet verschiedene Charaktere: einen Gewerkschaftlichen (Werkzeug, konkrete Verbesserungen zu erkämpfen/durchzusetzen), einen Sozialen (Menschen zusammenbringen und eine solidarische und emanzipatorische Kultur entwickeln) und einen Politischen (es gibt bestimmte politische Grundsätze und Ziele). Es sind politische und soziale Massenorganisationen, die sowohl bestimmte ökonomische Forderungen haben und erkämpfen wollen, als auch politische Ziele und Forderungen und ihre Mitglieder politisch bilden.

Solche Formen wurden vor allem im südamerikanischen Raum entwickelt. Ein Beispiel ist die Bewegung der Arbeiter*innen ohne Land in Brasilien oder Arbeiter*innen ohne Dach (MST/MTST). Der Begriff der Bewegung wird dabei anders benutzt als im europäischen Kontext, in dem als Bewegung meist ein loses Mosaik an Organisationen, Gruppen und Protesten auf der Strasse verstanden wird, die sich auf ein bestimmtes Themengebiet beziehen (feministische Bewegung, Klimabewegung etc.). Bewegung im Sinne einer organisierten sozialen Bewegung bezeichnet eher eine überregional funktionierende Massenorganisation, die auf einzelnen lokalen Basisorganisationen basiert, aber gemeinsame Grundsätze, Ziele und Kommissionen hat. Im Bereich der Stadtteilbasisbewegung hiesse dies, eine überregionale Bewegung mit Stadtteilgewerkschaften als lokalen Beinen.

In der bisherigen Diskussion über Basisarbeit scheint uns die Frage nach der überregionalen Perspektive häufig vernachlässigt worden zu sein. Wenn überhaupt, dann wurde unter überregionaler Zusammenarbeit eher eine lockere Vernetzung oder Erfahrungsaustausch verstanden. Für viele erscheint die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen auf überregionaler Ebene zunächst als etwas zusätzliches zu der lokalen Arbeit, das vor allem Zeit und Kapazitäten in Anspruch nimmt, aber keinen direkten Zusammenhang mit oder Effekt auf die lokale Praxis hat. Auch wir selbst haben uns lange Zeit auf den Aufbau der lokalen Praxis konzentriert und auch von anderen Gruppen oft gehört, sie bräuchten erst mal Erfolge in der lokalen Praxis, bevor sie sich über eine überregionale Zusammenarbeit oder gar Organisierung Gedanken machen könnten.

Inzwischen würden wir jedoch sagen, es ist andersherum. Eine überregionale Organisierung hilft, Erfahrungen nicht überall von Null an neu zu machen, sondern sich gegenseitig zu unterstützen und gemeinsam Erfahrungen auszuwerten und Strategien zu entwickeln. Bestimmte Aufgaben, wie zum Beispiel die Erstellung von Bildungsmaterialien oder Flyern, können geteilt werden. Es ist wesentlich schwieriger, unterschiedliche Stadtteilorganisationen, die sich über einen längeren Zeitraum getrennt voneinander entwickelt haben, perspektivisch zusammen zu denken oder miteinander zu organisieren, als Initiativen, die sich parallel und gemeinsam aufbauen. Das heisst, von Beginn an die Entwicklung der überregionalen und lokalen Strukturen zusammen zu denken, ist wichtig, um die grössere Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren und Parallelitäten in unterschiedlichen Städten zu entwickeln, die den Aufbau einer gemeinsamen Organisierung erleichtern.

g) Langfristige Kontinuität – ein langer Atem

Ein weiteres wichtiges Kriterium in Bezug auf Basisarbeit ist langfristige Kontinuität. Basisorganisierungsarbeit ist ein permanenter Prozess – genauso wie eine grundlegende Gesellschaftsveränderung als Ganzes. Wir werden in unserer politischen Praxis Erfolge und Niederlagen erleben. Die Herausforderung ist, daraus zu lernen und die eigene Praxis weiter zu entwickeln. Dafür müssen wir uns aus der Sichtweise lösen, dass unsere politische Praxis unmittelbare, überprüfbare Ergebnisse erzielt. Viele Folgen, wie zum Beispiel Schlüsselmomente in den Politisierungsprozessen einzelner Mitglieder sind nicht unmittelbar messbar.

Trotzdem sind sie entscheidend. Statt jede unserer Aktionen nach kurzfristigem Nutzen zu bewerten, versuchen wir uns als kleinen Teil eines historischen Lernprozesses zu begreifen. Das bedeutet, dass man Dinge ausprobieren darf und mit einer gewissen Fehlertoleranz an die Praxis herangeht. Fehler sind gut, wenn man aus ihnen lernen kann, denn ohne ein gewisses trial and error wird man einen neuen Ansatz nicht weiterentwickeln können. Deswegen ist es uns wichtig, die Praxis sowohl im Hinblick auf eine langfristige Strategie der Gesellschaftsveränderung, als auch im Hinblick auf kurzfristige taktische Aspekte und Notwendigkeiten anzupassen und zu verbessern.

Wir können nicht erwarten, in kürzester Zeit grosse Ergebnisse im Sinne von grundlegender Gesellschaftsveränderung zu erzielen. Wer davon ausgeht, die eigene Geschichte zu Ende zu schreiben, läuft Gefahr, alles zu geben, auszubrennen und sich irgendwann ins Private oder die Subkultur zurückzuziehen. Wer sich jedoch als Teil eines historischen Lernprozesses begreift, der weiss, dass unser Weg ein Marathon und kein Sprint wird. Dafür ist es wichtig, die eigenen Ressourcen so aufzuteilen, dass man auch in Jahren noch in der Lage sein kann aktiv politische Arbeit zu betreiben.

Revolutionäre Basisarbeit konfrontiert Aktivist*innen zudem mit all den Widersprüchen, die es in der Gesellschaft und der eigenen Klasse gibt. Das ist für viele erst mal anstrengend, weil es erfordert, sich aus der Komfortzone der eigenen Szene herauszuwagen. Und, weil der Ansatz der Basisarbeit immer noch marginal innerhalb der radikalen und revolutionären Linken ist, wird man gerade in der Anfangsphase mit Vorwürfen über vermeintliche Unproduktivität konfrontiert werden. Es stimmt, dass revolutionäre Stadtteilarbeit langsamer sichtbare Erfolgserlebnisse hat als eine Kampagne oder die Planung einer Party oder Demonstration. Langfristig ist sie allerdings in der Lage sonst unmögliche Erfolge zu erzielen und Menschen zu ermöglichen, sich zu politischen Subjekten zu entwickeln und zu unseren Mitstreiter*innen zu werden, die wir sonst nicht hätten erreichen können. Der Aufbau einer Stadtteilgewerkschaft erfordert daher eine langfristige Organisierung über Jahre und Menschen, die viel Arbeit und Zeit in den Aufbau stecken.

3. Geschichte und Entwicklungen bis Ende 2019

Nach den einführenden Überlegungen zu dem grundlegenden Verständnis und Kriterien von Basisarbeit möchten wir unsere Praxiserfahrungen bis Ende 2019 näher erläutern. Diese zu kennen ist notwendig, um die Entwicklung des Beratungs-Organisierungs-Ansatzes (BOA) theoretisch als auch praktisch nachvollziehen zu können.

Wir haben 2016 als Initiativgruppe von Solidarisch in Gröpelingen begonnen, revolutionäre Basisarbeit in einem Stadtteil in Bremen zu entwickeln. Vorausgegangen war die Veröffentlichung der 11 Thesen15, infolgedessen sich eine Gruppe von Aktivist*innen zusammen gefunden hat, mit dem Ziel, die theoretischen Überlegungen der Thesen in Bremen in eine lokale Praxis zu übersetzen. Unser Ausgangspunkt damals war es, linke Politik in die Gesellschaft zu tragen und organisierte Strukturen von unten aufzubauen, in denen Menschen zusammenkommen, eine solidarische Kultur untereinander leben, kollektive Lösungen für ihre individuellen Probleme entwickeln und sich über die gemeinsame Organisierung auch ein politisches Bewusstsein aneignen können. Was das konkret bedeutet, haben wir uns erst nach und nach erschlossen – und tun es auch noch weiter. .

Nach einigen Kennenlerntreffen, in denen wir uns über unsere jeweils eigenen Hintergründe und Perspektiven ausgetauscht haben, haben wir damals relativ schnell mit der Praxis begonnen. Das hat dazu geführt, dass wir im Gehen viele der Diskussionen nachholen mussten, die für die Entwicklung der Praxis grundlegend waren. Im Nachhinein würden wir sagen, dass es besser ist, sich am Anfang etwas Zeit zu nehmen, um sich als Anfangs-Initiativgruppe besser kennenzulernen, politische Übereinkünfte miteinander auszuhandeln, sich gemeinsame Ziele zu setzen sowie einen Rahmen für die geplante Praxis festzulegen. Das hilft auch bei der Suche nach neuen Mitstreiter*innen.

Unser erster Schritt in die Praxis war die Auswahl eines Stadtteils. Dazu haben wir unterschiedlichste Stadtteile anhand von Statistiken und anderen Informationen, aber auch durch Umfragen vor Ort erforscht. Relativ bald liessen sich daraus zwei grobe Kategorien von Stadtteilen ableiten: Stadtteile, die eher zentral liegen, eher von einer Mittelschicht geprägt sind, in denen viele linke Aktivist*innen leben und es bereits viele kulturelle und politische Aktivitäten gibt. Und auf der anderen Seite Stadtteile, die weiter weg vom Zentrum liegen, in denen nur wenige Aktivist*innen wohnen, es kaum kulturelle oder politische Aktivitäten gibt und in denen viele Menschen leben, die prekär arbeiten, ALG II beziehen und zudem noch von Rassismus und/oder der Aufenthaltsgesetzgebung betroffen sind.

Obwohl die meisten der Anfangsgruppe in den zentrumsnahen Stadtteilen wohnten, haben wir uns dafür entschieden, unsere Praxis in einem Stadtteil zu beginnen, der zu der zweiten Kategorie zählt. Ein Grund war, dass Menschen bei unserer Umfrage dort viel klarer über Probleme im Alltag und die Notwendigkeit von Veränderung gesprochen haben, als bei unseren Umfragen in den zentrumsnahen und tendenziell reicheren Stadtteilen. Wir sahen dort ausserdem in den Lebensumständen vieler Bewohner*innen existentielle Notwendigkeiten gegeben, wodurch wir hofften, dass sich Menschen dort eher dazu bereit wären, sich gemeinsam zu organisieren.16 Es macht sicher Sinn, wenn Menschen aus der Anfangsgruppe in dem Stadtteil wohnen, in dem mit dem Aufbau einer Basisorganisation begonnen wird, aber wir würden sagen, dass dies keine Notwendigkeit darstellt. Wichtiger ist, aus unserer Sicht, dass unsere Praxis auf eine existentielle Notwendigkeit trifft und eine Klassenperspektive einnimmt, was in prekären Stadtteilen eher gegeben ist.

Nach der Auswahl des Stadtteils haben wir dort über einen längeren Zeitraum unsere Infotische und Umfragen fortgeführt. Das war für uns eine gute Möglichkeit, die Bedingungen vor Ort besser kennenzulernen, aber vor allem auch eine Gelegenheit, uns in den Gesprächen mit Menschen auf der Strasse auszuprobieren und mehr Selbstvertrauen zu entwickeln. Irgendwann wurde klar, dass es nicht mehr ausreicht, weiter nur Umfragen zu machen, sondern, dass wir Angebote entwickeln und Orte schaffen müssen, an denen Menschen zusammenkommen.

Der erste Schritt war deshalb die Organisation eines wöchentlichen offenen Cafés als Anlaufpunkt. Da wir über keine eigenen Räumlichkeiten im Stadtteil verfügten, waren wir damals darauf angewiesen, städtische Räume des sogenannten Quartiersmanagements zu nutzen. Zu den Cafés luden wir die Bewohner*innen der umliegenden Häuserblocks aktiv ein, durch Haustürgespräche und persönliches Einladen vor Beginn der Cafés. Dadurch wurden die Cafés relativ bald von einigen der Bewohner*innen genutzt und es zeigte sich schnell, dass es viele Probleme mit der gemeinsamen Vermieterin – einer Immobilienfirma – gab.

Auf einigen gemeinsamen Treffen besprachen wir mit den Bewohner*innen Möglichkeiten sich gegen die Vermieterin zu wehren und für eine Verbesserung der Wohnbedingungen in den Häuserblocks zu kämpfen. Doch als das Quartiersmanagement von den Versammlungen und deren Inhalt erfuhr, wurden wir aufgefordert aufzuhören, die Bewohner*innen aufzuwiegeln. Kurze Zeit später wurde uns untersagt, die Räumlichkeiten für irgendetwas anderes als „neutrale“ Cafés zu benutzen. Auch den Bewohner*innen wurden die Schlüssel für den Raum entzogen, nachdem ein heimliches Treffen ohne Wissen des Quartiersmanagements dort stattgefunden hatte.

Der Entzug des Raumes bestätigte nicht nur unsere Einschätzung der Rolle und Politik des Quartiersmanagements im Klassenkonflikt in den Stadtteilen, sondern führte uns auch die Notwendigkeit vor Augen, einen eigenen Raum anzumieten, den wir gestalten und nutzen können. Nach der Anmietung eines eigenen Stadtteilladen Ende 2017 begannen wir dort unterschiedliche Angebote zu entwickeln. Dazu gehörten soziale, kulturelle und politische Angebote, wie Mathe-Nachhilfe, Deutschkurse, Filmabende, Veranstaltungen, offene Essensangebote oder Cafés, und auch Kampfkomitees in unterschiedlichen Bereichen wie zum Beispiel zu Miete, oder Arbeit.

Unter dem Dach der Stadtteilgewerkschaft sollten diese unterschiedlichen Kämpfe zusammenfliessen und Orte geschaffen werden, die gegenseitige Unterstützung und Solidarisierungsprozesse ermöglichen sowie das Bewusstsein stärken, dass die unterschiedlichen individuelle Probleme ähnliche strukturelle Ursachen haben. Um dies zu erreichen, haben wir zum einen eine Struktur entwickelt, die aus inhaltlichen Komitees bestand, wie dem Mietkomitee, dem Arbeitskampfkomitee und später dem Antira-Komitee. Zum anderen aus einem wöchentlichen offenen Treffen, zu dem Menschen mit unterschiedlichen konkreten Problemen kommen konnten, um daraus direkte Aktionen/Kämpfe entwickeln zu können. Es gab also unterschiedliche Angebote mit dem Ziel, aus unterschiedlichen individuellen Problemlagen kollektive Kämpfe zu entwickeln und gleichzeitig eine solidarische Kultur und sozialen Austausch zu ermöglichen.

Erfolgreich waren wir damit jedoch nur im Mietbereich und auch nur für eine bestimmte Zeit. Da der Immobilienriese vonovia über 4000 Wohnungen in Gröpelingen besitzt, begannen wir 2017 mit einer gezielten Kampagne zur Mobilisierung der vonovia-Mieter*innenversammlung von vonovia Mieter*innen (2018) Mieter*innen. Wir klingelten bei so gut wie jeder vonovia-Wohnung, führten Haustürgespräche, klebten unsere Einladungen an alle Türen, organisierten Infotische und vieles mehr. Die Folge waren mehrere grosse Mieter*innenversammlungen, aus denen eine Mieter*innen-Demonstration durch den Stadtteil, sowie ein Mietkomitee hervorging.In dem Mietkomitee organisierten sich einige aktive Mieter*innen zusammen mit Aktivist*innen von Solidarisch in Gröpelingen über einen Zeitraum von zwei Jahren.

Einzelne Kämpfe mit der konkreten Forderung nach Reparaturen in Wohnungen einzelner Mieter*innen konnten durch öffentlichen Druck (vor allem Medienarbeit) gewonnen werden – die beiden zentralen Kämpfe (kollektiver Widerspruch gegen Betriebskosten und Entschädigung für monatelange Modernisierungsarbeiten eines Wohnblocks) blieben jedoch erfolglos. Ausserdem gelang es dem Mietkomitee nicht, wirklich viele Mieter*innen über einen Demo von vonovia Mieter*innen in Gröpelingen (2019) längeren Zeitraum aktiv einzubinden und den öffentlichen Druck dadurch konstant hochzuhalten. Gleichzeitig erforderte der kollektive Kampf um ine Reduzierung der Betriebskosten und die Entschädigung für nerven- aufreibende Modernisierungsarbeiten eine ausufernde individuelle Beratung. Diese Umstände führten dazu, dass das Mietkomitee Mitte 2020 inaktiv wurde, nachdem mehrere aktive Mieter*innen sich zudem wegen gesundheitlicher Gründe zurückziehen mussten und die Pandemie persönliche Treffen verhinderte.

Neben dem Mietkomitee hatten wir von Beginn an auch ein Arbeitskampfkomitee. Dort haben wir uns anfangs mit dem Thema Leiharbeit beschäftigt, da Bremen eine der Leiharbeitshochburgen ist und insbesondere in Gröpelingen viele Menschen in Leiharbeit beschäftigt sind. Über Flyerverteilaktionen in den Logistikbereichen und im Stadtteil sowie über persönliche Kontakte haben wir versucht, ein Leiharbeiter*innen-Treffen aufzubauen.

Auch in diesem Bereich konnten wir es nicht schaffen, eine langfristige und verbindliche Organisierung zu erreichen, wodurch dieses Komitee auch inaktiv wurde. Die Frage, wie sich Stadtteilbasisarbeit und Betriebskämpfe und -organisierung verbinden oder gegenseitig stärken lassen, beschäftigt uns immer noch. Wir denken aber, dass der Aufbau von kämpferischen Strukturen speziell im Arbeitsbereich jenseits der reformistischen DGB-Gewerkschaften eine eigene Aufgabe ist und nicht nebenbei im Rahmen eines Komitees einer Stadtteilgewerkschaft verhandelt werden kann. In den weiteren Komitees, die wir gründeten – wie zum Beispiel das Antira-Komitee oder das Jugendkomitee – konnten wir ebenfalls nicht wachsen und konnten diese daher leider nicht aufrechterhalten.

Anfang 2020 mussten wir also feststellen, dass wir in einer Krise waren und die bisherige Praxis nicht die erwünschten Effekte zeigte. Wir hatten es zwar geschafft, Solidarisch in Gröpelingen im Stadtteil bekannt zu machen und einzelne soziale Kämpfe zu führen. Aber am Ende waren wir immer noch eine Gruppe von Aktivist*innen im Stadtteil. Von einer kämpferischen Struktur von unten waren wir weit entfernt.

4) Der Beratungs-Organisierungs-Ansatz (BOA) seit Ende 2020

Die Reflexion unserer Praxis hat seit Beginn unserer Stadtteilarbeit eine wichtige Rolle gespielt. Strategiediskussionen, die Bewertung unserer Praxis in Bezug zu unseren Zielen und die Bereitschaft zu Diskussionen um notwendige Veränderungen waren unter anderem Gründe, warum wir trotz der Schwierigkeiten nicht aufgegeben haben, sondern es möglich war, Misserfolge oder Frustrationen zu nutzen, um daraus zu lernen und die Praxis entsprechend weiterzuentwickeln. Eine die Praxis begleitende Reflexion in Bezugnahme auf die gesetzten Ziele und strategischen Überlegungen ist aus unserer Sicht zentral für die Entwicklung eines Modells der revolutionären Stadtteilarbeit.

Basierend auf unseren Reflexionen und Analysen haben wir einen neuen Ansatz entwickelt und diesen seit Ende 2020 schrittweise in die Praxis umgesetzt: den Beratungs-Organisierungs-Ansatz (BOA). Er ist eine Kombination aus Beratung, verbindlicher Mitgliedschaft, Vollversammlungen, Aktionen, politischer Bildung und unterschiedlichen Beteiligungsmöglichkeiten. Wir denken aufgrund der positiven Erfahrungen, die wir seit der Umsetzung des Beratungs-Organisierungs-Ansatzes machen, dass der Ansatz ein Ausweg aus der Sackgasse sein kann, in der sich einige der Stadtteilgruppen befinden. Wir haben die Veränderungen in unserer Praxis in den letzten Monaten vorsichtig beobachtet, um keine zu schnellen Rückschlüsse zu ziehen. Inzwischen sind wir jedoch der Meinung, dass der Beratungs- Organisierungs-Ansatz enormes Potential hat und – breit angewendet – eine Grundlage für den Aufbau einer organisierten sozialen Bewegung in der Bundesrepublik sein kann. Deshalb schildern wir im Folgenden die unterschiedlichen Aspekte, aus denen sich der BOA zusammen setzt und wie wir ihn konkret umsetzen.

a) Existentielle Notwendigkeit – Beratung als Ausgangspunkt für Organisierung

Wenn wir davon ausgehen, dass die meisten Menschen – insbesondere in prekären Lebenssituationen – sich nicht einfach so organisieren, sondern die Organisierung eine Lösung für konkrete Probleme bieten muss, stellt sich die Frage, was so eine existentielle Notwendigkeit in einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen sein kann. Existentielle Notwendigkeiten sind nicht überall gleich, sondern haben länder- oder auch stadtspezifische Ausprägungen, weshalb es einer Analyse der konkreten materiellen Gegebenheiten in einem Stadtteil und des jeweiligen Staatssystems braucht.

Im Unterschied zu vielen anderen Ländern beispielsweise existiert in der Bundesrepublik ein umfassender Sozialstaat, der die soziale Frage mediiert und vermittelt. Während in anderen Ländern Menschen ohne Arbeit auf kollektive, meist familiäre, Netzwerke angewiesen sind oder direkte Formen der Armut erleben, wie beispielsweise Hunger oder Obdachlosigkeit, federt der Sozialstaat in Deutschland viele dieser Effekte ab. Gleichzeitig bindet er einen Grossteil der Bürger*innen in der einen oder anderen Form an sich, sei es über beispielsweise die Inanspruchnahme von Wohngeld, Kindergeld, Arbeitslosengeld I, Bürgergeld oder Kurzarbeitgeld. Die vorherige Abhängigkeit von kollektiven Strukturen, wie zum Beispiel der eigenen Familie, wurde ersetzt durch die Abhängigkeit vom Staat, die in kaum einem anderen Land so gross ist wie in der Bundesrepublik.

Die Beziehung zwischen Individuum und Sozialstaat wird durch individuelle Rechte und Pflichten vermittelt, die die Grundlage für die Inanspruchnahme der unterschiedlichen Leistungen bilden. Der Staat hat dafür unterschiedlichste Institutionen heraus gebildet, die jeweils eigene Verfahren haben, um Gelder zu bewilligen oder abzulehnen. Dies führt zu einer unersättlichen Bürokratie, die uns die Abhängigkeit tagtäglich vor Augen führt und die Inanspruchnahme von öffentlichen Geldern erschwert. Viele Menschen – vor allem in prekären Stadtteilen oder ohne ausreichende Deutschkenntnisse – sind mit den sehr aufwendigen und komplexen bürokratischen Anforderungen überfordert, was im zweiten Schritt existentielle Bedrohungen zur Folge hat. Denn wer nicht rechtzeitig die Unterlagen beim Jobcenter einreicht oder sich nicht gegen die Schikanen zur Wehr setzen kann, bekommt im Zweifelsfall über Monate hinweg keine Leistungen und verliert am Ende deshalb die eigene Wohnung.

Die Bürokratie des Sozialstaates hinterlässt also eine unendliche Nachfrage nach Unterstützung im Umgang mit dem Papierkrieg der staatlichen Behörden. Die geringere Bereitschaft zur Teilnahme an kollektiven Kämpfen und Streiks liegt wiederum zum Teil an der gelungenen Einbindung von Teilen der Arbeiter*innenklasse in das hiesige System (Sozialpartnerschaft), so dass sie aktiv zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung beitragen. Zum anderen Teil liegt es aber auch an einer gefühlten Ohnmacht und Alternativlosigkeit gegenüber dieser Hegemonie, die zu Resignation und zum Rückzug ins Private führt.

Aber auch ausserhalb des Sozialstaates ist die Beziehung der Individuen zu Arbeitgeber*innen oder Vermieter*innen durch ein ausdifferenziertes und individualisiertes Rechtesystem vermittelt. Die Inanspruchnahme individueller Rechtsberatung ist für viele Menschen deshalb nach wie vor das Mittel der Wahl, um eigene Probleme anzugehen. In den meisten Städten gibt es dafür ein breit gefächertes Beratungsangebot, das meist von karitativen oder staatlich geförderten Vereinen gestellt wird. Die Beratungsstellen machen gute Arbeit und häufig sitzen dort linke Genoss*innen oder kritische Menschen. Aber strukturell unterstützen sie die Entpolitisierung der sozialen Frage, da sich ihre Beratung meist auf den rechtlich vorgegebenen Rahmen begrenzt und versucht individuelle anstelle von kollektiven und politischen Lösungen zu finden und somit die Individualisierung verfestigt wird.

Wir denken, es ist wichtig diese gesellschaftlichen Bedingungen bei der Entwicklung von Modellen der Basisarbeit zu berücksichtigen. Der direkte Schritt von individuellen Problemen zum kollektiven Kampf ist in einer individualisierten und verrechtlichten Gesellschaft wie der bundesdeutschen unserer Ansicht nach ohne weitere Zwischenschritte schwierig.

Vor dem Hintergrund unserer Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD aber auch den Erfahrungen aus unserer vierjährigen Praxis haben wir uns Ende 2020 dazu entschlossen, ein eigenes Beratungsangebot aufzubauen. Der Bedarf an Beratung ist aus unserer Sicht also einer der existentiellen Ausgangspunkte für Organisierung in einer sozialstaatsgeprägten Gesellschaft wie der bundesdeutschen. Das heisst aber auch, dass wir die Beratung als Ausgangspunkt für Organisierung nutzen müssen und nicht als Selbstzweck und nur als individuelle Rechtsberatung und Lösung von Problemen. Denn es geht uns nicht darum, eine weitere Sozialberatungsstelle zu sein. Um das zu gewährleisten, verbinden wir die Beratung mit einer verbindlichen Organisierung, Vollversammlungen, Aktionen, politischer Bildung etc. Aber dazu später mehr.

Die Erfahrung zeigt, dass die Beratung häufig innerhalb kürzester Zeit konkrete und für die Mitglieder existentielle Verbesserungen schaffen kann. Das liegt daran, dass viele Behörden – insbesondere das Jobcenter – aber auch Unternehmen oder Vermieter*innen, sich nicht mal an die sowieso schon begrenzten gesetzlich festgelegten Rechte halten. Viele Menschen kommen in die Beratung zur Stadtteilgewerkschaft, weil sie seit Monaten kein Geld vom Jobcenter erhalten, in verschimmelten Wohnungen leben oder ohne Grund gekündigt wurden. Häufig kennen sie weder ihre Rechte noch verstehen sie die komplizierten Behördenbescheide, so dass es ihnen häufig nicht möglich ist, eigenständig ihre Rechte durchzusetzen. Die kritische und solidarische Beratung spielt deshalb eine wichtige Rolle.

Der erste kleine Schritt der Selbstermächtigung beginnt in der Beratung selbst, durch die Vermittlung einer klaren Haltung gegenüber den Behörden und des Gefühls, dass wir etwas für uns und andere verändern können, wenn wir gemeinsam kämpfen. Gleichzeitig geht es bei der Beratung im Kontext einer politischen Stadtteilbasisorganisation nicht nur darum, die akuten Probleme zu lösen. Aufgabe der Basisorganisation ist es vielmehr, den neuen Mitglieder zu vermitteln, dass die Möglichkeiten der Beratung begrenzt sind und letztendlich nicht die Beratung zur grundlegenden Lösung ihrer Probleme beitragen wird, sondern nur sie selbst als Teil einer kollektiven, Werbung für die Beratung ämpferischen und solidarischen Organisierung.

Wir haben aktuell an drei Tagen in der Woche Beratung bei Problemen mit der Ausländerbehörde, dem Jobcenter, dem Sozialamt, den Vermieter*innen und der Arbeit. Anders als erwartet, hatten wir kaum Probleme damit, Berater*innen zu finden, da es viele kritische Menschen gibt, die selbst bereits Erfahrung mit Beratung haben (z.B. über ihre Arbeit als Sozialarbeiter*innen oder Jurist*innen) und diese gerne in einem politischen Kontext einbringen wollen. Zudem bringen auch viele Leute aus dem Stadtteil Erfahrung und Expertise mit, entweder weil sie sich selbst seit Jahren mit dem Jobcenter herumschlagen oder weil sie Familienmitglieder bei Behördenangelegenheiten unterstützen und oder für sie übersetzen.

Seit wir begonnen haben den Beratungs-Organisierungs-Ansatz in die Realität umzusetzen, merken wir qualitative Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen. Zum einen führt die Beratung dazu, dass permanent neue Leute aus dem Stadtteil zu uns in den Laden kommen und die Stadtteilgewerkschaft kennen lernen. Während wir früher das Problem hatten, dass Angebote nur von wenigen genutzt wurden und wir uns immer wieder überlegen mussten, wie wir in Kontakt mit anderen Leuten aus dem Stadtteil kommen können, führt das grosse Bedürfnis nach Beratung nun dazu, dass von sich aus immer mehr Leute zu uns kommen. Zum anderen werden aber auch immer mehr Leute aus der Beratung in der Basisorganisation aktiv, da wir diese zu den Vollversammlungen und zu den verschiedenen Komitees einladen oder sie andere Aufgaben innerhalb der Organisation übernehmen. Die Beratung ist also eine gute Möglichkeit, um Menschen aus der Beratung selbst wie auch politische Leute aus der Stadt in die Stadtteilgewerkschaft einzubinden.

Während der Beratungszeit sind neben den Berater*innen weitere Mitglieder der Stadtteilgewerkschaft vor Ort, die sogenannten Beratungs-Organisierung-Vermittler*innen (BOV). Sie erklären den Menschen, die das erste Mal in die Beratung kommen das Konzept der Stadtteilgewerkschaft und geben die Informationen über die Mitgliedschaft und politische Übereinkünfte heraus. Den BOVs kommt eine wichtige Rolle zu, da sie ein erstes Bild von der Stadtteilgewerkschaft und der Bedeutung der gemeinsamen Organisierung vermitteln, auf dessen Grundlage die Menschen aus der Beratung entscheiden, ob sie Mitglied werden.

b) Verbindliche Organisierung

Ein zweiter Aspekt, den wir kritisch reflektiert haben, war die fehlende Verbindlichkeit beim Aufbau unserer Strukturen. Wir haben in den ersten Jahren vor allem auf lose Angebote, Treffen und Kämpfe gesetzt, anstatt auf den Aufbau von festen Organisationsstrukturen. Das hat dazu geführt, dass Solidarisch in Gröpelingen eine kleine Gruppe von Aktivist*innen blieb, die unterschiedliche Angebote und Treffen organisierte. Aber es hat sich daraus keine wachsende Struktur unterschiedlicher Menschen herausgebildet.

Einige Mieter*innen im Mietkomitee haben sich zwar emotional Solidarisch in Gröpelingen nahe gefühlt, aber es gab keine klare Mitgliedschaft oder formale Zugehörigkeit – auch was die Beteiligung an Entscheidungen betraf. Solche unverbindlichen Angebote führen aus unserer Sicht nicht nur dazu, dass die Verantwortung letztlich in den Händen von wenigen Aktivist*innen bleibt, sondern verhindern darüber hinaus gemeinsame Lern- und Politisierungsprozesse.

Mieter*innen aus dem Stadtteil kommen auf grossen Miet-versammlungen zusammen, diskutieren ihre Probleme und kämpfen – wenn es gut läuft – über einen bestimmten Zeitraum gemeinsam für eine bestimmte Forderung. Im besten Fall gewinnen sie und machen die Erfahrung, dass kollektive Organisierung hilfreich ist. In den meisten Fällen gehen sie danach wieder auseinander und wählen im Zweifelsfall weiterhin die AfD oder AKP.

Ausgehend von unseren Erfahrungen der letzten Jahre ist in unseren Diskussionen die Frage in den Mittelpunkt gerückt, wie wir verbindlichere Strukturen aufbauen können und was der Unterschied zwischen einer Gruppe und einer Organisation ist, speziell einer politischen Basisorganisation.Viele von uns kennen nur Gruppen, in denen das meiste auf einem Plenum gemeinsam beschlossen wird, neue Mitglieder häufig durch Freund*innenkreise akquiriert werden und die Entwicklung der Mitglieder eine individuelle Aufgabe jeder Person für sich selbst bleibt (eine Ausnahme bilden nur solche Fälle, in denen ein kurzer Begleitprozesse stattfindet, wenn Menschen neu zu einer Gruppe dazu stossen). Das funktioniert aber nicht für eine Organisation aus 100 Mitgliedern oder mehr.

In den letzten zwei Jahren haben wir deshalb eine verbindliche Organisationsstruktur geschaffen, die neben der Beratung verschiedene Komitees, Treffen und Beteiligungsformen umfasst. Um die Beratung mit einer Organisierung zu verbinden und eine Zugehörigkeit zu schaffen, haben wir eine Mitgliedschaft eingeführt. Wir machen den Menschen, die in die Beratung kommen, von Beginn an klar, dass wir keine Beratungsstelle sind, sondern eine Stadtteilgewerkschaft, die auf kollektiver Organisierung beruht. Wir verdeutlichen von Anfang an, dass wir unsere Probleme langfristig nicht nur durch Beratung lösen können, sondern uns darüber hinaus gemeinsam organisieren und für Verbesserungen kämpfen müssen. Die Mitgliedschaft umfasst bestimmte Kriterien wie:

a) Solidarität und Teilnahme an Kämpfen der Stadtteilgewerkschaft, wenn nötig (nach dem bekannten Motto „touch one, touch all“ und nach unserem Motto „People, Power, Solidarität“), b) Teilnahme an Vollversammlungen, c) Teilnahme an kollektiver Kommunikation (Whatsapp-Gruppe) und d) geringfügiger finanzieller Mitgliedsbeitrag, wenn möglich (1€+). Zudem gibt es politische Grundsätze der Stadtteilgewerkschaft, die wir neuen potentiellen Mitgliedern mitgeben und denen sie mit dem Eintritt formal zustimmen.

Zukünftig beraten wir nur noch Mitglieder, die Teil der Stadtteilgewerkschaft sind oder werden wollen. Die Mitgliedschaft ist eine Voraussetzung, um eine verbindliche und längerfristige Organisierung zu ermöglichen, in deren Rahmen weitere Prozesse wie politische Bildung, kollektive Aktionen und Kämpfe, Mitgestaltung, Aufbau einer solidarischen Kultur erst möglich werden.

Für Menschen, die mehr Zeit haben und mehr Aufgaben in der Stadtteilgewerkschaft übernehmen wollen, gibt es weitere Strukturen, an denen sie mitwirken können. Diese umfassen zum einen Komitees und Kommissionen zu einzelnen Teilbereichen der Stadtteilgewerkschaft wie unter anderem das Komitee Küche für alle, Aktionskomitee, Zeitungsgestaltung, Beratungskomitee oder die Kommission für Social Media, politische Bildung etc. Zum anderen regelmässige Treffen, wie das Aktiven- oder Entwicklungstreffen, auf denen strategische und inhaltliche Entscheidungen getroffen und anfallende Aufgaben geklärt oder verteilt werden.

Ein weiterer Aspekt, um die Beteiligung neuer Mitglieder innerhalb der Basisorganisation zu erleichtern, sind klare Aufgabenbeschreibungen und -verteilungen . Zum einen werden dadurch die Aufgaben transparenter. Denn meist ist es insbesondere für neue Mitglieder schwierig, die anfallenden Aufgaben zu erkennen und zu verstehen, weil viele von bereits aktiven Mitgliedern nebenbei erledigt werden. Zum anderen können die Aufgaben dadurch leichter an andere Mitglieder übertragen werden. Zu wissen, was genau eine Aufgabe umfasst und was erwartet wird, hilft dabei, dass neue Mitglieder sich auch trauen, Aufgaben zu übernehmen. Ausserdem können dadurch verschiedene Menschen für einen begrenzten Zeitraum bestimmte Aufgaben übernehmen, wodurch eine Arbeitslastverteilung innerhalb der Organisation erleichtert wird. Eine Aufgabe zu haben, ist wiederum wichtig, um sich als Teil der gemeinsamen Organisierung zu fühlen und sich entwickeln zu können.

Ziel ist perspektivisch, dass alle aktiven Mitglieder der Stadtteilgewerkschaft in einem Komitee mitarbeiten oder eine Verantwortung für einen bestimmten Aufgabenbereich haben. Die verschiedenen Ebenen aus Vollversammlung, Entwicklungs- und Aktiventreffen, Komitees und Verantwortlichkeiten ermöglichen unterschiedliche Beteiligungsgrade und schaffen eine Arbeitsteilung, die Transparenz herstellt und verhindert, dass Treffen mit organisatorischen Punkten überladen werden. Die gemeinsamen Grundlagen aller einzelnen Teilbereiche sind die politischen Übereinkünfte und die definierten strategischen Linien von Solidarisch in Gröpelingen.

Teil der regelmässigen Treffen und wichtiges Element zum Aufbau einer Basisorganisation sind die Vollversammlungen (VV), die seit August 2021 alle sechs Wochen stattfinden. Zu den Vollversammlungen werden alle Leute eingeladen, die in die Beratung kommen oder anderweitig in der Basisorganisation aktiv sind. Die Vollversammlung ist einer der zentralen kollektiven Orte der Stadtteilgewerkschaft, an dem sich die Mitglieder untereinander kennenlernen, von aktuellen Kämpfen berichten und niedrigschwellige politische Bildung durchgeführt wird. Es gibt als Moderationssprache neben Deutsch immer noch eine oder zwei weitere Übersetzungen und je nach Bedarf auch weitere Übersetzungen in andere Sprachen, die als individuelle Flüsterübersetzungen stattfinden. Zudem gibt es immer auch Essen und Musik, um auch ein soziales Miteinander zu ermöglichen.

Ein weiteres für alle offenes und regelmässiges Angebot ist die Küche für alle (Küfa). Sie findet monatlich statt und ist aus der Vollversammlung heraus entstanden. Viele Mitglieder hatten angesichts der steigenden Preise das Bedürfnis geäussert einen Ort zu schaffen, an dem wir kostenloses Essen an die Menschen innerhalb von Solidarisch in Gröpelingen verteilen. Für unsere Organisierungsanstrengungen erfüllt sie mehrere Funktionen: Die Küfa stellt einen guten Anlaufpunkt dar, um neue Mitglieder auf unsere Organisation aufmerksam zu machen. Gleichzeitig ist sie ein Ort, der niedrigschwellige Mitarbeit und ein erstes „Reinschnuppern“, wie es ist organisiert zu sein und wie man in Kommitees arbeitet, ermöglicht. Ausserdem wird durch kulture Theater, die nach dem Essen stattfinden, ein anderer Zugang zu politischen Themen geschaffen.

Die verschiedenen Beteiligungsformen ermöglichen es zum einen, dass neue Mitglieder und Aktive sich in verschiedenen Bereichen einbringen können, ohne den Druck zu haben, direkt alles mitentscheiden zu müssen und bei jedem Treffen dabei zu sein. Ausserdem können sie dadurch Solidarisch in Gröpelingen als Gesamtorganisation mit dessen Struktur und politischen Grundsätzen Schritt für Schritt kennenlernen. Zum anderen können die neuen Mitglieder/Aktiven während des längeren Prozesses hin zu einer Initiativkraft sehen, ob sie mit den erweiterten politischen Grundsätzen übereinstimmen und sich stärker an der Gesamtgestaltung von SiG beteiligen möchten, sowohl auf lokaler als auch überregionaler Ebene. Diese verschiedenen Ebenen sind notwendig, um die Beteiligung verschiedener Menschen auf unterschiedliche Arten zu ermöglichen. Von dieser vielfältigen Beteiligung lebt die aufzubauende politische Massenorganisation.

c) Mobilisierungen und konkrete Kämpfe

Um nicht nur individuelle Rechtskämpfe zu gewinnen, sondern diese auch zu politisieren, sind kollektive Aktionen und Kämpfe notwendig. Aber auch um zu verstehen, was kollektive Handlungsfähigkeit konkret bedeutet. Da der Beratungs- Organisierungsansatz die individuelle Beratung als Ausgangspunkt für die Organisierung nimmt und damit ein Verhältnis, in dem die Person, die in die Beratung kommt, sich erstmal als passiv und abhängig erlebt, sind regelmässige kollektive Mobilisierungen und Aktionen Demo zur Unterstützung des Streiks bei Amazon Elementar. Sie tragen dazu bei, die Rolle als ohnmächtige Hilfesuchende aufzubrechen und in eine Position eines handlungsfähigen politischen Subjektes zu transformieren. Regelmässige Mobilisierungen machen zudem den politischen Charakter der Stadtteilgewerkschaft deutlich und unterstreichen den Unterschied zu auf individuelle Lösungen fokussierten Beratungsstellen.

Aktionen können sich zum einen aus der Beratung selbst ergeben, wenn wir z.B. mit rechtlichen Mitteln nicht mehr weiter kommen oder wenn wir nicht auf das Ergebnis eines rechtlichen Verfahrens warten können, weil sich die davon betroffene Person in einer akuten Notlage befinden. Das ist z.B. der Fall, wenn das Jobcenter monatelang nicht über den Antrag entscheidet oder Leistungen kürzt. In solchen Fällen mobilisieren wir vor das Jobcenter. Ein anderes Beispiel ist, wenn ein Unternehmen eine Person rechtswidrig entlassen hat oder ein Vermieter ein Zwangsräumungsverfahren einleitet. Viele Menschen sind es gewohnt, bestimmte Praktiken einfach hinzunehmen, weil sie nicht die Zeit, das Wissen oder die Ressourcen haben, sich dagegen zu wehren.

Da innerhalb der Stadtteilgewerkschaft Mitglieder mitbekommen, dass sie ähnliche Probleme haben und einzelne Probleme oder Kämpfe immer wieder innerhalb von Vollversammlungen oder anderen Treffen thematisiert werden, entsteht ein Gefühl von Solidarität miteinander. Ausserdem trägt die Weitergabe über das Wissen bestimmter Praktiken staatlicher Institutionen und anderen Stellen dazu bei, Diskussionen über die Ursachen solcher Verhaltensweisen in Gang zu stossen. Indem wir einzelne Fälle aus der Beratung sowohl innerhalb der Stadtteilgewerkschaft thematisieren als auf öffentlich auf die Strasse tragen, kann ein Bewusstwerdungsprozess in Gang gesetzt werden. Denn Menschen können dadurch realisieren, dass ihre individuelle Lage strukturelle Ursachen hat und nicht ihr eigenes Verschulden ist, und, dass wir politische Lösungen und eine grundlegende Gesellschaftsveränderung brauchen, um die Ursachen unserer Probleme zu beseitigen.

Neben Aktionen, die sich aus der Beratung ergeben, können Aktionen aber auch durch aktuelle Entwicklungen und die Diskussionen darüber auf Vollversammlungen oder in anderen Gesprächen entstehen, wie etwa bei der derzeitigen Inflation und sich daraus ergebenden Preissteigerungen. Wichtig ist, die Aktionen so zu gestalten, dass möglichst viele Mitglieder in die Vorbereitung und Durchführung eingebunden sind und die Aktion selbst die einzelnen Teilnehmenden empowert selbst zu sprechen. Wenn die Stadtteilgewerkschaft Aktionen plant, sind alle Mitglieder aufgerufen, daran teilzunehmen. Insbesondere wenn wir konkrete Kämpfe führen. Es geht auch darum, das Bewusstsein „touch one, touch all“ als Haltung zwischen den Mitgliedern zu etablieren und unser Motto „People, Power, Solidarität“ lebendig werden zu lassen.

Für die Umsetzung der Aktionen ist in der Stadtteilgewerkschaft das Aktionskomitee zuständig. Wichtige Aktionen in den letzten Jahren waren zum einen Kundgebungen vor dem Jobcenter, der Sozialbehörde oder dem Gericht, um Mitglieder bei Forderungen in einzelnen Verfahren zu unterstützen. Auf der anderen Seite konnten wir in Gröpelingen relativ erfolgreiche Kundgebungen gegen die Preiserhöhungen und die Auswirkungen der Krise allgemein organisieren. Unsere Erfahrung ist, dass sich Menschen aus dem Stadtteil nicht spontan zu Demonstrationen oder Kundgebungen mobilisieren lassen, auch wenn im Vorhinein intensiv im Stadtteil geflyert und mit Nachbar*innen gesprochen wird. Viele Menschen haben keinen Glauben in die Wirkung von Demonstrationen oder haben Angst, dass es negative Folgen für ihren Aufenthalt haben könnte.

Es ist jedoch etwas anderes, wenn eine Basisorganisation ihre Mitglieder zu einer Kundgebung aufruft, die sich bereits kennen, Vertrauen aufgebaut und im Vorfeld gemeinsam auf Versammlungen darüber gesprochen haben, warum es wichtig ist, auf die Strasse zu gehen. Auf der letzten Kundgebung der Stadtteilgewerkschaft gegen Preiserhöhungen im Februar 2023 waren unter anderem viele Mitglieder der Stadtteilgewerkschaft und ihre Familien und Freund*innen – Menschen aus dem Stadttteil oder aus der Beratung17. Viele davon haben das erste Mal an einer Kundgebung teilgenommen. Es ist also möglich, selbst in bewegungsschwachen Zeiten wie aktuell in der BRD Proteste auch aus den Stadtteilen auf die Strasse zu bringen, aber aus unserer Sicht nicht ohne den Rahmen einer verbindlichen Organisierung.

d) Politische Klarheit und Definition von Zielen

Im Prozess der Entwicklung der Mitgliedschaft und dem Aufbau einer verbindlichen Organisationsstruktur mit Arbeitsteilung in Form von unterschiedlichen Komitees und Kommissionen etc. ist auch die Notwendigkeit einer gemeinsamen inhaltlichen Grundlage stärker in den Vordergrund getreten. Wir haben deshalb politische Übereinkünfte entwickelt, die den Rahmen für die Arbeit der einzelnen Strukturen definiert und die grundlegende Ausrichtung und Haltung der Stadtteilgewerkschaft bestimmt18. Die politischen Übereinkünfte erhalten alle neuen Leute, die sich für die Stadtteilgewerkschaft interessieren. Sich zu entscheiden, Mitglied zu werden, heisst zumindest über die politischen Übereinkünfte informiert zu sein und diese passiv zu akzeptieren.

Die tiefergehende Vermittlung des Inhaltes sowie eine Auseinandersetzung darüber ist Aufgabe der Organisation und vor allem der politischen Bildung. Neben den politischen Übereinkünften der Basismitglieder gibt es noch erweiterte Übereinkünfte, welche die Grundlage für die Initiativkräfte der Stadtteilgewerkschaft bilden. Sie sind auf Grundlage unserer Diskussionen der 11 Thesen sowie unseres damaligen Selbstverständnisses entstanden. Sie beschäftigen sich genauer mit den Aspekten, die in den Basisübereinkünften aufgegriffen werden und enthalten weitere Aspekte, die für eine Verortung innerhalb linker Strömungen und einer Analyse gesellschaftlicher Strukturen sowie der derzeitigen Lage notwendig sind.

e) Politische Bildung

Im Bereich der politischen Bildung haben wir wiederkehrende Bildungsangebote auf unterschiedlichen inhaltlichen Niveaus, je nachdem, wie lange Menschen schon in der Organisation aktiv sind und wie viel Vorwissen sie haben, geschaffen. In den Bildungsangeboten werden beispielsweise die strategischen und politischen Grundlagen von Solidarisch in Gröpelingen vermittelt. Es wird erklärt, warum wir uns als antikapitalistisch verstehen oder wie die eigene Lebenssituation mit strukturellen Problemen verbunden ist. Auf der anderen Seite ist die Bildung von langjährigen Initiativkräften ebenfalls ein wichtiger Bestandteil. Die Auseinandersetzung mit unter anderem olitische Basisbildung Klasse, den verschiedenen Strömungen innerhalb der Linken, der Geschichte von Stadtteilbewegungen oder der Arbeiter*innenbewegung sind notwendig, um sich eine fundierte Grundlage für Stadtteilbasisarbeit zu schaffen.

Die Bildungen bedienen sich verschiedener Methoden der politischen Bildung und haben das Ziel, Menschen aktiv in die Bildung einzubinden und zur Reflexion der eigenen Denkweisen anzuregen. Hierbei ist uns wichtig, nicht eine Lehrer*in-Schüler*in-Atmosphäre zu schaffen, sondern einen Austausch auf Augenhöhe zu ermöglichen. Ebenfalls organisieren wir Offene Austausche, in denen es am Anfang nur eine kurze Einleitung zum Thema gibt und danach offen über Themen wie Inflation oder den Ukraine-Krieg diskutiert wird.

Auch in anderen Bereichen von Solidarisch in Gröpelingen spielen die Überlegungen zu politischer Bildung und das Ziel, Möglichkeiten zur Entfaltung von Subjektivität zu schaffen, eine Rolle. Vollversammlungen dienten am Anfang eher dazu, Menschen aus der Beratung oder weiterem Umfeld zu Solidarisch in Gröpelingen einzuladen.

Austauschtreffen zum Thema: Wer oder was ist eigentlich Schuld an meinen Problemen?

Es sollte eine erste Möglichkeit der Beteiligung, des Gefühls von Kollektivität und einen Überblick über die Aktivitäten und Themen innerhalb von Solidarisch in Gröpelingen vermitteln. Hierbei waren die Vollversammlungen eher von Berichten geprägt und weniger von Austausch. Eine Weiterentwicklung der Vollversammlung umfasst nun unter anderem, jeden einzelnen Menschen durch beispielsweise Diskussionen in Kleingruppen in die Vollversammlung einzubinden. Dies führt dazu, dass die Hemmschwelle, eigene Ideen einzubringen, sinkt und dass sich alle Mitglieder stärker in Solidarisch in Gröpelingen einbringen können. Die Vollversammlung ist zu einem Ort geworden, an dem neue Verantwortlichkeiten verteilt werden und ein stetiger niedrigschwelliger Politisierungsprozess stattfindet. Auch innerhalb der Aktiventreffen wird diese Herangehensweise verfolgt, um auf informelle Art Wissen weiterzugeben und die Handlungsfähigkeit aller Aktiven innerhalb der Organisation zu stärken.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Politischen Bildung ist die Sommerschule. Bei der letzten Sommerschule konnten nicht nur Initiativkräfte teilnehmen, sondern auch Aktive der Stadtteilgewerkschaften. Die Sommerschule ist ein Ort, an dem sowohl Austausch zwischen den verschiedenen Stadtteilorganisationen stattfinden kann, aber auch innerhalb der

Stadtteilgruppen Anregungen und Politische Basisbildung mit Essen Diskussionen angestossen werden können. Durch den Wechsel zwischen praktischen Workshops zu Themen wie „Reden auf Demonstrationen“ und theoretischen Grundlagen revolutionärer Basisarbeit können sich alle innerhalb der Stadtteilgruppe ein ähnliches Wissensniveau aneignen. Ausserdem stärkt die Sommerschule ein Zugehörigkeitsgefühl zur Stadtteilgewerkschaft und zu einer Bewegung von Stadtteilorganisationen, wodurch Menschen dazu motiviert werden, sich noch stärker in die Organisation einzubringen.

f) Schaffung einer organisierten sozialen Bewegung

Um die Idee einer organisierten sozialen Bewegung in die Praxis umzusetzen und zu entwickeln, haben wir mit der Stadtteilbasisorganisation Berg Fidel Solidarisch aus Münster eine gemeinsame Kommission gegründet. Ziel dieser Kommission ist sowohl der Aufbau einer überregionalen Organisation, als auch die stetige Weiterentwicklung unseres Ansatzes durch gegenseitigen Austausch und solidarische Unterstützung. Bisher haben wir mit Berg Fidel Solidarisch ein gemeinsames 10-Punkte-Programm herausgegeben, mit dem wir überregional in den Stadtteilen auftreten19 und gemeinsame Vorstellungen in der Öffentlichkeit vertreten. Ausserdem halten wir zusammen Vorträge über unsere Arbeit, besuchen uns regelmässig und teilen Ressourcen, wie zum Beispiel durch gemeinsame Bildungen und Aufgabenteilung in verschiedenen Bereichen.

Wir bauen zunehmend parallele Strukturen auf und konnten beispielsweise eine gemeinsame Vollversammlung über einen Videoanruf abhalten. Unser bisher grösstes gemeinsames Projekt war die Organisation einer fünftägigen Sommerschule mit Teilnehmer*innen aus unterschiedlichen Städten. Die Sommerschule hat uns gezeigt, dass wir nicht isoliert in unserem Stadtteil sind. Zu sehen und zu wissen, dass man nicht alleine kämpft, sondern mit vielen anderen, die sich auch als Teil einer gemeinsamen Bewegung betrachten, kann einem im Alltag sehr viel Kraft geben.

Perspektivisch wollen wir eine organisierte soziale Bewegung der Stadtteilgewerkschaften aufbauen. Dafür arbeiten wir unter anderem an Strukturen und Kriterien der Zusammenarbeit, versuchen Bildungsformate zu entwickeln, die unsere Idee am besten vermitteln, und suchen bundesweit und darüber hinaus nach Mitstreiter*innen. Dieser Text und der nachfolgende Aufruf sind Teil dieser Anstrengungen.

6) Aufruf

Seit der Umsetzung des Beratungs-Organisierungs-Ansatzes (BOA) hat sich Solidarisch in Gröpelingen auf verschiedene Weisen verändert. Eine der wichtigsten Veränderungen ist, dass über die Beratung permanent neue Leute aus dem Stadtteil – aber auch darüber hinaus – zur Stadtteilgewerkschaft kommen und viele davon neue Mitglieder werden. Die Beratung schafft also den Ausgangspunkt für eine Organisierung und trägt so zum Aufbau einer Basis der Stadtteilbewegung bei. Dadurch hat sich die Zusammensetzung der Stadtteilgewerkschaft von einer überwiegend weiss akademisch geprägten Polit-Gruppe hin zu einer diversen und von Menschen aus dem Stadtteil mit getragenen Basisorganisation entwickelt.

Zum anderen konnten wir über den Aufbau unterschiedlicher Komitees und den Ausbau offener Beteiligungsformate wie der Vollversammlung oder der Küche für alle erreichen, dass mehr Leute in der Stadtteilgewerkschaft aktiv geworden sind. Die Kombination aus Beratung als Eingangstor und unterschiedlichen niederschwelligen Beteiligungsmöglichkeiten hat in den letzten Monaten dazu geführt, dass mehr Leute Mitglied der Stadtteilgewerkschaft und darin aktiv geworden sind, als in den vier Jahren davor. Die meisten dieser neuen Mitglieder kommen selbst aus dem Stadtteil.

Auch haben verschiedene Bildungsgelegenheiten wie Workshops, offene Austauschtreffen, Bildungen, Plena-Situationen oder Gespräche dazu geführt, dass sich neue Mitglieder aktiver in die Organisation einbringen und sich Wissen über politische Themen aneignen konnten. Darüber sind neue Räume der populären Beteiligung entstanden, in denen niedrigschwellige Politisierungsprozesse angeregt werden konnten.

Mit dem BOA-Ansatz sind – wie mit allen politischen Ansätzen auch – einige Herausforderungen verbunden, denen wir auch in Zukunft begegnen müssen. So ist es immer wieder ein Balanceakt in der Beratung nicht nur individuelle Lösungen für die Mitglieder zu finden, sondern auch auf die strukturellen Ursachen dieser Probleme hinzuweisen und aus ihnen heraus politische Aktionen zu initiieren. Ausserdem führt der Ausbau der Komitees, der Wachstum der Organisation als Ganzes und andere Aufgaben zu einer Mehrarbeit, die nicht immer alle leisten können. Unserer Erfahrung nach treten manchmal dann strategische Diskussionen in den Hintergrund, weil praktische Aufgaben eine höhere Dringlichkeit haben, wie beispielsweise die Organisation der Küfa an einem bestimmten Datum. Strategischen Fragen und Diskussionen trotz der drängenden praktischen Aufgaben kontinuierlich genug Raum und Zeit einzuräumen, ist daher ein fortlaufender Aushandlungsprozess.

Gleichzeitig merken wir bei der Entwicklung der Praxis, dass viele Erfahrungen mit Organisierung von unten und dem Aufbau von demokratischen Massen-Basisorganisationen hierzulande verloren gegangen sind, so dass wir viele Fragen, die sich im Gehen stellen, selbst lösen müssen (auch wenn der Blick zu Bewegungen in anderen Ländern die Entwicklung unserer Praxis massgeblich beeinflusst hat). Revolutionäre Basisarbeit basiert auf einem vollkommen anderen Verständnis von Aktivismus und politischer Praxis als viele von uns es bisher gewohnt waren und als es in der linken Szene gängig ist. Das führt dazu, dass es Genoss*innen immer wieder schwer fällt, den Schritt heraus aus dem gewohnten Politikverständnis zu machen und an das Potential einer Organisierung von unten zu glauben. Wir denken jedoch, dass revolutionäre Basisarbeit mit der Zeit und mit den Erfahrungen, die wir in den unterschiedlichen Städten machen, ein selbstverständlicher Teil linker Kultur und politischer Ansätze werden und sich in Zukunft daher auch schneller weiter entwickeln wird.

Wir jedenfalls sind immer noch euphorisch über die vielen Veränderungen, die wir in den letzten Monaten beobachten konnten. Sie geben uns neue Hoffnung und festigen unseren Glauben an das Potential revolutionärer Basisarbeit. Wir sind aufgrund der Erfahrungen, die wir bei der Umsetzung des BOA-Ansatzes gemacht haben, zu der Überzeugung gelangt, dass die Kombination aus Beratung und Organisierung das Potential hat, einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung einer organisierten sozialen Bewegung aus den Stadtteilen zu bereiten. Allerdings reicht es nicht aus, wenn wir diesen Ansatz nur in einem Stadtteil aufbauen und weiter entwickeln. Deshalb möchten wir mit diesem Text auch andere Genoss*innen und Gruppen dazu aufrufen, den BOA-Ansatz in ihren Städten auszuprobieren und mit uns gemeinsam weiter zu entwickeln. Wenn ihr Interesse habt, sind wir gerne bereit, euch bei den ersten Schritten zu begleiten.

Lasst uns gemeinsam die Vision einer organisierten sozialen Bewegung in die Praxis umsetzen. Lasst uns eine Kraft schaffen, die in der Lage ist, die Welt, uns und andere zu verändern.

Fussnoten:

1 „Für eine grundlegende Neuausrichtung linksradikaler Politik – Kritik & Perspektiven um Organisierung und revolutionäre Praxis“ von kollektiv aus Bremen. Zu finden unter: https://solidarisch-in-groepelingen.de/wp-content/uploads/2022/03/11-Thesen_A4.pdf

2 https://bfsolidarisch.blackblogs.org

3 „Stadtteilbasisbewegung: Die Konstruktion einer Alternative. Über einfache und komplexe Formen der Basisarbeit“: https://solidarisch-in-groepelingen.de/wp-content/uploads/2022/03/ Stadtteilbasisbewegung-Die-Konstruktion-einer-Alternative-1.pdf

4 Zur Möglichkeit der Gesellschaftsveränderung und Politik von unten siehe auch den Beitrag von Nima Sabouri zu Subjektivität und Organisierung: https://www.untergrund-blättle.ch/politik/theorie/politik-von-unten-teil-1-subjektivitaet-und-organisierung-7493.html

5 Margaret Thatcher war von 1979 bis 1990 britische Premierministerin. Sie steht symbolisch für die Durchsetzung des Neoliberalismus auf der Basis von konservativen Werten. In ihrer Amtszeit wurden viele der Staatsunternehmen privatisiert, Gewerkschaften und ihr Einfluss zerschlagen. Sie prägte den Satz, „Es gibt keine Alternative“, um ihre Politik zu rechtfertigen und ideologisch zu untermauern.

6 Wir lehnen nicht das Konzept des Schutzortes ab. Orte, in denen sich Menschen sicherer und geschützter vor Unterdrückung und Diskriminierung fühlen, sind legitime und wichtige Orte. Wir kritisieren jedoch eine linke Politik, die überwiegend auf der Schaffung solcher subkultureller Orte basiert und sich aus der Gesellschaft zurück zieht. Eine gesellschaftsverändernde Praxis, die darauf abzielt, mehr Menschen in einen Prozess der Gesellschaftsveränderung zu integrieren, muss sich mit den Widersprüchen innerhalb der Gesellschaft konfrontieren und Mittel schaffen, wie in einem kollektiven Prozess verinnerlichte rassistische, patriarchale, neoliberale etc. Denk-und Verhaltensweisen angesprochen und überwunden werden können.

7 Wir glauben nicht, dass es reicht, auf eine Machtübernahme zu setzen, infolgedessen die Gesellschaft von oben verändert wird. Und wir glauben auch nicht, dass sich Menschen in Aufständen oder Massenstreiks spontan all die Fähigkeiten und Erfahrungen aneignen, die sie für den nachhaltigen Aufbau einer neuen Gesellschaft brauchen.

8 Unter Unterdrückte verstehen wir zum einen all diejenigen, die prinzipiell darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben. Also alle, die arbeiten müssen, weil sie über kein nennenswertes Vermögen verfügen. Zum anderen basiert die kapitalistische Wirtschaftsweise auch auf anderen Unterdrückungsstrukturen, wie z.B. auf der (post-)kolonialen/imperialistischen und rassistischen Unterdrückung von BIPOC, patriarchalen Strukturen v.a. in der sozialen Reproduktion, der zerstörerischen Ausbeutung der nicht-menschlichen Natur, staatlichen Repression etc. Diese verschiedenen Strukturen sind miteinander im derzeitigen System verwoben, weshalb wir uns mit dem Begriff Unterdrückte auf all diejenigen, die von den verschiedenen Unterdrückungsformen betroffen sind, beziehen.

9 Definition von Basis durch den MST (Bewegung der Arbeiter*innen ohne Land) aus Brasilien: „Oder, die Basis ist derjenige Teil der ausgebeuteten Klasse (Masse), der beschliesst einen inneren und äusseren Veränderungsprozess zu unterstützen, bei sich selbst und der Realität, in der sie handelt. Und die beschliesst, dies organisiert und anhand von kollektiven und politischen Kämpfen zu machen.“ (Bildungsheft MST Método de trabajo y organización popular. Über Basisarbeit, Massenarbeit und Arbeit der Gruppe, S. 129)

10 Wir denken an eine Idee der „aktiven Beteiligung“ bzw. des bewussten „Aktivseins“. Das bedeutet, sich aktiv in das Projekt des sozialen Wandels einzubringen, das wir anstreben. Für uns ist diese Idee mit dem Verständnis verbunden, dass unser organisiertes kollektives Handeln kurz-, mittel-und langfristig strategisch zu einer Veränderung der Realität, in der wir agieren (auch innerhalb der Gesellschaft), beiträgt. Für eine Basisorganisation können wir folgende Punkte als “aktive Beteiligung” bzw. „Aktivsein“ erwähnen: Es geht nicht nur um „eine Teilnahme“; es bedeutet nicht nur zu Nicken oder eine „Ja-Sagen“-Haltung zu haben; es bedeutet, Teil von etwas zu sein, während man dieses Etwas aufbaut/gestaltet; es bedeutet Antworten zu geben und auch Fragen zu stellen.

11 Transparenz schafft mehr legitime Entscheidungen und Konsens innerhalb unserer Basisorganisation; eine effizientere Arbeitsweise durch Berücksichtigung des tatsächlichen Bedarfs der gesamten Organisation und der Teilbereiche sowie von ihren Mitgliedern; einen permanenten Dialog zwischen den Mitgliedern und der gesamten Organisierung. Transparenz braucht jedoch eine gemeinsame Grundlage in Form von minimalen oder maximalen politischen Übereinkünften sowie gemeinsamen Zielen. Denn wir gehen davon aus, dass eine Organisation nicht gut, kontinuierlich und transparent funktionieren kann, wenn ihre Mitglieder keinen ideologischen Minimalkonsens haben oder die politischen Übereinkünfte und Ziele nicht kennen.

12 Das Zitat stammt aus einem Bildungsheft der Bewegung der Arbeiter*innen ohne Land (MST) aus Brasilien

13 https://solidarisch-in-groepelingen.de/wp-content/uploads/2022/03/Stadtteilbasisbewegung-Die-Konstruktion-einer-Alternative-1.pdf

14 MST, Caderno de formacao 38, Método de trabalho de base e organizao popular, S.27

15 https://solidarisch-in-groepelingen.de/wp-content/uploads/2022/03/11-Thesen_A4.pdf)

16 Näheres zu den theoretischen Überlegungen zu existentiellen Notwendigkeiten und ihrer Relevanz für Stadtteilarbeit siehe Kapitel

17 Ein gutes kurzes Video der Kundgebung findet sich hier: https://solidarisch-in-groepelingen.de/genug-ist-genug-fuer-eine-gerechte-gesellschaft-auf-die-strasse-gehen-filme-fotos/

18 https://solidarisch-in-groepelingen.de/selbstverstaendnis/

19 https://solidarisch-in-groepelingen.de/10-punkte-fuer-eine-gerechtere-gesellschaft/

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Rette Lebensmittel wer kann

Erstellt von DL-Redaktion am 13. April 2023

Von der Lebensmittelrettung zur ganzen Bäckerei

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      ;       Jonathan Eibisch

Während vor 15 Jahren Personen wie Hanna Poddig, die in Talkshows das Containern propagierten, noch als völlig abgedrehte Freaks dargestellt werden konnten, hat sich das Blatt mittlerweile gewendet.

Dass inzwischen Politiker*innen der Grünen, ebenso wie von der FDP vorschlugen, zu entkriminalisieren, wenn Menschen Essen aus Supermarktcontainern ziehen, hat seine Gründe. Es sind die gleichen, welche diese Fraktionen in Hinblick auf gewisse Sympathien für ein bedingungsloses Grundeinkommen teilen. Ganz im Unterschied zur Sozialdemokratie, welche traditionell mit der ausufernden staatlichen Bürokratie verfilzt ist, wissen gelbgrüne Liberale, dass Menschen eine gewisse Selbstständigkeit benötigen, um sich aktiv in den Arbeitsmarkt einbringen oder als bürgerliche Rechtspersonen konstituieren zu können. Was den einen der Steuererlass oder Gründerzuschuss, ist den anderen eben ihr gratis Essen aus dem Container.Selbstverständlich ist Müll auch Eigentum. Unterm Strich lohnt es sich aber, wenn er von verarmten alten Leuten, studentischen Kleinsparer*innen oder ausgewiesenen Vollzeitaktivist*innen verwertet wird. Volkswirtschaftlich teurer als das Containern zu kriminalisieren, wäre es, kämen die Betreffenden auf die Idee, individuell (mehr) zu klauen. Oder gar kollektiv zu plündern, wie es noch in den 70er und 80er Jahren selbst in der BRD durchaus gängige Praxis im Anschluss an manche stimmungsvolle Demo war. In Zeiten spürbar steigender Preise, die auch bei Lebensmitteln deutlich zu Buche schlagen, wäre dies sicherlich nicht die entfernteste Idee.Jedenfalls ist die Lebensmittelrettung auch durch den einen oder anderen Verein bekannt geworden. Fast wichtiger noch als dies ist die inzwischen in zahlreichen Städten anzutreffende systematische Organisation der Erbeutung und Verteilung von Weggeworfenem. Gruppen in sozialen Medien machen es möglich, sich gegenseitig über Funde zu informieren oder zur Abholung der ideellen Ware vor der Haustür einzuladen. Ob es beim Verschenken von zwei Gläsern Marmelade an Personen aus einer Szene-Gruppe wirklich um die „Rettung“ derselben geht oder es sich dabei nicht um eine Art inflationäre Kontaktsuche handelt, sei dahingestellt. Bei den Nachbar*innen klingeln die entsprechenden Leute jedenfalls offenbar kaum, wegen ihrem Anliegen.

Neben der Tatsache, dass es wohl schon immer arme Menschen gab, die sich durch das Sammeln von Müll über Wasser halten mussten, war die Lebensmittelrettung bis vor einem Jahrzehnt eher noch ein Hobby einiger Krusten oder Hippies. Wurden diese an der Tonne gesehen, zogen sie zwar die Verachtung der Spiessbürger*innen auf sich, konnte sich dafür aber wenigstens in ihrem Aussenseitertum feiern.

Heute scheint dieses Hobby aber zum regelrechten Sport mutiert zu sein. Statt etwa höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, niedrigere Preise oder einen Stopp der fatalen Subventionierung industrieller Landwirtschaftskonzerne zu fordern, schwingt sich der eine oder die andere Lebensmittelretter*in zu Held*in wider die Destruktion auf. Mit ihrem Ehrgeiz ist bei manchen von ihnen wohl auch eine Krisenverwalter*in des THW verloren gegangen.

Krisenverwaltung ist überhaupt jener Bereich, in welchem Anarchist*innen und Faschist*innen im Gegensatz zu ihrer sonstigen Verortung am nächsten beieinander liegen. Wobei ihr Agieren selbstredend dennoch sehr unterschiedlich ist. Letzteren allerdings gelang es bereits systematisch die Feuerwehren dieses Landes zu unterwandern, wie der Verfassungsschutz zuletzt mit gespielter Überraschung feststellte. Das nennt sich wohl präfigurative Politik: Wer die Katastrophe von morgen autoritär bewältigen will, sichert sich bereits heute dafür die Glaubwürdigkeit in Zusammenhängen, welche ohnehin darauf trainiert werden, mit Notsituationen umzugehen.

In „alternativen“ Kreisen wird die Apokalypse zu zelebrieren dagegen zum Lebensstil, der nebenbei zu interessanten Bekanntschaften und allerlei Ausflügen führt, wobei diese anhaltenden Gesprächsstoff bieten. Fast wird es peinlich, sich nicht an dieser Elendsverwaltung beteiligen zu wollen – sei es aus Faulheit, übertriebenem Sauberkeitsbedürfnis oder auch geringen Zeitressourcen. „Rette Lebensmittel, wer kann!“, wird der Imperativ des neuen Volkssports bald lauten. Irgendwie dachte ich früher immer, dass es gilt, Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu retten. Oder Tiere aus Mastanlagen.

Postmoderne Bürger*innen retten ihre Seelen hingegen aufgewogen an den Gütern, welche sie aus dem Container ziehen: Eine Netz Orangen (und nur drei verschimmelt), sieben Leibe Brot (dass noch nicht nass geworden zu sein scheint), achtzehn Jogurt (davon die meisten noch nicht mal aufgeplatzt), zwei angestochene Kaffeepackungen und drei welke Blumensträusse. Da wird das Herz doch weit und ein Seufzen verlässt die Kehle: „Gerettet!“. Die Käsepackung hingegen war schon deutlich von blauen Spuren gezeichnet. Und wenn wir schon beim Thema tierische Produkte sind: Obwohl ich viel ab kann, war meine persönliche Schwelle eines Tages überschritten, als wir kurz nach Ostern, mehrere gehäutete und in Plastikfolien eingeschweisste Hasenleichen fanden. Nie hatte ich bis dahin den Geruch von Leichen so intensiv wahrnehmen dürfen. Was für ein Geschenk, dass ich diesen Einblick in die Lebensmittelherstellung westlicher Industrienationen erhaschen konnte!

Dass die Ursachen von ökologisch zerstörerischer Überproduktion und selbst (bzw. gerade) im Kapitalismus ineffektiven Verteilungswegen damit kaum angegangen werden, erklärt sich von selbst. Wer unterm Strich spart und dann mehr Kohle dafür hat, ein Zugticket statt ein Flugzeug für den nächsten Urlaub zu buchen, macht sich an der Klimakatastrophe nicht schuldig. Wobei sich beides auch keineswegs ausschliesst. Dabei muss doch nicht immer etwas oder irgendjemand gerettet werden. Der Kreislauf lautet Produktion – Konsumption – Destruktion. Wo nichts zerfallen kann und darf, klammern wir uns krampfhaft ans Leben, weil wir spüren, dass die Zeit knapp wird und es uns entgleitet.

Lebensmittel aus der Verurteilung zur Wertlosigkeit zu erretten, gibt Menschen insofern das Gefühl, den Verfall für einen kurzen Moment aufzuhalten. Man gibt sich somit auch ein Stück Selbstwert zurück, der einem sonst in der Konkurrenz- und Mangelgesellschaft nie – oder eben nur kurz, damit wir Junkies bleiben – gewährt wird. Somit ist es auch nur konsequent, sich die zur Zersetzung bestimmten kapitalistischen Waren selbst einverleiben zu wollen. Da die zum Müll degradierten Produkte trotzdem durch die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, wie auch die Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlage erzeugt wurden, handelt es sich im Grunde genommen um eine Art Kannibalismus.

Schlussendlich möchte ich nicht falsch verstanden: Ich bin absolut für die eigenmächtige Beschaffung von Ressourcen und ihre möglichst kollektive Verteilung. Es wäre lächerlich, dafür einen bestimmten Grad an persönlicher Verelendung erreicht haben zu müssen. Wer clever ist und weiss, wie man sparen kann – warum nicht? Was wir von der Oma oder Uroma nach dem Krieg gelernt haben, bewährt sich auch heute. Dann bleibt eben mehr für anderes über und am Ende des Monats rechnet sich das schon. Auch gegen ein Aussteigertum für einige Jahre habe ich gewiss nichts einzuwenden. Doch: Lebensmittelrettung als eine Art Ablass zu betreiben, der nebenbei die Aufmerksamkeit von sozialen Kämpfen ablenkt, ist nichts als ein skurriles Hobby oder ein verkappter Puritanismus. So einfach diese Wahrheit ist: Wir müssen auf die Produktion abzielen. Und dies beinhaltet, die ganze Bäckerei zu vergesellschaften.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —     Container-Aktion der Gruppe in Berlin (2022)

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Unten      —         Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation verschenken weggeworfene Lebensmittel vor dem Kaufland in der Residenzstraße. Berlin, 08.01.21

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Ostergrüße von DL

Erstellt von DL-Redaktion am 9. April 2023

Feiertags-Grüße für Alles- und Nichts- Gläubige

"Ein frohes Osterfest.". JPG-Datei

Ein „FROHES – OSTERFEST“ wünscht die Redaktion allen Mitarbeiter-Innen und Leser-Innen. Hoffen wir darauf das die Politier-Innen in diesen Jahr den Frühling nicht an uns verbeirauschen lassen, um anschließend ihre Versäumnisse belächeln zu können ?

Danke fürs Mitmachen und Lesen –  Im Auftrag  I.E. DL – Redaktion

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Grafikquelle : Titel: „Ein freudiges Osterfest.“

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Geld oder das Leben ?

Erstellt von DL-Redaktion am 7. April 2023

Ökologie und Frieden: Was heißt heute Pazifismus?

Von    :      Daniel Cohn-BenditClaus Leggewie

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine steht auch die Friedensbewegung an einem Scheideweg, durchlebt sie eine neue Unübersichtlichkeit, die die alten Überzeugungen auf den Prüfstand stellt.

Die letzte – und schon damals neue – Friedensbewegung entstand als Teil der neuen sozialen Bewegungen in den 1960/70er Jahren, und zwar als Duo für „Umwelt & Frieden“. Ihr Codename lautete: Ökopax. Damals protestierte man so selbstverständlich gegen die zivile wie gegen die militärische Nutzung der Atomenergie. Man blockierte Mutlangen, den Standort der US-amerikanischen Pershing-Raketen, genauso entschieden wie Wyhl, Brokdorf und Wackersdorf als mögliche Standorte für Atomkraftwerke und Wiederaufbereitungsanlagen. Öko und Frieden: In diesem Doppelpack eroberten alternative Listen dann kommunale Parlamente, zog die grüne Partei in den Bundestag und in die Landtage ein, verbanden sich Umwelt- und Friedensgruppen über die deutsch-deutsche Grenze hinweg.

Diese neue Friedensbewegung,[1] die seit Ende der 1970er Jahre gegen den Nato-Doppelbeschluss kämpfte, schloss an ihre Vorläuferin, die Ostermarschbewegung der 1950er und 60er Jahre, an, die gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland und deren Eingliederung in westliche Militärallianzen opponiert hatte, nicht zuletzt deshalb, weil beides mutmaßlich die deutsche Wiedervereinigung verhinderte. Große Teile der (außer-)parlamentarischen Linken bis weit in die SPD hinein bevorzugten eine dauerhaft entmilitarisierte, neutrale Republik zwischen den Blöcken, waren gegen die Westbindung, die Bundeskanzler Konrad Adenauer Richtung Washington und sein Atom- und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß in Richtung Paris (inklusive Atomwaffenbesitz) vorantrieben. Mit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im französischen Parlament 1954 war dieser Streit zwischen Atlantikern und Gaullisten praktisch schon entschieden. Was alte und neue Friedensbewegung verband, war die tiefsitzende Aversion gegen alles Nukleare und „Amerika“. Dass sowjetische SS-20 auf Deutschland gerichtet waren, war für die meisten unter den 100 000 Friedliebenden 1983 im Bonner Hofgarten kein Thema, wie eine Leitfigur der Ökologiebewegung, André Gorz, damals anprangerte: „Alles ist darauf abgestellt, die sowjetische Empfindlichkeit nicht zu verletzen und als Vermittler zwischen dem Kreml und den westlichen Ländern aufzutreten. […] An Stelle von Breschnew hätte ich keinerlei Achtung für Leute, die imstande sind, sich gegen die Startbahn West in Frankfurt, gegen das Atomkraftwerk Brokdorf und gegen die Pershing 2 zu mobilisieren, die aber den Völkermord in Afghanistan, die biologischen Waffen der Sowjetunion, die SS-20, die Folterungen in der Tschechoslowakei und den Warschauer Putsch stillschweigend hinnehmen und das alles mit dem sibirischen Gas krönen.“[2]

Erst der russische Angriffskrieg hat vielen die Einsicht verschafft, wie blind dieser Pazifismus gegenüber dem sowjetischen, im Kern russischen Imperialismus war. Die historische Verantwortung für den deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 und die Ablehnung der bundesrepublikanischen Staatsideologie des Antikommunismus mündeten in die Idee, mit Moskau und Ostberlin für „Wandel durch Handel“ zu sorgen – was den von Gorz beklagten Nebeneffekt hatte, dass die Entspannungspolitik auf Regierungskontakte mit autoritären KP-Regimen fixiert war und den Kampf der Oppositionsbewegungen in den meist übersehenen Staaten Ostmitteleuropas ignorierte.

Es ist kein Zufall und nicht ohne Belang, dass die einzige Partei, die den Demokratiebewegungen gegenüber sensibel und solidarisch agierte, die Grünen waren, für die Frieden, Demokratie und Menschenrechte gleichrangig nebeneinander standen. Das Grundmuster der Regierungspolitik blieb jedoch auch nach 1990 erhalten und führte in der Putin-Ära zur umgekehrt proportionalen Zunahme der Energieabhängigkeit von Russland bei gleichzeitiger Abnahme der deutschen Verteidigungsbereitschaft.

Mit der dafür allzu oft in Anspruch genommenen noblen Idee des Pazifismus hatte und hat dies nichts zu tun. Die Intention des Pazifismus war nie, einem Aggressor vorauseilend die weiße Fahne auszurollen und auch die andere Backe hinzuhalten, sondern vielmehr den Angriffskrieg, bis ins 19. Jahrhundert eine unangefochtene Staatenpraxis, dauerhaft zu bannen und zu verbieten.[3] Sich dagegen notfalls mit Waffengewalt zu wehren, war niemals „bellizistisch“. Das schlagendste, aber stets heruntergespielte Beispiel ist die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus durch die Antihitlerkoalition, die nur durch Waffengewalt und Millionen von Opfern möglich war.[4] Diese Tradition des „Frieden schaffen mit Waffen“ wurde von der Friedensbewegung lange verdrängt. Doch Russlands Aggression fordert das ökopazifistische Milieu nun zum Umlernen auf – und auch dazu, die Ökopax-Allianz auf neue Grundlagen zu stellen.

Unmittelbar nach Beginn des russischen Überfalls war dieses Umdenken durchaus zu erkennen. Unter dem Slogan „Stand with Ukraine!“ rief Fridays for Future (FFF) im März 2022 mit zur Großdemonstration auf: „Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie die Energieimporte aus Russland stoppt: Schluss mit der Finanzierung des Kriegs – Schluss mit Öl, Gas und Kohle aus Russland. Das Ende von Nord Stream 2 – ein für alle Mal“, heißt es in dem Aufruf, und weiter: „Die Antwort darauf darf aber nicht die Investition in andere fossile Infrastrukturen, sondern muss die konsequente Energiewende weg von Kohle, Öl und Gas hin zu Erneuerbaren sein, um fossile Abhängigkeiten und Kriege zu beenden. […] Die ganze Welt muss sich gegen den Krieg stellen. Folgt dem Aufruf unserer ukrainischen Mitaktivist:innen und kommt mit uns auf die Straßen! End the war – end fossil fuels!“[5] Der Zusammenhang war somit klar erkannt: Russland führt nicht zuletzt einen globalen Energiekrieg, Klimaschutz und Unterstützung der Ukraine gingen zusammen.

Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981

Wie Friedens- und Ökologiebewegung auseinandergedriftet sind

Doch ein Jahr später hat sich der Wind in der Ökologiebewegung gedreht. Seither konzentrieren sich FFF, „Last Generation“ und die meisten Umweltverbände ganz auf den ökologischen und klimapolitischen Aspekt. Ihre Protestenergie fließt in Demonstrationsziele wie „Hambi“ und „Danni“, „Lützi“ und „Fecher“; dagegen übt man zivilen Ungehorsam und legt sich mit grünen Verantwortlichen für vermeintlich schmutzige Koalitionskompromisse in der Energie- und Verkehrspolitik an. Zurückhaltung übt man dagegen in der Kriegsfrage – genau wie die Gewerkschaften (aus Rücksicht auf ihre Linken-Kader), die Kirchen (in Verkennung gerechter Kriege) und wie andere Gruppen in ihrer Fixierung auf sexuelle und kulturelle Diversität – obwohl diese kaum irgendwo so sehr bedroht ist wie in Russland.

Diese Reduktion auf die eigenen, vermeintlichen Kernthemen ist ein fataler Fehler. Während der Angriffs- und Vernichtungskrieg Russlands in eine neue, auch für Deutschland existenzielle Phase tritt, sollten sich diese Organisationen und Bewegungen auf ihre Forderung „End the war!“ besinnen, bei der sich die Aufrüstung der ukrainischen Armee und die Forderung nach Verhandlungslösungen gerade nicht ausschließen. Und anders, als es die empiriefreien Appelle der „Manifest“-Unterzeichner suggerieren, ist es die mehrheitliche Überzeugung der Deutschen, dass es sowohl der Waffen als auch der Diplomatie bedarf. Worauf Wagenknecht, Chrupalla und Co. außerdem keine Antwort geben: Mit welchem Verhandlungspartner wäre denn gegenwärtig über einen dauerhaften Frieden zu reden – und über welche Faustpfande und Garantien? Das ewige Mantra von der angeblich allein friedensstiftenden „Diplomatie“ steht jedenfalls in gewaltigem Widerspruch zum Putinschen Desinteresse an Verhandlungen.

Jenseits des gescheiterten Budapester Abkommens oder der Minsker Floskeln werden Frieden und Sicherheit für die Ukraine nur per Nato-Beitritt erreichbar sein – beziehungsweise durch die Aufnahme in die Europäische Union, die analoge Beistandspflichten mit sich bringt, schon für den Fall, dass der Aggressionshunger Putins nach einem prekären Waffenstillstand wieder zunimmt. Die Ukraine ist undenkbar als neutraler Pufferstaat zwischen Ost und West; zu garantieren ist ihre Integrität und Unabhängigkeit nur als westliche Bündnisnation. Doch genau um das zu verhindern und den „kollektiven Westen“ nicht an Russlands Grenzen auszudehnen, ist Putin schließlich über das Land hergefallen. Der Ruf nach bloßer Diplomatie birgt daher keineswegs geringere Risiken für Deutschland und den Westen als die Positionen der leichtfertig als „Bellizisten“ Denunzierten, die zwischen militärischer Unterstützung und diplomatischen Verhandlungen keinen starren Gegensatz aufmachen.

Quelle       :          Blätter-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —       10. Globaler Klimastreik von Fridays for Future, Berlin, 25.03.2022

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Atomausstieg in Deutschland

Erstellt von DL-Redaktion am 5. April 2023

50 Jahre nach Beginn der Wyhl-Proteste

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von      :      Axel Mayer  (Der Autor ist seit den Wyhl Protesten in der Umweltbewegung aktiv und war 30 Jahre lang BUND-Geschäftsführer in Freiburg)

Hintergrund: Atomausstieg Deutschland – 50 Jahre nach Beginn der Wyhl-Proteste.  Der Atomausstieg am 15.4.23 ist schon ein erstaunliches Phänomen. Seit wann setzen sich in a »Rich Man´s World« die Vernunft gegen die Macht, die Nachhaltigkeit gegen die Zerstörung und die Kleinen gegen die Großen durch?

Vor 50 Jahren erkannten die Verantwortlichen des damaligen Energiekonzerns Badenwerk, dass der Atomkraftwerksstandort Breisach politisch nicht durchsetzbar war. Am 19. Juli 1973 wurde erstmals der neue Standort eines Atomkraftwerkes in Wyhl bekannt. Dort scheiterten ab 1975 die Pläne ein AKW zu bauen am massiven Widerstand der örtlichen Bevölkerung.
Fast 50 Jahre später, genau 111 Jahre nach dem Sinken der unsinkbaren Titanic, werden am 15.4.2023 endlich die drei letzten deutschen AKW Neckarwestheim-2, Emsland und Isar-2 abgeschaltet. Der Atommüll, der in etwas mehr als 3 Jahrzehnten entstand, strahlt noch eine Million Jahre und gefährdet 30.000 Generationen. Geschichtlich gesehen war und ist die Nutzung der Kernenergie zutiefst asozial. Die AKW-Stilllegung ist kein „Selbstzweck“ sondern berechtigte Gefahrenabwehr. Leider umfasst der Atomausstieg nicht auch die Anlagen der Urananreicherung in Gronau und die Brennelementfertigung in Lingen..

Die Nutzung der Atomkraft in Deutschland war nicht erst seit den„AKW-Wyhl-Protesten“ vor einem halben Jahrhundert heftig umstritten. Massive Proteste in Wyhl, Grohnde, Brokdorf, Wackersdorf und Gorleben haben die letzten Jahrzehnte in Deutschland geprägt. Und da war nicht nur das »NAI Hämmer gsait«, das Nein der Umweltbewegung zur Atomkraft. Da war immer auch das Ja zu den umweltfreundlichen, kostengünstigen und nachhaltigen Energien, die von Atom-, Öl- und Kohlekonzernen und ihren Lobbyisten in der Politik massiv bekämpft wurden und immer noch bekämpft werden.

Während in den ersten Jahrzehnten der Atomenergiedebatte „nur“ die Aspekte des Umwelt- und Menschenschutzes auf Seiten der Umweltbewegung standen, ist es seit einigen Jahren auch die Ökonomie. Strom aus Wind und Sonne ist nicht nur umwelt- und menschenfreundlicher sondern auch wesentlich kostengünstiger als Strom aus neuen AKW. Auch der ökonomische Niedergang der französischen Atomwirtschaft zeigt dies mehr als deutlich. Und wie heißt es? „It’s the economy stupid.“

Trotz alledem:

  • Die globale Macht der alten und neuen atomar-fossilen Seilschaften ist noch nicht gebrochen.
  • Die von der Anti-Atombewegung befürchtete weltweite Verbreitung von Atomwaffen durch die nur scheinbar friedliche Nutzung der Atomkraft hat begonnen.
  • Die von der Umweltbewegung befürchteten schweren Atomunfälle kamen nicht mit der Wahrscheinlichkeit von ein zu einer Million Jahre, wie von der Atomlobby verkündet. Die Atomunfälle und Atomkatastrophen von Lucens (CH), Harrisburg (USA), Tschernobyl (SU) und Fukushima (Japan) bestätigten alle frühen Befürchtungen der Umwelt-Aktiven und zeigten die Lügen der Atomlobby.

Jahrzehntelang haben marktradikale atomar-fossile Seilschaften den Ausbau der zukunftsfähigen Energien, Stromtrassen und die Energiewende massiv behindert und das Energieerzeugungsmonopol der mächtigen Energiekonzerne verteidigt. Jetzt warnen sie scheinheilig vor einem Black-out und vor dem Klimawandel. So kämpfen Sie für die Gefahrzeitverlängerung und gefährliche und teure neue AKW.

Viele Medien berichten kurz vor dem Ausstiegsdatum leider gerade ungeprüft, dass die Atomkraft weltweit im Aufschwung sei. Der World Nuclear Industry Status Report 2022 zeigt die Realität: „Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Realität des Atomindustriesektors von der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und zahlreicher Entscheidungsträger als blühende Zukunftstechnologie unterscheidet. Fast alle Indikatoren haben ihre Höchstwerte seit Jahrzehnten überschritten, z.B. die Anzahl laufender AKW 2002, der Anteil der Atomkraft am Strommix 1996 oder die Betriebsaufnahmen Mitte der 1980er Jahre.“ Und dennoch behaupten Atomlobbyisten, dass alle Welt neue AKW baue und nur die „dummen Deutschen“ aus der Atomkraft ausstiegen. Die Hauptstoßrichtung der aktuellen PR-Kampagnen ist nicht faktenorientiert, sondern beruht auf dem Erfolgsrezept einer perfekt organisierten Angstkampagne.

Für Laufzeitverlängerung und neue AKW kämpfen erstaunlicherweise nicht mehr direkt die deutschen Energiekonzerne, denn diese können rechnen. Für die Gefahrzeitverlängerung kämpfen insbesondere die Lobbygruppen und Parteien, die politisch die Hauptverantwortung für den Klimawandel, Ressourcenverschwendung und die Artenausrottung tragen. Je offensichtlicher es wird, dass wir den großen, globalen Wachstums-Krieg gegen die Natur gerade krachend verlieren, desto stärker setzen sie auf den Mythos der neuen Wunderwaffen. Dieser Mythos war auch im letzten Weltkrieg sehr effizient und kriegsverlängernd, änderte aber nichts an der Katastrophe. Der Streit um die Laufzeitverlängerung und um neue AKW ist getragen von der Hoffnung und Propaganda der „Wunderwaffe Atomkraft“, die ein zerstörerisches Weiter so ermöglichen soll. Ein Weiter so mit Weltraumtourismus, Superyachten, Überschallflugzeugen, Rohstoffverschwendung, unbegrenztem Wachstum und selbstverständlich ohne Tempolimit.

Hier zeigt sich auch eine Konfliktlinie, die aktuell viele ökologische und soziale Konflikte prägt. Nicht der Staat, sondern der Markt soll entscheiden, ob Atomkraftwerke, PFAS oder CO₂ gefährlich sind. Nach dieser marktradikalen Logik wären DDT, FCKW und Asbest immer noch nicht verboten.

Nach der Abschaltung der letzten deutschen AKW muss sich die Umweltbewegung noch stärker als bisher um die massiv bekämpfte Energiewende und um den Ausstieg aus den fossilen Energiequellen kümmern. Technischer Fortschritt und gute, nachhaltige, menschengerechte Technik könnten schon heute das gute Leben für alle Menschen der Welt ermöglichen, wenn es mehr Gerechtigkeit gäbe. Die Abschaltung der AKW ist Grund zur Freude, aber kein Anlass für Triumph, insbesondere auch so lange in Lingen die Brennelementfabrik noch arbeitet.

Im großen, globalen Krieg des Menschen gegen die Natur und damit gegen sich selber, (Atommüllproduktion, Klimawandel, Artenausrottung, Ressourcenverschwendung, Meeresverschmutzung …) haben wir mit dem mühsamen Atomausstieg in Deutschland Zerstörungsprozesse entschleunigt und einen kleinen, wichtigen Teilerfolg erzielt. Es lohnt, sich zu engagieren.

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Irgendwas mit Internet:

Erstellt von DL-Redaktion am 1. April 2023

Privilegien kann man jetzt bei Twitter kaufen

Er ist aber im Besitz von soviel Cleverness sich nicht im Kreis der Politikerzlaien zu bewegen.

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Fünf Monate nach der Übernahme Twitters durch Elon Musk stehen bei der Plattform nun die größten Veränderungen an. Das bisherige Verifikationssystem wird abgeschafft, zukünftig können Privilegien gekauft werden. Willkommen im Kapitalismus.

Vor etwa elf Jahren schickte mir Twitter einmal eine Direktnachricht: „Wir bei Twitter würden gerne Deinen Account verifizieren. Klicke einfach auf den Link und folge der Anleitung.“ Damals war ich dort bereits einige Jahre auf Twitter aktiv und der Dienst hatte einige Zeit zuvor ein Verifikationssystem ausgerollt. Nutzer:innen konnten damit ihre Accounts verifizieren – anfangs durch das Unternehmen kuratiert, später waren auch Anträge möglich. Sie erhielten dann den blauen Haken.

Ich galt aus Sicht Twitters als öffentliche Person und betrieb mit @netzpolitik einen der bekannteren Account im deutschsprachigen Twitter. Ich klickte mich durch die Anleitung und kurze Zeit darauf zierte ein blauer Haken mein Profil. Nach welchen Kriterien das Unternehmen damals die Entscheidung traf, war mir unklar. Ich musste nicht einmal meinen Personalausweis hochladen.

Was der Haken genau bedeutete, war mir damals auch noch nicht klar. Ich sah es als eine Art Qualitätsmerkmal, das Twitter vergab. Der Haken wertschätzte dadurch aber auch viele Nutzer:innen, die zur Wertschöpfung der Plattform und dessen Ökosystem beitrugen.

Seitdem lebte ich mit dem blauen Haken, den auch immer mehr Nutzer:innen erhielten. Dazu gehörten vor allem Journalist:innen, Personen des öffentlichen Lebens und gewählte Abgeordnete, die auf der Plattform aktiv waren.

In der eigenen Twitter-Nutzung bemerkte ich nur einen Unterschied: Ich wunderte mich, wie das Geschäftsmodell von Twitter in der Realität funktionierte, weil ich selten Werbung sah. Irgendwann realisierte ich, dass ich durch den blauen Haken offensichtlich bei Laune gehalten wurde und hier eine Sonderrolle genoss.

Die anderen Privilegien bekam ich weniger mit. Ich war verifiziert und das zeigte Nutzer:innen an, dass hinter meinem Account auch tatsächlich meine Person stand. Und der blaue Haken hatte Auswirkungen darauf, wie mein Account für andere sichtbar war. Meine Inhalte wurden bei den algorithmischen Entscheidungssystemen bevorzugt behandelt, wenn Nutzer:innen eine algorithmisch-kuratierte Timeline wählten, die sogenannte „For you“-Ansicht.

Die zwei Nutzungsarten bei Twitter

Es gab und gibt bei Twitter vor allem zwei unterschiedliche Nutzungsgewohnheiten. Ich selbst bin im „Team Chronologisch“. Ich mag es, die Kontrolle darüber zu haben, was mir angezeigt wird. Bei anderen sozialen Netzwerken fühlte ich mich irgendwann früher oder später unwohl, wenn mir Inhalte bunt und intransparent zusammengewürfelt eingeblendet wurden und ich keinerlei Kontrolle über deren Zusammenstellung hatte. Was interessieren mich die Postings von Bekannten von vor einer Woche?

Aber Nutzer:innenforschung hat inzwischen ergeben, dass ich einer Minderheit angehöre. Viele Menschen ziehen eine vorsortierte Timeline vor, weil sie so ein besseres Nutzungserlebnis erführen. Das „Team Algorithmische Timeline“ ist von der chronologischen Timeline überfordert. Es möchte gerne vorsortiert etwas erleben. Immerhin haben alle bei Twitter – zumindest noch – die Freiheit, zwischen beiden Ansichten zu wählen.

Ob das so bleibt, ist derzeit völlig offen. Vor fünf Monaten hat Elon Musk die Macht bei Twitter übernommen. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem es nicht zu Veränderungen kommt. Das allein reicht offenbar aus, um einen fast täglich erscheinenden Podcast zu füllen, wie Dennis Horn und Gavin Karlmeier mit „Haken dran – das Twitter-Update“ beweisen.

Mein Nutzererlebnis blieb seitdem erstaunlicherweise gleich. Nur eine Sache hat sich nachhaltig geändert: Ich sehe Werbung und zwar eine ganze Menge. Das ist umso erstaunlicher, als dass Twitter die meisten seiner Werbekunden in den vergangenen Monaten verloren hat.

Privilegien kann man jetzt kaufen

Eine der größten Veränderungen steht aber aktuell an: Das eingespielte Verifikationssystem wird abgeschafft, um das neue Bezahlsystem Twitter Blue zu promoten. Twitter Blue hatte Elon Musk als Produktneuerung eingeführt, nachdem er die meisten Werbekunden durch sein Geschäftsgebaren und seinen Kommunikationsstil verscheucht hatte. Für acht Euro – Apple-Nutzer:innen zahlen 30 Prozent mehr – kann nun jede:r einen blauen Haken erhalten. Und erhält damit weniger Werbung im eigenen Feed und eine bevorzugte Ausspielung auf der algorithmischen Timeline bei Anderen. Twitter-Nutzer:innen können sich also jetzt ein Privileg kaufen.

Das funktionierte bisher nicht so toll als Geschäftsmodell. Denn es gab bislang nicht allzu viele Menschen, deren Ego einen gekauften blauen Haken benötigt. Wer möchte schon Elon Musk finanziell unterstützen, nachdem er durch schlechte Geschäftsentscheidungen und sein verschwörungsideologisches und aggressives Kommunikationsverhalten die eine Lieblingsplattform kaputt macht? Wir helfen doch bereits mit unseren Inhalten und Daten. Noch. Und überhaupt: weniger Werbung? Wenn dann würde ich dafür bezahlen, gar keine Werbung mehr sehen zu müssen.

Nach dem blauen Haken ist vor dem blauen Haken

Um Twitter Blue weiter zu promoten, sollen jetzt alle bisherigen Haken-Nutzer:innen diesen verlieren. Das aktuelle „Dieser Account wurde im alten System verifiziert. Er ist möglicherweise (aber nicht unbedingt) beachtenswert“ soll bis zum 15. April abgeschaltet werden. Ich verliere dann meine Privilegien und kann sie mir zurückkaufen. Zumindest zum Teil und als Verifikationssimulation. Willkommen im Kapitalismus.

Ich lass mich überraschen, wie Twitter in zwei Wochen aussieht. Vielleicht ändert sich ja weiterhin nichts in meiner Nutzung, weil Twitter Blue eher geringe Auswirkungen auf meine chronologische Nutzung hat. Außer eben der vielen Werbung neuerdings.

Vor allem aber hoffe ich noch immer auf eine richtige Alternative zu Twitter. Dort hätte ich gerne Text in Echtzeit, chronologisch sortiert. Das Fediverse mit Mastodon und Co. sind als mögliche Alternativen herangewachsen – und besser als gedacht. Ein Viertel meiner Twitter-Timeline ist auch bereits drüben. Aber dreiviertel von ihnen sind es offensichtlich noch nicht. Dafür experimentieren WordPress und Meta aktuell mit Schnittstellen ins Fediverse, viele Werkzeuge werden nutzer:innenfreundlicher. Das macht Hoffnung auf eine blühende Zukunft ohne Elon Musk – und hoffentlich dann auch gänzlich ohne blauen Haken und Privilegien.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquelle :

Oben       —     Inspired by book Shoshana Zuboff — The Age Of Surveillance Capitalism

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Wir sollten uns vertrauen

Erstellt von DL-Redaktion am 29. März 2023

Wir sollten uns vertrauen – Der Aufstand in gelben Westen

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :      Hanna Mittelstädt

„Überall muss das Unglück zurückgeschlagen werden“ ist eine Parole aus dem Pariser Mai 68.

Genau gegen dieses elende Überleben im herrschenden Unglück, gegen die Gewalt dieses Ausschlusses vom gesellschaftlichen Reichtum und die damit einhergehende Unwürde schliessen die aktuellen Kämpfe in Frankreich wieder an.Auf zwei Dokumente des aktuellen französischen Widerstands möchte ich hinweisen: Der Dokumentarfilm „Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten“ von Emmanuel Gras (Kinostart 2013) und das mit vielen Fotos versehene Buch „Wir sollten uns vertrauen – Der Aufstand in gelben Westen“ von Luisa Michael (2019).

Der Film porträtiert die Gelbwestengruppe aus Chartres und zeigt anschaulich, wie sich durch die Durchbrechung der Scham der Armut und der Isolation ein kollektives revolutionäres Subjekt mit vielfältigen Gesichtern herausbildet. Wir sehen die Überlebensbedingungen, die Kommunikation, die Verbindungslinien mit den Demonstrationen in Paris, die Reflexionsprozesse, das Wachsen, die sozialen Beziehungen, die Niederschlagungen und internen Konflikte. „Fragend schreiten wir voran“, die Leitlinie der Zapatisten seit ihrer Erhebung 1994 in Chiapas, Mexiko, wird hier ganz selbstverständlich praktiziert, und auch, dass das Basiselement einer revolutionären Bewegung die freundschaftlichen Bindungen sind, wie es das Unsichtbare Komitee formuliert hat. Es ist ein genauer Film, ein wunderbarer Film ohne Pathos, aber mit der tiefen Berührung durch die Offenheit der Protagonist*innen. Eine Begegnung, die lange nachhallt.

Sehr gut ergänzt wird der Film durch das Buch von Luisa Michael, die ihre anfangs skeptische Beteiligung an einer Gelbwesten-Gruppe im Pariser Nordosten und in Montreuil beschreibt. Auch hier wird, noch ausführlicher und vielfältiger, von dem „fragenden Voranschreiten“ erzählt: Wie kommen wir zu einer echten Gegenmacht, wie erhalten wir unsere Autonomie, wie können wir die partikularen Kämpfe, also etwa die gegen die neo-koloniale Gewalt in den Vorstädten, die Lohnkämpfe und die gegen die Verschärfung des Arbeitsrechts, die feministischen und genderpolitischen Ansätze, die antirassistischen Bewegungen und Initiativen etc. verbinden?

In beiden Dokumenten wird die unmittelbare Entwicklung basisdemokratischer Strukturen deutlich: Vollversammlungen, Delegiertenwahlen für die Versammlung der Versammlungen, lokale Basiskomitees, maisons de peuple, Clubs zur Fortbildung und Reflexion über die ablaufenden Prozesse bilden ein weitmaschiges Gewebe, das sich durch die Erfahrungen verdichtet. Einvernehmlich ist die Ablehnung jeder politischen Repräsentation und ihrer Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, mediale Vermarktung) und der Wille zur Herausbildung anderer Strukturen des Gemeinsamen. Es war klar, dass niemand die Lösung hatte, jeder aber das Recht, sich zu irren. Es entwickelte sich ein Vertrauen in die kollektive Intelligenz.

Da die Gelbwesten auf den Kreisverkehren der Provinz (im November 2018) entstanden, ergaben sich mit deren Zusammenfliessen quasi automatisch die Verbindungslinien zwischen dem ländlich/periurbanen Raum und den Grossstädten. Und in den Grossstädten, speziell in Paris, kamen verschiedenartige Bewegungen zusammen, sogar auf internationaler Ebene durch die Exilanten aus Kämpfen und Bewegungen aus anderen Teilen der Welt. Neben den Demonstrationen auf der Strasse waren Blockaden des kapitalistischen Flusses ein erfolgreicher Störfaktor der kapitalistischen Maschine: Strassenblockierungen, Unterbrechungen der Lieferketten, Bestreikung der Logistikunternehmen und Raffinerien.

Immer wieder war es wichtig, sich Zeit für den Reflexionsprozess zu nehmen, langsam zu sein, die Vorstellungen voneinander und von den nächsten Schritten beweglich zu halten. Über die Ablehnung des Produktions- und Konsumsystems hinaus, das die Armut und den Ausschluss so vieler Menschen bedingt, war der Reflexionsprozess eine Ideensammlung für die Frage: Wie sieht eine andere Welt aus und wie gelangen wir dahin? Auch hier ging es um Selbstermächtigung und Würde.

Der gewaltige Repressionsapparat, der seit dem verhängten und nie zurückgenommenen Ausnahmezustand in Frankreich (2015 unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Terror) aufgebaut wurde, schlug erbarmungslos zu. Der Einsatz von Gummigeschossen führte zu Hunderten Schwerverletzter, die Augen oder Hände verloren, zu mindestens einer Toten, die im offenen Fenster ihrer Wohnung erschossen wurde. Massenhafte Verhaftungen auf den Demonstrationen, Präventivverhaftungen und Straflosigkeit der Polizei und der paramilitärischen Einheiten führten zu einer immer weitergehenden fundamentalen Ablehnung des „Systems Macron“.

Heute wird das wieder aufgenommen. Die aktuelle Radikalität, Wut, Aussichtslosigkeit innerhalb des Bestehenden, Ungerechtigkeit der Verhältnisse nimmt die bei den Gelbwesten gemachten Erfahrungen wieder auf, die durch die einschneidenden Massnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus Anfang 2020 abrupt und totalitär abgebrochen wurden (Macron wähnte sich im Krieg!). Es geht vordergründig um die Rentenreform und ihre undemokratische Durchsetzung, aber darüber hinaus geht es um ein ganz anderes Leben. Ein Leben in Würde und Gerechtigkeit, ein Leben, das über das Überleben hinaus geht. Das gute Leben eben.

In dem Sinne heisst: „Wir sollten uns vertrauen“ auch: „Wir sollten uns etwas zutrauen“, was die vielen Menschen auf den Strassen Frankreichs gerade tun.

„Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten“ von Emmanuel Gras, Frankreich 2022 https://dropoutcinema.org/archive/3507/

Luisa Michael: Wir sollten uns vertrauen – Der Aufstand in gelben Westen, Edition Nautilus Hamburg 2019. ca. SFr. 28.00

Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand (2010), An unsere Freunde (2015), Jetzt (2017), alle Edition Nautilus, Hamburg

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —   Les Gilets Jaunes

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Zu Ostern für Frieden

Erstellt von DL-Redaktion am 20. März 2023

Abrüstung und ein Ende des Krieges in der Ukraine aktiv werden!

File:Saarlouis Kleiner Markt.jpg

Kleiner Markt in Saarlouis, Blick in die Französische Straße

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von  :   Waltraut Andruet

Frieden muss verhandelt werden. –  Mahnwache mit Infostand am Mittwoch: 29. März 2023 17.00 bis 18.00 Uhr Saarlouis, auf dem Kleinen Markt vor Peek & Cloppenburg.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat zu unzähligen Toten und Verletzten sowie zu Millionen Geflüchteten geführt. Infolge des Krieges sind die Beziehungen zwischen NATO und Russland an einem besorgniserregenden Tiefpunkt angelangt, wodurch auch die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs zugenommen hat. Zusätzlich zu den riesigen Rüstungsetats planen Deutschland und andere Staaten weitere Milliarden Euro in Aufrüstungsprojekte zu stecken. Wir warnen: Die ungehemmte Aufrüstung, immer mehr Krieg, zunehmende soziale Ungleichheit sowie Umweltzerstörung und Klimakrise führen die Menschheit in den Abgrund!

Wir fordern die Staaten und Regierungen weltweit zum Umdenken auf. In Kooperation, nicht in Konfrontation liegt die Lösung der globalen Probleme. Nur durch internationale Zusammenarbeit werden Abrüstung, eine atomwaffenfreie Welt und die Bewältigung der Klimakrise möglich! Von Russland fordern wir das Ende des Krieges gegen die Ukraine! Die Bundesregierung fordern wir auf, endlich wieder Friedensinitiativen zur Beendigung des Krieges zu starten und die Verhandlungsbereitschaft aller involvierten Parteien zu fördern. Die Menschen in der Ukraine brauchen dringend Friedensperspektiven. Immer mehr Waffenlieferungen schaffen keinen Frieden und werden die Spirale der Gewalt nicht durchbrechen. Dies ist nur durch einen Waffenstillstand, Verhandlungen und langfristig durch Versöhnung möglich – in der Ukraine und den Konflikten weltweit!

Wir zeigen uns solidarisch mit allen von Kriegen und Konflikten betroffenen Menschen, wie etwa in Afghanistan, Äthiopien, Irak, Jemen, Mali, Myanmar, Syrien oder der Ukraine. Daher fordern wir die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen sowie Asyl und Schutz für alle Menschen, die vor Kriegen fliehen, den Kriegsdienst verweigern oder desertieren.

Für Frieden, Abrüstung und Gerechtigkeit gehen wir Ostern auf die Straße und rufen alle zur Teilnahme an den Ostermärschen auf. Selten war es dringender!

Waltraud Andruet, FriedensNetz Saar und pax christi Saar Infos.: www.friedensnetzsaar.com

Urheberrecht
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Oben       —    Kleiner Markt in Saarlouis, Blick in die Französische Straße

Author Xocolatl (talk) 18:42, 11 April 2010 (UTC)       /       Source   :  Self-photographed      /      Date    :  2010

I, the copyright holder of this work, release this work into the public domain. This applies worldwide.
In some countries this may not be legally possible; if so:
I grant anyone the right to use this work for any purpose, without any conditions, unless such conditions are required by law.

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Unten        —       Peace dove, Conversion of Dove peace.png

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Das Demonstrationsrecht :

Erstellt von DL-Redaktion am 10. März 2023

Der Protest gegen das hessische Versammlungsgesetz wird lauter

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von          :         

Der Entwurf liegt auf dem Tisch, die Kritik daran gleich mit: Der hessische Landtag stimmt in kommender Sitzung über das sogenannte Versammlungsfreiheitsgesetz ab. Am Samstag findet in Wiesbaden eine Demonstration dagegen statt.

Mehr Freiheit und mehr Demonstrationskultur? Oder mehr Repressalien und Befugnisse für die Polizei? In der Sachverständigenanhörung im Innenausschuss vor gut einem Monat hatte Clemens Arzt jedenfalls wenig Anstrengungen unternommen, um seine Abneigung gegen den hessischen Entwurf eines Versammlungsfreiheitsgesetz zu verbergen. Schon der Name „Versammlungsfreiheitsgesetz“ sei ein „Euphemismus“, sagte der Staats- und Verwaltungsrechtler. Das Recht sich zu versammeln sei ein Grundrecht – ein neues Gesetz bräuchte es dafür nicht. Schon gar nicht eines, das in Teilen verfassungswidrig sei.

Das kritisierte nach der Expertenanhörung im Februar auch der rechtspolitische Sprecher der Linkspartei, Ulrich Wilken: Das neue Versammlungsgesetz schaffe zu große Hürden für Versammlungen und betrachte Proteste vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Gefährlichkeit. „Der Begriff Versammlungsfreiheitsgesetz ist für den vorgelegten Entwurf unangebracht – besser würde Gefahrenabwehrgesetz passen.“

Demo gegen Gesetz angekündigt

Inzwischen regt sich auch in der Bevölkerung erster Protest. So ruft eine „Arbeitsgruppe gegen das hessische Versammlungsfreiheitsgesetz“ – für Samstag um 13 Uhr zur Demonstration in Wiesbaden vor dem Hauptbahnhof auf. Im Netz solidarisieren sich unter anderem Antifagruppen, die Partei „Die Linke“ und Fridays for Future Frankfurt. Ihre Forderung: Das Gesetzesvorhaben sofort stoppen. Der Gesetzentwurf würde „zu einer erheblichen Behinderung von einer bunten und vielfältigen Versammlungs- und Demonstrationskultur führen“, heißt es in einer Pressemitteilung. In der Frankfurter Rundschau entgegnet hingegen Lukas Schauder, Mitglied des Innenausschusses im Landtag für die Grünen: Der Arbeitskreis hätte einen „etwas flexiblen Umgang mit der Wahrheit“. Die Grünen sind Teil der schwarz-grünen Landesregierung, welche das Gesetz durchsetzen will.

Sicher ist: In bereits acht Bundesländern gibt es bereits ein Versammlungsrecht auf Länderebene. Seit der Föderalismusreform 2006 ist das grundsätzlich möglich. Die Berliner als auch die Schleswig-Holsteinische Umsetzung gilt gemeinhin als beispielhaft für eine Vertrauenskultur zwischen Demonstrierenden und Staat. Die bayrische Version von Versammlungsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht im April 2022 in Teilen gekippt – vor allem wegen grundrechtswidriger Überwachungsmaßnahmen. Auch in Nordrhein-Westfalen war das neue Versammlungsgesetz stark umkämpft, es gab über Monate Proteste, am Ende bekam die damalige schwarz-gelbe Regierung das Gesetz mit einigen kosmetischen Korrekturen durch den Landtag. Auch gegen dieses Gesetz läuft eine Verfassungsbeschwerde. Nun ist es also das Bundesland Hessen, das die Grenzen der Verfassung austestet. Oder etwa nicht?

Sachverständige haben grundrechtliche Bedenken

Umstritten ist unter anderem das Thema Videoüberwachung. Der Gesetzentwurf gestattet Übersichtsaufnahmen. Bei größeren Demos (ab rund 100 Menschen) darf die Polizei eine Demonstration präventiv abfilmen, um den Überblick über das Geschehen zu wahren. Ob die Demo draußen oder drinnen stattfindet, spielt dabei keine Rolle. Übersichtsaufnahmen legitimieren die Polizei allerdings nicht dazu, die Demo aufzuzeichnen, Daten zu speichern und einzelne Demoteilnehmer:innen zu identifizieren – eigentlich.

In der Anhörung wies Rechtsprofessor Clemens Arzt darauf hin, dass es heute technisch keine reinen Übersichtsaufnahmen mehr gebe: man könne alles immer „heranzoomen und herausdestillieren“. Übersichtsaufnahmen seien ein schwerer Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Danach haben Menschen das Recht, selbständig zu entscheiden, wem gegenüber sie welche Informationen preisgegeben. Durch die Videoüberwachung sei das nicht mehr gewährleistet, die Folge sei eine „sehr hohe Abschreckungswirkung“, sagte Arzt. Denn Demonstrierwillige könnten aus Angst vor staatlicher Überwachung vom Demonstrieren abgehalten werden.

Abschreckungspotentiale

Abschreckungspotential birgt laut einigen Expert:innen auch Paragraph 11 im Gesetzentwurf. Dort wird die Anwesenheit von Polizei während der Versammlung geregelt. Laut dem Grundrechtekomitee darf die Polizei darauf basierend Zivilbeamte entsenden, ohne dass sich die Beamten zu erkennen geben müssten. Für die Entsendung brauche es im neuen Gesetz auch keine konkrete Gefahr: Eine anlasslose Überwachung, „verfassungsrechtlich inakzeptabel“, meint Michèle Winkler von der Bürgerrechtsorganisation. Die Versammlungsfreiheit zeichne sich durch Staatsferne, nicht durch Staatsanwesenheit aus.

Mathias Hong von der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl sagt hingegen, eine solche Befugnis ergebe sich nicht aus dem Gesetz. Einig sind sich die beiden Parteien hingegen in dem Punkt, dass die Anwesenheit von Polizei nur bei einer konkreten Gefahr legitimiert sein darf. Der Entwurf bleibt an dieser Stelle allerdings sehr vage – ein möglicher Freifahrtschein für polizeiliche Überwachung.

Unkonkret und unbestimmt

Zu unkonkret, zu verschwommen, zu unbestimmt: Eine ähnliche Kritik wie bei den Überwachungsmaßnahmen zeigt sich auch bei der Frage, welche Gegenstände Demonstrierende mitführen dürfen. So sieht der Entwurf sogenannte Anordnungsermächtigungen vor, durch welche die Polizei das Mitführen bestimmter Gegenstände bei einer Demonstration künftig unter Strafe stellen kann. Eine Maßnahme, die darauf abzielt, es Teilnehmer:innen künftig zu verbieten, sich unkenntlich zu machen. Häufig ist in diesem Zusammenhang auch vom Vermummungsverbot die Rede.

Das Problem dabei: „Eine Strafe gibt es nur bei Anfangsverdacht“, sagt Verwaltungsrechtler Hong in der Anhörung. Pauschale Anordnungsermächtigungen hebeln dieses Prinzip aus. Das bestätigt auch Clemens Arzt: Um etwa das Tragen eines Schals im Gesicht unter Strafe zu stellen, müsse eine Demonstrierende vorher überhaupt erst gegen Gesetze verstoßen. Die Polizei habe kein generelles „Identitätsfeststellungsrecht“. „Wenn beispielsweise ein kurdischer Oppositioneller in Deutschland demonstriert, möchte er vielleicht aus guten Gründen nicht, dass der türkische Geheimdienst sein Gesicht sieht, wenn er hier in diesem Lande operiert“, sagt Arzt.

Gefahrenabwehr statt Vertrauen

Der Entwurf offenbart, dass die Regierung das Prinzip Skepsis walten lässt. Das wird an vielen Stellen deutlich. Vieles, was den eigentlichen Kern der Versammlungsfreiheit ausmacht, wird mit der Gießkanne sanktioniert. Neben dem Verbot des Mit-Sich-Führens bestimmter Gegenstände, ist die Anmeldepflicht ein Beispiel. Clemens Arzt dazu: Grundsätzlich treffe Veranstalter:innen erst einmal keine Pflicht, eine Demonstration überhaupt anzumelden.

Im hessischen Entwurf gibt es dennoch eine solche Pflicht – verfassungsrechtlichen Bedenken zum Trotz. Allein sieben Ordnungswidrigkeiten verzeichne das Gesetz beim Verstoß gegen vermeintliche Anmeldepflichten. Laut Arzt wird so die grundrechtliche Versammlungsfreiheit „weitestgehend eingeschränkt“.

Ein ähnlicher Vorbehalt zeigt sich darin, dass auch das Verweigern von Polizeianwesenheit ein Bußgeld nach sich zieht. Dabei könnte man meinen, die hessische Landesregierung hätte ihre Lehren aus der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum bayrischen Versammlungsgesetz gezogen. Das Gericht hat dort etliche Bußgeldbestimmungen außer Vollzug gesetzt.

Das neue hessische Versammlungsgesetz soll schon in der kommenden Landtagssitzung beschlossen werden.

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Oben       —       Wegen Verstößen gegen die Infektionsschutzauflagen wurde die Versammlung mithilfe von Wasserwerfern aufgelöst

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Kampf um Deutungshoheit

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Februar 2023

Als zivil geadelt, als gewalttätig gebrandmarkt

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Daran erkennt das Volk die Führungsschwäche ihrer sich selbst zu Trüffelschweine erkorenen.

Von Benno Schirrmeister

Der Kampf um die Deutungshoheit über politische Proteste ist kein Nebenschauplatz der Geschichte. Er ist der Kern der Sache selbst. Der Triumph des Protests überzieht ihn mit dem Glanz der fortschreitenden Zivilität.

Wird es am Ende ziviler Ungehorsam gewesen sein? Sorry, Futur Zwei klingt immer etwas gespreizt. Aber die Frage muss so gestellt werden. Denn noch ist nicht abschließend geklärt, wofür Lützerath steht. Ob der Widerstand gegen die Räumung und Ausbeutung der Braunkohlevorkommen von Lützerath, ob die Straßenblockaden der Letzten Generation oder ihre Schein-Anschläge auf Gemälde als ziviler Ungehorsam legitimiert werden oder als blöde bis gefährlich-kriminelle Störaktionen abgewertet, entscheidet sich erst im Laufe eines Deutungs- und Aushandlungsprozesses.

Der nimmt gerade erst Fahrt auf. Gerichte werden zu ihm zwar beitragen, können ihn aber ebenso wenig beenden wie die Bür­ge­r*in­nen von Keyenberg, denen die zugereisten Ak­ti­vis­t*in­nen mittlerweile lästig scheinen: Wo die Grenzen der Zivilität verlaufen, das ist keine juristische Frage, sondern eben eine an die gesamte Gesellschaft: Die befindet sich in einer Art hermeneutischem Bürgerkrieg, einem mit Worten ausgetragenen Kampf um die Deutung des Protests, seiner Taten und seiner Aktionsformen: Wie angemessen sind sie? Wie viel Gewalt wird sich ihnen rückblickend zuschreiben lassen?

Dieser Kampf um die Interpretation wird mit schmutzigen Tricks geführt, Pseudoargumenten und Infamie. Er ist dabei aber kein verzichtbares Anhängsel oder Begleitphänomen. Er ist die Sache selbst: Das geballte, polyvalente Zeichen des Protests, das Kommunikation sein soll, übersetzt sich so erst in Rede und Gegenrede, kurz: das, was eigentlich Politik ausmacht.

Zu diesem Kampf gehört, dass die Gegner des Protests und seiner Anliegen ihn bagatellisieren – Lützerath sei das falsche Symbol, hat der Vater des Vaterlandes Robert Habeck (Grüne) die jungen Leute belehrt; ein Gratissatz, der immer stimmt, solange ein Symbol nicht mit dem zusammenfällt, das es symbolisiert – so wie es bei Rosa Parks’ Weigerung der Fall war, den Platz im Bus für einen Weißen freizumachen, und die so durch das direkte Übertreten der Rassentrennung gegen die Rassentrennung protestierte.

Auch gehört zum Kampf, die Protestierenden zu entzweien, gerne entlang überkommener Gegensätze, wie dem Unterschied von Stadt und Land: Sehr wirksam hat die Erzählung vom akademischen Krawalltourismus die Tatsache überschrieben, dass die Antiatomproteste von Wyhl bis Brokdorf ebenso wie jetzt die Lützerath-Blockaden Akte gelebter Solidarität zwischen linken Bürgerkindern und bäuerlicher Landbevölkerung gewesen sind, deren Einsprüche mangels Masse so übersehbar und überhörbar geblieben waren. Manchen, und das ist völlig legitim, reicht dann eine Abfindung oder ein Kompromiss, der die eigenen Belange wahrt, und schon beginnt der Widerstand zu nerven; die Präsenz der Besetzer zur Last zu werden; sie fangen an, voll scheiße zu sein. Vielleicht auch, weil da so etwas lauert oder lastet wie ein ungutes Gefühl des Verrats.

Vor allem aber geht es in diesem Kampf darum, ob sich dieser Protest diskreditieren lässt. Wenn er zwar das Richtige, aber an der völlig falschen Stelle fordert, dann erschüttert das seine moralische Legitimation, wenn der Zusammenschluss mit den Betroffenen bröckelt, die moralische Integrität – und beides zusammen verschiebt die Schwelle, ab wann die Aktion als Gewalt gelten wird, sprich: ob sie unberechtigt war oder als ziviler Ungehorsam geadelt wird.

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Denn ziviler Ungehorsam wird in der Regel – am häufigsten mit Jürgen Habermas’ Fortschreibung der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls – als notwendig gewaltfrei definiert: Klingt theoretisch prima, erweist sich aber als ausgesprochen schwammiges Kriterium angesichts der Ahnengalerie des Protests. Denn die Entscheidung darüber, ob es gewaltsam war, ist eine, die dem Ereignis nachträglich zuwächst. Bis heute am schönsten hat die Formbarkeit dieses Grenzverlaufs Anfang der 1980er Jahre Friedrich Zimmermann (CSU) zum Ausdruck gebracht, ein Innenminister der BRD. Sein Spruch „gewaltfreier Widerstand ist Gewalt“ lässt sich als ein meisterhaftes Concetto beschreiben, paradoxal wie aus der Blütezeit des spanischen Barock.

Das Gegenstück war der nonverbale Protest, den ein paar Jahre vorher Beate Klarsfeld ins Gesicht des Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger ­(NSDAP und CDU) formulierte: Ist jede Ohrfeige ein Gewaltakt? Wie sind die autoaggressiven Formen des zivilen Widerstands zu rubrizieren, Gandhis Hungerstreik, die Selbstverbrennung des Mönchs Thich Quang Duc vor 60 Jahren in Saigon oder der Dichterin Semra Ertan 1982 in Hamburg, ein Fanal gegen grassierenden Rassismus?

Natürlich gibt es Gewalt, physische Gewalt. Und natürlich ist sie unerträglich. Aber ob sie stattgefunden hat, erweist sich eben nicht als entscheidend für die Bewertung des Protests als zivil. Es ist eher eine Frage des Erfolgs, also ob seine Ziele verwirklicht und mehrheitlich als gerecht anerkannt worden sind. So fokussiert zumal in Deutschland die Diskussion um Malcolm X allein auf dessen vermeintlichen Aufruf zu Gewalt – der genau genommen nur das Recht auf Notwehr gegen brutale Übergriffe einer rassistischen und vom Ku-Klux-Klan unterwanderten Polizei vertritt. Seine eher wandel- als greifbare politische Doktrin wird darunter verborgen und völlig vergessen, dass ihm keine Akte politischer Gewalt zuzuordnen sind.

Quelle       :         TAZ-online       >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Straßenblockade am Hauptbahnhof Berlin (2022)

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Die Linke – Allwetter-Partei

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Februar 2023

Wagenknecht: Nazis auf „Friedensdemo“ am 25.02. willkommen

2016-04-23 Anti-TTIP-Demonstration in Hannover, (10063).jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Linkspartei scheint die offene Kollaboration ihres national-sozialen Flügels mit dem Faschismus zur neuen Normalität gerinnen lassen zu wollen.

Am 21. Februar gab Sahra Wagenknecht dem Querfrontorgan der sogenannten „NachDenkSeiten“ ein Interview. Dabei bekräftigte sie die bereits von Oskar Lafontaine ausgesprochene Einladung an AfD-Kräfte, an ihrer „Friedensdemo“ teilzunehmen. Zitat:

„Natürlich ist auf unserer Kundgebung in Berlin jeder willkommen, der ehrlichen Herzens für Frieden und gegen Waffenlieferungen demonstrieren möchte.“

Nur Nazi-Fahnen sollen nicht offen gezeigt werden, so Wagenknecht. Um was für ein braun anlaufendes Milieu es sich bei der Leserschaft der NachDenkSeiten handelt, macht schon die Interviewfrage deutlich, auf die Wagenknecht antwortete. Zitat:

„In diesem Zusammenhang erreichten uns auch zahlreiche Leserzuschriften, die die Gretchenfrage in Bezug auf die Teilnahme von AfD-Mitgliedern stellen und ganz grundsätzlich fragen, ob es in dieser existenziellen Frage von Krieg oder Frieden nicht geboten sei, mit den Kräften aller politischen Lager zusammenzuarbeiten, ohne dabei alle sonstigen politischen Differenzen zu verschweigen. Was ist Ihre Haltung dazu?“

Die Linkspartei-Führung schweigt zu dieser offenen Kooperationsbereitschaft ihrer prominentesten Politikerin mit der extremen Rechten eisern. Der Parteivorstand hat nur am 17.02. in dürren Worten festgehalten, dass Rechte auf linken Demos „keinen Platz“ hätten und Antifaschismus und Frieden zusammengehörten.

Das Schweigen der Linkeführung zum offenen Schulterschluss von nationalen Sozialisten der „Linkspartei“ und ordinären Nazis dürfte auf die prekäre Lage der „Linkspartei“ zurückzuführen sein. Da ohne die Wagenknecht-Querfront die „Linkspartei“ totsicher aus vielen Parlamenten fliegen würde, soll nun die Querfront in der Linken „normalisiert“ werden. Die rot-braunen Kräfte haben jetzt Narrenfreiheit, aus opportunistischem, wahltaktischen Kalkül. Ein ganzer Parteiapparat samt medialem Umfeld bangt um seine Posten und Einkünfte angesichts immer neuer Wahlniederlagen – und scheint aus blanker Existenzangst heraus vor nichts mehr zurückzuschrecken.

Das ist die neue rot-braune „Normalität“, die möglichst ohne Reflexion und Skandalisierung etabliert werden soll, indem die alten, abgedroschenen Querfront-Floskeln vom „Abholen“ verwirrter Rechter bemüht werden. Die Entwicklung der vergangenen Jahre, eigentlich sei der Flüchtlingskrise 2015, wo Wagenkencht erstmals massiv rechte Propaganda betrieb, hat deutlich gemacht, dass es sich in der Realität genau anders herum verhält – auch hinsichtlich der Wahlergebnisse.

Die Querfront ist eine Art linker „Einstiegsdroge“ in die Wahnwelt der Neuen Rechten. Ihr Erfolg beruht darauf, rechte Ideologie in linke Rhetorik zu verpacken. Objektiv fungiert die Querfront als ein reaktionärer Transmissionsriemen, der einerseits rechtes Gedankengut in linke und progressive Milieus hineinträgt, und andrerseits der Neuen Rechten immer neues, verblendetes Menschenmaterial zuführt. Dass viele in Regression befindliche Linke subjektiv in dem Spektrum aus anderer Motivation heraus aktiv werden, etwa um die „Menschen dort abzuholen, wo sie stehen“, ändert nichts an der objektiven Funktion der Querfrontstrukturen. Entscheidend ist somit nicht, was diese postlinken Kräfte wollen, sondern was sich objektiv gesellschaftlich vollzieht.

Flankiert wird dieser Tabubruch, der den antifaschistischen Konsens der Linken aufkündigt, von all den prominenten Schreibtischtätern aus der erodierenden Linken, die den „Friedensaufruf“ von Schwarzer und Wagenknecht unterschrieben haben – um hierdurch frisch verbrlendetes Menschenmaterial einem postlinken Milieu zuzuführen, das offensichtlich zu offenen Taktiererei mit dem Faschismus übergeht. Kritik an dem offenen Pakt zwischen der alten (Post-) Linken und der neuen Rechten ist in der Parteiführung nicht zu vernehmen. Von Bemühungen zum Parteiausschluss ganz zu schweigen.

Übrigens: Ein erstes Parteiausschlussverfahren gegen Wagenknecht ist unter fadenscheinigen Begründungen 2022 von der Schiedskommission der „Linkspartei“ abgeschmettert worden. Die Kommission stellte zwar fest, Wagenknecht habe der Partei durch ihre rechten und reaktionären Narrative und Sprüche „schweren Schaden“ zugefügt. Ein Parteiausschluss sei aber nicht möglich, weil der „seit vielen Jahren … mit zunehmender Härte geführte Konflikt“ nicht politisch gelöst, sondern verschleppt wurde. Die verquere Logik hierbei, die das Ganze als Farce demaskiert: Die „Linkspartei“ kann Wagenknecht trotz rechter Ansichten und jahrelanger reaktionärer Propaganda nicht ausschließen, weil sie schon vor vielen Jahren nicht ausgeschlossen worden ist.

Die Abspaltung wird von der Querfront inzwischen offen als Druckinstrument gegenüber der um Pöstchen und Gelder besorgten Restpartei eingesetzt, um weitere Spielräume zu gewinnen. Auch im besagten Nachdenkseiten-Interview spekulierte Wagenknecht über die Gründung einer eigenen Partei.

Links (Der Querfront-Dreck wird nicht verlinkt):

https://www.die-linke.de/partei/parteidemokratie/parteivorstand/parteivorstand-2022-2024/detail-beschluesse-pv/am-24-februar-jaehrt-sich-der-einmarsch-russischer-truppen-in-die-ukraine/

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/sahra-wagenknecht-bundesschiedskommission-lehnt-parteiausschluss-ab-a-92da482e-4875-4efd-9456-8a23f75d3d65

Kampf für den Frieden – gegen den inflationären Gebrauch des Querfrontvorwurfes – 23-02-23 20:55
DIE LINKE: Querfront-Alarm – 18-02-23 20:58

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Oben      —    Kurz vor dem Beginn der Hannover Messe 2016, die unter anderem von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama eröffnet wurden, organisierte ein Trägerkreis zum Samstag, den 23. April 2016 auf dem hannoverschen Opernplatz eine Demonstration unter dem Motto „TTIP und CETA stoppen.

Foto: Bernd Schwabe – Own work

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  • File:2016-04-23 Anti-TTIP-Demonstration in Hannover, (10063).jpg
  • Created: 23 April 2016

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Unten      —    Rechte Tasche – linke Tasche – übrig blieb die leere Flasche /  Screenshot  YOUTUBE

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Angst vor den Blackout

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Februar 2023

Hintergrund: Atomausstieg , Blackout und Angstkampagen

Wyhl 02.650.n.jpg

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von      :      Axel Mayer

„Wenn das AKW Wyhl nicht gebaut wird, gehen in Baden-Württemberg die Lichter aus“, sagte Ministerpräsident und Marinestabsrichter a.D. Hans Filbinger 1975. „Wenn wir die letzten drei AKW abschalten, gehen in Deutschland die Lichter aus“, drohen die atomar-fossilen Seilschaften heute. Die Zeiten ändern sich, aber die perfekt organisierten und immer wirksamen Angstkampagnen bleiben.

1975, vor bald einem halben Jahrhundert, in der heißen Phase des Wyhl-Konflikts, beauftragte die damalige Badenwerk-AG die Hamburger Werbeagentur Drews Verfahrensstrategien zu entwickeln, die eine zügige Überwindung des Widerstandes der Bevölkerung garantieren sollten. Das Manager Magazin und der Spiegel berichteten über die Vorschläge der Werbeagentur, die u.a. die folgenden Taktiken vorgeschlagen hatte:

  • Negativtaktik: Dramatisierung aller Probleme, die durch den Nichtbau von Kernkraftwerken entstehen. Die Ängste der Gegenwart durch die Ängste der Zukunft überdecken.
  • Verschleierungstaktik: Herunterspielen der Probleme, die im Zusammenhang mit Kernkraftwerken in der Bevölkerung auftauchen. Die Ängste durch Verfremdung der Probleme verdrängen.
  • Verschönerungstaktik: Einseitige, positive Informationen über alle Fragen (fast alle) der Kernenergie. Die Ängste einfach negieren und ein positives Bild aufbauen.

Dieses alte Strategiepapier kommt einem angesichts mancher heutigen Argumente der Atomlobby seltsam bekannt vor. Die damaligen Angst-Strategien werden heute noch verwendet, gerade wenn es gilt, für die Laufzeitverlängerung der AKW Neckarwestheim-2, Emsland und Isar-2 oder für den Neubau von Atomkraftwerken zu werben.

Mit Fakten für die Laufzeitverlängerung zu werben, ist nach Tschernobyl und Fukushima schwierig geworden.
Selbst die Ökonomie spricht seit einigen Jahren gegen die Atomkraft. Strom aus Wind und Sonne ist nicht nur umwelt- und menschenfreundlicher, sondern auch wesentlich kostengünstiger als Strom aus neuen AKW.
Erstaunlicherweise werben auch nicht mehr die alten deutschen Energiekonzerne für die Gefahrzeitverlängerung, denn diese können rechnen. Für die Laufzeitverlängerung werben aktuell die alten und neuen Atomparteien CDU, CSU,  FDP und AfD und die ihnen nahestehenden Medien, rechts-libertäre Seilschaften und die Netzwerke der Klimawandelleugner. Vor fünf Jahrzehnten fanden die inhaltlichen Auseinandersetzungen noch direkt zwischen Konzernen und Umweltbewegung statt.

Heute tarnt sich die Atomlobby „scheinbar klimafreundlich“ nach amerikanischem Greenscamming-Vorbild. Greenscamming ist eine PR-Technik, bei der umweltfreundlich klingende Namen und Bezeichnungen für Organisationen oder Produkte ausgewählt werden, die nicht umwelt- oder klimafreundlich sind. Eine häufig angewandte Greenscamming-Methode besteht z.B. darin, dass sich Anti-Umwelt-Organisationen klimafreundlich bzw. „grün“ klingende Namen geben, die ein Interesse am Umweltschutz suggerieren, um die Öffentlichkeit über ihre wahren Absichten und Motive zu täuschen.

Negativtaktik heute: Dramatisierung aller Probleme, die durch den Nichtbau von Kernkraftwerken entstehen. Die Ängste der Gegenwart durch die Ängste der Zukunft überdecken.

      • Blackout-Angst:

    Fachleute, unter anderem die Bundesnetzagentur, halten einen unkontrollierten, großflächigen Stromausfall für äußerst unwahrscheinlich. Laut dem Branchendienst Energate schließt der größte Übertragungsnetzbetreiber Tennet einen Blackout aus. Geschürt wird die Angst insbesondere von PolitikerInnen und Medien, die den Übergang zu den umweltfreundlichen und kostengünstigen Energien jahrzehntelang behindert haben, weil das Energieerzeugungsmonopol der Energiekonzerne durch die Energiewende gefährdet war. Medien in der Schweiz haben gerade aufgedeckt,

  • wie ein Millionär eine Blackout-Kampagne
      •  finanziert. 1975, kurz nach den Filbinger-Äußerungen wurde während eines Fußball-Länderspiels ein „Mini-Blackout“ in Südbaden inszeniert … Ob das wiederkommt?

      • Strompreis-Angst:

    Die Strompreise werden steigen, wenn wir die AKW abstellen, wird in vielen Medienberichten suggeriert. Diese Angstkampagne der atomar-fossilen Seilschaften hat eine doppelte Zielsetzung. Sie stärkt die Atomindustrie und sie lenkt von tatsächlichen Verursachern der explodierten Energiepreise ab. Für die

Kriegsgewinnler

      •  Chevron, BP, Shell, TotalEnergies und ExxonMobil war 2022 ein profitables Jahr. Die schmutzigen „Big Five“ erzielten einen gemeinsamen Jahresgewinn von knapp 200 Milliarden US-Dollar. (Eine Milliarde sind unglaubliche 1000 Millionen!)

      • Das Märchen vom billigen Atomstrom:

    Gerade weil wir aktuell von den Energiekonzernen ausgeplündert werden, wirkt das Märchen vom scheinbar billigen Atomstrom immer noch. Doch im Atomstromland Frankreich ist der Strompreis nur scheinbar billig. Die Schulden des teilverstaatlichten französischen Atom-Konzerns EDF stiegen im vergangenen Jahr von 43 auf unglaubliche 64,5 Milliarden Euro. (64.500.000.000 Euro)Den realen Preis für den Atomstrom werden die Menschen in Frankreich über ihre Steuern bezahlen. Ein schwerer Atomunfall hätte auch in Frankreich verheerende Folgen. Eine Regierungsstudie rechnet mit 430 Milliarden Euro Kosten. Sei es Atomkraft,

Cum-Ex-Betrug

     oder Übergewinne. Konzerne und Milliardäre freuen sich, dass sich Normalverdienende unter einer Milliarde Euro nichts vorstellen können.

 

In diesen Angst-Kampagnen zeigt sich die Macht der Mächtigen in diesem Land. Die Abschaltung der letzten 3 deutschen AKW ist Gefahrenabwehr. Der Kampf gegen die Atomkraft war aber 50 Jahre lang immer auch ein Kampf für Demokratie und für eine umwelt- und menschenfreundliche Energieversorgung.

Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein. Der Autor war 30 Jahre lang BUND-Geschäftsführer und Bauplatzbesetzer in Wyhl.

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Grafikquellen      :

Oben      —     Photograph: Luftfahrer = Norbert Blau Beschreibung: Luftbild von Wyhl aufgenommen bei einer Ballonfahrt mit dem Ballonteam Norbert Blau Quelle: Selbst photographiert im Juni 2003 Weitere Luftbilder von Wyhl

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Unten     —     Anti–AKW–Demonstration in Hannover gegen die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in Gorleben am 31. März 1979. Das Standbild aus einem Super 8 Schmalfilm zeigt ein Fahrzeug mit dem Schild „Whyl grüßt Gorleben“ und wurde vor dem Fabrikgebäude des Keksfabrikaten Bahlsen aufgenommen mit Blick auf das Eckgebäude an der Rühmkorffstraße.

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Tage für den Frieden

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Februar 2023

Aktionstage für den Frieden 24./25. Februar 2023 im Saarland

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Waltraud Andruet

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine jährt sich am 24. Februar 2023 zum ersten Mal. Aus diesem Anlass werden an einer Vielzahl von Orten Veranstaltungen und Kundgebungen gegen den Krieg, für den Frieden, für Verhandlungen stattfinden, an denen viele teilnehmen sollten.

Aktionstage für den Frieden –  im Saarland am 24. und 25. Februar

Die Saarländische Friedensbewegung ruft am 24. und 25. Februar  anlässlich des Jahrestages des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zu Aktionen auf.

Anlässlich des Jahrestages des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2023 ruft die Saarländische Friedensbewegung zu verschiedenen Aktionen auf.

„Wir schließen uns dem bundesweiten Aktionsbündnis STOPPT DAS TÖTEN IN DER UKRAINE an“ ,so Waltraud Andruet Sprecherin vom FriedensNetz Saar und von pax christi Saar.

Weitere Infos unter: www.stoppt-das-toeten.de

STOPPT DAS TÖTEN IN DER UKRAINE! Für Waffenstillstand und Verhandlungen!

Geplante Aktionen zum Jahrestag des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Saarland.

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Freitag,    24.02.2023 um 15.00 Uhr Mahnwache vom FriedensNetz Saar mit Musik und Redebeiträgen in Saarbrücken, Gustaf -Regler-Platz (am Rathaus)

Freitag,    24.02.2023 um 16.00 Uhr Mahnwache vom Neunkircher Forum für Freiheit und Demokratie und Antifaschismus in Neunkirchen auf dem Stumm-Platz

Freitag,    24.02.2023 um 19.00 Uhr Ev. Kirche Saarlouis „Friedensgebet: Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“ Ökumenischer Arbeitskreis Saarlouis

Samstag, 25.02.2023 von 10.30 Uhr bis 15.00 Uhr Mahnwache und Infostand von Attac Untere Saar und Aufstehen Saar, Französische- Straße in Saarlouis unter dem Pavillon

Urheberrecht
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Grafikquellen      :

Oben      —    Peace dove, Conversion of Dove peace.png

Unten      —     Rathaus Saarbrücken mit einem Tilt-Shift-Objektiv von der Johanneskirche aus fotografiert.

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Fahrn, fahrn, fahrn

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Februar 2023

Auf der Autobahn – Ampel-Streit um Verkehrspolitik

Laufende und fest disponierte Projekte sowie der vordringliche Bedarf bei Autobahnen im Bundesverkehrswegeplan 2030 – Dann sehen wir Politiker-innen nur noch auf den E.- Roller wie  Pik – blöde.

Von     :    NIKOLA ENDLICH   –  CLAUDIUS PRÖSSER  –  TOBIS SCHULZE

Die FDP will schnell mehr Autobahnen bauen, die Grünen lieber weniger. Es rächt sich, dass sie den Liberalen das Verkehrsministerium überlassen haben.

An einem grauen Sonntagvormittag Anfang Februar warten rund 200 Menschen mit Fahrrädern vor dem S-Bahnhof Treptower Park in Berlin. Es gibt heißen Tee, Musik vom DJ-Lastenrad und nervöse Blicke bei den Organisator*innen, weil die Hauptperson auf sich warten lässt: Bettina Jarasch, Spitzenkandidatin der Grünen bei der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus, soll hier kurz vor Schluss ihrer Kampagne ein Zeichen setzen – gegen den Weiterbau der Stadtautobahn A100.

Der Ort der Kundgebung markiert den Punkt, bis zu dem der Autobahn-Stadtring in zwei Jahren vorgestoßen sein wird: Seit 2013 wird an dem Bauabschnitt gearbeitet, rund drei Kilometer von Neukölln in den ehemaligen Ost-Teil der Stadt. Ginge es nach dem amtierenden rot-grün-roten Senat und seiner Verkehrssenatorin Jarasch, bliebe es auch dabei.

Der nächste Bauabschnitt – weitere fünf Kilometer über die Spree in Richtung Norden – würde dann nicht mehr gebaut. „Aberwitzig“ seien die Pläne, ruft Jarasch ins Mikrofon, als sie schließlich da ist. „Die Autobahn zieht neuen Verkehr und ist jetzt schon absurd teuer.“ Dann geht die Demo los, auf dem Fahrrad die potenzielle Trasse entlang: Vorbei an Brachflächen, ein paar Gründerzeit-Wohnhäusern, Kfz-Werkstätten und einigen Clubs, die dem Neubau weichen müssten.

Ob es dazu kommt? Dass die Berliner Landesregierung geschlossen gegen das Projekt ist, ist eine Besonderheit. In anderen Landeskoalitionen konnten sich die Grünen mit ihrem Nein zu Autobahn-Plänen nicht durchsetzen, in Schleswig-Holstein zum Beispiel, wo die umstrittene Küstenautobahn A20 verlängert werden soll. „Die Entscheidung über die Planung von Fernstraßen liegt in der Hand des Bundes“, heißt es dort im schwarz-grünen Koalitionsvertrag.

Über Autobahnbau entscheidet der Bund

Dass sich der Berliner Senat anders positioniert, wird am Ende womöglich nichts nützen: Die Hoheit beim Autobahnbau liegt tatsächlich beim Bund. Und obwohl die Grünen dort ebenfalls mitregieren: In Sachen Verkehrsplanung läuft es im Moment nicht in ihrem Sinne.

Prominent ficht die Ampel gerade den Streit um die Planungsbeschleunigung aus. Der dreht sich darum, ob beschlossene Autobahnprojekte in Zukunft schneller gebaut werden sollen. Ist dieser Konflikt irgendwann geklärt, steht schon der nächste an. Er ist noch grundlegender: Umstritten ist, ob jene Autobahnen überhaupt noch entstehen sollen, deren Bau vor Jahren einmal beschlossen wurde. Im Koalitionsvertrag ist vage von einer Revision die Rede. Volker Wissing (FDP) und sein Verkehrsministerium bremsen dabei aber.

Und so stellt sich die Frage, wie sich der Bau neuer Autobahnen überhaupt noch stoppen lässt – was angesichts der Klimakrise dringend nötig wäre.

Im Verkehr klafft eine große Lücke bei den Klimazielen. Die Ampel müsste den CO2-Ausstoß durch den Verkehr senken, um nicht weiter gegen das Klimaschutzgesetz zu verstoßen. 139 Millionen Tonnen CO2-Emissionen erlaubte es dem Sektor im vergangen Jahr. Laut der Denkfabrik Agora Energiewende wurden tatsächlich 150 Millionen Tonnen in die Luft geblasen. Der Klimaexpertenrat der Bundesregierung drängt den Verkehrsminister, bei der Einhaltung der Klimaziele nachzubessern.

Schritte bei der Umweltprüfung weglassen?

Doch die FDP verfolgt derzeit einen anderen Plan. Im Herbst reichte Wissing seinen Entwurf des „Gesetzes zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren“ ein, über den die Ampel jetzt so heftig streitet. Er will damit Planungsverfahren im Verkehrsbereich verkürzen. Neben einem schnelleren Bau von Schienen und Wasserstraßen, den auch die Grünen richtig finden, geht es ihm um den beschleunigten Bau von Autobahnen.

Bei bestimmten Straßenprojekten könnte künftig auf Schritte bei der Bürgerbeteiligung und Standards der Umweltprüfung verzichtet werden. Umweltverbände kritisieren das scharf.

In der Koalition kursieren verschiedene Listen von Autobahnprojekten, die die FDP trotz der Kritik priorisieren möchte. Laut dem Spiegel soll Wissing zuletzt im Januar in einem Kompromissvorschlag zwar nur noch schnellere Ausbauvorhaben vorgeschlagen haben, keinen beschleunigten Neubau mehr. Aus seinem Ministerium heißt es aber, auch für die A100 in Berlin sei der Turbo noch nicht vom Tisch.

Der Bundesverkehrswegeplan

Auch deswegen haben die Grünen im Bund bisher nicht eingeschlagen. Wurde ihnen aus der Klimabewegung zuletzt im Streit um Lützerath noch zu viel Kompromissbereitschaft vorgeworfen, stehen sie bei der Planungsbeschleunigung relativ geschlossen. Wenn es darum geht, kaputte Autobahnbrücken zu sanieren oder zu ersetzen, würden sie schnelleren Planungen zwar zustimmen. Darüber hinaus lassen sie aber kaum Entgegenkommen erkennen.

Drei Treffen zwischen Wissing, der grünen Umweltministerin Steffi Lemke und Bundeskanzler Olaf Scholz endeten ohne Einigung, zuletzt auch ein Treffen der Koalitionsspitzen. Anfang März will sich der Koalitionsausschuss erneut treffen. Ausgang: ungewiss.

Wie viele Autobahn-Kilometer in Deutschland noch entstehen werden – egal, wie schnell – ist primär allerdings gar keine Frage des Beschleunigungsgesetzes. Die grundsätzliche Frage, ob eine neue Straße gebaut werden soll, wird in einem anderen Dokument mit ähnlich sperrigem Namen geklärt: dem Bundesverkehrswegeplan. Auch um ihn schwelt ein Ampel-Streit.

Der Plan ist ein Herzstück der deutschen Verkehrspolitik. Alle 10 bis 15 Jahre wird er von der Bundesregierung neu erstellt – begleitet von lobbyierenden Abgeordneten, Bürgermeistern und Landrätinnen, die auf eine bessere Straßenanbindung ihrer Regionen oder die lang ersehnte Autobahnauffahrt für das örtliche Industriegebiet hoffen.

VB – Vordringlicher Bedarf

In unzähligen Listen enthält das Dokument neben geplanten Autobahnen und Bundesstraßen auch neue Schienen und Wasserstraßen. Dahinter stehen jeweils fachlich klingende Kürzel: VB steht für „Vordringlichen Bedarf“, sollte also bald gebaut werden. WB steht für „Weiteren Bedarf“, wäre also ganz schön, wird so schnell aber nichts. Kurz nach Erscheinen eines neuen Verkehrswegeplans verabschiedet der Bundestag auf dessen Basis für gewöhnlich sogenannte Bedarfspläne. Damit sind die Bauvorhaben dann Gesetz.

Die aktuelle Version stammt aus dem Jahr 2016, beschlossen noch unter CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer, und gilt bis zum Ende der 2020er Jahre. Das für die Umsetzung benötigte Finanzvolumen wurde bei der Verabschiedung mit 270 Milliarden Euro beziffert. Der Plan enthält mit großem Abstand vor allem eines: Bauvorhaben für Straßen.

Vollkommen überholt sei der Plan, kritisieren Umweltverbände. Bei seiner Aufstellung behandelte die damalige Große Koalition den Klimaschutz noch als Nebensache. Als der Plan beschlossen wurde, hatte Deutschland das Pariser Klimaabkommen noch nicht ratifiziert. In ferner Zukunft lag auch noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Bundesregierung 2021 zu mehr Klimaschutz verdonnerte. „Auch die heute geltenden Ziele des Klimaschutzgesetzes sind darin nicht berücksichtigt“, sagt die grüne Umweltministerin Steffi Lemke der taz.

Autobahn-Gegner*innen argumentieren, dass mit der sich verschärfenden Klimakrise das Verkehrsaufkommen stark reduziert werden müsste. Mit dem Bau von immer neuen Asphaltpisten passiere das Gegenteil. Die Mehrheit der Wis­sen­schaft­le­r*in­nen spricht vom „induzierten Verkehr“: Der Bau von immer mehr neuen Straßen ziehe in der Regel mehr Verkehr nach sich. Kurz: Wer Straßen sät, erntet Verkehr.

Die Logik der FDP da­ge­gen: Gibt es zu viel Stau auf deutschen Straßen, müssen eben zusätzliche Spuren geschaffen oder neue Autobahnen gebaut werden. FDP-Chef Christian Lindner twitterte kürzlich, dass durch Staus und Umwege „unnötig produziertes CO2“ entstünde. Dies mit dem Bau neuer Autobahnen zu reduzieren, ist nach Ansicht der FDP im Sinne des Klimaschutzes.

Im Verkehrsministerium herrscht dazu die Sorge, dass der Wohlstand des Landes sinken könnte, wenn die Verkehrsleistung zurückgefahren wird, künftig also weniger Autobahnen gebaut würden. In fast jeder Rede, die Wissing zum Thema hält, betont er die Rolle des Gütertransports auf der Straße: LKW würden rund zehnmal so viele Waren liefern, als derzeit per Schiene durchs Land gefahren werden. Der Güterverkehr auf der Schiene sei „derzeit viel zu unpünktlich“, sagt der verkehrspolitische Sprecher der FDP, Bernd Reuther, der taz. Um ihn attraktiver zu machen, müsste erst die Pünktlichkeit verbessert werden.

Vage Formulierungen im Koalitionsvertrag

Quelle         :         TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —     Laufende und fest disponierte Projekte sowie der vordringliche Bedarf bei Autobahnen im Bundesverkehrswegeplan 2030

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Lützerath als Fanal

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Februar 2023

Warum wir transformative Strategien im Kampf gegen die Klimakrise brauchen

Von Markus WissenUlrich Brand

Lützerath bleibt. Selbst wenn die Kohle unter dem Ort im Rheinischen Braunkohlerevier irgendwann abgebaggert sein sollte, wird dessen Name fortwirken: als Symbol für den Mut und den Einfallsreichtum von Menschen, die sich einem mächtigen Konzern ebenso wie der Staatsmacht widersetzen. Lützerath steht auch als Symbol für eine Politik, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt. Die Zeichen der Zeit, das sind der Kohleausstieg und der Übergang in eine Produktionsweise, in der das gute Leben aller und nicht die Verteidigung mächtiger Partikularinteressen den zentralen Bezugspunkt bildet.

Dass dies nicht im Sinne von konservativen und liberalen Parteien ist, kann kaum überraschen. Deren historische Funktion besteht darin, gesellschaftliche Veränderungen so lange im Sinne der herrschenden Interessen hinauszuzögern, bis ihre Notwendigkeit unabweisbar geworden ist. Die Empörung über die politischen Versäumnisse richtet sich deswegen in erster Linie gegen die Grünen. Und dies zu Recht: Kaum sind sie zum zweiten Mal nach 1998 Regierungspartei auf Bundesebene geworden, machen sie erneut Politik gegen jene Bewegungen, aus denen sie selbst einst hervorgegangen sind. Beim ersten Mal war es vor allem die Friedensbewegung, die die Grünen unter ihrer damaligen Leitfigur Joschka Fischer brüskierten. Heute enttäuschen sie die Anliegen der Klimagerechtigkeitsbewegung, deren Stärke sie ihre jüngsten Wahlerfolge mitzuverdanken haben.

Sicherlich hat niemand von der grünen Regierungsbeteiligung eine sozial-ökologische Revolution erwartet. Denn zum einen sind die Grünen nur Teil einer Koalition, in der mit der FDP eine antiökologische Kraft über ein erhebliches Druckpotenzial verfügt. Zum anderen steht außer Frage, dass staatliche Politik anderen Logiken folgt als das Handeln sozialer Bewegungen. Die Möglichkeiten staatlicher Politik werden systematisch durch die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse beschränkt. Diese schreiben sich in die staatlichen Apparate ein, sie prägen die Denkweisen ihres Personals und bestimmen, welche Probleme in welcher Form überhaupt debattiert werden können. Der von den 1968ern angestrebte „Marsch durch die Institutionen“ resultierte im Marsch der Institutionen durch die Protagonist:innen der Bewegung. Das war die Erfahrung der ersten grünen Regierungsbeteiligung: Schneller als ihm lieb war und meist ohne es zu bemerken, verinnerlichte das grüne Spitzenpersonal die institutionellen Restriktionen und missverstand dies als Ankunft auf dem harten Boden der Realität. Gemeint war die Realität der Herrschenden, die sie bis dahin kritisiert hatten und die sie nun mitgestalten wollten.

Das Versäumnis der heute tonangebenden Grünen liegt darin, diese Erfahrung nicht reflektiert zu haben. Stattdessen liefen sie blindlings und unvorbereitet in eine Situation, in der sie schließlich den Quasi-Freibrief für einen der weltweit größten Umweltsünder als klimapolitischen Kompromiss verkaufen sollten. Über so viel grünen Realitätssinn wird sich RWE vermutlich noch länger die Hände reiben. Denn in Zeiten einer eskalierenden Klimakrise darf der Konzern weitere 280 Mio. Tonnen Braunkohle abbaggern und verbrennen. Im Jahr 2030, acht Jahre früher als im Kohleausstiegsgesetz vorgesehen, lässt er es dann gut sein mit der heißen Luft und der verbrannten Erde – und kann sich auf der Gewissheit ausruhen, dass dann die gestiegenen Preise für Zertifikate aus dem europäischen Emissionshandel die Kohleverstromung ohnehin unrentabel gemacht haben werden. Als Zugabe obendrauf bekommt der Konzern die Zerstörung einer wichtigen Infrastruktur der Klimagerechtigkeitsbewegung, die ihm in den kommenden Jahren noch einiges an Ärger beschert hätte: Das besetzte Lützerath war ein Ort, an dem Menschen zu Aktionstrainings, Workshops und Festivals zusammenkamen.

Nun ließe sich einwenden, dass die Vorgängerregierung der Ampel die Energiewende systematisch ausgebremst und damit die Sachzwänge, mit denen Grüne und SPD als Regierungsparteien heute konfrontiert sind, erst geschaffen habe. Ohne die Grünen in der Regierung würde zudem alles noch schlimmer kommen. Und schließlich trage die derzeitige Regierung keine Schuld an den Gaspreissteigerungen infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. All das ist richtig, trifft aber nicht den entscheidenden Punkt: Dieser besteht zunächst einmal in der simplen Tatsache, dass der Abbau der Kohle unter Lützerath aus Gründen der Versorgungssicherheit und Netzstabilität nicht nötig ist. Zu diesem Schluss kommen gleich mehrere Gutachten.[1] Sodann, und in der aktuellen politischen Diskussion weitgehend vernachlässigt, stellt sich die Frage: Für wen und wofür wird der Strom eigentlich erzeugt? Und um wessen Versorgungssicherheit geht es hier eigentlich?

Denn selbst wenn die Kohle benötigt würde, um den bestehenden Strombedarf zu decken, wäre es ökologisch naheliegend, erst einmal diesen Bedarf zu problematisieren, bevor zu seiner Deckung noch mehr CO2 emittiert wird: Müssen wir wirklich Strom für Autofabriken erzeugen, damit darin riesige Mengen an immer größeren Fahrzeugen hergestellt werden, die, einmal freigelassen, selbst Unmengen an Strom verbrauchen oder die fossilen Treibstoffe gleich selbst in Kohlendioxid verwandeln? Brauchen wir Energie für eine chemische Industrie, um diese in die Lage zu versetzen, Berge an Verpackungen aus Kunststoff zu produzieren, die nach einmaligem Gebrauch verbrannt oder ins Ausland exportiert werden? – Das ist die Versorgungssicherheit einer Produktions- und Lebensweise, die bereits heute unzählige Menschen in existenzielle Unsicherheit stürzt.

Warum soziale Bewegungen unerlässlich sind

Viel sinnvoller – und angesichts sich zuspitzender Krisen immer dringlicher – wäre es dagegen, innezuhalten und zu fragen, welche Dinge tatsächlich gesellschaftlich notwendig sind und sich zudem auf eine Weise herstellen ließen, die nicht die Erde weiter aufheizt und die Lebensgrundlagen von Menschen hierzulande, andernorts und in der Zukunft zerstört: ein nachhaltiges Mobilitätssystem, ein gut ausgebautes und für alle zugängliches Gesundheitswesen oder energetisch sanierte und preiswerte Wohnungen.

Auseinandersetzungen an den Polizeiketten vor Lützerath

Natürlich ist dafür genug Geld da. Die Gesellschaft ist so reich wie nie zuvor. Wer sich hunderte Milliarden Euro für die Bundeswehr oder die Bankenrettung leisten kann, der hat auch ausreichend Ressourcen dafür, die Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Warum sollten wir weiterhin Ressourcen und menschliche Kreativität dafür verschwenden, neue Finanzinstrumente zu entwickeln, SUVs zu designen oder Waffensysteme zu optimieren? Warum nicht stattdessen die gesellschaftlichen Anstrengungen, die praktische und kollektive Intelligenz von Beschäftigten in der Produktion, im Pflegebereich oder im Gesundheitswesen, die Kreativität von Ingenieur:innen in den Dienst des guten Lebens für alle stellen?

Solche Fragen lassen sich in den Parlamenten und Ministerien kaum diskutieren. Das ist kein Wunder, denn sie gehen ans Eingemachte der kapitalistischen Produktionsweise: an die Möglichkeit, das Privateigentum an Produktionsmitteln letztlich auch zum Schaden der Allgemeinheit nutzen zu dürfen, solange dabei Profite, Wachstum und Steuereinnahmen herauskommen. Übertüncht wird dies mit Begriffen wie „Wettbewerbsfähigkeit“, dem Verweis auf Arbeitsplätze oder dem Argument, dass „die Chinesen“ das Problem beim Klimawandel seien. Europa mache ja schon seine Hausaufgaben. Doch all diese Behauptungen sind Nebelkerzen.

Quelle         :      Blätter-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —   Räumung Lützeraths, 11. Januar 2023

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Unten     ––       Auseinandersetzungen an den Polizeiketten vor Lützerath

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Bitterer Nachgeschmack

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Februar 2023

Integrationsdebatte und Rassismus

Ein Debattenbeitrag von Tuba Ahmed-Butt

Der Diskurs über die Hintergründe der Gewalt in der Silvesternacht ist wenig zielführend. Konstruktive Lösungsansätze kommen dabei viel zu kurz.

Was muss ich sein oder machen, damit ich deutsch bin?“, fragt Dilan Sözeri. Die 17-jährige Jugendliche war von mehreren Tätern rassistisch beleidigt und dann zusammengeschlagen worden. Betrachtet man die seit der Silvesternacht in Deutschland stattfindende Integrationsdebatte in der Metaebene, so wird schnell deutlich, weshalb Politikwissenschaftler Carlo Masala diese Debatte „nicht gut für die Zukunft dieses Landes findet“ und anführt, dass sie „komplett aus dem Ruder läuft“.

Wenn wir nämlich so weit sind, dass die führenden deutschen Politiker von „Integrationsverweigerern“ (Faeser, SPD) und dem „Phänotypus: westasiatisch, dunkler Hauttyp“ (de Vries, CDU) sprechen, von „bestimmten jungen Männern mit Migrationshintergrund“ (Fae­ser, SPD), „kleinen Paschas“ und „Jugendlichen aus dem arabischen Raum“ (Merz, CDU) zusammen mit „ungeregelter Migration“, „gescheiterter Integration“ (Spahn, CDU) und „kultureller Überfremdung“ (Adler, FDP) und wenn keine dieser polemisch verwendeten Begriffe und Denunzierungen aus dem AfD-Milieu, sondern aus der bürgerlichen Mitte stammen, dann müssen wir doch laut aufschreien.

Es muss diesen Politikern doch bewusst sein, dass mit ihrer Sprache nicht nur die sozioökonomisch benachteiligte, kriminell auffällig gewordene und vom Rechtsstaat geahndete kleine Gruppe von 38 Personen in Berlin-Neukölln ansprechen, sondern alle 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Die Debatte über Integration, Migration und dunklen Hauttyp trifft unweigerlich uns alle.

Der gravierendste Fehler bei der Debatte nach Silvester ist die irrtümliche Annahme, der Migrationshintergrund der gewalttätigen Jugendlichen sei Grund für die Gewalt gegen Polizei und Rettungssanitäter. Tatsächlich ist Gewalt, in der Polemik der aktuellen Debatte formuliert, auch deutsche Norm. Stichwort Dresden 2021, Borna 2022, Lützerath 2023. So sieht auch Jugendrichter Andreas Müller nicht die Herkunft als das Problem, sondern vielmehr „ob diese Jugendlichen eine Perspektive haben“.

Entscheidend ist der Vorname

Gewalt gegen unsere Einsatzkräfte und Rettungskräfte ist zu verurteilen und strafrechtlich zu verfolgen. Die Polemik dieser entgleisten Integrationsdebatte ist dennoch fatal, denn sie perpetuiert rassistische Narrative. Menschen mit Migrationshintergrund wird „kulturelle Überfremdung“ angelastet, anstatt sie als Bereicherung wahrzunehmen. Das ist die laute Debatte, die geführt wird. Das bleibt in den Köpfen hängen.

Das Ziel, dass Menschen mit Migrationshintergrund irgendwann auch tatsächlich als Deutsche wahrgenommen werden und nicht als Fremde, rückt damit nicht gerade näher. Die Diskriminierung deutscher Tatverdächtiger anhand ihrer Vornamen ist der Gipfel der rassistischen Narrative. Der Soziologe und Bildungsforscher El Mafaalani bringt es auf den Punkt: „Das Signal ist, selbst wenn ihr eingebürgert seid, selbst wenn ihr hier geboren seid, am Ende gucken wir uns noch mal euren Vornamen an.“

Das Signal ist das Gegenteil von dem, was eine sinnvolle zukunftsorientierte Integrationspolitik wäre. Ironischerweise wird die aktuelle Integrationsdebatte weder zu einer verbesserten Sicherheitssituation unserer Rettungskräfte führen, noch zu mehr Achtung und Respekt vor dem Staat. Im Gegenteil: Das Ergebnis ist Frustration, ist Verbitterung und Spaltung auf beiden Seiten. Die einen kämpfen darum, als Teil der Gesellschaft akzeptiert zu werden, und die anderen rufen laut, dass sie hier nichts zu suchen haben.

Einen Tag nach dem Auftritt des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz bei Markus Lanz, wo er sich darüber echauffiert, dass in Deutschland alle Menschen die gleichen Chancen hätten, veröffentlicht die Integrationsbeauftragte und Beauftragte für Antirassismus, Reem Alabali-Radovan, einen Bericht, der genau das Gegenteil belegt. Merz setzt obendrauf, dass Deutschland durch die heute 8-jährigen Grundschüler, die er als „kleine Paschas“ denunziert, eine Bedrohung besteht.

40% der unter Fünfjährigen

Das sind Kinder, für die wir als Gesellschaft die Verantwortung tragen. In welcher verzerrten Realität leben Merz und seines Geistes Brüder? Glücklicherweise positionierte sich Berlins Bürgermeisterin Franziska Giffey umgehend gegen diese „absurde Debatte“, die uns keiner Lösung näherbringt. Welche Versäumnisse müssen wir jetzt aufholen? Wem müssen wir zuhören? Und wen müssen wir unterstützen? Wo investiert Deutschland in die Zukunft?

Quelle        ;        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Oben     —   Wer Waffen verkauft, soll für Geflüchtete zahlen !  : slogan sur un mur de Berlin (Allemagne).

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Die Grünen und der Krieg

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Februar 2023

Kehrtwende mit ADAC-Schutzbrief

Von Josef-Otto Freudenreich

Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock sieht Europa im Krieg gegen Russland. Ihre Partei, die ihre Wurzeln im Pazifismus hat, ruft nach Waffen. Wie geht das zusammen? Der Tübinger Autor Matthias Rude erklärt es auf wenigen Seiten. Eine zentrale Rolle spielt Joschka Fischer.

Das Motiv dicker Hals scheidet aus. Der Autor ist 1983 geboren. Also ein sogenannter Millennial, dessen Generation als „Egotaktiker“ bezeichnet wurde, die sich möglichst leichtfüßig durch die Work-Life-Balance zu schaukeln versucht. Keine blutige Nase am AKW-Zaun, kein Tränengas, keine enttäuschte Liebe, kein Joschka Fischer als Streetfighter, dessen Metamorphosen ihn verstört hätten. Stattdessen Pfadfinder in Sigmaringen. Mittendrin im Dreieck Kirche-Adel-CDU und doch nicht dabei. Matthias Rude sagt, er habe „nirgendwo reingepasst“.

Besser wurde es beim Studium in Tübingen. Der Sohn eines Mathelehrers wählte Philosophie und vergleichende Religionswissenschaft, traf dort auf Ordinarius Günter Kehrer, einen Marxisten und Atheisten, und schloss sich der Linksjugend an. Dass er auf diesem Weg später mit Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) aneinandergeraten sollte, hatte eine gewisse Zwangsläufigkeit, der frühe Abschied von einer Karriere im bürgerlichen Sinn auch. Sein Brot verdient er als Social-Media-Redakteur bei einer Lebensmittelfirma, natürlich Bio, sein Herz hängt an Texten für das Magazin für Gegenkultur „Melodie & Rhythmus“, die „Junge Welt“, das „Neue Deutschland“, am Schmetterling-Verlag und jetzt an dem Buch „Die Grünen – Von der Protestpartei zum Kriegsakteur“.

Es kommt zur rechten Zeit. Kein Tag vergeht, an dem grüne Granden nicht nach Waffen für die Ukraine rufen. Lauter noch als Frau Strack-Zimmermann von der FDP. Baerbock, Habeck, Hofreiter kann es nicht schnell genug gehen mit den Panzern. Verwundert reibt sich der Mensch, der noch weiß, wer Petra Kelly war, vielleicht sogar in Mutlangen gegen Pershing-II-Raketen demonstriert hat, die Augen und fragt sich, was hier passiert ist? Ausgerechnet die Grünen, die Partei der Friedensbewegung, die betont, ihre Wurzeln lägen im Pazifismus. Wenn es passt.

Grün, Rot und die drei Undertaker ( Beerdigungsunternehmer )

Rude wundert sich nicht. Er hat nachvollzogen, wie sich die Partei in Friedensfragen entwickelt hat, wie die Fundis auch auf diesem Feld geschlagen wurden, wie die Ossi-Grünen den Realos in die Hände gespielt haben und warum Winfried Kretschmann, der Verfechter eines „grünen Kapitalismus“, zurecht behaupten kann, dass sie keine Linken mehr seien. Das liest sich gut und ist hilfreich für Debatten, in denen das Geahnte schnell als Gewissheit nachgeschlagen werden kann. Auf knappem Raum sind die Essentials erzählt, die Schlussfolgerungen gezogen: Es ist bloße Rhetorik, wenn das grüne Spitzenpersonal seine friedliebende Vergangenheit beschwört und gleichzeitig den Kriegseinsätzen auf dem Balkan (1999) und in Afghanistan (2001) zustimmt. Und Nebelkerzenweitwurf, wenn die Partei noch vor der Bundestagswahl 2021 verspricht: „keine deutschen Waffen in Kriegsgebiete“.

Fischer öffnet früh die Tür zur Nato

Als entscheidende Figur in dieser Geschichte sieht der Autor Joschka Fischer, der das „Nie wieder Auschwitz“ auf dem Bielefelder Kosovo-Parteitag 1999 zum Kampfbegriff gegen alle Antimilitaristen gemacht hat. Es galt, mit der Nato gegen Serbien zu ziehen, dem Mörder Milosevic mit Bomben Einhalt zu gebieten, und Fischer nannte es eine „humanitäre Intervention“, die mitzutragen sei, um nicht zum Alliierten eines „neuen Faschismus“ zu werden. Er bekam seine Mehrheit, ein roter Farbbeutel traf ihn am rechten Ohr, die Bundeswehr rückte zu ihrem ersten Auslandseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg aus.

Folgt man Rude, hat der einstige Straßenkämpfer bereits 1989 die Tür zur Nato aufgemacht. Auf Schloss Crottdorf im Bergischen Land, wo er, zusammen mit Otto Schily, auf die SPD-Spitzenpolitiker Egon Bahr und Horst Ehmke getroffen ist, die ihnen klar gemacht haben, dass gemeinsames Regieren nur mit einem klaren Bekenntnis zur Nato gehe. Die anwesenden Grünen hätten keinen Einspruch erhoben, hieß es später. Es klappte dann ja auch mit der ersten rot-grünen Koalition 1998. Bis hin zum Ja zur Nato-Osterweiterung. Rudes Fazit: „Der Bellizismus linker Provenienz hatte sich für ihn (Fischer) als Schlüssel zur Macht erwiesen.“

Das Lob der „New York Times“, die Fischers „anhaltende Verachtung für Krawatten“ durch einen „wachsenden Respekt für die Nato“ ausgeglichen sah, wird ihm geschmeichelt haben, die Freundschaft mit US-Außenministerin Madeleine Albright ebenso. Die Aussage von Annalena Baerbock, sie stehe auf den „starken Schultern“ von Joschka Fischer, dürfte der 74-Jährige wohlwollend zur Kenntnis genommen haben.

Während sich der grüne Patriarch heute mit scharfen Wortmeldungen zurückhält, sind seine einstigen Mitstreiter weiterhin laut. Besonders Ralf Fücks, 71, der in jungen Jahren Kriegsdienstverweigerer und beim Kommunistischen Bund Westdeutschland war, welcher dem Maoismus nahestand und die politische Macht aus den Gewehrläufen kommen sah. Danach wandte er sich mehr grüner Realpolitik zu, die er als „Motor“ des Kapitalismus empfand, der ihm als lernendes System erschien, das „Krisen in Innovationen verwandelt“.

Ex-Maoist Fücks an vorderster Front

Quelle        :          KONTEXT- Wochenzeitung-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben       —     Joschka Fischer 2005

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Politik von unten

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Februar 2023

Teil I: Subjektivität und Organisierung

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von        :      Nima Sabouri

Die Inhalte des folgenden Textes können nicht als vom Autor selbst entwickelte Ideen betrachtet werden.

„Wenn wir uns aufmachen, werden unsere Ängste verschwinden“. Der kleine schwarze Fisch – Samad Behrangi

Vorwort

Die Inhalte des folgenden Textes können nicht als vom Autor selbst entwickelte Ideen betrachtet werden. Das meiste davon ist eher meine Schlussfolgerung aus den Diskussionen innerhalb der Gruppe „kollektiv aus Bremen“, in der wir die unterschiedlichen Feedbacks zu unserem Gruppenmanifest1 (veröffentlicht im Mai 2016) gemeinsam reflektiert haben. Insofern hat dieser Text eigentlich einen kollektiven Ursprung. Unsere Broschüre („11 Thesen”) befasst sich mit einer neuen revolutionären Strategie in Deutschland und stellt den Ansatz „revolutionäre Basisarbeit” wie z. B. die „revolutionäre Stadtteilarbeit” vor.

Die vielfältigen Diskussionen und Feedbacks haben uns jedoch gezeigt, dass dieser Ansatz für viele der radikalen Linken nicht überzeugend schien2. Ebenso scheint es, dass die allgemeine Akzeptanz der „11 Thesen” nicht unbedingt mit dem Verständnis für die Priorität dieses strategischen Ansatzes zu tun hatte. Daher haben wir in diesen späteren Gruppenüberlegungen versucht, die tieferen Wurzeln bestehender Hemmungen zu überdenken und zumindest für uns eine bessere Vision zu schaffen. Der nachfolgende Text3, der von diesen Reflexionen inspiriert wurde, ist ein Versuch, einige der theoretischen Grundlagen der “revolutionären Basisarbeit” zu erläutern. Das Ziel ist, zu zeigen, warum dieser Ansatz notwendig und warum er möglich ist.

Einleitung

Viele linke Aktivist*innen und Dissident*innen glauben im Gegensatz zur „Politik der Herrschenden“ (offizielle Politik oder „Politik von oben“) an gewisse Formen der „Politik der Unterdrückten/Beherrschten“, die eine emanzipatorische Perspektive bieten; eine Art von Politik, die die Kämpfe der Unterdrückten gegen die Herrschaftsmechanismen in den Vordergrund rückt und daher „Politik von unten“ genannt werden kann. Nach verschiedenen historischen Versuchen, von denen viele erfolglos waren, gibt es jedoch keinen Konsens über die Art und Weise einer solchen Politik sowie über ihre Anforderungen. An dieser Stelle legen wir unseren Fokus so weit wie möglich auf die Formen und Inhalte der „Politik von unten“4. Dieser Aufsatz sollte als Anstoss für weitere Debatten zu diesem Thema betrachtet werden, dessen Vertiefung und Ergänzungen die kritischen Beiträgen anderer Genoss*innen erfordert.

Die „Politik von unten“ wird häufig mit zwei miteinander verbundenen Begriffen (wenn auch oft mit unterschiedlichen Namen) assoziiert: Subjektivität und Organisierung. Dies ist ein Versuch, einige problematische Aspekte dieser beiden Begriffe in Verbindung mit der „ Politik von unten “ zu beleuchten.

1. Die Subjektivität und das Problem von Subjektwerdung

1.1 Wie definieren wir „Subjektivität“?

Subjektivität wurde von unterschiedlichen Quellen verschieden und mehrdeutig definiert. Der Begriff ist jedoch mit Vorstellungen von Bewusstsein, Handlungsfähigkeit (agency), Persönlichkeit, Selbstwahrnehmung (Identität) etc. verbunden, die oft austauschbar verwendet werden. Der Begriff wird am häufigsten als Erklärung für das verwendet, was die Urteile der Menschen über Wahrheit oder Realität informiert und beeinflusst; es ist die Sammlung von Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erwartungen und persönlichem oder kulturellem Verständnis von (und Überzeugungen über) Realität5. Als Einstieg gehen wir das Risiko ein, eine begrenzte Definition des komplexen Begriffs der Subjektivität zu bestimmen: Subjektivität geht von einer persönlichen Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität (einschliesslich der eigenen Lebenssituation) sowie einer Selbstwahrnehmung aus und strebt daher bestimmte Veränderungen in der eigenen Umgebung bzw. in der Gesellschaft an. Die Subjektivität ist also die Überzeugung bzw.

Fähigkeit, für eine gesellschaftliche Veränderung zu kämpfen. Die Menschen haben jedoch, aufgrund ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen, unterschiedliche Erfahrungen und Wahrnehmungen über die Soziale Wirklichkeit (also „social reality“). Infolgedessen nehmen zielen ihre Erwartungen und angestrebten Veränderungswünsche auf unterschiedliche Bereiche und Richtungen. Aus diesem Grund manifestiert sich Subjektivität in total unterschiedlichen politischen Orientierungen, von reaktionär bis emanzipatorisch6. Aufgrund der Ausrichtung dieses Textes, begrenzen wir uns ab hier meistens auf die progressive Gesellschaftsveränderung bzw. emanzipatorische Subjektivität. Daher wird unsere Definition von Subjektivität, im Vergleich zur Neutralität des üblichen Begriffs „agency“ (Handlungsfähigkeit) in der Soziologie, mit einem normativen Inhalt verbunden, der sich auf die emanzipatorische Orientierung der Subjektivität bezieht. Aus dieser Ansicht folgt: Subjektivität ist eine Art von Bewusstsein und Entschlossenheit, die man sich im Verlauf der persönlichen Entwicklung aneignet. Während dieses Prozesses gelangt die Person zu einem kritischen Verständnis ihrer Lebenssituation in der Gesellschaft und beabsichtigt daher, diese Situation (radikal) zu ändern.

Diese Definition der (emanzipatorischen) Subjektivität unterscheidet sich in gewissen Aspekten von „agency“ bzw. Handlungsfähigkeit: Handeln enthält auf seinen verschiedenen Ebenen und Feldern oft ein bewusstes Eingreifen, um sich so weit wie möglich an die Bedingungen und Möglichkeiten der Umgebung anzupassen. Dabei geht es vor allem um das Streben nach Schutz, Überleben und Fortschritt innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Es ist in seinen bewusstesten Erscheinungen schliesslich ein Rückgriff auf (oder eine Anwendung) der etablierten Rechte oder Normen. Obwohl (emanzipatorische) Subjektivität mit der Fortsetzung von Handlungsfähigkeit zu tun hat, beinhaltet sie jedoch, aufgrund der kritischen Einsicht, einen Bruch mit der bestehenden Situation. Das Ziel ist, eine neue gesellschaftliche Situation zu schaffen, die unter den bestehenden Ordnungen und Strukturen noch nicht zugänglich ist.

1.2. Warum hat Subjektivität unterschiedlichen Formen und Niveaus?

Der Kapitalismus reproduziert sich als ein komplexes System, das auf der Zusammensetzung unterschiedlicher Unterdrückungsmechanismen basiert. Aufgrund der Vielfalt der Unterdrückungsmechanismen ist Heterogenität ein struktureller Bestandteil der modernen Gesellschaft. Daher erscheint die Subjektivität in verschiedenen Formen und in verschiedenen Bereichen. Noch wichtiger ist, dass selbst in einem bestimmten Bereich der Unterdrückung unterschiedliche Ebenen und Grade von Subjektivität existieren, da die gesellschaftliche Heterogenität, auch innerhalb einer bestimmten Schicht, verschiedene Erfahrungen und Sichtweisen für die Individuen erzeugt. Dazu gehört auch, wie Leute eigene Erlebnisse interpretieren und darauf entsprechend reagieren.

Die wichtigsten verbundenen Faktoren, die bei dieser Vielfalt eine Rolle spielen, sind folgende: materielle auferlegte Lebensbedingungen (sozial-ökonomischer Hintergrund); die persönliche Lebensgeschichte (Erziehungsfaktoren und kulturelle Sozialisation) und der politisch-historische Zustand der Gesellschaft7. Diese Faktoren zusammen bestimmen bei jeder Person den Grad des angeeigneten kritischen Bewusstseins sowie deren Bereitschaft und Fähigkeit, die bestehenden Verhältnisse zu bekämpfen (oder sich an solchen Kämpfen zu beteiligen). Hierbei ist es wichtig zu beachten, dass die Art und Weise der Kombination und Wirkung dieser Faktoren bei Einzelnen unterschiedlich ist. Deshalb führt diese existenzielle Vielfalt bei den Prozessen der persönlichen Entwicklungen zur Vielfalt der Subjektivität.

Infolgedessen sehen wir im Laufe der Geschichte, innerhalb eines bestimmten sozio-historischen Rahmens, nicht die Verwirklichung eines einzelnen Aspekts von Subjektivität8; sondern unterschiedliche Grade und Richtungen der Subjektivität, die in verschiedenen Bereichen der Unterdrückung auftauchen. Ob und wie sie die bestehenden Herrschaftsmechanismen und Unterdrückungen beseitigen können, ist immer eine offene Frage der revolutionären Kräfte. An dieser Stelle müssen wir einen widersprüchlichen Aspekt der Heterogenität genauer in Betracht ziehen, und zwar: Warum können (potenziell) die Unterdrückten trotz ihrer Heterogenität überhaupt kollektive Subjekte werden? Es ist klar, dass die Vielfalt der Unterdrückungsmechanismen die Unterdrückten spaltet. Diese verwobenen Mechanismen reproduzieren sich nicht nur in Wechselwirkung mit den Funktionsweisen des ganzen Systems (Kapitalismus), sondern sie treiben die gesellschaftliche Heterogenität voran. Denn sie betreffen nicht alle Menschen gleichermassen und führen dazu, dass sich die Subjektwerdung von Menschen in unterschiedliche Richtungen und Grade entwickelt.

Es gibt jedoch eine Intersektionalität von Unterdrückungsmechanismen9, wodurch die bestehenden Unterschiede von wesentlichen Gemeinsamkeiten begleitet werden. Ein wesentliches Beispiel dafür ist die Situation der Arbeiter*innenklasse in einer Klassengesellschaft: Einerseits ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Unterdrückungsmechanismen und deren Intensivierung für sie viel wirksamer. Andererseits, trotz der oben genannten Unterschiede, sind sie auf ähnlicher Weise von den Klassenverhältnissen betroffen, die einem Grossteil von ihnen miserable Umstände auferlegt. Diese materielle Gemeinsamkeit schafft das Potenzial für die Entstehung eines „kollektiven Subjektes“ von Arbeiter*innen, auch wenn es intern heterogen ist. Nun stellt sich die Frage: Welche Bedingungen hindern diese Unterdrückten, sich als ein kollektives Subjekt zu verstehen und sich eine entsprechende Subjektivität anzueignen, um mit der kapitalistischen Ordnung einen emanzipatorischen Bruch zu vollziehen?

1.3. Was hindert die Unterdrückten daran, ihre Subjektivität zu entfalten?

Diesbezüglich sind zumindest vier Punkte zu erwähnen:

a) Subjektivität nur als ein (materielles) Potenzial: Die Unterdrückten können theoretisch aufgrund ihrer Lage (soziale Ontologie) und ihrer unmittelbaren Lebenserfahrungen zu Subjekten werden, die den Kampf gegen die entsprechenden Unterdrückungsmechanismen anstreben. In der Tat sind aber verschiedene Grade von Subjektivität zu beobachten. Denn das Potenzial der Subjektwerdung lässt sich nur dann verwirklichen, wenn es Prozesse gibt, in denen die Unterdrückten sich auf Grundlage ihrer eigenen Lage kritisches Bewusstsein aneignen und sich (gemeinsam) in Auseinandersetzung mit den entsprechenden Verhältnissen entwickeln können. Deshalb können wir nur von materiellen Potentialen von Subjektivität sprechen. Mit anderen Worten: Es gibt nur potenzielle Subjekte. Diejenigen, die unter alternativen Bedingungen ihre Subjektivität entfalten könnten, aber unter den derzeit vorherrschenden Bedingungen die Gelegenheit nicht ergreifen können. Das würde heissen, dass eine revolutionäre Strategie mit der Schaffung der Prozesse zur Subjektwerdung zusammenhängt.

b) Hindernis durch den Staat und seinen Ideologieapparat: Die „Politik von oben“ (Herrschaftspolitik) basiert gewissermassen auf der Bereitstellung und Durchführung der Mechanismen, die zwei grundsätzliche Funktionen zu erfüllen haben: auf der einen Seite sollen die potentiellen Subjekte daran gehindert werden, ihre Potentiale (zur Subjektwerdung) zu verwirklichen und dadurch heranzuwachsen. Und auf der anderen Seite sollen sich die bereits realisierten Subjekte unterwerfen und ausgelöscht werden. Die erste Funktion ist mit der Schaffung der Hegemonie verbunden und die zweite Funktion mit der Überwachung und Repression, wobei beide durch den kapitalistischen Staat durchgesetzt werden. Der Staat setzt seinen vielfältigen ideologischen Apparat und seine ausführende Gewaltmacht ein, um die Entstehung und das Wachstum der antikapitalistischen Subjekte zu verhindern. Dadurch garantiert der Staat eine grundlegende Voraussetzung der Reproduktion der herrschenden Ordnung, und zwar: Das Schwächen und Unterwerfen der Unterdrückten.

c) Warenform der Gesellschaft und Entfremdung: Parallel zu den genannten Funktionen des Staates gibt es noch einen anderen strukturellen Faktor, der den Prozess der Subjektwerdung (Realisierung des bestehenden Potentials) erschwert. In der kapitalistischen Gesellschaft werden die menschlichen und sozialen Verhältnisse in Form von Waren vermittelt. Die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse und deren Mechanismen führen zur multilateralen Entfremdung der Arbeiter*innen10, vor allem von sich selbst. Diese vorherrschende soziale Form verbirgt einerseits die tatsächlichen Ursachen und Mechanismen der Unterdrückungen und stellt die bestehenden Verhältnisse als natürliche und ewige Ordnung dar. Andererseits nimmt sie den Unterdrückten die Möglichkeiten zur Selbstentwicklung und Kollektivität. Daher scheint für viele Menschen jede Perspektive auf Veränderung unrealistisch. Diese Erscheinungsform wird wiederum durch die Verschärfung von Individualisierungs- und Atomisierungsprozessen noch mehr verinnerlicht. Zusätzlich führen die Funktionen des Sozialstaates dazu, dass viele Menschen dazu tendieren, die Gestaltung ihres Lebens den staatlichen Institutionen zu überlassen. Dadurch können sich ihre Kapazitäten und Fähigkeiten zur kollektiven Verwaltung sowie der Selbstorganisation nicht entfalten.

d) Verformte Subjektivität bzw. reaktionäre Subjekte: Die Subjektivität kann noch weitere Formen annehmen, die nicht derder Definition dieses Textes entsprechen, da wir uns nur das Entstehungspotenzial der emanzipatorischen Subjekte ansehen. Die Menschen sind, trotz der obigen Überlegungen, die Subjekte ihres eigenen Lebens und ihrer unmittelbaren Umgebungen. Das heisst, dass die Realisierung und Orientierung ihrer Subjektivität sowie deren Grad (Intensität), unter den bestehenden Bedingungen, oft anders ist als wir sie für emanzipatorischen Subjekte festgelegt haben.

Die Leute versuchen sich nicht nur an die gegebenen Situationen besser anzupassen (Handlungsfähigkeit), sondern versuchen diese auch zu ändern oder zu verbessern. Dafür nehmen sie – aufgrund der herrschenden Ideologie und der Sozialform – oft scheinbare Mechanismen als Ursachen zur Erklärung ihrer eigenen Situation wahr. Beeinflusst von diesen ideologischen Weltanschauungen kämpfen sie (mehr oder weniger) in falsche Richtungen und/oder verbinden sich mit reaktionären Kräften und Strömungen. All das negiert jedoch nicht ihre Potentiale der Subjektwerdung in eine emanzipatorische Richtung. Es beweist eher, dass bei einer revolutionären Strategie der Aufbau von Prozessen der Subjektwerdung mit den anti-hegemonialen Kämpfen zusammenhängt.

Nach dieser kurzen Einführung in die Subjektivität wenden wir uns dem Thema „Politik von unten“ zu und gehen auf ihre Möglichkeiten – trotz der Hemmnisse – ein.

1.4. Was bedeutet ”Politik von unten” in Bezug auf Subjektivität?

Angesichts des oben Gesagten ist „Politik von unten“ nichts anderes als ein kollektiver Entwicklungsprozess der Unterdrückten auf ihrem Weg hin zur Subjektwerdung. Die materiellen Möglichkeiten zum Aufbau dieses Prozesses hängen mit den gesellschaftlichen Bedingungen (dem historischen Kontext) zusammen: Einerseits gibt es die bedrückenden Lebensbedingungen und sozialen Verhältnisse, die Unzufriedenheit und Wünsche nach Änderungen erwecken und daher die Potenziale von Subjektivität11; andererseits gibt es die aktiven Mechanismen und Strukturen, die die Realisierung dieser Potenziale verhindern/erschweren12. Dementsprechend basiert die „Politik von unten“ auf den dauerhaften kollektiven Kämpfen um die Verwirklichung der verhinderten Potentiale einer Subjektwerdung13. Sie versucht, trotz aller gesellschaftlichen und historischen Hindernisse, die materiellen Möglichkeiten zur Subjektwerdung zu erweitern und zu multiplizieren.

File:Demonstranten mit Banner 24-10-2022 Kollektiv26 Ulm 2.jpg

Durch vielfältige langfristige Kampfprozesse zielt die „Politik von unten“ darauf ab, ein immer breiteres Spektrum der Unterdrückten in eine andere Art von Politik miteinzubeziehen. Diese beginnt mit einem kritischen Verständnis der eigenen Lebensbedingungen und geht durch die Anerkennung der eigenen kollektiven Veränderungskraft weiter. Sie entwickelt sich durch eine wachsende Solidarität unter den Beteiligten und macht deutlich, was für ihr Elend verantwortlich ist und was für ihr Wohlergehen benötigt wird. Der Ausgangspunkt der „Politik von unten“ ist daher das Durchführen kollektiver Kämpfe für die Verbesserung der Lebensbedingungen, mit der Perspektive einer Organisierung der Unterdrückten. Das unmittelbare Ziel ist die Schaffung solidarischer Prozesse zur Selbstermächtigung. Durch das gemeinsame Reflektieren der kollektiven Kämpfe sowie durch regelmässige politische Bildungen werden die Aneignung und Vertiefung des kritischen Bewusstseins ermöglicht. All das ermöglicht eine Entwicklung hin zu kollektiven emanzipatorischen Subjekten14.Jedoch wird „Politik von unten“, trotz kleiner, verstreuter, spo15ntaner Funken, nicht nachhaltig von selbst entstehen. Unter der vorherrschenden kapitalistischen Ordnung wirken die strukturellen Mechanismen dagegen, sie verhindern die Prozesse der Subjektwerdung und tragen zur Unterwerfung der aktiven Subjekte durch Repression bei. Auch der historische Trend in den letzten Jahrhunderten sollte die latente teleologische Hoffnung, dass die zunehmende Akkumulation der Unterdrückungen zu einem Wachstum der emanzipatorischen Subjektivität führen wird, eindeutig zerschlagen haben. Es scheint also so, als ob wir mit einem geschlossenen Kreislauf konfrontiert sind, der jegliche Möglichkeiten zur Verwirklichung der kollektiven Subjekte bzw. Entfaltung der „Politik von unten“ blockiert. Wir werden sehen, wieso diese Wahrnehmung nicht wahr ist.

1.5. Warum ist „Politik von unten“ möglich?

Angesichts der umfassenden Funktionen der Herrschaftsmechanismen wird die „Politik von unten“ meistens als zu utopisch bzw. unrealistisch angesehen. Auch viele der radikalen Linken tendieren dazu, sie nicht für möglich zu halten. Eine solche verzweifelte Wahrnehmung leitet sich aus zwei miteinander verbundenen grundlegenden Annahmen ab:

a) Das herrschende System als eine absolute Macht: Es wird angenommen, dass die strukturelle Macht des kapitalistischen Systems unbegrenzt sei – wie eine absolute Macht. Infolgedessen wird das System überall als präsent und einflussreich angesehen. Das setzt jedoch voraus, dass das System alle Folgen seiner Widersprüche unter seiner Kontrolle hat. Dieser Ansicht zufolge gibt es keine Möglichkeit für die Entstehung kollektiver Subjekte, um dem herrschenden System zu entkommen.

b) Homogene Bedingungen zur Subjektwerdung: Die Tatsache, dass das kapitalistische System die ganze Gesellschaft beherrscht/dominiert, bestärkt die Annahme, dass die Möglichkeiten zur Subjektwerdung homogen in der Gesellschaft verteilt sind. Entweder gibt es massenweise (realisierte) Subjekte oder es gibt keine Möglichkeit zur Subjektwerdung. Mit dieser Ansicht, in Anbetracht des heutigen Niedergangs der antikapitalistischen Bewegungen, kann man davon ausgehen, dass es zumindest heute keinen Raum zur Umsetzung der „Politik von unten“ gibt. Nachfolgend Argumente gegen die obigen Vorannahmen:

Im Gegenteil zur Annahme (a) weist das kapitalistische System eine Vielzahl von internen Rissen und Lücken auf, die für die Unvollständigkeit der kapitalistischen Herrschaft sprechen. Diese Risse basieren einerseits auf den inneren Widersprüchen der Dynamik des Kapitals und anderseits auf den Überschneidungen und Konflikten in der Logik des Kapitals mit einer Vielzahl nicht-ökonomischer Mechanismen. Der zweite Aspekt bezieht sich auf einen historischen Kontext, der von vielen zufälligen Ereignissen und Prozessen („contingencies“) geprägt wird. Daher gibt es viele konkrete sozio-historische Gelegenheiten und Faktoren, die aus der Vielfalt der Erfahrungen der Unterdrückten Momente zum Erwachen des kritischen Wissens und des kollektiven Handelns bilden.

Kurz gefasst: Aus der Widersprüchlichkeit und Krisenhaftigkeit des Kapitalismus folgen strukturelle Benachteiligungen, die zur Unzufriedenheit und zu spontanen Widerständen (Alltagskämpfen) führen. Diese existenzielle Unzufriedenheit und die daraus resultierenden Alltagskämpfe und spontanen Widerstände sind die Felder, in denen sich die Potentiale der Unterdrückten zur Subjektwerdung teilweise verwirklichen können, wenn auch in unterschiedlichen Formen und Graden. Auf der anderen Seite kann der kapitalistische Staat das Auftauchen dieser Widerstände nicht blockieren (er kann auf sie danach nur Repression ausüben und/oder sie verformen). Das heisst: Da die Gesellschaft heterogen ist, kann sich die politische Dominanz des Systems nicht vollständig durchsetzen.

Darüber hinaus basiert das kapitalistische System, trotz seiner Tendenz zur Verdinglichung („reification“) der sozialen Verhältnisse, auf der Arbeit menschlicher Akteur:innen, einschliesslich derjenigen, die schon in unterschiedlichen Bereichen und Graden ihre Subjektivität realisiert haben16. Daher ist die Nachhaltigkeit der historischen Entwicklung des Kapitalismus und seiner Funktionsweisen abhängig von der Art und Weise der Aktivitäten und Orientierungen der Unterdrückten, insbesondere von der Arbeiter:innenklasse im weitesten Sinne. Deswegen ist dieses System trotz seiner enormen und erschreckenden Dominanz gleichzeitig auch sehr verwundbar.

Im Gegenteil zur Annahme (b) gibt es neben der riesigen Menge an verhinderten Subjektivitäten auch zahlreiche realisierte Subjekte. Das bedeutet, dass sich die gesellschaftliche Inhomogenität auch in der Vielfalt der Möglichkeiten zur Subjektwerdung widerspiegelt. Lasst es uns genauer anschauen: Da die Art und Weise der Überschneidungen der Unterdrückungsmechanismen (Intersektionalität) und ihre Auswirkungen auf die Menschen völlig unterschiedlich sind, entsteht ein breites Spektrum an Betroffenheit innerhalb der Unterdrückten. Auch eine bestimmte Gruppe von Menschen, die bestimmten Unterdrückungsmechanismen ausgesetzt ist, wird nicht völlig homogenisiert17.

Vielmehr werden ihre Lebenserfahrungen und persönlichen Entwicklungen durch einen sozialen Kontext geprägt, der viele differenzierte Mikrostrukturen enthält. Diese Mikrostrukturen umfassen all jene zufälligen Faktoren und Ereignisse, die zu biografischen Mikrounterschieden innerhalb einer bestimmten Gruppe von Unterdrückten führen. Solche materiellen, mikrostrukturellen Hintergründe führen dazu, dass die Mitglieder einer bestimmten Gruppe der Unterdrückten nicht die gleiche Subjektivität entwickeln. Die Auswirkungen dieser Mikrostrukturen zeigen sich in der Vielfalt der Aneignung des kritischen Bewusstseins sowie in der Bereitschaft der Unterdrückten, sich mit den entsprechenden Unterdrückungsmechanismen auseinanderzusetzen. Diese existenzielle Vielfalt im Bereich der „Möglichkeiten“ der Subjektwerdung der Unterdrückten ist ein materielles und historisches Mittel zum Aufbau der Politik von unten18.

Aus dem Gesagten lässt sich ablesen, dass es in jeder Gesellschaft eine Reihe von aktiven Subjekten sowie einige Möglichkeiten zur Realisierung der Potentiale der Subjektwerdung gibt. Das Ausmass der Verteilung dieser Möglichkeiten hängt von den historischen Bedingungen sowie den Strategien der aktiven (antikapitalistischen) Subjekte ab. Dieses Ausmass nimmt dramatisch in Krisenzeiten und auch in revolutionären Prozessen zu. Die Kämpfe gegen den Kapitalismus entwickeln sich – wie der Kapitalismus selbst – im historischen Kontext. Die aktiven Subjekte dieser Kämpfe lernen ständig von dieser Geschichte, um ihre Ziele, Werte und Errungenschaften effektiver multiplizieren zu können. Dazu gehört auch die Steigerung der Kampfbereitschaft in der Gesellschaft und die Organisierung der Unterdrückten. Deshalb sollte, bei der Untersuchung der Möglichkeiten von Subjektwerdung und der „Politik von unten“, der Einflussfaktor der antikapitalistischen Subjekte (und Traditionen) ebenfalls berücksichtigt werden.

2. Organisierung: Bildungsprozess der kollektiven Subjekte

2.1. Was bedeutet Organisierung aus der Perspektive der Politik von unten?

Aus dem bisher Gesagten lässt sich schliessen, dass die Herausforderung eines revolutionären Wegs darin liegt, die verstreuten verhinderten Potentiale der Subjektwerdung zu aktivieren. Der Begriff Organisierung bezieht sich auf die Schaffung eines kollektiven Prozesses zur Subjektwerdung. Da dieser Organisierungsprozess zu einer Perspektive der Massenbewegung beitragen soll, muss er für viele unterdrückte Menschen zugänglich sein (der Quantitätsfaktor). Er wird aber nur dann vom politischen Scheitern geschützt, wenn er gleichzeitig an der Entfaltung der emanzipatorischen Subjektivität der Unterdrückten orientiert (der Qualitätsfaktor) ist.

Die Synthese dieser zweier Faktoren sollte die Entstehung eines kollektiven Subjektes sein. Organisierung in diesem Sinne erfordert einerseits den Aufbau kollektiver Strukturen von unten. Diese Strukturen bilden sich – vor allem – um die Bedürfnisse der Individuen oder Gruppen und zielen darauf ab, kollektive Kämpfe für diese zu ermöglichen. Auf der anderen Seite muss ein Organisierungsprozess (von unten) auf jeder Ebene mit der Erweiterung und der Vertiefung des kritischen Denkens verbunden sein. Das würde heissen, dass die Organisierung für eine Politik von unten unterschiedliche Formen von Lernprozessen fördern und anbieten muss. Dazu gehören auch Angebote der politischen Bildung, die sich an den offenen Fragen und Reflexionen aus der Praxis und den entsprechenden Strategiefragen orientieren (Aneignung der Theorie für die Praxis), aber gleichzeitig an die unterschiedlichen Wissensniveaus der Mitkämpfer:innen angepasst sind. Die Herausforderung ist jedoch, eine geeignete nachhaltige Kombination von zwei Komponenten zu etablieren: von einerseits kollektiven Kampfstrukturen und andererseits multilateralen Lernprozessen und Bildungen.

Die Politik von unten versucht durch diese dynamische Kombination, den vorherrschenden Attitüden innerhalb der heutigen entpolitisierten Gesellschaften (u. a. Individualismus und Ohnmachtsgefühl) entgegenzuwirken. In diesem Sinne zielt sich Organisierung (von unten) darauf ab, den Unterdrückten alternative Erfahrungen von Sozialisierung und Politisierung zugänglich zu machen. Durch die kollektiven Kampf- und Lernprozesse können sie sich nicht-kapitalistische Sichtweisen und Haltungen (wie Kollektivität, Solidarität, Verbindlichkeit und Hoffnung19) aneignen. Diese Merkmale bilden die elementare materielle Basis für die Unterdrückten, um einen eigenen emanzipatorischen Prozess zur Gesellschaftsveränderung aufbauen zu können. Es ist in diesem Sinne, dass die Organisierung von unten zur Subjektwerdung bzw. der Entstehung von kollektiven Subjekten beitragen kann. Im Sinne dieser Perspektive, d.h. einer Organisierung von unten, sind die „Politik von unten“ und die „revolutionäre Basisarbeit“ das Gleiche.

2.2. Wo wird organisiert: in den Betrieben oder Stadtteilen?

Es sollte klar geworden sein, dass die Politik von unten weit weg von den üblichen Orten der Szenepolitik praktiziert und aufgebaut werden sollte. Denn es geht hauptsächlich darum, in der Gesellschaft verankert zu sein und darin zu wirken. Das Übungsfeld der „revolutionären Basisarbeit“ sind all jene Orte, an denen die meisten Unterdrückten ihr Alltagsleben leben. Dazu gehören vor allem die Arbeitsstätten (wie Betriebe) und die Stadtteile. In vielen Gesellschaften, insbesondere in Deutschland, herrscht jedoch seit Jahrzehnten der Machtmechanismus der Sozialpartnerschaft, die die Gelegenheiten zum Aufbau eigenständiger Betriebskämpfe (oder die Radikalisierung der bestehenden Kämpfe) zu sehr beschränkt.

Deshalb können – in der heutigen Zeit – die armen Stadtteile gängige Orte zum Praktizieren der Organisierungsprozesse von unten sein. So ein Versuch kann unter „revolutionärer Basisarbeit“ kategorisiert werden. Diese Strategie kann eine besondere Rolle zum Wiederaufbau des gescheiterten Klassenkampfes spielen. Im Zeitalter der entpolitisierten Gesellschaft, in der sich die Arbeitskämpfe in einer langjährigen Sackgasse befinden, setzt eine revolutionäre Klassenpolitik vor allem die Wiederbelebung des Klassenbewusstseins voraus. Jeder Kampf an der Basis der Gesellschaft, der den sozialen Raum zur Subjektwerdung der Unterdrückten erweitert, entspricht daher den Bedürfnissen revolutionärer Klassenpolitik. Dieser Zusammenhang wird deutlicher, wenn wir den Fakt in Betracht ziehen, dass die armen Stadtteile die tatsächlichen Wohnorte eines Grossteils des Proletariats sind. Also die Wohnorte der Menschen, die in prekären Arbeits- und Lebenslagen leben, sowie die Wohnorte der Arbeitslosen.

Dazu gehören auch Geflüchtete und diejenigen, die meistens als Aussenstehende betrachtet und behandelt werden und daher zusätzlichen Beeinträchtigungen ausgesetzt sind. Deshalb ist die revolutionäre Stadtteilarbeit (als eine Form von revolutionärer Basisarbeit) nicht nur kein Ersatz der Arbeitskämpfe in den Betrieben, sondern ist ein notwendiger Ansatz, um die Blockade der Betriebskämpfe zu überwinden. Denn die revolutionäre Stadtteilarbeit bietet eine materielle Möglichkeit an, das Klassenbewusstsein und die Klassenkämpfe gesellschaftlich zu erweitern und zu bestärken.

Die historische Notwendigkeit dieses Ansatzes wird deutlicher, wenn wir die Entwicklung des Spätkapitalismus betrachten: Der Spätkapitalismus hat die grundlegenden Herangehensweisen der Fabriken/Betriebe sowie das Besitzen der vom Arbeitsmarkt verlangten Fähigkeiten in alle Sphären der Gesellschaft ausgedehnt und auferlegt. Die Arbeit wird nun – mehr denn je – überall verrichtet, auch in den Wohnorten der Unterdrückten. Die neoliberale „Flexibilisierung“ der Arbeit hat massiv prekäre Arbeitsverhältnisse erzeugt, in der zunehmend mehr Menschen immer wieder ihre Arbeitsplätze sowie ihre Jobs wechseln oder verlassen müssen. Sie müssen daher immer wieder die Phasen der Arbeitslosigkeit oder Berufsvorbereitung durchmachen, um ihre Arbeitskraft überhaupt wieder verkaufen zu können. Kurz gesagt: der Neoliberalismus hat die ganze Gesellschaft zu einer „sozialen Fabrik“ gemacht und dadurch die damalige Grenze zwischen Arbeit und Freizeit (bzw. Leben) rasant weggewischt. Das ist aber nichts anders als die Erweiterung und Verschärfung des Proletarisierungsprozesses in der Gesellschaft. Folglich können und müssen die Orte und Formen des Widerstands gegen den Kapitalismus auch erweitert werden. Deshalb sind die armen Stadtteile potentielle Orte zur Erweiterung des antikapitalistischen Klassenkampfes, bzw. zur Organisierung des kollektiven Kampfes um das Ganze.

2.3. Was hält linksradikale Kräfte von revolutionärer Basisarbeit ab?

Heute, aufgrund einiger historischer Entwicklungen, macht das oben dargestellte Konzept der „Politik von unten“ (im Sinne des Organisierens der Basiskämpfe) für viele radikale Linke immer noch wenig Sinn. Zumindest wird dessen historische Notwendigkeit oder dessen strategische Priorität nicht anerkannt. Diese Hemmung lässt sich nicht überwinden, wenn die Gründe der Vorbehalte und/oder Ablehnung von Organisierung (von unten) nicht verstanden und beseitigt werden. Dazu sind mindestens drei verbundene Faktoren20 zu betrachten, die solche Vorbehalte und/oder Ablehnung verursachen und sich gegenseitig bestärken:

A) Absolute Negation der Vergangenheit: Seit den 1980er Jahren gibt es immer wieder beharrende Skepsis gegenüber den Begriffen Organisieren und Politisieren und gegenüber deren entsprechenden Ansätzen. Es wird daher die Rolle der Linken in solchen Prozessen in Frage gestellt: „Dürfen wir überhaupt die anderen Menschen organisieren bzw. politisieren!?“. Diese Ansicht nimmt Bezug auf die lange Geschichte von autoritären Organisationen in den marxistischen Traditionen und verweist daher auf die manipulativen und instrumentalisierenden Herangehensweisen gegenüber den Unterdrückten. Daher wird jede Organisation per se als eine Machtstruktur verurteilt, die zwangsläufig Autorität ausübt und zu Bürokratismus führt.

Durch diese Art der absoluten Negation der Vergangenheit werden die heutigen Ansätze, die für eine Organisierung sprechen, undifferenziert mit dem leninistischen Avantgardismus gleichgesetzt und somit de-legitimiert.21. Die historische Niederlage des realen Sozialismus hat u. a. diese alten antiautoritären Ansätze innerhalb der nachkommenden Generationen der Linken legitimiert und bestärkt. Folglich werden Organisieren und Organisation überwiegend als Merkmale von „autoritären Kommunist*innen“ (wie Bolschewiki) betrachtet, nicht als eine allgemeine Notwendigkeit für den kollektiven Kampf. Ihre Alternativen zur Organisierung sind: „Politik der ersten Person22“(„ich mische mich nur da ein, wo ich direkt betroffen bin“); temporäre Solidaritätspolitik oder Teilbereichskämpfe; Kampagnenpolitik; und (heute zunehmend) Politik in den Sozialen Medien.

B) Trennung von der Gesellschaft: Andererseits, unter dem zunehmenden Einfluss der post-strukturalistischen Denkweisen, ist die linke Politik immer mehr in differenziertere Teilbereichskämpfe bzw. Mikropolitik gerutscht, wobei sie sich oft in unterschiedlichen Formen der Identitätspolitik manifestiert. Somit wurden die Graswurzel-Politik und Massenorganisationen als reaktionär bzw. gefährlich betrachtet und abgelehnt. Folglich hat sich die linke ausserparlamentarische Politik in zerstreute Aktivitäten (also Aktiveismus) kleiner Kreise gespalten. All das hat im Zeitalter der neoliberalen Neuausrichtung der Gesellschaften und unter deren Folgen stattgefunden.

Am Ende des Tages lief/läuft die linksradikale Politik immer mehr getrennt von der Masse der Unterdrückten. Es ist seit Jahrzehnten zur Normalität geworden, dass die radikalen Linken von der Gesellschaft politisch isoliert sind. Selbst viele der radikalen Linken haben diese Trennung als normal oder unüberwindbar verinnerlicht, was ein Problem darstellt. Im Vakuum einer revolutionären Politik und entsprechender Organisationen ist die Gesellschaft deutlich mehr nach rechts gerutscht. Diese objektive Tendenz nach rechts, wurde bzw. wird von viele radikalen Linken in Deutschland – als Funken des Neofaschismus – mit der geschichtlichen Tragödie der NS-Zeit assoziiert. Daher betrachtet ein Teil der radikalen Linken die Trennung von der (kranken) Gesellschaft nicht nur als normal, sondern als erstrebenswert & notwendig23 und trägt somit zur Verschärfung dieser Trennung bei. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass eine Organisierung von unten (als Hauptbestandteil der revolutionären Basisarbeit) von Linksradikalen nicht als relevant angesehen wird.

C) Ablehnung der Potentiale der Subjektivität der Unterdrückten: Die vorherrschenden rechten politischen Tendenzen in der Gesellschaft stärkt nicht nur die Wut der Linksradikalen auf die Massen sondern versetzt sie auch in Angst vor ihr. Daher wird oft das Potential der Unterdrückten zur eigenen Subjektivität, unterschätzt oder gar völlig abgelehnt. Eine emanzipatorische Politik Basiert jedoch auf der Überzeugung, dass die Gesellschaft veränderbar ist. Damit ist auch impliziert, dass die Unterdrückten sich und dadurch die Gesellschaft verändern können. Nun, da sich viele der radikalen Linke bewusst (sogar nur gewohnheitsmässig) von der Gesellschaft trennen, und infolgedessen die Notwendigkeit oder Möglichkeit der Organisierung der Unterdrückten ablehnen, taucht ein grosser Widerspruch auf: Wer soll die Gesellschaft verändern? Wer sind überhaupt die potenziellen Subjekte für einen revolutionären Prozess? Dieser Widerspruch stellt das Verständnis von „Linksseins“ sowie die gesellschaftliche Funktion linker Kräfte in unserem Zeitalter in Frage. In der Konsequenz haben sich verschiedene Verständnisse von „Linkssein“ herauskristallisiert, von denen wir zwei für nennenswert halten:

1) Beim ersten Verständnis ist das „Linkssein“ nicht mehr unbedingt mit der Vision einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung verbunden24. Für diese Denkrichtung bleibt so eine Vision wie ein unerfüllbarer Wunsch im Hinterkopf und funktioniert nur noch als ein Identitätsstiftender Moment.

2) Das zweite Verständnis pflegt einen fast teleologischen Umgang mit der genannten Problematik. Für sie wird die Revolution zu einer Glaubensfrage, wobei sich die Revolution in einer unbestimmten Zukunft realisieren muss. Diese Denkrichtung Übertreibt des Potential der Massenspontaneität (also der künftigen Massen!) und stellt sich die Revolution als einen Bruch vor und viel weniger als einen Prozess.

2.4. Wie lässt sich die Vorstellung der „Revolution ohne Massen“ aufheben?

Trotz des benannten Punkte ist die Revolution gegen das herrschendes System immer noch für viele in der radikalen Linke eine Vision. Diese Vision ist jedoch oft mit keinen strategischen Ansätzen verbunden. Da die Revolution nur durch die revolutionären Massen durchgeführt werden kann, wird die Frage nach der Organiserung dieser Massen die Voraussetzung jeglicher Revolution! Diese Organisierungsfrage ist vor allem in Deutschland, die Achillesfärse der radikalen Linken. Was die radikalen Linken am Organisieren hindert, lässt sich auf zwei Aspekte zurückführen: Erstens, die Art und Weise wie Linksradikale die Rolle der Unterdrückten betrachten und zweitens, ihre Vorstellung über ihre eigene Rolle (als Linke) in der gewünschten Gesellschaftsveränderung.

Der erste Aspekt zeigt sich durch die Skepsis gegenüber dem Potential der Unterdrückten zur eigenen Subjektivität. Dazu gehört auch jene Skepsis gegenüber Organisierungsprozessen von unten, die sich auf die Seite der Unterdrückten stellen, um zum Aufbau kollektiver Subjekte beizutragen. Diesbezüglich wurde schon in diesem Text (Teil I, 1.5.) einige Kritikpunkte geäussert. Der zweite Aspekt, also die Vorstellung der radikalen Linken über ihre eigene Rolle, zeigt sich vor allem in ihrer Trennung und Isolation von der Gesellschaft. Auch dort wo es den Wunsch nach der Überwinden dieser Trennung gibt, wirkt sich oft die übliche Vorstellung über die eigene Rolle (als radikale Linke) wie ein Hindernis aus. Viele der Linksradikalen wollen die eigene Rolle weit weg von jeglicher Vorstellung von „Avantgarde“ sehen und auch darstellen. Sie verkennen damit jedoch dass sich die bestehende Trennung ohne revolutionäre Basisarbeit nicht überwinden lässt.

Eine revolutionäre Vision setzt die Organisiertheit der Unterdrückten voraus; dazu müssen auch die revolutionären anti-kapitalistischen Kräfte als „Initiativkräfte“ beitragen. Das bedeutet, dass eine Revolution nur durch den Organisierungsprozess der Massen vorstellbar ist. Das heutige Dilemma der revolutionären Politik ist jedoch, dass die vorherrschenden Diskursen innerhalb der radikalen Linke die Notwendigkeit solcher Aufgabe ignorieren oder ablehnen. Viele der Linksradikalen verstehen/betrachten die eigenen Aufgaben anders. Der nächste Teil dieses Artikels fokussiert sich auf dieses Thema, bzw. auf die notwendige Rolle der radikalen Linken im revolutionären Prozess zur Gesellschaftsveränderung. Im nächsten Schritt wird sich dem Begriff „Initiativkräfte“ angenähert und die Rolle der Initiativkräfte als „organisierende Subjekte“ genauer betrachtet. Dabei soll es auch eine Auseinandersetzung mit den bestehenden Kritiken und Vorwürfen gegenüber diesem Begriff geben.

Fussnoten:

1. 11 Thesen über Organisation und revolutionären Praxis für eine grundlegende Neuorientierung linksradikaler Politik, Kollektiv aus Bremen, Mai 2016. (Die Broschüre als PDF)

2. Jetzt, nach etwa 5 Jahren, nachdem einige linke Gruppen Stadtteilarbeit begonnen haben, hat sich die diskursive Akzeptanz der „revolutionären Basisarbeit“ etwas erhöht. Aber es gibt immer noch viel Skepsis.

3. Der Text wurde als Grundlage für Gruppendiskussion erst im Sommer 2017 auf Englisch verfasst. Seitdem gab es aber keine Gelegenheit mehr, gemeinsam darauf zurückzukommen.

4. Die strukturellen Differenzen zwischen den beiden genannten Arten von Politik werden im Laufe des Textes dargestellt.

5 Einleitung über Subjektivität in Wikipedia (Englisch)

6. Da der Ursprung der Subjektivitätsbildung nicht ausserhalb des gegenwärtigen Systems liegt, werden ihre Inhalte und Richtungen auch von den historisch vorhandenen Einsichten, Ideologien und politischen Tendenzen beeinflusst. Deshalb kann man z.B. im heutigen Zeitalter von der Verbreitung der „neoliberalen Subjekte“ sprechen. 7. Hier gemeint ist der historische Stand der Emanzipationskämpfe in einer bestimmten Gesellschaft. Solche Kämpfe können u. a. die Gelegenheiten schaffen, wodurch eine Person die kollektiven politischen Räume und/oder die emanzipatorischen Sichtweisen erleben kann.

8. Ein Beispiel davon ist die Darstellung des Proletariat bei Georg Lukacs als die geschichtlich unvermeidbare Selbstverwirklichung einer bestimmten Art von Subjekten.

9. Die Anwendung des Begriffs Intersektionalität hier basiert auf dem Verständnis, dass die intersektionalen Unterdrückungsmechanismen nicht nur Trennungen zwischen Menschen in der Gesellschaft verursachen, sondern auch Überschnaeiderungen.

10. Von ihrem eigenen Arbeitsprozess; von ihrem eigenen Arbeitsprodukt; von anderen; und von sich selbst als Mensch. 11Weil diese Bedingungen den Wunsch nach Gerechtigkeit und Freiheit erwecken.

12. Diese verhindernden Mechanismen umfassen ein breites Spektrum, einschliesslich: verformte Erscheinungen sozialer Verhältnisse durch die strukturellen Merkmale der Warengesellschaft (wie Fetischismus); autoritäre Unterdrückung durch die herrschende Ideologie und die staatlichen Institutionen; akute und zunehmende Instabilität/Prekarität in den Arbeits- und Lebensbedingungen, die den meisten Menschen die Möglichkeiten der Selbstentfaltung und des konstruktiven Umgangs mit anderen nehmen; und die Zunahme der reaktionären und identitären Ideologien, sei es religiös, nationalistisch oder rassistisch, die die Unterdrückten trennen und gegeneinander setzen. 13. Dazu gehört auch die Befreiung von verformten Subjektivitäten.

14. Im Gegensatz zur „Politik von unten“ dient die herrschende Politik (Politik von oben) dazu, dass die Unterdrückten die herrschenden Verhältnisse und Normen verinnerlichen, um sich an ihr Elend anzupassen. Da diese Politik auch die bestehenden Widersprüche und Benachteiligungen auf falsche Ursachen und Faktoren/Akteur*innen projiziert, täuscht sie die Unterdrückten und zerspaltet sie dadurch u. a. in mehrere feindliche Teile, mit reaktionären Ansichten/Orientierungen. Kurz gesagt, die Politik von oben verfolgt das Ziel, die Unterdrückten in getrennte, passive und machtlose Individuen sowie feindliche Gruppen umzuwandeln, indem ihnen die Entfaltung ihrer kollektiven Subjektivität zur Gestaltung eigener Politik genommen wird.

15. Im Gegensatz zur „Politik von unten“ dient die herrschende Politik (Politik von oben) dazu, dass die Unterdrückten die herrschenden Verhältnisse und Normen verinnerlichen, um sich an ihr Elend anzupassen. Da diese Politik auch die bestehenden Widersprüche und Benachteiligungen auf falsche Ursachen und Faktoren/Akteur*innen projiziert, täuscht sie die Unterdrückten und zerspaltet sie dadurch u. a. in mehrere feindliche Teile, mit reaktionären Ansichten/Orientierungen. Kurz gesagt, die Politik von oben verfolgt das Ziel, die Unterdrückten in getrennte, passive und machtlose Individuen sowie feindliche Gruppen umzuwandeln, indem ihnen die Entfaltung ihrer kollektiven Subjektivität zur Gestaltung eigener Politik genommen wird.

16. Es geht darum, ob die Logik des Kapitals ihre Tendenz zur Verdinglichung der menschlichen Verhältnisse vollständig durchsetzen kann. Dafür müssen alle anderen nicht-ökonomischen Mechanismen dieser Logik vollständig unterworfen werden, während sie unterschiedliche Funktionsweisen als Kapital haben. Daher können die Kapitalverhältnisse nicht-ökonomische Mechanismen nur bedingt nach den eigenen Bedürfnissen verformen und müssen sie sich gleichzeitig an deren Funktionsweisen und Wechselwirkungen anpassen. Infolgedessen ist die Gesellschaft auf der konkreten Ebene viel komplexer als nur durch die Logik des Kapitals bestimmt. Daher wirkt die Dominanz der Warenform in der kapitalistischer Gesellschaft nur als starke reale Tendenz (also eine „gesetzesbasierte Tendenz“). Das heisst: Die Logik des Kapitals kann nicht die historische Realität vollständig bestimmen; ebenso kann sie die menschlichen Subjektivitäten nicht vollständig (und gleichmässig) beherrschen oder eliminieren.

17. Hier sollten zwei Aspekte berücksichtigt werden: die Wechselwirkungen von Unterdrückungsmechanismen und ihre Folgen; und die indirekten Auswirkungen jedes Mechanismus auf die Menschen, die davon nicht unmittelbar betroffen sind.

18. Viele Linksradikale vernachlässigen oft diesen Punkt (manche leugnen ihn sogar). Dadurch wird die „unvollkommene“ Tendenz des Kapitalismus zur Unterwerfung der Subjektivitäten der Unterdrückten gestärkt. Wir werden auf diesen Punkt noch einmal zurückkommen.

19. Diese sind Teil der Erfahrungen, die die herrschende Politik den Unterdrückten systematisch entzieht.

20. Die Einflüsse weiterer Faktoren wie „Gewohnheitspolitik“, „Life-style-Politik“ usw. lassen wir erstmal aussen vor.

21. Das erklärt teilweise, warum sich viele der radikalen Linken in kleinen Polit-Kreisen wohlfühlen.

22. Eine Kritik am Ansatz der „Politik der ersten Person“ folgt im nächsten Teil dieses Textes.

23. Vor diesem Hintergrund sind viele aktivistische Kämpfe der Linksradikalen eigentlich Abwehrkämpfe gegen die kranke Gesellschaft, nicht strategische Kämpfe für eine Gesellschaftsveränderung. In ähnlicher Weise sind meistens der linken Orte und subkulturellen Aktivitäten im Endeffekt die „safe spaces“ gegenüber Angriffen der reaktionären Massen.

24. Das kann teilweise erklären, warum heutzutage das Wort „revolutionär“ im Diskurs und in der Literatur der radikalen Linken nicht so oft benutzt wird.

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Welt der Hungernden

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Januar 2023

Mehr Umverteilung verhindert Extremismus

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Von       :     Felix Gnehm /   Forderungen nach einer Reduktion von Ungleichheit sind wissenschaftlich begründet, sagt der Direktor von Solidar Suisse.   — psi. Dies ist ein Gastkommentar von Felix Gnehm, Direktor von Solidar Suisse.

Extreme Ungleichheit bewegt die Gemüter. Nach der Veröffentlichung des neuen Oxfam Reports über die weltweit extreme Ungleichheit äusserte sich die NZZ im Kommentar «Oxfam: Die Beschäftigung mit den Reichen zeigt zunehmend obsessive Züge» zur wachsenden Ungleichheit und zur Idee der steuertechnischen Umverteilung, um weltweite Armut zu verringern. Nur liess sich die Zeitung als Quintessenz zur Aussage verleiten, Oxfams Beschäftigung nehme obsessive Züge an, anstatt sich dem Problem der wachsenden Ungleichheit und damit verbunden den Problemen in unserem Wirtschafts- und Steuersystem anzunehmen.

Ein kleiner Prozentsatz würde genügen

Die Wahrheit ist: Der jährlichen Finanzierungslücke der globalen Entwicklungsagenda 2030 von 2,5 Billionen US-Dollar steht ein globales Privatvermögen von 463 Billionen US-Dollar gegenüber. Es bräuchte also jährlich lediglich 0,005 Prozent des verfügbaren Privatvermögens, um weltweit allen Menschen Zugang zu sauberem Wasser, menschenwürdiger Arbeit, gesunder Ernährung, Bildung oder Gesundheit zu verschaffen. Dass sie stattdessen Social-Media-Plattformen kaufen, sich im Raketenwettfliegen betätigen oder im Pazifik dem Eskapismus frönen, sei dahingestellt. Wir sollten uns jedoch erstens fragen, welche Auswirkungen extreme Ungleichheit auf Gesellschaft und Wirtschaft hat, und zweitens, welchen Grad von Ungleichheit wir in unseren Gesellschaften wollen.

IWF: Steuerpolitik als wirksames Werkzeug

Zu den Auswirkungen stellte sogar Chinas Präsident Xi Jinping fest: «Das Problem der Einkommensungleichheit verschärft das Wohlstandsgefälle und führt zum Zusammenbruch der Mittelschicht, zu sozialer Spaltung und zu politischer Polarisierung, was den Populismus verschärft. China muss entschlossene Anstrengungen unternehmen, um eine Polarisierung zu verhindern und um soziale Harmonie und Stabilität zu verwirklichen.» Er muss es wissen, steht Chinas unbestrittenen Erfolgen mit höheren Durchschnittseinkommen dank Wirtschaftswachstum eine massive Verschärfung von wirtschaftlicher und soziopolitischer Ungleichheit gegenüber. So sehr China als Poster-Boy der Armutsreduktion gelobt wird, so ohnmächtig steht der neue ökonomische Superstar den jährlich über zehntausend öffentlichen Protesten der unzufriedenen Bevölkerung, den 99 Prozent, gegenüber.

Unsere Forderung nach einer Reduktion von Ungleichheit entspringt also weniger einer obsessiven Fixierung auf Superreiche als soliden politischen und wirtschaftswissenschaftlichen Handlungsempfehlungen. Die Weltbank hält fest, dass eine hohe und anhaltende Ungleichheit «nicht nur moralisch falsch, sondern auch ein Symptom für eine kaputte Gesellschaft ist». Sie führe zu verfestigter Armut, ersticktem Wachstum und sozialen Konflikten.

Folgerichtig rät der Internationale Währungsfonds (IWF), die Ungleichheit zu bekämpfen, und empfiehlt einen Mix aus politischen Instrumenten, die den Eintritt in den Arbeitsmarkt ermöglichen und faire und sozialverträgliche Arbeitsmarktbedingungen gewährleisten. Dies führe die notwendigen Korrekturen der Ungleichheiten durch Umverteilung herbei. Länder, die mehr für Bildung, Gesundheit und Sozialschutz ausgeben und ein stärker umverteilendes Steuersystem haben, sind im Durchschnitt erfolgreicher bei der Verringerung der Ungleichheit. Dabei hält der IWF die Steuerpolitik für das agilste und wirksamste Instrument zur Eindämmung von Ungleichheiten.

Die aktuelle Zunahme von Superreichtum und Ungleichheit kann bei weitem nicht als unproblematisch bezeichnet werden. Es verwundert daher nicht, dass sich die Positionen von so verschiedenen öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Entwicklungsagenturen wie Solidar Suisse, Oxfam, Weltbank, IWF, SECO und DEZA hier decken. Alle unterstützen das nachhaltige Entwicklungsziel Nummer 10 der UNO-Agenda 2030, nämlich «die Ungleichheit innerhalb von und zwischen Staaten zu verringern».

Ungleichheit fördert den Radikalismus

Karte des Anteils an Menschen, die chronischen Hunger erleiden (2021) – dunkelblau: <2,5 %, hellblau: 2,5–4,9 %, grün: 5–14,9 %, orange: 15–24,9 %, rot: 25–34,9 %, dunkelrot: >35 %, grau: keine Daten

Der anlässlich des WEF publizierte Oxfam-Report zeigt auf, dass wir seit der Covid-19-Pandemie sogar in die entgegengesetzte Richtung gehen und uns vom Soll-Zustand weit entfernen. Solidar Suisse hält es für ein grosses gesellschaftliches Problem, dass sich auch das Vermögen der 41 Schweizer Milliardär*innen seit Beginn der Pandemie bis November 2022 um 52 Prozent erhöht hat.

Wie wenig Steuern müsste man nun abschöpfen, um beispielsweise das Solidar-Schwerpunktland Burkina Faso aus der Krise zu führen. Der bitterarme Sahelstaat verfügt über jährliche Staatseinnahmen von höchstens drei Milliarden Schweizer Franken. Verzweifelt kämpft das Land gegen die Radikalisierung von jungen Menschen, die sich in der Folge zu lokalen Terrortrupps rekrutieren lassen, anstatt die Schulbank zu drücken.

Je mehr Menschen es gibt, die hungern, kein Wasser haben, es nicht vermögen, ihre Krankheiten zu behandeln und ihre Kinder zur Schule zu schicken, desto schlechter ist der Zustand einer Gesellschaft. Wenn nun in derselben Gesellschaft das Vermögen der Reichsten ständig zunimmt, wächst verständlicherweise auch die Unzufriedenheit. Dies ist gefährlich, denn sie bildet den Nährboden für politische Radikalisierung und Populismus. Auch hier: Wissenschaftliche Untersuchungen machen als Grund von Radikalisierung die soziopolitische und wirtschaftliche Ungleichheit aus. Extreme Ungleichheit ist also tatsächlich ein Problem. Störend ist nicht, dass wenige Menschen ganz viel besitzen, sondern, dass so viele Menschen so viel weniger besitzen als die wenigen Superreichen.

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Grafikquellen        :

Oben      —      Ein Arzt misst den Armumfang eines unterernährten Kindes in der Demokratischen Republik Kongo

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Unten        —        Karte des Anteils an Menschen, die chronischen Hunger erleiden (2021) – dunkelblau: <2,5 %, hellblau: 2,5–4,9 %, grün: 5–14,9 %, orange: 15–24,9 %, rot: 25–34,9 %, dunkelrot: >35 %, grau: keine Daten

Allice Hunter – Hunger Map 2021 | World Food Programme. Empty map: File:World map (Miller cylindrical projection, blank).svg

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Schon lange Überfällig

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Januar 2023

Kretschmanns offener Brief zum Radikalenerlass

 

Heute steht er nur noch vor einer grünen Wand

Von Oliver Stenzel

Lange hat’s gedauert. Acht Monate nach Erscheinen einer Studie über den Radikalenerlass in Baden-Württemberg hat sich Ministerpräsident Kretschmann in einem offenen Brief endlich dazu geäußert. Doch das Ergebnis irritiert.

Die gute Nachricht: Winfried Kretschmann ist lernfähig. Der baden-württembergische Ministerpräsident schreibt in seinem vergangenen Donnerstag veröffentlichten offenen Brief zum Radikalenerlass: „Eine erste Erkenntnis ist für mich, dass die Anwendung des Erlasses unverhältnismäßig war.“ Respekt, das ist mal wirklich eine neue Erkenntnis.

Doch im Ernst: Eine Reaktion Kretschmanns auf die im Mai 2022 veröffentlichte, vom Land in Auftrag gegebene Studie über den sogenannten Radikalenerlass von 1972, dessen Anwendung in Baden-Württemberg und die Folgen für viele Anwärter:innen auf öffentliche Stellen war mehr als überfällig. Monatelang hatten Kretschmann und sein Staatsministerium immer wieder darauf verwiesen, dass noch geprüft werde, dass die Studie ja ziemlich dick sei, dass es drängendere Probleme gebe (Kontext berichtete). Das wirkte schon deshalb unangemessen, weil Kretschmann zum einen selbst in einem Interview Anfang 2022 die Erwartung genährt hatte, sich bald zu äußern, zum anderen, weil die Ergebnisse nicht unbedingt vom Himmel fielen – manche wurden noch vor Erscheinen der Studie im Blog des Heidelberger Forschungsprojekts veröffentlicht.

Sollte das Staatsministerium eine kompetente wissenschaftliche Abteilung haben, und das ist ihm zu wünschen, hätte sich diese wegen einer Bewertung also schon zeitig darum kümmern können. So aber entstand der Eindruck, der Ministerpräsident wolle einer Stellungnahme dazu aus dem Weg gehen, fühle sich unbehaglich damit. Oder spiele bei der Aufarbeitung und Fragen einer Entschädigung oder Rehabilitation auf Zeit, wie es etwa der Mannheimer SPD-Landtagsabgeordnete Boris Weirauch formulierte, bis die „biologische Lösung“ eintrete.

Zu spät und inhaltlich dürftig

Nun gibt es endlich eine Reaktion. Und die ist enttäuschend, da inhaltlich dürftig. Zwar zitiert Kretschmann gleich zu Beginn Willy Brandt, der als Bundeskanzler den Erlass 1972 mitbeschlossen hatte, ihn aber später als „politischen Irrtum“ bezeichnete. Doch diese Wertung macht er sich in der Folge nicht zu eigen, stattdessen die von Brandts Nachfolger im Bundeskanzleramt Helmut Schmidt, laut dem „mit Kanonen nach Spatzen“ geschossen worden sei – will sagen: Nicht der Erlass als solcher war ein Irrtum, sondern nur die Praxis seiner Anwendung.

Diese bewertet Kretschmann auch durchaus kritisch: Für ihn „hat der Radikalenerlass viel mehr Schaden angerichtet als Nutzen gestiftet“, bei der Umsetzung sei das erforderliche „Augenmaß verloren gegangen.“ Dass eine ganze Generation unter Generalverdacht gestellt worden sei, „war falsch“, schreibt der Ministerpräsident. Denn zwar mochten „einzelne … zu Recht sanktioniert worden sein“, aber „manche“ hätten „zu Unrecht durch Gesinnungs-Anhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit Leid erlebt“. Darauf folgt der zentrale Satz des Briefes: „Das bedauere ich als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg sehr.“ Kretschmann bedauert, er entschuldigt sich nicht bei den Opfern, wie dies zunächst fälschlicherweise etwa die „Deutsche Presse-Agentur“ vermeldete.

Nun lässt sich darüber streiten, wie sinnvoll es ist, wenn sich ein Regierungschef heute für eine Regelung aus dem Jahr 1972 (bundesweit) beziehungsweise 1973 (in Baden-Württemberg) entschuldigt, an deren Umsetzung er nicht beteiligt war. Es könnte ein symbolischer Akt sein, und er hatte ihn vor einem Jahr immerhin in Einzelfällen in Aussicht gestellt. Jetzt verwendet Kretschmann weder das Wort „Entschuldigung“ noch „Rehabilitation“. Doch sein Brief irritiert noch aus einem anderen Grund.

Kretschmann hat sich, diesen Anschein erweckt das Dokument, ziemlich gequält mit dem Thema. Er war selbst einer der Betroffenen, und er geht breit auf diesen Abschnitt seines Lebens ein. Mehr als ein Fünftel des Briefes macht die Thematisierung der eigenen Biographie aus. Das mag man anerkennen, aber genau das ist das Problem: Kretschmanns Beschäftung mit oder eher die große Zerknirschung ob der eigenen Biographie überlagert seine gesamter Beurteilung des Themas. Es ist diese Zerknirschung über die „größte Verirrung meines eigenen Lebens“, die ihm, wie er schreibt, in der Studie gespiegelt werde, „nämlich der Linksradikalismus meiner Studienzeit“: „Mich erschreckt noch heute, dass ein Mensch, selbst wenn er das Glück einer guten Ausbildung hatte wie ich, einen solchen ‚Tunnelblick‘ entwickeln und sich derart in eine verblendete Weltsicht einbohren kann.“ Und er betrachtet es als „aus heutiger Sicht nur logisch und konsequent“, dass ein demokratischer Staat bei Menschen wie dem jungen Kretschmann „Zweifeln an der Verfassungstreue nachgeht“.

Aus dieser Perspektive einer eigenen Verirrung, einer, zugespitzt formuliert, eigenen Schuld, beschreibt Kretschmann dann die mögliche Läuterung und Buße: „Menschen, die abwegige und irrige Positionen vertreten, sind in fünf oder zehn Jahren vielleicht klüger geworden und denken anders“, und solche Lernprozesse müsse die liberale Demokratie fördern und wertschätzen. Eine Gesinnungsprüfung ist also laut Kretschmann nicht deshalb falsch, weil sie der Meinungsfreiheit widerspricht – sondern weil sich die Gesinnung ja ändern, weil sie sich im Sinne des Ministerpräsidenten bessern kann.

Die Betroffenen wollen eine Entschädigung

Eine hochproblematische Deutung, die überdies hinter die Ergebnisse der Studie zurückfällt. Denn es ist völlig irrelevant für die Bewertung des Erlasses, ob die von ihm betroffenen Menschen sich ändern, ob sie sich von ihren früheren Ideen verabschieden oder sie beibehalten, ob sie in Kretschmanns arg paternalistisch wirkenden Worten „klüger werden“. Relevant ist einzig, ob ihre Nichtzulassung zu oder ihr Ausschluss aus öffentlichen Stellen aufgrund eines konkreten Verdachts oder eines Nachweises „einer gegen die Sicherheit des Staates gerichteten Betätigung“ erfolgte. So formuliert es das Übereinkommen Nr. 111 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO/ILO), das sich mit „Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf“ befasst – und übrigens bereits 1961 von der Bundesrepublik ratifiziert wurde.

Quelle         :         KONTEXT:Wochenzeitung          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben     —     Winfried Kretschmann im Rahmen des Länderrates der GRÜNEN am 17. September 2017 in Berlin (Gasometer Schöneberg)

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Politik und ihre Unfähigkeit

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Januar 2023

Ukrainekrieg und Klimakrise: Die geschürte Polarisierung

Die Politik hat keine anderen Möglichkeiten zu einen mehr an Demokratei aufgezeigt !

von Albrecht von Lucke

Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter.“ Dieser Sponti-Spruch der 1980er Jahre könnte der passende Kommentar zum Jahreswechsel 2022 auf 2023 sein, wenn uns nicht die Ironie vor zehn Monaten ausgetrieben worden wäre. Allzu oft war in den letzten Jahren von einem annus horribilis die Rede, doch das Horror-Jahr 2022 stellte – jedenfalls aus europäischer Sicht – das Vorangegangene klar in den Schatten.

Als vor drei Jahren die Coronakrise begann, wurde diese umgehend als die größte Herausforderung des Kontinents nach 1945 begriffen. Heute sehnen sich viele fast schon in diese Zeit zurück. Deutlicher könnte nicht zum Ausdruck kommen, wie radikal der 24. Februar, der Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Zeit in ein davor und danach teilt. Russland zerstört mit seinem Bombenterror nicht nur ganz systematisch die Existenzgrundlage der Ukraine, sondern versucht damit auch den Zusammenhalt des Westens und speziell der EU zu untergraben, durch die dadurch ausgelöste Migration und Energiekrise.

Faktisch hat das Jahr 2022 unsere gleich vierfache Abhängigkeit schlagend deutlich gemacht: erstens energiepolitisch von Russland, zweitens militärpolitisch von den Vereinigten Staaten, drittens industriepolitisch von China und viertens ökologisch von globalen Natur- und Klimabedingungen, die von einer expansiven Wirtschaftsweise zunehmend zerstört werden. All das führt – außen- wie innenpolitisch – zu einer zunehmenden Radikalisierung und Polarisierung.

Wenigstens einen kleinen Lichtblick zum Ende des Jahres beschert uns das kontrafaktische Denken, zeigt es doch, dass alles noch weitaus schlimmer hätte kommen können. Wäre die Ukraine nicht – aufgrund der US-amerikanischen Ausbildung und Aufrüstung seit 2014 – zu ihrer Verteidigung in der Lage gewesen, stünde Russland heute an der polnischen Grenze und die am 4. Februar zwischen Xi Jinping und Putin verkündete grenzenlose Freundschaft der Autokraten hätte weltweite Ausstrahlung. Keine Rede wäre dann von einer Isolation Russlands dank der Distanzierung wichtiger Staaten, wie auf dem jüngsten G20-Gipfel in Bali geschehen. Stattdessen würden sich die entscheidenden Mächte in der zweiten Reihe – Indien, Indonesien, Brasilien und Südafrika –, klar gen China und Russland orientieren. Denn noch immer sind es die Sieger, die die Geschichte schreiben.

Und wenn nicht Donald Trump bei den jüngsten Zwischenwahlen in den Vereinigten Staaten massiv an Zustimmung verloren und den Republikanern eine gewaltige Führungsdebatte beschert hätte, stünde mit Sicherheit Joe Biden, der mittlerweile 80 Jahre alte US-Präsident, voll in der Kritik und damit die Frage im Raum, ob bei der Präsidentschaftswahl 2024 das autoritäre Comeback überhaupt noch zu verhindern sei. Und schließlich drittens: Hätte nicht Lula da Silva mit hauchdünnem Vorsprung die Wahl in Brasilien gegen Jair Bolsonaro gewonnen, wäre dies ein Verhängnis für die Zukunft des Regenwalds und damit auch für die ökologische Zukunft des Planeten.

Das aber verweist auf die zweite dramatische Entwicklung des Jahres 2022: die Radikalisierung der ökologischen Krise, die immer mehr Richtung Katastrophe tendiert. „Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle – mit dem Fuß auf dem Gaspedal“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Eröffnungsrede auf der Weltklimakonferenz COP27. „Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren“, so seine ultimative Warnung. Und dennoch konnte von überzeugenden Ergebnissen keine Rede sein, weil nationalstaatlicher Egoismus zum wiederholten Male eine überzeugende globale Lösung verhindert hat. Obwohl rhetorisch unvermindert am Pariser 1,5-Grad-Ziel festgehalten wird, rückt dieses doch immer mehr in weite Ferne.[1]

Die dramatische klimapolitische Lage spiegelt sich in einer zunehmenden Polarisierung auch in den westlichen Gesellschaften – und in einer immer verzweifelteren Klimabewegung, die in den letzten Monaten vor allem durch die Aktionen der „Letzten Generation“ in Erscheinung getreten ist. Doch so berechtigt das grundsätzliche Anliegen, so fatal in ihrer Wirkung sind die durchgeführten Blockaden von Straßen und Flughäfen. Eine Bewegung, die für sich in Anspruch nimmt, Mensch und Natur retten und bewahren zu wollen, konterkariert ihr eigenes Anliegen, wenn sie die Gefährdung von Menschenleben in Kauf nimmt. Selbst wenn der Tod einer Radfahrerin in Berlin im Ergebnis nicht durch die Straßenblockade der Letzten Generation herbeigeführt wurde, wird durch derartige Aktionen die vorhandene Zustimmung in der Bevölkerung zu intensiverer Klimapolitik nicht vergrößert, sondern verringert.

Ja, mehr noch: Die Gegenseite nimmt diese Steilvorlage dankbar auf, wenn etwa CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt eine „Klima-RAF“ an die Wand malt. „Hallo Justizminister! Hallo Innenministerin! Sperrt diese Klima-Kriminellen einfach weg! […] Täter müssen Konsequenzen spüren“, twitterte ausgerechnet Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer. So unverfroren eine derartige Forderung aus dem Munde eines Mannes ist, der den Staat – und damit die deutsche Bevölkerung – mit seiner verfehlten Mautpolitik Milliarden gekostet und dafür nie Konsequenzen gespürt hat, artikuliert sich hier doch auch ein forcierter Volkszorn, der regelrecht zur Selbstjustiz auffordert.

Rhetorische Aufrüstung

„Opfer fragen sich: Bin ich eigentlich machtlos? Oder kann ich denen eine kleben?“, lautete denn auch die Frage der „Bild“-Zeitung, die massiv an der Empörungswelle gegen die „Klimakleber“ dreht. Der Jurist und „Bild“-Kolumnist Joachim Steinhöfel musste zwar mit Bedauern feststellen, „Ohrfeigen als erste Maßnahme wären wohl unverhältnismäßig“, aber, so sein triumphierendes Resümee, „Notwehr ist ein scharfes Schwert. Sie gestattet alles, was erforderlich ist, um eine Straftat ,sicher und endgültig‘ zu beenden.“ Wie das aussehen könnte, teilt der einschlägig bekannte Medienanwalt Ralf Höcker mit: „Autofahrer dürfen #Klimakleber selbst von der Straße zerren. Sie müssen nicht auf die Polizei warten. Verletzungen, z.B. an den Handflächen der #Klimaaktivisten, sind hinzunehmen und ändern nichts am Notwehrrecht des Autofahrers.“[2] Hier zeigt sich: Weil sich der radikale Teil der Klimabewegung durch seine nicht vermittelbaren Aktionen selbst delegitimiert, können seine Gegner eine rhetorische Aufrüstung betreiben, die zunehmend selbst zur Tat drängt.

Die Politiker-innen bringen nicht den Schneid auf, sich persönlich den mit Recht Demonstrierenden entgegen zu stellen und schicken die, von der Bevölkerung bezahlten Knüppelbarden als Problemlöser Ihres ganz persönliches Versagens in Ihr Gefecht !

Weniger brachial, aber dafür nicht weniger ambitioniert agiert die soeben im CDU-Umfeld gegründete „Denkfabrik für neue bürgerliche Politik“, R21.[3] Deren Initiator und Vordenker, der CDU-Historiker Andreas Rödder, bringt die Strategie in einem „Spiegel“-Artikel auf den Punkt.[4] Rödder sieht den gesamten Westen in einer historischen Auseinandersetzung mit neuen totalitären Kräften, weshalb er eine neue Eindämmungspolitik nach dem Vorbild des Kalten Krieges fordert: „Die moderne westliche Lebensform […] sieht sich von innen und von außen herausgefordert. Und so wie es George F. Kennan 1946 postulierte, so muss sich der Westen auch in der neuen Systemauseinandersetzung sowohl auf militärisch-politischer als auch auf gesellschaftlich-kultureller Ebene behaupten.“ Die Ironie der Argumentation besteht darin, dass es Rödder neben der erfolgreichen Außenpolitik des Westens vor allem um dessen Verteidigung nach innen, gegen die neuen Systemgegner von links, geht. Denn, so Rödder: „Das historisch einmalige und zugleich so tief internalisierte Wohlstands- und Freiheitsversprechen des westlichen Gesellschaftsmodells steht unter dem Verdacht [!], die Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören. Weite Teile der Klimabewegung sehen im Kapitalismus den Verantwortlichen für das drohende Ende der Welt, das an die Stelle des hoffnungsfrohen Narrativs vom ‚Ende der Geschichte‘ nach 1989 getreten ist.“

Rödder negiert hier bewusst die Tatsache, dass für den Klimawandel heute primär der im Kapitalismus angelegte Wachstumszwang verantwortlich ist. Stattdessen stigmatisiert er Kapitalismuskritiker, die die Idee des Postwachstums verfechten, umgehend als antibürgerliche, ja sogar antimoderne Ideologen: „Vorstellungen von ‚Verlust als Gewinn‘, ‚Degrowth‘ oder ‚anderem Wachstum‘ suchen die Lösung für die Probleme der marktwirtschaftlichen Moderne nicht mit ihren eigenen Mitteln, das heißt durch Entwicklung und Einsatz neuer Technologien. Sie setzen auf eine Revision der wachstumsorientierten Marktwirtschaft, die mit weitreichenden staatlichen Regulierungen einer ‚Großen Transformation‘ einhergehen soll.“ Anstatt also die globale Klimakrise in ihrer ganzen Radikalität zur Kenntnis zu nehmen, was auch bedeuten würde, grundsätzliche Denkansätze nicht nur zuzulassen, sondern sogar zu fördern, schließt Rödder von vornherein jede Lösung aus, die über die „Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien“ hinausgeht. Dadurch schrumpft die westliche Moderne zu einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen – alles was darüber hinausdenkt, liegt für Rödder nicht mehr im Rahmen des demokratisch Zulässigen.

Verengung des Diskursraums

Quelle         :           Blätter-online         >>>>>         weiterlesen  

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Oben     —   Letzte Generation Blockadeaktion Klimademo Luitpoldbrücke München 2022-11-21

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Zum Umgang mit der Politik

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Januar 2023

„Letzte Generation“ mit Illusionen über Rechtsstaat und Demokratie

Gesellschaftlicher Respekt ist immer eine Gnade von Gegenseitigkeit, welchen sich die Politiker-innen erst einmal erarbeiten müssen, da sie sich vom Volk bezahlen lassen.

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :      Lou Marin /

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 475, Dezember 2022, www.graswurzel.net

Fallstricke des gewaltfreien Reformismus. Mit aufsehenerregenden gewaltfreien Aktionen setzt die „Letzte Generation“ klare Zeichen gegen den drohenden Klimakollaps. An vielen Punkten zeigen sich allerdings eine erschreckende Naivität und Staatsgläubigkeit der Organisation.

Seit Ende 2021, im Grunde seit dem Wahlsieg der Ampel, macht eine Gruppierung aus der Klimagerechtigkeitsbewegung von sich reden: Die „Letzte Generation“, die mit Sekundenkleber vielbefahrene Strassen blockiert (A 100 in Berlin, Stachus in München) oder in Museen mit Kartoffelbrei und Tomatensuppe auf mit Glas gesicherte Gemälde wirft.(1) Mit solchen provokativen Auftritten haben sie die Palette der gewaltfreien Aktion erweitert. Dafür haben die Aktivist*innen einige Risiken in Kauf genommen, Mut bewiesen und jüngst Repressionen und eine mediale Diffamierungskampagne einstecken müssen.Ende Oktober 2022 kam es in Berlin zeitgleich zu einer Sekundenkleber-Verkehrsblockade auf der A 100 zu einem tödlichen Unfall einer Radfahrerin, der der „Letzten Generation“ angelastet wurde. Doch schon zwei Tage später war klar, dass erstens die Rettungswege nicht etwa durch die Blockierer*innen versperrt worden waren, sondern – wie bei Staus üblich – durch die Autofahrer*innen selber, die keine Rettungsgasse gebildet hatten. Zweitens hatte sich die Notärztin sowieso für eine andere Rettungsmethode entschieden („Fahrzeug fuhr von der Person herunter“); somit wäre die Radfahrerin auch durch ein Rettungsfahrzeug nicht zu retten gewesen. (2)Trotzdem polemisierten reaktionäre Politiker-*innen wie CSU-Chef Markus Söder, sein Innenminister Joachim Herrmann und die erwiesen unfähigen CSU-Politiker Alexander Dobrindt und Andreas Scheuer gegen die Gruppierung, diffamierten sie gar als „neue Klima-RAF“. In Berlin, Flensburg, vor allem aber Bayern hagelte es Anklagen und Strafbefehle wegen Hausfriedensbruch und Nötigung. Allein in München sassen Anfang November 17 Aktivist*innen im Gefängnis und mussten dort auf Anordnung des Amtsgerichts München 30 Tage in Präventivhaft („präventive Sicherheitsverwahrung“) verbringen. Der Gipfel waren Hausdurchsuchungen gegen 11 Mitglieder Mitte Dezember in mehreren Bundesländern, gefolgt von Ermittlungen wegen angeblicher „Bildung einer kriminellen Vereinigung”, womit die Gruppierung quasi in der Dimension mit den „Reichsbürgern” auf eine Stufe gestellt wurde (3) – ein Skandal, der die repressive Seite des demokratischen Rechtsstaates offenlegt.
Jede solche Diffamierung, explizit gewaltfreie Aktionen auch nur in die Nähe des Terrorismus zu rücken, weisen auch wir gewaltfreien Anarchist*innen entschieden zurück und setzen uns gegen die Justizwillkür einer Präventivhaft ein. Fast unter ging die Tatsache, dass immerhin einige Gerichte – etwa Amtsgerichte in Berlin, Flensburg und Freiburg – angeklagte Aktivist*innen freisprachen und ihre Aktionen als „nicht verwerflich“ bezeichneten. Unter gingen auch sympathisierende Stellungnahmen, etwa von Ex-Innenminister Gerhart Baum (FDP). LINKE-Politiker Gregor Gysi hat sogar einen Aktivisten vor Gericht verteidigt.(4)

Grundregel der gewaltfreien Aktion: Mit staatlicher Repression muss gerechnet werden

Trotz dieser expliziten Solidarisierung will ich auf meines Erachtens bedenkliche Illusionen der „Letzten Generation“ zu Rechtsstaat und Demokratie hinweisen, die in ihren Presseerklärungen zu dieser Hetze zum Ausdruck kommen. Denn sie sagen dazu: „Das können wir nicht fassen.“ Und „dass wir uns nicht einmal auf die einfachsten Prinzipien in einer Demokratie – wie neutrale, faktenbasierte Berichterstattung – verlassen können, schockiert uns.“ Und „damit haben wir nicht gerechnet.“ (5) Sie begründen gleichzeitig ihre gewaltfreien Aktionen so, dass die Geschichte gezeigt habe, „dass friedlicher ziviler Widerstand funktioniert.“ (6) Zu dieser Geschichte gehört jedoch gleichzeitig, dass die explizite Gewaltfreiheit der Aktionen nicht vor brutaler Repression entweder des Staates oder der von der Hetze der bürgerlichen Medien mobilisierten rechten Gewalt geschützt hat: Ken Saro-Wiwa wurde für seinen gewaltfreien Widerstand gegen die Ölförderung vom nigerianischen Staat hingerichtet. Mahmud Taha wurde wegen seines gewaltfreien Protests gegen ein islamistisches Regime von der sudanesischen Justiz hingerichtet. Martin Luther King Jr. wurde, infolge von FBI- und US-Medienhetze, durch einen Rassisten, Mohandas Gandhi durch einen Hindu-Faschisten ermordet. Wer zeigen will, dass gewaltfreie Aktion funktioniert, muss mit Medienhetze und Repression rechnen sowie Gegenstrategien vorbereiten. Das gehört zu den Grundvoraussetzungen gewaltfreier Aktion. Dass sie sich stattdessen weiter Illusionen in den Staat machte, zeigte die „Letzte Generation“ durch ein auf die Repression unmittelbar folgendes Einladungsschreiben an die Regierung. Dort lädt sie „die Bundesregierung – Scholz, Lindner, Habeck – sowie insbesondere Bundesverkehrsminister Volker Wissing zum Gespräch am Donnerstag, 10. November 2022 um 10.00 Uhr in Berlin ein“, die dann allerdings geschlossen nicht kamen. (7)

Illusionen des demokratischen Protests

Was sollte beim Gespräch konkret verhandelt werden? Die Forderungen der aktuellen gewaltfreien Aktionen der „Letzten Generation“ sind „100 km/h auf der Autobahn“ sowie „eine dauerhafte Rückkehr zum 9-Euro-Ticket“. (8)

Die Bürger-innen sollten sich als Beispiel, den Umgang der Polizei mit Ihnen, gut ansehen.

Obwohl die Regierung nicht das geringste Interesse an Klimaschutz zeigt (z. B. Katar-Gasdeal 2026–2041) – und zwar systematisch, weil sie eine liberalkapitalistische, dem ewigen Wachstum verpflichtete Regierung ist –, benutzen die Autor*innen von „Letzte Generation“ die Anrede „Liebe Bundesregierung“ auf Seite 2 ihres Offenen Briefes vom 10. November. Der Kampf ums Klima, so schreiben sie weiter, sei eine Konfrontation: „Eine Konfrontation, die wir beenden müssen, die aber nur Sie beenden können.“ (9) Es wird dem Widerstand dadurch die Perspektive abgesprochen, dass die Konfrontation durch eine Durchsetzung des Bewegungswillens gegen die Regierung beendet werden kann, was den Erfolg der Anti-Atom-Bewegung gekennzeichnet hat. Die Regierung wurde damals durch jahrelangen Massenwiderstand zum Atom-Ausstieg gezwungen, nachdem sie sich lange als verhandlungsunwillig und -unfähig erwiesen hatte. Solch eine Massenbewegung ist die „Letzte Generation“ aber noch nicht, wenn sie auch am 10. November weiter Illusionen nährt, die Machtfrage stellen zu können: Sie seien „jeden Tag mit Politiker*innen und Vertreter*innen Ihrer Ministerien in Kontakt. Jetzt fehlt nur noch, dass Sie – Herr Scholz, Herr Lindner, Herr Habeck und Herr Wissing – sich bei uns melden.“ (10)

Man sieht sich somit als „demokratische(n) Protest“, bezieht sich auf „die einfachsten Prinzipien in einer Demokratie“. Die Regierung wird aufgefordert, „ihrer verfassungsmässigen Pflicht nachzukommen“. Denn es gehe darum, „Demokratie, Rechtsstaat und unsere freiheitliche Grundordnung (…) zu erhalten“ (11) – und nicht etwa anzugreifen, zu transformieren oder sie gar durch eine libertär-sozialistische, wirklich gewaltfreie Gesellschaft oder eine rätedemokratische Ordnung zu ersetzen! Doch die Ziel-Mittel-Relation der gewaltfreien Aktion impliziert nicht nur das Mittel der Gewaltfreiheit, sondern auch das gesellschaftliche Ziel muss gewaltfrei sein – und das ist die Staatsgewalt, die hier erhalten werden soll, eindeutig nicht.

In der Geschichte des zivilen Ungehorsams hat es immer einen Gegensatz zwischen einem reformistischen und einem revolutionären Verständnis des zivilen Ungehorsams gegeben. In der Friedensbewegung der 1980er-Jahre gab es ein sozialdemokratisches Verständnis des „Zivilen Ungehorsams als aktivem Verfassungsschutz“ (Rechtswissenschaftler E. Küchenhoff), oder man erklärte den zivilen Ungehorsam gleich als „soziale Erfindung der Demokratie“ (12) und versuchte dadurch, die illegalen, revolutionären und systemkritischen Ursprünge der gewaltfreien Aktion und des zivilen Ungehorsams (Henry David Thoreau, Salzmarsch Gandhis) beiseitezuwischen. Im Anschluss an Thoreau schrieb jedoch Gandhi nach dem Salzmarsch 1931 vom gesellschaftlichen Ziel einer „aufgeklärten Anarchie (…).

Im idealen Zustand gibt es deshalb keine politische Macht, weil es keinen Staat gibt. Aber das Ideal wird im Leben nie vollständig verwirklicht. Daher die klassische Aussage von Thoreau, dass diejenige Regierung am besten ist, die am wenigsten regiert.“(13) Gandhi entwickelte darauf basierend sein Gesellschaftsideal einer Republik von Dorfräten. Diese Perspektive über den Glauben an den bürgerlichen Rechtsstaat hinaus vermisse ich bei den Aktionsbegründungen der „Letzten Generation“.

Beim Verständnis des zivilen Ungehorsams als „aktivem Verfassungsschutz“ wird dem Staat dagegen unterstellt, er wolle die Verfassung der Demokratie nicht garantieren, doch in Wirklichkeit garantiert er sie gerade durch seine Repression. Die Klimakata-strophe wird ganz legal und verfassungsgemäss durchgezogen. Gewaltfreier Widerstand, der Gewaltfreiheit so reformistisch und verfassungstreu versteht wie die „Letzte Generation“, bleibt der Staatsgewalt somit verhaftet, und ihre Aktionen wirken letztlich rein symbolisch, so „provokativ“ sie auch gemeint sein mögen.

Das Problem der Dramatisierung

Gerade die Klimabewegung hätte genügend Ansatzpunkte zu materiell wirksamen Aktionen: die Baggerbesetzungen in den Kohleabbaugebieten, die Blockaden der Kohlezüge – reale Eingriffe in die Infrastruktur der Kohleextraktion, wie sie von der Bewegung „Ende Gelände“ ja auch effizient durchgeführt werden. Daran will sich die „Letzte Generation“ nicht beteiligen. Stattdessen will sie durch symbolische Dramatisierung die Regierung zum Handeln bewegen, anstatt deren strukturell klimafeindliche Politik materiell zu verunmöglichen. Die Politik verbleibt so im Appellativen. Die „Letzte Generation“ schreibt heute, dass ihre Klimaschutzaktionen das einzige Mittel „gegen den gesellschaftlichen Zusammenbruch und den Tod von Milliarden“ seien. Und gleich danach heisst es: „Wir haben vielleicht nur noch 2-3 Jahre Zeit“. (14) Gegenüber solchem Alarmismus sind die Forderungen nach 100 km/h und weiterem 9-Euro-Ticket, auch wenn sie als erster Schritt bezeichnet werden, ein grosser Widerspruch.

In der Geschichte des zivilen Ungehorsams hat es immer einen Gegensatz zwischen einem reformistischen und einem revolutionären Verständnis des zivilen Ungehorsams gegeben.

„Die letzte Generation“ ist Mitglied in einem internationalen Netzwerk ziviler Widerstandsprojekte, dem „A22 Network“, u. a. mit der französischen Parallelorganisation „Dernière Rénovation“, bei denen der Weltuntergang sogar schon punktgenau in 844 Tagen (deren Website, Stand 3.12.2022) festgelegt wird. (15) Selbst die seriösen Wissenschaftler der französischen Kollapsologie schreiben zu solchen zeitlichen Festlegungen im Hinblick auf die Klimakatastrophe, es gebe für eine genaue Datierung „unüberwindbare theoretische Hindernisse. Die Wissenschaft besitzt nicht die Mittel, um alles vorhersehen zu können – und wird sie niemals besitzen.“ (16) In zwei bis drei Jahren wird es den Planeten Erde also sicher noch geben, fragt sich nur, in welchem Zustand.

Finanzierung und innere autoritäre Strukturen

Die „Letzte Generation“ erhält die meisten ihrer Gelder für ihre professionelle Ausbildung von Aktivist*innen aus dem „Climate Energy Fund“, der Teil des A22-Netzwerks ist. Dieser „Fund“ hat nach Eigenangaben allein 2022 bereits 4,5 Millionen Dollar in verschiedene Klimaorganisationen wie „Letzte Generation“ gesteckt. Er wird finanziell unterstützt von der kapitalistischen Greenwashing-Textilmarke „Marie Claire“ aus der Schweiz oder der in Grossbritannien und den USA verbreiteten Reiseführer- und Tourismusmarke „Fodor’s Travel“. (17)

Bei Mobilisierungsveranstaltungen werden bezahlte Kräfte für Teilzeit oder Vollzeit angeworben. Die Angestellten haben die Pflicht, zu wöchentlichen Treffen zu erscheinen, sogar ein „persönliches Logbuch“ über die eigenen Tätigkeiten zu führen. Sie und auch Unbezahlte halten textlich vorgegebene Vorträge zur Aktivist*innen-Rekrutierung; dort heisst es im Anwendungsskript auf Seite 17 zu möglichen Diskussionen mit Teilnehmenden:

„Manche werden versuchen zu diskutieren, aber das ist oft nicht zielführend und macht die Stimmung kaputt.“ (18) Kritik wird so autoritär abgebügelt, indem nur Fragen zugelassen werden und jede Diskussion in Kleingruppen ausgelagert wird. Vom Skript soll nicht abgewichen werden, ausser bei wenigen, extra rot markierten Stellen, die, so heisst es, „individuell“ formuliert werden dürfen. Die Organisationsstruktur von „Letzte Generation“ verläuft somit von oben nach unten.

So gibt es innerhalb der englischen und französischen Klimabewegung bereits deutliche Kritik an der zentralisierten inneren Struktur der A22-Gruppen, und es entwickeln sich jenseits von A22 andere Formen direkter gewaltfreier Aktion, die mehr oder weniger auf Sabotage orientieren, zum Beispiel das internationale Kollektiv der „Tyre Extinguishers“ (Reifenlöscher), die parkenden SUVs von Reichen die Luft aus den Reifen lassen – und damit unmittelbar nachvollziehbarer handeln als etwa die „Letzte Generation“ bei den Kunstaktionen in Museen. (19)

Die symbolischen Angriffe auf Bilder beziehen sich auf ähnliche Aktionen der „Just Stop Oil“-Kampagne in Europa und den USA. Manche gehen historisch noch weiter zurück und wollen an museumskritische Aktionen der „Guerilla Art Action Group“ oder der „Guerilla Girls“ in den 1970er-Jahren anknüpfen. Die waren damals allerdings direkt gegen die hierarchischen Strukturen und politischen Inhalte von Museen gerichtet und daher zielgerichteter. (20)

Fussnoten:

(1) Vgl. dpa-Meldung vom 4.12.2022; B30 bei Ravensburg.

(2) Vgl. Letzte Generation (LG), Presseerklärung (PE) vom 4.11.2022: „Offener Brief an die Bundesregierung“, S. 2, Vermerk der Berliner Feuerwehr, vgl. hier und für alle weiteren zitierten PEen von LG: http://letztegeneration.de/presse/pressemitteilungen.

(3) Vgl. ebd. sowie: LG, PE vom 30.11.2022 sowie vom 13.12.2022.

(4) Vgl. LG, PE vom 22.11.2022: „Freispruch in Freiburg und Sicherheitshaft in Bayern – Wie passt das zusammen?“; zu Baum: Interview im Deutschlandfunk, 12.11.2022; zu Gysi: Berliner Zeitung online, 30.11.2022.

(5) Vgl. LG, PE vom 4.11.2022: „Statement zum Unfall. Es ist Zeit, eine Grenze zu ziehen.“

(6) LG, zit. nach ebd.

(7) Vgl. „Offener Brief an die Bundesregierung“, siehe Anm. 1, a. a. O: sowie: LG, PE vom 10.11.2022: „Bundesregierung verpasst Beendigung der Störung. Scholz, Lindner, Habeck & Wissing erscheinen nicht zur Verhandlung mit Letzter Generation.“

(8) Siehe PEen vom 4.11. und vom 10.11.2022.

(9) Siehe PE vom 10.11.2022, ebd., ebenso nachfolgendes Zitat.

(10) Ebd.

(11) Zit. nach PE vom 22.11.2022: „Freispruch in Freiburg…“, siehe Anm. 3, a. a. O.

(12) Lou Marin: „Ein Jahrhundert des revolutionären zivilen Ungehorsams“, in: AG Anarchismus und Gewaltfreiheit: „Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution“, Bd. 1, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2018, S. 143–168, hier S. 160.

(13) M. K. Gandhi, in: „Macht ist keines unserer Ziele (sondern aufgeklärte Anarchie)“, in: Lou Marin, Horst Blume: Gandhi. „Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2019, S. 18–22, hier S. 20. Zur libertären Rezeption Gandhis siehe auch Gernot Jochheim: „Antimilitarismus und Gewaltfreiheit“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2021.

(14) Zit. nach PE vom 22.11.2022: „Freispruch in Freiburg…“, siehe Anm. 4, a. a. O.

(15) Siehe: https//derniererenovation.fr , eingesehen am 3.12.22.

(16) Pablo Servigne, Raphaël Stevens: „Wie alles zusammenbrechen kann. Handbuch der Kollapsologie“, Mandelbaum Verlag, Wien/Berlin 2022, S. 141.

(17) Siehe: http://www.climateenergyfund.org/about.

(18) Die Letzte Generation, Skript zu Mobilisierungsvortrag, S. 17.

(19) Zur aktuellen Kritik siehe Rémi Barboux (Service Planète): „L’anxiété lié au dérèglement climatique, source d’une nouvelle radicalité militante“, in : Le Monde, 27. November 2022, S. 35.

(20) Zane McNeill: „Why glue your head to a painting?“, in: Waging Nonviolence online, 27. Oktober 2022.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Die „Letzte Generation ?“

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Januar 2023

Es ist Zeit, dass unsere Demokratie demokratischer wird!

Carla Hinrichs, Sprecherin der „Letzten Generation“

Quelle       :        Scharf  —  Links

Statement zum Jahrestag der Letzten Generation

Die Welt ist in Ordnung, es regnet. Lange. Das nervt. Aber es ist doch nur Regen?

Mit diesen Worten beginnt Andy Neumann seinen Bericht über die Flutkatastrophe im Ahrtal. Neumann ist Polizist. Als das Wasser stieg, dachte er noch, er sei vorbereitet, brachte abends seine Kinder ins Bett. Wie immer.

Doch dann kam das Wasser, drückte durch die Fenster ins Wohnzimmer, stieg die Treppen hoch, ins oberste Stockwerk. Neumann packte die Angst. Angst, dass seine Frau und Kinder sterben würden. Die Feuerwehr riet ihnen, auf das Dach zu klettern, doch eine Rettung sei auch von dort nicht möglich.
Panik war in ihnen, bis die Pegel begannen zu fallen.

Neumann und seine Familie überlebten.

Doch 180 Menschen starben.

Wissenschaftler:innen sagten später: Ohne die Klimakrise hätte das Hochwasser so nicht stattgefunden.

Die Überschwemmungen im Ahrtal haben sich in unser Gedächtnis gebrannt. Doch jeden einzelnen Tag sterben Menschen wegen der Klimakrise.

Es sind alte Menschen, die an heißen Tagen in ihren Wohnungen dehydrieren und plötzlich zu schwach sind, um den Notruf zu wählen. Schwangere erleiden durch die Hitze mehr Fehlgeburten. Menschen mit Asthma kämpfen mit Atembeschwerden, vor allem kleine Kinder leiden. An extrem heißen Tagen sterben rund ein Drittel mehr Menschen als üblich. Im Sommer 2022 sind in Europa rund 100.000 Menschen an Hitze gestorben.

Während das reichste 1 Prozent am Starnberger See, im Odenwald, in Berlin-Steglitz sich in ihre schattigen Gärten verzieht, leiden migrantische Viertel wie Berlin-Neukölln unter dem Hitzeinseleffekt: Enge, urbane Räume heizen sich noch schneller auf, als das Umland, die Hitze staut sich in den Straßen, Schüler:innen kämpfen darum, sich in den Klassenräumen konzentrieren zu können, verlieren dabei Bildungschancen.

In Ostafrika leiden 36 Millionen Menschen unter einer seit Jahren anhaltenden Dürre, alle 48 Sekunden stirbt jemand an Hunger. Ein Drittel Pakistans wurde überflutet.

Die Klimakrise ist da. Genau so, wie der Ölkonzern Exxon es in einem internen Memo 1981 vorhersagte: das Verbrennen fossiler Brennstoffe wird „in der Zukunft zu katastrophalen Konsequenzen führen.“

Exxon wusste schon damals Bescheid. Genau wie die Ölmultis Shell und British Petroleum. Was taten die CEOs? Sie ließen die Studien in der Schublade verschwinden und begannen, die Wahrheit zu attackieren. Hunderte von Millionen US-Dollar gaben sie pro Jahr aus, erstellten falsche Studien, griffen Klimawissenschaftler:innen und den Journalismus an, verbreiteten die Lüge, dass es keine globale Erwärmung gebe. Und sie hatten nicht nur Erfolg, sie verdienten auch gut daran. Drei Milliarden Dollar Profit am Tag. Rund ein Prozent des globalen Wohlstands.

„Mit all diesem Geld kann man jeden Politiker und jedes System kaufen“, sagt der belgische Forscher Aviel Verbruggen.

Und das tun sie: Konzerne haben gelernt, unsere repräsentative Demokratie zu manipulieren. Das zeigte sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder: In den erfolgreichen Kampagnen, die verschleierten, dass Rauchen Krebs erzeugt. In den erfolgreichen Kampagnen, die verschleiern, dass das Düngemittel Glyphosat schädlich ist. Das zeigt sich erneut in der Klimakrise.

Christian Lindner erhält für Auftritte als Redner bis zu fünfzehntausend Euro, zu seinen Auftraggebern gehören fossile Konzerne wie E.ON, mindestens eine halbe Million Euro macht er mit Nebeneinkünften pro Jahr. Kein Wunder, dass er den Klimaschutz “dem Markt” überlässt.

Friedrich Merz arbeitete als Anwalt für die Ruhrkohle AG, lobbyierte auch als Politiker gegen den Ausstieg aus den Fossilen. 13 000 Menschen arbeiten in Deutschlands Lobbyorganisationen, fossile Konzerne gehören zu den größten Geldgebern.

Das bittere Ergebnis:

Der Ausbau erneuerbarer Energien wird sabotiert.
RWE-Mitarbeiter:innen schreiben Gesetze für das Wirtschaftsministerium.
Die Bundesregierung zahlt jährlich 70 Milliarden Subventionen an fossile Konzerne.

Das heißt: Konzerne kapern unsere Demokratie – und keiner tut etwas dagegen.

Nicht “Klimakanzler” Olaf Scholz.
Nicht “Klimaminister” Robert Habeck.
Schon gar nicht Volker Wissing.

Unsere Regierung bricht damit geltendes Recht, unser Grundgesetz – im April 2021 entschied das Bundesverfassungsgericht in einer richtungsweisenden Entscheidung, dass Deutschlands Emissionen sinken müssen. Sofort. Nicht irgendwann nach 2030. Doch das passiert nicht. Wir rasen weiterhin auf die 1,5-Grad-Grenze zu, dahinter lauern die Kipppunkte des Klimas: Die Arktis schmilzt ab. Der Golfstrom kommt zum Erliegen. Der Amazonas stirbt. Und mit ihm unser klimatisches Gleichgewicht.

„Ich sage Ihnen, dass wir unsere Kinder in einen globalen Schulbus hineinschieben, der mit 98% Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt”, sagt Hans Joachim Schellnhuber, Weltweit renommierter Klimaforscher und Gründer des Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung.

Doch die Regierung drückt sich. Vertröstet auf später, findet immer neue Entschuldigen.

Und ja, die Wende zu Erneuerbaren wurde verschleppt. Ja, es braucht Energiesicherheit. Ja, es braucht Arbeitsplätze. Aber all das wäre möglich mit regenerativen Energien. Doch die Regierung schafft es nicht, gegen den Einfluss von Konzernen wie RWE anzukommen. Sie kommt ihrer Verantwortung, unser Leben zu schützen, nicht nach.

Deshalb ist es an der Zeit, dass unsere Demokratie demokratischer wird. Es ist an der Zeit, dass die Macht wegkommt vom 1 Prozent und hin zu den 99 Prozent. Es ist Zeit, dass Bürger:innen selbst entscheiden können über Klimaschutz.

Wir wollen, dass endlich jene die Entscheidungen treffen, die von der Klimakrise betroffen sind. Während das 1 Prozent mit seinen Reichtümern schon heute Notfallpläne anlegt für den Tag, wenn Hunger und Kriege eintreten, sich Bunker baut in Neuseeland, sind wir darauf angewiesen, dass der Staat Vorsorge trifft, der Klimakrise zu begegnen.

Deshalb fordern wir: einen verbindlichen Gesellschaftsrat, der erarbeitet, wie Deutschland bis 2030 Nullemissionen erreichen kann.

In diesem kommen Menschen aus allen Bevölkerungsschichten Deutschlands zusammen, erarbeiten mithilfe von Expert:innen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft bindende Vorschläge dazu, wie es weitergehen kann.

Veganer:innen und Autofans diskutieren gemeinsame Lösungen, denn auch sie haben ein geteiltes Interesse: die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten schützen und den Weg dahin sozial gerecht gestalten.

Die Regierung hat sich in den Koalitionsvertrag geschrieben: “Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren.” Wir nehmen sie beim Wort, denn Vorbilder aus Frankreich, Irland, Belgien zeigen, dass das Format Menschen in ihrer Anstrengung vereint und konstruktive Ansätze hervorbringt.

Wir fordern die Bundesregierung auf, einen Gesellschaftsrat einzusetzen und seine Beschlüsse umzusetzen. Wir fordern, dass wir, die 99 Prozent, endlich mitentscheiden dürfen über den Erhalt unserer Lebensgrundlagen.

Denn es hat sich gezeigt: immer da, wo Bürger:innen informiert über ihr Schicksal mitentscheiden dürfen, wartet eine bessere, sicherere, gerechtere Welt auf uns.

Nachweise:

Bericht von den Überschwemmungen in Westdeutschland:
Andy Neumann – Es war doch nur Regen!?

Auswirkungen der Klimakrise auf die Überschwemmungen in Westdeutschland

Gefahren für alte Menschen in Hitzewellen

Hitzewellen und Fehlgeburten

Asthma, COPD und Hitzewellen

Übersterblichkeit und Hitzewellen

Übersterblichkeit und Hitzewellen 2

Hitzeinseln in Berlin

Effekt von Hitze auf Denkleistung

Dürre in Ostafrika

Dürre in Ostafrika 2

Überschwemmungen Pakistan

ExxonMobile und Klimastudien

Profite der Ölkonzerne und wie sie sich Einfluss erkaufen

Christian Lindner erhält Lobbygelder:
Annika Joeres, Susanne Götze – Die Klimaschmutzlobby, S.191

Christian Lindners Nebeneinkünfte

Friedrichs Merz lobbyiert für fossile Konzerne

Lobbyismus in Deutschland

Ausbau erneuerbarer Energien wird sabotiert

70 Milliarden fossile Subventionen

RWE-Mitarbeiter schreiben Gesetze für das Wirtschaftsministerium

Urteil des Bundesverfassungsgericht

Die Überlebenspläne der Superreichen, Bunker in Neuseeland

Schellnhuber-Zitat

Erfolgreiche Bürgerräte

Koalitionsvertrag und Bürgerräte

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Proteste in Lützerath

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Januar 2023

Vorteile der Bewegung

Demozug in Keyenberg

Ein Debattenbeitrag von Alicia Mengelkamp

In Lützerath stießen mit Polizei und Pro­tes­tie­renden zwei unterschiedliche soziale Gruppen aufeinander. Eine organisationssoziologische Analyse.

Die Räumung Lützeraths ist vorbei; die Diskussion über das Geschehene allerdings noch lange nicht. Ein Protestmittel, welches besonders die medialen Bilder prägte und in der Kritik stand, waren Steine. Steine, die auf das Einsatzpersonal der Polizei flogen. Nicht nur Polizei und Po­li­ti­ke­r*in­nen verurteilten dies scharf. Videos in den sozialen Medien zeigen, dass auch Protestierende immer wieder „Keine Steine!“ riefen, sobald diese in Richtung Einsatzpersonal flogen.

Warum versuchten auch Protestierende aktiv, dies zu unterbinden? Für die Protestbewegung bedeuteten diese Steine neben ihrer moralischen Fragwürdigkeit vor allem eines: die Gefahr, den eigenen Erfolg zu riskieren. Proteste leben von der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Aktionen, die umstrittenes Handeln von Staat und Unternehmen skandalisieren und Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind ihr Lebenselixier. Überraschende Aktionen mit viel Masse und Wucht sind ihre Spezialität.

Prägen aber Bilder von Gewaltaktionen – wie hier die fliegenden Steine – das Image der Proteste in den Massenmedien, besteht die Gefahr, Solidarität in der Bevölkerung zu verlieren. Doch diese ist essenziell für den Erfolg von Protestbewegungen. Bestenfalls müssen Proteste also die Entscheidung treffen, lediglich friedlichen Widerstand zu leisten, um keine Körperverletzung von Einsatzpersonal und womöglich Ak­ti­vis­t*in­nen zu riskieren.

Und hier wird es spannend: Warum fällt diese Entscheidung der Protestbewegung so schwer? Der Grund liegt nicht etwa am mangelnden Willen oder der Qualität eines Protests. Er liegt in seiner Struktur.

Organisationen, wie sie in Lützerath in Form der Polizei auftreten, haben gegenüber Protestbewegungen einen strukturellen Vorteil. Sie können verpflichtende Erwartungen stellen: Wenn man bei ihnen Mitglied ist, hat man sich an formale Bedingungen zu halten, denen man mit Eintritt in die Organisation zustimmt: Sie beinhalten, eigenes Handeln an den Zielen der Organisation und nicht an seine eigenen Überzeugungen anzupassen – selbst wenn also in Lützerath Po­li­zis­t*in­nen vor Ort waren, die sich emotional mit den Protestierenden solidarisierten, musste dies privat bleiben.

Es durfte nicht ihre Handlungen als Einsatzkräfte beeinträchtigen. Erhalten sie die Anordnung, eine Blockade zu räumen, müssen sie dieser Folge leisten, egal was sie gerade darüber denken. Und mit Rückblick auf die Proteste ist dies auch nicht passiert: Bislang ist kein Fall von Dienstverweigerung seitens der Po­li­zis­t*in­nen bekannt. Denn diese hätte für sie dienstrechtliche Sanktionen zur Folge.

Bei den Protestierenden war genau das Gegenteil der Fall: Sie waren gerade wegen ihrer persönlichen Meinung anwesend. Die Ak­ti­vis­t*in­nen waren dabei bedeutend weniger an die Erwartungen einer überstehenden Instanz gebunden. Dabei waren Ermahnungen zur Friedlichkeit von eigenen Führungspersonen vermutlich prägend – wenn die Protestierenden diese jedoch nicht umsetzen wollten, griff kein Sanktionsmechanismus wie bei der Polizei. Die Protestierenden waren nämlich statt Organisationsmitgliedern lediglich Anhänger des Protests.

Demozug zur Schlusskundgebung zwischen Keyenberg und Lützerath

Als solche konnten sie sich selbst Aufgaben und die Art ihres Protests aussuchen – auch wenn sie sich ethisch fragwürdig verhielten, mussten sie nicht mit einem Rausschmiss rechnen. Denn erstens zählte für die Protestbewegung immer noch jede Person, die sich mit ihrem Körper der Räumung Lützeraths entgegensetzte. Und außerdem gab es keinen Sanktionshebel: Kei­n*e Ak­ti­vis­t*in konnte von der Protestbewegung selbst des Geländes verwiesen werden, weil es keine legitimierte Instanz gab, die dies entscheiden konnte.

Eine Anhängerschaft hat jedoch auch Vorteile gegenüber der Mitgliedschaft: Wegen ihres leichten Einstiegs schaffen es Bewegungen gegenüber Organisationen nahezu unbegrenzt, An­hän­ge­r*in­nen zu rekrutieren. Auch wenn die Polizei NRW weiterhin Einsatzkräfte aus ganz Deutschland mobilisiert hat – die Protestierenden schafften es, mehr Menschen als erwartet nach Lützerath zu bringen.

Diese Menschen ließen sich bei der Umsetzung des Protestes zwar strategisch nicht auf einen Nenner bringen. Aber es waren doch Menschen, die die gleichen Werte und vor allem das gleiche Ziel verfolgten. Dass die Protestierenden es deshalb schafften, trotz Polizeiketten zu dem Tagebau vorzudringen, war deshalb wenig überraschend.

Weitere Begegnungen mit der Polizei

Quelle          :        TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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60 Jahre Élysée-Vertrag

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Januar 2023

50 Jahre grenzüberschreitende Zusammenarbeit –
der Umweltbewegung am Oberrhein

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von      :      Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein

Am 22. Januar 1963 wurde der deutsch-französische Freundschaftsvertrag (Élysée-Vertrag) von Bundeskanzler Konrad Adenauer und vom französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle unterzeichnet. Dieses wichtige Abkommen hat Deutsche und Franzosen nach den Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkriegs ein wichtiges Stück zusammengeführt.

Wenn jetzt überall an 60 Jahre Élysée-Vertrag erinnert wird, dann ist das zumeist eine „von oben nach unten Erzählung mit folkloristischem Beiwerk“. Wir wollen an das von uns fünfzig Jahre lang erkämpfte, immer gefährdete Europa der Menschen, an das „Europa von unten am Oberrhein“ erinnern. Ein Europa, zu dem für uns immer auch die Schweiz zählte.

Auf den besetzten AKW-Bauplätzen inWyhl (D)Kaiseraugst (CH) und Gerstheim (F)haben wir drei Jahrzehnte nach Kriegsende den europäischen Traum vom grenzenlosen Europa geträumt und erkämpft und im Jahr 2020 grenzüberschreitend die Abstellung des Pannenreaktors in Fessenheim erreicht. Wir haben die realen und die inneren Grenzen und die alte, verlogene „Erbfeindschaft“ überwunden, Bauplätze und Brücken besetzt, Gifteinleitungen in Rhein und Luft abgestellt, für Leben und Zukunft gekämpft und gemeinsam viele ökologische Gefahren am Oberrhein abgewehrt. Und dies immer alles ohne europäische Fördertöpfe und Interreg-Gelder.

Dort wo nicht auf unsere Kritik gehört wurde, wie bei der Giftmülldeponie Stocamine, kommt das die Allgemeinheit heute teuer zu stehen und wir schauen aktuell mit Sorgen auf die Schweizer Endlagerpläne.

Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit war immer eine Sache auf Gegenseitigkeit. Schon 1970 haben sich die AKW-GegnerInnen in Kaiseraugst und Fessenheim organisiert, 1971 dann die badischen PartnerInnen in Breisach, 1973 in Wyhl. Elsässische und Schweizer Aktive brachten wesentliche Ideen und Erfahrungen über die Grenze herüber nach Breisach und Wyhl, und nirgendwo wurde jemals nach der Staatsangehörigkeit gefragt. Der alemannische Dialekt hat in diesen frühen Konflikten immer eine wichtige Rolle gespielt. Wir waren stets selbstbewusst, trinational „provinziell“. Ohne die grenzüberschreitende Zusammenarbeit hätten wir an keinem der besetzten Plätze Erfolg gehabt und auch der Giftmüllofen in Kehl wäre nicht verhindert worden.
Auf den besetzten Bauplätzen in Wyhl, Marckolsheim, Gerstheim und Heiteren und bei vielen Demos und Aktionen wurde die alte deutsch-französische „Erbfeindschaft“ überwunden. Auch hier entstand das Europa der Menschen.Einige der vielen Wurzeln Europas und der deutsch-französischen Aussöhnung,
aber auch eine Wurzel der heutigen Klimaschutzbewegung liegt im elsässischen Marckolsheim. Hier haben wir 1974 den Bauplatz eines extrem umweltvergiftenden Bleiwerks besetzt und die Vision vom grenzenlosen Europa gesponnen. François Brumbt sang auf dem besetzten Platz:„Mir keije mol d Gränze über de Hüfe und danze drum erum“. Als endlich die Schlagbäume zwischen Frankreich und Deutschland fielen, hatten wir, wieder einmal, eines unserer Ziele erreicht.

Seit dieser Zeit erleben wir am Oberrhein immer wieder, wie geschickt, gezielt und erfolgreich in ökologisch-ökonomischen Konflikten (Fessenheim-Abstellung, Atommüll Schweiz, Flugplatz Zürich …) die Menschen gegeneinander ausgespielt werden, während gleichzeitig das Hohelied des Élysée-Vertrages, der Regio und wuchernden Metropolregion gesungen wird.

Immer wieder überlagern alte und neue, geschickt geschürte (noch kleine) Nationalismen und traurige Feindbilder auf beiden Rheinseiten die Europa-, Regio- und Dreyeckland-Mythen und diese Feindbilder werden aus ökonomischen Gründen gezielt aufgebaut. Erschreckend ist nicht, dass Konzerne und Lobbyisten versuchen, uns gegeneinander auszuspielen. Erschreckend ist, dass die „nationale Karte“ immer noch häufig sticht und sich auch in Wahlergebnissen ausdrückt.

Um so wichtiger ist unser Europa von unten, abseits aller Verträge und europäischer Fördertöpfe, Metropolregion-Pläne und Interreg-Gelder, bei der Stocamine, beim Hochwasser- und Naturschutz am Rhein, beim regionalen Klima- und Artenschutz. Überall wo sich in Zeiten zunehmender ökonomischer, ökologischer und sozialer Krisen Menschen grenzüberschreitend für Mensch, Natur, Umwelt, Zukunft, Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und Freiheit engagieren.

60 Jahre Élysée-Vertrag sind ein guter Anlass, um zu feiern, um gleichzeitig aber auch das stets gefährdete „Europa der Umwelt und der Menschen“ zu thematisieren.

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Unten       —     For documentary purposes the German Federal Archive often retained the original image captions, which may be erroneous, biased, obsolete or politically extreme. Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle unterzeichneten am 22.1.1963 im Pariser Elysée-Palast einen Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, der politische Konsultationen beider Regierungen und eine verstärkte Zusammenarbeit in der Außen- und Verteidigungspolitik sowie in Erziehungs- und Jugendfragen festgelegt. Regelmäßige Treffen zwischen den Regierungschefs und den zuständigen Ressortministern beider Länder sollen die praktische Durchführung des Vertrages gewährleisten. Im Bild (v.l.n.r.) am Tisch: Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Gerhard Schröder, Bundeskanzler Konrad Adenauer, Staatspräsident Charles de Gaulle, Premierminister Georges Pompidou und der französische Außenminister Maurice Couve de Murville

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Gewalt von Jugendlichen

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Januar 2023

Früher war mehr Silvester

Ein Debattenbeitrag von Eberhard Seidel

Halbstarke, Hausbesetzer, Hooligans: Deutschland hat viel Erfahrung mit jugendlicher Gewalt. Die Lehre: Repression allein hilft nicht weiter.

Hunderte junger Männer greifen in der Silvesternacht Polizisten und Feuerwehrleute mit Böllern und mit Schreckschusspistolen an. Dutzende werden verletzt. Die Republik ist empört. Was führt zu dieser Enthemmung? Warum sind von den Tätern so viele aus Familien mit Einwanderungsgeschichte aus der Türkei und dem Nahen Osten? Liegt es am Islam? Oder doch an den patriarchalen Familienstrukturen?

Für viele scheint ausgemacht, dass dieser Ausbruch von Gewalt gegen Ver­tre­te­r*in­nen der Staatsmacht eine bislang unbekannte Qualität und Brutalität hat. Dieser Eindruck täuscht. Trotz der verstörenden Bilder und Berichte aus der Silvesternacht gilt: Die Jugend in Deutschland war nach 1949 noch nie so friedlich, ruhig und duldsam wie in den letzten zehn Jahren. Das ist keine steile These, das sind die harten Fakten. Sie werden von jenen bestätigt, die es am besten wissen – den Versicherern im Land. Sie haben den besten Überblick über die finanziellen Folgen körperlicher Angriffe und Sachbeschädigungen über die Jahrzehnte.

Auf dieser objektivierten Grundlage von Versicherungsdaten könnte man auch folgende Nachricht generieren: Migration macht die Gesellschaft friedlicher! Je höher der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland wurde, desto weniger Gewalt gab es. Diese Schlussfolgerung wäre allerdings ein ebensolcher Unfug wie die Islam- oder Patriarchatsthese!

Vielmehr hat die Entwicklung mit der Vergreisung Deutschlands zu tun. Je weniger Jugendliche es in einer Gesellschaft gibt, desto ruhiger und friedlicher, man könnte es auch abgeschlaffter nennen, wird sie. Ruhe ist das neue gesellschaftliche Normal. An diesen Zustand haben die Menschen sich gewöhnt. Das ist nicht gut.

Wenig Hemmungen

Jungproletarisches Aufbegehren gegen die Zumutungen des Lebens, jugendliche Ungeduld, radikaler Protest und Grenzverletzung, politischer Protest, konfrontatives Verhalten, Gesetzes- und Regelverstöße gehören zu einer dynamischen Gesellschaft. Auf die Gegenseite gehören Erwachsene und Institutionen, die Grenzen ziehen, Bestehendes bewahren, Bewährtes verteidigen und auf der Durchsetzung gesellschaftlicher Normen und Konventionen beharren. Diese dialektische Entwicklung, die Checks and Balance sind ein Garant gesellschaftlicher Entwicklung. Wenn sie fehlen, wird es modrig.

So ist das seit Generationen in modernen Gesellschaften – außer in totalitären und den vergreisten. Werfen wir einen Blick zurück auf die Jahrzehnte, als in diesem Land die Heranwachsenden noch zu nahezu 100 Prozent einen Karoffelhintergrund hatten – also in die 1950er, 60er, 70er und 80er Jahre. In all diesen Jahrzehnten war jugendliches Aufbegehren immer auch mit Gewalt gegen Polizisten, Sanitäter und die Feuerwehr verbunden. Nachzulesen ist das in unzähligen Berichten über Halbstarken Krawalle (Leipzig, München), Zerstörung von Veranstaltungsstätten (Berliner Waldbühne), gewalttätigen Studentenkrawallen (Berlin, Tegeler Weg) und einer Alternativ-, Autonomen- und Hausbesetzerszene (Hamburg, Frankfurt, Berlin).

Die Letztgenannten hatten wenig Hemmungen, was Gewaltanwendung angeht: Polizisten wurden immer wieder mit Zwillen (Stahlkugeln) beschossen, mit Pflastersteinen und Molotow-Cocktails attackiert, von Dächern herab mit Steinplatten beworfen (Berlin) und sogar erschossen (Frankfurt, Startbahn West). Autos wurden verbrannt, Geschäfte geplündert. So handhabten das die Boomer aus urdeutschen Mittelschichtsfamilien.

Komplex, aber nicht so kompliziert

Vergessen scheinen auch die regelmäßigen Schlachten von Hooligans aus mehrheitlich bildungsfernen Familien der Mehrheitsgesellschaft in den Fußgängerzonen und Innenstädten in den 1980er Jahren. In den 1990er und den Nuller Jahren rollte, ausgehend von den damals neuen Bundesländern, eine völkische Jugendrevolte durch Deutschland. Jugendlicher Protest und Aggressionen richteten sich erstmals nach 1945 nicht mehr gegen „die da Oben“, also staatliche Autoritäten, sondern wendeten sich primär gegen Angehörige von Minderheiten und kosteten Hunderte das Leben.

Deutschland verfügt über hinreichend Erfahrungen im Umgang mit jugendlicher Gewalt. Es gibt bewährte Konzepte der Prävention, Intervention und Repression. Der Staat und die Gesellschaft haben entsprechendes Know-how in Polizei, Justiz, Pädagogik, Kultur und Sozialarbeit angehäuft. Es existieren übrigens auch ermutigende Beispiele von erfolgreicher Reintegration von jugendlichen Gewalttätern und Protestmilieus in die Gesellschaft.

Quelle          :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Klimaterrorismus :

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Januar 2023

 Mein Vorschlag für das Unwort des Jahres 2022

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von      :      Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein

Dass junge, verzweifelte Umweltaktive von Klimakatastrophenverantwortlichen als „Klimaterroristen“, als Mitglieder einer „Klima-RAF“ und „Klima-Chaoten“ bezeichnet und in Präventivhaft genommen werden, ist mehr als ein Skandal. Auch wenn sich über die Aktionsformen streiten lässt: So wie der Begriff des Klimaterroristen bisher verwendet wird, ist dies eine typische, perfekt organisierte Täter-Opfer-Umkehr. Aktivistinnen und Aktivisten machen gewaltfrei auf Missstände aufmerksam und werden dafür kriminalisiert. Wer einmal den Begriff „Klimaterroristen“ bei der Bildsuchfunktion einer Suchmaschine eingibt, sieht, aus welcher Richtung der vergiftete Wind weht. Der rechte Rand der Gesellschaft streut gemeinsam mit rechts-libertären Medien und der BILD-Zeitung Begriffe in die öffentliche Debatte, die an Orwellsches Neusprech erinnern. In dieser Debatte zeigt sich nicht nur Definitionsmacht sondern auch tatsächliche Macht und dies in einer Zeit, in der die erkennbaren Folgen der Klimakatastrophe immer verheerender werden.

Die Umweltbewegung und der nachdenkliche Teil der Gesellschaft müssen endlich wieder die Begriffe zurechtrückenm zurückholen und die tatsächlichen Klimaterroristen benennen:

  • Ist umweltzerstörender Weltraumtourismus „just for fun“ nicht Klimaterror?
  • Der ESSO-Mutterkonzern ExxonMobil zählt mit einem Gewinn von 37,6 Milliarden Dollar in einer einzigen Jahreshälfte des letzten Jahres nicht nur zu den größten Kriegsgewinnlern im Ukraine-Krieg, sondern ist auch Kriegstreiber im Krieg gegen Mensch, Klima und Umwelt. Seit Jahrzehnten finanziert der Konzern Klimawandelleugner und Energiewendegegner. Er ist verantwortlich für Tod und Leid. Zählt ExxonMobil damit nicht zu den tatsächlichen Klimaterroristen?

Ein Versuch, dem Begriff des Klimaterrors wieder seine tatsächliche Bedeutung zurückzugeben, ist mein Wunsch, ihn zum Unwort des Jahres zu erklären.

18.12.2022
Sehr geehrte Damen und Herren
im Auswahlgremium zum Unwort des Jahres,

ich würde Ihnen gerne zwei Begriffe „zur Auswahl“ vorschlagen:
Klimaterrorismus oder Klimaterroristen
Die beiden Begriffe werden aktuell stets im Zusammenhang mit jungen Klimaaktiven genannt. Menschen, die sich für Klimaschutz, für Mensch, Natur und Umwelt engagieren, sollen diskreditiert werden. Wenn Sie einmal bei der Bildsuchfunktion von GOOGLE den Begriff „Klimaterroristen“ eingeben, sehen Sie aus welchen Quellen diese Zuschreibung stammt.

Sie kommt von der AfD, von CDU, CSU und FDP, von Klimawandelleugnern, rechts-libertären Netzwerken und insbesondere auch von der Springer-Presse. Es ist erschreckend, dass in Deutschland die Klimakatastrophenverantwortlichen immer noch die Definitionsmacht haben.

Selbstverständlich gibt es Klimaterrorismus.
Ich meine damit allerdings nicht die jungen Umweltaktiven. Ich denke eher an die Spitzen der großen Öl-, Gas- und Kohlekonzerne und ihre globalen Netzwerke, die seit Jahrzehnten mit gezielter PR, mit Macht und Geld den ihnen bekannten menschengemachten Klimawandel und seine Folgen leugnen, verharmlosen und herunterspielen, und an die bezahlten Mietmäuler dieser Konzerne in Wissenschaft, Politik, Medien, industriegelenkten Initiativen und PR-Agenturen. Ihre Aktivitäten werden millionenfaches Leid und Tod verursachen.

Schon der Hitzesommer 2003, ein Vorgeschmack kommender Hitzesommer, hat ca. 70.000 Tote alleine nur in Europa gefordert.
Aus meiner Sicht spricht dies dafür, einen der beiden Begriffe „Klimaterrorismus oder Klimaterroristen“ zum Unwort des Jahres 2022 zu machen.

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Versammlungsgesetz NRW:

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Januar 2023

Verfassungsbeschwerde gegen Einschränkung der Versammlungsfreiheit eingereicht

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von         :       

Im Jahr 2021 hatten tausende Menschen über Monate gegen das neue Versammlungsgesetz in Nordrhein-Westfalen demonstriert. Das Gesetz schränkt die Versammlungsfreiheit massiv ein und gibt der Polizei mehr Befugnisse. Dagegen wehrt sich nun die GFF zusammen mit weiteren Bürgerrechtsinitiativen mit einer Verfassungsbeschwerde.

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) erhebt heute gemeinsam mit dem Bündnis „Versammlungsgesetz NRW stoppen!“ Verfassungsbeschwerde gegen das seit Januar 2022 geltende Versammlungsgesetz in Nordrhein-Westfalen. Das umstrittene Gesetz war trotz schwerwiegender Bedenken von Sachverständigen und monatelanger Proteste auf der Straße fast unverändert von der schwarz-gelben Landesregierung im Jahr 2021 verabschiedet worden. Die schwarz-grüne Nachfolgeregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag keine Änderungen am Versammlungsgesetz festgelegt.

Die nun vor dem Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfalen eingereichte Beschwerde greift vor allem neue Straftatbestände, erweiterte Überwachungsbefugnisse und das präzedenzlose Totalverbot von Versammlungen auf Autobahnen an, heißt es in der Pressemitteilung der GFF. In der Kombination schreckten diese verfassungswidrigen Regelungen Menschen davon ab, ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit auszuüben, so die Grundrechteorganisation. Sie will erreichen, dass das Gericht die angegriffenen Vorschriften für nichtig erklärt. Per Eilantrag sollen einige Normen zudem bereits vorläufig außer Kraft gesetzt werden.

Autobahnen stärker geschützt als der Landtag

Laut der GFF sind die neuen Regelungen des Versammlungsgesetzes NRW zum Störungsverbot, zum Vermummungsverbot sowie zum Militanzverbot sehr weitreichend und unbestimmt formuliert, sodass Protestierende nicht wissen könnten, wann sie sich strafbar machen. Daneben weite NRW die Befugnis zur staatlichen Videoüberwachung von Versammlungen enorm aus, so die Bürgerrechtsorganisation. Auch das könne einschüchtern und von der Teilnahme an Protesten abschrecken. Das bundesweit einmalige Pauschalverbot aller Versammlungen auf Bundesautobahnen nimmt zudem einen Teil des öffentlichen Raumes prinzipiell von der Versammlungsfreiheit aus. Autobahnen werden damit stärker geschützt als der NRW-Landtag und NS-Gedenkstätten, so die Bürgerrechtsorganisation.

Besonders betroffen sei die Klimabewegung. Bei der Verschärfung des Militanzverbots verweise die Gesetzesbegründung auf Klimaproteste und ziele insbesondere auf diese ab.

Die damalige Landesregierung hat das im Versammlungsgesetz des Bundes enthaltene Uniformierungsverbot, das wegen der Erfahrungen von SA-Aufmärschen in der Weimarer Republik eingeführt wurde, weiter verschärft. Sie hat es es zu einem sogenannten Militanzverbot ausgeweitet. In der Begründung des Gesetzes heißt es, dass damit auch eine einheitliche farbliche Kleidung oder weiße Maleranzüge gemeint sind.

Diese weißen Overalls, die seit Jahren bei den Klimaprotesten genutzt werden, stellt das Gesetz damit historisch in eine Reihe mit uniformierten Aufmärschen von SA und SS. Dabei attestiert das Gesetz ihnen wie auch Marschtritt und Trommelschlagen eine „suggestiv-militante, aggressionsstimulierende und einschüchternde Wirkung“.

Auch das Versammlungsverbot auf Autobahnen richtet sich eindeutig gegen Aktivist:innen, die dort protestieren, um auf die sich zuspitzende Klimakrise aufmerksam zu machen. Der nordrhein-westfälische Gesetzgeber habe hier seine staatliche Neutralität gegenüber zulässigen Versammlungsanliegen aufgegeben und schränke so die Grundrechte aller Aktivist:innen verfassungswidrig ein, sagt die GFF.

Unterstützung durch weitere Bürgerrechtsorganisationen

Laut der GFF hat kein anderes Bundesland ein derart restriktives Versammlungsgesetz. Mit der Verfassungsbeschwerde will die GFF nach eigener Aussage ähnlichen Tendenzen bei der Gestaltung künftiger Landesversammlungsgesetze vorbeugen und so eine schrittweise Aushöhlung der Versammlungsfreiheit verhindern. Die acht Beschwerdeführenden sind Mitglieder unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Nordrhein-Westfalen, die ihr Engagement durch das Versammlungsgesetz in Gefahr sehen. Sie werden vertreten durch Professor Tristan Barczak von der Universität Passau. Die Verfassungsbeschwerde wird unterstützt vom Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) und dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV).

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —     Demonstration gegen das geplante Versammlungsgesetz am 28. August 2021 in Düsseldorf

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Zum Jahreswechsel 2023

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Dezember 2022

EIN FROHES NEUES JAHR

New Year 2014 celebration at the Warsaw National Stadium 6.JPG

wünschen wir allen  Mitmacher – Innenn – und Lesern – Innen

Red.  DL / im Auftrag IE

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Grafikquelle      :        New Year 2014 celebration at the Warsaw National Stadium

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Dezember 2022

Zukunft des Pazifismus: Die deutsche Friedensliebe

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

War das pazifistische Selbstbild der Deutschen nur eine nostalgische Kulisse? Pazifisten überzeugen kaum noch. Ein neuer Antimilitarismus ist gefragt.

Noch bevor Harald Welzer in diesem Jahr seine Karriere als besonders unbeliebter Talkshowgast begann, gab er der taz Anfang März zu Russlands Überfall auf die Ukraine ein kleines Interview. Er staune darüber, wie die Militarisierung „der Sprache und womöglich auch der Mentalitäten“ binnen einer Woche funktioniere, sagte der Soziologe. „Im Grunde ist all das, was passiert, das Gegenteil von dem, wofür unsereiner mal vor 30 oder 40 Jahren angetreten ist.“

Es ist seither nicht leichter geworden, angesichts der Grausamkeit des Krieges, den Putin gegen die UkrainerInnen führt, das antimilitaristische Erbe Deutschlands öffentlich zu verteidigen. Welzer ist es auch im Verbund mit vielen sonst für klug gehaltenen Intellektuellen nicht gelungen. Sie überzeugten einfach niemanden, und wenn doch, dann vor allem diejenigen, die sowieso glauben, hinter allem stecke die CIA.

Kaum ein Zucken irgendwo

Dieser Misserfolg ist erst einmal verwunderlich. Schließlich kommt die Vokabel „Zeitenwende“ vor allem deshalb so geschichtsträchtig daher, weil Deutschland sich selbst eigentlich ziemlich kriegsunwillig und kriegsuntauglich findet und von aller Welt auch so gesehen wird. Um da eine neue Militärpolitik einzuläuten, braucht es dann große Worte, so groß wie die herumzureißenden Ruder in einer ganz unkriegerisch denkenden Gesellschaft, so groß wie die Summen, die ab sofort in die Bundeswehr gepumpt werden.

Dabei gibt es ja gar keine Gegenwehr. Kaum ein Zucken irgendwo. Auch die Linkspartei spaltet sich sauber auf in „weitgehend ratlos“ und „Putin-treu vernagelt“. Mein Verdacht bestätigt Harald Welzers oben zitierte Wut: Da lagerten gar keine antimilitaristischen Kulturvorräte mehr in den politischen Kellern und Speichern.

Ein neuer Antimilitarismus wächst

Das pazifistische Bild Deutschlands war womöglich nur eine nostalgische Kulisse, und wir haben es bisher einfach nicht bemerkt. Vielleicht ist die deutsche Friedensliebe schon lange nur ein Unwille gewesen, sich mit Kriegen anderswo zu befassen. Und wenn der Krieg aber in die Nachbarschaft kommt, dann rüstet man halt auf – schon gut, schon gut, wir machen ja schon, haben nur noch ein Weilchen am Exportüberschuss gearbeitet.

Ziemlich sicher bin ich aber, dass irgendwo auf den Trümmern einer Friedensbewegung, deren Analysekraft sich darin erschöpfte, dass stets die USA schuld waren, bereits ein neuer Antimilitarismus nachwächst, einer, der in Widersprüchen denken kann. Er müsste davon ausgehen, dass Demokratien in einer Welt voller Tyrannen wahrscheinlich wehrhaft sein, aber ihre Wehrhaftigkeit gut kontrollieren sollten.

Militärskeptiker hätten viel zu tun

Solidarität mit überfallenen Ländern in Europa wäre erstens selbstverständlich und diente zweitens der Verteidigung eigener Werte. Das besinnungslose Ausschütten von Geld für Waffen, die bestellt werden, weil sie halt am Markt sind, würde jedoch harsch kritisiert. Eine neue militärskeptische Bewegung würde Whistleblower im Rüstungsbeschaffungsamt auftreiben, die erklären, warum Milliarden in Panzer gesteckt werden, die nach ein paar Stunden den Geist aufgeben.

Quelle       :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —    Eine Taube mit einem Olivenzweig im Schnabel, im Judentum weitverbreitetes Symbol für den Frieden

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Frohe Festtage 2022

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Dezember 2022

Allen Mitarbeiter-Innen und Leser-Innen wünschen wir frohe Weihnachtstage  2022

Red. – DL / i.A. / I.E

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Grafikquelle       :      Bundeskanzlerin Deutschland Bundeskanzler Deutschland

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Die „Letzte Generation“

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Dezember 2022

Die Frauen der „Letzten Generation“

Datei:Merkel Kohle fertig - Satire.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Ein Interview mit Carla Hinrichs, Carla Rochel und Aimée van Baalen

„Unignorierbar“, auch dank BILD, deren Redakteur*innen kohlenschaufelnd stets für ausreichend medialen Druck im Kessel sorgen und beharrlich, stellvertretend für jeden „Klima-Kleber“ oder „Klima-Chaoten“ einen Ehrenplatz in den Gaststuben und virtuellen Stammtischen der Republik freihalten.

Dort sind sie nicht nur unbequem, sie stören regelrecht. Allein schon deshalb, weil sie uns tagtäglich den Spiegel der Untätigkeit vorhalten, einen Spiegel, in dem wir unser unreflektiertes Ebenbild viel lieber schulterklopfend oder am Lenkrad unseres wohlig beheizten Zweit-SUVs thronend betrachten. Auf die Spitze treibend, bekommen wir diesen Spiegel coram publico von Frauen, schlimmer noch, von jungen Frauen, vorgehalten. Das kratzt – insbesondere am zeitlich gereiften männlichen Ego.Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter des Friedens, sprach mit drei dieser jungen Frauen aus der ersten Reihe der „Letzten Generation“. Ausführlich und unvoreingenommen – über Hass, Hetze bis hin zu Morddrohungen. Und eines vorweg: Protest darf den Boden des Grundgesetzes nicht verlassen. Auch die Aktivist*innen der „Letzten Generation“ müssen sich an Recht und Gesetz halten. Eigentlich klar! Klar ist aber auch: Am Ende bleibt, trotz aller Aufregung und der ablenkenden Diskussion über die Legitimität der Proteste, die ernüchternde Erkenntnis: „Wir tun zu wenig!“ Aber das wussten wir ja vorher schon – eigentlich.

Hallo Ihr drei, klasse, dass Ihr Euch Zeit für ein Interview mit der Initiative „Gesichter des Friedens“ genommen habt. Apropos Frieden: Was hat Klimaschutz mit Frieden zu tun?

Carla Hinrichs: Viel! Die Wissenschaft sagt ganz klar: Wir rasen im Eiltempo auf eine Welt zu, in der wir uns um Ressourcen streiten und Milliarden von Menschen in lebensfeindlichen Regionen leben werden. Viele dieser Menschen werden zwangsläufig die Flucht ergreifen, ganz einfach, weil es in diesen Regionen nichts mehr zu essen für alle geben wird – weil dort nichts mehr angebaut werden kann. Ganz ehrlich: Ich habe Angst vor einer Welt, in der Kriege um immer knapper werdende Ressourcen zur Normalität werden. Vor einer Welt, in der für Frieden kein Platz mehr ist!

Carla Rochel: Die Prognose der Wissenschaft für die nächsten Jahre zeigt ein Szenario, welches wir alle nicht wollen. Weder hierzulande, noch die Menschen, die in den Regionen des globalen Südens leben und letztendlich zur Flucht gezwungen sein werden. Dort passieren schon jetzt Grausamkeiten, die wir uns kaum vorstellen können. Manche Menschen hier in Deutschland haben Angst vor zu viel Einwanderung. Diesen Menschen muss aber klar sein: Das ist nur ein Bruchteil der Fluchtbewegungen, mit denen wir uns dann tagtäglich auseinandersetzen werden müssen! Welche Parteien werden dann gewählt? Dann wird sich zeigen, wie wehrhaft unsere Demokratie wirklich ist!

Aimée van Baalen: Es sind ja auch nicht die Menschen, vor denen wir Angst haben müssen – es ist die Ressourcenknappheit. Schon jetzt werden zunehmend Kriege um immer knapper werdende Ressourcen – wie beispielsweise sauberes Trinkwasser – geführt. Eine solche Verknappung der Ressourcen kann im schlimmsten Fall auch den Frieden in Deutschland bedrohen und – nicht zuletzt – unsere Demokratie auf eine harte Probe stellen.

Ihr engagiert Euch alle drei für den Klimaschutz – drängt auf die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels. Wie seid Ihr zur Protestbewegung „Letzte Generation“ gekommen? Was treibt Euch an und wie reagiert Euer Umfeld darauf?

Carla Rochel: Zu Beginn meines Politikstudiums haben mir meine Cousins alle gesagt: „Carla, die Studentenzeit wird die beste deines Lebens!“ Doch noch während meines Studiums habe ich gemerkt, dass ich die Klimakatastrophe einfach nur verdränge. Ich habe mir das alles ausgemalt: Unsere Bundesregierung, die gerade jeden Tag das Grundrecht bricht und uns in eine Katastrophe stürzt. Die Zeit, die verstreicht, die wir nicht mehr zurückdrehen können. Und dann kam ein Punkt im letzten Herbst, wo ich gemerkt habe, dass ich das nicht mehr aushalte. Dass ich nicht studieren und so tun kann, als sei mein Abschluss noch irgendetwas wert – in der Welt, die in Flammen steht. Dann habe ich mir einen Vortrag angehört von den Menschen, die vor dem Bundestag im Hungerstreik waren. Ich habe mich entschlossen mitzumachen und einen Monat später mein Studium abgebrochen. Jetzt engagiere mich Vollzeit für die Letzte Generation.

Carla Hinrichs: Ich bin mit einem grossen Drang nach Gerechtigkeit aufgewachsen. Schon während meiner Schulzeit habe mich politisch engagiert – damals bei Amnesty International. Mir wurde dann vielfach gesagt, ich solle doch Jura studieren. Nach vier Jahren Jurastudium kamen mir jedoch Zweifel und ich habe mich gefragt: „Sorgt das jetzt dafür, dass die Welt gerechter wird?“ Eigentlich nicht. Ganz im Gegenteil: Es wird von Tag zu Tag schlimmer. Als mir dann kurz vor der Bundestagswahl 2021 klar wurde, dass es keine Partei gibt, die auch nur ansatzweise meine Interessen vertritt, wusste ich: Okay, jetzt alles oder nichts. Jetzt studiere ich nicht mehr Recht, jetzt wende ich Recht an!

Aimée van Baalen: Als ich das allererste Mal von der Klimakrise gehört habe, war ich in der sechsten Klasse. Wir haben einen Film mit unserer Geographie-Lehrerin geschaut. Ich sah, wie dieses schwarze Öl aus dem Boden gesprudelt ist und sich dann wie ein Tuch über das Meer gelegt hat. Ich weiss noch, dass ich dasass und mir dachte: „Wie krass, das sind viel grössere Probleme, als diejenigen, die ich bis dahin in meiner kleinen Welt wahrgenommen habe.“ Zehn Jahre später habe ich festgestellt, dass sich kaum etwas verändert hat. Wir machen das noch immer so. Niemand hat die Verantwortung übernommen. Niemand hat sich darum gekümmert, dass diese grossen Probleme aus der Welt geschafft werden. Das Traurige daran ist: Es mangelt nicht an Erkenntnissen, sondern am politischen Willen. An diesem Punkt wusste ich, dass ich nicht noch zehn Jahre warten kann. Ich habe dann meinen Job in einem Tattoo-Studio gekündigt. Es ist besser keinen Job mehr zu haben als keine Zukunft!

Zwischenfrage: Aber Ihr müsst ja von irgendwas leben, die Miete muss bezahlt werden. Wie funktioniert das? Über Spenden?

Carla Hinrichs: Ich habe das grosse Glück, dass meine Eltern mich unterstützen. Sie verstehen, dass ich gerade nicht am Schreibtisch sitzen kann. Ausserdem bekomme ich Unterstützung durch Spendengelder, um meine Miete zu bezahlen und ein Mindestmass an Lebensstandard zu haben. Dennoch machen sich meine Eltern natürlich auch grosse Sorgen. Wir begeben uns in Situationen, die nicht ungefährlich sind. Meine Mutter checkt, wenn ich auf der Strasse bin, im Minutentakt unseren Instagram-Account und schaut, ob sie irgendetwas von mir findet. Möglich, dass wir dafür auch länger ins Gefängnis müssen – das wird sich zeigen.

Carla Rochel: Meine Eltern waren am Anfang ziemlich schockiert darüber, dass ich da mitmachen möchte. Inzwischen unterstützen sie das aber auch. Sie verstehen, warum wir das machen. Das Schlimmste für mich war aber zu sehen, wie die Träume meiner Eltern zerplatzen. Die Träume, die sie für mich und meine Zukunft hatten. Auf der anderen Seite sind sie aber auch verzweifelt, weil sie Angst um mich und meinen Bruder haben, wenn wir – was die Erderwärmung angeht – so weitermachen. Und auch um ihr eigenes Leben!

Aimée van Baalen: Ich kann da voll mitgehen. Meine Eltern machen sich auch viele Sorgen. Ich glaube, am meisten verletzt sie aber, dass ihre Tochter gerade all ihre Zukunftspläne, all ihre Träume aufgeben muss. Dass das Leben ihrer Tochter jetzt zum Teil fremdbestimmt wird, weil die Politik nicht macht, was sie eigentlich machen sollte. Und all das für ein Problem, welches nicht massgeblich durch ihre – also meine – Generation verursacht wurde. Das tragen sie ganz schön mit sich rum.

In vielen Ländern stehen Frauen an der Spitze der Klimabewegung – auch bei Euch. Warum ist das so? Wie divers sollte eine politische Bewegung Eurer Meinung nach sein? Sind Frauen gar die besseren Klimaschützer?

Aimée van Baalen: Wenn wir uns die gesamthistorische Bedeutung des Widerstands anschauen, haben Frauen auch in der Vergangenheit eine essentielle Rolle gespielt – auch in den Führungsriegen der Widerstandsbewegungen. Sie wurden jedoch häufig nicht so wahrgenommen, wie ihre männlichen Mitstreiter. Hinzukommt, dass Frauen am stärksten von der Klimakrise betroffen sein werden. Daher ist es sehr wichtig, dass – gerade auch bei zivilem Widerstand – die Frauen gesehen werden. Aber natürlich haben auch Männer dieselbe Bedeutung im Widerstand. Wir stehen schließlich für Gleichberechtigung!

Carla Rochel: Natürlich ist uns bewusst, dass wir viel in der Öffentlichkeit stehen. Und, dass es noch immer keine wirkliche Gleichberechtigung gibt. Die Menschen, die gerade auf die Strasse gehen, kommen aus allen Altersgruppen und Gesellschaftsschichten: Schüler*innen, Rentner*innen oder Menschen, die mitten im Berufsleben stehen. Auf der Strasse sind wir verschieden in Alter oder Geschlecht, aber gleich in der Sache, für die wir eintreten.

Carla Hinrichs: Wir versuchen ein möglichst diverses Bild nach aussen zu vermitteln und Frauen aktiver in den Vordergrund zu stellen. Das gilt auch für Talkshows – wie beispielsweise „Markus Lanz“. In der Sendung sass ich – wohlgemerkt als junge Ex-Studentin – neben dem Justizminister und habe ihm erstmal die Rechtslage erklärt. Das ist natürlich eine Stärke in der Position dann!Laut den Vereinten Nationen sind Frauen und Mädchen von der Klimakrise besonders hart betroffen. Brauchen wir dann nicht auch eine geschlechtergerechte Klimapolitik – sprich, mehr Frauen auf Entscheider-Ebene?

Carla Rochel: Unbedingt! Nicht nur in Sachen Klimaschutz und Klimapolitik. In allen Bereichen ist es wichtig, dass Frauen mitbestimmen und dasselbe Gehör finden wie die Männer. Aber von der Klimakatastrophe sind Frauen – insbesondere im globalen Süden – eben stärker betroffen als Männer. Dennoch haben sie weniger mitzureden. Ganz offensichtlich ist das ungerecht!

Aimée van Baalen: Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass jetzt die nötigen Entscheidungen getroffen werden. Und wenn diese Entscheidungen von Männern getroffen werden, bin ich auch fein damit. Aber grundsätzlich müssen wir natürlich über Geschlechtergerechtigkeit sprechen und darüber, dass diese Gesellschaft eben noch nicht gleichermassen durch die Entscheidungsträger*innen repräsentiert wird. Das ist leider bislang ein grosses Defizit.

Carla Hinrichs: Fakt ist, dass das Problem des menschengemachten Klimawandels massgeblich von Männern verursacht ist. Schon allein deshalb, weil in den letzten Jahrzehnten seit der Industrialisierung deutlich mehr Männer Entscheidungspositionen innehatten. Grosse Konzerne wurden von Männern geführt – und werden es grösstenteils noch. Das bedeutet: Wir müssen massiv etwas ändern. Dazu kann sicherlich auch die Stärkung von Frauen beitragen. Frauen, die in den letzten Jahrzehnten zu wenig hör- und sichtbar waren!

Was nicht legal ist, kann legitim sein. Dennoch: Wie radikal darf – und vielleicht muss – Klimaaktivismus noch werden? Was, wenn trotz Protestaktionen für Euer Dafürhalten zu wenig passiert? Wo liegen Eure Grenzen?

Carla Hinrichs: Wir haben schon jetzt erreicht, dass über uns gesprochen wird. Ich bin davon überzeugt, dass es wenige festlich gedeckte Tische am Weihnachtsabend geben wird, an denen wir nicht thematisiert werden und an denen dadurch nicht auch über die Klimakrise gesprochen wird. Jeden Tag tragen wir die Dringlichkeit zu Handeln in der Öffentlichkeit. Wird gehandelt, sind wir nicht mehr auf den Strassen. Passiert nichts, werden wir auf den Strassen bleiben. Dabei werden wir friedlich bleiben und die Grenze der Gewaltfreiheit nicht verlassen. Das bedeutet aber nicht, dass wir keine Grenzen mehr überschreiten werden. Denn das werden wir, auch wenn wir dafür ins Gefängnis gehen!

Carla Rochel: Ich glaube, wir müssen als Gesellschaft einen Schlussstrich in der Debatte über die Art und Weise unseres Protests ziehen. Vielmehr müssen wir uns jetzt darauf konzentrieren, wie wir es schaffen, in der nächsten zwei bis drei Jahren einen wirklichen Wandel anzustossen. Natürlich können wir unsere Zeit auch damit vergeuden, über Protestformen zu reden und darüber, welchen Sekundenkleber wir benutzen. Aber die Zeit haben wir nicht, sie rennt uns davon!

Aimée van Baalen: Wir können uns doch überhaupt nur darüber unterhalten, was legitim ist und was nicht, denn dieses Land hat die Folgen des Klimawandels bislang nicht ansatzweise zu spüren bekommen. Abgesehen davon, ist die Anwendung von Gewalt vollkommen irrsinnig. Das wird definitiv nie passieren – zumindest nicht von uns ausgehend. Gewalt ist strategisch gesehen nicht zielführend. Sie hat keinen Platz in einer Welt, wie wir sie uns vorstellen. Eine Welt, die sozial gerecht und sicher ist. Dennoch: Solange nicht gehandelt wird, müssen wir kreativ bleiben und Grenzen überschreiten.

Einige Medien bezeichnen Euch als „Klima-Chaoten“ oder „Irre“. Empfindet Ihr es als respektlos, junge Frauen – aber auch Menschen generell – so zu titulieren? Wie reagiert Ihr auf Hasskommentare, Hater und Bedrohungen?

Carla Rochel: Die Nachrichten und Kommentare auf Twitter und Instagram sind schon ziemlich heftig. Da sind auch einige Morddrohungen dabei. Ich für meinen Teil schaffe es nicht mehr, mir das anzuschauen. Begrifflichkeiten wie Klima-Chaoten oder Klima-Kleber sollen davon ablenken, dass unser Protest legitim. Dass unser Anliegen überhaupt nicht diskutiert werden muss. Diese Ablenkdebatte zu führen kostet Zeit die wir nicht haben. Wer sitzt denn mit uns auf der Strasse: Alte Menschen, die eigentlich behütet zu Hause sein sollten und nicht bei Kälte und Regen auf einer Strasse sitzen. Oder junge Frauen, die gerade studieren, eine Ausbildung machen oder einfach Zeit mit Freunden verbringen sollten. Schon allein daher sind diese Titulierungen völlig daneben.

Carla Hinrichs: Es gehört dazu, auf dem Weg zum Ziel erst ignoriert und dann bekämpft zu werden. Wir sind mittlerweile „unignorierbar“ geworden. Könnte man uns ignorieren, würde man es auch tun. Aber man kann uns nicht mehr ignorieren, deswegen werden wir bekämpft. Wir stören jeden Tag genau da, wo wir eben nicht mehr ignoriert werden können. Dafür, dass diese Krise – die viele so gerne aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden lassen würden – jeden Tag auf den Tisch kommt. Mich bestätigt das. Wenn ich sehe, wie die Wut steigt, wie die Menschen teilweise so wütend auf mich sind. Ich bin eigentlich eine friedfertige Person. Aber ich habe noch mehr Angst davor, wie die Menschen sein werden, wenn sie sich um Ressourcen streiten werden. In einer Welt, in der schon wegen einem Stau so viel Hass und Wut freigesetzt wird, in dieser Welt will ich nicht leben, wenn es dann nicht genug Wasser für alle gibt!

Aimée van Baalen: Ich denke, die Medien machen es sich ziemlich leicht. Sie versuchen zu verallgemeinern, indem sie eine stark verkürzende und möglichst hippe Wortschöpfung für die vielen individuellen Schicksale verwenden. Schicksale, die sich ohnehin tagtäglich fragen: Was haben wir für eine Wahl? Abwarten, bis diese Krise schlimmer wird und weiter eskaliert? Bis alles über uns zusammenbricht? Die Antwort – ob es uns gefällt oder nicht – ist, wir haben keine Wahl. Daher sind wir bereit, die Last auf uns zu nehmen, die in Teilen mediale Kritik und Diffamierung zu schlucken und sogar mit Morddrohungen „klarzukommen“.

Nur noch wenige Tage, dann beginnt das neue Jahr. Welche Vorsätze habt Ihr Euch ganz persönlich für 2023 vorgenommen? Wie geht es im nächsten Jahr mit der „Letzten Generation“ weiter?

Aimée van Baalen: Ich habe mir für das Jahr 2023 gar nichts vorgenommen. Ohnehin ist mein Leben derzeit absolut nicht planbar. Wenn ich einen Wunsch formulieren müsste, würde ich mir wünschen, dass ich wieder Zeit habe, mich mit mir und meinen Bedürfnissen auseinanderzusetzen und nicht gezwungen bin, weiter zivilen Widerstand zu leisten. Aber solange ich im Widerstand bin, kann ich keine guten Vorsätze fassen – ausser natürlich, dass wir Erfolg haben werden!

Carla Hinrichs: Der Widerstand hört nicht auf, nur weil ein neues Jahr beginnt. Ich wünschte, wir könnten das neue Jahr mit ernsthaftem Klimaschutz starten und einer Regierung, die Verantwortung übernimmt. Aber solange das nicht passiert, werde ich auch im nächsten Jahr so viel Widerstand wie möglich leisten. Ich kann nur hoffen, dass ich Ende des Jahres 2023 nicht im Gefängnis sitze. Hoffen, dass mein Widerstand nicht mehr notwendig ist und ich wieder Träume und Ziele haben kann.

Carla Rochel: Als ich angefangen habe, mich bei der Letzten Generation zu engagieren, war ich voller Hoffnung und Zutrauen. Ich dachte, dass die Politiker*innen ihre Verantwortung kennen und wir nur einmal Klartext reden, nur einmal „auf den Tisch hauen“ müssen. Meine ganze Hoffnung setze ich im nächsten Jahr in all die Menschen, die nicht mehr tatenlos zuzusehen, sondern sich diesem mörderischen Kurs in den Weg stellen wollen. Das ist es, was mich ins nächste Jahr trägt. Das ist es, was mich auch im zivilen Widerstand immer weiterträgt. Erst heute hat mir ein Vater von einem Gespräch mit seinem ältesten Sohn erzählt. Sein Sohn meinte, es wäre wohl besser, wenn die Menschheit einfach aussterben würde. Der Vater hatte spontan den Reflex zu antworten: „Mach dir keine Sorgen. So schlimm wird es schon nicht werden.“ Doch es ist ihm nicht über die Lippen gekommen. Er konnte es nicht sagen und seinem Sohn dabei in die Augen schauen.

Vielen Dank für das Interview!

Initiative Gesichter des Friedens

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —              2013/14 setzt das „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ die Arbeit mit Realmontagen im öffentlichen Raum fort mit der Serie „Merkel goes to demo“ – hier mit den Chefs der 4 Energiemonopolisten bei einer Demonstration 2014 zur Energiewende

Urheber – Foto: Elke Hollmann

Diese Datei wird unter der Creative-Commons-Lizenz „CC0 1.0 Verzicht auf das Copyright“ zur Verfügung gestellt.

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2.) von Oben      —     Carla Hinrichs, Sprecherin der „Letzten Generation“

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Radikaler Klimaprotest

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Dezember 2022

Warum die »Letzte Generation« toxisch ist – und deshalb gebraucht wird

Die politischen Trolle sollten sich endlich eine Arbeit suchen welche sie beherrschen, aber die finden sie wohl nie!

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Die »Letzte Generation« hat Greta als Feindbild der Dieselfraktion abgelöst. Darin liegt eine Chance für mehr Klimaschutz.

Die »Letzte Generation« hat ein wichtiges und Überlebens-relevantes Anliegen – und trotzdem ist sie gesellschaftlich und politisch sehr problematisch. Die wichtigsten Gründe dafür sind die paniktreibende Weltuntergangskommunikation einerseits und ihre toxische Selbstüberhöhung bis hin zum Erlöserkomplex – wer, wenn nicht wir! – andererseits. Und doch wird die »Letzte Generation« dringend gebraucht. Das hört sich mindestens paradox, eventuell sogar spektakulär unsinnig an. Aber es ist in der gegenwärtigen Eskalation der Klimakatastrophe doch folgerichtig.

Schädliche Weltuntergangskommunikation

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Das Klima-Endspiel

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Dezember 2022

Kipppunkte, Klimagerechtigkeit und die Letzte Generation

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Jürgen Tallig

Der Widerspruch zwischen Geist und Macht ist nicht auflösbar, das könnte die bittere Bilanz sein nach der Klimakonferenz, angesichts einer Menschheit die sehenden Auges, in wilder Konkurrenz weiter in Richtung einer lebensfeindlichen Erde unterwegs ist und sich selbst angesichts der Klimakatastrophe unfähig zeigt, einer kollektiven Vernunft der Überlebenssicherung zum Durchbruch zu verhelfen.

Wir befinden uns auf dem Highway in die Klimahölle,- mit dem Fuß auf dem Gaspedal.“

So hat UN- Generalsekretär Gutteres bekanntlich den Stand der Dinge vor und auch nach der nun schon 27. UN-Klimakonferenz (COP) im ägyptischen Scharm-el-Scheich zusammengefasst, die kurz gesagt ein Desaster für das Klima war.

Die Akteure einer entfesselten, weltweiten Konkurrenz wollen auf der vermeintlichen Erfolgsspur bleiben und sind unfähig und unwillig zu erkennen, dass ihr fossil- mobiler „Way of Life“ in den entropischen Abgrund führt. Dabei stehen alle Warnsignale längst auf Rot.

Durch die Coronapandemie, den schrecklichen Bruderkrieg in der Ukraine und die folgenden globalen Veränderungen auf den Energie- und Rohstoffmärkten, wurden die Klimaproblematik und ihre existentielle Dringlichkeit noch weiter in den Hintergrund gedrängt.

Der aufrüttelnde Sechste Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) wurde kaum wahrgenommen und auch weitere alarmierende Klimastudien haben die Öffentlichkeit und auch die Politik offenbar nicht wirklich erreicht. Die Ampel schaltete nicht auf Grün für das Klima, sondern auf Grün für die Sicherstellung weiterer fossiler Energieversorgung und für die Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums, auch wenn dies inzwischen unübersehbar in die Klimakatastrophe führt.

Auf diese lebensbedrohliche Fehlorientierung der Politik hinzuweisen, ist ein unbestreitbares demokratisches Verdienst der Aktivisten der „Letzten Generation“, die den „Burgfrieden“ eines korporativen fossil-mobilen Kapitalismus zu Recht stören und einen sofortigen Kurswechsel fordern.

Fossile Konterrevolution

Zumal die Anzeichen für einen Rollback in der Klimapolitik immer unübersehbarer werden.

Die Klimakonferenz in der ägyptischen Wüste war das jüngste Beispiel für den Willen von Kapital und Wirtschaft möglichst jede klimapolitische Limitierung zu verhindern und führte zum wohl größten und folgenreichsten Politikversagen der Weltgeschichte beim finalen Klima- Poker. Vielleicht wollte man aber auch gar keine Ergebnisse, sondern diese gerade verhindern. Es scheint fast so.

Welch verbrecherischer Coup.

Die Konferenz brachte außer einer unverbindlichen Bekräftigung des 1,5 Grad-Ziels und einigen unverbindlich zugesagten Almosen für die Opfer der Klimakatastrophe, kein Umsteuern zuwege.

Das gastgebende Militärregime, das vom Westen unterstützt wird, tat alles, um substantielle Ergebnisse zu verhindern,- so wurde ein Vorschlag Indiens und 80 weiterer Länder zum Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen regelrecht sabotiert. Alleine 636 Lobbyisten für Öl und Gas waren anwesend,- offenbar erfolgreich. Es gab deutsche Geschäftsanbahnungen für Erdgas aus Afrika. Und auch in Katar war Deutschland erfolgreich, wenn schon nicht im Fußball, dann wenigstens bei einem großen Deal mit fossilem Erdgas. ,- die Entwicklungen gehen also weiter in die völlig falsche Richtung.

Es zeigt sich eine neue Allianz von reichen ÖL- und Gasstaaten und westlichen Industrieländern.

Es ist sicher nicht übertrieben, von einer fossilen Konterrevolution und einem weitgehenden Scheitern der internationalen Klimapolitik zu sprechen, -trotz erschreckender Klima-Berichte und der unübersehbaren Zuspitzung der Klimakrise.

Die Welt erlebt derzeit eine Art Klima- Amoklauf, mit ungebremsten Investitionen in fossile Brennstoffe und Strukturen, erpresserischem Preissenkungsdruck des Westens (nicht nur gegen Russland) sowie ungebremster Naturzerstörung. Die G7 versuchen ein neues „Preiskartell“ zu installieren, um fossile Energie noch billiger zu machen, anstatt eine globale CO2- Steuer und eine Verteuerung der fossilen Energie, als Königsweg des Klimaschutzes zu betreiben.

Klimapolitik scheint nur noch eine Art Alibi- und Feigenblattfunktion zu haben, beim Great Game um den globalen Kuchen.

Wir sind weiter völlig ungebremst in Richtung Klimakatastrophe unterwegs. Laut einer aktuellen Studie der Weltmeteorologieorganisation WMO, https://library.wmo.int/index.php?lvl=notice_display&id=22083#.Y5HsjMuZMY0

könnte eine Erderwärmung von 1,5 Grad jedoch bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre erreicht sein und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion drohen.

Die Letzte Generation erinnert uns daran.

Die Mächtigen der Welt verschleiern, unterdrücken und bekämpfen die „unbequeme Wahrheit“ (siehe mein Kommentar/Artikel „Die Wahrheit stirbt zuerst“ auf dem Blog Postwachstum).

https://www.postwachstum.de/prioritaet-fuer-wachstum-oder-klimaschutz-20190215

Gefährdung unseres Lebens und unserer Zukunft

Unsere imperiale Wirtschafts-und Lebensweise hat einen zerstörerischen, parasitären Charakter und verheerende planetare Auswirkungen,- sie überlastet und schädigt weltweit die Biosphäre und destabilisiert das Klima- und Erdsystem, gefährdet also das Leben und das Überleben der Menschheit und ist nicht länger möglich.

BRIEF AN DIE BUNDESREGIERUNG von Letzte Generation Herbst 2022 (Auszüge):

https://letztegeneration.de/brief-an-die-bundesregierung/

„…Die Erderhitzung schreitet ungebremst voran. Diesen Sommer war es in Europa so heiß wie noch nie. Urlaubsregionen haben gebrannt, das Grundwasser sinkt teils auf dramatische Pegel und tausende sind an der Hitze gestorben. In Pakistan sind 33 Millionen Menschen von einer Flutkatastrophe betroffen. Über 1500 Menschen starben, darunter 528 Kinder. Den Bereich sicherer klimatischer Bedingungen haben wir längst verlassen.

Sie versprachen uns …, Anstrengungen zu unternehmen, die globale Erderhitzung auf +1,5°C zu begrenzen. Doch das haben Sie nicht getan. Die 1,5°C werden in den kommenden Jahren überschritten werden – voraussichtlich bis 2030 (spätestens J.T.). Wenn wir 1,5° Erderhitzung aber bereits 2030 erreichen (und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion auslösen J.T.), was ist “Klimaneutralität 2045” dann anderes als die Gefährdung unseres Lebens und unserer Zukunft? „.

So ist es, wir können das Klimasystem ganz gewiss nicht noch weitere 23 Jahre überlasten.

Immer weiteres Wachstum gibt es nur noch auf Kosten anderer, des Südens, der Natur und der kommenden Generationen.

Das Klima-Endspiel

“Code Red” – „Alarmstufe Rot“, so beschreibt der Weltklimarat IPCC in seinem jüngsten, nunmehr schon sechsten Sachstandsbericht die Situation. https://de.wikipedia.org/wiki/Sechster_Sachstandsbericht_des_IPCC

Hier eine Passage aus der Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger:

„Falls die globale Erwärmung über 1,5 °C hinausgeht, auch vorübergehend in Form eines Overshoots, dann werden eine Vielzahl menschlicher wie auch natürlicher Systeme zusätzlichen schwerwiegenden Risiken ausgesetzt sein. Abhängig davon, wie groß die Temperaturüberschreitung ausfällt oder wie lange sie andauert, werden manche Klimawandelfolgen eine zusätzliche Freisetzung von Treibhausgasen bewirken. Wieder andere Folgen werden unumkehrbar sein, selbst gesetzt den Fall, dass die Erwärmung später wieder verringert wird.“

Ein „weiter so“ ist also unverantwortlich und führt in die permanente ökologische Katastrophe und zerstört die Reproduktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen,- auch bei uns.

UN-Chef Guterres schlussfolgerte aus dem Bericht:

„Klimaaktivisten werden manchmal als gefährliche Radikale dargestellt. Aber die wirklich gefährlichen Radikalen sind diejenigen, die die Produktion von fossiler Energie weiter erhöhen.“

Und nicht drastisch reduzieren, ist hinzuzufügen.

Noch nie sei die Konzentration an Treibhausgasen in der Erdatmosphäre so schnell gestiegen wie in den vergangenen Jahren. Die Weltklimaorganisation WMO warnte bereits 2017: Wenn der CO2-Gehalt weiter rapide steigt, könnten beispiellose Klimaveränderungen “mit schweren ökologischen und wirtschaftlichen Störungen” ausgelöst werden. Eine derart hohe Treibhausgaskonzentration wie heute gab es zum letzten Mal vor etwa drei bis fünf Millionen Jahren (Klimaerwärmung, Wir vererben einen unwirtlichen Planeten ZEIT ONLINE, 30.10.2017).“

https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-10/klimaerwaermung-treibhausgas-konzentration-atmosphaere-weltwetterorganisation?page=2&utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

Eine brandaktuelle Studie namhafter Klimawissenschaftler mit dem Titel „Klima-Endspiel“ (2022)

verweist auf die bisherige Vernachlässigung und Unterschätzung von Kipppunkten im Klima- und Erdsystem und auf eine bisher viel zu optimistische Einschätzung von Risiken. Eine schnelle Erderwärmung von 3 Grad gefährdet möglicherweise bereits das Überleben der Menschheit

(siehe: Klimakrise: Was passiert bei drei Grad Erderwärmung, Spektrum der Wissenschaften)

https://www.spektrum.de/news/klimakrise-was-passiert-bei-drei-grad-erderwaermung/2044870

Eine weitere neue Klimastudie hat mehr als 200 Forschungsberichte

einbezogen, um abzuschätzen, wann sogenannte Klima-Kipppunkte (CTP) erreicht werden. In der Zeitschrift Science warnen die Autoren, u.a. Johan Rockström, Timothy M. Lenton, David Armstrong McKay, von denen einige 2008 die erste große Arbeit über Kipppunkte veröffentlicht hatten, dass die sich selbst verstärkenden Rückkopplungen schon beginnen und bei über 1,5 Grad Erhitzung irreversibel werden. (Siehe: Neue Klimastudie: Warum wir jetzt handeln müssen, t3n, 09.09.2022)

https://t3n.de/consent?redirecturl=%2Fnews%2Fklimastudie-warnt-5-kippunkte-15-grad-erreicht-klimawandel-1497539%2F

Wir befinden uns längst auch hierzulande in einer chronischen Klima- und Wasserkrise und haben offensichtlich die atmosphärische Zirkulation grundlegend verändert, wie das absonderliche Jo-Jo-Wetter zeigt, das uns regelmäßig arktische Polarluft beschert und die Niederschläge verschoben hat.

Die Klimakatastrophe verhindern- nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht

Die Letzte Generation verteidigt die Rechte und Ansprüche der Jungen und all der kommenden Generationen, die gerade auf dem Altar der Gegenwartsinteressen und des Profits geopfert werden. Sie schreiben weiter in ihrem Brief an die Bundesregierung:

„Wir sind erschüttert, dass Sie als Verantwortliche nicht alles tun, was möglich ist, um uns vor dem Klimakollaps zu schützen. Die Landwirtschaft ist weiterhin nicht nachhaltig, der Verkehrssektor wird nicht umgebaut, gutes Essen wird weiterhin weggeworfen, es wird neue fossile Infrastruktur gebaut…

Wir sind erschüttert, dass Sie als Verantwortliche in diesem Land nicht einmal anstreben, das Notwendige zu tun, um diesen Kollaps des Klimas zu verhindern. Dass die Ziele, die Sie sich setzen, nicht mit der Realität vereinbar sind. Handeln wir jetzt nicht entschlossen und tun nicht alles, was in unserer Macht steht, werden wir unsere Lebensgrundlagen unwiederbringlich vernichten.“

Völlig berechtigte Vorwürfe angesichts der Warnungen der Wissenschaft (siehe: World Scientists’ Warning of a Climate Emergency, 2022).

https://academic.oup.com/bioscience/article/72/12/1149/6764747?login=false

Zudem hatte ja auch das höchste deutsche Gericht in seinem Beschluss zum Klimagesetz von 2021 die Politik zum Handeln aufgefordert, siehe der folgende Auszug aus der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgericht:
„III. Grundrechte sind aber dadurch verletzt, dass die nach § 3 Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 bis zum Jahr 2030 zugelassenen Emissionsmengen die nach 2030 noch verbleibenden Emissionsmöglichkeiten erheblich reduzieren und dadurch praktisch jegliche grundrechtlich geschützte Freiheit gefährdet ist. Als intertemporale Freiheitssicherung schützen die Grundrechte die Beschwerdeführenden hier vor einer umfassenden Freiheitsgefährdung durch einseitige Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft. Der Gesetzgeber – (also die sich jetzt äußernden Politiker, inkl. Bundespräsident) hätte Vorkehrungen zur Gewährleistung eines freiheitsschonenden Übergangs in die Klimaneutralität treffen müssen, an denen es bislang fehlt.“

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html
Die EU und Deutschland haben sich bekanntlich zu Emissionsreduzierungen um 50 bzw. 65 % bis 2030 verpflichtet und zu Null Emissionen bis 2050 bzw. bis 2045, was zwar völlig unzureichend ist, wozu aber natürlich schnellstmöglich emissionsarme Verkehrssysteme notwendig sind. Es gilt, die Subventionen für fossile Energie und fossilen Verkehr sofort umzulenken für erneuerbare Energien und klimafreundlichen Verkehr,- dann wäre sogar ein kostenloser ÖPNV möglich.

Auch eine wirksame, steigende CO2-Steuer könnte direkt zur Finanzierung des ÖPNV beitragen.

Fragt sich nur, welches Gericht real die regierenden Rechtsverletzer auf ihre Verpflichtungen hinweisen und sie zur Verantwortung ziehen wird, für die andauernde Verletzung internationalen und nationalen Rechts. Derzeit werden die Klimaschützer, die auf diese Rechtsverletzungen aufmerksam machen, bestraft und sogar in Vorsorgehaft genommen (bei den Nazis hieß das Schutzhaft),- ja wo leben wir denn?

Der Kampf um Klimaschutz, ist auch ein Kampf um die Demokratie

Was gerade passiert ist Hetze und üble populistische Meinungs- und Stimmungsmache

und kein demokratischer Aushandlungsprozess,- darüber sollten wir uns keine Illusionen machen.

Gegen die Macht der Politik und der Medien anzukommen ist natürlich schwierig,- fossil-mobile Großkonzerne und großes Geld haben einen übermäßigen, undemokratischen Einfluss auf die öffentliche Meinung und politische Entscheidungsprozesse (Lobbyismus).

Klimaschutz zu realisieren bedeutet demnach zuallererst auch, den Schutz und den Ausbau der Demokratie gegen den demokratisch nicht legitimierten, allein auf Macht und Geld beruhenden Zugriff kleiner, aber sehr mächtiger Minderheiten.

Noch einmal aus dem BRIEF AN DIE BUNDESREGIERUNG von Letzte Generation vom Herbst 2022:

„…Es wird ohne unser Zutun immer heißer werden, Milliarden Menschen werden leiden und sterben. Unsere freiheitlich demokratische Grundordnung wird ins Wanken geraten. …

Welches Recht haben wir, ein solches Unheil über zahllose Menschen zu bringen? …Wir alle sind die letzte Generation, die das Schicksal der Menschheit noch anders entscheiden kann.

Wir als Bürgerinnen und Bürger dieser Demokratie tragen Verantwortung. Wir erachten es als unsere Pflicht, alles Gewaltfreie zu tun, was in unserer Macht steht, um dieses Unrecht zu beseitigen.

Die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen einfach hinzunehmen, können wir nicht mit unserem Gewissen vereinbaren.

Wir erwarten…, dass Sie die Demokratie stärken, den Menschen Vertrauen schenken, über ihre Lebensbedingungen in Bürger-innenräten zu entscheiden, dass Sie die Gesellschaft gerechter machen, statt Wenige von der Ausbeutung und dem Leid Vieler profitieren zu lassen…“.

Es ist aller höchste Zeit, zu erkennen, dass es unendliches Wachstum in einer endlichen Welt nicht geben kann, aus politischen, ökonomischen und ökologischen Gründen. Es bedeutet früher oder später Krieg und es bedeutet vor allem eine irreversible Zerstörung der Lebensgrundlagen.

Früher oder später prallen die Interessen auch militärisch aufeinander, wenn man sich nicht beschränken und verständigen will. Es gilt einen Weltenbrand gleich in mehrfacher Hinsicht zu verhindern. Wir entscheiden jetzt über Leben und Tod, über die Zukunft all der vielen Milliarden Menschen, die noch nach uns auf der Erde leben wollen.

Die letzte Generation die die Klimakatastrophe noch verhindern kann

Zum Glück sind wir Menschen und zu Mitgefühl, Solidarität und Liebe fähig; wir sind mehr oder weniger mit Gerechtigkeitssinn und einem Empfinden für Wahrheit und Lüge begabt, nicht wenige auch mit Mut und Uneigennützigkeit,- wir sind nicht nur eine manipulierbare Manövriermasse.

Nein, es gibt einen menschlichen Faktor, mit dem man rechnen sollte…

Mich erinnert die gegenwärtige Situation sehr an die Endzeit der DDR, wo eine nicht lernfähige Machtelite die Zeichen der Zeit nicht erkannte und sich festklammerte an nicht zukunftsfähigen Strukturen und diese mit allen Mitteln verteidigte. Das scheint mir heute ganz ähnlich zu sein.
Auch damals waren es vor allem unangepasste junge Menschen, die für eine Demokratisierung und Reform des Landes aktiv wurden und Ihre Angst überwindend, Freiräume und Veränderungen erkämpft haben und sich die Freiheit nahmen, über ihre Angelegenheiten mit zu entscheiden.
Sie legten den Finger in die Wunden und zwangen das verkrustete System und jeden Einzelnen, sich zu bewegen. Später nannte man sie „Helden der friedlichen Revolution“.
Auch heute befinden wir uns in einer Entscheidungssituation, bei der es aber um sehr viel mehr geht.
Der jüngst verstorbene Michael Gorbatschow sagte seinerzeit sinngemäß: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Ein Satz, der auch heute noch gültig ist und der angesichts von Umwelt- und Klimakrise und Krieg noch eine ganz andere, neue und bedrohliche Dimension bekommen hat.
Wieder sind es vor allem junge Menschen, wie die von „Ende Gelände“ und „Letzte Generation“, die mit hohem Einsatz notwendige Veränderungen und die Einhaltung gesetzlicher Verpflichtungen einfordern. Sie haben das Recht auf ihrer Seite, wenn sie mit friedlichen Mitteln auf die Rechtsverletzungen der Mächtigen aufmerksam machen und gegen die Fortsetzung des

Klimaverbrechens und die Zerstörung ihrer Zukunft protestieren (bloß lasst die Kunst aus dem Spiel!).

Respekt und Bewunderung haben sie ganz gewiss verdient,- doch das alleine reicht nicht.

So gibt es einen Aufruf „Klimaschutz ist kein Verbrechen – Solidarität mit der „Letzten Generation“ von Kulturschaffenden und Künstlern, den bereits 1300 mehr oder weniger Prominente unterschrieben haben: https://klimaschutzistkeinverbrechen.com/
Jeder sollte jetzt entscheiden, was er tun kann für die Bewahrung des Lebens und die Verhinderung der Klimakatastrophe. Es gilt einen Weg des Friedens zwischen den Menschen und mit der Natur zu finden.Der erste Schritt ist vielleicht, sich darüber klar zu werden, dass unsere vermeintliche Normalität keineswegs normal ist, sondern Alarmstufe Rot für das Leben, den Planeten und die Menschheit bedeutet. Wir sind die letzte Generation die die Klimakatastrophe noch verhindern kann, sagte einst Barack Obama.

Entscheidung für das Leben

Die Letzte Generation soll auch das letzte Wort haben, mit Worten die mich sehr berührt haben.

(Es folgen Auszüge aus einem Brief vom 19.11.2022 von Judith Beadle, Charlotte Schwarzer, Miriam Meyer und Elena Thor, vier Aktivistinnen von Letzte Generation, die zu der Zeit in Vorsorgehaft in der Justizvollzuganstalt (JVA) Stadelheim einsaßen, inzwischen aber nach starkem gesellschaftlichem Druck freigelassen wurden):

„ … wenn wir die Chance zum Handeln jetzt verstreichen lassen und in 2-3 Jahren klar ist, dass wir die kritische Grenze überschreiten werden und die Erderwärmung nicht mehr auf ein für uns lebensfreundliches Maß begrenzen können, dann werden wir nicht nur unsere Lebensgrundlage verlieren, sondern auch unsere Hoffnung und Menschlichkeit.

Wir sind eingesperrt, aber auch die Freiheit geben wir nicht auf. Denn was ist das für eine Freiheit, in der wir ungehindert einem zerstörerischen Alltag nachgehen können, in einem System, das mit „Freiheit“ Privilegien meint und uns rücksichtslosen Egoismus als Selbstverwirklichung verkauft? Wenn „Freiheit“ Zerstörung bedeutet und Leid und Tod unzähliger Menschen voraussetzt, dann verabschieden wir uns ohne Bedauern von ihr.

Wir geben nichts auf und wir geben nicht auf. Wir kämpfen für Vernunft und Liebe, angetrieben von der Zuversicht, dass sich die Menschheit noch in diesem letzten Moment für das Leben entscheidet. Wir sind friedlich und entschlossen und wir stellen uns gegen eine Normalität, die nicht länger sein darf. Wir haben uns entschieden: Lieber sind wir Straftäter vor dem Gesetz als mitschuldig am größten Verbrechen der Menschheit. Und wir bitten euch: Schaut hin und entscheidet auch ihr euch für das Leben.“

Jürgen Tallig der Autor war Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig

Weitere Informationen: www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.comDa

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Grafikquellen       :

Oben      —     Christian Bläul, Physiker und Mitglied beim Aufstand der Letzten Generation, spielt Olaf Scholz bei Ölaktion vor dem Bundeskanzleramt, Berlin, 09.07.22 Aktivisten der letzten Generation in Kanzler-Olaf-Scholz-Kostümen verschütten Öl vor dem Bundeskanzleramt

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Schaltet die Gerichte ein!

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Dezember 2022

Wo bleibt die Klage einer Tochter der dritten Einwanderergeneration?

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Ein Schlagloch von Mathias Greffrath

Opfer der deutschen Bildungspolitik könnten vom Klimakrisen-Widerstand lernen. Es braucht eine Ansage von ungefähr 100 Milliarden Euro, damit die Dramatik in die Diskussion kommt.

Ach, das ZDF. Dass es seinen politischen Bildungsauftrag immer erst gegen Mitternacht erfüllt. So neulich wieder mal Markus Lanz. Zuerst die schlimmen Zahlen: 40.000 Lehrer fehlen. Und die neueste Untersuchung zeigt: Wieder erreicht ein Drittel der Schüler nicht die Mindeststandards in Lesen und Mathematik. Dazu die schlimmen Bilder von morschen Klassenzimmerfenstern; der Sanierungsstau beträgt insgesamt 45 Milliarden Euro. Dann wird die arme, arme Bundesbildungsministerin vernommen. Knapp vor ihrer Ernennung schrieb sie noch, der Bildungsföderalismus gehöre abgeschafft; im Frühjahr noch stöhnte sie: Was nottäte, wäre eigentlich ein Fridays for Education, wofür sie von einigen Kultusministern scharf gerügt wurde. Bei Lanz stellt sie nun stolz ein „Start-Chancen“-Programm vor, eine Milliarde, na ja, vielleicht auch zwei, für die 4.000 schlimmsten Schulen, eine Viertelmillion also für jede. Davon können die dann die Klos renovieren oder vier Lehrer einstellen – aber erst ab 2024, bis dahin muss das erst noch geplant und vor allem mit den Ländern abgestimmt werden.

Ach heiliger Erhard Eppler, ehemaliger Bundesentwicklungshilfeminister, du Schutzheiliger aller, die demonstrativ zurücktreten, weil sie ihre Aufgabe nicht erledigen dürfen, die plakativ scheitern und damit für Klarheit sorgen. Es wäre ja schon mal ein schöner Zug, sagt Sascha Lobo, der Zweite in der Runde, wenn Frau Stark-Watzinger mal im Bundestag kräftig auf den Putz hauen würde. Dann verteidigt er die Eltern, deren Lobbykraft nicht für einen Aufstand reicht, weil der ADAC mehr Mitglieder hat als alle Erziehungsberechtigten, die ohnehin überfordert seien mit dem Klein-klein des Alltags. Nein, für gute Schulen zu sorgen sei die Aufgabe des Staates.

Warum der das nicht tut, bringt der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani auf den Punkt: Während Experten den Bremsweg diskutieren, stehen die Praktiker schon kurz vor der Wand. Warum nichts passiere? Pädagogisch wissen fast alle, was zu tun ist, aber anders als beim Klima sei die Bildungskatastrophe noch nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Es braucht einen Wumms, eine Ansage von ungefähr 100 Milliarden Euro, damit die Bedeutung des Problems, die Dramatik und die Notwendigkeit langfristiger Geldausgaben in die Diskussion kommt.

Denn nur durch viel Geld zeigen Politiker, und verstehen die Bürger, dass etwas wirklich ernst genommen wird. Einen Doppelwumms dürfte es aber kosten, wenn auch nur das jüngste Grundschul-Gutachten der Kultusministerkonferenz ernst genommen würde, und zwanzig Jahre dürfte es dauern. Zurück in die mitternächtliche talk-Runde. Das Geld zu beschaffen, wäre trotz Schuldenbremse kein Problem, man bräuchte nicht einmal die Kaschierung über Sondervermögen, trug die kluge Ökonomin in der Runde, Philippa Sigl-Glöckner, bei. Klingt plausibel, kann ich aber hier in Kürze nicht erklären. Schwieriger wird es bei der Frage, woher die Lehrer kommen sollen, wo doch jetzt schon die Hälfte der Lehramtsstudenten spätestens dann, wenn sie mal in einer Schule waren, das Studium abbrechen. Offenbar brauchen wir eben nicht nur eine pekuniäre, sondern auch eine pädagogische Revolution. Auch dafür erinnere ich mich an mehr als genug gute Ideen.

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Werfen wir doch nur einen Blick  auf unsere Politiker-innen, dort sehen wir doch wo die Bildung im Land angekommen ist. Wo liegt denn die Großstadt mit Namen Dummhausen?

Resümee: Alle wissen, was zu tun ist, aber keiner tut es. Die Parallele zur Klimakatastrophe ist schlagend. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir in zehn Jahren eine schlimme Lage erzeugt haben: Unterqualifikation, Wachstumsschwund, Steuerausfall – und Millionen Kinder nicht für ein halbwegs erträgliches und selbst bestimmtes Leben ausgestattet. Die Einschränkung von Lebenschancen aber ist eine Einschränkung von Freiheit – so die Argumentation, mit der das Bundesverfassungsgericht vor zwei Jahren das unzulängliche Klimagesetz der Regierung kippte und das Recht auf „intertemporale Freiheitssicherung“ in die Runde warf. Möglich wurde das, weil Sophie Backsen von der Insel Pellworm gegen die Regierung geklagt hat: die Unterlassungen in der Klimakrise von heute beschädigten ihre Freiheitsräume in ferner Zukunft. Und sie hat Recht bekommen.

Kürzlich hat das Gericht ein Recht auf den „unverzichtbaren Mindeststandard von Bildungsangeboten“ proklamiert, auf „gleichen Zugang zu Bildungschancen“, welche die „Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu Persönlichkeiten ermöglichen, die ihre Fähigkeiten und Begabungen entfalten und Selbst bestimmt an der Gesellschaft teilhaben können“. Das ist zum einen eine Aufforderung an Lehrer und Bildungsforscher, mal zu definieren, was für humanistische Exportweltmeister „unverzichtbar“ ist. Das kann dauern.

Aber da mit jedem Jahr Bildungschancen zerstört werden: Wo bleibt die Klage einer aufgeweckten 13-jährigen Tochter der dritten Einwanderergeneration aus Essen-Altenessen oder des dreijährigen Sohns einer alleinerziehenden Mutter aus München-Milbertshofen: für eine Schule, die in Ausstattung, Standards und Lehrer-Schüler-Quote der besten Schulen des Landes nicht nachsteht? Wenn die parlamentarischen Prozesse im Parallelogramm der gelähmten Kräfte verharren – vielleicht hilft ja die Besinnung auf ein paar Werkzeuge der politischen Aufklärung: die Gewaltenteilung und das Verfassungsrecht.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —      Festakt 60 Jahre Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit am 10. Mai 2018 in der STATION BerlinBettina Stark-Watzinger

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Irgendwas mit Internet:

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Dezember 2022

Der Digitalgipfel als verschenkte Chance – wieder einmal

Ein Gespräch zwischen einen Wissenden und nichts wissen wollenden Politiker ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Eine Kolumne von 

Der Digitalgipfel ist nicht mehr zeitgemäß. Wirtschaftliche Vertreter:innen dominieren auf den Bühnen, zivilgesellschaftliche Vertreter:innen dürfen hingegen nur am Katzentisch im Publikum Platz nehmen. Das zeigt leider, dass die Bundesregierung die Gestaltung der Digitalisierung noch immer vor allem als Wirtschafts- und nicht als Gesellschaftspolitik versteht.

Seit 2006 findet jährlich der Digitalgipfel statt. Die zentrale Veranstaltung der Bundesregierung zum Thema Digitalisierung will eine Messlatte dafür sein, welchen Stellenwert gesellschaftliche Fragestellungen der Digitalisierung gerade erfahren.

16 Jahren lang regierte die CDU/CSU mit ihrem Fokus allein auf wirtschaftliche Aspekte der Digitalisierung. Die Union verstand das Internet in dieser Zeit vor allem als eine Infrastruktur, die viele Chancen für eine umfassende Überwachung bot.

Vor einem Jahr machte der Ampel-Koalitionsvertrag große Hoffnung auf eine Wende. Der Text enthält viele Forderungen einer engagierten digitalen Zivilgesellschaft, für viele stand der Vertrag daher für das Versprechen, dass nun alles anders, alles besser würde.

Im Koalitionsvertrag suggerierte die neue Bundesregierung, dass sie endlich begriffen hat, dass Netzpolitik nicht nur Wirtschafts-, sondern vor allem Gesellschaftspolitik ist. Ein Jahr später macht sich jedoch große Ernüchterung breit, die Realität bildet diese Hoffnung leider noch nicht ab. Und dieser erste Digitalgipfel der aktuellen Ampel-Koalition zeigt das recht anschaulich anhand der gesetzten Themen und am Beispiel der Repräsentanz.

Show-Cases vor meist leeren Rängen

Auf der Webseite zum Gipfel finden sich blumige Worte: „Digitalisierung betrifft uns alle Unternehmen wie Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaft wie Gesellschaft. Der Digital-Gipfel ist eine Plattform der Bundesregierung zur gemeinsamen Gestaltung eines zukunftsfähigen Rahmens für den digitalen Wandel.“

Und natürlich soll alles anders werden: „In der neuen Legislatur sollen ihn neue Formate, konkrete Ergebnisse und internationale Impulse zum Impulsgeber, Treiber und Schaufenster der Digitalisierung in Deutschland und darüber hinaus machen.“ So weit, so gut.

Vor Ort zeigt sich ein anderes Bild. Am ersten Tag präsentieren auf den zwei Bühnen vor allem wirtschaftliche Vertreter:innen vor meist leeren Rängen ihre jeweiligen „Show-Cases“. Es geht um die eigenen Geschäftsmodelle, das inhaltliche Niveau liegt dabei auf Einsteigerlevel einer Verkaufsshow auf einer regionalen IT-Messe, viele Reden bestehen aus einer Aneinanderreihung von Buzz-Wörtern. Würde eine Künstliche Intelligenz die Vorträge schreiben und vorlesen, man würde meistens keinen Unterschied bemerken.

Die Zivilgesellschaft darf zusehen

Im Programm fehlen zivilgesellschaftliche Stimmen und ihre gemeinwohlorientierten Perspektiven. Also die Perspektiven von Bürger:innen und der Gesellschaft, die im Ankündigungstext versprochen werden. Es zeigt sich dasselbe Bild wie seit 2006.

Nachdem wir vor drei Wochen hier auf fehlende Repräsentanz zivilgesellschaftlicher Stimmen hinwiesen, passierte etwas: Viele zivilgesellschaftliche Akteure waren verwundert, dass sie plötzlich Einladungen aus dem Wirtschafts- und dem Digitalministerium erhielten. Dabei ging es nicht darum, dass sie auf den Bühnen mitdiskutieren. Stattdessen dürfen sie nur als Besucher:innen zuschauen, wie „digitalpolitische Herausforderungen sowie Lösungsansätze“ von Vertreter:innen der Politik und Lobbyist: innen aus der Wirtschaft diskutiert werden.

All das zeigt: Dieser Digitalgipfel ist nicht mehr zeitgemäß und sollte nicht weitergeführt werden. Und er ist eine verschenkte Chance, eine Debatte darüber führen zu wollen, wie die die digitale Gesellschaft gemeinsam und zukunftsfähig gestaltet werden kann.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen      :

Oben     —     re:publica 2022: von links: Markus Beckedahl (Co-Founder re:publica und Gründer von netzpolitik.org) und Volker Wissing (Bundesminister für Digitales und Verkehr) bei der Session ‚Das Momentum nutzen!‘

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Die Wildnis als Störfall?

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Dezember 2022

Der Kampf um den Artenschutz

Tiervielfalt Oktober 2007.jpg

Von Heike Holdinghausen

Im Winter, wenn das Gras wieder knapp wird, werden die Wisente im Wittgensteiner Rothaargebirge Rinde fressen – und damit den Zorn der Waldbesitzer auf sich ziehen. Einst bewohnten die riesigen zottigen Wildrinder Europas Wälder, doch das ist lange her. In Westeuropa ist das mächtige Rind seit 1000 Jahren ausgestorben, in Mitteleuropa seit etwa 500 Jahren. Im Osten – in Polen, Rumänien, dem Kaukasus – konnte es sich länger halten, bis es auch dort verschwand. Heute lebt es in Osteuropa wieder, als Rückzüchtung aus nur zwölf Exemplaren.

Die genetische Basis ist eng, der Erhalt der Art deshalb ungewiss. Ein europäisches Netzwerk engagierter Enthusiasten – Mitarbeiter von Zoos, Nationalparks, Naturschutzverbänden und Freiwillige – setzt sich für sie ein. Es organisiert den kostspieligen Transport von Bullen quer durch Europa in neue Herden, um weitere Inzucht zu vermeiden. Es versucht, die Bevölkerung über Wisente aufzuklären, Begeisterung für sie zu wecken und neue Lebensräume für sie zu finden. Doch das ist schwer. Wisente sind zwar nicht aggressiv, aber stark und wehrhaft. Und, was vor allem Widerstand auslöst: Im Winter schälen sie auf der Suche nach Nahrung die Rinde von Buchen oder Eichen. Die Bäume verkrüppeln, zeigen Narben, wachsen schief. Das stört zwar die Bäume nicht, aber Waldbesitzerinnen und Försterinnen, auch wenn sie sich der nachhaltigen Forstwirtschaft verschrieben haben. Denn: Schiefe, vernarbte Bäume sind weniger wert.

Nachhaltigkeit im Forst bedeutet heute: Es werden immer so viele wertvolle Bäume geerntet wie nachwachsen können. Durch kluge Wirtschaft sorgen Försterinnen dafür, dass die Bäume hoch, gesund und gerade zu Bau- oder Möbelholz heranwachsen. Dann ist der Forst für die Besitzerinnen – seien das Kommunen, der Bund, Bauern oder adelige Familien – eine grüne Sparkasse. In dieser gut gepflegten Geldanlage haben Wisente keinen Platz. Gerade erst ist hierzulande ein Projekt gescheitert, in dem sich die Rinder Lebensraum zurückerobern sollten, mitten in einer industriellen Kernregion Europas, in Nordrhein-Westfalen: Nach zehn Jahren Widerstand und Gerichtsprozessen von Waldbauern hat sich der Trägerverein der Wisente aus dem Projekt zurückgezogen.

Natur- und Artenschutz: Alles andere als konfliktfrei

Das gescheiterte Wisent-Projekt ist wie ein Kaleidoskop, in dem sich Möglichkeiten, Wunschträume und Probleme von Natur- und Artenschutz in Deutschland schütteln und in immer neuer Zusammensetzung betrachten lassen. Naturschützer nennen die Rinder eine charismatische Art, wie Tiger in Indien oder Elefanten in Afrika, urwüchsig und wild. Sie werben mit dem Schutz solcher Arten, weil sie Emotionen bei den Menschen wecken. Sie sollen die Rolle der Zugpferde übernehmen, die den Karren des Biotopschutzes ziehen. Wer Elefanten schützt, schützt die Savanne, wer Tiger rettet, erhält den Regenwald – und damit Lebensräume für eine Unzahl anderer, unscheinbarerer Pflanzen und Tiere.

Wisente könnten diese Aufgabe in den Forsten des Rothaargebirges übernehmen und etwas Wildnis zurückbringen in die Fichten- und Buchenplantagen, die den mit dem Klimawandel einhergehenden Stürmen, der Hitze und den Borkenkäfern zunehmend nicht mehr gewachsen sind. Wenn sich die Wisente etablieren, wird der Forst wieder mehr zum Wald. Das ist der Wunschtraum. Doch für die Waldbauern ergibt sich ein anderes Bild: Die Rinder gefährden die Finanzplanung ihrer Betriebe, die Tiere drohen sie vom rentablen Forstbetrieb zum Empfänger von Entschädigungsgeld zu verwandeln. Für die Waldbauern sind Wisentherden daher kein Gewinn, sondern eine Bedrohung.

Von Wittgenstein nach Montreal

Und die Bevölkerung? Sie brachte den Tieren Unterstützung und Wohlwollen entgegen, begegnete ihnen aber auch mit Furcht und Ablehnung. Es lässt sich, wo Wisentkälber leben, nicht mehr so unbedarft mit dem Hund durch den Wald streifen, wie wir es mittlerweile gewohnt sind. Der Wald ist heute kein Ort mehr, an dem wir Gefahren erwarten, sondern allein Entspannung – anders als im Straßenverkehr der Städte. Und so schob sich das Wisent-Kaleidoskop am Ende zu der einen Frage zusammen: Warum sollen wir diese großen, starken Tiere in unserer Kulturlandschaft ertragen? Die Frage war größer als die Antwort, und so sieht es derzeit nicht danach aus, als ob die streng geschützten Tiere im Rothaargebirge eine Zukunft hätten. Niemand weiß, was mit den rund 20 Tieren geschehen wird.

Montreal Montage 2020.jpg

Das Wisent-Projekt in Wittgenstein ist nicht typisch für den Artenschutz, wie er heute in Deutschland praktiziert wird. Selbst Umweltverbände kritisieren hinter vorgehaltener Hand ein schlechtes Management, die unzureichende Kommunikation mit der Bevölkerung und zweifeln seine Sinnhaftigkeit in der dicht besiedelten Region an. Übrig bleibt die Erkenntnis, wie unglaublich schwierig der Interessenausgleich zwischen Mensch und Natur ist.

Diese Erkenntnis führt uns direkt von Wittgenstein nach Montreal, wo Mitte Dezember die wichtigste UN-Konferenz des Jahres stattfindet, wichtiger als die Klimakonferenz in Ägypten: Die 196 Vertragsstaaten des „Übereinkommens über die biologische Vielfalt“ (Convention on Biological Diversity, CBD) verhandeln einen neuen Rahmenvertrag, um die belebte Natur zu schützen, ihre nachhaltige Nutzung zu definieren und zu regeln, wer an ihrem Reichtum verdienen darf. (Die USA sind übrigens nicht dabei, Russland und China schon). Während in Scharm el-Scheich gerungen wurde, wie der Klima-Rahmenvertrag umgesetzt wird, wird er in Montreal neu geschrieben

Der alte Vertrag war vor zwei Jahren ausgelaufen und sollte eigentlich 2020 im südchinesischen Kunming neu verhandelt werden, doch wegen der Coronapandemie wurden alle Konferenzen immer wieder verschoben oder, zur Frustration der Beteiligten, ins Digitale verlegt. Die Präsidentschaft Chinas ist geblieben, als neuer Verhandlungsort aber ist Montreal bestimmt, der Sitz der CBD. Montreal, so die Hoffnung, solle das Momentum für den Schutz der Biodiversität schaffen, das Paris für den Klimaschutz bedeutet hat – der Durchbruch für ernsthafte globale Anstrengungen, zumindest auf Ebene der Verträge.

Denn die für uns alle so wichtige Biodiversität – Vielfalt der Arten, Vielfalt der genetischen Ausstattung innerhalb der Arten und Vielfalt der Ökosysteme – ist massiv bedroht. Mit dem Wegfall dieser Vielfalt drohen unfruchtbare Böden, dreckiges Wasser und eine sinkende Resilienz der Natur (deren Teil der Mensch ist!) gegenüber Krankheiten und Klimaveränderungen. Mehr noch als der Klimawandel ist der Verlust der biologischen Vielfalt Ergebnis und Symbol eines Wirtschaftens, das die Ressourcen des Planeten übernutzt.

Quelle       :         Blätter-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —     Eine Collage, die die Tiervielfalt anhand eines vorgestellten Bildes darstellt.

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Unten          —        Dies ist eine Montage von Montreal für 2020

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Zur Innenministerkonferenz:

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Dezember 2022

Für die Vorratsdatenspeicherung, gegen „radikale“ Klima-Aktivist:innen

Nicht die mutigen Klima-Aktivist-innen sind das Problem in diesem Land – sondern einzig die gierigen Politiker-innen welche aus finanziellen Vorteilen, für die eigenen Taschen, die Situation um runde 50 Jahre verschlafen haben. Sie alleine sind die radikalen Schuldigen in ihrer Machtbesessenheit. 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von      :   

Die Innenminister-innen von Bund und Ländern fordern unisono die anlasslose Vorratsdatenspeicherung. Außerdem wollen sie härter gegen Klima-Aktivist-innen vorgehen. Die Sicherheitsbehörden des Bundes sollen dazu ein umfassendes Lagebild erstellen.

Zum Abschluss ihrer dreitägigen Konferenz in München haben die Innenminister-innen von Bund und Ländern ihre restriktive Linie bekräftigt. Auf der Agenda standen unter anderem die Neuregelung der Speicherung von IP-Adressen und die Proteste „radikaler Klima-Aktivisten“ – also jener Menschen, die mithilfe von zivilem Ungehorsam mehr Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe einfordern.

Bei der abschließenden Presse-Konferenz am Mittag zeigte sich Bundesministerin Nancy Faeser (SPD) erfreut, dass sich die Innenministerkonferenz (IMK) einstimmig für die Speicherung von IP-Adressen ausgesprochen hat. Das wird den Konflikt um die anlasslose Vorratsdatenspeicherung innerhalb der Ampel-Koalition weiter anheizen.

Die Ministerin verwies auf das von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) präferierte Quick-Freeze-Verfahren. Dieses stelle aus Sicht Faesers nur eine „Methodik“ dar, die jedoch notwendigerweise auf die Speicherung von IP-Adressen angewiesen sei, um Täter-innen schwerer Verbrechen zu ermitteln. Einige Provider würden hierzulande derzeit „gar nichts mehr“ speichern, was sich daher ändern müsse. Die Sozialdemokratin ist nach eigenen Angaben optimistisch, dass sich die Bundesregierung „bald“ einigen werde. Wie ein Kompromiss aussehen könnte, ließ sie allerdings offen.

Faeser vs. Buschmann

Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) erteilte dem Quick-Freeze-Verfahren ebenfalls eine Absage, weil es „keinen Erfolg“ verspreche. Stünden den Behörden hingegen IP-Adressen zur Verfügung, erhöhe sich der Ermittlungserfolg, so Beuth. Daher seien die Länder übereingekommen, dass sie die Bundesministerin „sehr unterstützen in ihren Bemühungen, gegenüber dem Justizminister zum Erfolg zu kommen“.

Damit dürften sich die Fronten in der Ampel-Koalition bei diesem Thema weiter verhärten. Erst vor gut drei Wochen hatten sich die Justizminister-innen der Länder noch gegen eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen und damit Buschmann den Rücken gestärkt.

Wenige Tage zuvor hatte der Bundesjustizminister einen Entwurf für das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren vorgelegt, das der vom Europäischen Gerichtshof abgelehnten Vorratsdatenspeicherung nachfolgen soll. Der Entwurf sieht vor, dass Telekommunikationsanbieter künftig Verkehrsdaten mit möglichem Bezug zu Straftaten einen Monat lang speichern müssen, damit Ermittlungsbehörden sie nutzen können.

Bundesinnenministerin Faeser spricht sich hingegen schon seit längerem für die massenhafte, anlasslose Speicherung von IP-Adressen aus – ungeachtet klarer Absagen durch den Europäischen Gerichtshof und obwohl der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP eine solche Speicherung für die Zukunft dezidiert ausschließt.

Klima-Aktivist-innen als „kriminelle Vereinigung“ im Visier

Ähnlich geeint wie bei der Vorratsdatenspeicherung zeigte sich die IMK bei der Bewertung „radikaler“ Klima-Aktivist-innen. Die Innenminister-innen von Bund und Länder entschieden, die Aktivist-innen stärker beobachten zu lassen. Sie forderten die Sicherheitsbehörden des Bundes auf, ein bundesweites Lagebild zu deren Blockade-Aktionen zu erstellen.

Beuth sagte, die Gesellschaft werde durch die „politischen Erpressungsversuche“ der „radikalen, sogenannten Aktivisten […] gegängelt und genötigt“. Weil dies kein friedlicher Protest mehr sei, müssten die Sicherheitsbehörden prüfen, ob es sich bei den Aktivist-innen um eine „kriminelle Vereinigung“ handele, „die arbeitsteilig und bundesweit organisiert vorgeht“.

Dafür setzt sich auch Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) ein. Er sagte bereits gestern der Leipziger Volkszeitung, dass die Strafverfolgungsbehörden klären müssten, ob bei den Klimaprotesten „netzwerk- oder gruppenartige Strukturen“ vorlägen und „wer die Steuerung“ innehabe. „Wenn sich sogenannte Aktivisten an Kunstschätze oder auf Straßen oder auch auf Landebahnen kleben […], sind das schwerwiegende Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit.“ Die Politik müsse daher „vor die Lage“ kommen.

Ins gleiche Horn stieß Schusters bayerischer Amtskollege Joachim Hermann. Er bezeichnete die Letzte Generation als „straffe Organisation“ und verteidigte zudem die Präventivhaft, auch wenn diese „die Ausnahme“ bleiben werde, wie er auf der heutigen Pressekonferenz sagte, etwa wenn Leib und Leben gefährdet seien.

Bayern geht im bundesweiten Vergleich massiv gegen den zivilen Ungehorsam der Klima-Aktivist-innen vor. Zuletzt waren 19 von ihnen ohne Gerichtsverfahren für fast zwei Wochen in Präventivhaft genommen worden, um weitere Straßenblockaden zu verhindern. Möglich macht dies das umstrittene Polizeiaufgabengesetz, das härteste Polizeigesetz seit 1945. Die letzten der inhaftierten Aktivist-innen kamen am vergangenen Wochenende frei.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen      :

Oben     — Innenministerkonferenz in München: Freitag, 2. Dezember 2022

Innenminister Joachim Herrmann hat als Schwerpunkte den Schutz Kritischer Infrastrukturen, die Warnung der Bevölkerung in Katastrophenfällen, die finanzielle Verantwortung des Bundes beim Bevölkerungsschutz, die verbleibenden Spielräume bei der Speicherung von IP-Adressen, die Bekämpfung von Kinderpornografie und aktuelle Herausforderungen der Asyl- und Flüchtlingspolitik angekündigt.

Veranstaltungsdatum: 02.12.2022

Veranstaltungsort: München

Bildnachweis: Sebastian Widmann

Fotos und Videos können für redaktionelle Berichterstattung frei genutzt werden – Videos auch ohne Quellenhinweis.

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Unten      —     Letzte Generation Blockadeaktion Klimademo Karlsplatz Stachus München 2022-11-07 20-34-35

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Schocktherapie for future

Erstellt von DL-Redaktion am 30. November 2022

Was kann ein Klimt-Bild für den Klima-Kollaps?

Ein Schlagloch von Robert Misik

Nur mit gemäßigten Aktionen könne man Mehrheiten gewinnen, wird den Klimaschützern gern vorgehalten. Aber so einfach ist das nicht. Was kann ein Klimt-Bild für den Klima-Kollaps? Diese Kausalfrage drängt sich nicht nur Spießern auf!

Wann die „Gegenwartskunst“ begann, ist umstritten. Gerne wird der abstrakte Expressionismus als Endpunkt der klassischen Moderne markiert und der Beginn der „Gegenwartskunst“ mit dem Jahr 1954, als Jasper Johns mit „Flag“ einen Alltagsgegenstand umformte – die US-Flagge eben. Es war ein erstes Wetterleuchten dessen, was später „Pop Art“ genannt wurde. Manche würden wiederum als erste Ikonen der „Gegenwartskunst“ die Suppendosen-Bilder von Andy Warhol nennen, die einen Konsumgegenstand reproduzierten, den jeder kannte. Jüngst haben Klimaschützer ein Van-Gogh-Bild mit Suppe überschüttet, und der Liebhaber subversiver Selbstreferenzialität in mir hätte natürlich ersehnt, dass Campbell-Suppe über Warhols Campbell-Siebdrucke geschüttet worden wäre. Nun, man kann nicht alles haben.

Dass die radikalen Protestaktionen der Klimaaktivisten nicht nur auf Kunst abzielen, sondern auch Stilmittel avantgardistischer Provokation zitieren (vielleicht nicht mal bewusst), ist ja vielfach bemerkt worden, von der Anti-Kunst des Dadaismus bis über die Schüttbilder von Nitsch, die Übermalungen von Arnulf Rainer oder die Schockstrategien der Aktionskunst. „All art is propaganda“, bemerkte schon George Orwell, und so ist auch jede Zerstörung von Kunst zugleich Kunst und Propaganda. Oder so.

Natürlich kann man gegen die Attacken auf Kunstwerke einiges einwenden, obwohl bisher keine Kunstwerke zerstört werden, sondern vor allem Glasscheiben beschmutzt oder beschädigt wurden, hinter denen sich die Kunstwerke befanden. Ein Einwand wäre: Die Aktionen zwingen Museen, ihre Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen, was nicht nur Geld kostet, sondern Museen zu Hochsicherheitsinstitutionen machen kann, und das macht die Welt bestimmt nicht besser. Auch ist bei Protestaktionen zweifellos empfehlenswert, dass die konkrete Aktion des zivilen Ungehorsams in einem nachvollziehbaren Verhältnis zur Botschaft steht. Man besetzt, wenn man gegen Panzerlieferungen protestiert, ja auch eher Panzerfabriken und nicht die Wohnung von Herrn und Frau Maier. „Was kann ein Klimt-Bild für den Klimakollaps?“, die Frage drängt sich nicht nur Spießern auf, die sowieso keine Protestaktio­nen gut finden würden, also auch nicht, wenn man sich im Morgenverkehr an seinen SUV anklebt. Wenigstens die Spur einer kausalen Assoziationskette kann aber sicher nicht schaden.

Revolution ja, aber schmutzig soll nichts werden. „Extremisten“ und gar „Klimaterroristen“, werden die Aktivisten gescholten, was natürlich Unfug ist. Die Aktionen sind nicht extremistisch, aber sie sind, wie das ein Aktivist nannte, „drastisch“. Das Problem an drastischen Aktionen dieser Art ist, dass sie Mehrheiten abschrecken und womöglich sogar jene gegen die Anliegen der Engagierten aufbringen, die diesen eigentlich mit Sympathie gegenüberstehen.

Aber die eigentlich interessante Streitfrage ist: Sollen Bewegungen, die eine Gesellschaft radikal verändern wollen, eher Aktionen setzen, die von Mehrheiten sofort unterstützt werden können? Oder ist es erfolgversprechender, auf drastische Weise vorzugehen, um einerseits Mehrheiten zu schockieren und andererseits entschlossene Minderheiten zu aktivieren? Auf diese Schlüsselfrage gibt es keine ganz leichte Antwort, gerade wenn man die Lehren der Geschichte berücksichtigt. Engagierte Minderheiten können Gesellschaften oft besser verändern als Warmduscher, die immer die Zustimmung von allen Seiten ersehnen.

Bringen wir etwas Systematik rein: Zunächst einmal kann man natürlich zu bedenken geben, dass die freundliche Art des Aktivismus, wie sie bisher „Fridays for Future“ setzte und etwa Greta Thunberg zu einer globalen Celebrity machte, viel freundlichen Zuspruch und Solidarität erntete, aber nicht die erwünschten Erfolge hatte, nämlich die entschlossene Öko-Wende. Nur ist mit dem Einwand noch nicht gesagt, dass ein radikaleres Vorgehen erfolgreicher gewesen wäre. Höchstwahrscheinlich wäre es noch „erfolgloser“ gewesen, wenn man unter „Erfolg“ klare, messbare Konsequenzen versteht.

Die Gefahr bei radikalen Aktionen ist nicht nur die der „Kriminalisierung“ des Protestes, sondern vor allem die gesellschaftliche Isolation der Engagierten. Die Gefahr beim moderaten Engagement ist allerdings, dass man wegen des Wunsches, anschlussfähig an Mehrheiten zu bleiben, die gesellschaftsverändernden Forderungen und Programmatiken so weich spült, dass am Ende kaum etwas davon übrig bleibt. Oder im schlimmsten Falle, dass man sich an eine imaginierte Mehrheit so anschmiegt, dass man unfähig wird, diese Mehrheit in die eigene Richtung zu verschieben.

Das ist nicht trivial, wie man andauernd vorgeführt bekommt. Quer über den Globus hat in den vergangenen Jahren eine harte Rechte Politik und Diskurse massiv verändert, und zwar nicht, indem sie „gemäßigt“ oder „vernünftig“ vorging, sondern durch den Extremismus und das tägliche Gift der Verrohung, mit dem sie ganze Gesellschaften kontaminiert hat. Trump, Meloni & Co haben ja nicht Erfolg, weil sie sich sanft und schmeichelweich geben, sondern indem sie rabiat und aggressiv agieren, während die Gegenseite eher defensiv und „vernünftig“ ist.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —          Die Illustration zeigt zwei Bildrahmen: 1) Einen übergewichtigen Mann, der allein unter der ihn verbrennenden Sonne in einer wüsten Landschaft zwischen Tierknochen und ohne lebende Tiere oder Pflanzen sitzt 2) Ein Paradies mit vielen verschiedenen Tieren und Pflanzen, die in Harmonie mit Menschen leben Die Illustration wurde für eine Ausgabe eines Vegan-Magazins in Österreich gemacht, aber nicht verwendet. Sie zeigt die Probleme, die durch Tierausbeutung verursacht werden. Ergänzend steht am Bild: „Sie habend die Wahl … noch.“

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Unten          —         Fotoaktion des Aufstands der Letzten Generation vor dem Reichstag, Berlin, 02.07.2022

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Radikale Klimaproteste

Erstellt von DL-Redaktion am 26. November 2022

Dringend benötigte Störenfriede

Wo Politik Hass sät – kann sie keine Liebe ernten ! Erst wenn sich die Demonstrant-innen den Politiker-innen und derer Zuhälter-innen an die Backen kleben erfolgt das Erwachen – ob vorne oder hinten ist egal – wenn der Kleber auch eine schwammige Masse hält !

Ein Essay von Bernhard Pötter

Die Aktionen der Letzten Generation polarisieren: Sie zwingen uns, die Komfortzone zu verlassen. Das tut weh, aber nur so hat Klimaschutz eine Chance. Die unbändige Wut auf die letzte Generation liegt in unserem schlechten Gewissen begründet.

Kaum saß ich im Auto und war losgefahren, wusste ich: Das war ein Fehler. Ich wollte quer durch die Stadt, kam aber kaum voran. Baustellen, Sperrungen, neue Fahrradstraßen bremsten mich. Je länger die Fahrt dauerte, desto gereizter wurde ich. Das Schlimmste: Normalerweise lege ich die Strecke mit Fahrrad und S-Bahn doppelt so schnell und doppelt so bequem zurück. Ich wusste also: Ich war selbst schuld an meinem Problem. Und ich kannte auch die Lösung.

Ähnliches gilt für die Reaktion der deutschen Politik und Gesellschaft auf die Blockaden der Letzten Generation. Da wird inzwischen ganz großes Geschütz aufgefahren gegen Menschen, die kurzzeitig den Verkehr stören, sich widerstandslos abführen lassen und friedlich vor den zuständigen Gerichten erscheinen. Als am Donnerstag AktivistInnen auf die Startbahn des Berliner Flughafens vordrangen und den Betrieb für 90 Minuten lahmlegten, sprach Innenministerin Nancy Faser davon, diese „neue Eskalationsstufe“ sei „absolut inakzeptabel“ und „zerstöre wichtige gesellschaftliche Akzeptanz“ für den Klimaschutz. Andere warnten, die „Kriminellen“ würden „immer skrupelloser“.

Woher stammt diese Wut aus weiten Teilen der Politik, Medien und Gesellschaft gegen Menschen, die sich für ein allgemein akzeptiertes Ziel einsetzen? Sie kommt aus unserem schlechten Gewissen: Die AktivistInnen führen uns vor Augen, dass der liebgewordene Alltag und unsere eingespielten Routinen uns immer tiefer in der Klimakrise treiben. Sie machen uns deutlich, dass unser beruhigendes „Business as usual“ im langsamen demokratischen Prozess potenziell katastrophal ist. Sie kleben uns eine in unserem Denken und Fühlen, dass zukünftige Sicherheit darin liegt, im Hier und Jetzt alles beim Alten zu belassen.

Diese Erkenntnis ist ja wirklich beunruhigend. Gerade in Krisensituationen wie Corona oder Krieg ziehen wir uns gern aufs Altbewährte zurück. „Keine Experimente“ gilt als Versicherung gegen die Verunsicherung einer sich rasant verändernden Welt. Ruhe galt hierzulande schon immer als erste Bürgerpflicht. Deutschland ist damit lange gut gefahren. Allerdings hat der westdeutsche Konsens von „Maß und Mitte“ eine notwendige radikale Wende in der Umwelt- und Klimapolitik verhindert, wie Bernd Ulrich in seinem Buch „Alles wird anders“ beschrieben hat.

Allianz zwischen Liberalen und Konservativen

Stabilität war und ist für Deutschland zentral: Mit der Absage an Experimente wurde schon Konrad Adenauer zum Kanzler. Angela Merkel beruhigte 16 Jahre lang das Land. Und auch Krisenkanzler Olaf Scholz tut alles, um die Menschen nicht noch mehr aus der Ruhe zu bringen.

Die Sitzenden kleben noch während es die schwarzen Helfer schon auf die grüne Weide zog.

Die Zeiten sind aufregend genug. Und dann kommt auch noch die Letzte Generation, schneidet mit einer Drahtschere ein Loch in den Flughafenzaun und fordert eine radikalere Klimapolitik. Damit zeigen die AktivistInnen nebenbei auch, wie gefährdet und leicht angreifbar die Infrastruktur in Deutschland ist. Vor allem aber streuen sie Sand ins Getriebe einer mobilen Gesellschaft oder bekleckern mit Kartoffelbrei Gemälde im Museum – also da, wo auch die aufgeklärteste Bürgerin nun wirklich mal am Sonntagnachmittag ihre Ruhe haben will. Da geht es dann schnell, dass eine Allianz aus konservativem „Ich will nicht gestört werden“ und populistischem „Was maßen die sich an?“ bildet, die von „Terrorismus“ und einer „grünen RAF“ schwadroniert, über verschärfte Strafen und vorbeugenden Gewahrsam wie in Bayern, wo AktivistInnen gleich mal für 30 Tage in Haft genommen werden.

Entzündet haben sich die großen Debatten am Tod einer Radfahrerin in Berlin. Durch eine Blockade der Letzten Generation kam ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr verspätet zum Unfallort. Ob der Tod der Frau dadurch mitverursacht wurde, wird juristisch geklärt. Derzeit sprechen die Indizien dagegen. Aber es geht nicht um eine sachliche Debatte über die Risiken dieser Aktionen. Sonst würde debattiert, wie häufig Einsätze von Polizei oder Feuerwehr durch Falschparker oder Staus ohne Rettungsgasse behindert werden. Aber daran haben wir uns gewöhnt. Business as usual eben.

Der größte Feind: Business as usual

Die Gewöhnung ist das Problem. Denn die großen Feinde von Klimaschutz überall auf der Welt sind nicht so sehr böser Wille, Lobbyismus, Verschwörung, Dummheit oder „der Kapitalismus“. Das wirkliche Problem heißt BAU – Business as usual. Wir haben uns daran gewöhnt, unseren Wohlstand auf die Verbrennung von fossilen Rohstoffen zu stützten. Das hat die Klimakonferenz in Ägypten wieder gezeigt: Bei allen Lippenbekenntnissen zum „Change“ folgt doch die Blockade, wenn es um den schnellen Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas geht.

Dagegen sind die Fakten eindeutig: Weitermachen wie bisher, global und national/europäisch, bedeutet den größten anzunehmenden Unfall: BAU heißt GAU. Dagegen steht aber bisher nur eine minimalinvasive Umwelt- und Klimapolitik: ein bisschen Effizienz hier, ein bisschen Ökostrom da, und ein Förderprogramm für Wärmepumpen und Dachsanierungen. Es ist letztlich das Gleiche in Grün. Eine Politik der kleinen Schritte, wie sie in einer parlamentarischen Demokratie nun mal im Normalfall angesagt ist.

München bei Nacht – da haben die braunen Republikaner nicht mehr gelacht.

Kleine Schritte aber führen in den Abgrund. Noch bei der COP1, 1995, hätte die Klimakrise verhindert werden können, wenn ab damals die globalen Emissionen jährlich um 1 Prozent gesunken wären. Heute sind dafür schier unmögliche jährliche 7 Prozent Reduktion nötig. Das haben wir bisher nur annähernd beim Zusammenbruch der Weltwirtschaft in der Coronapandemie gesehen. Indirekt eine kleine Hoffnung: „Wir haben es bei der Reaktion auf Covid und auf den Krieg geschafft, in den Krisenmodus zu kommen“, sagte Niklas Höhne vom NewClimate Institut, als er auf der COP27 neue erschreckende Emissionstrends vorstellte. „Aber wir müssen auch beim Klimaschutz in diesen Krisenmodus kommen. Das schaffen wir noch nicht.“

Radikal wird der Klimawandel

Das ist der wunde Punkt, an dem sich die Letzte Generation in der Debatte festklebt. Sie symbolisiert den Krisenmodus, der dringend nötig wäre, damit die dringend nötigen Veränderungen mit der dringend nötigen Geschwindigkeit umgesetzt werden. Nötig ist die „Disruption“ der alten Energiesysteme, eine schöpferische Zerstörung, die das dreckige Alte beseitigt und dafür das nachhaltige Neue aufbaut. Aber dafür braucht es Unruhe, Unzufriedenheit, Streit, Experimente, die Lust am Ausprobieren und Scheitern. Und nicht die scheinbare Sicherheit des Gewohnten.

Man kann streiten, wie sinnvoll und zielführend die Aktionen der Letzten Generation sind. Blockaden bringen viel Ärger und Risiko. Das Anliegen kann hinter der Aktion verschwinden. Seit Wochen wird nicht mehr über die Ziele der Letzten Generation debattiert, sondern nur noch über ihre Mittel. Auch blockieren sie nicht die großen Klimakiller wie Kohlekraftwerke oder Gaspipelines, sondern den privaten Verkehr.

Quelle       :        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen 

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Grafikquellen     :

Oben       —   Angeklebte Blockiererinnen vom Aufstand der letzten Generation bei der Blockade des Flughafens BER kurz vor der Lösung des Sekundenklebers, vlnr: Christian Bläul, Kai Witza, Kristoffer Krogh, Lina Eichler, Berlin-Schönefled, 23.02.22

Unten        —         Letzte Generation Blockadeaktion Klimademo Karlsplatz Stachus München 2022-11-07 20-34-35

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Balla, Balla um die FIFA

Erstellt von DL-Redaktion am 22. November 2022

Die Grenzen der Vielfalt

Niemand von der FIFA wollte doch den Scheichs das Fliegen unter ihren Talaren beibringen und das Fußball spielen erst recht nicht !

Ein Debattenbeitrag von Daniel Bax

„Diversität“ ist das Schlagwort der Stunde, und alle setzen heute auf Vielfalt. Das gängige Verständnis von Diversität greift dabei aber oft viel zu kurz. Auch Angehörige von Minderheiten können rassistisch, sexistisch, nur auf ihren Vorteil bedacht sein.

Die neue britische Regierung ist so vielfältig wie keine vor ihr. Vier Mi­nis­te­r*in­nen im Kabinett von Rishi Sunak, darunter zwei Frauen, sind „People of Color“ – also Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft gemeinhin nicht als „Weiße“ wahrgenommen werden: Innenministerin Suella Braverman und Handelsministerin Kemi Badenoch. Premier Rishi Sunak selbst bezeichnet sich als „stolzen „Hindu“ und zelebriert seinen Glauben öffentlich, indem er Hindu-Tempel besucht oder zum Lichterfest Diwali vor der Tür von Downing Street 10 demonstrativ die obligatorischen Öllampen und Kerzen anzündet.

Minderheiten sind in seinem Kabinett sichtbar repräsentiert. Ihre Interessen vertritt seine Regierung deswegen aber noch lange nicht. Im Gegenteil: Die beiden „Women of Color“ in seinem Kabinett zählen zum rechten Rand der Partei und sind als Scharfmacherinnen bekannt. Die indisch-tamilischstämmige Braverman und die in Nigeria geborene Badenoch sind beide Brexit-Hardliner*innen, ihre liebsten Feindbilder lauten „Wokeness“ und „Migration“. Badenoch wurde durch ihren Kampf gegen Gender-Toiletten bekannt, Braverman durch Tiraden gegen Diversity-Trainings und Geflüchtete. Im Parlament wettert sie gegen „Guardian-lesende, Tofu-essende Woketari“. Ihr größter „Traum“, bekannte Braverman jüngst, sei die Schlagzeile, dass Asylsuchende aus Großbritannien per Flugzeug nach Ruanda abgeschoben würden. Sie unterstrich ihre Aussage mit einer Handbewegung, die ein abhebendes Flugzeug nachahmte, und einem seligen Lächeln.

Die britische Regierung für ihre Diversität zu feiern wäre deshalb voreilig. Politisch hält sich diese Vielfalt in Grenzen, die nach rechts offen sind. Ökonomisch vertritt Premier Sunak die Interessen der oberen Zehntausend, denen er als Multimillionär selbst angehört. Und kulturell teilt er den Habitus vieler britischer Tories. Sunak ist zudem der reichste Politiker, der je das Amt eines britischen Premiers bekleidet hat: ein Aspekt, der viel mehr Beachtung verdient hätte. Seine Selbstinszenierung als Hindu soll davon ablenken und Bodenständigkeit vermitteln. Damit hat er Erfolg. Denn ein oberflächliches Verständnis von „Vielfalt“, das politische, ökonomische und kulturelle Aspekte ausblendet und sich an Äußerlichkeiten festmacht, ist weit verbreitet.

Po­li­ti­ke­r*in­nen wie Braverman, Badenoch und Sunak werden von rassismuskritischen Linken gerne als „Token“ bezeichnet – als Feigenblätter für eine Politik, die ansonsten auf Ausgrenzung setzt. Aber auch das greift zu kurz. Denn auch Angehörige von Minderheiten können rassistisch, sexistisch und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein. In Braverman, Badenoch und Sunak haben sie ihre idealen Re­prä­sen­tan­t*in­nen gefunden.

Die Sklavenarbeiter der FIFA weisen auf die demokratischen Niedriglöhne der Politiker hin !

Unsere Gesellschaften werden vielfältiger, und das spiegelt sich zwangsläufig auch in vielen Institutionen wider. Um neue Zielgruppen zu erreichen, werben Unternehmen mit „diversen“ Models für sich – wobei das meist heißt, dass diese sich aufgrund ihrer Hautfarben und anderer körperlicher Merkmale unterscheiden. Medien rücken „diverse“ Mo­de­ra­to­r*in­nen und Jour­na­lis­t*in­nen in den Vordergrund oder vor die Kamera, um sich ein modernes Antlitz zu geben, und Parteien besetzen ihre Gremien entsprechend strategisch um. An den gesellschaftlichen Strukturen, die bestimmte Gruppen ausschließen, ändert sich dadurch noch nichts. „Diversität“ wird heute auch viel zu häufig auf Geschlecht und ethnische Herkunft, Religion und sexuelle Orientierung reduziert. Klassische Kategorien wie soziale Herkunft, Bildung und Einkommen geraten so aus dem Blick.

Gerade Konservative waren auf dem Gebiet symbolischer Gesten oft Vorreiter und ihrer Konkurrenz damit häufig einen Schritt voraus. Es waren die britischen Tories, die mit Margaret Thatcher erstmals eine Frau an die Spitze des Staates brachten, und die Unionsparteien stellten in Deutschland die erste Kanzlerin. Es war der Republikaner George W. Bush, der die ersten beiden schwarzen Au­ßen­mi­nis­te­r*in­nen in der Geschichte der USA nominierte. Und es war der rechte Populist Boris Johnson, dessen Kabinette so divers waren wie keine vor ihm und der damit die Karrieren seiner Nach­fol­ge­r*in­nen beförderte. Wenn linke Politiker ihre Kabinette so strategisch besetzen, müssen sie sich oft vorwerfen lassen, sie würden „Identitätspolitik“ betreiben und Gruppeninteressen berücksichtigen. Als Kanadas Premier Justin Trudeau gefragt wurde, warum sein Kabinett zur Hälfte aus Frauen bestand, sagte er: „Weil es 2015 ist.“ Das war kein Statement, sondern bloß eine Feststellung.

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —    A7-BEB | Qatar Airways (FIFA World Cup 2022 Livery) | Boeing 777-3DZER | 43215 | VGHS.

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Kampf um mehr Lohn

Erstellt von DL-Redaktion am 21. November 2022

Berlin: Nach der Demo beginnt der Klassenkampf

Datei:Umverteilen demonstration Berlin 2022-11-12 27.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :      Peter Nowak

Ca. 7000 Menschen haben am Samstag 12. November in Berlin unter dem Motto „Umverteilen jetzt“ gegen die Auswirkungen der kapitalistischen Krise in Berlin demonstriert.

Es war der bisher größte linke Protest in diesen Herbst. Doch wie geht es weiter?Der größte Erfolg war, dass auf der Demonstration der Kampf gegen den Kapitalismus in unterschiedlichen Blöcken im Mittelpunkt stand. Es gab sogar Banner von DGB-Gewerkschaften wie der IG-Bau, aber auch viele Fahnen der FAU. Besonders positiv ist auch der Careblock zu nennen, in dem sich Beschäftigte aus Krankenhäusern und Pflegeberufen versammelt haben. Ganz vorne liefen junge liefen Antikapitalist*innen, die den Zusammenhang zwischen Krise und Krieg in den Mittelpunkt ihrer Losungen gestellt hatten.Sie kritisierten die Nato und den russischen Militarismus. Deswegen ist es absurd, wenn ein Kommentator der linkskonservativen jungen Welt den Demonstrant*innen vorwirft, sie hätten sich nicht gegen die Nato positioniert. Dabei wird eben vergessen, dass der gemeinsame Nenner der sehr unterschiedlichen Demonstrant*innen der Kampf gegen die kapitalistischen Zumutungen war und ein linksreformerisches Programm dagegen propagiert wurde, das sich in dem Begriff Umverteilen zusammenfassen lässt. Diejenigen, die aus der Demo eine Antinatoaktion machen wollen, sollten etwas mehr historisches Bewusstsein haben. Die wesentlich von den Revolutionären Obleuten getragenen Proteststreiks gegen Hunger und Armut im Ersten Weltkrieg im Jahr 1916 beschränkten sich zunächst auf soziale Forderungen. Erst im Januar 1918 entwickelten sic die Streiks unter dem Eindruck der Oktoberrevolution zu einer Maifestion gegen Verelendung und Krieg.

Kampf um mehr Lohn

Jetzt muss erst einmal darum gehen, den Schwung der Demonstration zu nutzen, damit es eine längerfristige Protestbewegung wird. Da kommen eben die künftigen Tarifverhandlungen ins Blickfeld, die demnächst anstehen. Das Bündnis Genug ist genug hat bereits vor einigen Wochen in Berlin-Neukölln die Verbindung von Krisenprotesten und Tarifkämpfen hergestellt. Dort sprachen eben nicht nur linke Bewegungsaktivist*innen sondern Lohnabhängige aus verschiedenen Branchen. Solche Veranstaltungen sorgten dafür, dass es möglich wurde, dass aktive Gewerkschaftler*innen mit ihren Bannern auf eine eindeutig von der unabhängigen Linken geprägte Demonstration vertreten waren.

Das Thema Lohnkampf und Unterstützung von Arbeiter*innen war in fast allen Blöcken dieser Demonstration präsent. Wenn nur ein Bruchteil dieser Menschen die künftigen Tarifkämpfe solidarisch unterstützen würden, könnten die eine besondere Dynamik bekommt. Schließlich wird es dort darum gehen, angesichts einer zweistelligen Inflationsrate Reallohnverluste zu verhindern. Schon wird von der Kapitalseite der Mythos von der Lohnpreis-Spirale gestreut, um auf eine Verzichtspolitik einzustimmen. Es wäre dann die Aufgabe der solidarischen Linken, dem nicht nur ideologisch sondern auch mit Streikposten vor den Betrieben entgegenzutreten.

Wie eine solche solidarische Unterstützung aussehen könnte, zeigte die Aktion Dichtmachen vor 15 Jahren. Im Jahr 2008 unterstützten solidarische Linke die Beschäftigten im Einzelhandel während ihres Streiks, in dem sie die Filialen blockierten und damit den Einsatz von Streikbrecher*innen verhinderten. Der Kontakt zwischen aktiven Kolleg*innen und der Außerparlamentarischen Linken ist damals über die Euro Mayday-Bewegung entstanden. Vielleicht gehört die Kontaktanbahnung zu den streikbereiten Beschäftigten zu den größten Erfolgen der kurzzeitigen Bewegung. So könnten auch die aktuellen Krisenproteste zu einer stärkeren Unterstützung von Arbeitskämpfen führen. Denn gegen den teuren Döner hilft eben kein kleines Feuer wie es auf einen Transparent im autonomen Block hieß, sondern mehr Lohn.

Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. umsetzen

Und dann könnte auch die Bewegung Deutsche Wohnen Enteignen durch die linke Demonstration wieder Auftrieb bekommen. Denn trotz ihres grosses Erfolges bei der Abstimmung im Herbst 2021 wird noch immer über die Umsetzungsperspektiven gestritten. Manche in der Politik wollen die Umsetzung sogar überhaupt verhindern. Eine oft skandierte Parole am Samstag in Berlin lautete „Wir enteignen Euch alle“. Wenn es kein Verbalradikalismus war, sollte es zunächst mal heißen. „Volksbegehren umsetzen – Enteignung von Wohnen und Co sofort“. Zudem müssen die Büros der Kapitalparteien CDU/CSU eigentlich Gegenstand vielfältiger Proteste werden.

Diese Partei inszeniert aktuell einen Angriff auf die Rechte von Erwerbslosen mit ihrer Kampagne gegen das geplante sowieso unzureichende Bürgergeld und bedient dabei die Ressentiments gegenüber angeblich faule Erwerbslose, die nach dem Willen der CDU/CSU weiter sanktioniert und entrechtet werden sollen. Leider spielte dieser Angriff auf Menschen, die sowieso schon durch das Hartz IV-Regime massiv unter Druck sind, keine große Rolle auf der Umverteilen-Demonstration. Das sollte aber die Aktivist*innen nicht hindern, den Unionsparteien ihre Verachtung für ihren Krieg gegen die Erwerbslosen mitzuteilen.

Keine Stromabschaltung unter dieser Nummer

Viele von ihnen sind auch in diesem Winter denen von Gas und Stromsperren bedroht. Sie brauchen solidarische Unterstützung. Das geht nur durch Organisierung im Stadtteil und im Arbeitsplatz. Dafür gibt es Vorbilder in der jüngeren Bewegungsgeschichte: Unter dem Motto „Keine Räumung unter dieser Nummer“ war nach Einführung von Hartz IV ein Nothilfetelefon eingerichtet worden, bei dem sich Menschen melden konnten, denen die Kündigung drohte, weil das Jobcenter nicht mehr die vollen Mietkosten übernahm. Aktuell könnte ein solches Nothilfetelefon unter dem Motto „Keine Abschaltung von Strom und Gas unter dieser Nummer in den Kiezen eingerichtet werden.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben         —        Demonstration für die Umverteilung von Vermögen vom Marx-Engels-Forum über das Finanzministerium und das Willy-Brandt-Haus zum Merhringdamm in Berlin.

Verfasser Leonhard Lenz         /       Quelle    :  Eigene Arbeit      /   Datum    :    12. November 2022

Diese Datei wird unter CreativeCommonsCC0 1.0 Universal Public Domain Dedication zur Verfügung gestellt.

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Ein Politischer Staatsverkauf

Erstellt von DL-Redaktion am 16. November 2022

Ein Extremistisches Weiter-so

Finden wir nicht die meisten Extremisten unter den politischen Exoten? 

Ein Schlagloch von Ilija Trojanow

Nicht die Kartoffelbreiwerfer und Straßenblockierer sind extremistisch, sondern die rigorosen Verteidiger des Status quo. Zum Beispiel Christian Lindner. Die Befreiung des Denkens in die Vielfalt des tatsächlich Möglichen zu verdammen, ist extremistisch.

Als junger Verleger brachte ich 1991 ein Büchlein mit dem Titel „Extremismus, Radikalismus, Terrorismus in Deutschland. Zur Geschichte der Begriffe“ von Susanna Böhme-Kuby heraus – eine wissenschaftliche Analyse der Instrumentalisierung und selektiven Nutzung aufgeladener Begriffe im politischen Diskurs. Wenig später fragte mich ein Wissenschaftler, mit dem ich über einen Sammelband verhandelte, wieso ich verfassungsfeindliche Literatur verlegen würde. Er zeigte mir eine Liste indizierter Bücher, auf der sich dieser Titel befand. Offensichtlich war das Nachdenken über die Verwendung des Begriffs Extremismus schon extremistisch.

In den letzten Wochen erlebt der Begriff eine Konjunktur. Zunächst wurden wir von Politik und Medien vor extremistischen Reaktionen der Bevölkerung gewarnt. Schon die Vorstellung von massenhaften Demonstrationen weckte den inneren Philister in manch einem menschlichen Warndreieck. Dann erlebten wir extremistische Gewalttaten von unvorstellbarer Verwerflichkeit, die angeblich „große moralische Fragen“ aufwerfen: die Proteste von Klimaaktivistinnen. Sofort war die heilige Trinität der rechtschaffenen Empörung zur Hand: Extremismus, Radikalismus und Terrorismus.

Ein Beispiel unter unzähligen: Der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler twitterte unter dem Eindruck diverser beworfener Gemälde aufgeregt: „Dieser Terrorismus ist das eine. Die Verschwendung von Lebensmitteln ist das andere.“ Ein Höhepunkt unfreiwilliger Tragikomik. Die einmalige Nutzung von Kartoffelbrei zu außerkulinarischen Zwecken ist zweifellos das schlimmste Beispiel von Verschwendung in einem System, das bis zu 40 Prozent der Nahrungsmittel vergammeln lässt oder wegwirft. Für Herrn Schäffler ist das faule Ei, mit dem manche ihn gern bewerfen möchten, bestimmt schlimmer als die Millionen Tonnen Essen, die hierzulande auf dem Müll landen. Denn wir verbrauchen Boden, Luft, Wasser und Energie ohne Sinn und Verstand. Um dies zu bekämpfen, geben wir dem Problem einen schicken Namen: Food Waste, und unternehmen nichts Wirkungsvolles. Aber für Herrn Schäffler ist der Ist-Zustand – vermute ich – weder Terrorismus noch Verschwendung, sondern das gute Funktionieren des freien Marktes.

Nun stellt sich die Frage, was extremistischer ist: Das Bewerfen eines verglasten Bildes mit Suppe oder die giftige Suppe aus Verschwendung, Zerstörung und Klimakatastrophe, die uns der Wachstumswahn eingebrockt hat? Was ist extremistischer: dagegen aufzubegehren, für eine lebenswerte, würdevolle Zukunft, oder die verkrampfte Verteidigung des Status quo und die rigorose Ablehnung selbst der kleinsten Verbesserung (etwa beim Fleischkonsum: Tierhaltung macht mindestens 16,5 Prozent der globalen CO2-Emissionen aus). Wer genauer hinschaut, entdeckt in der viel beschworenen Mitte unserer Gesellschaft einen extremistischen Wahn des Weiter-so. Und wir haben nur die tragische Wahl zwischen einer extremistischen Mitte und dem Extremismus der Rechten.

Sind das nicht die wahren Helden dieser Tage welche es sogar schaffen dass ein im Stau stehender Lastwagen eine Radfahrerin überrollt haben soll !

Ähnlich moralisch blindwütig wurde auf den Tod einer Radfahrerin in Berlin reagiert. Die große moralische Frage ist offenbar nur, inwieweit der Protest daran Schuld hatte, weitaus weniger aber, wieso unzählige Radfahrerinnen im Straßenverkehr unter die Räder kommen, und auch nicht, dass jedes Jahr in der EU laut der Europäischen Umweltagentur Hunderttausende Menschen wegen Feinstaubbelastung und anderer Schadstoffe vorzeitig sterben. Mehr als die Hälfte dieser Menschen könnten noch leben, wenn wir die Richtwerte der WHO einhalten würden. Feinstaub ist vernünftig und notwendig, Protest hingegen frivol und unnötig, weswegen laut einer Umfrage des Spiegel 86 Prozent der Befragten finden, dass die Klimaaktivistinnen zu weit gehen.

Die extremistische Mitte behauptet gern, sie vertrete den gesunden Menschenverstand. Gegen Spinnerei und Utopismus und Weltfremdheit. Der Zusatz „gesund“ impliziert, dass konträres Denken „krank“ ist, daher abzulehnen und sogar zu verteufeln. Das englische common sense wäre geeigneter, zu übersetzen mit Hausverstand, also das, was jeder unter dem Dach seines eigenen Schädels finden könnte, wäre er nicht Opfer einer extremistischen Ideologie.

Quelle         :          TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Christian Lindner, Politiker (FDP), Wahlkampfveranstaltung in München (September 2021). Titel des Werks: „Christian Lindner im Wahlkampf 2021“

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Unten     —   Öl Aktion vom Aufstand der Letzten Generation vor dem Bundeskanzleramt, Berlin, 09.07.2022

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Eine Saarbrücker Lesung

Erstellt von DL-Redaktion am 14. November 2022

 Zum Spiegelbestseller:
’Die Vierte Gewalt’ von Richard David Precht und Harald Walzer (1)

’Malavita’ Café-Bar, Auf der Werth 2, 66115 Saarbrücken (gegenüber Kino Cinéstar)

Von Dr. Nikolaus Götz

Die Berichterstattung zu ’Corona’, zum ’Ukraine-Krieg’ oder zu der jetzt aktuellen ’Energiekrise’ verdeutlicht dem politisch interessierten Bürger: Die Medienlandschaft der BRD von FAZ bis TAZ, von ARD, ZDF und den Restsendern erscheint wie im Dritten Reich „gleichgeschaltet“. Deshalb verschaffen sich erneut aufgeklärte Bürger bei von den Leitmedien diskreditierten ’Querdenkerdemos’ frische ’Luft’, um in Ost- wie West-Deutschland dabei den angestauten politischen Druck und ihren Frust über das Regierungsgeschehen abzulassen. Doch längst haben engagierte Literaten die miserable Rolle der Leitmedien, des sogenannten „Mainstreams“ analysiert (2) und aufgezeigt, wie die Massenmedien ihre Politiksicht als Mehrheitsmeinung verkaufen wollen, obgleich sie damit ihrer eigentlichen Pflicht der „sachgerechten, objektiven Informationspräsentation“ nicht nachkommen. Auch der deutsche Vielschreiber und als „profiliertester Intellektueller des deutschsprachigen Raumes“ verkaufte ’Mitdenker’ Richard David Precht hat mit seinem Koautor Harald Welzer das Thema der Medienmanipulation in einem Buch aufgegriffen, das medienwirksam als neuster ’Spiegelbestseller’(Platz 1) die deutschen Mitbürger aufrüttelt. Selbst der ZDF-Talkmaster (dt.: ’Redemeister’) Markus Lanz erreichte mit der Prechtschen Medienschelte 3,5 Millionen Zuhörer (3), obgleich dieser Philosoph nur das verkündet, was die Spatzen längst überall von den deutschen Dächern pfeifen. „Die Vierte Gewalt“ manipuliert „Mehrheitsmeinung, auch wenn sie keine ist“. So resümiert der Untertitel verkürzt den Buchinhalt, wobei als Hauptthese gilt: Die Grenze zwischen politischem Journalismus und politischem Aktivismus in den Leitmedien wird immer fließender (4).

Um die veröffentlichte Medienkritik sachlich nachzuvollziehen, findet in der kommenden Woche eine öffentliche Lesung dieses Buches über die Presse als die ’Vierte Gewalt des Staatswesens’ statt. Trifft die Sachkritik des Analysten Precht zu oder ist sie unberechtigt, wenn das Autorenteam beispielsweise schreibt: „Das Mediensystem kolonialisiert in dieser Sicht das politische System und lässt es zunehmend nach den gleichen Regeln des Aufmerksamkeitskampfes funktionieren.“ (5) Alle Interessierte sind herzlich eingeladen einfach der kritischen Lesung zuzuhören oder auch kräftig mitzudiskutieren.

Saarbrücken: Mittwoch, 16. 11. 2022: 15-17 Uhr; Treffpunkt:
’Malavita’ Café-Bar, Auf der Werth 2, 66115 Saarbrücken (gegenüber Kino Cinéstar)

Anmerkungen:

1 Richard David Precht/Harald Walzer: Die Vierte Gewalt, Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist, Frankfurt/M 2022.

2 Vgl. beispielsweise: Friedhelm Klinkhammer/Volker Bräutigam: Putins Gas statt Bidens Bomben, in: Ständige Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien e.V., veröffentlicht am 2.11. 2022; https://publikumskonferenz.de/blog/; Hannes Hofbauer: Zensur, Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte, Wien 2022; Gerhard Wisnewski: 2022. Das andere Jahrbuch. Was 2021 nicht in der Zeitung stand, Rottenburg 2022.

3 Neu auf Platz 7 stieg „Lanz & Precht“ in die Liste ein. Der ZDF-Podcast erzielte 3,47 Millionen valide Downloads, überholte damit andere erfolgreiche Sendungen wie „Apokalpyse & Filterkaffee“ und „Geschichten aus der Geschichte“, siehe: www.google. com/search?client=firefox-b&q=Lanz+und+Precht+Podcast+Kritik&sa=X&ved=2ahUKEwjZ r4SIgKb7AhV_gv0HHXvwCVAQ1QJ6BAgAEAI.

4 Vergleiche Precht, 2022, Seite 63.

5 Siehe ders. S. 9.

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Grafikquellen          :

Oben     —     Saarbrücken, Stadtteil Malstatt

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Cirital Mass ist ……

Erstellt von DL-Redaktion am 10. November 2022

Eine Aktionsform für die soziale und ökologische Bewegungen

Von Jimmy Bulanik

Voor :

Maya Mock

Mijn gelukwensen voor je toekomst.
www.youtube.com/watch?v=E06toRYKX6M

Die Inhalte der Klimabewegung mit ihren unterschiedlichen Strömungen wie Fridays For Future, Ende Gelände, Extinction Rebellion, Letzte Generation sind richtig. Sie sollten mit anderen sozialen Organisationen, welche sich ebenfalls für die Anhebung der Lebensqualität der Zivilgesellschaft einsetzen, wie Pro Bahn, Allgemein Deutscher Fahrrad Club, DGB, Verdi, VdK, Pro Asyl, Black Lives Matter ein Kartell bilden, dies wird zwangsläufig wirkungsvoll werden. Das bedarf über den Zusammenhalt hinaus, die anhaltende Dauer dessen.

Die Niedrigschwelligkeit an der Teilnahme von Critical Mass macht den Erfolg aus. Es bedarf lediglich des persönlichen guten Willens dazu. Mit einem verkehrssicherem Fahrrad, Fahrradhelm, Reflektoren an der Bekleidung, sowie Weste, Handgelenke, Knöchel. Dabei ist es möglich als Critical Mass in einer Stadt teilzunehmen, oder vor Ort selber solch eine Aktion zu organisieren.

Eine Solidarisierung von den Themen der Klimabewegung mit denen der sozialen Bewegungen mit ihren berechtigten Inhalten sind für alle eine Verstärkung. Durch die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum wird dies interessierte Einzelpersonen motivieren sich zu beteiligen. Was das Potential in der Wirklichkeit hat, sich zu einem erfolgreichen Selbstläufer zu entwickeln.

Alle Menschen, welche zu diesen Inhalten ihren MdL, MdB schreiben, werden ihren Erfolg erleben

Das Nutzen des mobilen Internets auf Smartphones ist ein Vorteil. Der Messenger Signal signal.org/de ist dabei gänzlich zu empfehlen. Mit dem Dienst Mastodon mastodon.social/explore kann sich öffentlich organisiert werden.

Es gibt sehr viel dadurch zu erreichen, indem die Menschen die Initiative in die eigene Hände nehmen und behalten. Alle können diesbezüglich mit ihrer Kommunikation in ihren Zirkeln andere Menschen motivieren. Die Zukunft wird das werden, was die gesamte Gesellschaft eigenständig gestaltet.

Es ist ratsam auf das Versammlungsrecht zu achten. Diesen Text sollten alle verwenden. Entsprechend Paragraph 6, Abs 1 VersG ist Personen, welche der rechtsextremen Szene und Organisationen angehören, der Zutritt zu dieser Veranstaltung zu verwehren, sie sind somit ausgeschlossen.

Nützlicher Link im Internet:

Critical Mass

criticalmass.in/calendar

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Grafikquellen       :

Oben      —       Fotoaktion des Aufstands der Letzten Generation vor dem Reichstag, Berlin, 02.07.2022

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Polizeilicher Gewahrsam:

Erstellt von DL-Redaktion am 9. November 2022

Klimaaktivisten ohne Gerichtsverfahren in Haft

Ja – das alles läuft in diesem Land unter einer Ampel Demokratie im Jahr 2022!  Eine Steigerung zur G-20 in Hamburg 2017 !

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :     

Klimaaktivisten sollen in Bayern durch Präventivgewahrsam an ihren Blockaden gehindert werden. Das Polizeiaufgabengesetz, das eine solche Präventivhaft erlaubt, gehört reformiert. Denn niemand sollte wochen- oder gar monatelang ohne ein Gerichtsverfahren in Haft verschwinden, egal wie störend politische Aktionen auch sein mögen. Ein Kommentar.

Mehrere Menschen sollen in Bayern ohne Prozess für dreißig Tage einsitzen. Das teilte die Münchner Polizei am vergangenen Freitag mit: Zwölf Klimaaktivisten würden nach zwei Festklebeaktionen „vorbeugend“ eingesperrt, mindestens drei bleiben bis zum 2. Dezember in Haft. Die bayerische Polizei darf, ohne dass ein konkreter Tatverdacht vorliegt, zur Gefahrenabwehr eine Anordnung zu einem solchen Präventivgewahrsam erteilen.

Gesetzesgrundlage dafür ist das bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG). Die Novelle des Gesetzes im Jahr 2018 war hoch umstritten und von großen Demonstrationen begleitet.

Das härteste Polizeigesetz seit 1945 wurde dennoch rasch und geräuschlos im Mai 2018 durch den CSU-dominierten Landtag geschleust – nur fünf Tage nach einer Großdemonstration in München mit mehreren zehntausend Menschen. Heribert Prantl nannte den Polizeigewahrsam in der Süddeutschen Zeitung eine „Unendlichkeitshaft“, da das Gesetz anfangs vorsah, den Gewahrsam auf unbefristete Zeit verlängern zu können. Im geltenden Gesetz ist die Dauer dieser Vorbeugehaft auf zwei Monate begrenzt.

Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag fordert unterdessen schon härtere Sanktionen gegen die Aktivisten: Haft- statt Geldstrafe soll es hageln, schon „wenn es durch die Blockaden im Berufsverkehr zu langen Staus kommt“. Eine solche Haft wäre jedoch im Rahmen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens zu verhängen – und gerade nicht wie bei der bayerischen Präventivhaft auf Zuruf der Polizei.

Ohne einen Anwalt

Personen in Bayern können nach Paragraph 17 PAG sogar in Präventivgewahrsam genommen werden, ohne dass ein Anwalt beigestellt wird. Damit ist ein Betroffener schlechter gestellt als jeder Verdächtige einer Straftat, dem selbstverständlich ein Rechtsbeistand zusteht.

Der bayerische CSU-Innenminister Joachim Hermann hatte zwar angekündigt, man plane dazu eine Korrektur im Gesetz. Konkret sagt er im Interview mit dem Merkur im Jahr 2019: „Wo immer eine längerfristige Gewahrsamnahme erfolgt, muss unmissverständlich ein Rechtsanwalt eingeschaltet werden.“ Doch selbst mit dieser rechtlichen Verbesserung: Am möglichen mehrwöchigen Vorbeugegewahrsam an sich würde sich dadurch nichts ändern.

Update: Seit einer Änderung des Paragraphen 97 PAG aus dem Jahr 2021 muss Betroffenen dann ein Anwalt gestellt werden, wenn der Gewahrsam über Mitternacht des Folgetages hinaus andauert.

Das PAG erlaubte schon seit 2017, dass sogenannte „Gefährder“ mehr als zwei Wochen ohne Gerichtsverfahren eingesperrt werden dürfen. Diese Präventivhaft wurde im ersten Jahr nach Inkrafttreten in elf Fällen länger als zwei Wochen angewendet, wie eine Prüfkommission berichtete. Zwischen zwei Wochen und zwei Monaten habe die Zeit der Ingewahrsamnahme dabei betragen.

Als „Gefährder“ wurden zumeist Asylbewerber stigmatisiert und weggesperrt. Sie haben bekanntlich keine Lobby, wenn sie wochen- oder gar monatelang ohne ein Gerichtsverfahren in Haft verschwinden. Entsprechend gering fiel daher auch die mediale Aufregung aus.

Die Ohnmacht der bayerischen Polizei

Ganz anders ist dies nun in dem aktuellen Fall der inhaftierten Klimaaktivisten, der heiß diskutiert wird. Da die „Klimakleber“ wegen eines tödlichen Unfalls in Berlin gerade ohnehin die Gemüter bewegen, wird nun ausnahmsweise bundesweit über die fragwürdige polizeiliche Präventivhaft berichtet.

Wer will von Oben Trüffel teilen, der muss schon Grunzen – Heimlich – Leise.

Eigentlich zeigt sich durch den Präventivgewahrsam nur die Ohnmacht der Polizei, die in Bayern mit 40.000 Polizeibeschäftigten zwar einen riesigen Apparat hat, aber mit Klimaaktivisten und ihren Blockaden nicht umzugehen weiß. Die Regeln macht sich die Polizei aber nicht selbst. Die eklatante Ignoranz gegenüber rechtsstaatlichen Standards muss dem Gesetzgeber ins Stammbuch geschrieben werden. Denn diese Standards sollten eigentlich selbstverständlich sein.

Ein gefährliches politisches Klima

Ja, die „Klimakleber“ stören, viele Menschen sind verärgert, wenn sie in als sinnlos empfundenen Staus stehen müssen. Aber deswegen dürfen nicht Maßnahmen gutgeheißen werden, die wir in anderen Ländern zu Recht als willkürlich brandmarken würden.

Ohne Protest und Druck für politische Anliegen kann es keine Veränderung geben. Ob man dieses Anliegen teilt oder nicht: Wie Protestierende behandelt werden, daran muss sich ein Rechtsstaat messen lassen. Vielleicht ist dieses politische Klima, das sich derzeit ausbreitet, mindestens ebenso gefährlich wie die Klimakatastrophe, vor der die Aktivisten warnen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen      :

Oben     —   Letzte Generation Blockadeaktion Klimademo Karlsplatz Stachus München 2022-11-03

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Poetical – Correctness

Erstellt von DL-Redaktion am 9. November 2022

Wie man in einem zivilisierten Land zu protestieren hat

Kolumne von Lin Hierse

Wir sind ein zivilisiertes Land, drum wird zivilisiert demonstriert! Bitte dankbar bleiben, gemäßigt – und niemanden während der Arbeitszeit stören!

Es gibt Regeln, und das geht jetzt wirklich zu weit. Protestieren, okay, Kritik äußern, ja, aber bitte höflich und respektvoll. Nicht zu laut werden hier, und was soll denn das mit dem Sekundenkleber? Und die Tomatensuppe! Der Kartoffelbrei! Die Erbsen! Das ist Lebensmittelverschwendung. Das ist Terror. Das trifft die Falschen. Das gehört sich einfach nicht. Und vor allem, und das ist das Allerschlimmste: Überzeugen wirst du damit niemanden.

Selbst Schuld also. Wenn die Polkappen schmelzen und der Meeresspiegel steigt, Städte überflutet werden und Wälder abbrennen, Bienen sterben und Vögel tot vom heißen Himmel fallen, Menschen verhungern und das Trinkwasser versiegt, wenn Politiker und Journalisten dich für den Tod einer Radfahrerin verantwortlich machen, noch bevor der Fall untersucht wurde, und wenn du sicherheitshalber als verdächtige Chaosaggroaktivistin 30 Tage ohne Prozess im Gefängnis landen kannst – selbst schuld, dass da niemand was tun will!

Der Ton macht nämlich die Musik. Lächel doch mal, zeig ein Mindestmaß an Respekt. Gegenüber dem Staat und seinen Regeln, auch wenn der Staat nicht immer respektvoll ist und die Regeln nicht immer sinnvoll. Gegenüber dem toten Maler, dessen Werk ich ehrlich gesagt kaum kenne, aber der zweifellos etwas geschaffen hat, das ich stärker beschützen will als unseren Lebensraum.

Zu Kaisers- oder Königs- Zeiten wurden Söldner der Staaten auch als Raubritter bekannt. Was die Demokratie so alles übernommen hat?

Gegenüber den einfachen Leuten, die zur Arbeit müssen oder in den Flieger. Und vor allem gegenüber der Art und Weise, wie wir die Dinge eben zu tun pflegen in diesem zivilisierten Land. Wir sind schließlich keine Tiere. Meistens. Wären wir Tiere, dann fräßen wir uns gegenseitig auf. Dann spürten wir das Ende längst kommen. Aber wir spüren zum Glück nichts mehr. Das macht uns menschlich.

Wir bleiben unantastbar

Wir können doch über alles reden. Du sollst dich doch engagieren für diese Gesellschaft, wir müssen ja der Spaltung entgegenwirken, einander die Hände reichen, damit eine die andere waschen kann. Du kannst etwas beitragen, aber lass die alten Meister da raus. Bitte, bitte nicht berühren. Weder van Gogh noch mich. Mein Leben und ich, wir bleiben unantastbar. Du sollst nicht an dieser Welt rütteln oder dich an ihr festkleben, stör mich nicht, jedenfalls nicht während meiner Arbeits- oder Freizeit oder zu anderen ungünstigen Momenten.

Quelle       :      TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben       —         Binnen-i-radfahrerinnen   Straßenschild „Ende der Bus- und Fahrradstrecke“ Schlagworte: Politische Korrektheit, Binnen-I Ort: Linz, Österreich Datum: 2005-01-15

Unten       —    Polizistin räumt nach Aktion der Letzten Generation vor dem Verkehrsministerium Tempo-100-Schilder auf. Invalidenstraße, Berlin, 22.10.22

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UN-Konferenz in Ägypten

Erstellt von DL-Redaktion am 7. November 2022

Kein Klimaschutz ohne