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Archiv für die 'Sozialpolitik' Kategorie

Kinder für die Zukunft

Erstellt von DL-Redaktion am 4. August 2023

Arme sichern unsere Zukunft

Ein Debattenbeitrag von Barbara Dribbusch

Im Streit über die Kindergrundsicherung werden Vorurteile gegen Arbeitslose geschürt. Dabei brauchen wir wegen der Demografie kinderreiche Familien.

Eigentlich klingt der Begriff so gut, dass niemand was dagegen haben kann: Kindergrundsicherung. Schon vor mehr als 20 Jahren beschworen die Grünen mit diesem Wort eine auskömmliche staatliche Sicherung für Kinder in armen Familien. Doch jetzt droht das Projekt zu einer Enttäuschung zu werden.

Nach der Sommerpause will Bundesfamilienministerin Lisa Paus einen ersten Gesetzentwurf vorlegen und fordert dafür bis zu 12 Milliarden Euro im Jahr an Haushaltsgeldern. Bundesfinanzminister Christian Lindner will höchstens 2 Mil­liarden Euro für die Digitalisierung der Familienleistungen lockermachen. Man ahnt: Die Erwartungen an die Kindergrundsicherung, die ab 2025 kommen soll, waren zu hoch.

Es soll eine Leistung werden, die das Kindergeld, das Bürgergeld für Kinder und den Kinderzuschlag für arme Erwerbstätige in einer „einfachen, automatisiert berechneten und ausgezahlten Förderleistung bündelt“, wie es im Koalitionsvertrag der Ampel heißt. Im politischen Branding des Begriffs der Kindergrundsicherung liegt dabei eine Ungenauigkeit, die zuerst die Power des Wortes ausmachte, jetzt aber zu Problemen in der praktischen Umsetzung führt.

Dabei ist die Idee eigentlich gut: Mit der Kindergrundsicherung soll das Stigma der Armut verschwinden. In der Kindergrundsicherung sollen das bisherige Kindergeld und die Leistungen für Kinder im Bürgergeld aufgehen. Das Kindergeld heißt dann „Garantiebetrag“ und das bisher gezahlte Bürgergeld für Kinder (Ex-Hartz-IV) ist der „Zusatzbetrag“, den arme Familien zusätzlich zum „Garantiebetrag“ bekommen. Durch die Unterordnung unter den Begriff der Kindergrundsicherung will man der Stigmatisierung von Familien im Sozialleistungsbezug entgegenwirken. Die Kindergrundsicherung ist auch eine Art Integrationsprojekt zwischen Mittel- und Unterschicht.

Das ist gut gemeint. Nur leider ist es ein quantitativer und systemischer Unterschied, ob eine Familie nur den Garantiebetrag oder eben als arbeitslose Familie ohne Einkommen den Garantiebetrag plus den Zusatzbetrag bekommt. Letzteres erfordert eine andere Bedarfsrechnung. Zudem ist eine Kindergrundsicherung keine Hilfe für Kinder allein, mit der man sie aus der Armut rettet, sondern eine Sozialleistung, die immer zum Haushaltseinkommen auch der Eltern beiträgt.

Diese systemischen Realitäten kommen jetzt wieder auf den Tisch. Die Union befeuert die Debatte, ob es eine gute Idee ist, armen Familien mehr Geld zu geben, wo es doch am wichtigsten sei, die Eltern in Arbeit zu bringen. Eine Erhöhung der Sozialleistungen sei „ein süßes Gift: Es bringt die Menschen nicht in den Arbeitsmarkt, sondern macht sie abhängiger vom Staat“, sagt der arbeitsmarktpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Stephan Stracke, der FAZ.

Auch solch ein politisches Individuen darf sich Christlich nennen.

Da ist er wieder, der Wiedergänger jeder So­zial­staatsdebatte: Die faulen Arbeitslosen, diesmal arbeitslose Eltern, könnten wegen der neuen Sozialleistung die Motivation verlieren, einen Job anzunehmen. Das Ressentiment wird angeheizt durch die Tatsache, dass der Anteil der deutschstämmigen Familien im Bürgergeld-Bezug in den letzten Jahren zurückgegangen ist. Fast die Hälfte der ­Kinder im Bürgergeld-Bezug haben eine ausländische Staatsangehörigkeit, viele davon sind Geflüchtete.

Auf der einen Seite sieht man nun die deutschstämmigen Familien in den Mittelschichtmilieus, geplagt durch die Inflation, belastet mit Steuern und Abgaben. Auf der anderen Seite vermutet man die armen Familien mit Migrations- oder Fluchthintergrund, die auf Sozialleistungen angewiesen sind und die durch das Geld vom Staat „verwöhnt“ werden könnten.

Diese Spaltungen sind alte Mythen. Man weiß aus der Erfahrung der nuller Jahre: Wenn Konjunktur und Arbeitsmarkt besser laufen, geht die Arbeitslosigkeit runter. Und Zu­wan­de­re­r:­in­nen brauchen Zeit, um anzukommen im deutschsprachigen Jobmarkt. Punkt.

Wer Spaltungen vertieft, übersieht, dass wir in anderen Zeiten leben. Familien mit Migrations- oder Fluchthintergrund sind überproportional im Sozialleistungsbezug, weil sie oft mehrere Kinder haben. Anders gesagt: Viele Kinder zu haben kann arm machen. Überdies arbeiten Zu­wan­de­r:in­nen oft in schlecht bezahlten Jobs.

Auch viele Kinder zu haben sollte uns angesichts der Demografie mehr wert sein. Die demografische Zukunft in Deutschland, das Angebot an Arbeitskräften in den nächsten Jahrzehnten hängt auch an Familien mit Migrations- und Fluchthintergrund. Wer Ärmere abhängt, tut auch der Mittelschicht nichts Gutes.

Quelle       :           TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Ehemalige Märchenhain-Figuren „Mutterdenkmal“ des Bildhauers Ernst Heilmann (1877-1969). Als Modell dienten Heilmanns Ehefrau sowie seine Tochter Maria, für die Buben stand Alfred Stein Modell. Niederheimbach, Kreis Mainz-Bingen

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Hilfe für Obdachlose

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Juli 2023

Wohnung first!

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Ein Debattenbeitrag von Sonja Norgall

Obdachlosigkeit lässt sich nicht mit Platzverweisen lösen. Um Lebensprobleme zu lösen, braucht es Ruhe. Ein Projekt in Hamburg macht Hoffnung.

Es sind 28 Grad, die Sonne strahlt über die glitzernden Bürgersteige der Einkaufsmeilen in der Hamburger Innenstadt. Der Himmel ist blau, keine Wolken in Sicht. Vor den Schaufenstern eines Juweliergeschäfts liegen ein leerer Schlafsack und Pappkartons. Die Überbleibsel einer Nacht auf der Straße.

Meine Kollegin Teresa Jakobs ist auf dem Jungfernstieg unterwegs und sucht Andreas. Sie sind verabredet, um beim Jobcenter einen neuen Antrag auf Bürgergeld zu stellen. Die Straßensozialarbeiterin der Diakonie Hamburg kreuzt die mehrspurige Straße, die für Fahrzeuge gesperrt ist, schaut an den Arkaden am Alsterfleet entlang, dann in den Seitenstraßen rund um das Rathaus.

Hier sind mehrere Platten, wie die Schlafplätze der obdachlosen Menschen genannt werden, im Eingang von Geschäften und Tiefgaragen, aber Andreas ist nicht da. „Es passiert immer häufiger, dass wir Klient*innen, mit denen wir verabredet sind, nicht an ihren Plätzen antreffen“, sagt sie. Andreas hat auch kein Handy, um einen neuen Termin auszumachen.

In Hamburg sind nach Schätzungen der Stadt circa 2000 Menschen obdachlos. Das Überleben auf der Straße ist seit dem Ausbruch der Pandemie schwieriger geworden. Die Innenstadt ist leerer, viele Büroangestellte arbeiten im Homeoffice und erledigen ihre Einkäufe im Internet. Große Kaufhäuser haben Insolvenz angemeldet und die Türen geschlossen. Vor und in den leeren Gebäuden und Garagen können obdachlose Menschen nun zwar einfacher liegen und sich aufhalten, aber es kommen weniger Passanten, die sie um ein paar Münzen bitten können.

Polizei will gegen „aggressives Betteln“ vorgehen

Stattdessen schaut inzwischen fast täglich die Polizei vorbei. Es gab wohl Beschwerden von Bürger*innen, die sich unwohl fühlten, wenn sie nach Geld gefragt wurden. Vor allem die Habseligkeiten der obdachlosen Menschen wirken in ihren Augen oft störend. Rucksäcke, Decken und Plastiktüten, die auf dem Bürgersteig liegen. Die Polizei soll laut der Stadt vor allem die sogenannten „negativen Auswirkungen von Obdachlosigkeit und aggressives Betteln“ unterbinden und erteilt nun Platzverweise.

Was genau aggressives Betteln ist, bleibt dabei unklar – in unseren Augen verhalten sich die Menschen meistens unauffällig. Oft scheint es willkürlich, wer angesprochen wird. Die Po­li­zis­t*in­nen weisen zwar auch auf Tagesaufenthaltsstätten in der Umgebung hin. Allerdings können sich die Menschen dort nur für wenige Stunden aufhalten. Die Räume sind beengt und es gibt oft Streit. Außerdem sind die Menschen darauf angewiesen, an Geld zu kommen. Deswegen ziehen die meisten obdachlosen Menschen lieber ein paar Straßen weiter, wenn die Polizei kommt.

Das Leben auf der Straße macht müde und körperlich krank. Dazu kommt neben der Kälte im Winter nun auch die Hitze im Sommer, die den Kreislauf sehr belastet. Die Zahl der öffentlichen Wasserspender ist in den vergangenen Monaten zwar ausgebaut worden. Trotzdem ist die Trinkwasserversorgung für Menschen, die auf der Straße leben, immer noch eine tägliche Herausforderung.

File:Armut Bettler Obdachlos (12269249596).jpg

Hilfemobile wie der Mitternachtsbus fahren durch die Innenstadt und haben Wasser, weitere Lebensmittel und Hilfen zum Überleben an Bord. Jede Nacht verteilen unsere Ehrenamtlichen dazu Decken und Schlafsäcke und kommen mit den Menschen auf der Straße ins Gespräch. Ziel ist es, auf weiterführende Hilfeeinrichtungen zu verweisen und die Menschen nicht allein in ihrem Schicksal zu lassen. Überflüssig konnten wir uns seit der Gründung 1996 nicht machen – die Menschen leben immer noch auf der Straße. Täglich kommen neue hinzu, auch aus EU-Staaten wie Bulgarien, Polen und Rumänien. Es fehlt an weiterführenden Hilfeangeboten und an Wohnraum.

Obdachlose stehen auf dem Wohnungsmarkt hinten an

Der Wohnungsmarkt ist angespannt. Auch wenn es in Hamburg das „Bündnis für das Wohnen“ gibt, werden zu wenig neue Wohnungen gebaut und fertig gestellt. Gleichzeitig fallen jedes Jahr viele §5-Schein-Wohnungen aus der Preisbindung heraus, so dass die Schere zwischen Nachfrage und Angebot im preisgünstigen Bereich immer größer wird.

Welcher private Vermieter gibt seine Wohnung an Menschen ohne Obdach und Arbeit, dafür aber mit Schulden?

Obdachlose Menschen stehen ganz hinten in der Schlange an. Welcher private Vermieter gibt seine Wohnung an Menschen ohne Obdach, dafür aber mit Schulden, ohne Arbeit und geregelten Tagesablauf? Die öffentlich-rechtlichen Unterkünfte sind in der Regel voll und es gibt Wartelisten. Oft passen sie auch nicht zu den Bedarfen der Menschen. Sie können ihr Haustier genauso wenig mitnehmen wie den Partner oder die Partnerin.

Viele kommen dazu nicht mit großen Unterkünften zurecht. Die Suche nach einer Bleibe ist daher mühsam und ein langer Weg. Viele Menschen versuchen es gar nicht erst oder geben mittendrin auf und schlafen dann doch wieder unter den Brücken der Stadt. Die Menschen können ihr Leben aber erst wieder neu regeln, wenn sie zur Ruhe kommen. Von Ruhe kann beim Leben auf der Straße allerdings keine Rede sein – es ist ein täglicher Überlebenskampf.

Quelle          :            TAZ.online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Homeless person, Hamburg City.

Author/Photographer: Hendrike, 1997

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Unten      — 

Description Armut Bettler Obdachlos
Date
Source Armut Bettler Obdachlos

Author blu-news.org
w:en:Creative Commons
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Gewalt im Schwimmbad

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Juli 2023

Krasse Welle durch die Republik

Von Sabina Zollner und Plutonia Plarre

In Berliner Freibädern gibt es immer wieder Randale – und sofort diskutiert halb Deutschland über Jugendgewalt. Eine Reportage vom Beckenrand.

Samstag, 8.52 Uhr, 22 Grad: „Ausweis bitte“, fordert ein breitschultriger, korpulenter Security am Eingang des Berliner Prinzenbads, ein schneller Blick, das war’s. Vor dem Eingang des besucherstärksten Schwimmbad Berlins warten Frühschwimmer:innen, Hipster und junge Familien in einer etwa 30 Meter langen Schlange auf eine Abkühlung. Es sollen heute 35 Grad werden, Wartezeit schon jetzt knapp 20 Minuten.

Drinnen herrscht morgendliche Freibadidylle. Am Kiosk sitzt ein Pärchen im Schatten der roten Sonnenschirme, Weißbrot mit Rührei vor ihnen auf dem Teller. Das türkisblaue Wasser des Sportbeckens glitzert in der Sonne, während Menschen ordentlich ihre Bahnen ziehen. Im danebenliegenden Kinder- und Nichtschwimmerbecken ist noch wenig los. Und auch im Terrassenbecken mit abgesperrtem Sprungbereich sind lediglich ein paar Mor­gen­schwim­me­r:in­nen zu sehen.

Hat man die Medienberichte der vergangenen Woche verfolgt, könnte man meinen, in Berliner Schwimmbädern herrschen anarchistische Zustände. Von einer “Welle der Gewalt“ war dort die Rede, weshalb sich viele Familien nicht mehr ins Freibad trauten. Wiederholt hatte es in diesem Sommer in dem nur drei Kilometer vom Kreuzberger Prinzenbad entfernten Columbiabad in Berlin-Neukölln gewaltsame Auseinandersetzungen von Jugendlichen mit dem Badpersonal und Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes gegeben.

In der vergangenen Woche wurde das Bad geräumt und blieb anschließend wegen Krankmeldungen des Personals erst mal geschlossen. Und das genau zu Ferienbeginn im strukturschwachen und multikulturellen Bezirk Neukölln, wo sich viele Familien keine Urlaubsreise leisten können. Als dann noch ein Brandbrief der Belegschaft, bereits Mitte Juni an die kommunalen Berliner Bäderbetriebe (BBB) geschickt, die Öffentlichkeit erreichte, war der Skandal perfekt. Sogar die Bundespolitik stieg in die Diskussion darüber ein, wie man in den Berliner Freibädern durchgreifen soll.

In dem Brandbrief ist von einem „untragbaren Ausmaß der Umstände“ die Rede. Mitarbeitern, Frauen, Minderheiten, besonders trans und queeren Menschen werde immer häufiger Gewalt angedroht. Verbale Attacken, Pöbeleien und Spucken seien üblich. Meist seien es Jugendliche, die sich von Bademeistern nichts sagen ließen, die „als Mob“ aufträten. Seit Samstag gelten deshalb in allen Berliner Freibädern neue Sicherheitsmaßnahmen. Be­su­che­r:in­nen müssen ihren Ausweis am Eingang zeigen, es gibt mehr Securities und einen Einlassstopp, wenn es zu voll wird. An sogenannten Konfliktbädern wie dem Prinzen- und Columbiabad sind mobile Wachen der Polizei stationiert.

Mit etwas Abstand betrachtet nach der überhitzt geführten Debatte: Wie sinnvoll sind diese Maßnahmen?

Schlägerei unter Jungs mit Migrationshintergrund? Steilvorlage für einen sommerlichen Kulturkampf

11.33 Uhr, 27 Grad: Das Planschbecken füllt sich langsam, am Beckenrand stellen einige Frauen mit Kopftuch ihre Gartenstühle auf. Ein paar Meter weiter sitzen zwei Frauen im Schatten. Die beiden Mütter wollen ihren Namen nicht nennen, in der Sorge, dass sie nur „Quatsch“ erzählen. „Schreib einfach: eine türkische und eine arabische Mutter“, sagen sie. Von ihrem Platz blickt man direkt auf das Nichtschwimmerbecken mit sprudelnden Wasserpilzen, in dem die Kinder der beiden planschen. Die beiden Mütter sind heute extra früh gekommen, nachmittags wird es ihnen zu voll im Bad.

Was sagen sie zu der Situation in den Freibädern? „Das wird schon schlimmer dargestellt, als es ist“, sagt eine der Mütter, die im Sommer regelmäßig ins Prinzenbad kommt und in der Nähe wohnt. „Und die Medien schlachten das schon aus, weil es um Jungs mit Migrationshintergrund geht“, ergänzt sie. Ihre Freundin kontert: „Ja, aber ich mache mir manchmal schon auch Sorgen um die Sicherheit meiner Tochter hier.“

Woher die Gewalt kommt? Pubertät, kommt die Antwort schnell. Da beleidige der eine die Mutter oder Schwester des anderen, der fühle sich angegriffen in seinem „männlichen“ Stolz und prompt eskaliere es. „Aber man darf nicht vergessen, das sind Kinder, man weiß nie, was bei denen zu Hause los ist“, sagt die Kreuzberger Mutter.

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Die Nutzergruppen im Kreuzberger Prinzenbad sind ähnlich wie die im Neuköllner Columbia­bad, dem am zweitstärksten frequentierten Freibad in Berlin. Aber das Bad ist anders aufgebaut. Dort gibt es ein Becken mit einem zehn Meter hohen Sprungturm sowie einer 83 Meter langen Rutsche – die längste in Berlins Freibädern. Damit zieht das Columbiabad Jugendliche und junge Männer magisch an.

Auf dem Sprungturm können sie ihre Kräfte messen und auch die Rutsche hat die nötige Länge für Spinnereien. Das ist wohl mit der Hauptgrund, warum das Columbiabad deutlich öfter als das Prinzenbad in die Schlagzeilen gerät. Jugendgangs blockieren die Rutsche, lassen sich nichts sagen, wenn das Personal einschreitet, werden körperlich übergriffig. Es kommt zum Polizeieinsatz – und, wenn alle Stricke reißen, zur Räumung des Bades. Seit dem 22. Juni sind deshalb Rutsche und Sprungturm gesperrt. Die Maßnahme konnte die Randale im Juli jedoch nicht verhindern. Die Sinn-Frage dieser Maßnahme steht also im Raum.

Mit der Schließung des Columbiabads vergangene Woche begann dann eine Mediendebatte. Eine Schlägerei unter Jugendlichen mit Migra­tionshintergrund? Eine Steilvorlage für konservative Medien und Po­li­ti­ke­r:in­nen, um einen sommerlichen Kulturkampf anzuzetteln.

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte die konsequente Bestrafung von Gewalttätern noch am Tattag, mittels Schnellverfahren. Und die AfD wusste sofort: „Wer seine Grenze nicht schützen mag, muss später Freibäder schließen.“

Am Freitag packte der frisch gekürte Berliner Bürgermeister Kai Wegner (CDU) die Gelegenheit beim Schopfe, um sich als Mann der Tat zu inszenieren, und verkündete vor Ort die neuen Maßnahmen. Der innenpolitische Sprecher der Linken, Niklas Schrader, warf Wegner daraufhin „billigen Aktivismus“ vor. Wenn eine kleine Minderheit in den Bädern aus der Rolle falle, „warum sollen dann alle bestraft werden?“, sagte er.

12.30 Uhr, 30 Grad: „Ausweiskontrolle? So ein Scheiß, der hat nicht mal richtig auf meinen geguckt“, sagt ein junger Mann auf der Liegewiese. Er ist mit seinen Freunden hier, sie kicken gerade mit einem Fußball hin und her, drehen gemütlich einen Joint, während im Hintergrund Stromae mit „Let’s dance“ aus den Boxen dröhnt. In der Entfernung sind mehrere Security-Mitarbeiter:innen zu sehen, die im Doppelpack das Freibad ablaufen. Die Journalistin wird anfangs eher skeptisch empfangen. Einer fragt: „Für welche Zeitung schreibst du?“ Als sie „taz“ hören, wirkt die Gruppe etwas offener. „Ihr schreibt nicht so scheiße über Ausländer,“ sagt einer der Jungs.

Ein Mädchen im Prinzenbad„Mein Cousin hat letzte Woche Hausverbot bekommen und ist jetzt wieder da“

Ob sie über die Situation in den Freibädern reden wollen? Ja, eigentlich schon, aber lass uns erst noch rauchen. Dann kommt ein anderer Freund aus der Entfernung angerannt und redet auf Türkisch auf die Gruppe ein, er will die Gruppe davon abhalten, mit der Journalistin zu reden. Einer ist dann doch bereit zu sprechen, will aber auch anonym bleiben.

Der 22-Jährige ist regelmäßig im Prinzenbad, sagt er. Columbiabad? Eher nicht, da gebe es immer Stress. „Das ist so ein Sehen und Gesehenwerden dort“, sagt er. Und warum es da immer so eskaliert? „Manche Leute lassen sich einfach schneller provozieren als andere, die reagieren dann über.“ Was hält er von der ganzen Mediendebatte rund um die Herkunft der Jugendlichen? „Hat mich nicht überrascht, die Medien sind schon länger in ihrem Klischeefilm, die machen ja auch Geld damit“, sagt er.

Das Freibad ist ein Ort, an dem man sich gegenseitig aushalten muss. Hier kommen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, Milieus und sozialen Schichten zusammen. Dass es hier zu Konflikten kommt, ist naheliegend. Menschen werden mit steigenden Temperaturen aggressiver, Hitze ist anstrengend. Deshalb ist das Freibad ein Ort, der nur mit Regeln funktioniert. Werden diese gebrochen, kann ein Hausverbot erteilt werden oder im schlimmsten Fall eine Strafanzeige.

Wirft man einen Blick auf die Zahlen für Berlin, sieht man jedoch, dass die Gewalt in Freibädern abnimmt. Insgesamt gab es 2022 laut Berliner Polizeistatistik 77.859 Gewaltdelikte – davon 57 in Freibädern. 2019, dem Sommer vor der Coronapandemie, waren es noch 71 Freibad-Vorfälle.

Die Ausweiskontrolle soll nun unter anderem ermöglichen, dass die Hausverbote besser durchgesetzt werden können. Laut der Bäderbetriebe werden Hausverbote bisher nur kontrolliert, wenn die Person nochmals auffällig wird. Erst dann wird eine Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch erstattet. Wie es in den Bädern ohne Datenabgleichgerät gelingen soll, mit Hausverbot belegte Gewalttäter schon am Eingang herauszufischen, ist völlig offen.

Die Ausweise händisch mit einer Liste abzugleichen wäre realitätsfremd. „Das könnte man auch nicht allen zumuten, dass die Ausweise am Eingang kontrolliert werden“, sagt Soziologe Albert Scherr, der zu sozialer Arbeit und Jugend forscht. Denn es gehe auch darum, über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen nachzudenken. Was macht das mit dem Ort Freibad, wenn jeder am Eingang seinen Ausweis zeigen muss, überall Securities herumlaufen und eine Polizeiwache vor der Tür steht? Wirkt das überhaupt deeskalierend? Und fühlen sich Leute dadurch sicherer?

14 Uhr, 33 Grad, im Sprungbereich des Prinzenbads: „Junge, mach mal Arschbombe“, ruft einer seinem Freund entgegen. Dieser sprintet auf das Becken zu, und platsch, landet er im Wasser. Ein anderer taucht am Beckenrand auf, spuckt ins Gitter. Etwas abseits eine Gruppe von Teenagerinnen, alle ungefähr zwischen 12 und 15 Jahren alt. „Es gibt hier immer Stress. Mein Cousin hat letzte Woche Hausverbot bekommen und ist jetzt wieder da“, sagt eine. Was sie von den vielen Securities halten? „Die helfen eh nicht.“ Warum? „Die Jungs hören nicht auf sie – und können ja eh wieder ins Bad, auch wenn sie sich prügeln.“ Was die Streite auslöst? „Wenn jemand die Schwester oder die Mutter beleidigt, dies, das, dann rasten die aus.“ Die Kreuzberger, sagt ein Mädchen, seien „einfach stressgeil“. Die Gruppe verabschiedet sich. Im Sprungbereich wird es immer voller.

Es ist lange her, aber auch das Prinzenbad galt früher als Krawallbad. Massenschlägereien habe es Ende der 80er-Jahre „ständig“ gegeben, erzählte Bademeister Simon K. der taz einmal 2003 in einem Interview. In seiner ersten Saison habe er gleich ein Messer in den Rücken bekommen. „Zeitweise haben wir mit 25 Zivilpolizisten Dienst gemacht“. Befriedet habe man das Bad durch „massenhafte Anzeigen und Hausverbote“.

Quelle       :        TAZ-online            >>>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     A large wave towering astern of the NOAA Ship DELAWARE II. Atlantic Ocean, New England Seamount Chain. 2005.

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300 Jahre Adam Smith

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Juli 2023

Ausbeutung macht arm

KOLUMNE FINANZKASINO  von  Ulrike Herrmann

Adam Smith war einer der wichtigsten Ökonomen und Moralphilosoph. Er wusste: Reich wird man nur, wenn auch die anderen reich sind.

Was waren die herausragenden Leistungen von Adam Smith? Das ist umstritten. Der schottische Aufklärer wurde vor 300 Jahren geboren, und aus diesem Anlass schrieb der Ökonom Konstantin Peveling kürzlich in der taz, dass Smith zwar ein sehr wichtiger Moralphilosoph gewesen sei, aber „nicht Gründer der Volkswirtschaftslehre“. Was für ein Irrtum. Smith war einer der kreativsten Ökonomen aller Zeiten, und sein Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ von 1776 ist noch heute hochaktuell.

Übrigens war es früher gängig, dass die Ökonomie von Fachfremden vorangetrieben wurde, denn die Volkswirtschaftslehre hat sich erst sehr spät als Fach etabliert. Karl Marx war bekanntlich auch Philosoph, und der wichtigste Ökonom des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes, hat zunächst als Mathematiker begonnen.

Doch zurück zu Smith: Er wollte erklären, wie es zu Wohlstand und Wachstum kommt. Bis dahin hatten die Fürsten naiv angenommen, dass man nur Gold- und Silbermünzen anhäufen müsse, um reich zu sein. Smith hingegen zeigte, dass die Edelmetalle nicht zählen, sondern dass die Arbeit entscheidend ist.

Heute erscheint es uns selbstverständlich, dass es ohne Arbeit keinen Wohlstand geben kann. Aber hinter dieser Einsicht verbirgt sich eine theo­retische Revolution, die die Ökonomie für immer verändert hat. Gold und Silber sind Vermögenswerte, im Wirtschaftsdeutsch auch „Bestandsgrößen“ genannt. Man hat Goldmünzen – oder man hat sie eben nicht. Indem Smith jedoch die Arbeit in den Mittelpunkt rückte, lenkte er den Blick auf das Einkommen, also eine „Strömungsgröße“. Reichtum wurde neu definiert: Es ist kein Besitz, den man in Tresoren lagern kann, sondern wird erst durch den Produktionsprozess erschaffen.

Smith entdeckte die zentrale Rolle der Kapitalisten

Aber wer erwirtschaftet dieses Einkommen? Wieder gelang es Smith, die Ökonomie völlig neu zu ordnen, indem er drei zentrale Gruppen ausmachte – die Landbesitzer, die Arbeiter und die Unternehmer.

So erstaunlich es heute erscheinen mag: Frühere Theoretiker hatten die Bedeutung der Kapitalisten völlig übersehen. Typisch waren etwa die französischen Physiokraten, die nach Wirtschaftszweigen und nicht nach sozialer Rolle unterschieden hatten. Bei den Physiokraten war die Landwirtschaft eine Klasse, in der dann sowohl Landbesitzer wie Landarbeiter versammelt waren – während sich in einer anderen Klasse die Manufakturbesitzer, Handwerker und Fabrikarbeiter wiederfanden.

Erst Smith bündelte die Kapitalisten in einer Klasse – und die Arbeiter in einer anderen. Bei ihm spielte es keine Rolle mehr, ob die Tagelöhner auf dem Land oder in der Fabrik schufteten, denn sie waren alle abhängig beschäftigt. Zugleich zeichneten sich Unternehmer branchenunabhängig dadurch aus, dass sie in die Produktion investierten, um Gewinne zu machen. Uns erscheint diese Erkenntnis trivial, aber es war eine theoretische Revolution, den Kapitalisten als eine zentrale Figur im Kapitalismus zu erkennen.

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Aber wer wird Kapitalist und wer Arbeiter? Wer wird reich und wer muss schuften? Wieder war Smith seiner Zeit weit voraus, denn er sagte eindeutig: Mit der Begabung des Einzelnen hat es überhaupt nichts zu tun, ob er Tagelöhner oder Philosoph wird. Smith glaubte nicht an Intelligenzunterschiede zwischen Arm und Reich, sondern hielt es für eine soziale Zufälligkeit, wer das Glück hat, in die höheren Ränge hineingeboren zu werden. Die neoliberale Rhetorik von den „Leistungsträgern“ hätte er als naiv abgetan.

Die Angst vor der Globalisierung ist nicht neu

Smith wollte die Tagelöhner daher besser stellen: Er forderte höhere Löhne und hätte Gewerkschaften begrüßt. Auch sollten die Kinder von Tagelöhnern zumindest Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Erneut war Smith revolutionärer, als es heute erscheint: Die allgemeine Schulpflicht wurde in England erst 1871 eingeführt.

Schon zu Smith’ Zeiten gab es Diskussionen, die überaus vertraut anmuten. Großbritannien war damals die führende Industrienation, und die Engländer machten sich Sorgen, dass die anderen europäischen Länder genauso reich werden könnten, wenn man ihre Waren unbeschränkt importierte. Die Angst vor der Globalisierung ist also nicht neu – nur dass man sich damals vor Frankreich fürchtete, während jetzt vor allem Chinas Aufstieg gemischte Gefühle auslöst.

Smith versuchte seine Mitbürger zu beruhigen, indem er auf ein Phänomen hinwies, das bis heute zu beobachten ist: Reiche Länder handeln vor allem mit anderen reichen Ländern, denn nur wo Wohlstand herrscht, kann Nachfrage nach auswärtigen Produkten entstehen.

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —     St. Giles Adam Smith, Edingburgh

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Unten       —       MAISCHBERGER am 6. März 2019 in Köln. Produziert vom WDR. Thema der Sendung: „Attacke auf die Reichen: Beschimpfen, besteuern, enteignen?“ Foto: Ulrike Herrmann, Journalistin

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Die Gratismentalität der FDP

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Juli 2023

Leistung muss sich lohnen, findet die FDP.

NRW-Landtagswahlkampf 2012. Münster, 14. April 2012

Wenn Hände reden, kann auf den Kopf verzichtet werden !

Ein Debattenbeitrag von : JASMIN KALARICKAL

Aber wessen Leistung ist gemeint? Nicht nur beim Streit übers Elterngeld steht die Partei an der Seite der Reichen. Die Leistung-muss-sich-lohnen-Logik gilt für die Liberalen immer nur für Ärmere, nie für die eigene Klientel.

Ausgerechnet die als Porsche fahrende Männerpartei verschriene FDP ist plötzlich besorgt um die Gleichstellung. Stichwort Elterngeld. Als die grüne Familienministerin Lisa Paus im Zuge des Lindner’schen Sparkurses entschied, dass Spitzenverdiener-Haushalte kein Elterngeld bekommen sollen, war die FDP schnell auf den Barrikaden. Das träfe die „Mitte der Gesellschaft“, mahnten FDP-Politiker*innen und zeigten, wie verrutscht ihre Maßstäbe sind. Paus plant, dass es kein Elterngeld mehr für Haushalte geben soll, die ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von 150.000 Euro haben. Das wären 5 Prozent der Elterngeldbezieher*innen. Das durchschnittliche Jahreseinkommenlag 2022 in Deutschland bei knapp 40.000 Euro brutto im Jahr. Wenn reiche Haushalte nun auf Elterngeld bestehen, könnte man das mit Lindners Worten „Gratismentalität“ nennen.

Es ist bezeichnend, dass die fehlende Finanzierungsgrundlage für eine vernünftige Kindergrundsicherung oder einen angemessenen Mindestlohn zu Inflationszeiten nicht ansatzweise so viel Protest hervorbrachte. Dabei betrifft beides viel mehr Menschen. Doch ärmeren Menschen und Familien fehlt eine schlagkräftige Lobby. Die Unternehmerin Verena Pausder, die die Petition gegen die Elterngeldkürzung der Spit­zen­ver­die­ne­r*in­nen startete, hatte zumindest 2017 genug Geld übrig, um der FDP rund 50.000 Euro zu spenden. Das als Anekdote am Rande.

FDP-Bundestagsabgeordnete Katja Adler fand die Elterngeldkürzung so schlimm, dass sie vorschlug, stattdessen lieber bei der Antidiskriminierungsstelle und der Demokratieförderung zu sparen – mitten im AfD-Umfragehoch. Adler beklagte, dass die Familienministerin ausgerechnet bei den „Leistungsträgern unserer Gesellschaft“ kürze – was Grundsätzliches über das Selbstverständnis der FDP erzählt. In der Vorstellung der FDP ist wohl nur Leis­tungs­trä­ge­r*in, wer 75.000 Euro brutto aufwärts verdient. Also – wer viel Geld verdient, leistet viel. Dabei gehören viele der systemrelevanten Berufe nicht zu den Spitzenverdiener*innen. Hatte das Land in der Pandemie nicht noch für Pflegekräfte und Kas­sie­re­r*in­nen geklatscht? Wie viel unbezahlte, wertvolle Arbeit wird in diesem Land geleistet, etwa von pflegenden Angehörigen? Wer sticht den Spargel auf den Feldern? Wie viele Menschen müssen trotz Arbeit aufstocken? Die FDP blendet diese Realitäten bewusst aus. Es sind nicht ihre Zielgruppen.

Für die Partei gilt der Satz: Leistung muss sich lohnen. Die, die arbeiten, sollen mehr haben als die, die nicht arbeiten. Das muss nicht falsch sein. Doch die Partei argumentiert so gegen jede Erhöhung von Sozialleistungen, sei es Bürgergeld oder Kindergrundsicherung. Menschen, die für niedrige Löhne schuften, werden damit gegen jene ausgespielt, die auf Sozialhilfe angewiesen sind.

Das wahre Problem wird gar nicht adressiert: Der so genannte Lohnabstand ist oft nur deshalb so gering, weil Deutschland im europäischen Vergleich einen großen Niedriglohnsektor hat.Viele Menschen arbeiten und kommen trotzdem nicht über die Runden. 820.000 Beschäftigte mussten 2022 zusätzlich Sozialhilfe beziehen – besonders Alleinerziehende. Zwar sinkt der Anteil der Aufstocker*innen, 2011 waren es noch 1,35 Millionen. Dennoch gilt: Manche Unternehmen haben Ausbeutung zum Geschäftsmodell gemacht. Das wird als gegeben hingenommen.

6 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland zum Mindestlohn, viele sind weiblich, viele leben im Osten – doch wenn es um dieses Thema geht, ist Gleichstellung der FDP nicht so wichtig. Die Partei stemmt sich gegen weitere Mindestlohnerhöhungen, das würde den Wirtschaftsstandort schwächen und sei nicht Aufgabe der Politik. Zwar hat die FDP in der Ampelregierung die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro mitgetragen. Im Gegen­zug hat sie darauf bestanden, dass die Minijobgrenze an den Mindestlohn gekoppelt wird. Das ist zunächst für Mi­ni­job­be­r*in­nen eine Verbesserung – doch Gewerkschaften warnen, dass damit reguläre, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verdrängt werden. Ein Ergebnis schlechter Löhne ist: Jedes fünfte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet.

Das Perfide ist: Die Leistung-muss-sich-lohnen-Logik der FDP wird nur in Bezug auf arme Menschen angewandt. Denn eine Reform der Erbschaftsteuer ist ein absolutes No-go für die FDP. Dabei könnte das durchaus ein Thema sein für eine liberale Partei, die für Leistungsgerechtigkeit eintreten möchte. Erben ist ja nichts anderes als leistungsloses Einkommen. Aber da zeigt sich die Doppelmoral der FDP: Es geht ihr um die Besitzstandswahrung.

Quelle         :         TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben     —       NRW-Landtagswahlkampf 2012. Münster, 14. April 2012

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Linke zündet eine Rackete

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Juli 2023

Carola Rackete und Gerhard Trabert möchten für DIE LINKE ins Europaparlament

Quelle       :        Scharf  —  Links

Kommentar von Edith Bartelmus-Scholich

Für Viele überraschend haben die Vorsitzenden der Partei DIE LINKE heute öffentlich ein Spitzenteam für die Wahl des Europäischen Parlaments vorgeschlagen. Zwei der ersten vier Listenplätze sollen danach an Parteilose gehen. Carola Rackete und Gerhard Trabert haben sich bereit erklärt zu kandidieren um die Linke und die Partei DIE LINKE zu stärken und sozialen Bewegungen Zugang und Stimme im EU-Parlament zu ermöglichen.

Angeführt werden soll die Liste von Martin Schirdewan, der seine Arbeit im Europaparlament fortsetzen möchte. Auf Platz 2 soll die Klimaaktivistin und Seenotretterin Carola Rakete kandidieren. Platz 3 soll an die Abgeordnete Özlem Demirel gehen und auf Platz 4 der Liste soll der Sozialmediziner und Armenarzt Gerhard Trabert gewählt werden. Der Vorschlag der Vorsitzenden wird im September im Bundesausschuss der Partei, welcher der Bundesvertreterversammlung eine Liste vorschlägt, beraten. Mitte November erfolgt dann in Augsburg die Wahl dieser Liste. Alles andere als eine Bestätigung durch die Vertreter*innen wäre eine große Überraschung.

Den Vorsitzenden ist heute ein Coup gelungen, der sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei DIE LINKE viel Aufmerksamkeit generiert. Der Vorschlag zeigt, dass der Vorstand nach dem politischen Bruch mit Wagenknecht begonnen hat, die Partei neu auszurichten und zwar als bewegungsorientierte Klassenpartei.

Mit den Vorschlägen werden jeweils unterschiedliche Facetten der sozialen Frage besetzt: Carola Rackete steht für tätige internationale Solidarität mit Geflüchteten und für weltweite Klimagerechtigkeit. Özlem Demirel als Gewerkschafterin adressiert klassisch den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Gerhard Trabert hilft als Arzt armen Menschen, die aus sozialen Sicherungssystemen herausgefallen sind. Das ist ein politisches Angebot an alle Lohnabhängigen, egal ob und unter welchen Bedingungen sie arbeiten und leben und egal wie lange sie schon in Deutschland sind. Soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit werden verbunden und die Verteidigung der Menschenrechte gegen die extreme Rechte und eine aktive Sozialpolitik für gute Arbeit zusammengebracht.

Auch ist ein erster Schritt getan, mit den sozialen Bewegungen, die zuletzt sehr auf Distanz zur LINKEN gegangen waren, in eine bessere und dauernde Zusammenarbeit einzutreten. Die Linke ist ja weit mehr als die gleichnamige Partei und diese gesellschaftliche Linke muss dringend gegen den Vormarsch der Rechten überall zusammenarbeiten. So entstand heute ein erstes, noch unvollständiges Bild einer erneuerten Linken, als eine Partei auf der Höhe der Zeit, die die Aufgaben, welche die multiple Krise des Kapitalismus stellt, anpackt, fortschrittliche Lösungen erarbeitet und rechten Narrativen eine Absage erteilt. Dementsprechend wurde der Personalvorschlag heute innerhalb der Partei ganz überwiegend mit Begeisterung aufgenommen.

Edith Bartelmus-Scholich, 17.07.2023

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Oben      —     Carola Rackete, Kapitänin der Sea-Watch 3 und Unterstützerin von Extinction Rebellion, Berlin, Friedrich-Ebert-Stiftung, 12.11.21

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Streik in Prato – Florenz

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Juli 2023

Italien: Die Ciompi in Florenz – Den Aufstand denken

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von               :      Anonymous

Zu Besuch an den Toren der Mondo Convenienza. Die roten Fahnen der Basisgewerkschaft Si Cobas zieren die Allee.

In der Via Gatinella in Prato, einem Industrievorort von Florenz, haben sich Streikposten vor dem Warenlager des Küchenlieferanten Mondo Convenienza eingerichtet. Das Haupttor ist für den Lieferverkehr gesperrt. Ein Seitentor wird aufgeworfen. Bei Einbruch der Dämmerung verlassen die Chefs und Manager in Kolonne das Grundstück. Ein paar Tage vorher reisten die Oberen des Küchen- und Möbellieferanten aus ganz Italien nach Bologna. Ein Manager aus Florenz steuerte einen Lieferwagen in die dortige Mahnwache der SI Cobas und verletzte einen 50-jährigen Kollegen schwer. 12 weitere Chefs prügelten dann auf die ArbeiterInnen ein und verteilten Morddrohungen.Vor dem Tor wird ein weisses Tuch als Sitzgelegenheit für das Abendessen ausgebreitet. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite wird unterdessen ein Open-Air-Kino aufgebaut. Dort treffe ich Agnès Perrais und Alessandro Stella. Agnès Perrais ist eine Filmkünstlerin aus Paris. Ihr neuer Dokumentarfilm über den Ciompi-Aufstand des 14. Jahrhunderts aus dem benachbarten Florenz hat an diesem Abend seine Premiere in Italien. Die grosse anarchistische Mystikerin des 20. Jahrhunderts, Simone Weil, nannte diesen Aufstand aus dem Jahr 1378 den ersten veritablen Arbeiteraufstand der Geschichte.

Alessandro Stella war aktiv in der Arbeiterautonomie, einer Bewegung von Dissidenten, die sich in den 70er Jahren bis in die kleinsten Dörfer um freie Radiosendungen und schicke Zeitschriften herum organisierte. Hinter dem Begriff der Autonomia steht die Einsicht, dass die Befreiung das Werk der ArbeiterInnen selbst sein muss. Im Jahr 1976 traf er die Entscheidung für den bewaffneten Kampf. Über Mexiko ging er Anfang der 80er Jahre ins Exil nach Frankreich. Heute arbeitet Stella als Historiker und ist Forschungsdirektor am CNRS in Paris.

Es geht los. Die Mannschaft hat sich vor der Leinwand versammelt. Die Zikaden halten den Atem an. Popcorn wird gereicht. Die Blätter der Bäume rahmen das Bild. – Ciompi – Es ist ein Film über die Stadt. Ein Film über die harte Arbeit einer rechtlosen Unterschicht. Gedreht wurde der Film mit einer Super-8- und einer 16-mm-Kamera. Der Blick von Agnès Perrais auf die urbane Landschaft ist lyrisch und zart. In sorgfältig komponierten Montagen wechselt die emotionale Intensität florentinischer Fresken mit Strassenszenen aus dem Florenz des 21. Jahrhunderts. Schlachtrufe kämpfender ArbeiterInnen wehen durch die Gassen. Der Rhythmus der Maschinen in einer Textilfabrik folgt mit seinem strengen Takt.

Im Hintergrund führt die rauchige Stimme von Alessandro Stella chronologisch durch die Geschichte des Aufstands. In für zeitgenössischen Film langsam anmutenden Sequenzen zeigt uns der Film die zeitgerechte Schönheit von Florenz. Kontrastiert wird die Geschichte der Ciompi – der Florentiner Arbeiter in der Kleidungsindustrie – mit Aufnahmen des 9-monatigen erfolgreichen Streiks der Si Cobas aus dem Jahr 2021 bei Textprint, einer Textilfabrik in Prato. Im gleichen Jahr wurde die Textilarbeiterin Luana D’Orazio aus Prato, Mutter von 5 Kindern, mit 22 Jahren von einer Maschine bei der Arbeit in den Tod gerissen. Ich lausche und werde unmerklich an Walter Benjamins Betrachtung „Der Erzähler“ erinnert. Ich schaue über meine Schulter. Ich sitze inmitten der Streikenden. Männer mit muskulösen Oberarmen in der hintersten Reihe.

Alle Augen sind auf die Leinwand gerichtet. Hier wird eine Geschichte erzählt. „Immer häufiger verbreitet sich Verlegenheit in der Runde, wenn der Wunsch nach einer Geschichte laut wird“, schreibt Walter Benjamin. „Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräusserlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen.“

Die historische Erfahrung, die der Film vermittelt, wird gesprochen von einem Alten des Aufstands, vor kämpfenden ArbeiterInnen. Doch es sind unsere eigenen weltlichen Erfahrungen als ArbeiterInnen, die hier durch den Abstand der Geschichte hindurch mit sanftem Pathos in die Perspektiven der Stadt eingewoben werden. Das Unterste, die Klassenkämpfe in der Stadt, die Mühsal der Arbeit, wird dabei nach oben gekehrt. Die ArbeiterInnen kommen zum Vorschein und beleben mit ihren Schreien und Aktionen die historische Landschaft. Es wird klar, dass das hier, was erzählt wird, ist unsere Zeit.

In traumhaften Sequenzen entsteht mit der Erzählung des erfolgreichen Streiks der Si Cobas eine Utopie zur Zukunft hin. Und Utopie, das ist der Traum einer Sache, dem nur das Bewusstsein fehlt, um sie wirklich zu haben. Mit die schönsten Aufnahmen gelingt – Ciompi – von der Piazza Tasso in Florenz und den umliegenden Strassen. Die typischen Häuser der Ciompi mit zwei bis drei Stockwerken und einem kleinen Hinterhof finden sich dort. Gleich neben der Piazza Tasso liegt der Landschaftsgarten Torrigiani aus dem 18. Jahrhundert im englischen Stil. Damals wie heute ist der Besuch des Gartens den reichen Familien der Florentiner Hierarchie gestattet. Oder man hat das Glück, eingeladen zu werden. Florenz wird von der Sozialdemokratie regiert.

Die Aufnahmen von Florenz sind teilweise bis zu 5 Jahre alt. Mittlerweile hat sich das Stadtbild jedoch weiter verändert. Das ehemalige Arbeiterviertel um die Piazza Tasso wurde innerhalb weniger Jahre gentrifiziert. Es gibt kaum noch eine Ecke in der Innenstad, in der nicht irgendetwas verkauft oder gehandelt wird. Noch vor Covid sammelten sich Jugendliche auf zentralen Plätzen in der Innenstadt, um gemeinsame Abenteuer auszuhecken. Das ist weitgehend Vergangenheit. Restaurants und Absperrungen prägen heute das Bild.

Die Jugendarbeitslosigkeit ist zwar mit 20% noch hoch, doch kein Vergleich zu den 30% von vor 5 Jahren. Zudem hat die faschistische Regierungschefin Meloni kürzlich einen während Covid aufgelegten Sozialfonds für arbeitslose Jugendliche gestrichen. Die Jugend leidet gerade wohl am meisten unter der faschistischen Rhetorik, die das gesamte Land von Links bis Rechts in einer Art Erziehungsanstalt für die Werte von Arbeit und Familie verwandelt. Doch dass der Kapitalismus in Italien durch Repression und Moralpredigten wieder an Dynamik gewinnt, ist unwahrscheinlich.

Der italienische Staat hat zusammen mit Griechenland die höchste Verschuldung in der Eurozone. Gleichzeitig ist das Vermögen italienischer Haushalte gestützt auf den Immobilienbesitz und damit weitgehend fiktiv. Mit dem Anstieg der Zinsen für Hypotheken wird es schwieriger für ArbeiterInnen der sogenannten Mittelschicht, Schulden gegen das eigene Haus aufzunehmen, um flüssig zu bleiben. Es gibt Inflation und stagnierende Löhne. Ein „guter“ brutto-Arbeiterlohn steht bei 1600 Euro pro Monat. Ein gutes Gehalt der oberen Mittelschicht bei 3000 Euro. Die Steuerbelastung beträgt gut 60%. Die Mieten steigen.

Die streikenden ArbeiterInnen von Mondo Convenienza schleppen Küchen 6 Tage die Woche für bis zu 14 Stunden am Tag bei einem Stundenlohn von 6 Euro. Sie verdienen dabei 1149 Euro pro Monat. Ohne angemessene Ausrüstung, bezahlte Überstunden und ohne Beachtung des Arbeitsschutzes. Die Löhne der TextilarbeiterInnen von Textprint lagen bei 3 Euro pro Stunde. Sie arbeiteten 7 Tage die Woche. Drogen, um durchzuhalten, gibt es bisweilen frei Haus.

Als die Bosse das Gelände von Mondo Convenienza verliessen, standen wir aufrecht und schwiegen. Ein junger Arbeiter wandte sich ab. Ich sehe Hass, Abscheu. Im Jahr 2021 wurde der Gewerkschaftler Adil Belakhdim bei einer Blockade von einem durchbrechenden Lkw in einem Industriegebiet der Stadt Novara im Norden von Italien getötet. Im Jahr 2022 wurden die Arbeitskämpfe der SI Cobas des Terrorismus angeklagt und Gewerkschafter aus Piacenza unter Hausarrest gestellt. Dabei fordern die SI Cobas nur, was ohnehin schon ein Mindeststandard im nationalen Arbeitsgesetz ist. Doch das Arbeitsgesetz wird systematisch umgangen. Die Wirtschaftsmacht Italiens basiert auf kleinen und mittelständischen Unternehmen, die vor allem in der Mitte und im Süden Italiens und konzentriert in bestimmten Branchen, wie der Logistik und der Landwirtschaft, mit informeller Beschäftigung konkurrieren. Ein reguläres Lohnniveau können sich viele dieser Firmen nicht leisten.

Angesichts des ganzen Schlamassels denken sich manche Rezensenten der Dokumentation im bürgerlichen Kulturbetrieb eine Welt ohne Arbeit, und vor allem bitte ohne Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie rutschen auf den Stühlen und finden, sie hätten keine Zeit für diese Geschichte. Andere sind der Meinung, der Ciompi-Aufstand solle für den Tourismus aufgearbeitet werden. Wieder andere warnen vor der im Film porträtierten Gewalt. Doch mit – Ciompi – hat Agnès Perrais ein intellektuell stimulierendes Werk geschaffen, das uns dazu ermutigt, den Aufstand in der Jetztzeit neu zu denken.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —       Il tumulto dei ciompi by Giuseppe Lorenzo Gatteri (18 September 1829 – 1 December 1884)

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Arm auf Kosten der Reichen

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Juli 2023

Perverser Reichtum auf Kosten der Armen

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

„Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Dieser Massenvernichtung begegnet die öffentliche Meinung des Westens mit eisiger Gleichgültigkeit,“ schrieb Jean Ziegler, als er UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung war.

Seitdem hat sich die Situation für die Armen widerlich verschlechtert, während die 500 reichsten Menschen im ersten Halbjahr 2023 einen Vermögenszuwachs von 852 Milliarden US-Dollar verbuchen konnten. Das ist eine schier unvorstellbare Zahl, die man erst einordnen kann, wenn man sie den 828 Millionen Menschen gegenüber stellt, die jeden Abend hungrig zu Bett gehen müssen. Oder den 330 Milliarden US$, die laut einer Oxfam-Studie notwendig sind, den Hunger auf der Welt bis 2030 zu besiegen. Es ist schlichtweg eine Schande für die wertegetriebenen westlichen Staaten, dass diese hier nicht ex cathedra einschreiten und diese leistungslosen Vermögenzuwächse mindestens teilweise dem Gemeinwohl der Menschen zugute kommen lassen. Die akute Notlage in der Welt wäre auf einen Schlag gelindert.

Geradezu vorbildlich verfährt da die chinesische Regierung. Sie will keinen brutal kapitalistischen Wettbewerb auf Kosten kleiner Unternehmen und der Verbraucher und stellt die menschlichen Interessen in den Mittelpunkt. In diesem Sinne forderte sie die beiden großen Anbietre von E-Autos, BYD und Tesla, auf, ruinöse Preiskämpfe zu unterlassen. Und siehe da, der geldgeile Musk (Tesla) bekennt sich prompt in China zu den dort geltenden sozialistischen Grundwerten. Da kann man wohl nur von einer tiefen Geistesspaltung ausgehen, wenn der größte Kapitalist der Welt in China seine Meinung ändert, um seine Marktposition abzusichern. Perverser geht’s nimmer!

Bereits 2021 beklagte sich David Beasley, dass wir uns schämen sollten, wenn täglich 24.000 Menschen an Hunger sterben, während gleichzeitig auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie das Nettovermögen der Milliardäre um 5,2 Milliarden US$ pro Tag steigt. Und Schande rief er über unser Nichtstun, wenn stündlich 1.000 Menschen an Hunger sterben und in der gleichen Zeit das Netto-Vermögen der Milliardäre um 216 Millionen US$ steigt. Und das Geldschäffeln ohne Ende geht blind für die Nöte der Welt weiter mit der Produktion von Waffen und Munition (Streubomben), mit die Natur zerstörendem Fracking für LNG usw.

An Hunger und Nöte aller Art ist der kapitalistische Westen nur dann interessiert, wenn damit umgekehrt proportional Geld gemacht werden kann. Solange BlackRock, Musk, Zuckerberg, Bezos bis hin zum König der Briten und Konsorten den Lauf der kapitalistischen Welt beherrschen und ihre Gewinne der Besteuerung trickreich entziehen und so dem Gemeinwohl vorenthalten, wird sich an dieser unglaublichen Ungerechtigkeit nichts ändern, bis hin zu den Flüchtlingsströmen wegen Hunger und Not, die wir nicht sehen wollen und als Missbrauch unseres Wohlstandes gedankenlos verhindern wollen.

Unsere Multimilliardäre sind ganz offenbar in die Gedankenwelt des ’Pecunia non olet’ („Geld stinkt nicht“) zurückgefallen und übersehen selbstgefällig, dass es sich nicht um stinkende Pisse handelt, sondern um den Leichengeruch verhungerter Menschen.

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Oben      —      Das neue Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer (1896)

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Lebensform ist Privatsache

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Juli 2023

Ehegattensplitting und Elterngeld

Der Leitartikel von Barbara Dribbusch

Geht es in der Politik um Geld, werden die Klischees ausgepackt. Die Annahme, das Steuersplitting halte Frauen vom Arbeitsmarkt fern, ist übergriffig.

Immer dann, wenn Po­li­ti­ke­r:in­nen Lebensformen auf- oder abwerten, um Kürzungen oder Nichtkürzungen zu rechtfertigen, sollten rote Warnlampen angehen. Denn Klischees werden ausgepackt, wenn es in die Interessenlage passt. Das war schon zu Zeiten der strukturellen Massenarbeitslosigkeit um die Jahrtausendwende so, als man Arbeitslosen Faulheit unterstellte, obwohl Jobs knapp waren.

Auch jetzt verlangt der Bundesfinanzminister Einsparungen. Und schon werden die Ressentiments ausgegraben. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil will dem „antiquierten Steuermodell“ des Ehegattensplittings, das nur „die klassische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau“ begünstige, „ein Ende setzen“.

Zur Klarstellung: Das Splitting trägt dazu bei, dass in Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften, in denen ei­ne*r mehr verdient als der andere, nicht mehr Steuern bezahlt werden müssen als in Partnerschaften, in denen beide gleich viel verdienen.

Hat beispielsweise in einer Ehe ei­ne*r der Part­ne­r:in­nen 50.000 und der oder die andere nur 10.000 Euro im Jahr zu versteuerndes Einkommen, so wären bei einer Individualbesteuerung ohne das Splitting 11.816 Euro Steuern fällig. Ein Paar, bei dem beide 30.000 Euro im Jahr verdienen, muss nur 9.902 Euro Steuern entrichten. Den gleichen Steuerbetrag zahlt ein ungleich verdienendes Paar dank des Splittingtarifs, den man freiwillig wählt.

Splitting ist nicht unlogisch

Das Splitting erweitere den „Spielraum“ einer Partnerschaft in der Aufgabenteilung, urteilte das Bundesverfassungsgericht 2013. Es gab schwulen Paaren recht, die den Splittingvorteil für ihre eingetragene Lebenspartnerschaft haben wollten. Wer heiratet oder sich verpartnert, verpflichtet sich zum Unterhalt für den oder die Part­ner:in. Also ist es nicht unlogisch, den zu versteuernden größeren Anteil am Einkommen rechnerisch zu reduzieren und einen Betrag dem oder der Part­ner*in zuzuordnen – nichts anderes geschieht beim Splitting.

Es gibt Reformmodelle von SPD und Grünen, die das Splitting durch eine individuellere Besteuerung ersetzen, bei der die Unterhaltsverpflichtung aber in Form von Freibeträgen berücksichtigt wird. Das würde für manche Ehepaare ­etwas höhere Steuern als bisher bedeuten und etwas mehr Geld für den Staat. Kann man machen für neue Ehen, sollte man aber auch so ansagen und sich das Gerede über irgendwelche „Anreize“ ­spare

Das Anreizgerede ist übergriffig

Am Bundesgerichtshof erging 2009 das Urteil, übrigens unter einer Frau als oberster Familienrichterin, die Unterhaltsrechte der ersten Ehefrau nach einer Langzeitehe dramatisch zu mindern, wenn der Mann danach eine zweite Familie gründet. Auch hier war von Anreizen für die ersten Ehefrauen die Rede, sich frühzeitig um einen Job zu bemühen, um selbstständig zu werden. Und die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, will die Witwenrente in der bisherigen Form abschaffen, weil die jetzige Regelung die „Anreize“ reduziere für Ehefrauen, eine eigene Beschäftigung aufzubauen.

Dieses Anreizgerede, die Sorge, das selbst gewählte Splitting halte die Frauen vom Arbeitsmarkt fern, wie Wis­sen­schaft­ler*in­nen behaupten, ist übergriffig. 75 Prozent der Mütter arbeiten, zwei Drittel davon in Teilzeit. Sie brauchen bessere Kinder- und Altenbetreuung, keine finanziellen Verschlechterungen.

Elterngeldkürzung wirkt wie ein Vertrauensbruch

Quelle         :            TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Print. Small surimono-style erotic prints from a series of actors as famous pairs of lovers. ?Fukonoya Daisuke and the courtesan Nanaura.

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KOLUMNE-Fernsicht-Indien

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Juli 2023

Sportfunktionäre sitzen Proteste der Frauen aus

Vogelbeobachtung (8618362879).jpg

Kolumne Fernsicht von  : PRIYANKA BORPUJARI

Mit Helden ist das so eine Sache: Sie können immer scheitern. Einige junge Wrestlerinnen wurden gar von der Polizei geschlagen.

Aber was geschieht, wenn wir sie im Stich lassen und sie zu Opfern eines toxischen Systems machen? Schauen wir auf Vinesh Phogat, eine erfolgreiche indische Wrestlerin, die mehrere Gold- und Silbermedaillen bei den Weltmeisterschaften, den Commonwealth Games und den Asian Games gewonnen hat. Doch im Mai twitterte sie: „Vom Siegertreppchen auf die Straße, um Mitternacht unter freiem Himmel, in der Hoffnung auf Gerechtigkeit.“ Mit ihr demonstriert Sakshi Malik auf den Straßen Neu-Delhis. Sie war 2016 die erste olympische Bronzemedaillengewinnerin im Wrestling aus Indien. Seit Januar protestieren diese jungen Sportlerinnen gegen Brij Mohan Charan Singh, den Vorsitzenden des indischen Wrestlingverbandes WFI. Sie und weitere junge Wrestlerinnen werfen dem Funktionär sexuelle Belästigung vor. Er wird auch der Selbstherrlichkeit, des Mobbings und der Veruntreuung von Geldern bezichtigt. Als Politiker der regierenden BJP wurden ihm noch weitere schwere Straftaten vorgeworfen.

Als die Sportlerinnen mit ihrem Protest begannen, versprach man ihnen eine Untersuchung ihrer Vorwürfe. Die Polizei nahm sogar Ermittlungen auf. Wenn Athletinnen zusätzlich zu ihrem anstrengenden Training die mentale Stärke für einen öffentlichen Protest aufbringen, sollten sie aber nicht erleben müssen, dass Männer ihre Macht missbrauchen und den Frauen drohen, deren sportliche Karrieren zu beenden.

Für viele indische Sportlerinnen geht es nicht nur um einen persönlichen Lebenstraum und den Ruhm für ihr Heimatland, sondern schlicht um ihren Lebensunterhalt. Wer beruflich Sport treibt, mit Kollegen und Trainern zu tun hat und sich auch in Trainingscamps aufhält, muss immer wieder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erleben. Der gesetzlich vorgeschriebene Ausschuss gegen sexuelle Belästigung existiert bei der WFI nur auf dem Papier.

Wirklich wie ein Keulenschlag trifft uns aber, dass diese Wrestlerinnen keinerlei Rückhalt aus der übrigen Welt des Sports erhalten. Sie ernten entweder dröhnendes Schweigen – oder sogar Vorhaltungen, weil sie sich beklagt haben. Einige von ihnen wurden gar von der Polizei geschlagen und festgenommen. Und dann geschahen seltsame Dinge, um die Proteste in Verruf zu bringen: Manipulierte Bilder der Ath­le­t:in­nen zeigten sie mit höhnischem Grinsen, als ob man zeigen wollte, dass sie einen heimtückischen Plan ausgeheckt hätten, das politische Aus des WFI-Vorsitzenden herbeizuführen.

Quelle         :       TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Juli 2023

Party – Stress mit Döpfner für den „Medieninsider“ 

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Springer-Chef Mathias Döpfner ist gegen einen Bericht über seine Geburstagsparty des Branchendienstes „Medieninsider“ vorgegangen – nicht aber gegen einen der „FT“.

Was ist der Unterschied zwischen Günther Jauch und Mathias Döpfner? Beide halten sich für Journalisten. Aber es gibt auch noch weitere Parallelen. Wenn sie feiern, sind die beiden gern unter sich. Jauch hatte im Juli 2006 seine Hochzeit mit über 100 Gästen in einem Potsdamer Schloss gefeiert. Berichterstattung darüber und vor allem Fotos hätten aber zu unterbleiben, hatte Jauchs Anwalt den Medien vorwarnend mitgeteilt. Als sich die Bunte nicht daran hielt, schleppte Jauch sie bis vor den Europäischen Menschengerichtshof – und verlor.

Neulich hat nun Mathias Döpfner seinen 60sten mit noch mehr Menschen nachgefeiert. Nicht in seinem Potsdamer Schloss, sondern in einem Anwesen in der Toskana. Ob die Bunte dabei war, ist nicht überliefert. Dafür berichtete zunächst der Online-Fachdienst Medieninsider, wer sich da sonst so alles tummelte. Twitter-Grabschaufler Elon Musk war da, Netflix-Mitgründer Reed Hastings und auch KKR-Europa-Boss Philip Freise.

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Doch der Medieninsider-Bericht von Döpfners Sause steht nicht mehr im Netz. „Ich bin gut darin beraten, den Inhalt des Beitrags nicht zu wiederholen. Der hat Döpfner nämlich so wenig gefallen, dass er gleich seine Anwälte bemühte, um juristische Schritte gegen uns einzuleiten“, schreibt Medieninsider-Mitgründer Marvin Schade in eigener Sache. Und dass das Ganze keine „rechtliche Entscheidung, sondern eine wirtschaftliche“ sei: „So eine rechtliche Auseinandersetzung bedeutet schwer kalkulierbare Kosten. Wir sind noch mitten im Aufbau von Medieninsider und wollen unsere Ressourcen in Medieninsider stecken, anstatt in einen wundersamen Rechtsstreit.“ Dazu passt, dass das EU-Parlament gerade eben den Entwurf für eine Richtlinie gegen Slapp-Klagen verabschiedet hat. Slapp steht für Strategic Lawsuit against Public Participation und soll Einschüchterungsklagen gegen unliebsame Berichterstattung erschweren.

Dabei war bei Döpfners Mottoparty durchaus public participation, wie ein anderes Medium berichtet. Es seien nämlich auch Menschen aus dem Ort und lokale Hand­wer­ke­r*in­nen eingeladen gewesen, die beim Ausbau von Döpfners toskanischer Butze mit Hand angelegt hatten. Wer welches Kostüm getragen hat, verrät die Financial Times zwar nicht, aber zitiert Teilnehmende, dass es gar nicht „so bombastisch“, sondern „ac­tual­ly very nice“ gewesen sei. „Hat das Wunderkind Julian Reichelt dort denn auch dem Geburtstagskind gratuliert?“, fragt die Mitbewohnerin.

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Hausgemachte Sackgasse

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Juli 2023

 Auswege aus der Misere sind nicht in Sicht

Ein Debattenbeitrag von Harriet Wolff

Am Freitag begeht Frankreich zwischen Frust, Gewalt und Pomp seinen alljährlichen Nationalfeiertag. Wegen des einst äußerst strengen Lockdowns gibt es jetzt Kinder und Jugendliche, die dem System entglitten sind.

Gemütlich frühstücken: Das hat Emmanuel Macron letzte Woche im südfranzösischen Pau getan. Da waren die gewaltsamen Unruhen gerade abgeflaut in den Banlieues, den Vorstädten der Republik, nach der Erschießung eines 17-jährigen Sohns algerischer Einwanderer durch einen Polizisten. Allein im Jahr 2022 tötete die Polizei insgesamt 13 Personen bei Kontrollen. Und was verkündet der Präsident beim Croissant? „Die republikanische Ordnung in Frankreich ist wiederhergestellt.“ Gut, dann hören wir hier auf zu schreiben. Doch leider ist nichts wieder gut, und auch rund um den Nationalfeiertag kommt es wohl erneut zu Unruhen.

Seit 40 Jahren und mehr sind die meisten Menschen strukturell massiv benachteiligt in den Banlieues, diesen schnell hochgezogenen Siedlungen, die ab Mitte der 1950er Jahre entstanden, als Hunderttausende Fran­zö­s:in­nen aus ehemaligen Kolonialgebieten, meist in Afrika gelegen, dringend Unterkunft brauchten. Mitgearbeitet und mitgebaut haben sie alle an der Industrialisierung und dem Wohlstand Frankreichs. Sie waren aber die ersten, die arbeits- und oft auch mittellos wurden, als in den 1980er Jahren die Globalisierung begann. Seitdem schneiden diese Quartiere bei Lebenserwartung, Bildungsabschluss und Haushaltseinkommen extrem schlecht im Vergleich ab. Aktuell steigt die Armut dort durch die Inflation. Trotzdem gibt es Erfolgsgeschichten, besonders Mädchen und Frauen emanzipieren sich oft von schwierigen Familienverhältnissen durch Bildung. Es existieren soziale Angebote für die, die in überforderte Familien geboren werden. „Es reicht aber hinten und vorne nicht“, sagen unisono Sozialarbeitende in den Banlieues.

Die sozialen Folgen der Coronapandemie zeigen sich jetzt während der Unruhen wie im Brennglas: Wegen des einst äußerst strengen Lockdowns und der Schulschließungen gibt es Kinder und Jugendliche, die dem System entglitten sind, die staatliche Autoritäten und niederschwellige Unterstützungsangebote negieren. Sie sind geprägt durch soziale Medien, die aber nur ein Baustein der Unruhen sind. Für den leider größeren Teil der etwa 68 Millionen Fran­zö­s:in­nen sind die rund 6 Millionen, die in schwierigen Vorstädten leben (müssen), gefühlt nicht existent. Und jetzt nimmt man zwei Millionen junge Menschen unter 24 Jahren samt ihren Eltern in moralische Kollektivhaftung dafür, was rund 10.000 allermeist Teenager sinnlos zerstört haben. Auch aus Wut auf einen Staat, der die republikanischen Werte der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wie eine Monstranz vor sich herträgt. Frankreich zieht keine Schlüsse daraus, dass an den Rändern der Gesellschaft die gute Botschaft schon lange nicht mehr ankommt, ja auch durch den Staat pervertiert wird.

Hinter brutal attackierten Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­r:in­nen und arrogant abgebügelten Jugendlichen, die zwar den französischen Pass haben, aber von Konservativen und Rechten nicht als „français de souche“, als echte Franzosen angesehen werden, sondern als eingewanderte Muslime, steht ein multiples Fiasko. Eines davon ist die viel zu geringe und wenig wirkungsmächtige Repräsentation der Banlieue im politischen Alltag der Fünften Republik. Hier muss eine Initiative greifen, die zum Ziel hat, nicht Mimikry an die weiße Republik zu betreiben, sondern die selbstbewusst die Vorstädte vertritt.

Wenn der Höhenrausch plötzlich im steilen Abstuz endet ! 

Unglaubwürdig signalisiert Macron jetzt „Demut“ vor dem galoppierenden Unruhenverlauf in ganz Frankreich. 2020 hatte er in Les Mureaux bei Paris, einer Art Vorzeige-Banlieue, kritisch getönt: „Unsere Republik hat die Ghettoisierung zugelassen, Ballungsräume für Elend und Schwierigkeiten geschaffen.“ Auch ließ er gleich 2017 einen „Plan Banlieue“ erstellen. Der wurde versenkt, wohl zu teuer, zu viel Ärger verursachend mit einer von Grund auf autoritär organisierten Polizei, für die Menschenfreundlichkeit meist ein Fremdwort ist. Die muss, soll sich in der Banlieue, die stellenweise mit viel Geld baulich aufgehübscht wird, etwas zum langfristig Guten wenden, dringend reformiert und stärker durch andere staatliche Organe kontrolliert werden. Sofort enden müssten die ständigen grundlosen, häufig rassistisch motivierten Personenkontrollen. Sie blockieren effektive Ermittlungen.

Macron, der nach den Gelbwestenprotesten Ende 2018 und dem Durchpeitschen der Rentenreform am Parlament vorbei, dieses Jahr bereits seine zweite inländische Krise erlebt, dankte beim Frühstück in Pau der Polizei. Es gäbe ein Problem fehlender Autorität in der Banlieue, aber dieser Mangel sei in der Familie begründet. Punkt. Die Exekutive steht stramm an der Seite der Polizei. Die kämpft mit Personalmangel, kriegt aber nur immer noch schärferes, teures Geschütz. Begleitet wird das von teils radikalisierten Polizeigewerkschaften. Eine nannte die Aufrührer „Schädlinge und wilde Horden“, schuld sei unter anderem die unkontrollierte Immigration. Dabei kommen laut Statistik rund 90 Prozent der Unruhestifter aus Frankreich.

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Oben      —     Doodlopende straat met koets

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Hitze-Hotspot Deutschland

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Juli 2023

Warum das Wasser immer knapper wird und was wir dagegen tun müssen

Liegt Jordanien neuerdings am Main? Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber warf jedenfalls unlängst den Vergleich in den Raum und warnte davor, dass es klimatisch so weit kommen könnte. Und tatsächlich lassen die letzten Jahre Schlimmes befürchten.

Schon im und nach dem Hitzesommer 2018 mussten im Würzburger Stadtgebiet 5000 vertrocknete Bäume gefällt werden. Ende August 2022 weckt die Landschaft nordwestlich der Bischofsstadt beim Besucher tatsächlich Assoziationen in Richtung Wüste. An einer Kuppe ragt ein verkrüppelter Baumstamm nach oben, unter den Schuhen vertrocknetes Gras, dazu ein träger, aber unangenehm heißer Wind, der verdorrte Blätter durch die Gegend schiebt. Vieh grast auf dieser Weide schon lange nicht mehr; was sollten die Kühe auch fressen? Hier wächst nichts mehr. Schwer drückt die Hitze auf diesen von der Sonne braun gebrannten Landstrich nordwestlich von Würzburg. Und die Stadt selbst kommt einem vor wie ein Backofen: Die heiße Luft steht, und jede noch so kleine körperliche Anstrengung lässt den Schweiß fließen.

Gemeinhin verbindet man mit Unterfranken sattgrüne Hänge, prächtige Weinberge, fruchtbares Land. Im Sommer 2022 aber leidet das nordwestliche Bayern unter Sonnenbrand und Hitzschlag. So wenig wie in jenem August habe es in ganz Nordbayern seit 62 Jahren nicht geregnet, rechnen Meteorologen vor. Vier Millimeter pro Quadratmeter, das seien 16 Prozent des durchschnittlichen Niederschlages dort in den Jahren 1971 bis 2000. Und selbst wenn man den vorausgegangenen Winter hinzurechnet, erreicht die Regenmenge in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 nur drei Viertel des langjährigen Mittelwertes. Unvorstellbar war das noch vor wenigen Jahren, doch nach 2018, 2019 und 2020 war 2022 schon das vierte Dürrejahr binnen kürzester Zeit in Deutschland.

Gleichzeitig wird das Wasserproblem immer sichtbarer. Der Grundwasserspiegel sinkt, fast die Hälfte der amtlichen Messpegel hierzulande weisen sehr niedrige Wasserstände aus. Die Versorgung mit Wasser schwächelte, für Gärten, Autos und Planschbecken war nicht mehr genug da. Frachter schipperten halb leer den Rhein rauf und runter, weil Deutschlands längster Fluss einen so niedrigen Wasserstand hatte, dass die Schiffe, voll beladen und bei entsprechend größerem Tiefgang, auf Grund gelaufen wären.

In manchen Gemeinden mussten gar Tankwagen anrücken, um die Einwohner mit frischem Trinkwasser zu versorgen, denn aus den Hähnen kam nichts mehr. Weil Brunnen ausgetrocknet waren, Flüsse, Bäche und Seen nur noch bedenklich wenig Wasser führten und die öffentlichen Versorger an ihre Grenzen kamen. In einer ganzen Reihe von Gemeinden haben die Verwaltungen verboten, private Schwimmbecken mit Leitungswasser zu befüllen, Spiel-, Sport- und Fußballplätze, überhaupt Rasenflächen zu gießen. Dementsprechend sehen sie aus. Manche Bäche sind zu Rinnsalen mutiert, der Wasserspiegel vieler Teiche ist geschrumpft.

Selbst der Main würde gefährlich austrocknen, würden nicht pro Sekunde elf Kubikmeter Wasser über ein Stausystem, bestehend aus dem Main-Donau-Kanal und dem Fränkischen Seenland südlich von Nürnberg, in den Fluss gepumpt. Was den Artenschützern Sorge bereitet: Die Wassertemperatur des Mains ist mit bis zu 25 Grad zu hoch für viele der in dem Fluss lebenden Tiere und Pflanzen. Die Gewässerökologie leidet. 25 Grad Wassertemperatur – das schaffte hier früher kein Freibad ohne Beheizung.

Auch der Anbau des Frankenweins wird immer schwieriger. In Steillagen vertrocknen Trauben oder bekommen Sonnenbrand, sofern die Weinberge Richtung Süden ausgerichtet sind, funktioniert es ohne Bewässerung nicht mehr. Immer mehr Extremsteillagen in Mainfranken werden von den Winzern aufgegeben; zu aufwendig wäre Bewässerung.

Ist der Zustand, den Heiko Paeth schon seit Jahren vorhergesagt hat, nun eingetreten? Er ist Klimaforscher an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, präziser formuliert: Leiter der Professur für Geografie mit Schwerpunkt Klimatologie am Lehrstuhl für Geomorphologie. Ein renommierter Experte weit über die Region hinaus. Schon 2016 hatte er Unterfranken zu „einem Hotspot des Klimawandels“ erklärt. Und im Mai 2019 hat er in einem Interview mit der in Würzburg erscheinenden „Main-Post“ präzise vorhergesagt, was dauerhaft geschehen wird. „Wir bekommen in etwa das Klima von Bordeaux, mit vier bis fünf Grad Erwärmung im Maintal, im Winter wie im Sommer. Wir hätten 20 bis 30 Prozent weniger Niederschlag im Sommer und etwa zehn Prozent mehr Niederschlag im Winter.“ Immer vorausgesetzt, es ändere sich klimapolitisch nichts Grundlegendes. Und das hat es nicht in den vergangenen Jahren.

Die Klimapolitik, die angekündigten diversen Wenden von Energie und Verkehr beispielsweise, sie kommt in Deutschland nicht wirklich voran. „Unser Planet hat sich seit Beginn der flächendeckenden Messungen im Jahr 1881 um 0,9 Grad erwärmt, Unterfranken im gleichen Zeitraum um zwei Grad“, rechnet Paeth vor. „Das ist mehr als doppelt so viel als im globalen Durchschnitt. Nur an den Polkappen liegt die Erwärmungsrate jenseits von drei Grad.“ Der Ausblick des Professors, bezogen auf die Region um Würzburg, fällt nicht nur im Main-Post-Interview wenig zuversichtlich aus. „Bis Ende des Jahrhunderts, also dem Zeitraum 2070 bis 2099, wird sich die Zahl der Hitzetage an manchen Orten im Vergleich zum Zeitraum 1970 bis 1999 verfünffachen.“ Und Paeth prophezeit: „Wir werden auch mit Dürren kämpfen müssen und haben gleichzeitig einen hohen Wasserbedarf.“ Er sei sich, so der Professor, „nicht mehr sicher, ob das rein physikalische Ausmaß des Klimawandels bei uns glimpflicher ablaufen wird als in der Sahelzone oder in Ostafrika“.

Vom Wasser als Abfall zum Wasser als Luxus

Dass Deutschland ein Wasserproblem hat und auf eine Krise zusteuert, ist unter Fachleuten und Politikern, die sich mit dem Thema beschäftigen, längst Gewissheit. Die Klimakrise hat demnach immer mehr Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von und die Versorgung mit Wasser.[1] „Es fehlt uns das Wasser in der Fläche und der Tiefe“, sagte der bayerische Umweltminister Thorsten Glauber am 28. Oktober 2020 in einer Regierungserklärung im Landtag – und er meinte damit nicht nur den Freistaat. „Der hitzegestresste Boden wird zu Knäckebrot, irgendwann zu Sand, er hat kein Wasser mehr und nimmt auch keines mehr auf“, schilderte der Politiker der Freien Wähler und forderte: „Wir müssen weg vom entwässerten Boden, auf den die Sonne knallt. Die Vision ist der speicherfähige Boden mit Schatten spendenden Uferstreifen.“ In den vergangenen zehn Jahren, so Glauber, sei die Grundwasserneubildung um fast ein Fünftel zurückgegangen. „Wir sind auf dem besten Weg in einen Grundwassernotstand“, warnte Glauber.

Wohlgemerkt: Da spricht kein Klimaaktivist, der sich gerade auf eine Straße geklebt hat, sondern der Umweltminister einer durch und durch bürgerlich-konservativen Regierung eines Bundeslandes, in dessen Süden es zumindest, verglichen mit anderen Teilen der Bundesrepublik, noch ordentlich Wasservorräte gibt.

Das Deutsche GeoForschungsZentrum in Potsdam meldete bereits für den Dürresommer 2019 ein Wassermassendefizit von 43,7 Mrd. Tonnen in Deutschland. Die Niederschläge reichen nicht mehr aus, um die Speicher wieder zu füllen. Oder sagen wir es so: Die Menge ist, übers Jahr gesehen, vielleicht gar nicht das Problem, sondern dass Wasser zur falschen Zeit in zu großen Mengen auf einmal auf den Boden fällt, sodass es gar nicht erst versickern und sich als Grundwasser absetzen kann, sondern rasend schnell abfließt.

Noch verschärft wird die Situation durch ein Problem, das dieses Land seit vielen Jahren nicht in den Griff bekommt, obwohl es weithin bekannt ist und man auch weiß, wo sein Ursprung liegt: Die Rede ist von den Belastungen der Flüsse, Seen und Grundwasserschichten durch schädliche Einträge wie Nitrat, Phosphat oder andere Substanzen. Gebündelt verknappen Klimawandel und Schadstoffproblem nicht nur das Wasserdargebot (also die Menge an Grund- und Oberflächenwasser, die potenziell genutzt werden kann), sondern sie machen auch die Gewinnung und Aufbereitung von Trinkwasser immer aufwendiger – und damit teurer.

Diese Herausforderungen verschärfen sich gerade schneller als von vielen erwartet. Und wir als Staat und Gesellschaft sind darauf nur sehr unzureichend, in Teilen überhaupt nicht vorbereitet. Auch wenn Deutschland insgesamt weiter ein wasserreiches Land sei, heiße das nicht, „wir könnten uns auf Dauer darauf verlassen, dass wir immer und überall genug Wasser zur Verfügung hätten“, sagte Professorin Irina Engelhardt, Fachgebietsleiterin Hydrogeologie am Institut für Angewandte Geowissenschaften und zugleich Koordinatorin des Wasserressourcenmanagement-Projektes SpreeWasser:N, in einem Interview mit der „WirtschaftsWoche“. Bei anderer Gelegenheit formulierte sie es drastischer: „Deutschland war immer in einer Luxusposition. Wir hatten einfach immer genug. Wasser war ja quasi Abfall in Deutschland“, sagte Engelhardt. „Und wenn man von etwas genug hat, dann kümmert man sich auch nicht so darum.“ Gewiss, niemand in Deutschland muss Angst haben, dass er verdurstet, dass er sich nicht mehr oder nur noch sporadisch waschen kann oder dass Sanitäranlagen abgestellt werden. Deutschland ist ein Land mit verhältnismäßig viel Wasser, nach wie vor. Aber dieses Wasser wird weniger. Und das Ausmaß der Verknappung nimmt schneller zu, als selbst kritische Experten es vor wenigen Jahren noch geglaubt haben. Darauf muss reagiert werden, und zwar schnell und konsequent.[2]

Es ist spät, aber noch nicht zu spät

Zwischen Oktober 2018 und Oktober 2020 trafen sich Fachleute aus der Wasserwirtschaft sowie zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger immer wieder zu einem sogenannten Nationalen Wasserdialog. Angestoßen hatte ihn die Bundesregierung, die Umsetzung lag beim Bundesumweltministerium und dem Umweltbundesamt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten Handlungsfelder und definierten daraus Handlungsbedarf, formulierten strategische Ziele und empfahlen Lösungen. Das Ergebnis ist eine „Nationale Wasserstrategie“, welche die Grundlage für das Wassermanagement in Deutschland werden soll. Meere sollen besser geschützt und das Bewusstsein für die Ressource Wasser geschärft werden. Wasser-, Energie- und Stoffkreisläufe sollen besser miteinander verbunden, klimaangepasst weiterentwickelt oder Gewässer nachhaltig bewirtschaftet werden. Das sind nur einige der wesentlichen Punkte im Strategiepapier. Gewiss, manches klingt floskelhaft und ohnehin auf der Hand liegend, ist deswegen aber nicht falsch. Die Nationale Wasserstrategie weist in die richtige Richtung. Und dennoch fehlen, zumindest im letzten Entwurf des Strategiepapiers, das diesem Text zugrunde lag, zentrale Punkte.

1. Die öffentliche Versorgung muss klaren Vorrang erhalten vor privatwirtschaftlichen Interessen

Der Vorrang der öffentlichen Trinkwasserversorgung vor allen anderen Nutzungen ist nicht klar und unmissverständlich festgeschrieben. Genau das muss aber sein. Es genügt nicht, den Grundsatz als allgemein und unverbindlichen Glaubenssatz unterschwellig zugrunde zu legen. Das war er nämlich bisher auch schon – und trotzdem bedienten sich Energieversorger und Industrie, Mineralwasserhersteller und Landwirtschaft reichlich ungeniert und mit dem Segen allzu sorgloser Behörden am Allgemeingut Wasser. Die Vorrangstellung der öffentlichen Trinkwasserversorgung muss daher bundesweit festgeschrieben werden. So, dass lokale Genehmigungsbehörden, aber auch Gerichte sich bei ihren Entscheidungen darauf stützen können. Wenn man so will, etwas Klares, Praktisches für den täglichen Gebrauch.

2. Die Wasserversorgung darf nicht privatisiert und dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden

Die Nationale Wasserstrategie beschäftigt sich mit der Zukunft. Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Ihre Ziele sind auf 30 Jahre ausgelegt, und es ist richtig zu definieren, wohin man langfristig will. Die Verteilungskämpfe haben jedoch bereits begonnen. Folgerichtig braucht es auch kurzfristige Zielvorgaben und ein Instrumentarium, um sofort entscheiden und strategisch handeln zu können. Und nicht erst 2050.

Es ist an der Zeit, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Der Strommarkt wurde liberalisiert, also dem freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte unterworfen. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre und speziell die energiepolitischen Verwerfungen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine führen jedoch die Schwächen des Systems vor Augen. Wenn es darum geht, Probleme im Sinne der Allgemeinheit zu lösen, ist von den Profiteuren der Liberalisierung nichts mehr zu sehen und zu hören. Dann muss der Staat plötzlich eingreifen, mit Milliarden an Steuergeldern. Daraus leitet sich die banale, aber entscheidende Erkenntnis ab, dass Privatunternehmen nicht alles automatisch besser können als öffentliche Versorger.

Im Gegenteil: Es gibt kein einziges Beispiel dafür, wo ein Privatinvestor im Bereich der Daseinsvorsorge Verantwortung übernommen hat, wenn ein System nicht mehr funktionierte. Die Energieriesen haben jahrzehntelang mit Gas aus Russland oder Atomstrom Milliardengewinne eingefahren. Den Umbau der Systeme, die Kosten für deren Versagen, finanziert jedoch der Staat, die Allgemeinheit. Bestes Beispiel ist das Milliardendrama um Uniper, jene börsennotierte Gesellschaft, die 2016 als Abspaltung des ebenfalls börsennotierten Energieriesen E.ON entstanden ist. Als Uniper im Zuge des Ukrainekriegs und des damit verbundenen Lieferstopps von russischem Gas in die Bredouille geriet, musste der Bund das als systemrelevant eingestufte Unternehmen mit Milliardenhilfen aus dem Steuersäckel stützen. Im Dezember 2022 wurde Uniper verstaatlicht.

Die Trinkwasserversorgung ist ebenfalls elementarer Bestandteil öffentlicher Daseinsvorsorge, mindestens so sehr wie die Strom- und Energieversorgung. Man darf sie nicht dem freien Spiel privater Kräfte überlassen, nicht Investoren und profitmaximierenden Unternehmen. Wasser ist ein derart elementares Gut menschlichen Daseins, dass es nicht marktliberalen Mechanismen unterworfen werden darf. Nicht Wettbewerb, sondern funktionale Sicherheit müssen im Vordergrund stehen. Wir brauchen ein öffentliches, staatliches bzw. kommunal betriebenes Versorgungssystem für Trinkwasser, das auch im Krisenfall stabil und resilient ist. Vor allem die Städte und Gemeinden stehen hier in der Verantwortung. Sie müssen ihre eigene Wasserversorgung sicherstellen – bei Bedarf auch mit Nachbargemeinden zusammen; es gilt das Solidarprinzip.

3. Das Land braucht eine umfassende Wasserschutzagenda

Ressourcenschutz fängt nicht erst an, wenn es im konkreten Einzelfall darum geht, einen übermäßigen Wasserausbeuter in die Schranken zu weisen. Er beginnt viel früher. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, eine andere Herangehensweise mit dem Ziel, Wasser im Boden zu halten. Dafür zu sorgen, dass es nicht so schnell abfließt. Mit konsequentem Gewässerschutz, Investitionen in Leitungssysteme und Wasseraufbereitungsanlagen, aber auch, indem die Flächenversiegelung begrenzt, mehr Wasserschutzgebiete ausgewiesen und insgesamt das Bewusstsein für sorgfältigeren Umgang mit der Ressource Wasser geschärft wird. Das Thema kommt einer Allensbach-Umfrage von 2022 zufolge immer mehr in der Bevölkerung an; drei von vier Deutschen gaben an, bewusster und sparsamer mit Wasser umzugehen als früher. Wassersparen hilft, aber das allein reicht nicht. Sümpfe, Moore und andere Feuchtgebiete müssen geschützt werden, die Versiegelung der Landschaft durch Wohn- und Gewerbegebiete, Straßen und andere Baumaßnahmen muss insgesamt reduziert werden. Wir brauchen im Einzelfall mehr Dachbegrünungen, aber auch Bauverbote in Gebieten mit Überschwemmungspotenzialen. Die Versickerung von Wasser an Ort und Stelle muss erleichtert werden.

Vielleicht sollten die Politiker-innen im Ausland von den roten Teppichen herunterkomme um sich die Wasserversorgung aus dem 12.Jahrhundert anzusehen, welche heute noch teilweise  funktionieren.

Auch der Grundwasserschutz muss verbessert werden. Experten der Vereinten Nationen sind überzeugt, dass aktuelle und künftige Wasserkrisen nur mit Hilfe des Grundwassers zu bewältigen sind. „Eine bessere Nutzung des Grundwassersystems könne zur Klimaanpassung beitragen“, heißt es im UNESCO-Weltwasserbericht 2022. So sei es etwa möglich, saisonale Überschüsse von Oberflächengewässern in Grundwasserleitern zu speichern. So könnten nämlich Verdunstungsverluste verringert werden, „wie sie etwa bei Stauseen auftreten“. Eine sinnvolle, umfassende Wasserschutzagenda beginnt schon bei der Erfassung aktueller Daten. Ferner muss eine Wasserschutzagenda schärfere Regelungen zum Schutz vor Verunreinigungen etwa durch Nitrat und Pflanzenschutzmittel beinhalten. Das Herumlavieren, mit dem sich Deutschland in der beschriebenen Weise seit Jahren um die konsequente Einhaltung schärferer EU-Vorgaben drückt, muss ein Ende haben.

4. Privilegien für Großverbraucher abschaffen

Bayern, Hessen und Thüringen verzichten bislang auf ihn und in den anderen 13 Bundesländern ist er marginal bemessen. Die Rede ist vom Wassercent, im Behördendeutsch: dem Wasserentnahmeentgelt.

Richtigerweise muss es endlich jeder bezahlen, der sich am Allgemeingut bedient, um es für seine privatwirtschaftlichen Zwecke zu verwenden. Mineralwasserhersteller, Landwirte, Energieversorger, Industriebetriebe – bisher profitieren alle großen Schlucker von einer fatalen Nulltarif- oder Kostet-fast-nichts-Mentalität hierzulande. Geht es um die Bedürfnisse von Unternehmen, waren die Behörden, die Landesregierungen und die Kommunalpolitiker vor Ort stets sehr großzügig bei Entnahmemengen oder langfristigen Laufzeiten von Entnahmerechten. Das muss gestoppt werden. Behörden müssen die Mengen und die Laufzeiten begrenzen und unter den Vorbehalt stellen, dass sie in Dürrezeiten bei Bedarf auch unterbrochen oder stärker kontingentiert werden können. Und vor allem: Das jahrhunderte-, bisweilen sogar jahrtausendealte und besonders reine Tiefengrundwasser muss weitaus strenger geschützt werden. Übrigens nicht nur vor den Entnahmen gewerblicher, sondern auch öffentlicher Nutzer.

Ein probates Mittel ressourcenschonender Wasserbewirtschaftung wäre es, private und gewerbliche Nutzer gleichzustellen. Ihnen dieselben Gebühren abzuverlangen, wenn sie aus dem öffentlichen Netz schöpfen, und keine Rabatte für Großabnehmer mehr zu gewähren. Überdies müssen all jene spürbarer als bisher zur Kasse gebeten werden, die eigene Brunnen oder Wasserfassungen nutzen. Der Wassercent darf daher im Sinne der Allgemeinheit gerne ein Wassereuro werden.

Gewiss, die Wirtschaft im weitesten Sinne braucht Wasser und sie soll es auch in Zukunft bekommen. Dass Firmen für Wasser aber kaum oder fast nichts bezahlen, setzt jedoch keinerlei Anreize, um sich über Einsparungen, interne Wasserkreisläufe, Wasserrecycling oder Brauchwassersysteme Gedanken zu machen. Wir brauchen eine Gebührenpolitik, die genau solche Anreize schafft. Hier sind vor allem die Landespolitiker gefordert, bei denen das Thema bislang nicht angekommen ist. Geradezu unerträglich ist es, wenn, wie im Fall Tesla in Brandenburg, ein Unternehmen in einer trockenen Region angesiedelt wird und zig Mrd. Liter Wasser zugeteilt bekommt, während ringsum Gemeinden keine Wohngebiete und Schulen mehr planen können, weil das notwendige Wasser fehlt. Es kann auch nicht sein, dass einhergehend damit der Trinkwasserbedarf von Privatpersonen im Bedarfsfall eingeschränkt und Mehrbedarf finanziell sanktioniert wird, während die Versorgung der Großfabrik nebenan Priorität genießt.[3]

5. Wassertröpfchen für die Landwirtschaft

Quelle          :           Blätter-online          >>>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —      Talsperre Lehnmühle Oktober 2018 im Tal der Wilden Weißeritz im Erzgebirge. Sonst geflutete Brücke der Zinnstraße zum Erztransport von Altenberg nach Freiberg.

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Unten         —         The park in the Byzantine-era Cistern of Aspar in November 2013

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Ganz ohne Witwenrente

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Juli 2023

Charmant in die Altersarmut

Wie ist es denn vielen Kriegerwitwen nach den letzten Krieg ergangangen – welche auf den Staat hoffen mussten? Wurden nicht viele Witwen in die Prostitution getrieben um die Kinder ernähren zu können? 

Von Ulrike Herrmann

Für viele ist die Hinterbliebenenrente eine Aufstockung für den Lebensunterhalt. Eine Kürzung würde nur eins bedeuten: verschärfte Altersarmut.

Über die Rente wird permanent diskutiert, aber ein Thema blieb bisher relativ unbeachtet: die Witwenrente. Doch nun hat die Chefin der Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer eine Reform vorgeschlagen, die darauf hinauslaufen würde, die Witwenrenten langfristig zu kürzen.

Konkret stellt sich Schnitzer vor, dass es zu einem „Rentensplitting“ kommt. Dabei werden die Rentenansprüche der Ehepartner hälftig geteilt – und zwar nur die Ansprüche, die tatsächlich während der Ehe erworben wurden. Frühere Beiträge werden nicht berücksichtigt. Wenn dann ein Partner stirbt, erhält der Hinterbliebene diese Hälfte sowie die eigenen Ansprüche, die vor der Ehe entstanden sind.

Auch jetzt ist ein Rentensplitting schon möglich, aber Schnitzer schlägt vor, dass es verpflichtend wird. Faktisch würden damit die Witwenrenten gekürzt, denn bisher erhalten Hinterbliebene im Normalfall 55 bis 60 Prozent der Rente ihres verstorbenen Partners – plus die eigene Rente. Allerdings sind konkrete Berechnungen schwierig, wie groß die Nachtteile tatsächlich wären, weil derzeit das eigene Einkommen des Hinterbliebenen bei der Witwenrente berücksichtigt wird.

Nur eine Minderheit war nie erwerbstätig

Wie auch immer: Klar ist, wer garantiert verlieren würde. Dies wären alle Ehepartner, die selbst nicht arbeiten. Das ist gewollt. „Die jetzige Regelung reduziert die Anreize, eine eigene Beschäftigung aufzunehmen“, sagte Schnitzer dem Spiegel. „Außerdem tragen so alleinstehende Beitragszahlende zur Finanzierung von Rentenansprüchen für nicht erwerbstätige Partner bei, die selbst nicht in das System einzahlen.“

Selbst wenn es zu dieser Reform käme, würde sie nicht sofort greifen. Stattdessen soll es lange Übergangsfristen geben, damit sich alle Arbeitnehmer auf die künftigen Realitäten einstellen können. Die heutigen Rentner müssten also nicht fürchten, dass sie plötzlich ein Teil ihres Einkommens verlieren.

Auf den ersten Blick wirkt es charmant, wenn nicht alle Beitragszahler dafür aufkommen müssten, dass einzelne Ehepartner lieber zu Hause bleiben und nicht arbeiten. Dabei wird jedoch übersehen, dass nur eine Minderheit der Hinterbliebenen nie erwerbstätig war. 2022 bezogen etwa 5,3 Millionen Menschen eine Witwenrente, wovon aber nur etwa 1,2 Millionen keine eigenen Rentenansprüche hatten. Der Rest hat früher gearbeitet – und erhält die Witwenrente zusätzlich.

Rentenkassen benötigen mehr Geld

Diese Zusatzgelder werden dringend gebraucht, damit die alten Menschen überhaupt über die Runden kommen: 2022 erhielten Männer, die auch eine Witwerrente erhielten, im Schnitt 1.717 Euro netto. Frauen mit eigener Rente und Witwenrente bekamen monatlich 1.573 Euro ausgezahlt.

Quelle          :          TAZ-online             >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Isaac Israëls – Military funeral – Google Art Project

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Juli 2023

Das Elterngeld, die Papaprämie für Gut-, Besser- und Bestverdiener

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Die Diskussion übers Elterngeld diese Woche war super. Kaum hatte Fami­lienministerin Lisa Paus – vom Finanzminister unter Kürzungsdruck gesetzt – vorgeschlagen, das Elterngeld für Sehrgut­verdiener abzuschaffen, hagelte es Stellungnahmen, Interviews, Kommentare, Zahlen, ­Daten. Es war ein Fest der allgemeinen Faktenfindung und Urteilsbildung.

Wenn schon gespart werden müsse, seien die obersten Einkommensprozente dafür nicht die schlechteste Adresse, meinten viele. Andere: Was für eine Idee, bei den Einkommen über 150.000 Euro zu kürzen! Genau dort werde doch der beabsichtigte Effekt gefährdet: Papa kümmert sich auch ums Kind! Und überhaupt: das Signal!

Mein Verhältnis zum Elterngeld ist leider dadurch belastet, dass ich seine Einführung ab 2005 relativ aufmerksam begleitet habe. Das war, bevor Twitter im Minutentakt neue Details zu Gesetzesvorschlägen ausspuckte und es Statistiken noch nicht so fix aus dem Netz zu fischen gab – im Vergleich zu heute waren Diskussionsprozesse geradezu bedächtig. Von Argument zu Gegenargument, das dauerte schon mal einen Monat oder zwei.

Ulrike-winkelmann-2013.jpg

Doch wartete ich damals vergeblich auf die empörten Familienpolitikerinnen, die endlich auf den ganz entscheidenden Haken an der Sache hinwiesen: Weil für das Elterngeld das Erziehungsgeld abgeschafft wurde, wurden die Leistungen für arme Familien einfach mal glatt halbiert. Sie bekamen bis dahin 300 Euro pro Monat für zwei Jahre, daraus wurde nun ein Jahr. Irgendwoher musste das Geld ja kommen, um die neue Lohnersatzleistung bis zu 1.800 Euro zu zahlen. Die Kurzfassung dieses Vorgangs lautet „Umverteilung von unten nach oben“.

Das Familienministerium unter Ursula von der Leyen rückte auch irgendwann die Zahlen dazu heraus, wer mit dem Elterngeld in die Röhre guckte: „155.000 Familien mit einem Einkommen unter 30.000 Euro netto erhalten weniger Elterngeld, als ihnen bisher für zwei Jahre Erziehungsgeld zustehen würde“, schrieb mir die Pressestelle im Mai 2006. Das war nicht die endgültige Größe. Unter anderem ging das mit den Hartz-IV-BezieherInnen auch noch alles durcheinander. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zeigte aber in den Folgejahren auf, wie die Armut unter alleinerziehenden Müttern zunahm, und verwies zur Erklärung trocken unter anderem aufs Elterngeld.

Quelle         :      TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —       Wilhelm Busch: Lehrer Lämpel (aus Max und Moritz)

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Krawalle in Frankreich

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Juli 2023

Der Zorn aus den Vorstädten

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Aus Paris von Christian Jakob

Ein Teenager starb in Frankreich nach einem Polizeischuss, es kam zu Krawallen. Warum findet das Land keine Antwort auf die Wut der Jugend?

Julien Mari aus Marseille, genannt Jul, ist einer der bekanntesten Rapper Frankreichs. Für sein neues Video „Ragnar“ war er im Mai nach Nanterre gereist. Er versammelte Dutzende junger Männer um sich, sie reckten die Finger in die Höhe, sie fuhren durch diese Vorstadt von Paris, zogen durch die Straßen. „Ich komme von dort, wo man die Mütter schreien hört“, rappt Mari in dem Video.

Bei Minute 5:32 steht ein junger Mann neben Mari: braune Mütze, braune Augen, gesenkter Blick. Als Mari das Video vor einigen Wochen drehte, kannte niemand diesen jungen Mann. Heute ist er das wohl bekannteste Opfer von Polizeigewalt in Frankreich: Nahel Merzouk, Sohn algerischer Einwanderer, am 27. Juni im Alter von 17 Jahren bei einer Polizeikontrolle in Nanterre erschossen.

Zwei Reihen weiter hinten steht in dem Video ein 13-jähriger Junge. Er ist der Sohn von Mornia Labssi. Auch ihre Familie stammt aus Algerien, sie wuchs im selben Viertel auf wie die Merzouks. Eine Woche nach dem Tod Nahels sitzt sie in einem schwarzen Kleid mit goldenen Fingernägeln im Café Voltaire in Paris. Dort arbeitet sie als Arbeitsinspekteurin. Labssi kontrolliert, ob Betriebe Vereinbarungen zu Arbeitszeiten und dem Mindestlohn einhalten.

Sie wusste, dass es ihr Kind war

Mehr als eine Woche nach dem Tod Nahels versucht sie im Café Voltaire noch immer zu begreifen, was geschehen ist. Als die Nachricht vom Tod Merzouks auf Facebook die Runde machte, „waren wir nicht schockiert“, sagt Labssi. „Das passiert dauernd. Wir haben das psychisch in unseren Alltag integriert.“ Doch dann, erinnert Labssi sich, habe ihr Sohn zu ihr gesagt: „Du kennst ihn auch.“ Nahel habe doch als Essenslieferant gearbeitet. Dann verbreitete sich das Video von den Todesschüssen in den sozialen Netzwerken.

Der Polizist hatte die Schüsse fast direkt neben der Präfektur abgegeben. Labssi ging zu dem Ort. Am Mittag lag die Leiche noch abgedeckt auf dem Boden. Nahels Mutter stand an der Absperrung. „Diese Szene werde ich nie vergessen. Sie wusste, dass das ihr Kind war. Aber sie durfte nicht zu ihm. Er war der einzige Sohn. Sie haben zusammen gelebt. Sie hat jetzt nichts mehr.“

Mornia Labssi, Einwohnerin von Nanterre

„Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit nicht.“

Labssi schaut aus dem Fenster und fängt an zu weinen.

Am Abend gingen sie und ihr Sohn zu Nahels Mutter nach Hause, brachten Essen. Viele Menschen aus dem Viertel waren da.

Von Nahel redeten jetzt alle. Aber es gebe so viele andere, sagt Labssi. „Sie behandeln uns wie Tiere. Als ob wir keine Menschen wären.“

Wen meint Labssi mit „sie“ – die französischen Polizeigewerkschaften, die kurz nach Nahels Tod von „Horden“ sprachen, gegen die sie nun „im Krieg“ seien? Nein, sagt sie, wenn es nur die wären. Der Innenminister Gérald Darmanin habe genauso geredet, sagt Labssi. Sie zeigt auf ihrem Handy einen Artikel: „Il faut stopper l’ensauvagament“, zu Deutsch: „Wir müssen die Verwilderung stoppen“, ist er überschrieben.

„Sie halten uns für Wilde“, sagt Labssi.

Ihr Vater, erzählt sie, habe in Algerien bei der FLN im Widerstand gegen die Franzosen gekämpft. Im Jahr 1971 kam er nach Frankreich, um Arbeit zu finden. Labssi wurde in Nanterre geboren, sie hat sieben Geschwister. Als einzige lebt sie noch in der Banlieue, neben der Wohnung der Mutter. Diese ist 87 Jahre alt, Französisch spricht sie bis heute nicht.

Wer hier wohnt, muss mit Kontrollen rechnen

Wer hier wohne, in der Vorstadt, müsse damit rechnen, mehrmals am Tag kontrolliert zu werden, sagt Labssi. Und immer könne das geschehen, was mit Merzouk passiert ist: „Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit nicht.“

Seit zwei Jahren ist Labssi im Koordinationsrat der Committees pour la defense des Quartiers Populaires, einem landesweiten Verband der Ban­lieue-Bewohner.

Früher hießen Viertel, in denen Menschen wie sie leben, „Cité“. „Das zeigte, dass dort Bürger wohnen“, sagt Labssi. Die heutigen Worte stehen für etwas anderes: „In der Banlieue wohnen keine Bürger. Dort leben schlechte Eltern und Delinquenten.“

In den Tagen nach den Krawallen hat Labssi Familien junger Festgenommener zu den Gerichtsverfahren begleitet. „Sie klagen sie immer in Gruppen von drei oder vier an“, sagt Labssi. Schnellverfahren in Serie seien das, allein auf Grundlage vager schriftlicher Anschuldigungen in Polizeiberichten. „Die Polizisten machen sich nicht mal die Mühe, zum Prozess zu kommen.“ In einem Fall seien zwei Minderjährige wegen Brillendiebstahls verurteilt worden. „Der einzige Beweis: dass irgendwo in der Nähe eine Tasche mit Brillen gefunden wurde. Das reicht.“

Der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen sage „schon die ganze Zeit, dass die Migranten Islamisten, Gewalttäter und Diebe“ seien. 70 Prozent der Polizisten wählten Le Pen, glaubt Labssi.

Seit 2017 dürfen Polizisten die Waffe auch dann einsetzen, wenn kein Leben bedroht ist und mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen begangen haben. „Wie können die das rechtfertigen?“, fragt Labssi. Für sie zeigt das: „Die Exekutive sieht uns nicht als Bürger, sondern als Feinde.“ Und deshalb kämpfe die Polizei gegen die Menschen in den Banlieues „wie gegen eine fremde Armee.“

Gefährliche Entwicklung

Schon vor Jahren hätten antirassistische Gruppen aus den Banlieues gesagt: Was sich entwickelt, ist gefährlich. „Aber es wurde abgetan. Der Repression wurde politisch nicht entgegengetreten.“ So würden Kinder wie ihr eigenes „geboren in ein Land, das sie misshandelt“, sagt Labssi.

Die Antwort des Staates auf die Misere in den Banlieus sei: „Hier habt ihr Geld, macht damit schöne Projekte – und dann bleibt in eurem Ghetto.“ Die seit Jahrzehnten fließenden Subventionen seien „nicht, damit es besser wird, sondern damit wir unter uns bleiben“. glaubt Labssi. Eine Veränderung müsse auf zwei Ebenen ansetzen: auf der juristischen Ebene einerseits und bei der Stadtplanung andererseits. Das repressive Polizeirecht und die ausschließende Architektur der Banlieues: „Das hängt zusammen“, ist Labssi überzeugt.

Sie gehört zu einer Gruppe, die am Dienstag eine Petition gestartet hat, um die Spendensammlung für die Familie des Polizisten zu stoppen, der Nahel Merzouk erschossen hatte. Bis Mittwochnachmittag waren dabei 1,7 Millionen Euro zusammengekommen. „Das ist eine klare politische Botschaft: Wer in Frankreich einen Araber ermordet, wird Millionär“, sagt Labssi. Gegen diese Haltung würden die jungen Leute rebellieren: „Sie sind keine Delinquenten. Wir sind da, wir sind Franzosen und wir akzeptieren das nicht mehr.“

Aber so einfach ist es nicht. Ihr eigener Sohn kommt nun genau in das Alter, in dem er selbst zum Opfer werden kann. Labssi sagt, sie habe deshalb schon darüber nachgedacht, Frankreich zu verlassen.

Den Gedanken hat auch Éléonore Luhaka. Die Tochter eines kongolesischen Luftwaffensoldaten wuchs in Aulnay-sous-Bois auf, einem Vorort im Nordosten von Paris. Auch dort gab es in den vergangenen Tagen schwere Krawalle.

Beamte stellen Blut fest, aber fesseln ihn trotzdem

Im Jahr 2017 wurde ihr Bruder Théo Luhaka von vier Polizisten der Spezialeinheit BST bei einer Personenkontrolle mit Stöcken angegriffen. Auf der Wache bemerkt ein Beamter, dass „er aus dem Arsch blutet“. Die Beamten stellen die Blutspuren auf dem Sitz des Fahrzeugs und auf seiner Hose fest, fesseln Luhaka aber dennoch erst mal an eine Bank. Die Feuerwehr bringt ihn schließlich als Notfall in ein Krankenhaus. Dort diagnostizieren die Ärzte einen zehn Zentimeter langen Riss im After – einer der Polizisten hat einen Schlagstock in Théos Anus eingeführt.

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Der Fall gehört zu den bekannteren Polizeigewaltskandalen der letzten Jahre – auch weil Éléonore Luhaka sich mit dem Vorfall nicht abfinden will.

Der damalige Präsident Frankreichs, François Hollande, kommt ans Krankenbett, hält Théos Hand. Viele Fotos wurden von der Szene gemacht.

Sonst gab es nichts.

Gegen vier der Beamten wurde ermittelt. Der Prozess wurde immer wieder verschoben, Anfang 2024 soll er jetzt beginnen. Der Anwalt Luhakas hat zwischenzeitlich einen Vorschuss auf eine mögliche Entschädigung geltend gemacht, 10.000 Euro gab es. „Wir sollen uns keine Illusionen machen“, habe er gesagt, erzählt Éléonore Luhaka. Viel mehr werde es am Ende nicht werden.

Ihr Bruder ist dauerhaft erwerbsunfähig geschrieben, er bezieht eine kleine Rente. Nach dem Tod von Nahel Merzouk ist Théo mit einem seiner Brüder nach Nanterre gefahren. Er hat die Mutter von Nahel besucht.

Éléonore Luhaka sagt: „Bis heute fahren die Polizisten langsam an unserem Haus vorbei. Wenn Sie meinen Bruder sehen, dann winken sie ihm mit dem Schlagstock. ‚Hallo Théo‘, rufen sie dann.“

Eine Drohung?

„Spott.“

Wie oft kommt das vor?

„Dauernd.“

Sie selbst will das Land verlassen. „Aber nicht als Flüchtling.“ Vorher will sie etwas aufbauen. Bei der Stiftung des Schwarzen US-Schauspielers Forest Whittaker macht sie derzeit eine Fortbildung. Danach will sie ein Projekt für benachteiligte Jugendliche in den Banlieues starten.

Lange Zeit hat er gar nicht gesprochen

Ihrem Bruder habe ein Psychiater Medikamente gegen die Schlafstörungen verschrieben. Eine Psychotherapie konnte er erst vor Kurzem beginnen. Lange Zeit habe er fast gar nicht gesprochen. „Sobald es lauter wurde, hat er sofort die Kopfhörer aufgesetzt.“ Die Wohnung zu verlassen, falle ihm schwer. Eine Reise nach Paris sei für ihn wie eine in ein anderes Land. Deshalb wolle er in Aulnay bleiben. „Das gibt ihm Sicherheit, trotz allem.“

Diskriminierung, sozialer Ausschluss, Polizeigewalt: Bürgermeister Bakthiari glaubt nicht an diese Erklärungen

Sicherheit will auch Zartoshte Bakhtiari. Er ist Bürgermeister von Neuilly-sur-Marne im Südosten von Paris. Auch hier gab es schwere Krawalle. Bakhtiari sieht die Dinge grundlegend anders als die Banlieue-Bewohnerinnen Labssi und Luhaka.

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Oben        —         Vorstadt Le Quartier de la Fauconnière in Gonesse im Norden von Paris

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L – A armselige Skyline

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Juni 2023

In Los Angeles leben etwa 50.000 Menschen auf der Straße.

Downtown L.A.

Aus Los Angeles von Johannes Streek

Die demokratische Bürgermeisterin Karen Bass will das ändern. Wie das nachhaltig gelingen kann, ist unter sozialen Trägern jedoch umstritten. Ein Ortsbesuch in einer der ärmsten Gegenden der USA. An einem lauen Morgen im Juni ist es noch ruhig auf der San Pedro Street in Los Angeles. An einer Ecke frühstücken ein paar Leute aus Styroporbehältern, etwas weiter fegt jemand den Bürgersteig. Andere sitzen sind in Decken gehüllt am Straßenrand, ihnen ist die Kühle der vorherigen Nacht noch anzusehen.

„Skid Row“ heißt dieser Abschnitt der Stadt, der um einem mittlerweile stillgelegten Bahnhof entstanden ist. Rund 5.000 Menschen leben hier auf der Straße, in Autos oder Zelten. Andere wohnen vorübergehend in den Räumlichkeiten der hier ansässigen sozialen Einrichtungen. Diese gibt es zum Teil schon seit über 100 Jahren, so lange ist die Skid Row von Los Angeles schon ein Wohnort für all jene, die sonst kein Zuhause haben. Und die so schnell auch keins finden werden.

Der Name Skid Row bezeichnet ein Gebiet von 50 Wohnblocks inmitten der Innenstadt von Los Angeles. Es ist ein Ort, der wohl wie kein anderer zeigt, was Armut in den USA bedeutet. Seit Jahrzehnten ist das Stadtbild des Industrieviertels geprägt von Menschen, die auf der Straße leben, während im Hintergrund moderne Hochhäuser in der kalifornischen Sonne schimmern. Die Gegend ist eine Ansammlung trauriger Superlative. Laut einer im Jahr 2020 veröffentlichten Studie sind die drei gefährlichsten Nachbarschaften der USA auf der Skid Row zu finden. Krankheiten grassieren durch den mangelnden Zugang zu Wasser. Im Jahr 2017 brach in der Gegend eine Hepatitis-Epidemie aus, die auch in andere Stadtteile überschwappte. Eine längere Dürrezeit hatte zu einer Anhäufung von menschlichen Fäkalien auf den Bürgersteigen geführt, der lang erwartete Regen spülte sie in die Kanalisation. 2.201 Wohnungslose sind allein im Jahr 2021 in Los Angeles gestorben, fast jedes vierte Mordopfer ist eine Person ohne festen Wohnsitz.

Entgegen ihres anarchischen Rufes ist es auf der Skid Row weder besonders laut noch sehr viel schmutziger als in anderen Abschnitten der Innenstadt. Neben den vielen Wohnungslosen, die auf der Straße unterwegs sind, trifft man hier auch auf Streetworker verschiedener Organisationen, die Essen verteilen oder rudimentäre Gesundheitsversorgung anbieten und so staatliche Versorgungslücken schließen. Während viele in der Autostadt Los Angeles fast alle Wege mit ihrem Fahrzeug zurücklegen, sind auf der Skid Row die meisten Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Zwischen den gut befestigten Zelten, die vielerorts mit blauen Bauplanen verstärkt sind, schneiden sich Leute gegenseitig die Haare, lesen oder sitzen auf Klappstühlen und unterhalten sich. „Guten Morgen, wie geht’s?“ werden Besucher gefragt, die sich auf dem Bürgersteig einen Weg zwischen den Zelten bahnen.

Auch Brittany Robbins gehört zu den Menschen, die in und um die Skid Row ohne festen Wohnsitz leben. Die junge Frau mit dem strahlenden Lächeln sitzt auf einem kleinen Plastikhocker an einem Imbiss und erzählt von ihrem Alltag. „Ich wohne gleich da hinten im Weingart,“ sagt sie. Das ist eine der großen Herbergen, die Wohnungslosen auf der Skid Row Übergangszimmer, Essen und Duschen zur Verfügung stellen. „Ich mag es da, die Angestellten sind nett.“ Robbins erzählt ein wenig aus ihrem Leben, ihrer Zeit beim amerikanischen Militär, und, dass sie bereits in 49 der 51 Bundesstaaten war. Für den Stress der Streetworker und Stadtangestellten, mit denen sie zu tun hat, zeigt sie Verständnis. „Ich habe selber soziale Arbeit studiert, ich kenne also beide Seiten ein bisschen.“ Vom Elend der Skid Row ist Robbins nichts anzusehen, sie trägt saubere Kleidung und scheint unbeirrt vom Treiben um sie herum.

Gefragt, ob sie sich Sorgen um ihre Sicherheit auf der Skid Row mache, schüttelt sie energisch den Kopf. „Ich vertraue auf meinen Menschenverstand,“ sagt sie. „Wenn ich mich in einer Situation unwohl fühle, dann versuche ich einfach auf mein Bauchgefühl zu hören.“ Für Robbins ist zudem der christliche Glaube ein wichtiger Anker. „Ich glaube, ich werde durch Gott beschützt,“ sagt sie. „Mein Leben gehört mir sowieso nicht, und das gibt mir Kraft und nimmt mir ein wenig von der Angst.“ Bevor sie nach Los Angeles kam, war Robbins länger in Austin, Texas. Die Einrichtung, in der sie dort gelebt hat, habe ihr überhaupt nicht gefallen. Während ihrer Zeit hat sie mehrere Schießereien sowie einen Mord miterlebt, direkt vor ihrem Fenster. Durch ein Fernstudium bei der christilch-konservativen Liberty University macht Robbins nun ihren Master, größtenteils über ihr Handy und den Computerraum der nahegelegenen Stadtbücherei. „Ich versuche gerade, mit dem Wohnungsamt zusammenzuarbeiten, um hoffentlich eine längerfristige Lösung zu finden“, sagt sie lächelnd. Sie könnte sich vorstellen, später einmal ins Ausland zu gehen, um dort Englisch zu unterrichten, aber das sei alles noch nicht entschieden.

In Kalifornien, dem wirtschaftlich stärksten Bundesstaat der USA, ist die Wohnungslosigkeit besonders hoch. Rund 115.000 Menschen haben hier keine feste Bleibe, fast jeder dritte Mensch ohne Wohnsitz lebt in dem großen Staat am Pazifik. Das hängt auch mit den immensen Lebenskosten zusammen, eine Einraumwohnung in Los Angeles kostet rund 2.000 US Dollar Miete im Monat. Eine, die sich diesem schwierigen Thema annehmen will, ist Karen Bass. Sie wurde im letzten November zur Bürgermeisterin von Los Angeles gewählt. Mit dem Versprechen, durch umfangreiche Investitionen die grassierende Wohnungslosigkeit in der Stadt zu bekämpfen, hat sie Wahlkampf gemacht. 1,3 Milliarden Dollar sollen in den nächsten Jahren fließen, um temporären und festen Wohnraum zu schaffen. Kürzlich hat Bass bekanntgegeben, dass rund 14.000 Menschen seit ihrem Amtsantritt ein Zuhause finden konnten. Mindestens 50.000 bleiben damit im Bezirk Los Angeles noch auf der Straße.

Ein wesentlicher Dreh- und Angelpunkt in der Skid Row ist die Midnight Mission (dt. „Mitternachts-Mission“) auf der San Pedro Street. Georgia Berkovich leitet die Öffentlichkeitsarbeit der sozialen Einrichtung. Gerade führt sie zu einer Wandtafel, an der die Geschichte der Midnight Mission erzählt wird. 1914 begann der Geschäftsmann Tom Liddecoat mit nächtlichen Essensausgaben. Sie waren für die damals noch vorwiegend männlichen und weißen Menschen gedacht, die mittellos in der Innenstadt von L.A. landeten. „Vor dem Essen mussten sie sich aber zunächst seine Predigten anhören“, sagt Berkovich über den Gründer. „Der Name entstand, weil es oft schon Mitternacht war, bis sie endlich essen durften.“ Auf der Wandtafel sind Fotos von Männern in Anzügen und Hüten zu sehen, die über ihr Essen gebeugt sind. In den 30er Jahren wurde die Organisation hinter der Midnight Mission säkular und versorgte tausende Menschen durch die Brachzeiten der großen Wirtschaftskrise. Während Berkovich erzählt, führt sie auf den kleinen Vorhof der Einrichtung und erklärt, warum dieser eigentlich zu jeder Tageszeit voll ist. „Bis vor Kurzem hatte die Midnight Mission hier die einzigen Toi­letten, die 24 Stunden am Tag verfügbar waren,“ sagt sie und schüttelt dabei ungläubig den Kopf. „Eine Toilette für 5.000 Menschen.“ Zudem verfügt der Vorhof über große Ventilatoren, die an heißen Sommertagen für etwas Abkühlung sorgen. Für kalte Nächte gibt es Heizstrahler, an denen sich die Menschen aufwärmen können. „Die Leute wollen nicht glauben, dass es in Kalifornien Kältetote gibt, aber das passiert hier regelmäßig“, sagt Berkovich. Allein im Jahr 2022 starben in Los Angeles 14 Menschen an den Folgen von Kälte.

Hinter den schmucklosen Betonmauern des Gebäudes verbirgt sich die Infrastruktur einer Kleinstadt. Berkovich führt durch die vielen Etagen, in einen Musikraum, zu einer Bücherei und einem kleinen Friseursalon. Im Erdgeschoss findet gerade die Essensausgabe für all jene statt, die derzeit in der Midnight Mission leben und an einem der Rehabilitationsprogramme teilnehmen. „Jede Stadt in den USA hat eine eigene Skid Row,“ sagt die Mitarbeiterin, während hinterher Menschen in die Kantine strömen, um sich Salat, Kartoffeln und Fleisch auf ihre Tabletts geben zu lassen. Für sie ist das Ende der Obdachlosigkeit in Los Angeles das endgültige Ziel ihrer Einrichtung. „Wir versuchen uns seit dem Jahr 1914 die eigene Existenzgrundlage zu nehmen,“ sagt Berkovich über den Kampf gegen Wohnungslosigkeit, „aber ehrlich gesagt wird es immer schlimmer.“

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Eine bittere Kiwi Ernte

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Juni 2023

Die pontinische Ebene gehört zu den fruchtbarsten Gegenden Italiens. 

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Von  :    CHARLOTTE AAGAARD   —   KUSUM ARORA  —  FRANCESCA CICCULLI   —   STEFANIA PRANDI

Hier werden Kiwis angebaut, die in ganz Europa gegessen werden. Auf den Feldern arbeiten viele Inder. Oft unter unwürdigen Bedingungen, gefan­gen in einem System aus Schulden und Angst.

Sie kamen am Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Der abgelegene Bauernhof außerhalb von Borgo Sabotino, einer 2.000-Einwohnergemeinde südlich von Rom, lag noch in der Dunkelheit. Es war der 17. März 2017. Ein Datum, das Balbir Singh nie vergessen wird.

In der Dunkelheit tauchten zwölf bewaffnete Männer auf. „Ich hatte wirklich Angst“, erzählt Balbir Singh. „Der Hofbesitzer rief mir zu, ich solle weglaufen. Aber das tat ich nicht.“ Und darüber ist er heute froh.

Die Männer in Zivil zeigten ihm ihre Ausweise. Es waren italienische Polizisten. Sie baten Balbir Singh mitzukommen. „Meine Kleidung war schmutzig. Ich hatte tiefe Wunden an Händen und Füßen, meine Nägel bluteten. Aber es war ein großer Tag“, sagt Balbir Singh. „Kurz vor unserer Abfahrt sah ich, dass die Polizisten den Bauern und seine Frau verhaftet hatten.“

Sechs Jahre Ausbeutung mit Gewalt, Drohungen, ausbleibender Bezahlung, Hunger und Entbehrungen hatten für Balbir Singh, einen ehemaligen Englischlehrer und langjährigen Landarbeiter aus der indischen Region Punjab, damit ein Ende. „Sechs Jahre in der Hölle“, nennt er die Zeit heute.

Sie endete, als er über einen indischen Landsmann Kontakt zu dem italienischen Soziologen und Menschenrechtsaktivisten Marco Omizzolo bekam. Omizzolo lehrt Sozialanthropologie an der Universität La Sapienza in Rom. Er setzt sich seit Jahren für die Rechte indischer Landarbeiter in Italien ein, dokumentiert Missstände und bringt sie zur Anzeige. 2016 organisierte er den ersten größeren Streik indischer Arbeiter in Italien mit. Wegen seines Engagements erhält er oft anonyme Drohungen, sein Auto wurde mehrmals beschädigt. Seit Jahren steht Omizzolo unter Polizeischutz, aus Sicherheitsgründen wohnt er selbst heute nicht mehr in der Region.

Omizzolo sorgte dafür, dass Balbir Singh über seinen indischen Bekannten ein Handy bekam, mit dem er ihm die Zustände auf dem Bauernhof über mehrere Wochen immer wieder schildern konnte. Mit den Informationen ging Omizzolo schließlich zur Polizei.

„Ich habe jeden Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet, sieben Tage die Woche“, erzählt Balbir Singh im Gespräch. „Obwohl ich nie einen freien Tag hatte, wurde mein Lohn immer weiter gekürzt. Am Ende gab es mehrere Monate, in denen ich überhaupt kein Geld mehr bekam.“ Er habe sich aus Geldmangel lange Zeit von altem Brot ernähren müssen und Essen aus Resten gekocht, die die Familie weggeworfen hatte. Er wohnte in einem alten Wohnwagen ohne Strom oder Heizung. Wenn er duschen wollte, erzählt er, habe er das im Stall tun müssen, nachdem alle anderen auf dem Hof bereits zu Bett gegangen waren oder bevor sie morgens aufstanden.

Es mag ein extremer Fall sein, was Balbir Singh erlebte, aber seine Geschichte zeigt, wie verletzlich indische Landarbeiter sind, wenn sie auf der Suche nach Arbeit nach Italien kommen – ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse, oft mit hohen Schulden bei zwielichtigen Vermittlern und mit der ständigen Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis wieder zu verlieren. Balbir Singh ist einer der wenigen, der sich wehrte und seinen ehemaligen Chef vor Gericht brachte.

Er ist der erste Migrant, dem in Italien eine Aufenthaltserlaubnis „aus Gründen der Gerechtigkeit“ erteilt wurde. Diese soll sicherstellen, dass er auf jeden Fall bis zum Ende des Gerichtsprozesses im Land bleiben kann. Ein rechtskräftiges Urteil steht in seinem Fall noch aus. Bei Prozessen mit Berufung kann es mehrere Jahre dauern, bis eine Entscheidung durch alle Instanzen gegangen ist.

In den vergangenen dreißig Jahren sind viele Inder auf der Suche nach Arbeit in die Agro Pontino, die pontinische Ebene, einem Gebiet südöstlich von Rom, gekommen. Offiziell gibt es in der Region Latina, in der die pontinische Ebene liegt, heute 9.500 indische Arbeiter. Nimmt man diejenigen dazu, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, die in benachbarten Regionen leben oder die noch nicht in der Statistik auftauchen, weil sie erst sehr kurz im Land sind, könnte die Zahl bei 30.000 liegen, schätzt Marco Omizzolo.

Auf den Straßen der Region sieht man oft indische Arbeiter mit bunten Turbanen, die mit ihren Fahrrädern von einem Feld zum nächsten fahren. Die meisten von ihnen sind als Arbeiter im Obst- und Gemüsesektor beschäftigt. Die Gegend ist eine der fruchtbarsten Italiens. Zu den beliebtesten Exportprodukten der pontinischen Ebene gehören Kiwis, die in Supermärkten in ganz Europa zu finden sind, auch in Deutschland.

Bei unseren Fahrten durch die Dörfer hören wir viele Geschichten über Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch. Aber nur wenige Betroffene trauen sich, offen zu sprechen, vor allem gegenüber Fremden und Journalisten sind sie zurückhaltend.

Durch zahlreiche anonymisierte Gespräche mit Arbeitern sowie Interviews mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern entsteht aber ein Bild: Die grünen Felder der pontinischen Ebene sind eine Landschaft, die geprägt ist von irregulären Verträgen und unzureichenden Löhnen.

Ein Opfer dieser Ausbeutung war Joban Singh. Sein Fall sorgte für Schlagzeilen. Er nahm sich im Juni 2020 das Leben. Wie viele indische Arbeiter war Joban Singh Opfer von Menschenhandel geworden. Er geriet in die Fänge eines kriminellen Netzes von Reise- und Arbeitsvermittlern, Mittelsmännern, Gemeindevorstehern und korrupten Beamten. Er soll 10.000 Euro Schulden aufgenommen haben, um nach Italien zu gelangen. Weil er – nach Aussage mehrerer Bekannter – nur schwarz beschäftigt wurde, sollen ihm immer wieder Teile seines Lohns vorenthalten worden sein.

Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Es gibt immer wieder Suizide. Erst im Oktober 2022 haben sich zwei indische Arbeiter, die noch nicht einmal 25 Jahre alt waren, auf den Bauernhöfen der Region das Leben genommen, wie Lokalzeitungen berichteten.

Um nach Italien zu gelangen, zahlen indische Arbeiter umgerechnet bis zu 15.000 Euro an indische Vermittler. Dafür müssen sie sich bei Bekannten und Verwandten Geld leihen oder – falls sie das besitzen – Land, Kühe und Familienschmuck verkaufen. Die meisten stammen aus dem indischen Bundesstaat Punjab. Der Monatslohn für Menschen, die körperlich arbeiten, liegt dort zwischen 80 und 120 Euro. Deshalb ist Italien, wo ein indischer Arbeiter im Durchschnitt 863 Euro pro Monat verdient, für viele attraktiv – trotz der Ausbeutung, trotz der hohen Schulden.

In den Sikh-Tempeln in den Städten Velletri, Cisterna und Pontinia trifft sich die indische Gemeinde sonntags. Das Wort „Schulden“ wird bei unseren Gesprächen, obwohl es sehr viele hier betrifft, nur verschämt geflüstert. Viele Tempel wurden in alten Lagerhallen eingerichtet, die später renoviert und zu Gotteshäusern umfunktioniert wurden. Der Tempel in Velletri zum Beispiel besteht aus einem einzigen großen Raum mit rosafarbenen Wänden, einem mit Teppichen bedeckten Boden und buntem Papier, das an der Decke hängt. Der Altar im hinteren Teil des Raumes ähnelt einem Himmelbett. Von dort aus liest der Gottesdiener – der Granthi – aus dem heiligen Buch.

Im Tempel werden tagsüber Mahlzeiten für die Gläubigen und Bedürftige zubereitet. Die Menschen essen gemeinsam auf dem Boden eines großen Raums. Junge Leute verteilen Essen und Trinken. Ein Arbeiter erzählt, er habe zwei Jahre lang im Tempel gelebt, weil er weder Miete, Essen noch Strom bezahlen konnte. Mittlerweile habe er eine eigene Unterkunft. In den zwanzig Jahren, die er in Italien verbracht hat, habe er aber Hunderte Menschen kennengelernt, die in der gleichen Situation waren wie er.

Sikh-Arbeiter werden auf den Feldern und Bauernhöfen der pontinischen Ebene oft durch die Strategie der „grauen Arbeit“ ausgebeutet. Dabei werde der Lohn in zwei Teile gesplittet – ein Teil gehe in die Lohntüte, der andere Teil werde schwarz in bar ausgezahlt, erklärt Marco Omizzolo. Die Landwirte würden so weniger Sozialbeiträge und Steuern zahlen.

Eine andere Methode der Ausbeutung ist das sogenannte Jo-Jo-Gehalt. „Manche Chefs überweisen den Lohn auf das Bankkonto der Arbeiter, zwingen sie aber dann, zu einem Geldautomaten zu gehen, 200 bis 300 Euro abzuheben und sie an den Arbeitgeber zurückzuzahlen“, sagt Omizzolo.

Außerdem gibt es Arbeiter, die gezwungen werden, sieben Tage in der Woche 10 bis 11 Stunden am Tag auf den Feldern zu arbeiten. Teils ohne Zugang zu richtigen Toiletten und ohne regelmäßige Pausen. Vorgeschriebene Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den Schutz vor Pestiziden fehlten oft, sagt Omizzolo.

Immer wieder gibt es Berichte über Fälle von physischer und psychischer Gewalt. Wer protestiert oder rebelliert, riskiert eine sofortige Entlassung und Vergeltungsmaßnahmen. Einige Sikh-Arbeiter wurden auf dem Weg zu den Feldern von Autos angefahren, andere ausgeraubt oder verprügelt.

Zu der Angst vor Gewalt tritt oft noch der Albtraum der Illegalität hinzu: Ohne einen regulären Arbeitsvertrag ist es nicht möglich, eine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, um legal in Italien zu leben. Deshalb würden so viele Arbeiter die Ausbeutung über so viele Jahre akzeptieren, sagt der Generalsekretär des nationalen Gewerkschaftsbunds CGIL, Giovanni Gioia.

Nur langsam hätten sich in den vergangenen Jahren auch ein paar Dinge verbessert, sagen Omizzolo und Gewerkschaftsvertreter. Es gab zaghafte Ansätze eines Teils der indischen Arbeiter, mehr Rechte einzufordern. Beim ersten Streik der Sikh-Arbeiter 2016 gingen Tausende in der Provinz Latina auf die Straße, der Streik führte zu einer Erhöhung der Stundenlöhne von ursprünglich 2,50 auf jetzt 6 Euro pro Stunde.

Zudem wurden Organisationen wie „Tempi Moderni“ gegründet, die den Arbeitern kostenlosen rechtlichen und medizinischen Beistand anbieten. Auch ist in der Region Latina die Zahl der Prozesse gegen Unternehmer gestiegen, die der „caporalato“-Kriminalität, der Vermittlung und Beschäftigung von Schwarzarbeitern, angeklagt sind – auch wenn es noch wenige Urteile in dem Bereich gibt.

Die Agrarunternehmer fänden auch neue Wege, um das Ausbeutungssystem am Laufen zu halten, sagt Marco Omizzolo. Sie schalteten etwa Anwälte ein, die ihnen helfen würden, Gesetze und Arbeitsschutz zu umgehen. Und die Arbeiter haben weiterhin Angst, die Ausbeutung anzuprangern.

Auch Balbir Singh war zunächst zurückhaltend, mit uns zu sprechen. Das erste Mal trafen wir ihn im Sommer 2022 in einer Unterkunft, in der er damals mit drei indischen Landsleuten lebte. Er arbeitete nun auf Kiwifeldern. Wir trafen ihn in der Mittagspause, als ein kleiner Ventilator versuchte, die Luft zu kühlen, aber die schwüle Julihitze durch das offene Fenster hereinströmte. Er zeigte uns einen Korb mit kleinen unreifen Kiwis, die er am selben Morgen gepflückt hatte.

Zwischen Juli und Dezember sind die indischen Arbeiter in der pontinischen Ebene hauptsächlich mit Kiwis beschäftigt, die wegen ihrer rentablen Produktion auch als „grünes Gold“ bezeichnet werden. Italien produziert 320.000 Tonnen Kiwis pro Jahr und exportiert sie in fünfzig Länder. Das Land ist der größte europäische Kiwiproduzent und der drittgrößte weltweit, nach China und Neuseeland. Ein Markt, der insgesamt über 400 Millionen Euro wert ist.

Balbir Singh nahm drei Kiwis in die Hand und erklärte uns, wie man die Pflanze reinigt und worin der Unterschied zwischen den Kiwisorten besteht – grün, gelb und rot. Aber als wir ihn fragten, wie er und seine Kollegen jetzt auf den Plantagen, auf denen sie arbeiteten, behandelt werden, schaute er weg und gab nur vage Antworten.

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Oben     —     Der Süden der Pontischen Ebene bei Terracina (Parco Nazionale del Circeo)

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Auszeit vom realen Horror

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Juni 2023

Bevor das nächste Kind tot daliegt

Ein Debattenbeitrag von Shoko Bethke

Eine Studie stellt eine leicht wachsende Nachrichtenmüdigkeit fest. Doch es gibt Möglichkeiten, auf schlechte Nachrichten konstruktiv zu reagieren.

Das Bild des zweijährigen Alan Kurdi kehrt ins Gedächtnis zurück. Sein lebloser Körper am Strand, bekleidet mit einem roten T-Shirt, einer blauen Hose, an den Füßen dunkle Turnschuhe. Er liegt auf dem Bauch, seine Arme dicht am Körper, an das Gesicht klatschen wiederkehrende Wellen. Das Foto des toten syrischen Kindes am türkischen Strand war im September 2015 ein Weckruf für viele, für die der Krieg in Syrien wie ein Ereignis aus weiter Ferne wirkte. Die Bilder sorgten für Entsetzen und offene Münder – und für einen kurzen Augenblick für Empathie in der Politik und das Bedürfnis, den Geflüchteten doch noch irgendwie zu helfen.

Empörung ist kräfteraubend, aber wichtig, bevor das nächste Kind leblos am Strand liegt

Wenn Bootsunglücke wie jene in Griechenland oder vor den Kanaren zunehmen, wird es bald den nächsten Alan Kurdi geben. Am vergangenen Mittwoch sank ein Fischkutter mit vermutlich über 700 Menschen an Bord; sie wollten von Libyen nach Italien fahren. Zehn bis fünfzehn Minuten verblieb den Schutzsuchenden, ehe das Boot komplett unterging. Die griechische Küstenwache rettete 104 Menschen aus dem Wasser, 78 Tote wurden geborgen. Zwei Tage später stellte die Küstenwache die Suche nach weiteren Leichen ein.Unter den Passagieren sollen auch Menschen ohne jegliche Schwimmkenntnisse gewesen sein.

An diesem Mittwoch dann wieder: Vor der spanischen Inselgruppe kamen 39 Menschen ums Leben, die Küstenwache bestätigte den Tod eines Säuglings.

So eine Überfahrt macht niemand freiwillig. Wie gewaltig muss ihre Notlage gewesen sein, wie bedrohlich die Lage für ihre Familie, dort, wo sie zuvor gelebt hatten? Und wann begreift Europa das eigentlich?

Jeder zehnte Erwachsene meidet Nachrichten

Am vergangenen Mittwoch wurde auch der „Digital News Report 2023“ des Reuters-Institut für Journalismus-Studien in Oxford veröffentlicht. Ergebnis der Studie: In Deutschland meidet jeder zehnte internetnutzende Erwachsene Nachrichten. Die Befragung wurde im Januar dieses Jahres durchgeführt, doch da auch im Jahr 2022 jede zehnte Person aktiv Nachrichten aus dem Weg ging, dürfte sich die Zahl im halben Jahr nicht besonders verändert haben.

Insgesamt versuchen 65 Prozent der Deutschen mindestens gelegentlich Nachrichten auszuweichen. Fast ein Drittel geht gezielt bestimmten Themen aus dem Weg, am häufigsten werden Nachrichten zum Krieg in der Ukraine gemieden. Während im vergangenen Jahr noch 57 Prozent der Deutschen äußerst oder sehr an Nachrichten interessiert waren, sind es dieses Jahr nur noch 52 Prozent.

Das Bedürfnis, sich eine Auszeit von schrecklichen Meldungen nehmen zu wollen, ist nachvollziehbar. Denn zusammen mit Bildern des überfüllten Bootes kehren auch Ohnmachtsgefühle und Hilfslosigkeit zurück.

Ukraine, MeToo, Klimawandel und Rechtsruck

Dabei ist die Nachrichtenlage ohnehin schon schwer verdaulich: Der Krieg in der Ukraine ist seit fast anderthalb Jahren ein Dauerereignis, außerdem entflammt hierzulande eine neue #MeToo-Debatte. Was neue Gesetze zur Bekämpfung des Klimawandels angeht, tritt die Ampel praktisch auf der Stelle, und die AfD bekommt in neusten Umfragen mit 19 Prozent mehr Stimmen als die Partei des Bundeskanzlers. Außerdem ragt der Rechtsruck über nationale Grenzen hinaus und führte zur Einigung der EU, die Grenzen vor Geflüchteten zu „schützen“.

Unter anderem deshalb fühlen sich Politik und ihre Entscheidungen wie Beschlüsse aus der Ferne an, auf die man als Einzelperson keinen Einfluss nehmen kann. Für die Psyche kann es also gesund sein, sich eine Auszeit von Nachrichten zu nehmen, sei es, das Handy wegzulegen oder den Fernseher auszuschalten. Neu­ro­wis­sen­schaft­le­r:in­nen erklären, dass der permanente Konsum schlechter Nachrichten einen dauerhaften Stresszustand im Gehirn und Körper verursachen kann. Daraus resultierende Folgen können Gereiztheit, Schlafstörungen und in schlimmen Fällen auch Depressionen sein.

Deshalb ist es sinnvoll, sich gezielt eine Auszeit zu nehmen. Statt nach der Zeitung zu greifen, lieber einen Roman oder ein Kochbuch schnappen. Einen neuen Sport ausprobieren, vielleicht mal länger schlafen und allgemein auf die Bedürfnisse des Körpers hören.

Nachrichtenentzug darf kein Dauerzustand sein

Doch so wichtig Rückzug und Ablenkung auch sind, muss man sich bewusst machen, dass dies kein Dauerzustand sein kann. Die Weltlage vollständig auszublenden bringt die Toten nicht zurück, im Gegenteil. Denn wenn überhaupt jemand an der Lage etwas verändern kann, dann ein medialer und gesellschaftlicher Aufschrei – siehe die Debatte um Till Lindemann.

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Oben         —         Graffiti-Kopie des Fotos der angeschwemmten Leiche von Alan Kurdi. Ein Werk der Künstler Justus „Cor“ Becker und Oguz Sen an der Osthafenmole in Frankfurt am Main, Titel „Europa tot – Der Tod und das Geld“

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Ein Loblied 300 Jahre später

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Juni 2023

Mehr als die „unsichtbaren Hände“

Kirkcaldy, Fife, Scotland – In direkter Nähe zum Geburshaus von Adam Smith, welches im Jahre 1834 abgerissen wurde.

Ein Debattenbeitrag von Konstantin Peveling

Zum 300. Geburtstag von Adam Smith. – Der Geburtstag des Moralphilosophen wurde in der linken Szene distanziert zur Kenntnis genommen. Dabei ist es Zeit, ihn zu umarmen.

In der vergangenen Woche wäre Adam Smith 300 Jahre alt geworden. Während die einen fröhlich auf den schottischen Moralphilosophen anstießen, nahm man dies in der linken Szene höchstens distanziert zur Kenntnis. Zu groß ist die Abneigung gegenüber dem vermeintlichen Verfechter eines „von unsichtbarer Hand“ gelenkten, ungebändigten Marktes. Dabei wäre es eine gute Gelegenheit gewesen, ihn aus der Umklammerung von Fehlinterpretationen und Klischees zu befreien, ihm mit frischem Blick zu begegnen.

Liest man Smith als Ganzes, lernt man einen großen Menschenfreund kennen

Smiths 1759 erschienene „Theory of Moral Sentiments“ und 1776 veröffentlichte „Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ wurden schnell zum Hit und in viele Sprachen übersetzt. Mit dem Erfolg kam leider auch der Missbrauch seines Werkes: Öko­no­m:in­nen und Po­li­ti­ke­r:in­nen beriefen sich immer selektiver auf sein Denken und verzerrten damit die Wahrnehmung dessen.

Das berühmte Bild von der „unsichtbaren Hand“ ist ein trauriges Beispiel dafür. In der damaligen Zeit war es einfach nur eine geläufige Metapher, die Smith selbst nicht mit eigenem Gehalt aufgeladen hat und die auch keine zentrale Rolle in seinem Werk spielt; verwendete er die Wortdoppelung insgesamt nur dreimal. Als später die Metapher nicht mehr geläufig war, stürzten sich Öko­no­m:in­nen aller Lager auf sie und arbeiteten sich an ihr ab. Man glaubte, daraus ableiten zu können, dass egoistisches Verhalten auf dem Markt immer zu einer Steigerung des Gemeinwohls führe und Smith jeden Eingriff zu unterbinden befahl. Der Schotte verkam zum Posterboy der Anhänger von Egoismus und Minimalstaat.

Davon abgesehen, dass Smith so was nie behauptet hat, versperren solche Bilder den Blick auf ihn. Liest man Smith als Ganzes und nicht nur ein paar kurze Textauszüge, lernt man einen großen Menschenfreund kennen, der in Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit die tragenden Werte der Gesellschaft sah. So ist er auch nicht Gründer der Volkswirtschaftslehre, sondern Moralphilosoph. Noch viel wichtiger: Er dachte ganzheitlich über Wirtschaft, Moral und Politik nach und sah sie als unzertrennlich an.

Adam Smith und die Nächstenliebe

Smith war tiefgehend damit beschäftigt, die Prozesse zu verstehen, durch die Menschen ihre moralischen Urteile bilden. Laut ihm tragen Menschen sowohl die Eigenschaft zur Eigenliebe als auch zur Nächstenliebe in sich. Die Fähigkeit, Mitgefühl für die Emotionen und Perspektiven anderer Menschen zu empfinden, nannte er „Sympathy“ – Sympathie.

Durch sie würden moralische Urteile gebildet und würde moralisches Verhalten entwickelt, was altruistisches Verhalten und die Förderung des Gemeinwohls hervorbringe. Er unterstreicht auch die Bedeutung sozialer Bindungen und gesellschaftlichen Miteinanders. Gleichzeitig sei Sympathie nicht bedingungslos. Sie könne durch Faktoren wie persönliche Vorurteile, Voreingenommenheit und begrenzte Wahrnehmung beeinflusst werden.

Smith entwickelte ein Modell, das auf einem gesellschaftlichen Prozess basiert, mit dem Ziel, Eigen- und Nächstenliebe in ein Gleichgewicht zu bringen. Beide seien für ein gesellschaftliches Miteinander wichtig, solange sie nicht außer Kontrolle geraten. Das Wissen darüber, wann die Eigenliebe in selbstsüchtigen und gemeinwohlschädlichen Egoismus umschlage, komme nicht aus dem Nichts. Es sei auch nicht angeboren, sondern entwickele sich durch die Sympathie, die Reaktionen anderer Menschen und eine aufgeklärte Selbstreflexion.

Sollten wir die Toten nicht dort belassen wo sie begraben wurden ? Was werden wohl die späternen Generationen mit den heutigen politischen Versagern machen? Verheizen ??

Ein solch interaktiver, austarierender Prozess benötigt individuelle Freiheit und Unabhängigkeit. Als liberaler Denker der Aufklärung trat Smith vehement für diese ein, kämpfte gegen die Obrigkeit und für die Abschaffung ihrer Privilegien, etwa die der Zünfte. Zudem dachte er egalitär, heißt: In seinem Denken sind alle Menschen und Staaten gleich. So war er sowohl gegen die Sklaverei als auch antikolonial; eine Position, die in der Zeit nicht überall mehrheitsfähig war.

Was Linke heute von seinem Denken lernen können

Als An­hän­ge­r:in linker Ideen muss man Smith nicht verehren. Allerdings ist es vielleicht an der Zeit, die eigene Abneigung zu überwinden und ihn stattdessen freundschaftlich zu umarmen. Zum einen sind viele seiner Ideen linken Positionen nicht vollkommen fremd, zum anderen kann man viel von ihm lernen. Genau wie zur Zeit der schottischen Aufklärung geht es heute im Angesicht der Klimakrise um die Frage: Reform oder Revolution?

Vielen ging es auch damals nicht schnell genug und sie forderten einen revolutionären Umsturz des Systems – Smith gehörte nicht dazu. Nicht, weil er nostalgisch an Dingen festhalten wollte, im Gegenteil. Ihm ging es darum, institutionelles Wissen nicht zu verlieren. Eine Revolution würde nicht nur ein System plattmachen, sondern alles Gelernte gleich mit. Der schrittweise, reformerische Ansatz von Adam Smith hingegen öffnet die Tür für entdeckerfreudige Lern- und Experimentierprozesse. Ideen umsetzen, Fehler machen, korrigieren. In etlichen Reformen sammeln wir Wissen und verändern die Gesellschaft wie ein Mosaik, in dem die Steine getauscht werden.

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Oben     —     2009 photograph of a 19th-century building near the house where philosopher, economist and author Adam Smith lived, 1767-1776. 220 High Street, Kirkcaldy, Fife, Scotland. At this location, Smith wrote „The Wealth of Nations“, according to a plaque on the pictured building. The original house was torn down in 1834.

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Die große Kränkung

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Juni 2023

Den Mut, für die Pflege mehr Geld zu fordern, wird die Ampel in dieser Legislatur wohl nicht mehr haben

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Ein Debattenbeitrag von Barbara Dribbusch

In der Pflege erleben wir die Grenzen der Solidarität im Sozialstaat. Das Pflegerisiko wird individualisiert. Wer betroffen ist, muss improvisieren.

Die Überschriften sagen schon einiges: „Pflege-Reform schrumpft Löhne und Renten“, titelte die Zeitung B. Z., und die Bild warnte: „Lauterbachs Pflegeplan: So schrumpft IHR Gehalt ab Juli“. Die Titel bezogen sich auf das kürzlich verabschiedete sogenannte Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG). Damit werden die Beiträge zur Pflegeversicherung erhöht, um ein paar Verbesserungen zu finanzieren und dem steigenden Finanzbedarf in der Pflege Rechnung zu tragen.

Die Beitragserhöhung beträgt 0,35 Prozentpunkte vom Bruttolohn, gestaffelt nach der Kinderzahl, beziehungweise 0,6 Prozentpunkte mehr für Kinderlose. Wobei Ar­beit­neh­me­r und Arbeitgeber davon jeweils die Hälfte zahlen. Dass solche Erhöhungen schon den öffentlichen Unmut anstacheln, zeigt, wie es um die Pflege steht: Die solidarische Absicherung des Pflegerisikos kippt.

Die Pflege entwickelt sich in einer Gesellschaft der Langlebigen zum schwarzen Loch im Sozialstaat. Es gibt von der Sozialversicherung oder vom Staat immer zu wenig Geld für die Betroffenen und die Pflegekräfte. Die Erhöhungen für Pflegeleistungen um 5 Prozent im ersten und 4,5 Prozent im zweiten Jahr durch das PUEG, nach vielen Jahren der Stagnation, decken nicht mal die Inflation ab. Aber die Einzahlungsbereitschaft der Bür­ge­r:in­nen für die Pflegekasse ist eben auch sehr begrenzt und die Ar­beit­ge­be­r:in­nen klagen über die steigenden Sozialversicherungsbeiträge. Würde von den Steu­er­zah­le­r:in­nen auch noch eine Art „Pflege-Soli“ eingefordert, wäre das Gejammer groß.

Stattdessen wurde das Pflegerisiko schon in den letzten Jahren still und leise zunehmend privatisiert. Die Eigenanteile beim Pflegeheimaufenthalt liegen inzwischen im Schnitt bei 2.400 Euro im Monat. Wer die ambulanten Dienste der Sozialstationen in Anspruch nimmt, muss ebenfalls mehr aus eigener Tasche zuzahlen. Von Pa­tientenschutzorganisationen, wie der Biva, hört man, dass es in den Pflegehaushalten zu Unterversorgungen kommt. Das liegt am Personalmangel bei den ambulanten Diensten, aber eben auch am fehlenden Geld der Betroffenen für die Eigenanteile. Sie wollen im Alter nicht zum Sozialamt gehen, um dort „Hilfe zur Pflege“ zu beantragen.

In den sozialen Netzwerken der Pflegekräfte liest man Debatten, ob und wie die sogenannte „Doppel Inko“, also das hautschädigende Übereinanderziehen von zwei Windeln bei Inkontinenz, in Ordnung ist, wenn es der Hochbetagte selbst so wünscht, um Anfahrten und Kosten für die Pflegedienste zu sparen. Das menschenwürdige „Ausscheidungsmanagement“ (heißt wirklich so) ist eine der größten Herausforderungen für den Sozialstaat.

Die drei von der Ampel ?

Dabei kann es jeden treffen. JedeR dritte 80- bis 85-Jährige wird pflegebedürftig, jeder Siebte in dieser Altersgruppe wird dement. Wir haben nicht die lebenslange Kontrolle über Körper und Verstand. Diese Kränkung muss man akzeptieren.

Angesichts der Pflegemisere kann man natürlich versuchen, Schuldige zu benennen: Die Politik ist schuld, der Gesundheitsminister, der Finanzminister, die Pflegeheimbetreiber! Diese Schuldzuweisungen mögen zum Teil ihre Berechtigung haben, aber sie lösen das Problem nicht. In einer Gesellschaft der Langlebigen ist das Thema Pflege zu groß, um es mal eben mit einer Reform bewältigen zu können. Demografisch bedingt gibt es mehr Pflegebedürftige und weniger Pflegekräfte, das verschärft den Mangel.

Wir werden mit Unzulänglichkeiten, mit einem gewissen Mangel leben müssen, wir werden mehr improvisieren und uns von Regeln verabschieden müssen. In den Heimen zeichnet sich ab, dass man mehr mit Hilfskräften arbeitet. Mehr Assistenzkräfte in Heimen schlägt auch die sogenannte Rothgang-Studie vor, Taktgeber für die künftige Personalbemessung. Einige Pflegehilfskräfte werden vielleicht nicht besonders gut Deutsch sprechen können, man wird deren Sprachunterricht mehr auf den konkreten Bedarf in der Alltagspflege ausrichten müssen.

Pflegebedürftige aus der Mittelschicht werden mehr Geld von ihrem Vermögen, von ihren Immobilien für die Pflege aufwenden müssen, auch wenn das neue Pflegegesetz die Zuschüsse zu Heimaufenthalten aus der Sozialkasse etwas verbessert.

In den Haushalten wird die Pflege individueller gestaltet werden. Manche Ba­by­boo­me­r:in­nen können ein Lied davon singen, wie die Betreuung für die bedürftigen Eltern zusammengestückelt wird aus Hilfe durch die Kinder, Schwarzarbeit, womöglich halblegaler osteuropäischer Pflegehilfskraft und dem Personal der Sozialstationen.

Quelle      :         TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben           —     Schwester Janine aus Gelsenkirchen.

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Juni 2023

Journalismus und sexualisierte Gewalt: – Das Wagnis, zu sprechen

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Kolumne von Fatma Aydemir

Wer über prominente Männer und sexualisierte Gewalt berichtet, erntet Hass. Nicht die Fälle gelten als das Problem, sondern das Schreiben darüber.

Die unangenehmsten Reaktionen kommen immer zum Thema sexualisierte Gewalt. Egal, ob es sich um Vergewaltigungsvorwürfe gegenüber prominenten Männern handelt oder um den Umgang mit dem Thema Konsens und Sex in der linken Szene: Wer als Journalist_in über diese Fälle berichtet, sei es auch nur im Konjunktiv oder anonymisiert, wird mit so vielen und teilweise so hässlichen Zuschriften überhäuft, dass er_sie (meistens sie) es sich in der Folge dreimal überlegen wird, ob ein Artikel die Kopfschmerzen, die bereits vorprogrammiert sind, wert ist.

Je reicher der mutmaßliche Täter, desto schneller flattert dann auch die Post von dessen Anwälten herein. Aber verwundernd ist doch viel eher, wie Unbeteiligte häufig Partei ergreifen für Beschuldigte, als sei nicht die Allgegenwärtigkeit sexualisierter Gewalt das Problem, sondern das Sprechen und Schreiben darüber.

Natürlich geht es auch immer um das juristische Problem der Verdachtsberichterstattung. Beweislage und Zeug_innenaussagen müssen geprüft, Beschuldigte konfrontiert werden, um mit journalistischer Neutralität über solche Fälle berichten zu können. Wie aber steht es um die Kolumnenform oder den Meinungsbeitrag? Diese Formate leben ja nicht von investigativen Ansprüchen und Objektivität, sondern davon, Debatten, die sowieso in der Welt sind, genauer anzuschauen und zu bewerten. Sie wollen parteiisch sein, das ist in ihrem Kern angelegt. Und man kann durchaus eine Haltung formulieren, ohne falsche Tatsachen zu behaupten. Das ist ja das Interessante an Fällen von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch: Sie sind niemals Einzelfälle, wir alle sind in irgendeiner Weise in sie verwickelt. Die Frage ist nur, inwieweit wir bereit sind, uns damit auseinanderzusetzen.

Wenn es nach den Anwälten der Beschuldigten, aber auch nach den fleißigen Leser_innen und Kommentator_innen solcher Beiträge ginge, sollte man Vorwürfe sexualisierter Gewalt gar nicht erst öffentlich thematisieren dürfen, bis ein gerichtliches Urteil vorliegt. Das ist aus vielerlei Hinsicht völlig absurd, denn selten kommt es überhaupt zu einem Gerichtsverfahren, und noch viel seltener gibt es eine Beweislage, die es dem Gericht ermöglichen würde, einen Täter zu verurteilen. Was Berichterstattung aber möglich macht, gerade wenn es um prominente Beschuldigte geht: Es kommen neue Betroffene hinzu, die sich bislang nicht getraut hatten, über ihre Erfahrungen zu sprechen.

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Scham überwinden

Weil ihr Umfeld ihnen vielleicht einredete, sie seien selbst schuld, wenn sie sich auf Aftershowpartys mit Rockstars herumtrieben. Weil sie sich vielleicht schämten, mit dieser Geschichte öffentlich assoziiert zu werden. Weil sie bereits wissen, dass niemand ihnen glauben wird. In den meisten Fällen aber ist es schlicht das Unsichtbarbleiben der Systematik dahinter: Niemand ahnt, dass auf jedem Konzert dieser hypothetischen Band jungen Mädchen K.O.-Tropfen verabreicht werden und sie schlicht nicht in der Lage sind, Einvernehmen zu formulieren, wenn der Frontsänger der hypothetischen Band sich ihnen sexuell nähert. Niemand weiß, dass sie sehr viele sind, bis auf Social Media erste Erfahrungsberichte auftauchen und Journalist_innen das Thema aufgreifen und nach weiteren Betroffenen recherchieren.

Quelle       :        TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —      Injektionsfläschchen mit Ketamin

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Respekt bis zum Tod

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Mai 2023

Recht auf freiverantwortliches Sterben

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Ein Debattenbeitrag vin Michael de Ridder

Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft setzt voraus, den Menschen auch und gerade die Vorstellung  vom eigenen Lebensende selbst zuzugestehen.

Unter den nicht wenigen Menschen – in der Regel schwer und aussichtslos körperlich erkrankt –, die sich an mich wenden, um ihr Leben selbstbestimmt zu beenden, finden sich – in steigender Zahl – auch hochaltrige Menschen mit dem Anliegen eines proaktiven, präventiven Suizids.

Was verbirgt sich hinter einem solchen Verlangen? Ohne Zweifel kann der Lebensweg im hohen Alter zunehmend zum Leidensweg werden, der durch vielfältige Krankheiten, Beschwerden und Einbußen gekennzeichnet ist: chronischer Schmerz, Atemnot, Bewegungseinschränkungen, Lähmungen, Inkontinenz, Abnahme des Hör- und Sehvermögens, Gleichgewichtsstörungen, Stürze und Sturzangst.

Dazu können nachlassende geistige Fähigkeiten bis hin zur Demenz sowie brüchiger werdende und sich auflösende soziale Beziehungen kommen. Das Vermögen, ein selbstständiges Leben zu führen schwindet, vice versa nehmen Hilfs- und Pflegebedürftigkeit zu und sind letztendlich unausweichlich. Für manch hochaltrigen Menschen stellt sich daher die Frage: Will ich das alles erleben und ertragen? Will ich den mir drohenden, unabänderlichen Autonomieverlust hinnehmen?

Die übergroße Mehrheit kranker, alter, gebrechlicher und pflegebedürftiger Menschen bejaht bewusst oder unbewusst diese Frage und überantwortet sich privater oder institutioneller Pflege, palliativmedizinischer und hospizlicher Behandlung, Versorgung und Zuwendung. Dieses etablierte System der Versorgung leistet enorm viel und ist unverzichtbar. Es quantitativ und qualitativ auszuweiten ist dringend geboten, gerade angesichts des demografischen Wandels, weil es – trotz aller bekannten Mängel – vielen Menschen ein ihnen gemäßes und friedliches Lebensende sicherstellen kann.

„Zum Schatten meiner selbst werden“

Und doch muss niemand diese Versorgungsangebote wahrnehmen. Eine wachsende Zahl alter Menschen erwägt aus unterschiedlichen Gründen – gänzlich unabhängig von der Güte und Qualität ihrer künftigen Versorgung –, über die Umstände, die Zeit und den Ort ihres Todes selbst verfügen zu wollen.

Letzteres wünscht eine meiner Patientinnen. Frau S. ist 84 Jahre alt, promovierte Philologin, verwitwet und kinderlos. Sie ist gebrechlich, leidet aber nicht an einer schweren Erkrankung. Allerdings sind Frühsymptome einer dementiellen Entwicklung ärztlicherseits attestiert, die ihr Denk- und Urteilsvermögen (noch) nicht beeinträchtigen.

Umfassend legt sie mir dar, dass sie immer ein selbstbestimmtes und glückliches Leben geführt habe, sie jedoch ihrer eigenen Hinfälligkeit, insbesondere dem Vollbild einer Demenz, an der auch ihre Mutter und ihr Bruder litten, unbedingt zuvorkommen wolle: „Zum Schatten meiner selbst zu werden entspricht nicht den Vorstellungen von dem Wert und der Würde meines Lebens. Noch bin ich in der Lage, selbstbestimmt und freiverantwortlich über mein Leben zu entscheiden – doch wie lange noch?“

Als Arzt muss man sich um Empathie bemühen

Keineswegs sollten sich Ärzte als Dienstleister empfinden, die Suizidwilligen nur Medikamente zur Selbsttötung bereitstellen. Als Arzt muss man sich um Empathie bemühen und dem ganz persönlichen ärztlichen Gewissen und ethischen Koordinatensystem verpflichtet sein. Entscheidend ist, gemeinsam mit den Patienten einen ergebnisoffenen Dialog zu suchen.

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Es geht um eine unwiderrufliche Entscheidung, die Zeit braucht, aufseiten der Patienten wie des Arztes

Suizidhilfe muss plausibel und nachvollziehbar sein, gerade dann, wenn der Sterbeprozess, wie im Fall von Frau S., nicht absehbar ist. Es geht um eine unwiderrufliche Entscheidung, die Zeit braucht und reifen muss, aufseiten der Patienten wie des Arztes. Zwischen Frau S. und mir ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 2. 2020, das Suizid und Suizidhilfe zu Grundrechten erklärte, ebnet auch Frau S. den Weg, mit ärztlicher Hilfe ihr Leben autonom zu beenden. Die Entscheidung, so das Verfassungsgericht, „muss freiverantwortlich, von festem Willen getragen und ohne äußeren Druck zustande gekommen sein und sich zudem als zeitkonstant erweisen“.

Es darf keine Hierarchie geben

Autonomie bezeichnet das Vermögen, auf Grundlage eigener Werte und Überzeugungen authentisch, also nach kritischer Selbstreflexion, zu entscheiden. Dies im Falle eines Suizidverlangens zu prüfen obliegt dem zuständigen Arzt, im Zweifel einem Arzt für Psychiatrie. Es geht dabei allein um die mentale Verfasstheit des Suizidanten, seine Einwilligungsfähigkeit also, nicht um die Inhalte seiner Entscheidung. Die muss er nicht rechtfertigen.

Quelle        :        TAZ-online            >>>>>      weiterlesen

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Oben           —     Valentine Godé-Darel am Tag vor ihrem Tod (Gemälde von Ferdinand Hodler, Januar 1915)

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Ein neuer Frühling

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Mai 2023

1. Mai und Gewerkschaften

Ein Debattenbeitrag von Esther Lynch

Beschäftigte in Europa wehren sich gegen niedrige Löhne und steigende Lebenshaltungskosten. Aber für die Gewerkschaften bleibt noch viel zu tun.

Der 1. Mai ist für uns ein Tag zum Feiern. Aber wir erheben auch Einspruch. Am Tag der Arbeit feiern wir die Erfolge der Gewerkschaftsbewegung. Unsere erfolgreiche Kampagne für den Acht-Stunden-Tag stand am Beginn des internationalen Tags der Arbeiterbewegung. Und wir bleiben der Tradition der Gründer unserer Bewegung treu, wenn wir weiter konkrete Verbesserungen der Bedingungen für arbeitende Menschen fordern.

Kurz vor dem 1. Mai 1913 schrieb Rosa Luxemburg in einem Artikel, dass „das Gespenst der Teuerung (…) ein flammendes Zeugnis für die lebendige Wahrheit und die Macht der Ideen der Maifeier“ sei. Deshalb hat die europäische Gewerkschaftsbewegung in diesem Jahr erst recht einen Anlass, auf die Straße zu gehen. Alarmierend steigende Lebenshaltungskosten werden von Unternehmen verursacht, die auf zynische Weise die Preise und ihre Profite immens steigern und dies auf Versorgungsprobleme schieben, die durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine entstanden seien. Gleichzeitig müssen Beschäftigte den größten Reallohnverlust seit Beginn des Jahrhunderts hinnehmen.

Nichtsdestotrotz wurde nur in einer Handvoll europäischer Länder eine Übergewinnsteuer auf solche zusätzlichen Profite eingeführt. Ich nenne diese Teuerung ja lieber „Gierflation“. Aber viele führende Politiker sind abermals entschlossen, die breite Bevölkerung für eine weitere Krise bezahlen zu lassen, an der sie keinerlei Schuld tragen. Austerität 2.0 kommt auf uns zu: Politiker fordern Lohnzurückhaltung, gleichzeitig schießen die Zinsen in die Höhe, Macron setzt in Frankreich auf undemokratische Weise eine Rentenreform durch, und in Dänemark wird ein Feiertag gestrichen.

Aber wir sehen heute in Europa auch, dass die Menschen sich wehren. Ein Dutzend Mal haben die Beschäftigten in ganz Frankreich gestreikt. Großbritannien erlebte 2022 die ausgedehntesten Arbeitskämpfe seit den 1980er Jahren, und in Deutschland kam es Ende März zum „Super-Streiktag“. Krankenpflegerinnen in Lettland, Arbeiter in tschechischen Reifenfabriken und Transportarbeiter in den Niederlanden haben sich in den vergangenen Monaten erfolgreich eine bessere Bezahlung erstritten.

Gewerkschaften wehren sich auch erfolgreich gegen Taktiken, die Organisierung in weiteren Betrieben zu verhindern. Beschäftigte bei Amazon in Deutschland haben immer wieder gegen die Arbeitsbedingungen dort gestreikt, in Großbritannien in diesem Jahr erstmals. Überall in Europa organisieren sich die Beschäftigten und erringen Erfolge. Wir können an diesem 1. Mai stolz sein. Die Herausforderung ist jetzt, aus diesem Frühling der Arbeiterbewegung dauerhafte Verbesserungen zu erstreiten.Deshalb wird eine Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung beim Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbunds in diesem Monat oberste Priorität haben. 1.000 Delegierte und Teilnehmer, die mehr als 45 Mil­lio­nen Beschäftigte repräsentieren, werden nach Berlin kommen und einen Aktionsplan für die kommenden vier Jahre beraten.

In zwei Dritteln aller EU-Mitgliedstaaten liegt der Mindestlohn unter der Armutsgrenze

Noch immer profitieren zu wenige Beschäftigte von den Vorteilen gewerkschaftlicher Organisierung und tariflich abgesicherter Arbeitsverhältnisse. Sie erhalten in der Regel eine höhere Entlohnung als in Betrieben, in denen die Arbeitgeber allein die Löhne festlegen. In Deutschland sind 52 Prozent der Beschäftigten über Tarifverträge abgesichert, aber in der Hälfte der EU-Mitgliedstaaten liegt diese Quote unter 50 Prozent. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat sich bereits erfolgreich für eine EU-Richtlinie zu angemessenen Mindestlöhnen eingesetzt.

In zwei Dritteln aller EU-Mitgliedstaaten liegt der Mindestlohn unter der Schwelle, an der den Beschäftigten das Abrutschen in die Armut droht. Deutschland gehörte auch dazu, bis der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht wurde – ein Beispiel, dem andere EU-Staaten folgen sollen.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>      weiterlesen

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Oben        —     Wien Hauptbahnhof, Hinweis auf Auswirkungen eines Streiks in Deutschland.

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Die Sorge um mich …

Erstellt von DL-Redaktion am 16. April 2023

Mein Ende und das Ende der Welt: das radikalisierte Individuum

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Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von Reimer Gronemeyer

Ich muss den Tatsachen ins Gesicht schauen. Ich bin 83 Jahre alt und das Ende ist absehbar. Wahrscheinlich trösten sich alle alten Menschen mit dem Gedanken, dass es ja noch ältere gibt. Ich habe mich viel mit den Themen Altern, Pflege, Demenz befasst.

Und mit einem Mal ist es nicht mehr das Thema der anderen, sondern es könnte über Nacht mein eigenes werden. TikTok, so lese ich gerade, wurde bereits zwei Milliarden Mal heruntergeladen. Eine ganze Sparte widmet sich bei TikTok dem Thema „Pflege“. Da ist die Pflegerin, die ein Video einstellt, in dem sie imitiert, wie sie mit einem Trichter BewohnerInnen das Getränk gewaltsam einflößt. „Manche Pflegende schmieren sich Nutella ins Gesicht und imitieren Stuhlschmieren, weil ‚Demente halt so sind‘. Wieder andere sind mit Inkontinenzmaterial auf dem Kopf zu sehen … “ (https://mypflegephilosophie.com)

Ist das mein Morgen? Verschont mich die Pflegebedürftigkeit? Oder lande ich an einem menschenfreundlichen Pflegeort? Ich habe gerade gelesen, dass 40 Prozent aller Pflegekräfte mit dem Gedanken befasst sind, den Job zu wechseln. Ein Freund, der im Pflegeheim arbeitet, sagt: Im Grunde kann er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Orte dazu da sind, menschlichen Müll zu sammeln. Wenn ich das höre, denke ich, dass es wichtig ist, dass ich mich vorbereite und in Demut, Geduld und Bescheidenheit übe. Das gelingt mir aber nicht. Vielleicht – flüstere ich mir zu – geht es ja auch gut und ich gerate in ein von Wärme und liebevoller Zuwendung erfülltes Hospiz? Ich habe also eigentlich genug mit der Sorge um mich zu tun. Und da soll ich mir auch noch Gedanken über die drohende Klimakatastrophe machen? Über das Anthropozän! Über jenes Zeitalter, in dem ich gelebt habe, soll ich nachdenken, ein Zeitalter, dem gerade die Maske vom Gesicht gerissen wird: Nun sehe ich eine Zeit, meine Lebenszeit, die einen entfesselt-gierigen homo sapiens hervorgebracht hat. Ich sehe einen homo sapiens, der im Begriff ist, den Planeten so zuzurichten, dass menschliches Leben und Leben überhaupt gänzlich verschwinden könnte. Und wie hängen meine absehbare Auslöschung und die vielleicht drohende Gesamtauslöschung zusammen? Drängt sich da der skandalös-tröstliche Gedanke auf: Mit mir geht’s bald nicht weiter, mit den anderen aber bald auch nicht mehr. Herostrat steckte den Tempel der Artemis in Ephesos, der als eines der sieben Weltwunder galt, absichtlich in Brand, um dadurch seinen Namen unsterblich zu machen. Er verquickte individuelles und kollektives Schicksal. Das Anthropozän eröffnet herostratische Möglichkeiten: Verschmelzen gerade mein Ende und das Ende der Welt? Verschwimmen die Grenzen zwischen zwei Apokalypsen? Und ist das nun Größenwahn oder Realismus, ist das Phantasterei oder Analyse?

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat davon gesprochen, dass die moderne Welt über die genealogische Ordnung der Dinge hinausgeschritten ist. Die genealogische Ordnung bestand in der Abfolge von Großeltern, Eltern, Kindern … Individuen verstehen sich heute nicht mehr als Mittlere zwischen Vorfahren und Nachkommen, sondern eben als Individuen: Leben wird dann begriffen als Endverbrauch von Lebenschancen und in diesem Sinne sind Senioren heute – so Sloterdijk – die Prototypen des „letzten Menschen“ (Nietzsche sprach vom „letzten Menschen“). Auch wenn weitere Menschen in späteren Zeiten folgen: Mein Ende ist für das radikale Individuum das Ende der Welt. „Die Industriegesellschaft, der Sozialstaat, die Medienzivilisation – sie sind allesamt Stadien in der Entfaltung einer Verendungsgeschichte, in der jedes menschliche Leben anfängt, mit seiner Bestimmung als Ende in sich selbst Ernst zu machen.“ Sloterdijk bestätigt mir also gerade: Das eigene Ende ist auch das Ende der Welt. Kein Vorher und kein Hinterher. Nichts weist über mich hinaus. Die individualistische Revolution hat uns dahin gebracht, dass „am Ende sein“ heute bedeutet, zum Selbstendverbraucher zu werden. Wenn Sloterdijk recht hat, bin ich als Alter viel eher ein „Epochen-Wahrzeichen“ als die „milchschnittenverzehrende, mit Computern spielende Jugend“. Soll ich mich mit Sloterdijk so sehen? Als ein Epochen-Wahrzeichen? Mir kommt das vor, als würde ich zu einer Mixtur aus Größenwahn und Verzweiflung: Ich bin dann das Ende der Welt – zappelnd in einem Meer von NICHTS. Dieses radikale Individuum ist in der Welt nicht beheimatet, deswegen ist es ihm auch egal, was aus der Welt wird. Ich spüre den Größenwahn in mir und ich spüre zugleich, wie die Verzweiflung anklopft. Aber hat er wirklich recht? Ist das das Geheimnis des Anthropozäns, dass sich in ihm nicht nur der gierige homo sapiens durchsetzt, sondern dass in ihm auch ein vergreistes Individuum triumphiert, das sich als Verkörperung des Endes begreift, dem im Grunde nichts mehr folgen kann als der allgemeine Untergang?

Die Welt als Geliebte? Zum Beispiel Hospizarbeit

Der Sommer 2022 wird wohl als der Wendesommer in Erinnerung bleiben. Glühende Hitze in Südeuropa, Waldbrände in Griechenland und der Türkei und auch weit entfernt – in Sibirien und Kalifornien. Bei uns in Deutschland eine Flutkatastrophe im Südwesten: im Ahrtal viele Tote, zerstörte Häuser, Brücken und Straßen, vernichtete Existenzen. Wer ist nicht von dem Gefühl ergriffen worden, dass die gemütlich-sichere Wohlstandsgesellschaft, in der wir gelebt haben, am Ende ist?

Vor einigen Jahren ließ sich Joanna Macys Prognose noch abtun: Wir werden, so sagte sie, ein weltweites hospizliches Handeln brauchen, weil die Zahl der elendiglich sterbenden Klimaflüchtlinge, die Zahl der Hungernden aus Dürregebieten und überfluteten Regionen alles übertreffen wird, was wir uns vorstellen können. Dieses globale Hospiz schließt aus ihrer Perspektive nicht nur die bedingungslose Betreuung von Menschen ein, sondern ausdrücklich alle anderen Lebewesen. Joanna Macy ist eine 92-jährige Kalifornierin, die sagt, was wir gerade erfahren: dass wir die letzten Jahre eines Wirtschaftswunder-Systems erleben, das enorme zerstörerische Auswirkungen auf den Planeten hat. Der Übergang von einer industriellen Wachstumsgesellschaft zu einer lebensfreundlichen, sorgenden Gesellschaft – wie kann der gelingen? Macy fragt: Ist die Welt ein Schlachtfeld? Ist sie eine Falle? Oder könnte sie eine Geliebte sein? „Ich sehe die Welt als Geliebte und als Teil meiner selbst. (…) Wer die Welt so sieht, macht sie wieder heilig. (…) Wenn künftige Generationen auf den Beginn des 21. Jahrhunderts zurückblicken, werden sie wahrscheinlich von der ‚Zeit des großen Wandels‘ sprechen.“ (https://tiefenoekologie.de/12-politk-des-herzens/9-joanna-macy-die-welt-als-geliebte) Die uralte Joanna Macy widerspricht Sloterdijks These vom apokalyptisch gestimmten „letzten Menschen“. Das radikalisierte Individuum kann die Welt nicht als Geliebte sehen, sondern nur als Ressource zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Mir scheint, dass im Hospiz der Unterschied zwischen dem Menschen, der die Welt liebt, und dem radikalen Individuum, das die Welt als Ressource betrachtet, aufbrechen kann. Und deshalb ist die weitere Entwicklung der Hospizarbeit so wichtig.

Die Hospizbewegung steht heute vor der Frage, ob sie Teil dieses Wandels, von dem Macy spricht, sein will oder eine gut finanzierte Abteilung des Gesundheitsapparates, der schon jetzt vor unseren Augen von seinen Krisen zerfressen wird. Ein neuer hospizlicher Aufbruch ist angesagt. Soll es weiter in die Richtung eines hochprofessionellen, teuren und standardisierten Dienstleistungsprodukts gehen oder kann sich eine Lücke auftun, durch die das Licht einer neuen Hospizbewegung einfällt, die sich auf ihre einfachen, zivilgesellschaftlichen, wärmenden Wurzeln besinnt? Brauchen wir wirklich Sterbeorte „de luxe“? Brauchen wir palastartige Hospize, in der wir als Sterbende mit unserer welken Haut, mit unserer Hinfälligkeit ständig dem ausgeliefert sind, was Günther Anders die „prometheische Scham“ des Menschen genannt hat? Er hat damit den Menschen gemeint, der im Angesicht perfekter Technik sich selbst als unvollkommen und vergänglich wahrzunehmen gezwungen ist.

Wenn wir diesen Wandel nicht baldigst vollziehen, wenn der Abschied von der destruktiven Industriegesellschaft nicht gelingt, kommen finstere Zeiten auf uns zu, das kann heute jeder wissen: für die Alten, für die Schwachen, für die Hilfsbedürftigen, für die Sterbenden. Jetzt, mit und nach Corona, müssen wir über die Alternativen nachdenken und auf diese Alternativen hoffen. Jetzt kann es heißen: die Schwachen zuerst. Sie weisen uns die Richtung. Sie sind das Fieberthermometer, sie sind vielleicht Kassandra und Rettung zugleich. Der Lockdown stellt uns ruhig. Der Lockdown lähmt uns. Der Lockdown ist die Stunde der musischen Schwäche. Nicht die Stunde der Eroberer, sondern die Stunde der Gelassenen, die Stunde des Unterlassens, die Stunde der Stille und der Wehrlosigkeit.

Der amerikanische Klimaforscher James Lawrence Powell hat mögliche Zukunftsszenarien entworfen. Er hält es für denkbar, dass bis zum Jahr 2084 der assistierte Suizid in den USA zum Massenphänomen geworden ist, weil zahllose alte Menschen die unerträglich heißen Sommer in ihren glühenden Städten nur noch als qualvoll erfahren und dieses Leben beenden möchten. Der Sommer 2021 hat in Kanada und in Südosteuropa Temperaturen nahe 50 Grad Celsius hervorgebracht. Vielleicht dauert diese dramatische Entwicklung gar nicht bis 2084 (und diese Jahreszahl ist natürlich eine Reminiszenz an Orwells Zukunftsroman „1984“), sondern setzt uns viel früher unter Druck?

Im August 2021 wird der Bericht des Weltklimarates veröffentlicht. Er sagt, dass der Planet auf der Kippe steht. Immer schneller steigt der Meeresspiegel, das Eis an den Polen schmilzt. Extremwetterereignisse wie Überschwemmungen und Hitze werden häufiger. Wir müssen uns wohl von der Illusion verabschieden, dass die Klimakatastrophe eine technische Herausforderung ist, die wir bewältigen können. Tatsächlich sind Kipp-Punkte überschritten. In den politischen Programmen unserer Parteien aber ist nicht die Rede davon, dass es jetzt und in Zukunft auch um ein „Weniger“ gehen muss. Wer wird es wagen, sich mit der Forderung nach weniger unbeliebt zu machen? Und gilt diese Forderung auch für die Hospizarbeit – oder ist sie davon ausgenommen? Tatsächlich ist es ja so, dass wir in den reichen Ländern die Folgen des Wandels noch einige Jahre abmildern können. Dämme und Deiche bauen. Sirenen wieder einführen. Frühwarnsysteme einrichten. Wir können die Illusion des ewigen Wachstums noch einige Weltsekunden aufrechterhalten. Empört ist jeder, der die Grenzen des Wachstums spüren soll. Auch die Hospizbewegung? Auf Madagaskar und in Malawi hungern die Menschen schon, weil der Regen ausbleibt oder Fluten die Äcker verwüsten. Da werfen die Industrienationen dann Hilfsgüter ab, und es sieht einen Augenblick so aus, als wenn die Katastrophe im Griff ist.

Bedeutet das alles etwas für die Hospizarbeit? Natürlich, aber darüber – so scheint es – wird bisher nicht geredet. Das Wachstum des hospizlichen Handelns hat bei uns in den Achtzigerjahren begonnen und die Hospizbewegung ist anfänglich eine Antwort auf die Sterbekrise der Wohlstandsgesellschaft gewesen. Immer häufiger übernahmen Familien aus vielen (guten und schlechten) Gründen die Sorge für Sterbende nicht mehr. Daraus ist dann eine starke zivilgesellschaftliche Hospizbewegung erwachsen.

Heute – wo die Klimakatastrophe ihre Schatten auf uns zu werfen beginnt – wird unübersehbar, dass die Hospizbewegung ein bürgerliches Milieu repräsentiert, das nolens volens an den Normen des Wachstums, der flächendeckenden Ausbreitung und des unbeschränkten Angebots orientiert ist. Die Hospizbewegung entsteht im Kontext eines Aufbruchs, der seine Verbindung mit der Wohlstandsgesellschaft und ihrer Wachstumsfixierung nicht leugnen kann. Genau das wird jetzt im beklemmenden und im befreienden Sinne zur Herausforderung für die Hospizbewegung: Die Krise der Wachstumsgesellschaft wird zur Krise der Hospizbewegung. Sie muss die Kategorien des „Mehr“, aus denen sie jetzt oft unbedenklich lebt, überdenken. Wir brauchen – wie Joanna Macy sagt – mehr Hospizlichkeit in unserer Gesellschaft. Wer aber das Geld, das heute ein Hospizbett bei uns kostet, und die Tagessätze in den stationären Hospizen mit denen in der Altenpflege vergleicht, muss sich fragen, ob da der richtige Weg eingeschlagen ist. Warum ist die ehrenamtliche Hospizarbeit immer mehr in den Hintergrund gerückt? Warum ist die im Wesentlichen geldfreie Zone, mit der Hospizarbeit begann, völlig in Vergessenheit geraten?

Die Folgen des Klimawandels werden diejenigen zuerst treffen, die arm sind, alt, behindert, dement, pflegebedürftig. Deswegen ist ein Neuanfang wohl erforderlich, aber vielleicht nicht so, wie sich das Weltwirtschaftsforum das vorstellt. Das fordert einen tiefgreifenden ökonomischen Wandel, einen Great Reset, aber das WWF sieht die sozialen Dimensionen nicht wirklich. Seit Langem kann man wahrnehmen, dass die Pflege, dass die Sorge um Menschen mit Demenz, dass die Hospizarbeit so tut, als werde es immer so weitergehen wie bisher. Der bevorstehende radikale Bruch, der die Schwachen gefährdet, wird übersehen. Wir müssen begreifen, dass die Wachstumsidee falsch war, dass sie nicht sinnvoll ist. Was wird das für die Schwachen in der Gesellschaft bedeuten? Werden sie die ersten Opfer des Wandels, der Krise sein oder begreifen wir endlich, dass die Schwachen das Fieberthermometer einer Gesellschaft sind, das über die gesellschaftliche Humanität und ihre Solidaritätskompetenz Auskunft gibt?

Die Gefahr der Hospizbewegung ist heute, dass sie Teil eines wohlfahrtsstaatlichen Sicherheitspaketes wird, das sich als Angebot zur risikofreien Lebensabwicklung versteht. Sie ist in der Gefahr, zum Dienstleister für das oben beschriebene radikale Individuum zu werden, das für sich sorgt, aber nicht für die Welt, für die anderen. Das Welt verbraucht, aber sie nicht liebt. Das moderne Hospiz bietet Vorbereitungsplanung, professionelle medizinische Dienstleistung und einen Abschluss, der sich logischerweise schließlich und endlich gezwungen sehen wird, den assistierten Suizid ins Angebot aufzunehmen. Hospiz – das ist im Begriff, eine ehrenamtsfreie Gewinnzone zu werden. Vom zivilgesellschaftlichen Aufbruch, den die Hospizbewegung einmal darstellte, hat der Weg in die finale Sterbeabfederung geführt. Eine Dienstleistung für reiche Gesellschaften – ein „Stück des Himmels für die Wenigen“, wie es in der britischen Hospizbewegung einmal hieß. Die große Gefahr: professionelle Kälte. Was gebraucht wird, das sind eine empathisch-wärmende Begleitung und Sorge im Leben und an dessen Ende, die sich aus den Kräften solidarischer Menschen nähren, die – man möchte sagen: von Natur aus – trösten und begleiten können.

Eine Hospizbewegung wird gebraucht, die sich von den Zielen verabschiedet, die bisher hießen: mehr, teurer, zentralisierter, professioneller. Die Hospizbewegung wird gebraucht, mehr denn je. Sie steht vor der Wahl, ob sie zum Bestandteil eines krisenhaften halbstaatlichen Gesundheitsapparates werden will oder sich wieder auf ihre zivilgesellschaftlichen Wurzeln besinnt. Der „Abbau kollektiver, hoffnungsfördernder Fürsorgepraktiken“ (Nishant Shah) schreitet voran. Die Hospizbewegung könnte Avantgarde auf dem Weg zu neuen Formen des Zusammenlebens sein. Gerade sie.

Literatur:

Monja K. Schünemann https://mypflegephilosophie.com

Peter Sloterdijk: Alte Leute und letzte Menschen. Notiz zur Kritik der Generationenvernunft, in: Hans Peter Tews u. a. (Hg.): Altern und Politik, Melsungen 1996

https://tiefenoekologie.de/12-politk-des-herzens/9-joanna-macy-die-welt-als-geliebte

Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Erster Band, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 2. Auflage München 2018, (C.H. Beck), S. 21 ff.

Reimer Gronemeyer: Die Schwachen zuerst. Lektionen aus dem Lockdown, München 2021 (Claudius).

James Lawrence Powell: 2084. Eine Zeitreise durch den Klimawandel, Köln 2020, S. 209 ff.

Andreas Heller. Sabine Pleschberger, Michaela Fink, Reimer Gronemeyer: Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland, Ludwigsburg, 2. Aufl. 2012 (der hospiz verlag).

Klaus Schwab/Thierry Malleret: COVID-19: Der große Umbruch, Cologny, Genf, Schweiz 2020.

Reimer Gronemeyer/Andreas Heller: Suizidassistenz? Warum wir eine solidarische Gesellschaft brauchen, Esslingen 2021 (der hospiz verlag).

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Oben     —   Modernes Seniorenheim in Augsburg-Haunstetten-Siebenbrunn

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Die Kindergrundsicherung:

Erstellt von DL-Redaktion am 15. April 2023

Kaum angekündigt, schon demontiert?

Von Christoph Butterwegge

Sie spielt sich oft im Verborgenen ab und steht noch immer zu wenig im Fokus: Kinderarmut. Dabei sind hierzulande rund drei Millionen Kinder und Jugendliche betroffen und damit 21,3 Prozent aller Minderjährigen.

Immerhin: Nachdem man sie lange nur in Sonntagsreden bedachte, betrachten mittlerweile große Teile der Öffentlichkeit Kinderarmut als ein gravierendes soziales Problem, das die Politik sehr viel konsequenter als bisher angehen muss. Und seit die SPD „Hartz IV hinter sich lassen“ will, wie ihre damalige Vorsitzende Andrea Nahles, heute Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, immer wieder betonte, gehört eine Kindergrundsicherung (KGS) zu den Instrumenten dieser Partei, um die Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung von Minderjährigen zu bekämpfen.[1] Schon kurz nach der Jahrtausendwende hatten die Grünen ein Konzept entwickelt, das sich auf Kinder als besonders vulnerable Armutsrisikogruppe konzentriert. Sie können deshalb als Urheber:innen des Reformprojekts gelten, das nun, nach über zwei Jahrzehnten, langsam Gestalt annimmt.

Nachdem die Ampelkoalition mit dem am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Bürgergeld zunächst die landläufig als „Hartz IV“ bezeichnete Grundsicherung für Arbeitsuchende reformiert hat, steht für den Rest der Legislaturperiode die Kindergrundsicherung als ihr zweites familien- und sozialpolitisches Kernanliegen im Fokus. Damit sollen neben dem Kindergeld sämtliche kindbezogenen Transferleistungen – der Kinderzuschlag, die entsprechenden Regelbedarfsstufen des Bürgergeldes sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepaketes (BuT) – zusammengelegt werden.

Laut den „Eckpunkte[n] zur Ausgestaltung der Kindergrundsicherung“, die Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) ihren Koalitionskolleg:innen im Januar vorlegte, soll diese aus zwei Komponenten bestehen: einem für alle Kinder gleichen Garantiebetrag, der dem heutigen Kindergeld entspricht, und einem Zusatzbetrag, der sich nach dem Alter des Kindes und dem Haushaltseinkommen richtet.[2] Vor allem über die Höhe des Zusatzbetrages wird es in der Ampel vermutlich noch harte Auseinandersetzungen geben, weil die FDP das Projekt offenbar verhindern, verschieben oder nur in einer Schrumpfversion passieren lassen will – die schwarze Null und den Verzicht auf Steuererhöhungen als vordringliches Ziel vor Augen. Doch unabhängig von einem möglichen späteren Kompromiss der Koalition stellt sich die Frage, ob das – bislang noch recht vage – Konzept des Bundesfamilienministeriums überhaupt seinem Anspruch genügen kann, „einfach, unbürokratisch und bürgernah“ zu sein.[3] Wäre es also tatsächlich geeignet, die hierzulande weit verbreitete und oft verdeckte Armut von Minderjährigen zu beseitigen oder die soziale Ungleichheit innerhalb der nachwachsenden Generation wenigstens zu verringern?

Kindergrundsicherung für alle?

Das ist alles andere als klar: Laut Eckpunktepapier soll der für alle Familien gleiche Garantiebetrag beim 2025 geplanten Start der Kindergrundsicherung „mindestens“ der Höhe des dann geltenden Kindergeldes entsprechen. Verteilungsgerecht und in sich schlüssig ist eine Kindergrundsicherung damit aber noch nicht. Das wäre erst der Fall, wenn sie neben dem Kindergeld und ergänzenden Familienleistungen auch den bisherigen steuerlichen Kinderfreibetrag integrieren würde, an dem die FDP, vermutlich auch die Unionsparteien, mit ihrer starken Stellung und praktischen Vetofunktion im Bundesrat festhalten. Es ist nicht bloß ungerecht, sondern auch unlogisch, den steuerlichen Kinderfreibetrag, der die Steuerfreistellung eines Einkommens in Höhe des kindlichen Existenzminimums bewirkt, beizubehalten bzw. seine Abschaffung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben: Denn dieser entlastet Spitzenverdienende im Jahr 2023 um gut 354 Euro pro Monat, während Normalverdienenden, die das Kindergeld (heute 250 Euro) bzw. künftig den vermutlich gleich hohen KGS-Garantiebetrag erhalten, monatlich 104 Euro weniger zur Verfügung stehen. In den Eckpunkten der Bundesfamilienministerin heißt es vage, „perspektivisch“ solle der geplante Garantiebetrag der maximalen Entlastungswirkung des steuerlichen Kinderfreibetrages entsprechen. Vorerst aber verhindert die FDP innerhalb der Ampelkoalition, dass dem Staat jedes Kind gleich viel wert ist. Warum sollen Investmentbanker, Topmanager und Chefärzte im Gegensatz zu Erzieherinnen, Pflegekräften oder Verkäuferinnen statt der Kindergrundsicherung für alle Minderjährigen weiterhin einen gesonderten Steuerfreibetrag für ihren Nachwuchs in Anspruch nehmen können? Dieses grundsätzliche Gerechtigkeitsproblem bleibt nach den Plänen des Familienministeriums vorerst weiter bestehen.

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Zwar ist die von Paus vorgestellte Absicht, die Grundsicherungsleistungen von einer „Holschuld“ der Familien zu einer „Servicepflicht“ des Sozialstaates zu machen, grundsätzlich zu begrüßen. Denn obwohl viele Kinder schon jetzt Anspruch auf Unterstützung hätten, nehmen zu viele Familien diese – oft aus Unkenntnis und wegen hoher bürokratischer Hürden – bislang nicht in Anspruch. Das soll sich nach den Plänen des Familienministeriums fortan ändern: Nunmehr sollen ein digitales Kindergrundsicherungsportal und ein automatisierter Kindergrundsicherungscheck die Beantragung der Kindergrundsicherung erleichtern. Doch es ist nicht auszuschließen, dass diese Digitalisierung des Antragsverfahrens gerade jene Familien benachteiligt, die am meisten auf KGS-Leistungen angewiesen sind: weil gerade ihnen oft die nötigen Kenntnisse, die passenden Geräte oder ein WLAN-Anschluss fehlen. Wer als „bildungsfern“ gilt, könnte damit noch mehr als bisher im Hinblick auf das Antragsverfahren benachteiligt werden.

Hinzu kommt, dass die geplante Schaffung einer Kindergrundsicherungsstelle nicht, wie beabsichtigt, zu weniger, sondern zu mehr Bürokratie führen würde – und womöglich gar zu einem Behördenchaos, weil auch das Jobcenter für die Eltern im Grundsicherungsbezug zuständig bleibt. Der maximale Zusatzbetrag soll zusammen mit dem Garantiebetrag „das pauschale altersgestaffelte Existenzminimum des Kindes“ abdecken, also den altersgestaffelten SGB-II-Regelbedarfen in Verbindung mit den anteiligen Wohnkosten sowie einzelnen Bildungs- und Teilhabeleistungen entsprechen. Positiv zu bewerten ist, dass der KGS-Zusatzbetrag nicht pauschal ausgezahlt werden soll, was besonders für Kinder aus sozial benachteiligten Familien problematisch wäre. Denn dadurch würden alle Minderjährigen über einen Kamm geschoren, ganz unabhängig davon, wo und in welcher Haushaltskonstellation sie leben, wie alt sie sind und ob sie sozial benachteiligt oder gesundheitlich eingeschränkt sind – Sonderbedarfe sollen also auch fortan geltend gemacht werden können.

Quelle         :      Blätter-online      >>>>>           weiterlesen

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Oben        —     Want to wake them up? Make a sound by throwing coins in their plastic cup. It serves as their alarm clock, signalling that there’s a help coming from heaven…

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Bolivien und Peru

Erstellt von DL-Redaktion am 8. April 2023

La Paz: Gondelbahnen als attraktives lokales Verkehrsmittel

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Josef Estermann /   

Vor neun Jahren fuhr die erste Gondelbahn. Inzwischen gibt es in der bolivianischen Stadt zehn Linien. Ein Augenschein vor Ort.

Red. Josef Estermann hatte während 17 Jahren in Peru und Bolivien gelebt und gearbeitet. Kürzlich besuchte er alte Bekannte.

La Paz ist eine verrückte Stadt. Sie liegt in einem Kessel auf einer Höhe von 3200 bis 4000 Metern über dem Meeresspiegel. Am oberen Rand – von den Einheimischen Ceja oder «Augenbraue» genannt – beginnt die Andenhochebene (Altiplano) und damit die Satellitenstadt El Alto (wörtlich: «der Hohe»). Entgegen der Meinung vieler Ausländerinnen und Ausländer ist La Paz nicht die Hauptstadt Boliviens – diese ist Sucre –, sondern Sitz der bolivianischen Regierung.

Eine verkehrstechnische Herausforderung

La Paz und El Alto haben zusammen inzwischen rund zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, wobei sich das Verhältnis umgekehrt hat. 1950 war El Alto mit rund 2000 Bewohnerinnen und Bewohnern ein kleines Dorf auf der windigen und kalten Hochebene; heute hat die ehemalige Satellitenstadt mehr Einwohnerinnen und Einwohner als der Regierungssitz. Das Verkehrsaufkommen ist dementsprechend sprunghaft angestiegen, vor allem auf den Hauptverkehrsadern, welche die beiden Metropolen miteinander verbinden und den grossen Höhenunterschied überwinden.

Schon in den 1980er Jahren hatte die Stadtregierung von La Paz Pläne, die beiden Städte mit Luftseilbahnen miteinander zu verbinden. Die Umsetzung aber scheiterte an politischen Machtspielen, bis der ehemalige Staatspräsident Evo Morales zu Beginn seiner zweiten Amtszeit (ab 2011) die Initiative an sich riss und das Projekt in Rekordzeit umsetzte. Für die Überwindung der insgesamt fast tausend Höhenmeter war bis anhin ein riesiges Heer von Minibussen besorgt, die regelmässig die zum Teil schmalen und kurvenreichen Strassen verstopften und nicht selten wegen technischer Defekte steckenblieben.

Am 30. Mai 2014 konnte Evo Morales nach kurzer Projektierungsphase und ebenso kurzer Bauzeit die erste Gondelbahn, die «rote Linie», in Betrieb nehmen, welche den alten stillgelegten Bahnhof im Zentrum von La Paz mit El Alto verbindet. Die Linie ist 2349 Meter lang, die Fahrt dauert etwa elf Minuten. Sie führt von Taypi Uta («zentrales Haus») über die Mittelstation Ajayuni («wo die Seelen hausen») beim riesigen Friedhof der Stadt nach Jach’a Qhatu («grosser Markt») in El Alto. Auch die Haltestellen der anderen neun Linien tragen Aymara-Namen und sollen den neuen Wind versinnbildlichen, der mit der Regierung von Morales Einzug in Bolivien gehalten hat.

Täglich 400’000 Passagiere

Nach der roten Linie kamen die beiden anderen Landesfarben Boliviens, gelb und grün, für weitere Gondelbahnen zum Zug, die ebenfalls El Alto mit La Paz, allerdings dieses Mal mit den reicheren und tiefer gelegenen Vierteln in der südlichen Zone (Zona Sur) verbinden sollten. Heute gibt es insgesamt zehn verschiedene Gondelbahnen mit insgesamt 38 Haltestellen und einer Gesamtlänge von 32 Kilometern. Die farblich gekennzeichneten Linien sind wie ein Spinnennetz miteinander verbunden. Touristinnen und Touristen machen sich ein Spiel daraus, alle Strecken an einem Tag oder gar einem Vormittag zurückzulegen. Für die Einheimischen dagegen sind die Gondelbahnen ein schnelles, bequemes, sicheres und vor allem ruhiges Verkehrsmittel.

Pro Tag benutzen rund 400’000 Passagiere eine oder mehrere der insgesamt 1398 Gondeln. Bis heute haben diese über 400 Millionen Menschen transportiert. Die Konzession für den Bau und Betrieb der Gondelbahnen hat der bolivianische Staat an das österreichisch-schweizerische Konsortium Doppelmayr-CWA (Carrosserie-Werkstätte Aarburg) vergeben, aber die öffentliche Hand ist Eigentümerin und Nutzniesserin der Gondelbahnen. Der Einheitstarif für eine Linie beträgt drei Bolivianos (rund 40 Rappen), beim Umsteigen auf eine andere Linie zahlt man noch zwei Bolivianos; und der «Vorzugstarif» für RentnerInnen (ab 60), Schwangere, Studierende und Menschen mit einer Beeinträchtigung beträgt nur die Hälfte.

Das Gesamtprojekt, das noch nicht abgeschlossen ist, nennt sich Red de Integración Metropolitana (Netz zur Integration der Metropole) und ist als wichtiger Beitrag zur Bewältigung des zunehmenden Verkehrsaufkommens der beiden Städte konzipiert. Die Feinverteilung der Reisenden sollen Schnellbusse sicherstellen – in La Paz die Puma Katari, in El Alto die Wayna-Busse –, was allerdings nur zum Teil umgesetzt ist. Geplant sind eine Weiterführung der braunen (café) und der Bau einer neuen «goldenen» (dorado) Linie, welche die Stadtteile der südlich gelegenen wohlhabenderen Viertel verbinden soll. Böse Zungen behaupten, dass Letztere deshalb noch nicht gebaut sei, weil Evo Morales und sein Movimiento al Socialismo (MAS) sich für den stillen Staatsstreich rächen wollen, der ihn 2019 aus dem Amt gejagt hatte.

Grösstes urbanes Seilbahnnetz der Welt

Während die meisten Seilbahnen in der Schweiz dazu dienen, Personen auf Aussichtspunkte oder Güter in schwierig zugängliche Alpgebiete zu transportieren, sind die Seilbahnen von La Paz und El Alto in erster Linie städtische Verkehrsmittel. Die touristische Nutzung ist bloss ein Nebeneffekt und fällt, aufs Ganze gesehen, kaum ins Gewicht. Dabei spielt zwar die Überwindung der Höhendifferenz von fast tausend Metern eine entscheidende Rolle, aber einige Linien dienen auch der Verbindung einzelner Stadtteile untereinander. So gibt es drei Seilbahnlinien, die unterschiedliche Stadtteile von El Alto miteinander verbinden, sowie deren vier, die dasselbe in La Paz zum Ziel haben. Nur drei Gondelbahnen – rot, gelb und violett – verbinden die beiden Städte und damit den tiefergelegenen Süden mit dem höhergelegenen Norden miteinander.

Das soziale Gefälle wird sichtbar

Durch die Seilbahnen wurde vielen Bewohnerinnen und Bewohnern der beiden Städte zum ersten Mal bewusst, wie eklatant die sozialen und lebensweltlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Stadtteilen sind. Wenn man zum Beispiel die gelbe und grüne Linie benutzt, wie dies viele Hausangestellte aus El Alto jeden Tag tun, dann schwebt man in etwas mehr als einer halben Stunde nicht nur von 4000 auf rund 3200 Meter Höhe hinunter, sondern über die gesamte Skala sozialer Klassen und ethnischer Zugehörigkeit hinweg.

Man oder frau startet in Qhana Pata, dem Ausgangspunkt in El Alto (der nicht ohne Grund «Aussichtspunkt» heisst), der zugleich das Zentrum der Geschäftstätigkeit der Aymara ist. Am Abhang hinunter nach La Paz und bis zur ersten Station Quta Uma kleben armselige und nur über steile Treppen oder Sandwege erreichbare prekäre Behausungen am rutschigen Berg. Schliesslich werden die Häuser immer solider und vor allem höher, aus Backstein und oft sogar schön verputzt, bis die Gondel in Supu Kachi das Ausgangsviertel von La Paz erreicht. Mit jeder Station wird es wärmer. In Chuqui Apu steigt man in die grüne Linie um, die an der Katholischen Universität und dem Olympiaschwimmbad vorbei und über mondäne Villen mit Pool nach Irpavi führt. Eine riesige Mall im US-Stil empfängt die Passagiere, aber auch die Aymara-Frauen, die zu ihren Señoras hasten, um Kinder zu hüten oder den Haushalt zu schmeissen.

Gondelbahnen als Mittel zur sozialen Integration

Tatsächlich erhalten die Armen Einblick in die Innenhöfe der Reichen, und tatsächlich sehen die Reichen (wenn sie denn überhaupt die Gondelbahn in Anspruch nehmen) die baufälligen Behausungen am Abhang, was ohne die Seilbahnen niemals so augenscheinlich möglich wäre. Aber führt dies auch zu einer sozialen Integration von an sich klar getrennten sozialen Sphären? Die von einer indigenen Regierung geplanten und schliesslich realisierten Gondelbahnen erfüllen vor allem die bis heute marginalisierten Gruppen der Aymara und Quechua mit einem neuen Stolz. Sie nennen diese denn auch «Mi Teleférico»: «meine Seilbahn».

Zwar haben sich die Staus im Zentrum von La Paz oder an den neuralgischen Punkten in El Alto nicht wirklich aufgelöst, aber ohne die Seilbahnen wäre das Verkehrschaos unvorstellbar. Es wären mindestens 20’000 zusätzliche Minibusse unterwegs, um die Gondelpassagiere zu transportieren. La Paz und El Alto sind näher zueinander gerückt, aber auch die einzelnen Stadtteile. Die unsichtbare «Apartheid», wie sie zuvor das soziale Leben in den beiden Metropolen bestimmt hat, ist jetzt für alle sichtbar geworden. Die Zona Sur, einstmals jener Stadtteil von La Paz, wo sich die Wohlhabenden unter ihresgleichen wähnen konnten, wird durch die Gondelbahnen immer mehr auch Ziel eines Ausflugs von Cholas (so werden die Aymara-Frauen mit ihren Reifröcken genannt) aus El Alto. Und nicht wenige Q’aras (Bezeichnung für weisshäutige Menschen) aus La Paz ergötzen sich an den Cholets in El Alto, jener Neo-Aymara-Architektur, die alpine Chalets im andinen Kontext zu Hunderten hochzieht.

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Wann fällt Macron ?

Erstellt von DL-Redaktion am 19. März 2023

Frankreich: Rentenreform um jeden Preis?

Von Steffen Vogel

Es ist eine Kraftprobe mit ungewissem Ausgang: Mit seiner geplanten Rentenreform hat Emmanuel Macron große Teile des Landes gegen sich aufgebracht. Die Gewerkschaften rufen vereint wie lange nicht zu Streiks auf, Millionen Menschen strömen zu den Großdemonstrationen. Bereits zu Beginn waren die Proteste massiver, als es selbst die klassenkämpferische Gewerkschaft CGT erwartet hatte. In Umfragen lehnen drei Viertel der Französinnen und Franzosen das Vorhaben ab. Derzeit ist es sogar alles andere als ausgemacht, dass Macrons Reform bis zum geplanten Abschluss der parlamentarischen Beratungen am 27. März eine Mehrheit in der Nationalversammlung finden wird.

Das stellt den französischen Präsidenten vor ein gewaltiges, aber zu einem guten Teil selbstverschuldetes Dilemma: Macron hat seine politische Glaubwürdigkeit an das Gelingen dieser seiner wichtigsten innenpolitischen Reform geknüpft. Daher steht und fällt mit ihr auch seine Bilanz als Staatschef. Kapituliert Macron vor dem Volkszorn, wird er unweigerlich als gescheiterter Modernisierer gelten. Schaltet er hingegen auf stur und setzt die Reform gegen den Mehrheitswillen und am Ende nötigenfalls sogar per Dekret durch, riskiert er eine weitere Spaltung des Landes, zulasten der französischen Demokratie.

Die massive Ablehnung, die der Rentenreform allenthalben entgegenschlägt, selbst aus Teilen der Regierungsfraktion, erklärt sich nur zum Teil aus den konkreten Plänen von Macron und Premierministerin Élisabeth Borne. Diese sind weniger weitreichend als noch im ersten, durch die Pandemie gestoppten Anlauf von 2019.[1] So soll der Rentenbeginn nun von 62 auf 64 Jahre angehoben werden, statt wie ursprünglich geplant auf 65 Jahre. Da das Vorhaben aber Gruppen stärker belastet, die in der Arbeitswelt ohnehin benachteiligt sind, fügt es sich in den Augen vieler in das größere Panorama einer zunehmend von Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägten Gesellschaft – und in das Bild einer abgehobenen Elite, die blind ist für die soziale Lage einer Mehrheit der Französinnen und Franzosen. Damit sind alle Zutaten vorhanden, die es für eine harte Auseinandersetzung braucht – vor allem in einer politischen Kultur, in der Konflikt wichtiger ist als Konsens.

Von außen betrachtet mag die Empörung irritieren. Denn das französische Rentensystem ist überdurchschnittlich teuer und extrem komplex: Die jährlichen Kosten entsprechen knapp 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, in Deutschland sind es zehn, im OECD-Schnitt acht Prozent.[2] Zudem existieren gleich 42 Rentensysteme, die oft nur bestimmten Berufsgruppen offenstehen und teils hoch defizitär sind. Allein schon die von der Regierung geplante Abschaffung zumindest eines Teils der vielen Spezialkassen würde eine Reform rechtfertigen. Dass Millionen Menschen vermeintlich dafür demonstrieren, weiterhin mit 62 Jahren in den Ruhestand eintreten zu dürfen, erscheint gerade in Deutschland, wo schon die Rente mit 70 debattiert wird, wie aus der Zeit gefallen.

Tatsächlich aber gehen bereits jetzt viele Französinnen und Franzosen deutlich später in Rente, zumindest sofern ihr Körper es mitmacht. Denn um eine abschlagsfreie Rente erhalten zu können, müssen sie 42 Beitragsjahre vorweisen, künftig sollen es 43 Jahre sein. Genau diese zeitgleiche Erhöhung des Renteneintritts und der Beitragsjahre führt aber zu Ungerechtigkeiten, insbesondere mit Blick auf drei Gruppen. Das gilt erstens für Menschen, die nicht studiert haben: Wer mit 20 Jahren erwerbstätig wird, kann bisher mit 62 Jahren in den Ruhestand gehen. Nach der neuen Regelung hätte er hingegen erst mit 63 lange genug Beiträge eingezahlt und würde ein weiteres Jahr später das Renteneintrittsalter erreichen – müsste also zwei Jahre länger arbeiten. Für Akademiker hingegen ist die Altersgrenze schon jetzt ohne Belang, da sie aufgrund ihres Studiums ohnehin länger arbeiten müssen, um abschlagsfrei zu sein. Wer künftig beispielsweise mit 23 Jahren die Uni abschließt, hat nach dem neuen System die fälligen Beitragsjahre an seinem 66. Geburtstag beisammen, also nur ein Jahr später als zuvor. Und für alle, die noch länger studieren, greift wie bisher die Höchstgrenze von 67 Jahren, ab der jeder spätestens ohne Abzüge in Rente gehen darf. Akademiker leiden damit weniger unter der Reform als ihre geringer qualifizierten Altersgenossen – die überdies schon jetzt weniger von ihrer Rente haben. Denn nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen stirbt statistisch gesehen beispielsweise eine Arbeiterin drei Jahre früher als eine Managerin, und ein Arbeiter lebt sogar über sechs Jahre kürzer als ein Manager.[3] Diese im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle Ungleichheit würde durch die Reform noch verstärkt.

Ähnlich ergeht es, zweitens, den Müttern, für die sich die Anrechnung von Kindererziehungszeiten ungünstig auswirkt. Dadurch werden sie im Durchschnitt etwas länger zusätzlich arbeiten müssen als Männer. Auch in diesem Fall verschärfen die Regierungspläne bestehende Ungerechtigkeiten: Da Frauen im Schnitt deutlich weniger verdienen als Männer, fallen ihre Renten entsprechend um 40 Prozent niedriger aus – in deren Genuss sie nun obendrein später kommen würden.[4] Selbst der Minister für Parlamentsbeziehungen, Franck Riester, musste einräumen, Frauen würden durch die Reform „ein wenig bestraft“.[5]

So aber fühlen sich, drittens, insgesamt viele ältere Arbeitnehmer. Derzeit ist in Frankreich nur ein knappes Drittel der über 60jährigen noch im Beruf, in der EU liegt der Durchschnitt immerhin bei 45 Prozent.[6] Selbst wer körperlich fit genug und arbeitswillig ist, findet ab einem gewissen Alter in Frankreich schwerer einen Job als anderswo. Ein höheres Renteneintrittsalter bedeutet für viele daher nicht, dass sie länger im Beruf bleiben müssen, sondern dass sie länger arbeitslos sein werden. Auch das trifft geringer Qualifizierte häufiger als Akademiker. Es sind diese sozialen Unwuchten, die derzeit landesweit Menschen auf die Straße treiben.

Ungerecht, aber notwendig?

Die Befürworter von Macrons Plänen bemühen dagegen den Sachzwang. So erklärte der ehemalige Fraktionschef der Regierungspartei, Gilles Le Gendre ganz offen: „Ich sage nicht, dass diese Reform gerecht ist, sondern dass sie notwendig ist.“ Die Regierung argumentiert, angesichts der alternden Bevölkerung drohe den Rentenkassen ein Milliardendefizit, das früher oder später das Rentensystem gefährden werde. Ihre Reform sei daher unabdingbar, um den Solidarvertrag zu retten.[7]

Wie hoch dieses Defizit tatsächlich ausfallen wird, ist allerdings stark umstritten, auch weil es von schwer kalkulierbaren Faktoren wie der erwarteten Arbeitslosenquote abhängt. Macrons Kritiker werfen ihm vor, bewusst ein düsteres Bild zu zeichnen, tatsächlich gehe es ihm bei seiner Reform vor allem um die erwarteten Mehreinnahmen von 20 Mrd. Euro jährlich, die er unter anderem zur von der EU angemahnten Haushaltskonsolidierung einplanen könnte.[8]

Den Sozialstaat verteidigen

Quelle          :        Blätter-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben        —     Manifestation contre la réforme des retraites au Mans, le 15 mars 2023

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Kolumne * FERNSICHT Polen

Erstellt von DL-Redaktion am 18. März 2023

Beten und den Friseur fragen: – Auf Wohnungssuche

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Von  :  Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz

Sechs Monate, 147 Anfragen für Wohnungsbesichtigungen, vier Besichtigungstermine. Mietverträge: Null. Das ist unsere Erfolgsbilanz bei der Suche nach einer größeren Wohnung in Berlin. Im Moment haben wir 45 Quadratmeter und 2 Zimmer.

Freunde sagen, man brauche mehr Geduld. Man soll ein paar Jahre lang suchen, Tausende von Nachrichten schreiben und im unerwartetsten Moment wird es eine Wohnung geben, sagen sie. Man nimmt sie, denn sie ist zwar zu teuer, zu weit weg, in einem zu hässlichen Haus, aber drei beengte Zimmer statt zwei sind eine räumliche Revolution.

Anstelle von „beten und arbeiten“ müssen wir in Berlin also beten und E-Mails schreiben, Freunde fragen, die Verwaltung anrufen. Man sagt, Menschen täten auch andere Dinge. Zum Beispiel sechs Monatsmieten im Voraus zahlen. Oder bestechen.

Als wir Kinder waren, gab es im kommunistischen Polen einen Kultfilm. Er hieß „Miś“ (Bärchen). Darin gibt es eine Szene über einen Schwarzmarkt, auf dem Fleisch verkauft wird, das man nicht in einem normalen Geschäft bekommen konnte. Die Verkäuferin wirft einen hartnäckigen Kunden hinaus, indem sie ihn anschreit: „Was denken Sie denn, hier ist ein Zeitungskiosk, ich habe Fleisch hier!“.

In Rom Vor der Generalaudienz 2. Mai 2007

Vielleicht hilft hier der Himmelkomiker?

Unsere Generation wollte diesem System entfliehen. Nun haben wir das Gefühl, in Berlin hat es uns wieder. Es ist unmöglich, auf dem freien Markt eine Wohnung zu finden, es sei denn, man kann 3.000 Euro im Monat zahlen. Helfen soll angeblich ein Gespräch mit dem örtlichen Friseur. Auch an der Tür eines Gemüseladens in meiner Straße wurde kürzlich eine Wohnung inseriert. Freunde raten weiter: Eine Person mit einem deutsch klingenden Namen wird eher eine positive Antwort kriegen. Kein Kowalski oder Abdul – solche Namen haben keine Chance. Am besten ist es, Arzt oder Anwältin zu sein. Ist ein Philosoph etwa nicht in der Lage, die Miete pünktlich zu bezahlen?

In unserer Heimatstadt Warschau begann dieser Wahnsinn vor über einem Jahrzehnt. Die Preise stiegen von Tag zu Tag, und die schlechteste Wohnung mit Blick auf die Mülldeponie fand innerhalb von 15 Minuten einen Käufer. Heute kann man in Warschau keine Zweizimmerwohnung für weniger als 1.000 Euro mieten. Der Wohnungsmarkt wird eines der wichtigsten Themen des bevorstehenden Wahlkampfes sein.

In Warschau begann der Mieten-Wahnsinn schon vor einem Jahrzehnt

Quelles           :          TAZ-online           >>>>>         online

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Hass von oben

Erstellt von DL-Redaktion am 17. März 2023

Gewalt gegen Schwarze aus Subsahara-Afrika

Wer Hass sät wird seine eigene Hinterlassenschaften ernten ! 

Ein Debattenbeutrag von Sadem Jebali

Der tunesische Präsident Kais Saied befeuert mit seiner Rhetorik Proteste und Hetze gegen Migration aus Subsahara-Afrika. Es kam auch zu Angriffen.

Eine Woche, nachdem ich in Tunis demonstriert hatte und nur Stunden nach meiner Ankunft in Berlin traf ich mich mit einer Gruppe Tunesier und Vertreter afrikanischer Einwandererorganisationen, die vor der tunesischen Botschaft in Charlottenburg protestierten. Die Polizeibeamten vor der Tür schienen sich zu wundern über die Slogans, die gerufen wurden: „Solidarität mit Migranten und papierlosen Migranten!“, „Die Diktatur von Kais Saied muss enden!“. Die tunesischen Diplomaten beobachteten das Spektakel von den Fenstern der Botschaft aus.

Die Wut der Demonstranten wurde von den Ereignissen des 21. Februar angestachelt. An diesem Tag verkündete der tunesische Präsident Kais Saied, dass der tunesische Sicherheitsrat über dringende Sicherheitsmaßnahmen gegen die große Zahl irregulärer Einwanderer aus Subsahara-Afrika berate. Nach Angaben der Organisation FTDES (Forum Tunisien des Droits économiques et sociaux) leben mehr als 20.000 Menschen aus Ländern südlich der Sahara in Tunesien, was weniger als 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Während des libyschen Bürgerkriegs 2011 fand eine Million Flüchtlinge in Tunesien Zuflucht und blieb länger im Land – es war also keineswegs die erste Situation dieser Art.

In seiner Rede betonte der Präsident, es handele sich um eine Ausnahmesituation; schon länger sei ein Plan im Gange, Tunesiens demografische Zusammensetzung zu ändern. Nach der Revolution von 2011 sei viel Geld geflossen für die Ansiedlung illegal Eingereister aus Subsahara-Afrika – eine Anspielung auf den Druck aus Italien und der EU, die Migrationsströme einzudämmen. Saied betonte die Notwendigkeit, die Migrationswelle schnell zu beenden, da die Abertausenden Migranten aus dem südlichen Afrika Gewalt, Kriminalität und inakzeptable Praktiken ins Land brächten.

Nur Stunden nach der Rede trendeten migrantenfeindliche Sprüche in den sozialen Medien – frisch legitimiert vom politischen Diskurs. Einen Tag später nahmen Sicherheitskräfte willkürlich Schwarze Menschen auf den Straßen und in öffentlichen Verkehrsmitteln fest. Videos machten die Runde, in denen Bürger Migranten angriffen und Familien aus ihren Wohnungen geräumt wurden. In den Regionen Tunis und Sfax wurden tätliche Angriffe gemeldet. In weniger als 48 Stunden waren die Schwarzen Communities gelähmt vor Angst. Man konnte stundenlang durch Tunis laufen, ohne auch nur eine Schwarze Person zu sehen. Auch Schwarze Tunesier wurden zum Ziel von Angriffen und in den sozialen Medien begannen Verleumdungskampagnen gegen tunesische Black-Rights-Aktivistinnen wie die Feministin Saadia Mesbah. In Guinea, Mali und der Elfenbeinküste wurden eilig Rückholflüge angesetzt für Menschen, die in den Botschaften in Tunis warteten.

Im Land begann eine lebhafte Debatte über Migration, in der sich die einfache Lesart durchsetzte, das Problem seien die durchreisenden Illegalen aus dem Süden, die in Tunesien lediglich ein Transitland sähen. Dass die vielen Flüchtenden etwas mit gescheiterten Wirtschaftsreformen, Inflation, Mangel an Grundnahrungsmitteln und Staatspleiten zu tun hatten, verschwand schnell aus dem öffentlichen Bewusstsein. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Thema Migration und ob der Präsident denn nun recht oder unrecht habe mit seiner Haltung. Mich erinnerte das an rechtsextreme Bewegungen anderswo, etwa an die AfD in Deutschland. Was in Tunesien geschah, ist wie ein Lehrbeispiel für Massenmanipulation – dafür, wie man als nicht besonders weise politische Führungsfigur die öffentliche Meinung von sich weglenken kann.

Am 6. März gab das Saied-Kabinett eine erneute Stellungnahme ab, die folgendermaßen begann: „Tunesien ist überrascht über die Kampagne gegen angeblichen Rassismus in Tunesien. Tunesien weist die Anschuldigungen gegen den tunesischen Staat zurück. Wir sind ein Gründungsmitglied der Organization of African Unity (OAU), der späteren Afrikanischen Union, und haben stets nationale Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt unterstützt, vor allem in Afrika.“

Quelle      :         TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben     —     President of Tunisia, H.E. Kais Saied and I met while I was in Tunisia and had productive discussions regarding the partnership between @USAID and the Government of Tunisia. We are committed to helping implement their ambitious democratic and economic reform agenda.

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Lob der Umerziehung

Erstellt von DL-Redaktion am 15. März 2023

Angebliche Bevormundung durch Linke

Ein Schlagloch von Robert Misik

Linke Selbstveränderung und Kritik an überholten Lebensformen und Werten ist nicht überheblich. Im Gegenteil: Sie ist ein nobles Anliegen.

Linken wird heute gern vorgeworfen, sie wollten die Menschen „umerziehen“. Der Vorwurf kommt von hartleibigen Konservativen, im Chor mit Rechtsextremen. Es ist ein Vorwurf, der auf subtile Weise ins Mark trifft, weil die Linken darauf ja nicht „Genau, das wollen wir“ antworten können. Schließlich hat der Begriff der „Umerziehung“ einen autoritären Beiklang, es schwingt die totalitäre Konzeption einer „Menschenzüchtung“ mit, oder zumindest deren freundlichere Schwester, der Paternalismus: Wir sind gut, aufgeklärt und liberal, und ihr seid es nicht, weshalb wir euch ein bisschen verbessern müssen, natürlich zu eurem eigenen Vorteil. Der Vorwurf sitzt, weil viele Linke insgeheim das Gefühl haben, dass die Rechten vielleicht irgendwie recht haben könnten.

Tatsächlich ist das nicht völlig falsch, zumindest auf den ersten Blick. Denn die Linken haben sowohl eine große Tradition als auch das Selbstbild, auf der Seite der einfachen Leute zu stehen, die es schwer im Leben haben, nicht mit goldenen Löffeln im Mund geboren oder in verzärtelten Mittelschichtsfamilien aufgewachsen sind, die den Restbeständen einer traditionellen, plebejischen Kultur entstammen, und die, sagen wir es mit einem Modewort, nicht immer vollständig woke sind. Und jetzt kommen die Linken daher und sagen ihnen: Es ist nicht okay, wie ihr seid.

Zumindest haben manche Leute das Gefühl, dass die Linken das von ihnen denken. Stimmt ja auch: Wer den Rassismus, die Engstirnigkeit, die Dominanz traditioneller Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Teilen plebejischer Milieus kennt, der weiß, dass es auch die Quelle von viel Leid ist, des Leids jener, die Diskriminierung, Mobbing oder Tätlichkeiten ausgesetzt sind. All das führt dazu, dass die Linken einerseits auf der Seite der einfachen Leute stehen, andererseits ihnen aber zu verstehen geben, dass sie ihr Verhalten missbilligen. Und dann kommen die Rechten und sagen diesen Gruppen: „Es ist okay, wie ihr seid.“ Es ist nicht verwunderlich, dass einige diese Botschaft lieber hören als Kritik an Lebensstilen und Werthaltungen.

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Bundeswehr in Schulen Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Aber das ist erst der Beginn der Kompliziertheiten. Oft kommt als Ergänzung der Vorwurf, dass die Linken früher noch in der konkreten Lebensrealität des einfachen Volkes verwurzelt waren, ihnen heute aber „von oben“ mit dem Zeigefinger kommen. Nun wollten Sozialisten, Sozialdemokraten und alle anderen Linken schon früher die arbeitenden Klassen einerseits ermächtigen, aber andererseits immer auch verändern. Weltverbesserung und Selbstverbesserung waren stets untrennbar miteinander verbunden. Der Ursprung der Arbeiterbewegung lag oft in Arbeiterbildungsvereinen. Die Idee dahinter war, dass man den ungebildeten, analphabetischen Arbeitern Wissen vermittelt, denn, so hieß die Parole, „Wissen ist Macht“. Mit dem Wissen, Lesen und Schreiben wurden auch Werte vermittelt, die an die Vernunftvorstellungen der Aufklärung angelehnt waren. Die Anführer der Sozialisten legten beispielsweise den männlichen Arbeitern nahe, ihren Wochenlohn nicht prompt am Samstagabend zu versaufen, sie ermahnten sie, ihre Frauen anständig zu behandeln, sie propagierten neue Partnerschaftsmodelle, sie hatten sogar die Frechheit, die Männer aufzufordern, sich gelegentlich um die Kinder zu kümmern, damit die Frauen auch in Parteiversammlungen gehen könnten. Ärger noch: Man erklärte ihnen die Vorteile von Sanitärinstallationen, die Sozialisten druckten in ihren Zeitungen Anleitungen, wie man sich die Zähne putzt, und dass man die Wohnungen nicht nur fegen solle, sondern auch feucht mit dem Mopp wischen. Mit einem Wort: Man hat die Menschen verändern wollen, und niemand wäre damals auf die Idee gekommen, dass daran etwas schlecht sein könnte.

Sozialisten legten den Arbeitern nahe, ihren Wochenlohn nicht zu versaufen und ihre Frauen anständig zu behandeln

Es ist auch gar nichts Schlechtes daran, sich umzumontieren, was ja nichts anderes heißt, als sich zu verändern. Ich bin ein anderer als vor dreißig Jahren – Gott sei Dank. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, war ich zwar auch als zarter Teenager schon ziemlich woke, aber dass bestimmte Verhaltensweisen, auf die ich keine großen Gedanken verschwendete, andere verletzen könnten, habe ich wahrscheinlich erst nach und nach dazugelernt. Mein Freund, der Falter-Chefredakteur Florian Klenk, hat unlängst in einem schönen Text beschrieben, wie ihn Freundinnen und Kolleginnen allmählich zum Feministen umwandelten, und dass das nicht ohne innere Konflikte für ihn abging, weil er sich gelegentlich auch angegriffen gefühlt habe. Selbstredend wird man nicht immerzu völlig nach seinen Werten leben, wir Menschen sind nicht fehlerfrei, ich nenne das selbstironisch meine „Woke-Life-Balance“.

Quelle        :       TAZ-online            >>>>>          weiterlesen    

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Politik, News, Bundesparteitag Die Linke: die neu gewählten Parteivorsitzenden Martin Schirdewan und Janine Wissler

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Unten       —        Autor Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

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Ungenutzte Bildungszeit

Erstellt von DL-Redaktion am 14. März 2023

Weiterbildung und Arbeitsrealität

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Keine Lehrer kein Volk

Ein Debattenbeitrag von :   Lara Körber

Die von Hubertus Heil vorgeschlagene Bildungszeit ist ein schöner Ansatz. Nur häufig steht die Unternehmenskultur der Weiterbildung im Weg.

Die von Arbeitsminister Hubertus Heil geplante Bildungszeit wäre – wenn das Finanzministerium nicht zuvorgekommen wäre – spätestens in den meisten Unternehmen selbst gescheitert. Konkret an den dort vorherrschenden Unternehmenskulturen. Denn Weiterbildung ist viel zu oft keine Sprosse der Karriereleiter, sondern sie verkommt zur Posse im Angesicht der firmenintern bestimmenden Strukturen. Ein Realitäts-Check zeigt, warum das so ist.

In der Arbeitswelt wird oft das Märchen vom lebenslangen Lernen erzählt, doch das fristet eher einen Dornröschenschlaf

Per Gesetz – und das ist weitgehend viel zu wenig bekannt – haben 27 Millionen Arbeitnehmende in Deutschland Anspruch auf Bildungsurlaub. Dahinter verbergen sich fünf bis zehn Tage bezahlte Freistellung für als Bildungsurlaub anerkannte Weiterbildungen – von Führungskräftetraining über Sprachkurse bis Burn-out-Prävention. Kurz: zertifizierte Auszeiten, die Arbeitnehmende ganz individuell fachlich, persönlich und gesundheitlich fördern.

Trotzdem nehmen nur rund 2 Prozent der Anspruchsberechtigten ihr Recht auf Bildungsurlaub aktuell in Anspruch – und das, obwohl es das Gesetz zum Beispiel in Hamburg bereits seit 1974 gibt. Warum ist das so? Als Mitgründerin des mittlerweile größten Aufklärungs- und Buchungsportals für gesetzlichen Bildungsurlaub in Deutschland bin ich täglich mit weiterbildungsinteressierten Ar­beit­neh­me­r:in­nen im Austausch, die sich nicht trauen, ihr Recht auf „Bildungsurlaub“ in Anspruch zu nehmen.

Ein entscheidender Grund dafür ist der oftmals große Unterschied zwischen extern groß gelobter und intern klein gelebter Unternehmenskultur. Zwar wird in der Arbeitswelt oft das Märchen vom lebenslangen Lernen erzählt, doch das fristet eher einen Dornröschenschlaf – während die Prinzessin oder der Prinz zum Wachküssen sich ganz schön vergaloppiert hat.

Angst vor den Che­f:in­nen

In der Hel­d:in­nen­ge­schich­te von Unternehmen heißt es nämlich leicht: „Wir sind offen gegenüber Weiterbildung!“ Die externe Unternehmenskultur steht damit gut da. Allerdings zeigt sich hinter geschlossenen Bürotüren oft ein ganz anderes Bild. Die Forderung nach Förderung kommt dort oft gar nicht gut an, und die auf diese Weisen geprägte interne Unternehmenskultur reguliert somit den Weiterbildungsmarkt.

Es gibt also firmenkulturelle Hindernisse, die es erschweren, für das eigene Recht auf Weiterbildung einzustehen. Fehlendes Vertrauen und mangelhafte Kommunikation sind hier zentral zu nennen. Um Weiterbildungen wahrzunehmen, braucht es die Zustimmung des Unternehmens. Wir beobachten allerdings sehr stark, dass viele Beschäftigte sich schon gar nicht erst trauen, den Dialog mit ihren Che­f:in­nen aufzunehmen, um über ihre individuellen (Weiterbildungs)Bedürfnisse zu sprechen.

Wer aber nichts anspricht, dem kann man auch nichts absprechen. Was beim Ansprechen hemmt, ist, dass zu viele Arbeitgebende in Weiterbildungen immer noch viel zu oft Fehlzeit statt Förderung sehen. Damit begünstigen sie eine Fehlinterpretation von Leistung als Präsenz statt Produktivität. Ein weiterer Grund, der Mitarbeitende zögern lässt, eine Fortbildung in Erwägung zu ziehen, ist die generelle Überlastung.

Zu viele Arbeitnehmende sind oft am Limit und möchten in dieser Ausnahmesituation ihr Team nicht allein lassen beziehungsweise diesem noch mehr Arbeit zumuten. Das ist verständlich. Leider ist der Ausnahmefall zu oft die Regel. Wer als Unternehmen wirklich will, dass Weiterbildungsangebote angenommen werden, muss ein Arbeitsumfeld schaffen, das Entfaltungsspielraum bietet.

Sozialer Druck und Neid

Nicht selten wirkt auch der Mangel an Gönnungskultur als Hindernis auf dem Weg zur Weiterbildung. Leider ist es so, dass viele Kol­le­g:in­nen einander Weiterbildungen nicht gönnen oder sich schnell benachteiligt oder abgehängt fühlen. Dieser soziale Druck erhöht die Hürde, nach Weiterbildung zu fragen – und ist eine „Red Flag“ im Hinblick auf eine gesunde Arbeitskultur in einem Unternehmen.

Statt Misstrauen brauchen wir ein Team-Miteinander, eine „Gönnungskultur“ – in der je­de:r Einzelne weiß, dass sie oder er nicht zu kurz kommen wird. Wichtigster Schlüssel dafür auch hier wieder: transparente Kommunikation von oben. Die Message der Unternehmen sollte dabei sein: „Wir wollen deine Weiterentwicklung. Und die der anderen.“

Quelle       :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben         —      Plenarsaal des Deutschen Bundestages

Author Times        /    Source    :   Iwn worh       /     Date      :      12 September 2010

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Wenn die Mutter im Weg ist

Erstellt von DL-Redaktion am 13. März 2023

Dies ist das Werk einer einflussreichen Väterlobby

Ein Debattenbeitrag von Christina Mundlos

Vor Gericht wiegt nach einer Trennung das Recht des Vaters auf das Kind schwerer als Gewaltschutz. Seit 2009 haben die Sorgerechtsentzüge nach einer Scheidung für Mütter um 50 Prozent zugenom­men.

Gewalt an Frauen und Kindern geht eher selten vom Fremden aus, der im Gebüsch hockt. Die größte Gefahr stel­len Männer aus dem engsten Umfeld dar – meist die eigenen (Ex-)Partner. Nachtrennungsgewalt heißt das, wenn der ehemalige Partner aufgrund der Trennung eine derartige (narzisstische) Kränkung erlebt, dass ihn nur noch ein Wunsch antreibt: die Ex-Frau zu vernichten. Die gemeinsamen Kinder sind solchen Männern egal, sie werden instrumentalisiert od­er verletzt, mit dem Ziel, der Mutter wehzutun. Natürlich gibt es wunderbare Väter. Ich spreche hier nur von den Vätern, die Frauen und Kinder als ihren Besitz erachten und für die die Trennung einen Verlust von Kontrolle und Macht darstellt.

Das BKA hat 2020 rund 120. 000 Fälle häuslicher Gewalt von (Ex-)Partnern gegen Frauen er­fasst. Die Zahlen steigen. Eine Studie zeigt, dass wir es in 20 Prozent der aktuellen Paarbezie­hun­gen mit schwerer Gewalt gegen Frauen zu tun haben. Und jeden dritten Tag stirbt in Deutschland eine Frau durch Männergewalt – häufig nach ein­er Trennung. Andere müssen ins Frauen­haus flüchten: jährlich suchen in Deutschland dort 34.000 Frauen und Kinder Schutz. Sind gemeinsame Kinder im Spiel, haben die Mütter kaum eine Chance, sich und die Kinder mit der Trennung zu schützen. Im Gegenteil: Oft werden sie vom Staat zum Täter-Kontakt gezwungen. Das Recht des Vaters auf das Kind wiegt im Familiengericht schwerer als Gewalt­schutz für Mutter und Kind. Selbst dann, wenn die Gewalt durch den Vater belegt ist, ebenso bei sexuellem Missbrauch.

Berichtet eine Mutter von väterlicher Gewalt, glauben Familiengerichte und Jugendämter allzu oft einem misogynen Mythos: Gewalt durch Väter sei unproblematisch für das Kind oder exis­tiere kaum. Dabei haben wir es in Wirklichkeit in bis zu 63 Prozent der Umgangs- und Sorgerechts­ver­fah­ren mit väterlicher Gewalt zu tun. Diese Fehleinschätzung führt zu der fatalen Schluss­fol­ge­rung, die Mutter sei das eigentliche Pro­blem. Sie habe sich die Gewalt ausgedacht oder sei unfähig sie zu akzeptieren. Belege der Gewalt, Polizeiberichte, sogar Geständnisse werden ignoriert. Den Müttern wird vorgehalten: „Auch ein gewalttätiger Vater ist ein guter Vater“, oder: „Sie hängen in der Ver­gangenheit, wir wollen aber in die Zukunft schauen.“

Würde es vor dem Arbeitsgericht heißen: „Auch ein gewalttätiger Mitarbeiter ist ein guter Mitar­beiter“? Oder sagt ein Strafgericht zum Opfer des tätlichen Angriffs: „Der Vorfall ist vorbei, schauen Sie doch in die Zukunft.“ Werden in deutschen Gerichtssälen nicht ausschließlich vergangene Taten verhandelt? Soll das eine Absage an jegliche Rechtsverfolgung sein? Kann die Mutter nicht freudig in die gewaltvolle Zukunft schauen, gilt sie als unkooperativ oder psychisch krank. Ihr werden Bindungsintoleranz oder Vater-Kind-Entfremdung vorge­wor­fen. Die Mutter wolle nur Kontrolle über Vater und Kind haben. Damit gilt sie als schädlich für das Kind und muss den Entzug des Sorgerechts fürchten.

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Auch wenn die Mutter bis zur Trennung die engste Bezugsperson des Kinds war und niemand ihre Eignung anzweifelte, äußern nach der Trennung plötzlich einige Väter allergrößte Zweifel an ihrer Erziehungsfähigkeit. Was den klagenden Vätern wohl eigentlich nicht gefällt, ist, dass die Mutter es wagte, sich zu trennen. Rechtlich ist eine Scheidung für Frauen erlaubt. Faktisch riskieren sie, dass man ihnen das Sorgerecht entzieht. Mit der Drohung, man könne ihr jederzeit die Kinder nehmen, werden Mütter gefügig gemacht. Das ist nicht nur eine theoretische Option. Seit 2009 haben die Sorgerechtsentzüge nach einer Scheidung für Mütter um 50 Prozent zugenom­men.

Hinter diesem Trend steckt die gezielte Unterwanderung und Beeinflussung von Jugendämtern und Familiengerichten durch Väterlobbys, die längst die deutschen Behörden mit ihren misogynen Mythen schulen. Bereits seit den 1980ern verfolgen Väterrechtler die Strategie, Mütter loszuwerden, die väterliche Gewalt verhindern wollen. Die Anleitung dazu stammt aus den pädosexuellenfreundlichen Büchern des 2003 verstorbenen US-amerikanischen Kinderpsychiaters Richard A. Gardner. Darin schrieb er, es gebe gar keinen sexuellen Missbrauch, Kinder genössen Sexualität mit Erwachsenen, das sei Teil der Sexualerziehung. Mütter, die damit ein Problem haben, seien psychisch krank. Diese krude Argumentation erinnert nicht zufällig an die Täter-Opfer-Umkehr aus den Familiengerichten. Radikale Vätervereine werben sogar öffentlich mit ihrem Faible für Richard Gardner. Einzelne Fehlgeleitete? Weit gefehlt. Erst im Januar waren sie zum Plausch beim Bundesjustizminister. Ihr Ziel, damals wie heute: Vätern auch bei Ge­walt und Missbrauch weiter umfangreichen Zugang zu ihren Opfern zu ermöglichen. Die Mütter sind dabei im Weg.

Politik und Justiz haben nun den Auftrag, aufzuräumen: Ausbildungsinstitute müssen über­prüft werden. Das Justizministerium muss seine Berater sorgfältiger auswählen. Die Umset­zung der Istanbul-Konvention ist überfällig. Gewalt muss als Kindeswohlgefährdung aner­kannt werden und Umgangs- und Sorgerecht sind für Täter auszuschließen.

Quelle         :           TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben      —         Unevolution (by Latuff).

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 12. März 2023

Die Fesseln des undemokratischen Sreikrechts

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Von Elisa Aseva

Es gibt Dinge, die in Deutschland nicht zum intuitiven Allgemeinwissen gehören. Zum Beispiel der Fakt, dass Menschen mehr Geld verdienen sollten.

Seit Kurzem verfolgt mich ein kleiner, unscheinbarer Satz. Eigentlich war es bei dem Telefonat um ein konkretes Anliegen gegangen, doch meine Bekannte und ich hatten uns zuletzt zu Beginn der Pandemie gesprochen, und so verfielen wir bald in eines dieser gegenwärtig so typischen Blitz-Aufholgespräche.

In unter zehn Minuten tauschten wir Trennungen, Todesfälle und andere Alltagsumbrüche, als seien es Panini-Karten. „Ach so, ich wusste nicht, dass du da nicht mehr bist. Und ist der neue Job denn okay?“, fragte meine Bekannte. „Ja schon. Aber eben wieder nur Mindestlohn, es bleibt also stressig.“ – „Was, echt? Soll jetzt nicht blöd klingen, aber du könntest doch mehr verdienen.“ Es soll hier nicht um meine individuellen Chancen und Hinde­rungen gehen, der Satz hallt anders nach. Morgens, während ich beim Warten am überfüllten U-Bahnhof dabei zusehe, wie ein junger, nicht-weißer Typ mit der Reinigungsmaschine Muster auf den Boden zeichnet.

Als ich in der U-Bahn dann Zeugin werde, wie eine unübersichtlich wackelnde Kleinkindbande von einer Erzieherin und einem Praktikanten auf die freien Sitze verteilt und bei Anfahrt des Zuges bereits mit Apfelschnitzen versorgt wird. Und auch, als ich nach Feierabend in den Supermarkt springe und der Kassierer die Waren roboterschnell über den Scanner zieht, als wolle er ein sagenhaftes nächstes Level freispielen.

IHR MÜSSTET ALLE MEHR VERDIENEN. Es gibt statistische Wahrheiten, die in diesem Land nicht in das intuitive Allgemeinwissen einfließen. Mit der neoliberalen Umstrukturierung des Arbeitsmarktes und der massiven Privatisierung von staatlicher Infrastruktur wurde die soziale Landschaft Deutschlands grundlegend umgegraben. Viele einst gut bezahlte Mittelstandsjobs wie etwa bei der Deutschen Post wurden so in den Niedriglohnsektor geschoben, der folgende allgemeine Lohnverfall lässt sich durchaus als kalkuliert beschreiben.

Das Bekenntnis zum aggressiven Lohndumping verschaffte Deutschland ohne Zweifel einen klaren Wettbewerbsvorteil innerhalb des europäischen Staatengefüges. Erarbeitet wird er vor allem von Frauen, Mi­gran­t*in­nen und ostdeutschen Arbeiter*innen. Sind also diese Gruppen gemeint, wenn Bundesfinanzminister Christian Lindner mal wieder von den Leistungsträgern spricht, für die er Politik machen will?

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Tatsächlich arbeitet in Deutschland je­de*r Fünfte für einen Stundenlohn, der unter 12,50 liegt. Ein Aufstieg in höhere Gehaltsklassen gelingt nicht zufällig selten, er gibt schlicht kein wirtschaftliches Interesse. Nur in Lettland, Litauen, Estland, Polen und Bulgarien ist die Lohn­ungerechtigkeit ausgeprägter.

Lohnbeschäftigte werden oft zu individueller Anstrengung zur Verbesserung ihrer Lage ermutigt, dabei läge ihre tatsächliche Macht im kollektiven Zusammenschluss. Doch auch die Arbeitnehmerrechte sind in Deutschland stärker beschnitten als beispielsweise in Ländern wie Frankreich oder Italien. Gerade anlässlich der aktuellen Entscheidung der Post-Beschäftigten zum Streik sollte an die reaktio­näre Schlagseite des deutschen Streikrechts erinnert werden. Streikformen, die anderswo als selbstverständlich gelten und wichtige demokratische Mittel von Ar­beit­neh­me­r*in­nen darstellen, sind im Land der strukturellen Ungleichheit verboten.

Quelle        :     TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —   Kita-Warnstreik der Sozial- und Erziehungsdienste am 13. Mai 2022 in Hamburg

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Veraltetetes Familienrecht

Erstellt von DL-Redaktion am 10. März 2023

„Kind und Küche für Mama, Arbeit und Geld für Papa“

Ein Debattenbeitrag von Andreas Gran

Bei Trennungen und Versorgungsmodellen ist noch viel Luft nach oben. Die überholten Strukturen aufzubrechen, wäre im Sinne der Frauen und der Kinder.

Hier geht es nicht etwa um „Machtdurchsetzung“ zwischen Müttern und Vätern auf dem Rücken von Kindern, sondern um Impulse für eine moderne Gesellschaft, denn tatsächlich existiert sie einfach nicht: die Gleichberechtigung der Frauen. Sie würde den Grundrechten entsprechen, soll durch das Antidiskriminierungsgesetz realisiert werden, Quotenregelungen sollen sie durchsetzen und Gerichte gleichen einiges aus, aber die Missstände sind beruflich und gesellschaftlich verfestigt. Warum nur?

Eine denkbare Ursache ist, dass Emanzipation die Überwindung veralteter konservativer Rollenbilder notwendig macht, insbesondere beim elterlichen Bezug zu Kindern – auch bei Trennungen. Das klassisch-konservative Familienrecht aus dem Jahr 1900 fördert Gleichberechtigung keineswegs. Es erscheint als kontraproduktiv, denn es entspringt einem Ideal, das „klassische Hausfrauenehe“ genannt wird. Die gesetzlichen Grundlagen im Bürgerlichen Gesetzbuch stammen nämlich noch aus der Kaiserzeit, bestanden im faschistischen Obrigkeitsdeutschland und sind bis heute nicht überwunden. So besteht über Generationen hinweg die Rollenverteilung „Kind und Küche für Mama, Arbeit und Geld für Papa“, konsequent konservativ konserviert.

Damit Frauen und Männer sich gleichberechtigt entfalten können, sollte sich das endlich ändern. Im Kern ist allerdings familienrechtlich vorgesehen, dass das Sorgerecht bei dem Elternteil liegt, das den intensiveren Kindesbezug und Zeit für elterliche Sorge hat. Zwangsläufig ist das zunächst regelmäßig die Mutter. Ohne Eheschließung weist das Gesetz dies sogar explizit zu. Wer vor diesem Hintergrund rein pragmatisch denkt, könnte auf berufliche und soziale Selbstverwirklichung verzichten, um familienrechtliche Chancen nicht zu verschlechtern. Diese Lebensgestaltung ist Wasser auf die Mühlen für konservative Geschlechterklischees, die besonders von Männern gerne als Argument genutzt werden: Emanzipation sei allseits nicht gewollt, weil die althergebrachte „Normalität funktioniere“.

Selbstverständlich sollte jede Frau und jeder Mann frei über die individuelle Lebensführung entscheiden dürfen, aber solange staatlich ein nicht-emanzipiertes Lebensmodell geradezu schmackhaft gemacht wird, ist das gesellschaftliche Ergebnis nicht verwunderlich.

Um dem zu begegnen, ist eine Änderung des Familienrechts oder zumindest der oft unflexiblen Routine überfällig. Kernproblem ist dabei, ob als Regelfall „Trennungskinder“ ganz überwiegend, wie bei dem sogenannten Residenzmodell, bei einem Elternteil bleiben, oder ob der Umgang, zumindest bis zu einvernehmlicher Einigung, entsprechend des sogenannten Wechselmodells hälftig geteilt wird. Beim Wechselmodell ist auch die Ausgestaltung möglich, wonach der Umgang jeweils in derselben Wohnung stattfindet, was Kindern Geborgenheit geben kann, wenn es finanziell machbar ist. Beide Lebensmodelle stehen alternativ zueinander, sie haben Vor- und Nachteile.

Gleichwohl überzeugt eher das gleichberechtigte Konstrukt. Alle hätten dann gleiche Umgangsrechte, und um Gleichberechtigung geht es. Der oft leider monetäre Anreiz für Zerstrittene, Druck und Gegendruck auszuüben, würde vermindert. Beide Elternteile blieben für das Kind präsent. Dem entgegen fällt bislang nach mehr oder weniger jeder zweiten Trennung faktisch ein Teil komplett. Oft ist das der Vater, aber vermehrt auch die Mutter. „Besuch“ an nur jedem zweiten Wochenende reicht sicher nicht aus. Kindern wird noch immer der belastende interne „Loyalitätskonflikt“ aufgebürdet, weil sie den fehlenden Elternteil vermissen und vielleicht ihr Recht durch Auszug mit den Füßen durchsetzen, was staatlich kontrolliert, aber grundsätzlich nicht verhindert werden darf.

Die hälftige Aufteilung des elterlichen Umgangs ist für Kinder gewiss nicht immer die beste Lösung, etwa bei Trennungen noch vor der Geburt oder bei Desinteresse eines Elternteils. Außerdem kann das Modell für zusätzliche Unruhe im Alltag sorgen. Andererseits wirkt Abwechslung bisweilen durchaus bereichernd. All dies ist jedoch stets abhängig von der individuellen Lebenssituation.

Wichtig ist deshalb, dass die hälftige Aufteilung keineswegs eine Dauerlösung sein muss und dass versöhnliche Eltern frei in ihrer Abstimmung bleiben. Wenn dann wieder eine Vertrauensgrundlage aufgrund der solidarischen Elternverantwortung aufgebaut wird, können konsensfähige Eltern individuell andere Modelle entwickeln, aber eben aus einer Position auf Augenhöhe. Dabei sollte beratend unterstützt werden. Kommt es zu Reibereien, bleiben Gerichte und Behörden berechtigt, um zur Seite zu stehen oder auch um zu sanktionieren. Ein solches Einschreiten ist selbstverständlich geboten, wenn sich konkrete Risiken für das Kind abzeichnen, insbesondere wenn Gefahr von Gewalt droht.

Quelle       :           TAZ-online           >>>>>         weiterlesen 

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Oben       —     2017.01.21 Women’s March Washington, DC USA 00091 Women’s March on Washington

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Ideologie macht Schule

Erstellt von DL-Redaktion am 9. März 2023

„Das ist eine sehr stille, aber sehr deutliche Kritik“

Interview von Oskar Paul mit Jennifer Echhardt

Warum wollen Menschen kein Geld vom Staat, obwohl sie einen Anspruch darauf haben? Die Sozialwissenschaftlerin Jennifer Eckhardt glaubt: auch aus Protest. Ein Gespräch über Bedürftigkeit und Selbstermächtigung.

taz: Frau Eckhardt, wer in Deutschland arbeitslos ist, hat Anspruch auf Arbeitslosengeld. Doch es gibt Menschen, die darauf verzichten. Wie viele sind das?

Jennifer Eckhardt: Die letzten Schätzungen gingen von rund 40 Prozent der Anspruchsberechtigten aus – im Bereich Arbeitslosengeld II.

So viele?

Ja. Und es gibt noch viele weitere Sozialleistungen. Wohngeld zum Beispiel. Wenn man alle Leistungen anschauen würde, dann kann man von noch höheren Zahlen ausgehen. Genaue Zahlen haben wir dazu aber derzeit nicht.

Wissen viele Menschen einfach nicht, dass sie einen Anspruch auf Sozialleistungen haben?

Diese Situation der vollkommenen Unwissenheit gibt es, glaube ich, kaum. Außer wenn es um besondere Zugangsprobleme geht, wie zum Beispiel bei Flucht oder Behinderung. Bei Sprachbarrieren ist es noch mal schwieriger.

Sie haben im Rahmen ihrer Forschung mit Menschen gesprochen, die ganz bewusst auf Sozialleistungen verzichten.

Das ist ein Problem, das selten gesehen wird. Wir sprechen viel über Sozialleistungsmissbrauch und Behördenversagen. Die Nichtinanspruchnahme findet im öffentlichen Diskurs aber kaum statt. Dabei zeigt sie ganz wesentlich an, dass etwas nicht funktioniert. Da sind Menschen, die sagen: „Das, was ihr da tut, das lehne ich ab.“

Was sind das für Menschen?

Das sind Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Ich habe früher in der Straßensozialarbeit gearbeitet, im Dortmunder Norden. Dort gibt es einen Platz, da kommen Wohnungslose, Drogenabhängige, aber auch Leute, die nach der Arbeit ihr Feierabendbier trinken wollen, zusammen. Und da ist mir das Thema immer vor die Füße gefallen, Nichtinanspruchnahme betraf viele, die da rumsaßen. Von potenziellen Bafög-Empfänger*innen, über Prostituierte, die Anspruch auf Wohngeld gehabt hätten, bis zu Handwerkern, die aufstocken hätten können, und Rentner*innen, die Angst um ihre kleine Eigentumswohnung hatten. Als Wissenschaftlerin habe ich dann später versucht, in dieser sozialen Praxis des Verzichts Regelmäßigkeiten zu finden.

Und?

Ich konnte in meiner Untersuchung mit Menschen sprechen, die eine bejahende Haltung zum Sozialstaat haben, auch zu einem Sozialstaat, der viel von Leis­tungs­emp­fän­ge­r*in­nen fordert. Aber die selbst nicht in dieser Art und Weise gegängelt werden wollen. Für Andere ist der Verzicht eine politische Positionierung.

Also Aktivismus?

Zwei meiner Ge­sprächs­part­ne­r*in­nen leben in einer sozialistischen Selbsthilfe – ohne Hilfe vom Staat. Sie wollen demonstrieren, dass man anders leben kann. Aber das ist ein Punkt, an den man erst mal kommen muss: Die Dinge als nicht gegeben sehen, sondern als veränderbar. Wenn jemand tagtäglich nur damit beschäftigt ist, sich irgendwie über Wasser zu halten, dann ist das schwierig. Und das gibt es auch: Menschen, die auf Essen verzichten. Da gibt es dann eine Woche lang Reis, eine Woche lang Nudeln und dann eine Woche warmes Wasser, bis dann von irgendwo wieder ein bisschen Geld reinkommt.

Warum verzichten Menschen auf Geld, wenn sie dann unter solchen Bedingungen leben müssen?

File:Armut Bettler Obdachlos (12269249596).jpg

Manche Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind über Jahre mit dem Sozialsystem in Berührung gekommen und haben über Jahre Zumutungen erlitten. Eine Person hat mir erzählt, dass sie im Jobcenter als Missgeburt bezeichnet worden sei, als zu alt, als zu kaputt für den Arbeitsmarkt. Einer anderen Person, einem gelernten Feinmechaniker, sei gesagt worden, er habe nichts gelernt, er sei zu alt. Er hat eine schwere Depression und das auf seinen Kontakt mit dem Jobcenter zurückgeführt. Diese Menschen haben durch den Verzicht der Zumutung ein Ende gesetzt und sich ihrer eigenen Menschenwürde wieder versichert.

Ließe sich die Nichtinanspruchnahme auch als ein Mittel zur Selbstermächtigung bezeichnen?

Ja, das würde ich sagen. Es geht auch um das Ausleben eines Eigensinns, darum zu sagen: „Ich bin ich und nicht nur euer Hartz-IV-Empfänger.“

Müssen wir anders über Bedürftigkeit sprechen?

Das Prinzip Eigenverantwortung führt dazu, dass wir uns selbst Bedürftigkeit nicht zugestehen. Und dann kommt uns auch immer mehr die Fähigkeit abhanden, die Bedürftigkeit des anderen zu sehen. In den Augen der Mehrheitsgesellschaft hat es der erwachsene, erwerbsfähige Mensch mitunter nicht verdient, unterstützt zu werden, weil er ja erwachsen und erwerbsfähig ist. Der ist selbst schuld. Aber jeder hat einen Grund, warum er oder sie in eine Situation geraten ist, die den Empfang von Sozialleistungen notwendig macht.

Ist es ein Problem für den Sozialstaat, wenn sich Menschen so von ihm abwenden?

Quelle        :            TAZ-online       >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Eingang zum Jobcenter Region Hannover an der Vahrenwalder Straße 145 in Hannover. Die Einrichtung ist mittwochs geschlossen …

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Europaweite Umfrage:

Erstellt von DL-Redaktion am 8. März 2023

Zwei Drittel aller Jugendlichen gegen Chatkontrolle

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von    :   

Die Chatkontrolle-Verordnung fällt auch bei jenen durch, die sie angeblich schützen soll. Mit großer bis überwältigender Mehrheit lehnen Jugendliche die Durchsuchung von Chats und Mails ab, hat eine repräsentative Umfrage in Europa herausgefunden.

Zwei Drittel aller Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren sind dagegen, dass Anbieter ihre Mails und Chatnachrichten durchsuchen, nur jeder fünfte hält das für angemessen. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage unter 8000 Jugendlichen aus 13 Ländern in Europa hervor, die der europäische Dachverband digitaler Bürgerrechtsorganisationen EDRi und die Piratenpartei im Europaparlament in Auftrag gegeben haben.

Die Umfrage zeigt auch, dass 80 Prozent der Jugendlichen sich nicht wohl dabei fühlen würden, politisch aktiv zu sein oder ihre Sexualität zu erkunden, wenn Unternehmen oder Behörden ihre digitale Kommunikation überwachen könnten, um nach sexuellem Kindesmissbrauch zu suchen. Bei einer Frage nach wirksamen Methoden um Jugendliche vor Schaden im Internet zu schützen, gaben nur 2 Prozent an, dass das Scannen der privaten Kommunikation ein wirksames und angemessenes Mittel sei, während jeweils ein gutes Drittel eine Verbesserung der Medienkompetenz oder verbesserte Meldemechanismen favorisierten.

Seit gut neun Monaten verhandelt die EU einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Die Pläne der EU-Kommission beinhalten viele bedenkliche Vorhaben – wie NetzsperrenAlterskontrolle und Chatkontrolle. Internet-Dienste sollen auf Anordnung die Kommunikation ihrer Nutzer:innen durchleuchten, um Hinweise auf sexualisierte Gewalt gegen Kinder zu finden. Für Deutschland sitzt das Innenministerium am Verhandlungstisch im Ministerrat. Das ist das zweite EU-Organ, das nun neben dem Parlament seine Position ausarbeiten muss. Noch immer ist sich die Bundesregierung nicht einig, die Ampel streitet seit Monaten – und das Innenministerium ist nur zu wenig Zugeständnissen bereit.

Zwei Drittel nutzen verschlüsselte Messenger

Von den Befragten nutzen etwa zwei Drittel verschlüsselte Messenger-Apps wie WhatsApp oder Signal, nur 16 Prozent wären einverstanden, in Zukunft keine verschlüsselten Kommunikations-Apps mehr nutzen zu dürfen. Eine Mehrheit der Jugendlichen will weiterhin anonym chatten und über solche Apps auch mit Personen über 18 Jahren kommunizieren können.

Für mehr als zwei Drittel ist es wichtig bis sehr wichtig, sich auch mit Personen über 18 Jahren auszutauschen. Sollten Jugendliche keine solchen Kommunikations-Apps mehr nutzen können, gehen mehr als 80 Prozent davon aus, dass sie auf jeden Fall oder vielleicht einen Erwachsenen finden, der die App für sie registriert.

Jeder dritte befragte Jugendliche hat schon einmal intime Fotos von sich über Messenger und ähnliches verschickt. Diese Zahl ist wichtig, weil die EU-Verordnung vorsieht, dass unbekanntes Material von Minderjährigen zu automatisierten Meldungen führen soll. In Europa leben derzeit etwa 140 Millionen Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre.

Privatsphäre ist Jugendlichen wichtig

„Junge Menschen schätzen ihre Privatsphäre“, sagt Andreea Belu von EDRi über die Ergebnisse. Konstantin Macher von Digitalcourage warnt gegenüber netzpolitik.org davor, dass die im Rahmen der Chatkontrolle-Verordnung vorgeschlagenen Maßnahmen „Jugendliche daran hindern würden, sich politisch zu engagieren und ihre Identität in einem entscheidenden Lebensabschnitt zu erkunden.“

Ella Jakubowska von EDRi, die zuletzt als Sachverständige im Deutschen Bundestag eingeladen war, sagt:

Da die Verhandlungen derzeit in vollem Gange sind, ist es wichtig, dass alle Mitglieder des Europäischen Parlaments auf die Ergebnisse dieser Umfrage hören. Junge Menschen profitieren in hohem Maße von Privatsphäre und Sicherheit im Internet und zählen darauf, dass die Abgeordneten einen Vorschlag ablehnen, der ihr digitales Leben angreifen würde.

Digitalcourage, das Teil des europaweiten Bündnisses „Stop Scanning Me“ ist,  sieht nun Handlungsbedarf. Die Umfrage zeige, dass junge Menschen die Massenüberwachungsmaßnahmen in der CSA-Verordnung ablehnen und ihr Anspruch auf ein sicheres und privates Internet geschützt werden müsse. In einer Pressemitteilung heißt es:

Das Europäische Parlament hat die Möglichkeit, die Stimme junger Menschen zu stärken und ihr Recht auf Selbstbestimmung zu gewährleisten. Der Deutschen Bundesregierung und dem Bundestag kommen dabei Schlüsselrollen zu. Das Kindeswohl ist ein Schlüsselprinzip des Rechts und dazu gehört auch, jungen Menschen zuzuhören, wenn es um die Welt geht, die sie sich wünschen.

Die Kampagne „Stop Scanning Me“, der sich mittlerweile 125 Organisationen aus ganz Europa angeschlossen haben, sammelt derzeit mit einer Petition Unterschriften gegen die Chatkontrolle.

Rohdaten:
Die Rohdaten der Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Episto in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien, der Tschechischen Republik, Spanien, Österreich, Schweden, Italien, Polen, Ungarn, der Slowakei und Griechenland durchgeführt hat, sind auf den Servern von EDRi verfügbar.

Update 15:02 Uhr:
In einer früheren Version stand, dass YouGov die Umfrage durchgeführt hätten, es war aber das Meinungsforschungsinstitut Episto.

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Oben       —     Menschen mit Smartphones

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Schneller, weiter, stopp

Erstellt von DL-Redaktion am 5. März 2023

Das Anthropozän verlangt nach Genügsamkeit

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Von     :      WOLFGANG SACHS

Suffizienz ist das Zauberwort gegen den übermächtigen, die Natur und ihre Lebenswelten zerstörenden Menschen. Ressourcen einsparen ja, aber man kommt um die Erkenntnis nicht herum: Das umweltfreundlichste Produkt ist jenes, das man nicht gekauft hat.

Selten hat ein Zwischenruf derart Geschichte gemacht. Bei einer Tagung im mexikanischen Cuernavaca im Jahre 2000 konnte der Mainzer Paul J. Crutzen, Nobelpreisträger für seine Arbeiten zum Ozonloch, nicht mehr an sich halten: „Hören Sie auf, das Wort Holozän zu benutzen. Wir sind nicht mehr im Holozän. Wir sind im … im … Anthropozän!“ Erst verblüffendes Schweigen, dann in der Kaffeepause begann der Begriff zu fliegen, anfangs in Fachkreisen, dann bei einem breiten Publikum weltweit.

Was Crutzen damit meinte? Er hatte plötzlich eine Eingebung, dass die Erdgeschichte in eine neue Epoche eingetreten sei, das Anthropozän. Die Menschheit sei nun eine geologische Kraft, vergleichbar mit Vulkanausbrüchen und Erd­beben. Denn menschliche Aktivität gestaltet die Erdoberfläche und die Erdatmosphäre großräumig und dauerhaft. Das reiche von der globalen Klimaüberhitzung und ihren Folgen für Fauna und Flora über die Versiegelung von Böden und die Störung von Wasserkreisläufen, das rasante Schwinden der Artenvielfalt, die Anreicherung von Luft, Böden und Gewässern mit toxischen Substanzen bis hin zu einer rapide wachsenden Zahl von Menschen und Schlachtvieh. Man muss sich einmal vorstellen, was inzwischen die Forschung sagt: Das Gewicht der vom Menschen geschaffenen Masse, also die Summe aller Industrieanlagen, Häuser, Straßen, Schiffe, Geräte und Müllberge, erreicht in diesen Jahren das Gewicht der Biomasse auf der Erde, also die Summe der Wale, Nutztiere, Insekten, Pilze, Feldfrüchte, Bäume und der menschlichen Körper!

Angesichts dieses Epochenbruchs entpuppt sich die gängige Rede von der Umweltkrise als reine Augenwischerei: Es dreht sich nicht um Umweltschutz, sondern um Lebensschutz. Es dreht sich auch nicht um eine vorübergehende Krise, sondern um eine epochale Katastrophe. Nach 50 Jahren Umweltpolitik, also der hektischen Eindämmung von Schadenfolgen des heutigen Wirtschaftens, geht es heute darum, die Natur und ihre Lebensprozesse vor der Übermacht des Menschen zu retten. Das ist eine ganz andere Hausnummer. Es verlangt eine tiefgreifende Revision der gegenwärtigen Wirtschaft und darüber hinaus der expansiven Moderne insgesamt.

Das Gegenmittel zur expansiven Moderne heißt Suffizienz. Sie steht den technischen Errungenschaften der Moderne skeptisch gegenüber. Ihr zivilisatorisches Projekt besteht darin, die Ressourcen der Industriemoderne mit der Regenerationsfähigkeit der Biosphäre in Einklang zu bringen. Die Tugend der Genügsamkeit hat einen festen Platz von Aristoteles zu Konfuzius in den Weisheitstraditionen der Welt. Sie gilt es im Angesicht des Anthropozän wieder auszugraben. Dies ist umso mehr geboten, als die Strategie der Ressourceneffizienz ins Leere läuft, sobald die Einsparungen von den Gütermengen wieder aufgefressen werden. Effizienz heißt, die Dinge richtig zu machen, Suffizienz heißt, die richtigen Dinge tun. Denn in der expansiven Moderne dreht sich alles um das olympische Motto: um größere Geschwindigkeiten, um weitere Entfernungen, um wachsende Mengen an Gütern und Dienstleistungen. Gegen diesen Strom schwimmt die Suffizienz. Sie wird getragen von der sprichwörtlichen Erkenntnis, dass alles seinen Preis hat. So sind die technischen Meisterleistungen der Industriemoderne nur die eine Seite der Medaille, die andere heißt Ungleichheit und Naturzerstörung. Deshalb plädieren die Befürworter der Suffizienz dafür, mit dem Steigerungsimperativ des „schneller, weiter und mehr“ zu brechen. In diesem Sinne hat die Kunst des Unterlassens Vorrang in der Politik.

Dabei muss man sich von der populären Unterstellung lösen, die erneuerbaren Energien würden es schon richten, sie seien sogar unendlich verfügbar. Kein Zweifel, der Umstieg auf die Erneuerbaren ist unumgänglich, dennoch lässt sich die Frage nicht unterdrücken: Wo und in welchem Umfang? Die Grenzen des Strombedarfs müssen angesichts der Kosten für Material, Fläche und Landschaft diskutiert werden. Welcher Nutzen rechtfertigt die Unbill der Windturbinen und Solarzellen? Der Elektro-SUV, mit dem der gut situierte Städter herumfährt? Der Stromverbrauch für das Streaming von Filmen daheim anstelle des Kinobesuchs? Oder: all die Containerschiffe aus China und Fernlastzüge auf den Autobahnen, angetrieben von grünem Wasserstoff? Allenthalben kehrt die alte, zu oft verdrängte Frage wieder: Was ist genug? Was ist genug für alle und auf Dauer?

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Ohnehin sollte niemand davon ausgehen, dass ein Wirtschaftsmodell, das seit fast 200 Jahren auf fossilen Energieträgern basiert, mit erneuerbaren Energien unverändert fortgesetzt werden könnte. Suffizienz wird künftig als technisches Designprinzip betrachtet werden. So können Autos auf mittlere Geschwindigkeiten ausgelegt werden. Was wäre gewesen, wenn etwa das Pariser Abkommen von 2015 die Verpflichtung der 20 Automobilhersteller der Welt enthalten hätte, innerhalb von zehn Jahren kein Auto mehr zu produzieren, das schneller als 120 km/h fährt? Das wäre ein gewaltiger Bonus gewesen, um das 1,5-Grad-Ziel doch noch zu erreichen. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein zu großer Schritt für den Kapitalismus. Stattdessen ist der Anteil von SUVs und Geländewagen an den Neuzulassungen seit 2015 kontinuierlich gestiegen, auf aktuell 29 Prozent in Europa. Groß, schwer, hochmotorisiert, SUVs sind Klimakiller, ein Elektro-SUV ist so widersinnig, wie Butter mit einer Kreissäge zu schneiden. Während Verbrennungsmotoren hohe Geschwindigkeiten lange durchhalten können, müssen Elektroautos auf Reichweite achten. Sie sind daher ideale Fahrzeuge für mittlere Geschwindigkeiten.

Suffizienz lässt sich geografisch verstehen, gerade in Zeiten des Anthropozäns. Zum Beispiel: Wie kann man die Hälfte der Erde für Pflanzen und Tiere unter Schutz zu stellen? Das ist die entscheidende Frage für die Biodiversität an Land und im Meer. Wie viel Fläche ist genug für den Menschen? Ein heikles Thema, denn es berührt die Frage, ob es Grenzen gibt für den Bedarf an Wohnraum und für alle Arten von Büro-, Gewerbe- und Verkehrsflächen. In Deutschland jedenfalls ist die Fläche für Siedlung und Verkehr von 1992 bis 2020 um rund 20 Prozent und die durchschnittliche Wohnfläche von rund von 35 auf 47 Quadratmeter angewachsen, fast die Hälfte der Gesamtfläche der Bundesrepublik ist versiegelt. Angesagt ist, mit der bestehenden Bebauung auszukommen, was zu Verteilungskonflikten zwischen Miet- und Luxuswohnungen, Gewerbe- und Grünflächen, Gemeinschaftsgärten und Leerständen aller Art führt. Wie aus einer beschränkten Fläche mehr zu machen wäre, bewegt schon heute die Geister der Architekten, Bürger und Behörden rund um die Idee der „grünen Stadt“.

Auch in der Wirtschaft ist ein Geschäftsmodell des Weniger längst überfällig. Die Kreislaufwirtschaft, wenn sie denn kommt, ist nicht nur eine Frage des ökonomischen Kalküls, sondern auch eine Frage der Ehre: Mit Ausbeutern, egal ob von Ressourcen oder von Arbeitern, arbeitet man nicht zusammen. Zum Beispiel die Textilindustrie. Europa importiert sage und schreibe 63 Prozent der Textilien und 70 Prozent der Modeartikel vor allem aus Bangladesch, China und der Türkei. Während etwa die Baumwolle für ein T-Shirt aus Pakistan stammt, wird sie dann in der Türkei zu Garn gewebt, in Indien zu Stoff verarbeitet und in Bangladesch genäht, um schließlich auf dem europäischen Markt zu landen. Der übermäßige Verbrauch von Pestiziden in der Baumwollerzeugung, die Wasserverschmutzung durch das Färben der Stoffe und die schlechten Arbeitsbedingungen der Näherinnen sind allzu bekannt. Selbst ein hochwertiges Recycling würde den Ressourcenverbrauch bei ständig steigendem Konsum nicht absolut senken. Ressourcen einsparen ja, aber man kommt um die Erkenntnis nicht herum: Das umweltfreundlichste Produkt ist jenes, das man nicht gekauft hat. Eine lebensdienliche Wirtschaft wird daher ohne einen Schub an Suffizienz nicht zu haben sein. Für den Kapitalismus steht eine Bewährungsprobe besonderer Art an: Nur wenn es ihm gelingt, Wertschöpfung bei abnehmenden Gütermengen zu betreiben, wird er das 21. Jahrhundert überleben.

Quelle          :           TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben     —   Violent electrical storm at sunset, attacks the California Mojave Desert

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Unten       —        Luftverschmutzung über Indonesien und dem Indischen Ozean, Oktober 1997; weiß markiert: von Feuern stammende Aerosole (Rauch) in den unteren Luftschichten; grün, gelb und rot: darüber liegender Smog in der Troposphäre

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Eine Plastiktüte voll Armut

Erstellt von DL-Redaktion am 4. März 2023

Brot, Gas, Socken – alles ist teurer geworden. 

Und die geistigen Krücken der Politik schlemmen in Meseberg

Von    :    Niko Kappel

Was heißt das für Menschen, die sowieso schon wenig haben? Ein Tag mit Sozialberater Volker Hänneschen im brandenburgischen Senftenberg.

Als Nicole Müller das erste Mal zu Volker Hänneschen kam, hatte sie eine Plastiktüte voll Briefe in der Hand. Darin waren sehr viele Rechnungen. Bestimmt 300 Stück. Es gibt Menschen, die öffnen keine Briefe mehr. Volker Hänneschen fragt dann nicht nach den Gründen. Die wird es schon geben, denkt er sich. Seine Aufgabe ist, die Briefe der Leute zu öffnen.

Die Plastiktüte von Nicole Müller hat Hänneschen in eine Excel-Tabelle übersetzt. Sie hat 108 Positionen. „Strom­anbieter 188,20 Euro“, steht da. Oder: „Telefonrechnung 1.001,30 Euro“. Die Tabelle geht über sechs Seiten, sie versammelt unbezahlte Rechnungen aus zwei Jahrzehnten. Am Ende, unter dem Strich, steht die Gesamtverschuldung von Nicole Müller. 105.760,25 Euro.

Volker Hänneschen ist Sozialarbeiter. Er arbeitet in der Sozialberatungsstelle der Caritas im brandenburgischen Senftenberg. Seit 30 Jahren kommen Menschen zu ihm, die Hilfe brauchen. Mit Rechnungen, mit Anträgen, mit Steuern, mit Behörden. Gerade werden es immer mehr.

So eine Krise wie diese habe er noch nie erlebt, sagt Volker Hänneschen. Noch nie in den vergangenen drei Jahrzehnten habe sich die Armut so weit hoch in die Mittelschicht gefressen. Früher kamen zu Volker Hänneschen hauptsächlich Menschen wie Nicole Müller. Menschen, die keine Rechnungen mehr bezahlen können. Seit Beginn des Krieges kommen auch Menschen mit stabilen Einkommen, mit sicherer Rente oder auch solche, denen die Hilfe vom Amt eigentlich immer gereicht hat, erzählt er. Weil es jetzt eben nicht mehr reicht.

Die Inflation in Deutschland ist so hoch wie seit 1951 nicht mehr. 2022 kostete die Energie 34,7 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Nahrungsmittelpreise sind 2022 um 13,4 Prozent gestiegen.

Für Menschen an der Armutsgrenze kann das den finanziellen Ruin bedeuten. Laut einer Befragung der Hans-Böckler-Stiftung leiden die Haushalte am meisten unter der Inflation, die ein Einkommen von weniger als 1.500 Euro netto haben. Rund die Hälfte dieser Menschen berichtet von einer starken finanziellen Belastung.

Wie gehen arme Menschen damit um, dass sie jetzt noch weniger haben als vor der Inflation?

Senftenberg ist eine Kleinstadt in Brandenburg. Etwa 23.000 Menschen wohnen hier, 40 Kilometer von Cottbus entfernt, in der Lausitz. Früher wurde im Tagebau Kohle abgebaggert. Mitte der 90er Jahre verschwand der Bergbau. Die Region galt als strukturschwach, es gab kaum noch Jobs. Aber die Lausitz hat sich davon erholt, ein bisschen zumindest. Heute sind die leeren Kohlegruben mit Wasser gefüllt. Die Lausitzer Seenlandschaft zieht Touristen an, knapp 700.000 Übernachtungen gab es 2021. Trotzdem hat ein Haushalt hier im Schnitt nur 20.790 Euro im Jahr zum Leben. Damit gehört der Landkreis Oberspreewald-Lausitz immer noch zu den ärmsten in Brandenburg.

Alle Namen in diesem Text – bis auf den von Volker Hänneschen – wurden geändert. Wer sich an die Beratungsstelle der Caritas wendet, soll anonym bleiben können. Der Reporter musste vor dem Termin versichern, keine echten Namen von Hilfesuchenden im Text zu verwenden. Die sind der taz aber bekannt.

An diesem Januartag bietet Volker Hänneschen eine offene Sprechstunde an. Das heißt, jeder Mensch, der ein Problem hat, kann kommen. Es ist ein kalter Morgen. Gerade hat es noch gehagelt, aber jetzt scheint die Sonne. Im Warteraum der Beratungsstelle der Caritas sitzt bereits ein Pärchen. Der Raum ist lachsrosa gestrichen. Ein paar Stühle stehen hier, in der Ecke ein Tisch. Darauf liegen Legosteine. Die beiden warten seit 9 Uhr morgens, sie wollen pünktlich sein, denn das mögen die Deutschen. So hat man es ihnen auf dem Sozialamt gesagt. Er heißt Hassan Khalid, sie Djamila Khalid. Beide tragen Pudelmützen mit kleinen Bommeln auf dem Kopf. Djamila ist schwanger, im siebten Monat.

Volker Hänneschen bittet die beiden in sein Büro. Sie setzen sich und fangen an zu erzählen. Sein Gehalt reicht zum Leben nicht aus. Er verdient netto 700 Euro bei einem Lieferdienst. Dann erhielten sie die Gasrechnungen. Dann wurde im Supermarkt alles teurer. Djamila bekam Angst, dass das Geld ausgeht, wenn das Baby da ist. „Wie sollen wir das bezahlen, wenn die Preise weiter so steigen?“, habe sie irgendwann ihren Mann gefragt.

Eine Freundin erzählte ihr von „Anträgen“. Zettel, die man in Deutschland zum Amt bringt. Wenn man diese Anträge abgibt, dann kriegt man vielleicht Geld. Volker Hänneschen nickt. „Das machen wir. Wir stellen jetzt ganz viele Anträge.“ Er tippt auf seinem Computer.

Sehr geehrte Damen und Herren.

„So beginnen heutzutage alle Märchen“, sagt Hänneschen. Er tippt weiter.

Ich erwarte am 23. April mein Kind. Deshalb beantrage ich Mehrbedarf für Schwangerschaft.

Er verteilt die Überschriften über die Anträge.

Antrag auf Mehrbedarf wegen Schwangerschaft

Antrag auf Mehrbedarf wegen Umstandskleidung

Antrag auf Mehrbedarf wegen Babyausstattung

Volker Hänneschen druckt die Zettel aus. Djamila unterschreibt sie.

Viele Menschen wissen nicht, was es alles für Anträge gibt. Woher auch, im Antragsland Deutschland. Das Kreissozialamt schickt sie dann zu Beratern wie Volker Hänneschen. Er weiß, wem wo und vor allem wie geholfen werden kann. „Kommen Sie wieder, wenn das Baby da ist. Dann stellen wir noch mehr Anträge.“ Die beiden nicken und bedanken sich.

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Durch solch einen Durchgang würden unsere Politiker mit Sicherheit nicht kriechern um ihr Festmahl einzunehmen.

Die Bundesregierung hat auf die steigenden Preise mit mehreren Entlastungspaketen reagiert. Für Menschen wie die Khalids, bei denen Geld an jeder Ecke fehlt, seien die staatlichen Hilfen zu wenig, sagt Volker Hänneschen. „Da entscheidet dann so ein Antrag auf Mehrbedarf wegen Babyausstattung wirklich, was das Kind zu essen bekommt.“ Klar gebe der Staat gerade hohe Summen für die Unterstützung der Menschen aus. Aber die würden wie mit einer großen Gießkanne über dem Land ausgeschüttet. Manchen hilft das, manchen nicht. Das neue Wohngeld federe zum Beispiel die höheren Heizkosten ab, sagt Hänneschen. Aber eben nur pauschal mit 1,20 Euro pro Quadratmeter. „Am Existenzminimum ist das zu wenig.“

Volker Hänneschen wuchs in Finsterwalde im südlichen Brandenburg auf, 1984 kam er nach Senftenberg. Die Stadt war damals von einem grauen Schleier überzogen, erzählt er. Um Senftenberg herum gab es Brikettwerke. Aus den Schornsteinen kam schwarzer Ruß, der sich über die Stadt legte.

Die Biografien im Osten verliefen anders als im Westen. Mit 16 ging Volker Hänneschen von der Schule ab. Nur wenige machten damals Abitur, auch Hänneschen nicht. Er wollte in der DDR nicht linientreu sein, und zur Armee wollte er auch nicht. Volker Hänneschen arbeitete in der Grube, wie fast alle jungen Männer in Senftenberg. Er fuhr immer mit dem Moped hin. Nicht, weil das schneller ging, sondern weil er dann eine Ausrede hatte, wenn seine Kollegen um 10 Uhr vormittags anfingen, Schnaps zu trinken.

Mit 19 kam das erste Kind. Dann die Heirat. 1990 verließ Volker Hänneschen die Kohle. Die Schichten passten nicht mehr zur Familie. Er wollte nicht wie seine Kollegen „in der Kohle versinken“, sagt er, „gebrochene Männer“ nennt er sie.

Volker Hänneschen leistete Zivildienst bei der katholischen Kirche. Das war der erste Kontakt zur Caritas. Es stellte sich heraus, dass er gut mit Menschen kann. Er holte das Abitur nach. Sein Chef schickte ihn nach Berlin, zum Studium der Sozialarbeit. In Berlin-Karlshorst, auf die Katholischen Hochschule für Sozialwesen. 1992 wurde dann die Sozialberatungsstelle der Caritas in Senftenberg gegründet. Volker Hänneschen trug die Büromöbel in das kleine Haus am Ende der Senftenberger Fußgängerzone, half während des Studiums immer wieder aus. Und blieb.

„In Senftenberg haben die Menschen andere Probleme als in Darmstadt oder Göppingen“, sagt Hänneschen. Seit in der Lausitz keine Kohle mehr abgebaut wird, kann man im Tourismus arbeiten oder bei einem großen Paketversand, der in der Nähe ein Lager hat. Viel mehr Jobs gibt es nicht. Auch deshalb hat Volker Hänneschen gut zu tun.

Eine der vielen Menschen, die er in den 30 Jahren als Berater kennengelernt hat, ist Helena Mägritz. Sie bekommt Sozialhilfe. Das Geld ist an jeder Ecke knapp. Jetzt wurde ihre Miete erhöht, der Preis für das Gas auch.Vor zehn Jahren verbrannte eines ihrer Kinder. Es spielte mit Streichhölzern. Die Wohnung fing Feuer. Das Kind starb. Seitdem ist Helena Mägritz schwer traumatisiert. Sie konnte nicht mehr arbeiten. Irgendwann kam sie mit den Anträgen für die Grundsicherung und andere Hilfen nicht mehr mit. So landete sie in der Beratung von Hänneschen.

„Hallo Helena“, sagt Volker Hänneschen. „Um was geht es heute?“„Um den Onkel“, sagt Helena Mägritz.

Ihr Onkel ist seit Oktober bei ihr untergebracht. Er ist pflegebedürftig. Ein Heim war zu teuer, deshalb kümmert sich jetzt Helena Mägritz um ihn. Aber finanziell ist das schwierig. Der Pflegedienst kommt täglich. Der Onkel muss Tabletten nehmen. Beim Aufräumen fand Helena Mägritz irgendwann die Tabletten im Schrank. Der Onkel nahm sie nicht mehr. Warum, kann sie nicht sagen. Helena Mägritz will jetzt Pflegegeld für ihren Onkel beantragen. Sie fragt, ob sie weniger Grundsicherung bekomme, wenn der Antrag auf Pflegegeld genehmigt werde?

Volker Hänneschen erklärt ihr, dass die Sozialhilfe und das Pflegegeld verschiedene Dinge sind. Das Amt werde ihr schon nichts wegnehmen. Er redet ruhig, nimmt sich Zeit.

Sie sagt, dass durch die Pandemie und die Inflation „der ganze Scheiß“ noch schwieriger geworden sei. „Wir kommen von einer Krise in die nächste.“ Das gilt für Deutschland, aber eben auch für sie persönlich. Die Gasrechnung steigt. Sie bezahlt. Der Onkel braucht Pflege. Sie bezahlt. Die Kinder brauchen neue Schulsachen. Sie bezahlt. Nie reiche das Geld.

Es sei messbar, dass die derzeitigen Krisen vor allem die mit dem wenigsten Einkommen im Land treffen, sagt Bettina Kohlrausch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. „Wer weniger Geld hat, leidet gerade mehr.“ Die Hans-Böckler-Stiftung hat erhoben, dass unter den Einkommensärmsten die Hälfte von starken finanziellen Belastungen berichtet. Bei einem Einkommen von 2.000 bis 3.500 Euro sind es unter den Befragten rund ein Viertel, bei den Einkommensreichsten lediglich 8 Prozent. In der Erhebung wurden nur Menschen befragt, die erwerbstätig sind. Für Menschen ohne Job ist die finanzielle Belastung noch mal höher, ist sich Bettina Kohlrausch sicher.

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Und auch die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände berichtet von einer deutlich gestiegen Nachfrage im Jahr 2022. Die Menschen wendeten sich vermehrt wegen Energie- oder Mietschulden an die Anlaufstellen, ergab eine gerade veröffentlichte Umfrage. Oder sie benötigten eine Budgetberatung. Was so viel heißt wie: Sie kommen mit dem Geld, das sie zum Leben haben, nicht mehr hin.

Als Helena Mägritz geht, sitzt schon der Nächste in Hänneschens Warteraum. Ungeduldig spielt er mit den Legosteinen auf dem Tisch. Christopher Heuer ist etwas über 60 Jahre alt. Er stammt aus einer reichen Unternehmerfamilie. Zum Schutz seiner Persönlichkeit wurden einzelne Details wie Aufenthaltsorte und Familienverhältnisse in diesem Text geändert.

Seine Familie habe ihn enterbt, als er 18 war, erzählt er. Warum, tue hier nichts zu Sache. Nur so viel: Er habe „ziemliche Scheiße“ gebaut, und sein Vater habe seinen Zustand ausgenutzt, als er am Boden war. Jetzt, 40 Jahre später, ist er wieder am Boden. Die Firma führt heute sein Bruder. Zur Familie hat er keinen Kontakt mehr.

Quelle       :        TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Interior of Rewe store, Garmisch-Partenkirchen.

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Die Welt mitverändern

Erstellt von DL-Redaktion am 1. März 2023

Immer weniger Bürger engagieren sich für das Gemeinwohl. 

Mehr Polizei bringt mehr Gemeinwohl ?

Ein Schlagloch von Mathuas Greffrath

Für die Demokratie ist das ebenso Gift wie das Übermaß an oft fälschlichen Informationen. Die Staatsmacht lässt sich nicht von außen lenken, der Souverän muss schon reingehen und mitspielen.

Es gibt Geschichten, die begleiten einen wie ein Mantra. Eine davon habe ich vor langer Zeit an dieser Stelle schon einmal erzählt, aber gelegentlich ploppt sie wieder ins Gedächtnis: die Geschichte von dem Mann, der so unangenehm spöttisch lachte, als ich ins Stottern kam. Warum ich Journalist geworden sei, hatte er mich gefragt, und ich darauf irgend etwas von „Weltverändern durch Aufklären“ gemurmelt. Ich traf den Soziologen Hans Speier 1977 in einem Vorort von New York, einen Schüler Karl Mannheims. Der wiederum hatte das Wort vom „freischwebenden Intellektuellen“ geprägt, dem überparteilichen Statthalter der Vernunft im Interessenkampf. Speier hatte an der Hochschule für Politik in Berlin gelehrt und musste 1933 nach New York fliehen, wurde Kriegstheoretiker und Experte für Propaganda im Dienste der US-Regierung.

„Weltverändern?“, rief er damals aus, „da haben Sie den falschen Beruf gewählt. Völlig falsch. Wenn Sie die Welt verändern wollen, dann müssen Sie in eine politische Partei gehen und um Mehrheiten kämpfen.“ Sein Ton war unerträglich belehrend; ich fühlte seine Verachtung für den naiven, machtvergessenen Studenten. Und dann passierte mir, was mir nie zuvor passiert war, und nie wieder danach. Ich habe Hans Speier drei Stunden lang interviewt, und als ich zurück im Hotel in New York die Bänder durchhörte, war nichts davon mehr da. Vier leere Rollen Tonband.

Das fiel mir dieser Tage wieder einmal ein, angesichts von zwei Publikationen, die sich mit der Krise der parlamentarischen Demokratie beschäftigen. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat ein schlankes Büchlein geschrieben („Die Zukunft der Demokratie“) über zwei Mindestvoraussetzungen der Demokratie. Zum einen eine Plattform von gesicherten, von allen geteilten Informationen, auf deren Grundlage politische Öffentlichkeit überhaupt erst möglich wird. Und zweitens: eine verbreitete Bereitschaft zur Mitwirkung in den Institutionen des Gemeinwesens. Beides, so Münkler, sei so nicht mehr gegeben.

Als ich 1977 in Hartsdale mein Interview ruinierte, stand es um beides noch besser – auch deshalb ärgerte mich, was ich für den Zynismus eines Regierungssoziologen hielt. Man konnte damals mit ein wenig mehr Recht als heute davon ausgehen, dass Aufklärung die Verhältnisse in Bewegung bringen kann. Die SPD leistete bis 1986 noch Widerstand gegen die Kommerzialisierung von Funk und Fernsehen. Es gab noch keinen Privatfunk, kommerzielles TV sowieso nicht. Information und Bildung fanden auf wenigen Kanälen statt. Hohes und Flaches, Anspruchsvolles und Entspannendes, rechts und links waren besser gemischt – man konnte sicher sein, dass die Kollegen am nächsten Morgen ungefähr denselben Kenntnisstand hatten wie man selber. Und außerdem gab es lokale Zeitungsvielfalt.

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Die Tafeln entlassen die Regierungen aus ihren Pflichten sich um die Ärmsten der Armen zu kümmern !

Auch die zweite Voraussetzung, die Münkler nennt, war noch gegeben: die Bereitschaft zur Mitwirkung in den Parteien. In den turbulenten 60er und 70er Jahren hatte sich die Mitgliederzahl in allen Parteien verdoppelt, junge Aktive hatten an Einfluss gewonnen, Intellektuelle engagierten sich im politischen Alltag und nicht nur auf den Marktplätzen der Meinung. Heute leben wir in einer anderen Welt. Die Öffentlichkeit spaltet sich immer weiter in Infoblasen und zahlungspflichtige Informationsportale für „Entscheider“. In den schrumpfenden Parteien gibt es gerade einmal 200.000 „ämterorientierte Aktive“; aus diesem kleinen Kreis rekrutieren sich die Eliten der Parlamente, der Verwaltungen, der Sozialverbände. Das Misstrauen der Bürger gegen eine schmale Schicht von Berufspolitikern wächst kontinuierlich. Demonstrationen haben begrenzte Wirkung auf Gesetzgebung; auf die aber kommt es letztlich an.

Das alles ist keine neue Erkenntnis, die Ursachen sind benannt: die ehernen Mechanismen der Parteienoligarchien; die Individualisierung und der Konsumismus; die gezielte Zerstörung des dualen Systems von privater Presse und öffentlich-rechtlichen Medien. Postdemokratie. Die Arbeit der Zuspitzung – nach Peter Glotz, einem der letzten Intellektuellen in der Politik: „die Klärung der Gegensätze und die Mobilisierung von verborgenen und verschütten Wünschen und Bedürfnissen“ – ist aus den Parteien und einer kuratierten Presse in die knalligen Talkshows, die Meinungsblasen outgesourct.

Jammern macht müde. Wo ist Abhilfe? Auch Münkler bietet nur Palliativmedizin an: geldwerte Kompensationen für Engagement in den politischen Institutionen statt außerhalb von ihnen und gegen sie; und, was die Meinungsbildung angeht, eine Art von mehrfach zu erneuerndem „Führerschein“ für das gefahrlose Navigieren in einer Welt von Stimmungsspiralen und Fake-News-Fallen. Ich glaube nicht, dass solche Mittelchen aus der Notapotheke eine republikanische Renaissance auslösen können. Und gegen wirksame Bürgerbeteiligung, die zwar regelmäßig in den Programmen steht und die gerade wieder die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff fordert (ihr Buch heißt „Demophobie“), schotten sich die Parteien sorgsam ab: Wenn etwa der hannoversche Bürgermeister die Forderung der Letzten Generation aufnimmt, kriegt er sofort die Rute der „gewählten Volksvertreter“ zu spüren.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben        —   Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation mit Tempo-100-Schildern vor dem Verkehrsministerium diskutieren mit der Polizei. Links stehend Edmund Schultz, mitte Mirjam Herrmann, rechts Miriam Meyer. Invalidenstraße, Berlin, 22.10.22

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Nichts wie weg von Hier

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Februar 2023

„Nicht nur das Weggehen aus Kuba ist ein Privileg

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– Auch nach Kuba zurückzureisen“  –  JULIANA RABELO, EXIL-KUBANERIN IN MADRID

Aus Santa Clara und Havanna von Ruth Fuentes

Zurzeit verlassen so viele Ku­ba­ne­r:in­nen wie schon lange nicht mehr das Land. Vor allem die Jungen haben jede Hoffnung auf Veränderung aufgegeben.

Im Zentrum von Santa Clara ist nicht viel los an diesem Tag Ende Dezember. Santa Clara wird gern die „Hauptstadt der Revolution“ genannt. Hier erkämpfte Che Guevara 1958 einen entscheidenden Sieg gegen das Batista-Regime, hier werden seine Gebeine in einem Mausoleum aufbewahrt. Die Stadt gehört zu den beliebtesten Tourismuszielen Kubas, aber das Geschäft mit den Be­su­che­r:in­nen ist nach der Pandemie nicht wieder so angelaufen, wie die Ku­ba­ne­r:in­nen sich das vorgestellt haben. Ein paar Taxifahrer rangeln um die wenigen Tourist:innen, die sich in der Stadt umschauen.

Neben ein paar alten Mopeds aus der DDR gehören die Taxis zu den wenigen motorisierten Fahrzeugen. Benzin ist knapp, seitdem der Weltmarktpreis gestiegen ist und die Regierung Kraftstoff abzweigt, um Strom zu produzieren. Viele Bauern fahren mit Pferdekutschen.

An einer Ecke des zentralen Platzes sitzen zwei, drei Jugendliche und tippen auf Handys herum. Das sei mal der Treffpunkt der jungen Leute gewesen, sagt Elier David Molina Cruz, Musiker aus Santa Clara. Voll sei es hier früher gewesen, lebhaft. Cruz ist 25, er spielt seit zehn Jahren Gitarre. „Wir haben immer da gesessen, haben zusammen gespielt, abgehangen. Heute ist kaum noch jemand da, den ich kenne.“

Für das Gespräch schlägt Cruz ein Café vor, direkt neben den Häusern, in denen Che Guevara für die Revolution kämpfte. „Ich bin hier allein geblieben“, sagt er. „Alle meine Freunde sind weg.“

Vor allem junge Menschen haben in den vergangenen Jahren Kuba verlassen, so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die letzten zwei großen Migrationswellen fanden 1980 und Mitte der 90er Jahre statt. Während der Mariel-Bootskrise 1980 verließen rund 1,3 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung über den Hafen von Mariel in Booten das Land in Richtung Florida. In den 1990ern hatte der Wegfall der Sowjetunion als wichtigste Unterstützerin des sozialistischen Kubas zu einer der größten Krisen auf der Insel geführt.

Die jetzige Krise vergleichen viele Ku­ba­ne­r:in­nen mit dieser Zeit. Die Pandemie, eine Währungsreform und die neuen Sanktionen aus der Präsidentschaftszeit von Donald Trump, die unter Joe Biden bislang großteils weiterbestehen, haben für die neue Migra­tions­welle gesorgt: Nur die Fluchtrouten haben sich verändert. Viele Ku­ba­ne­r:in­nen reisen zunächst nach Nicaragua, für das sie kein Visum brauchen. Dann machen sie sich auf den Landweg nach Mexiko, um von dort illegal über die Grenze in die USA zu gelangen, wo viele Familienangehörige haben.

Über 220.000 Ku­ba­ne­r:in­nen sollen laut US-Grenzkontrolle so 2022 in die USA gekommen sein. Vor allem junge Menschen, die sich ein neues Leben aufbauen wollen. Proteste, Widerstand und Veränderungen innerhalb des Systems sind für sie keine Option mehr.

Auch für Elier David Cruz nicht. Die Haare trägt er schulterlang, an den Fingern stecken Totenkopfringe. Seine Arme sind voll mit Tätowierungen, einige davon aber nur in Umrissen, ihnen fehlt die Füllung, dafür hat das Geld nicht gereicht. Die Schriftzüge von Metallica, Nirvana, den Stones und seiner ersten eigenen Band „Alkimia“ kann man lesen. Und ein Zitat von John Lennon: „You may say I am a dreamer, but I am not the only one.“

Er arbeitet in einer Rock-Coverband in der Touristenstadt Trinidad, etwas weiter im Süden Kubas. Aber er überlegt, nach Uruguay zu gehen. Ein Cousin von ihm lebt dort und könnte ihm einen Job besorgen. „Das Problem ist das Geld. Ich brauche circa 3.000 Dollar. Ich bin bei 100, fehlen noch 2.900“, sagt er und lacht kurz auf. Er müsste dafür sein Equipment verkaufen, das er in den vergangenen Jahren mühsam zusammengesammelt hat: Bass, Mikros und die schwarze E-Gitarre.

Das Gitarrespielen hat er sich selbst beigebracht, seit Jahren lebt er von der Musik. „Manchmal muss ich eben hungern“, sagt er. Das sagt er seinen Eltern lieber nicht. Sein Vater arbeitet für ein staatliches Bauunternehmen. Weil Cruz’ selbstgeschriebene Songtexte früher sehr kritisch waren, gab es da auch schon Ärger. „Einmal kamen sie zu meinem Vater auf die Arbeit und meinten, wenn ich so weitermache, müssen sie ihm kündigen. Wenn sie ihm kündigen, kann meine Familie aber nicht überleben.“ Mit „sie“ meint er die Militärs. Er ist jetzt vorsichtiger mit seinen Texten.

Von den Militärs wurde Cruz auch einmal abgeholt, als er ein Lied von sich auf einem Protestforum zum 11. Juli 2021 präsentierte. An diesem Tag kam es, angefangen in einem kleinen Ort im Zentrum der Insel, zu landesweiten Protesten. In einer Größenordnung, die es zuvor so nicht auf Kuba gegeben hatte. Über das Internet verbreiteten sich die Informationen zu den Protesten rasant.

Tausende Ku­ba­ne­r:in­nen demonstrierten in der Hauptstadt Havanna. Das Militär löste die Proteste gewaltsam auf, es gab über 1.200 Festnahmen, das Internet wurde an diesem Tag abgestellt. Am Abend bezeichnete Präsident Miguel Díaz-Canel in seiner Fernsehansprache die Protestierenden als „Feinde der Revolution“. Seitdem sitzen hunderte Festgenommene im Gefängnis. Genaue Zahlen gibt es nicht.

Bei Cruz standen eines Morgens auch Polizisten vor der Tür: „Ich war noch total verkatert, als sie um halb zehn an der Haustür klingelten. ‚Wir müssen mit Ihnen reden.‘ Ich dachte schon, es wäre wegen meines Militärdiensts.“ Zwei Jahre obligatorischen Militärdienst musste auch er machen. „Doch sie nahmen mich einfach mit, bis 20 Uhr war ich auf der Wache.“ Ohne etwas zu essen, ohne seine Familie benachrichtigen zu können. „Sie haben mich angeschrien, und ich wusste nicht, was sie von mir wollten, ich habe sogar angefangen zu weinen.“ Er sei völlig verängstigt gewesen, gibt er zu.

„Dueños del engaño“ heißt das Lied, um das es ging – es bedeutet so viel wie „Herren der Lüge, der Täuschung, des Irrtums“. Er spielt das Lied von seinem Youtube-Kanal ab, rockiger Sound, nicht mehr als einhundert Abrufe. Doch das ist schon genug, um vom Regime heimgesucht und eingeschüchtert zu werden. „Ich denke nur darüber nach, von diesem verfluchten Ort wegzugehen“, singt er in dem Lied. „Wir sind auf der Basis von Kugeln aufgewachsen.“

Alle jungen Menschen, mit denen man auf Kuba spricht und die sich schon mal politisch geäußert haben, haben ähnliche Einschüchterungen vonseiten der kubanischen Polizei erlebt. „Lass uns in ein anderes Café gehen“, sagt Cruz plötzlich. „Der Typ da in dem gelben T-Shirt beobachtet uns schon eine ganze Weile.“

Es finden sich genug halbleere Cafés in Santa Clara. Es läuft Reggaeton und es gibt gezuckerten Kaffee ohne Milch. „Diese Musik“, sagt Cruz. Er kann mit Reggaeton nichts anfangen. „Diese Musik wird dir jeden Tag eingeimpft. Sie lässt die Gesellschaft verdummen.“

Dass es noch mal größere Proteste geben könnte, sieht er nicht. „Die Menschen wollen kein weiteres Risiko auf sich nehmen. Sie wollen lieber weg, in Ruhe leben und nicht jeden Tag in Schlangen warten, um Lebensmittel zu bekommen.“ Er versteht das, aber manchmal, in Momenten äußerster Frustration, denkt er auch, die Ku­ba­ne­r:in­nen hätten es nicht anders verdient.

Eines Morgens stand die Polizei vor seiner Tür, wegen eines Lieds von ihm

Florida ist nach wie vor das beliebteste Ziel der Auswandernden. Läuft man in Havanna am Malecón entlang, der Straße, die entlang der Küste im Norden von Kubas Hauptstadt führt, schauen die Einheimischen aufs Meer Richtung Norden: Von hier sind es nur etwa 90 Meilen bis nach Florida. Seit Jahrzehnten und bis heute verlassen Ku­ba­ne­r:in­nen immer wieder ihr Land auch in Booten in Richtung USA. Immer wieder ertrinken Flüchtende bei der Überfahrt.

Bevor man am Malecón die Promenade weitergeht, warnen einen noch Menschen: Man sollte es vermeiden, unter den Balkonen der Villen zu laufen. Die meisten seien so marode, dass immer mal wieder einer herunterstürzt.

Leicht erhöht auf einem Hügel steht am Malecón das staatliche „Hotel Nacional“. Hier sitzt Maria an der Bar, bestellt einen Fruchtsaft, Papaya. Sie ist um die dreißig, trägt ein buntes Sommerkleid mit Blumenmuster und will über die Situation ihres Heimatlandes sprechen. Eigentlich heißt sie aber anders: „Wenn du meinen richtigen Namen erwähnst, kündigen sie mir auf der Arbeit“, sagt sie. Und es sei nicht das Einzige, was passieren könnte. Sie kennt einige, denen die Geheimpolizei das Leben zur Hölle gemacht hat: Kündigung, soziale Ächtung, Hausarrest, Blut toter Tauben an der Haustür.

In das Hotel Nacional wäre sie nicht reingekommen, wenn sie nicht in Begleitung einer Touristin wäre. Ku­ba­ne­r:in­nen seien nicht gern gesehen in den Hotels. Zum einen soll der Kontakt zum kapitalistischen Ausland vermieden werden, zum anderen aber auch, weil die Einheimischen kein Geld einbringen. Maria hat diesen Ort für das Gespräch vorgeschlagen, weil die Tische weit voneinander entfernt stehen, weil die touristische Umgebung ihr Sicherheit bietet, weil niemand von der Straße mithören kann.

Sie arbeitet seit einigen Jahren in der Organisation eines staatlichen Kulturfestivals, fühlt sich aber vor allem in der kubanischen Indie-Filmbranche zu Hause. Die Kinoszene, „das war hier schon immer eine der rebellischeren Gruppen.“ Rund 22 Dollar monatlich verdient sie mit ihrer Festanstellung, ungefähr das Standardgehalt eines Kubaners. „Das reicht lange nicht aus“, sagt Maria. „Immerhin arbeite ich in einem Bereich, der mir gefällt. Aber ich muss noch verschiedene Nebenjobs machen, um überhaupt über die Runden zu kommen.“

Maria gehört zur oberen Mittelschicht. Aufgewachsen ist sie in einer der besseren Viertel Havannas, wo sie heute immer noch bei ihren Eltern lebt. „Die Menschen, die zum Beispiel in Alt-Havanna leben, die haben ein viel schwereres Leben als ich“, sagt sie. Alt-Havanna ist der touristische Hotspot der Stadt, da stehen die Luxushotels und in den Seitengassen trifft man auf Müllberge und größte Armut, der Großteil der Be­woh­ne­r:in­nen sind Afrokubaner:innen.

Maria fühlt sich hingegen „privilegiert“. Ihre Familie bekomme große Unterstützung aus Miami. Dort leben seit einigen Jahren ihre Großmutter sowie Onkels, Tanten, Cousins. Etwa ein Drittel der kubanischen Haushalte erhält Geldüberweisungen, sogenannte remesas, aus den USA. Rund 3,6 Milliarden Dollar überweisen die Exilkubaner laut Schätzungen der Havanna Consulting Group aus dem Jahr 2019 jährlich in ihr Heimatland, bis 2020 die zweitgrößte Devisenquelle Kubas. „Aber nicht jeder hat eine Familie in Miami“, sagt Maria. „Ich würde sagen, ein großer Prozentsatz des Landes überlebt diese Krise, nein, Superkrise nur dank Familie im Ausland.“

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Un­sichtbare Leichen

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Februar 2023

Todesfälle von wohnungslosen Menschen

File:Armut Bettler Obdachlos (12269249596).jpg

Von Carolina Schwarz

Wohnungslose Menschen werden immer wieder Opfer von tödlicher Gewalt. Eine taz-Recherche rekonstruiert die bestätigten Todesfälle von 2022.

Mindestens 16 wohnungslose Menschen wurden 2022 in Deutschland getötet. Grundlage für die Recherchen der taz waren Daten der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. Jedes Jahr sammelt der Verein in einer systematischen Medienanalyse die Gewaltfälle gegen wohnungslose Menschen in Deutschland. Dabei werden alle Fälle aufgelistet, über die in regionalen und überregionalen Medien berichtet wird.

Wohnungslose Menschen werden bespuckt und beschimpft, ihre Schlafplätze werden angezündet, sie werden Opfer von Raubüberfällen, Farbattacken oder Messerattacken. Viele der Taten bleiben straffrei. Die BAG Wohnungslosenhilfe e. V. kommt auf eine dreistellige Zahl an Gewaltvorfällen für das Jahr 2022. Klar ist, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist, weil über viele Gewalttaten nicht berichtet wird.

Die tödlichen Gewalttaten der Dokumentation hat die taz recherchiert und mit zuständigen Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften gesprochen. Nicht immer gab es in der Recherche eindeutige Ergebnisse.

Wie im Fall eines 64-jährigen obdachlosen Mannes in Berlin. Dieser sollte im September von Polizisten aus einem Heim in ein Krankenhaus verlegt werden, dabei brach er zusammen, fiel ins Koma und starb kurz darauf im Krankenhaus. Der Fall wurde im Kommissariat für Beamtendelikte im Landeskriminalamt untersucht. Der Opferverband ReachOut wirft der Polizei brutale Gewalt im Umgang mit dem Schwarzen Mann vor und beruft sich dabei auf Zeugenaussagen.

Die Polizeipräsidentin Barbara Slowik sagte damals, der Mann sei „unerwartet kollabiert“. Auf Anfrage der taz sagt die Berliner Staatsanwaltschaft heute, dass eine Leichenschau „keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden“ ergeben habe. Die Todesursache bleibt ungeklärt. Der Fall taucht deswegen nicht in der Dokumentation der taz auf.

Die dokumentierten Fälle zeigen tödliche Gewalt in Obdachlosenunterkünften, bei Polizeieinsätzen oder auf der Straße. Die Tä­te­r*in­nen sind selbst wohnungslose Menschen, Verwandte oder bislang Unbekannte. Sie zeigen, dass das Leben von obdachlosen Menschen nicht sicher ist.

Nicht nur Gewalt durch Behörden und andere Menschen sind eine Gefahr für sie. Hitze, Kälte, Drogen oder unbehandelte Krankheiten und eine Politik, die sie nicht davor schützt, können zum Tod führen. Wie viele wohnungslose Menschen 2022 durch diese Umstände gestorben sind, ist nicht bekannt.

1. Frankfurt am Main: Am 22. Januar wird auf einem Brachgelände am Frankfurter Ostbahnhof in einem Wohnwagen die Leiche einer 40-jährigen Frau gefunden. Ermittlungen der Polizei ergeben, dass sie vor der Tötung Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Der 38-jährige Tatverdächtige ist ebenfalls wohnungslos und sitzt seit einem Jahr in Untersuchungshaft. Einen Prozesstermin hat das Gericht bislang nicht anberaumt.

2. Frankfurt am Main: Am 12. März stirbt ein 45-jähriger Mann an schwerwiegenden Schädelverletzungen. Seine Leiche wird gut eine Woche nach der Tötung in einem Barackenlager gefunden. Ein 44-jähriger ebenfalls wohnungsloser Mann soll ihn im Streit mit einem oder mehreren Gegenständen geschlagen haben. Er konnte im Dezember festgenommen werden und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Die wegen des Verdachts des Totschlags geführten Ermittlungen dauern an.

3. Sigmaringen: Am 18. März tötet ein 60-jähriger Mann in einer Obdachlosenunterkunft einen 28-jährigen Mann mit einem Messer. Zuvor war es zum Streit zwischen den zwei Männern, die beide in der Unterkunft lebten, gekommen, es ging dabei auch um zu laute Musik. Gegen den Täter ist wegen Totschlags eine Gefängnisstrafe von zehn Jahren verhängt worden, er sitzt in Haft.

4. Neuss: Am 22. April wird in einem provisorischen Nachtlager die Leiche eines 31-jährigen mit zwei Stichwunden in der Brust gefunden. Tatverdächtig ist ein 18-Jähriger, der zuerst als Zeuge auftrat und einen anderen Mann belastete. Im Zuge der Ermittlungen verdichtete sich die Beweislage gegen den jungen Mann. Es wurde ein Haftbefehl gegen den ebenfalls Wohnungslosen erwirkt, das Motiv ist noch Gegenstand der laufenden Ermittlungen.

WerHatDerGibt demonstration Berlin 2020-09-19 28.jpg

5. Düsseldorf: Am 26. April wird im Parkhaus am Flughafen Düsseldorf die Leiche eines obdachlosen Menschen entdeckt. Die Obduktion legt eine Gewalttat nahe. Ein Tatverdächtiger konnte bislang nicht ermittelt werden, das Motiv ist unklar. Die Ermittlungen dauern an.

6. Berlin: Ein 39-jähriger Mann stirbt am 27. April nach einem Polizeieinsatz in Treptow-Köpenick. Bei einer „Durchsetzung eines Aufenthaltsverbots“ in einem Hausdurchgang eine Woche zuvor fixierten Beamte den Mann am Boden und setzten Pfefferspray ein, nachdem dieser sich gewehrt hatte. Das Verfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung wurde eingestellt, die Ermittlungen kamen zum Schluss, dass der Einsatz des Pfeffersprays wegen einer „Notwehrlage“ gerechtfertigt war.

7. + 8. Offenburg: Am 31. Juli soll eine 44-jährige Frau in einem städtischen Obdachlosenheim ihre Schwester und ihre Tochter mit verschiedenen Küchenutensilien getötet haben. Dem war ein Streit vorausgegangen. Die Staatsanwaltschaft hat wegen des Vorwurfs des zweifachen Totschlags Anklage vor dem Landgericht Offenburg erhoben.

9. Frankfurt am Main: Am 2. August soll ein 23-jähriger Mann bei einem Polizeieinsatz im Frankfurter Bahnhofsviertel getötet worden sein. Der Mann soll mit einem Messer mehrfach auf einen Diensthund eingestochen haben. Er verstarb nach einem Schuss noch am Tatort. Die Ermittlungen gegen den Polizeibeamten wegen des Verdachts des Totschlags geführten Ermittlungen dauern noch an.

10. Köln: Am 3. August stirbt ein 48-jähriger Mann bei einem Polizeieinsatz im Zuge einer Zwangsräumung. Die Ermittlungen wurden eingestellt, „da der Schusswaffeneinsatz der Polizeibeamten durch das Notwehrrecht gerechtfertigt war“. Der Mann war mit einem Messer bewaffnet.

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Unten        —       Demonstration unter dem Motto „Wer hat der gibt!“ für die Umverteilung von Reichtum am 19. September 2020 in Berlin.

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Tage für den Frieden

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Februar 2023

Aktionstage für den Frieden 24./25. Februar 2023 im Saarland

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Waltraud Andruet

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine jährt sich am 24. Februar 2023 zum ersten Mal. Aus diesem Anlass werden an einer Vielzahl von Orten Veranstaltungen und Kundgebungen gegen den Krieg, für den Frieden, für Verhandlungen stattfinden, an denen viele teilnehmen sollten.

Aktionstage für den Frieden –  im Saarland am 24. und 25. Februar

Die Saarländische Friedensbewegung ruft am 24. und 25. Februar  anlässlich des Jahrestages des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zu Aktionen auf.

Anlässlich des Jahrestages des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2023 ruft die Saarländische Friedensbewegung zu verschiedenen Aktionen auf.

„Wir schließen uns dem bundesweiten Aktionsbündnis STOPPT DAS TÖTEN IN DER UKRAINE an“ ,so Waltraud Andruet Sprecherin vom FriedensNetz Saar und von pax christi Saar.

Weitere Infos unter: www.stoppt-das-toeten.de

STOPPT DAS TÖTEN IN DER UKRAINE! Für Waffenstillstand und Verhandlungen!

Geplante Aktionen zum Jahrestag des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Saarland.

Rathaus Saarbruecken.jpg

Freitag,    24.02.2023 um 15.00 Uhr Mahnwache vom FriedensNetz Saar mit Musik und Redebeiträgen in Saarbrücken, Gustaf -Regler-Platz (am Rathaus)

Freitag,    24.02.2023 um 16.00 Uhr Mahnwache vom Neunkircher Forum für Freiheit und Demokratie und Antifaschismus in Neunkirchen auf dem Stumm-Platz

Freitag,    24.02.2023 um 19.00 Uhr Ev. Kirche Saarlouis „Friedensgebet: Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“ Ökumenischer Arbeitskreis Saarlouis

Samstag, 25.02.2023 von 10.30 Uhr bis 15.00 Uhr Mahnwache und Infostand von Attac Untere Saar und Aufstehen Saar, Französische- Straße in Saarlouis unter dem Pavillon

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Unten      —     Rathaus Saarbrücken mit einem Tilt-Shift-Objektiv von der Johanneskirche aus fotografiert.

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Stadtgespräch Berlin -Kotti

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Februar 2023

Polizeiwache in Berlin-Kreuzberg: Armut wegknüppeln

Von Caspar Shaller

Im Herzen von Berlin-Kreuzberg eröffnet eine umstrittene Polizeiwache. Soll sie etwa Probleme wie Armut, Wohnungsnot und Heroinsucht lösen?

Nun ist sie also da: Die umstrittene Polizeiwache am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg wurde am Mittwoch eröffnet. Über der Adalbertstraße schwebt die neue Wache, die bereits als Bullen-Balken verspottet wird. Satte 3,24 Millionen Euro hat dieser Bullenbalken gekostet. Dort sollen drei Polizisten in Schichten rund um die Uhr Dienst schieben und Ansprechpartner für Probleme in der Umgebung sein. Noch mehr Polizisten als bisher sind im Kiez auf Streife. Was soll das bringen?

Das Prestigeprojekt der Innensenatorin Iris Spranger (SPD) soll für mehr Sicherheit an diesem angeblich „kriminalitätsbelasteten Ort“ sorgen. Manche Anwohner und Vertreter der Geschäftswelt erhoffen sich Verbesserungen. Aber kann Law and Order wirklich die Lösung sein?

Viele im traditionell alternativen Kreuzberg kritisieren die Wache scharf. In einem offenen Brief an den Senat sprachen sich verschiedene An­woh­ne­r:in­nen­in­itia­ti­ven und soziale Träger wie der Quartierrat Zentrum Kreuzberg, der Mieterrat des Gebäudekomplexes und örtliche Gewerbetreibende gegen die Wache aus. Und kritisierten eine Mentalität des Durchregierens. Am Mittwoch demonstrierten etwa 200 Menschen gegen die verstärkte Polizeipräsenz, die gerade an dem Tag heftig war: 350 Beamte waren vor Ort, um die Eröffnung zu sichern.

Die Wache wirkt wie reine Symbolpolitik, ohne konkreten Nutzen. Sie erinnert an die Wache im Leipziger Viertel Connewitz, noch so ein Stadtteil, den nationale Medien gern zum Problemkiez stilisieren. Kriminalität gibt’s dort kaum – aber viele Linke. Um den harten Hund zu markieren, setzte die Politik dem Viertel eine Wache rein. Eine unnötige Aktion, allein dazu gedacht, Schlagzeilen zu generieren.

Selbst Beamte wollen sie nicht

Auch die Wache am Kotti wird wenig Konkretes verändern – außer dass Iris Spranger sich den vor Angst schlotternden Außenbezirken als eiserne Kümmerin präsentieren kann. Das Sicherheitsgefühl stärkt man jedoch nicht, in dem man ständig von angeblichen Gefahren und überall lauernden Kriminellen spricht. Selbst innerhalb der Polizei stößt Sprangers Projekt auf wenig Gegenliebe.

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Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei Berlin sagte im rbb am Mittwoch, er kenne keinen bei der Berliner Polizei, der da eine Wache wollte. Man fand dementsprechend nur schwer Personal für die Wache. Es hat sich offenbar nur ein einziger Beamter freiwillig gemeldet, in der Wache zu arbeiten. Peinlich für ein Prestigeprojekt.

„Damit kriegen wir nicht mehr Polizei auf die Straße, sondern eher weg von der Straße“, begründet Jendro seine Kritik. Doch ob mehr Beamte auf der Straße tatsächlich das Mittel gegen die am Kotti sichtbaren sozialen Verwerfungen sind, sei dahingestellt.

Polizei gegen Vermüllung?

„Es gibt hier viele Probleme. Meist sind sie jedoch nicht polizeilicher Art, sondern soziale Probleme, die durch soziale Organisationen gelöst werden müssen und nicht durch die Polizei. Davon gibt es jedoch zu wenige“, sagte der einsichtige Kiez-Polizist Norbert Sommerfeld vergangenen Sommer in der taz. Die heiße Frage ist: Lassen sich soziale Probleme wie Armut durch die Polizei lösen? Die Wache soll sogar gegen „Vermüllung“ helfen. Wie genau, bleibt unklar.

Droht die Verhaftung, wenn man die Tüte von Burgermeister fallen lässt? Wird man niedergeknüppelt, wenn man seine Cola-Dose in die Ecke wirft? Es scheint, als hoffe der Senat, dass sich Passanten vom Bullen-Balken so bedroht fühlen, dass sie sich besser verhalten. Sollte Innensenatorin Spranger Foucaults Gleichnis vom Panoptikon gelesen haben, hat sie es wohl als Bedienungsanleitung missverstanden.

Am Kotti kristallisieren sich Probleme der ganzen Stadt: Wohnungsnot, Armut, Verkehr, Dreck. Doch der Senat scheitert überall daran, diese Probleme zu lösen, nicht nur in Kreuzberg. Er weigert sich bisher, eine wirkungsvolle und demokratisch abgesicherte Maßnahme anzugehen, Mieten in der Stadt zu senken – nämlich große Wohnungskonzerne zu enteignen.

Auch beim Neubau kommt er nicht zu Potte. Die Unterbringung von Obdachlosen macht zwar Fortschritte, aber da geht noch deutlich mehr, wie Helsinki zeigt, wo Obdachlosigkeit komplett verschwunden ist, seit man Betroffenen unkompliziert und ohne Bedingungen einen Wohnort verschafft.

Putzen würde auch helfen

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Die stille Fachkräftereserve

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Februar 2023

In Deutschland fehlen Arbeitskräfte. Viele. 

Ist das Land wieder dort, wo sich Doktoren, Professoren lieber in der Politik tummeln, anstatt Verantwortung für ihre Wähler-innen zu übernehmen?

Ein Debattenbeitrag von Maike Rademaker

 Mit familienfreundlichen Strukturen ließen sich Hunderttausende Frauen aus der Teilzeitfalle holen. Wo bleibt die Pflicht für Betriebskindergärten für Bürohaus und Industriepark?

Die ersten Betriebe schließen temporär, wie Bäckereien und Restaurants. Lieferungen dauern länger, Verwaltungen kommen nicht nach, Investitionen werden überdacht – überall fehlen Mitarbeitende. Von Monat zu Monat schwellen die Klagen der Unternehmen an: Wir brauchen Fachkräfte, Arbeitskräfte. Bald. Viele. Denn das ist erst der Anfang der demografischen Entwicklung.

Gut, dass es rund 840.000 Arbeitskräfte gibt, die diese Lücken füllen können. Und das nicht nur in den Metropolen, sondern überall. Sie sind qualifiziert, motiviert und sprechen meist sehr gut Deutsch. Es sind: Frauen. Wenn alle Frauen mit Kindern unter sechs Jahren so viel arbeiten könnten, wie sie wollten, gäbe es 840.000 Arbeitskräfte mehr, zitierte Bundesfamilienministerin Lisa Paus unlängst eine Umfrage. Und es dürften weit mehr sein: Jede zweite Frau, insgesamt neun Millionen, arbeitet in Deutschland Teilzeit; Millionen von ihnen in Mini-midi-irgendwas-Jobs. Ein wahrer Schatz für die Wirtschaft. Und einer, den man heben könnte, wie die Fachkräftestrategie der Bundesregierung erkennt: Man wolle steuerliche Anreize zur Teilzeitbeschäftigung senken, sich die Minijobs anschauen und für eine bessere Kinderbetreuung sorgen.

Aber sie setzt es nicht um. Seit Jahren nicht. Frauen sind hier keine stille Reserve für Fachkräfte, sondern für Kinderbetreuung, Pflege, Haushalt. Wie beim Ehegattensplitting. Die in Europa fast einzigartige (nur Luxemburg und Polen leisten sich ähnliche Modelle) systematische Benachteiligung des schlechter verdienenden Eheteils, ergo Frauen, wird seit Jahrzehnten kritisiert. Schweden hat sie schon 1970 abgeschafft.

Und Deutschland? Bleibt dabei. „Mehr Fairness“ bei diesem Steuerverfahren, wie es im Koalitionsvertrag heißt, bedeutet schön weiter „nicht ganz fair“. Sogar bewusst verschlimmert hat die Ampel die Minijobs. Statt sie – auch das ein europäisches Unikat – endlich abzuschaffen oder zumindest auf Rent­ne­r*in­nen und Studierende zu beschränken, weitet sie den Anreiz für Minijobs aus.

Obwohl bekannt ist, dass damit Hunderttausende Vollzeitjobs zerstückelt wurden, auf Kosten der Sozialversicherung. Obwohl die Jobs nachweislich nicht in bessere Stellen führen. Obwohl bekannt ist, dass Minijobs und ähnliche Teilzeitmodelle für Millionen Frauen die vorprogrammierte Altersarmut sind. Die Augen fest verschlossen, wurde mit dem Mindestlohn der Minijob auf 520 Euro monatlich ausgeweitet. Und parallel der Midijob für Arbeitgeber ein wenig teurer gemacht – noch ein Anreiz für diese, Minijobs anzubieten.

ist freie Journalistin für Text und Audio, mit Schwerpunkt Wald, Umwelt und Arbeitsmarkt. Sie war Redakteurin bei der taz, der „Financial Times Deutschland“ und Pressesprecherin des DGB.

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Die Tische für die „Schleimis“ waren in diesem Land immert sehr reichlich gedeckt!

Ja, viele Frauen wollen Teilzeit arbeiten. Aber dafür gibt es ein Teilzeitgesetz. Das reicht in anderen Ländern auch. Bleibt die dritte Baustelle: Kinderbetreuung. Während jede Krise in der Automobilbranche immer neue politische Gipfel produziert, reihen sich bei der Kinderbetreuung die Schlagzeilen stumpf und gipfelfrei aneinander: Es fehlen 384.000 Kita-Plätze. Es fehlen 100.000 Betreuerinnen. Es fehlt die Verwaltungsvereinbarung, damit 3,5 Milliarden Euro für die Ganztagsbetreuung abgerufen werden können. Ja, es wird gebaut, mit Milliarden. Aber es reicht einfach nicht. Beim Immobilienbau gilt die Stellplatzverordnung für Parkplätze – wo bleibt die Pflicht für Betriebskindergärten für Bürohaus und Industriepark?

Aber nicht nur die Politik handelt nicht. Unternehmen und Gewerkschaften sind genauso in der Verantwortung: Wer als Arbeitgeber glaubt, eine Stellenanzeige mit Sternchen und m/w/d-Hinweis reicht, um Frauen anzusprechen, irrt. Pünktlicher Dienstschluss, planbare Schichten, Homeoffice-Regelungen, ÖPNV-Erreichbarkeit und, ja, Betriebskitas können da vermutlich mehr bewirken als ein Startbonus und ein Dienstwagen. Und in den Tarifrunden wird zwar eifrig allerlei für Ältere und Azubis gefordert – aber selten für Frauen. Auch kein gesellschaftliches Problem ist offenbar, dass 2020 insgesamt 1,7 Milliarden Überstunden im Jahr geleistet wurden, Corona hin oder her, und davon die Hälfte unbezahlt. Zumindest die unbezahlten Überstunden wären bei der Kinderbetreuung besser investiert.

Also besser eine Politik für Frauen als Einwanderung von Fachkräften? Nein. Ohne Einwanderung ist die demografische Katastrophe, auf die wir zurasen, nicht zu lösen. Es geht ebenso wenig darum, Frauen in Vollzeitjobs zu zwingen. Es geht darum, dass insbesondere Mütter überhaupt die Wahl haben zu entscheiden, ob und wie viel sie arbeiten und wie viel Zeit sie mit ihrer Familie verbringen. Denn, Emanzipation hin oder her, sie betreuen die Kinder. Sie sind die Alleinerziehenden. Und sie sind Fachkräfte.

Quielle      :      TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Pressetermin nach der Sendung „Hart aber Fair“ am 23. September 2019. Thema der Sendung: „Neue Nase, neues Leben – wie gefährlich ist der Boom bei Schönheits-Operationen?“ Foto: Prof. Dr. Karl Lauterbach, SPD, Arzt, Gesundheitsexperte; stellv. Fraktionsvorsitzender

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Afrika und der Papst

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Februar 2023

Bei Laune halten ist zu wenig

Vom Himmel hoch kommich nicht her

Ein Debattenbeitrag von Aram Ziai

Es ist eine höchst fragwürdige und interessengeleitete Annahme: Die Armen müssen nur in die moderne Weltwirtschaft integriert werden, dann wird alles gut. Wenn grüner Wasserstoff nach Europa importiert wird, dient dies primär nicht der Armutsbekämpfung im Süden.

Hände weg von Afrika? Den Postkolonialismus überwinden!“, hieß es kürzlich in der taz. Die Kritik bezog sich auf den Appell des Papstes, die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents zu überwinden. Hinter dem Appell verstecke sich eine „paternalistische Attitüde“ und eine „kolonialistische Perzeption Afrikas als Opfer und Rohstofflieferant“. Stattdessen verweist der Artikel auf das „gigantische Entwicklungspotenzial“ Afrikas und fordert eine partnerschaftliche Agrarstrategie Europas („Hand in Hand in Afrika“), gerade auch angesichts dessen, dass China seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss „skrupellos“ ausbaue. Ziel sei eine „nachhaltige Entwicklung“, mit der Afrika „der Sprung in die moderne, postkarbonisierte Weltwirtschaft gelingt“.

So weit, so plausibel, möchte man meinen. Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch eine Reihe von Lücken und Ungereimtheiten. So mag es erstens vielleicht abgedroschen sein, aber Afrika ist tatsächlich seit dem Kolonialismus nicht aus der Rolle als Rohstofflieferant herausgekommen. Unter anderem aufgrund der Zolleskalation auch der europäischen Länder, die für verarbeitete Produkte meist deutlich höhere Zölle verlangen, und aufgrund der Investitionsabkommen, die es Regierungen verbieten, auf wertschöpfender Produktion im Inland zu bestehen. Laut UN machen für 45 der 54 Länder Afrikas Rohstoffe über 60 Prozent der Exporte aus. Opfer ist Afrika durchaus ebenfalls, etwa im Hinblick auf die hierzulande im Überfluss gehorteten Covid-19-Impfstoffe, deren Patente durch das Beharren der EU und vor allem Deutschlands die ersten Jahre nicht freigegeben wurden, zugunsten der Gewinne der öffentlich geförderten Pharmaunternehmen.

Oder im Hinblick auf die Finanztransfers vom Süden in den Norden: Laut dem European Network on Debt and Development fließen durch Schuldendienst, Gewinnrückführung multina­tio­naler Unternehmen, Steuerflucht und irreguläre Überweisungen (mutmaßlich Gelder aus Kriminalität und Korruption) etwa 1000 Milliarden. US-Dollar jährlich von den armen in die reichen Länder – netto, also nach Abzug von ausländischen Direktinvestitionen, offizieller Entwicklungshilfe und Rücküberweisungen von Migrant:innen. Der Schuldenstand der Länder des Südens hat mittlerweile die Höchstwerte der Schuldenkrise der 1980er Jahre erreicht, für die Länder mit mittleren und niedrigem Einkommen beträgt er im Schnitt 200 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Zum Vergleich: Die BRD hat 1953, zu Beginn des Wirtschaftswunders, einen umfangreichen Schulden­erlass bekommen, weil ihr Schuldenstand 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betrug. Einige Schuldner sind halt gleicher als andere. Was zweitens die eingeforderte partnerschaftliche Agrarstrategie angeht, so gab und gibt es sie bereits, etwa in Form der German Food Partnership und des Africa Agriculture and Trade Investment Fund. Hier stehen jedoch – genau wie bei den ach so skrupellosen Chinesen – die Interessen eigener Großunternehmen wie Bayer Crop Science und BASF im Vordergrund. Auch in neueren Initiativen wird immer wieder die Erzählung bedient, dass man durchaus im Süden Geschäfte machen und gleichzeitig die Armut bekämpfen könnte, über Public-private-partnerships und Win-win-Situationen. Genau das wurde im ersten „Entwicklungsprogramm“ 1949 auch behauptet, mit dem Ziel, die unabhängig werdenden Länder des Südens vom Überlaufen ins kommunistische Lager abzuhalten und gleichzeitig den Zugriff auf die Rohstoffe und Märkte des Südens zu sichern. Damals wie heute ist es eine höchst fragwürdige und interessengeleitete Annahme: Die Armen müssen nur in die moderne Weltwirtschaft integriert werden, dann wird alles gut – als ob sie das nicht schon längst wären, aber halt meist als Verlierer im globalen Kapitalismus. Das Entwicklungsversprechen soll sie bei Laune halten.

Daran ändert auch – drittens – ein grüner Anstrich wenig, wie er in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen anklingt und ebenso in dem unter der Ampelregierung hierzulande forcierten Run auf die Gewinnung erneuerbarer Energien im Globalen Süden. Wenn grüner Wasserstoff in Megaprojekten des Südens nach Europa importiert wird, dient dies primär nicht der Armutsbekämpfung im Süden, sondern der Aufrechterhaltung einer imperialen Lebensweise der globalen Mittelklasse, die überwiegend immer noch im Norden angesiedelt ist. Einer Lebensweise, die auf billige Rohstoffe und billige Arbeit anderswo angewiesen und nicht verallgemeinerbar ist, also nur einer privilegierten Minderheit vorbehalten bleiben muss. Schon 1996 hat das (des Linksradikalismus unverdächtige) Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie darauf hingewiesen, dass, wenn wir in Deutschland nur unseren gerechten Anteil an den Ressourcen des Planeten nutzen wollen, unser Energieverbrauch um 80 bis 90 Prozent sinken muss. Bundeskanzler Scholz behauptet selbst 26 Jahre später unverdrossen, die Klimaziele seien nicht durch Verzicht zu erreichen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Quelle      :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben        —   El papa Francisco en el papamóvil durante la JMJ de 2013

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Welt der Hungernden

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Januar 2023

Mehr Umverteilung verhindert Extremismus

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Von       :     Felix Gnehm /   Forderungen nach einer Reduktion von Ungleichheit sind wissenschaftlich begründet, sagt der Direktor von Solidar Suisse.   — psi. Dies ist ein Gastkommentar von Felix Gnehm, Direktor von Solidar Suisse.

Extreme Ungleichheit bewegt die Gemüter. Nach der Veröffentlichung des neuen Oxfam Reports über die weltweit extreme Ungleichheit äusserte sich die NZZ im Kommentar «Oxfam: Die Beschäftigung mit den Reichen zeigt zunehmend obsessive Züge» zur wachsenden Ungleichheit und zur Idee der steuertechnischen Umverteilung, um weltweite Armut zu verringern. Nur liess sich die Zeitung als Quintessenz zur Aussage verleiten, Oxfams Beschäftigung nehme obsessive Züge an, anstatt sich dem Problem der wachsenden Ungleichheit und damit verbunden den Problemen in unserem Wirtschafts- und Steuersystem anzunehmen.

Ein kleiner Prozentsatz würde genügen

Die Wahrheit ist: Der jährlichen Finanzierungslücke der globalen Entwicklungsagenda 2030 von 2,5 Billionen US-Dollar steht ein globales Privatvermögen von 463 Billionen US-Dollar gegenüber. Es bräuchte also jährlich lediglich 0,005 Prozent des verfügbaren Privatvermögens, um weltweit allen Menschen Zugang zu sauberem Wasser, menschenwürdiger Arbeit, gesunder Ernährung, Bildung oder Gesundheit zu verschaffen. Dass sie stattdessen Social-Media-Plattformen kaufen, sich im Raketenwettfliegen betätigen oder im Pazifik dem Eskapismus frönen, sei dahingestellt. Wir sollten uns jedoch erstens fragen, welche Auswirkungen extreme Ungleichheit auf Gesellschaft und Wirtschaft hat, und zweitens, welchen Grad von Ungleichheit wir in unseren Gesellschaften wollen.

IWF: Steuerpolitik als wirksames Werkzeug

Zu den Auswirkungen stellte sogar Chinas Präsident Xi Jinping fest: «Das Problem der Einkommensungleichheit verschärft das Wohlstandsgefälle und führt zum Zusammenbruch der Mittelschicht, zu sozialer Spaltung und zu politischer Polarisierung, was den Populismus verschärft. China muss entschlossene Anstrengungen unternehmen, um eine Polarisierung zu verhindern und um soziale Harmonie und Stabilität zu verwirklichen.» Er muss es wissen, steht Chinas unbestrittenen Erfolgen mit höheren Durchschnittseinkommen dank Wirtschaftswachstum eine massive Verschärfung von wirtschaftlicher und soziopolitischer Ungleichheit gegenüber. So sehr China als Poster-Boy der Armutsreduktion gelobt wird, so ohnmächtig steht der neue ökonomische Superstar den jährlich über zehntausend öffentlichen Protesten der unzufriedenen Bevölkerung, den 99 Prozent, gegenüber.

Unsere Forderung nach einer Reduktion von Ungleichheit entspringt also weniger einer obsessiven Fixierung auf Superreiche als soliden politischen und wirtschaftswissenschaftlichen Handlungsempfehlungen. Die Weltbank hält fest, dass eine hohe und anhaltende Ungleichheit «nicht nur moralisch falsch, sondern auch ein Symptom für eine kaputte Gesellschaft ist». Sie führe zu verfestigter Armut, ersticktem Wachstum und sozialen Konflikten.

Folgerichtig rät der Internationale Währungsfonds (IWF), die Ungleichheit zu bekämpfen, und empfiehlt einen Mix aus politischen Instrumenten, die den Eintritt in den Arbeitsmarkt ermöglichen und faire und sozialverträgliche Arbeitsmarktbedingungen gewährleisten. Dies führe die notwendigen Korrekturen der Ungleichheiten durch Umverteilung herbei. Länder, die mehr für Bildung, Gesundheit und Sozialschutz ausgeben und ein stärker umverteilendes Steuersystem haben, sind im Durchschnitt erfolgreicher bei der Verringerung der Ungleichheit. Dabei hält der IWF die Steuerpolitik für das agilste und wirksamste Instrument zur Eindämmung von Ungleichheiten.

Die aktuelle Zunahme von Superreichtum und Ungleichheit kann bei weitem nicht als unproblematisch bezeichnet werden. Es verwundert daher nicht, dass sich die Positionen von so verschiedenen öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Entwicklungsagenturen wie Solidar Suisse, Oxfam, Weltbank, IWF, SECO und DEZA hier decken. Alle unterstützen das nachhaltige Entwicklungsziel Nummer 10 der UNO-Agenda 2030, nämlich «die Ungleichheit innerhalb von und zwischen Staaten zu verringern».

Ungleichheit fördert den Radikalismus

Karte des Anteils an Menschen, die chronischen Hunger erleiden (2021) – dunkelblau: <2,5 %, hellblau: 2,5–4,9 %, grün: 5–14,9 %, orange: 15–24,9 %, rot: 25–34,9 %, dunkelrot: >35 %, grau: keine Daten

Der anlässlich des WEF publizierte Oxfam-Report zeigt auf, dass wir seit der Covid-19-Pandemie sogar in die entgegengesetzte Richtung gehen und uns vom Soll-Zustand weit entfernen. Solidar Suisse hält es für ein grosses gesellschaftliches Problem, dass sich auch das Vermögen der 41 Schweizer Milliardär*innen seit Beginn der Pandemie bis November 2022 um 52 Prozent erhöht hat.

Wie wenig Steuern müsste man nun abschöpfen, um beispielsweise das Solidar-Schwerpunktland Burkina Faso aus der Krise zu führen. Der bitterarme Sahelstaat verfügt über jährliche Staatseinnahmen von höchstens drei Milliarden Schweizer Franken. Verzweifelt kämpft das Land gegen die Radikalisierung von jungen Menschen, die sich in der Folge zu lokalen Terrortrupps rekrutieren lassen, anstatt die Schulbank zu drücken.

Je mehr Menschen es gibt, die hungern, kein Wasser haben, es nicht vermögen, ihre Krankheiten zu behandeln und ihre Kinder zur Schule zu schicken, desto schlechter ist der Zustand einer Gesellschaft. Wenn nun in derselben Gesellschaft das Vermögen der Reichsten ständig zunimmt, wächst verständlicherweise auch die Unzufriedenheit. Dies ist gefährlich, denn sie bildet den Nährboden für politische Radikalisierung und Populismus. Auch hier: Wissenschaftliche Untersuchungen machen als Grund von Radikalisierung die soziopolitische und wirtschaftliche Ungleichheit aus. Extreme Ungleichheit ist also tatsächlich ein Problem. Störend ist nicht, dass wenige Menschen ganz viel besitzen, sondern, dass so viele Menschen so viel weniger besitzen als die wenigen Superreichen.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Unten        —        Karte des Anteils an Menschen, die chronischen Hunger erleiden (2021) – dunkelblau: <2,5 %, hellblau: 2,5–4,9 %, grün: 5–14,9 %, orange: 15–24,9 %, rot: 25–34,9 %, dunkelrot: >35 %, grau: keine Daten

Allice Hunter – Hunger Map 2021 | World Food Programme. Empty map: File:World map (Miller cylindrical projection, blank).svg

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Überfluss und Erschöpfung

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Januar 2023

Einstige Gesellschaftsentwürfe verhießen eine Zukunft von grenzenlosem Reichtum

Ein Schlagloch von Robert Misik

Die heutigen sind eine Spur deprimierender. Der Begriff des „Überflusses“ hatte lange einen positiven Klang, da er uns von der Geißel des Elends befreien würde.

Die Gesellschaftsentwürfe haben uns stets auch Schlagworte beschert mit einem großen Beiklang, mit Obertönen, die in uns etwas zum Schwingen bringen. Über den Begriff der „Freiheit“ wird ja gerade heftig diskutiert, einerseits, weil das Wort von jenen vor sich her getragen wird, die ungehemmten Egoismus ausleben wollen. Andererseits, weil aus eben diesem Grund proklamiert wurde, der Begriff werde zur nichtssagenden „Floskel des Jahres“. Im Grunde ist der „Freiheits“-Begriff seit je voller interessanter Ambiguitäten.

Die historischen Freiheitskämpfe richteten sich gegen absolutistische Herrschaft und proklamierten demokratische Freiheitsrechte, also politische Freiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, bis hin zu freien Wahlen. Es schwang aber auch sofort ein Pathos von Befreiung aus allen Zwängen mit, ein lebenskulturelles Laisser-faire, die Befreiung aus Konformismus und Konventionen, dieses ganze Zeug von Boheme über Hippies bis Punk. Nach den erfolgreichen Freiheitskämpfen hatte es die Freiheit in den Mühen der Ebene aber immer schwer, auch, weil sich gegen Kaiser und Autokraten schöner rebellieren lässt als gegen subjektlos prozessierende Strukturen wie den Neoliberalismus und seine Sachzwänge.

Es darf auch nicht ignoriert werden, dass sich in demokratischen Gesellschaften mit ihrem Mehrheitsprinzip die knifflige Frage zwischen individueller Freiheit und bindender Ordnung stellt, wie das der Staatsrechtler Hans Kelsen formulierte: Wenn in freiheitlichen Ordnungen mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip Beschlüsse gefasst werden, sind sie auch für die Minderheit und jedes Individuum bindend. Wir haben das Problem mit Minderheitenschutz, ein paar Sicherungen gegen eine „Tyrannei der Mehrheit“ irgendwie provisorisch gelöst. All das ist noch nicht das Ende vom Lied, da wir auch die „Bedingungen von Freiheit“ kennen und wissen, dass Mangel, Unsicherheit und Chancenarmut große Hemmnisse sind, die Freiheit zu verwirklichen, das eigene Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Diese Bedingungen der Freiheit für so viele Menschen als möglich zu garantieren, verlangt wiederum eine Begrenzung der Wirtschaftsfreiheit. Schlaue Köpfe grübeln seit mehr als einem Jahrhundert darüber, wie man das hinkriegt, ohne damit ein bürokratisches Kommandosystem zu etablieren, das Eigensinn und Kreativität der Einzelnen erst recht wieder gängelt. Zudem besteht ein Unterschied zwischen Akten der „Befreiung“ – etwa in Revolten und Rebellionen – und dem Status einer Ordnung der Freiheit. Ersteres ist packend, Letzteres dann schon fader, man lebt darin herum ohne viel Heldentum.

Wenn wir über die großen Worte und Parolen nachdenken, die bis heute unser Denken möblieren, dann wäre vielleicht ein Nächstes der Begriff des „Überflusses“. In den Utopien waren Vorstellungen vom potentiell grenzenlosen Reichtum seit jeher zentral, schon Mose versprach seinem murrenden Fußvolk, er werde es in ein Land führen, in dem „Milch und Honig“ fließe. Die Sozialisten und Kommunisten waren überzeugt, mit Produktivitätssteigerungen, Fortschritt und der Befreiung der Kreativität würde der Mangel endgültig besiegt, ein Leben im Überfluss möglich, da waren sie sich lustigerweise sogar mit den Kapitalisten einig. Der Begriff des „Überflusses“ hatte also lange einen rein positiven, pathetischen Klang, da er uns Menschen von der Geißel des Elends und seiner Zwänge befreien würde, bekam aber nach und nach auch negative Obertöne, man denke nur an den Begriff der „Überflussgesellschaft“ mit ihrer Warenflut, Verschwendung, ihren Milchseen und Fleischbergen, ihrer Entfremdung und ihren künstlich produzierten Bedürfnissen. Heute kommt der Begriff „Überfluss“ eher nur mehr in Textsorten vor, die einen traurigen Moll-Ton haben. Überfluss, gestern noch ein großes Versprechen, ist heute ein Krisensymptom.

Der Überfluss erschöpft die Strapazierfähigkeit des Planeten, heizt uns buchstäblich ein, auch die Ressourcen sind „erschöpft“. Die Gefräßigkeit des Wirtschaftssystems überfordert nicht nur die Natur, sondern auch uns Menschen, weshalb die Erschöpfungsdiskurse überall sprießen. Womöglich ist der Begriff der „Erschöpfung“ heute eine zentrale Vokabel für unsere Problem- und Zeitgefühle. Im Hamsterrad von Leben und Wirtschaftsleben, in das immer mehr Stress einzieht, beklagen auch die Individuen die Erschöpfung. Mutter Erde, aber auch Tom und Swetlana von nebenan, alle sind erschöpft. Eine ständige innere Unruhe macht sich breit, man beißt die Zähne zusammen, um zu funktionieren, obwohl alle schon irgendwie niedergedrückt sind. Man spurt, damit heute das Geld reinkommt, das morgen schon wieder rausfließt, für die gestiegenen Mieten, die Lebenshaltungskosten. Von der Hand in den Mund, Pausen sind nicht mehr vorgesehen. Von der „Dauererschöpfung“ schrieb der Soziologe Wolfgang Streeck schon vor zehn Jahren, Sighard Neckel sprach vom „gesellschaftlichen Leid der Erschöpfung“ in der Wettbewerbsgesellschaft. „Angst erschöpft“, bemerkte auch sein Kollege Heinz Bude.

Quelle         :           TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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„Avatar. The way of water“

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Januar 2023

Große amerikanische Philosophie der Gegenwart:

File:Estrena en català d'Avatar El sentit de l'aigua 1.jpg

Von Dr. Nikolaus Götz

Große amerikanische Philosophie der Gegenwart: „Der Schwanz ist zu klein!“ Eine Rezension des Filmes „Avatar. The way of water“

Auch „die Deutschen“ wissen seit März 2022, dass „wir“ in der Ukraine einen guten Krieg führen! Zu diesem großen, medial eingebläuten geostrategischen Denkansatz passt es, dass die Illusionsfabrik von Hollywood mit dem neustem Film von James Cameron nun den besseren, den richtigen amerikanischen Traum eines „Way of life“ in die deutschen Kinos gebracht hat: nämlich Avatar: The way of water (Teil 2) (1). Und wieder ’reiten’ in diesem Fortsetzungsfilm, wie im alten ’Wilden Westen’, die ’guten’, noch mit der unzerstörten Natur in Einklang lebenden, ’Indianer’ gegen die ’bösen Cowboys’ an, wobei dem biederen Kinogänger vorab schon klar sein dürfte, dass nach dem kommenden blutrünstigen ’Shoot down’ pünktlich um ’12 Uhr mittags’ (2) natürlich die ’Guten’ zum ’happy end’, dem glücklichen Filmende nämlich, gelangen und gewinnen werden. Und so greift das neuste Drehbuch des Oskar gekrönten Regisseurs Cameron auf die bewährten schwarz-weiß Vorlagen mit all jenen alten ’positiven’ Klichees zurück und passt die erneut präsentierten Planetenbewohner einer ’Letzten Generation’ der ’Neuerde’ Pandora der aktuellen 3D Realisierungstechnik an: Doch ohne Brille geht die Chose nicht!

Die Handlung des Films, an die Darstellungsvorlage von Avatar Teil 1 anknüpfend, springt nach einer Walt Disney-Micky Maus-zeichentrickgleichen bunten Präsentation des glücklich zufriedenen Lebens der Heldenfamilie des Filmes auf dem Planeten Pandora mitten in die ‚Action’. Der urplötzlich und supernovahell am Sternenhimmel von Pandora aufleuchtende näherkommende ’Stern’ (von Bethlehem?) verkündet das Ende des ’happy family’-Daseins und den Anfang einer erneuten kriegerischen Invasion. Die Lichtreflektion im Weltall signalisierte die Rückkehr der Spezies Mensch nach Pandora (3), die nämlich diesen noch ökologisch intakten Planeten als neuen Wohnraum dringend benötigt. Die sogenannten ’Stern-Menschen’ haben nämlich inzwischen ihren Planeten, die sogenannte ’Erde’, einen einst blauschimmernden, wundervollen Wasser-Festplaneten durch ihre hirnlose militärisch-kapitalistische Zivilisation restlos zerstört, was so der zuhörende Kinogänger nur schnell in einem Nebensatz erfährt. Wie in einem alles vernichtenden Vulkanausbruch erfolgt der dargestellte erste Landgang der so präsentierten „kriegsgeilen Menschen“ auf Pandora, deren Kriegsphilosophie durch einen Erdengeneral in die Gehirne der Zuschauer implantiert wird: „Ein Marine kann keine Niederlage erleiden. Man kann ihn töten, doch er wird in der Hölle neu aufgestellt.“ (4) Und so erfolgt umgehend der Neubau der ersten technologisch fortschrittlichen Kolonie auf Pandora, auf einem Gelände ähnlich vergleichbar dem durch einen Feuersturm gerodeten Waldgebiet am Amazonas. Zeitgleich starten die verantwortlichen Conquistatores in spanischer Vernichtungsmanier auch die Suche nach dem damaligen Menschenkrieger ’Jake’ (5), der im Avatar Teil 1 die Planeteneroberung von Pandora durch seinen Seitenwechsel verhindert hatte.

Der Filmheld ’Jake’, inzwischen Vater von 4 Kindern, zieht es aus Raison jedoch zunächst vor zu flüchten und sich in den Weiten des südseeartigen Planeten zu verstecken. Typisch, dass seine Söhne, noch Jungs in der Adoleszenzphase, die Entscheidung ihres anführenden Vaters für das Familienteam nicht akzeptieren wollen. Und das auch, weil ihnen, nach der Aufnahme im neuen Gastfamilienclan der Meeresavatars, ehrverletzend mitgeteilt wird: „Der Schwanz ist zu klein!“ -deutsche Version-, um damit im Wasser ausreichend kräftig steuern zu können. Diese konkrete Kritik an ihrem Körperbau empfinden die betroffenen ’Dschungeljungs’ als Beleidigung! Doch die beiden ’Boys’ beweisen ihre Tugenden auch im Meer und können sich so gegen die rivalisierenden jugendlichen Eingeborenen der Gastfamilie behaupten. In wundervollen Filmsequenzen wird die Wasserwelt des Planeten Pandora, der irdischen Tiefsee nachempfunden, mit ihren Geschöpfen sichtbar und „der Weg des Wassers“ als spirituell-philosophische Lebensweise beschworen: „Das Wasser ist der Anfang und das Ende“ (Deutsche Kurzversion), womit der zusätzlich gewählte Untertitel des zweiten Teiles des Science-fiction Filmes Avatar eine Erklärung findet.

Mit der Entdeckung des Fluchtortes von Jake beginnt der obligatorische ’Shoot down’ oder der befreiende „Tag der Abrechnung“ des 193 Minuten langen Filmes. Dabei werden die zahlenmäßig weit überlegnen menschlichen Invasoren nur so weggeballert, wobei ein einfacher Pfeilschuss der sich wehrenden Ureinwohner die dickwandigen Panzerglasscheiben der Angreifer durchbricht. Wau! Auch das überlegene Herumgeballere von großkalibrigen Angriffswaffen der Menschen bringt fast keinen Treffer, weswegen natürlich die Ureinwohner den Endsieg erringen. Bedauerlicher Weise kommt in diesem Endkampf einer der Söhne von Jake ums Leben. Erneut fließt jetzt die steinzeitphilosophische Erkenntnis in die matialisch-brutale Szenerie: Jake erkennt und bekennt in dieser Situation, dass es sich lohnen würde, für den Erhalt seiner Familie zu kämpfen.

Ja, der Film Avatar passt wie „die Faust aufs Auge“ als Heils-Botschaft zum aktuell laufenden Krieg in der Ukraine. Der ’Mensch’ braucht halt Durchhalteparolen und Hollywood liefert prompt. Dass die im Film angezeigten ’ewigen’ menschlichen Konflikte zur Erziehung Heranwachsender, zur Ökologie wie zur kapitalistischen Ökonomie letztendlich nicht gelöst, sondern komplett ausgeblendet werden, ist wohl volle Absicht der ’absolut unpolitischen’ Filmemacher. Die vordergründige individuelle Handlungsebene verschluckt komplett die hintergründige Filmbotschaft, was die Lobeshymnen der stets angepassten Fake-Schreiberlinge der vielen Kino-News nicht reduziert, wie überall zu lesen ist. So folgt mit dem zu konstatierendem finanziellem Filmerfolg schon ein weiterer Teil des ’Planeten der Affenmenschen’ Avatar Teil 3 (6). Darin könnte beispielsweise der inzwischen zum Mann gereifte ’Spider’ und Sohn des geretteten letzten ’Stellar Soldier’ eine neue versöhnende Rolle als Mediator zwischen den friedlichen Ureinwohnern mit ihren Walen und der Menschheit spielen.

John Lennon, der “Träumer” für eine kriegsfreie Welt meinte so schon 1971: „Imagine there’s no countries It isn’t hard to do Nothing to kill or die for And no religion, too…” Für den „Kampf um Pandora“ wäre im Zitat des intellektuellen Beatles nur das Wort „Land“ gegen den „Planeten“ auszutauschen. Doch die Realität der ewigen für ihre Lügen bezahlten oder einfach unwissenden Schreiberlinge dominiert im Geschäft: Und so geht auch bei Cameron der in die Weiten des Weltalls verlagerte „Krieg“ weiter, denn „Krieg ist ja so schön!, besonders wenn es, wie im Film gezeigt, um ’action’ pur geht.

Anmerkungen:

1 Nach dem Film ’Avatar – Aufbruch nach Pandora aus dem Jahr 2009 nun ein zweiter Teil: Avatar: The way of water (engl.): dt.: Avatar: Der Weg des Wassers.

2 ’12 Uhr Mittags’ (High noon) ist ein bekannter Western aus dem Jahr 1952. Der ’Höchststand der Sonne’ kündigt in diesem Film die ’Abrechnung’ an. Auch im aktuellen Film Avatar 2 signalisiert eine ’Sonnenfinsternis’ den kommenden Filmhöhepunkt.

3 Der Name ’Pandora’ greift auf die griechische Mythologie zurück. Dort wird mit dem Namen ’Pandora’ eine „schöne Frau“ verstanden. Diese jedoch hat von Zeus als Geschenk eine Dose erhalten, die sogenannte „Büchse der Pandora“. Durch die Öffnung dieser Dose entweichen alle Untugenden und Laster der Menschen, weswegen die Erde nun zu einem trostlosen Ort verkommt (Siehe auch: WIKIPEDIA.org/wiki/avatar_(internet)). Diese Drohung ergreift im Film nun auch auf die ’Neuerde’ über, wenngleich die Filmverantwortlichen ihre Namensgebung des Planeten ’Neuerde’ nicht thematisieren.

4 „A marine can’t be defeated. You can kill us, but we’ll just regroup in hell.” „Ein Marine kann keine Niederlage erleiden. Man kann uns töten, doch wir werden in der Hölle neu aufgestellt.“

5 „Jake“ englisch-amerikanischer Name zurückzuführen zu ’Jack’ oder John im Französischen ’Jacques’, was in der deutschen Sprache einfach ’Jakob’ bedeuten würde. Damit ist aber klar, dass der Name ’Jakob’ oder ’Israel’ auf die Schilderungen der Bibel zurückzuführen ist und damit erneut auf die Bedeutung „Stammvater“ verweist. Diese Konnotation wird von den Filmverantwortlichen vielleicht auch intendiert, da der Erdenmensch ’Jake’ als Avatar mit seiner neuen Gefährtin vom Planeten Pandora, zum ’Stammvater’ einer neuen Lebensform (anatomisch beispielsweise mit „5 Fingern“ und einem „kleineren Schwanz“) wird.

6 Wie auf Internet schon publiziert, soll eine weitere Version von Avatar als Teil 3 um den 24. Dezember 2024 in die Kinos kommen (Siehe beispielsweise die Ankündigung auf www.kino.de

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Grafikquellen      :

Oben      —     Estrena especial de la versió en català d’Avatar: El sentit de l’aigua, als cinemes Cinesa Diagonal de Barcelona

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Unten      —       Estrena especial de la versió en català d’Avatar: El sentit de l’aigua, als cinemes Cinesa Diagonal de Barcelona

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Neuköllner Silvester Kids

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Januar 2023

Seit der Silvester-Randale haben Schuld­zu­wei­sun­gen Konjunktur.

Von Oskar Paul

 Berlin steht im Fokus. Aber wie schaut es tatsächlich in Neukölln aus, und was kann man dort besser machen?

Tevfik Ari ist wütend. Wütend auf die Jugend in Neukölln. Wütend wegen dem, was er an Silvester erlebt hat. Die Scheiben seines Imbisses sind auch zehn Tage später noch zersplittert, Klebeband kittet die Sprünge. Ari, klein, breite Schultern, Bart, fuchtelt mit den Händen beim Reden. „Die Kids hier sind richtig frech“, sagt er. Über diese „Kids“ in Neukölln redet gerade die halbe Republik.

Gemeinsam mit seinem Cousin betreibt Tevfik Ari einen Döner-Laden auf dem Platz vor dem Einkaufszentrum Wutzky-Center. Am 31. Dezember um halb neun Uhr abends schließt er die Rollläden. Er bleibt. Zusammen mit ein paar Freunden passt er auf seinen Imbiss auf, er hat schlechte Erfahrungen mit Silvester gemacht.

Gegen Mitternacht wird sein Laden mit Pyrotechnik beschossen. Auch Ari und seine Freunde werden mit Böllern beworfen, erzählt er, zwei von ihnen müssten jetzt operiert werden. Gemeinsam rufen sie die Polizei. Als die ankommt, werden auch die Beamten beschossen. Ein Polizist wird von einem Böller getroffen, der zwischen Helm und Schutzweste rutscht und dort explodiert. Im Imbiss reißen Ari und seine Kollegen dem Polizisten die Uniform vom Leib, kippen kaltes Wasser über die verbrannte Haut.

38 Personen sind nach den Silvesterkrawallen in Neukölln festgenommen worden, weil ihnen Angriffe auf Einsatzkräfte von Polizei und Feuer­wehr vorgeworfen wird. Viele von ihnen sind unter 21 Jahre alt. Insgesamt kommt es in Berlin zu 145 Festnahmen. Die Verdächtigen besitzen 18 verschiedenen Nationalitäten. Die Debatte ist da – über Jugendgewalt, Integration, Migration.

Am Mittwoch dieser Woche veranstaltete Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) einen Gipfel. Sie kündigt eine „konzertierte Aktion“ gegen Jugendgewalt an. Dafür wolle der Berliner Senat weitere Ausgaben für Sozialarbeit in Millionenhöhe ermöglichen. „Wir haben nicht nur Redebedarf, sondern wir haben auch Handlungsbedarf“, sagte Giffey. Ist das nur Show für den Wahlkampf, oder hat Neukölln wirklich ein Problem mit gewalttätigen Jugendlichen?

Vom Wutzky-Center und Tevfik Aris’Imbiss sind es nur ein paar Gehminuten bis zur Gemeinschaftsschule Campus Efeuweg. Hochhäuser ragen in den Himmel, von Wahlplakaten lächelt Franziska Giffey. Im ersten Stock der Schule hat die siebte Klasse von Lehrerin Janina Bähre ihren Klassenraum. Neun Tage nach der Silvesternacht bilden die Schü­le­r:in­nen einen Stuhlkreis, sie wuseln durch das Klassenzimmer, wollen neben ihren Freun­d:in­nen sitzen. Die Mädchen und Jungen tragen Nike-Sneaker mit dicken Sohlen, Gelnägel, Kopftücher. Jasmin führt eine Red­ne­r:in­nen­lis­te – sie schreibt auf, wer sich gemeldet hat. Joel hat die Liste im Blick und ruft auf, wer dran ist. Es gibt eine Strafliste für diejenigen, die zu oft dazwischenrufen.

Frau Bähre schlägt gegen eine Klangschale, dann ist es still im Klassenraum. „Was soll ich noch mal sagen?“, fragt Nina. „Wie es dir an Silvester ergangen ist. Was du gesehen hast. Was du gut fandest, was du schlecht fandest“, sagt Janina Bähre.

Tarik war an Silvester draußen unterwegs, wie er erzählt. Er habe mit Freunden zusammen gezündelt, sein Kumpel habe eine Kugelbombe gezündet und sich dabei schwer verletzt. „Seine Arme sind jetzt so“, sagt Tarik, knickt die Hände ab und streckt sie aus wie ein Zombie.

Marko meldet sich, er will es ganz genau wissen. Aber er muss noch warten – die Redne­r:in­nen­liste. Erst sind andere dran. Dann fragt Marko: „Es gibt doch auch Kugelbomben, die hochfliegen?“ „Ja, du musst die in ein Rohr packen“, sagt Tarik. „Die fliegt doch dann hoch?“ „Ja, aber wir hatten kein Rohr.“

„Digga.“

Lachen.

Andere Kinder erzählen ähnliche Geschichten. Der Cousin und der Onkel von Efe haben sich durch Zünden einer Batterie im Gesicht verletzt, Joel an der Rippe. Jugendlicher Leichtsinn, ja. Gefährlich, ja. Aber Menschen absichtlich verletzen, das versteht hier niemand. Janina Bähre fragt die Klasse, warum manche mit Böllern und Raketen auf Menschen schießen.

„Einfach so!“

„Aus Spaß!“

„Die fühlen sich cool.“

„Das ist so ehrenlos

Amalia war an Silvester nicht in Berlin, sie sagt: „Warum zünden die was an? Das ist richtig unnötig!“ So würden Menschen ihren eigenen Kiez abfackeln.

Albrecht Lüter ist schon seit 2015 Leiter der Berliner Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention. Er hat in den letzten zehn Jahren einen Rückgang der Jugendgewalt beobachtet. „International, in Deutschland und in Berlin“, sagt Lüter. Gemeinsam mit Kol­le­g:in­nen hat er 2021 ein Gewaltmonitoring veröffentlicht, in dem auch ganz gezielt die Berliner Bezirke untersucht wurden. Auch in Neukölln zeigt sich: Die Zahlen sind seit 2010 rückläufig. Weniger Raubtaten, weniger Körperverletzungen und weniger Delikte gegen die persönliche Freiheit wurden von Jugendlichen begangen – auch wenn die Zahl der Delikte zwischenzeitlich wieder gestiegen war. Im Coronajahr 2020 wurden insgesamt 799 solcher Straftaten in Neukölln, begangen von Jugendlichen, von der Polizei erfasst, 2010 waren es noch 1.057.

Trotzdem ist die Jugendgewalt in Neukölln im Vergleich zu gesamt Berlin erhöht. Warum? „Es gibt einen hohen Zusammenhang zwischen Jugenddelinquenz und einer prekären sozialen Lebenslage“, sagt Lüter. Die Jugendlichen in Neukölln seien häufiger von Arbeitslosigkeit und Kinderarmut betroffen als solche in anderen Berliner Bezirken. Sie hätten häufiger Sprachdefizite und schwänzten häufiger die Schule. „Unter ähnlichen prekären Lebensbedingungen finden wir dann auch Jugendliche, die ähnliches Problemverhalten an den Tag legen.“ In Marzahn-Hellersdorf ganz im Osten der Stadt zum Beispiel, einem Bezirk, der viel weniger von Mi­gran­t:in­nen geprägt ist als Neukölln. So viel zur Migrationsdebatte.

Die Lehrerin Janina Bähre kennt das. Sie erzählt von Eltern, die trotz Jobs mit Hartz IV aufstocken müssen. Sie berichtet von Kindern, die Ausflüge verpassen, weil kein Geld dafür da ist. Sie spricht von Hunger, Drogen, Wohnungslosigkeit und Abschiebung. „Das können wir uns gar nicht vorstellen“, sagt Bähre.

Und die Lehrerin berichtet von Eltern, die sich schämen, wenn ihre Kinder „Scheiße bauen“. Sie sagt: „Allen ist klar, dass man Polizisten und Feuer­wehrleute nicht angreift.“ Bähre glaubt, dass Gewalt immer einen Grund hat. „Wenn es nicht Langeweile oder pubertierender Leichtsinn ist, ist es Wut, Aggression, Frust.“ Sie wirbt für Verständnis für das, was Kinder und Jugendliche im Kiez erleben. „Wir haben hier wie überall ganz tolle Kinder, die halt einfach nur schlechtere Startchancen haben, weil wir halt ein ungerechtes Bildungssystem haben“, sagt sie.

Diese schlechten Startchancen auszugleichen, kostet Kraft. Bähre, blauer Pulli, Tattoo am Unterarm, ist schon ein bisschen heiser. Die Klasse ist heute unruhig, immer wieder muss sie Kinder hin­aus­schicken und für Ruhe sorgen.

„Lukas warte jetzt mal fünf Minuten draußen.“

„Hamza geh auch mal raus.“

„Da stehen jetzt schon drei draußen.“

Seit 2013 ist Bähre an der Gemeinschaftsschule Campus Efeuweg, Sie wollte an diese Schule. „Als ich die Schule das erste Mal gegoogelt habe, wusste ich nicht, ob ich das schaffe. Damals hatte sie noch einen schlechten Ruf“, sagt sie. „Aber ich habe mich dann gefragt, wer sonst? Ich bin gut ausgebildet! Hier muss ja auch wer arbeiten!“

Es mangele an Personal und Stunden in Schulen wie dem Campus Efeuweg, die Schü­le­r*in­nen hätten unter Corona gelitten, schulisch und sozial, sagt Bähre. Das alles müssten Leh­re­r*in­nen und So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen jetzt auffangen, aufarbeiten, aufholen. Janina Bähre fordert eine bessere Aufstellung der Sibuz. Die Abkürzung steht für schulpsychologische und inklusionspädagogische Beratungszentren, wo Lehrkräfte, Schul­psy­cho­lo­g*in­nen, So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen und Son­der­päd­ago­g*in­nen mit Schü­le­r*in­nen und Eltern zusammenarbeiten.

Janina Bähre wirbt zwar für Verständnis, betont aber auch, dass Kinder Grenzen brauchen. „Wenn Regeln gebrochen werden, versuchen wir schnell mit Konsequenzen zu kommen, die dann aber auch – wie im Strafrecht – ein Bündel sind, aus Grenzsetzung, Strafe, Wiedergutmachung und Unterstützung“, sagt sie. Und auch im Bereich Gewaltprävention unternehme die Schule viel: Klassenrat, Schülermediator*innen, Mobbing-Vereinbarungen, Workshops zu Recht und Gerechtigkeit. Und Workshops mit der Polizei.

Gerade die Zusammenarbeit mit der Polizei scheint wichtig, denn viele Kinder haben schlechte Erfahrungen mit den Beamten gemacht. Jasmin erzählt von einem Video, das sie auf Tiktok gesehen hat, in dem ein Polizist zu einem Mann vor dessen Kindern sagt: „Ihr seid nur zu Besuch in Deutschland.“ Sie sagt: „Würde das jemand zu meinem Vater sagen …“

Quelle         :        TAZ-online           >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben        —         Nach Auskunft der Anwohner: Junge männliche Erwachsene und männliche Jugendliche schlugen während des Neujahrsfeuerwerks 2023 in Berlin die Fenster ein und warfen Feuerwerkskörper hinein. Der Reisebus brannte vollkommen aus.

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Wider die föderale Bildung

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Dezember 2022

Von der Chancengleichheit in der Bildung

Ein Debattenbeitrag von Ralf Pauli

Von Chancengleichheit im Bildungssystem ist Deutschland weit entfernt. Höchste Zeit, dass die Ampel den Ländern stärkere Vorgaben macht.

Einmal im Jahr, zum heutigen Tag der Bildung, veröffentlicht die gleichnamige Stiftung eine interessante repräsentative Umfrage. Interessant deshalb, weil dort ausnahmsweise mal nicht Eltern oder Lehrkräfte zum deutschen Bildungssystem befragt werden – sondern junge Leute zwischen 14 und 21. Die Peergroup sozusagen. Und was die zum Zustand unseres Schulsystems denkt, sollte ernsthaft nachdenklich stimmen.

Nicht einmal je­de:r Dritte ist der Ansicht, dass alle Kinder in Deutschland die gleichen Chancen auf eine gute Bildung haben. So skeptisch wie in diesem Jahr ist die Umfrage noch nie ausgefallen. Auffällig dabei ist: Je älter die Befragten sind, desto weniger glauben sie an die Bildungsgerechtigkeit. Vermutlich, weil sie selbst miterleben, wie sehr sie in den weiterführenden Schulen unter ihresgleichen bleiben. Die Privilegierten im Gymnasium, der Rest in den Resteschulen.

Das Aufstiegsversprechen passt nicht zur Lebenserfahrung junger Menschen. Ganz neu ist die Erkenntnis natürlich nicht. Man­che:r Po­li­ti­ke­r:in aber hielt die Chancenungleichheit, die die erste Pisa-Studie vor gut 20 Jahren offenlegte, schon für überwunden. Oder so gut wie. Anzeichen dafür gab es durchaus: Mehr und mehr Kinder aus Arbeiter- und Zuwandererfamilien schafften es bis an die Uni. Die Schranken für den zweiten Bildungsweg wurden immer weiter abgebaut.

Und auch Eltern aus bildungsbenachteiligten Schichten gaben ihre Kinder zunehmend in Kita- und Ganztagsbetreuung. Von gleichen Chancen konnte und kann trotzdem noch lange keine Rede sein. Im Gegenteil. Wie die jüngste IQB-Studie zeigt, nimmt der Einfluss des Elternhauses auf den Bildungserfolg sogar zu. Spätestens jetzt müsste den Schön­fär­be­r-in­nen klar geworden sein, dass Deutschland hier auf der Stelle tritt. Oder anders formuliert: Alle Versuche der zuständigen Länder, gleiche Bildungschancen herzustellen, sind mehr oder weniger gescheitert.

Günstige Zeit für Reformen

Keine Frage, die Bil­dungs­mi­nis­te­r-in­nen sind ordentlich unter Zugzwang. An diesem Freitag wollen sie ein wissenschaftliches Gutachten vorstellen, wie die Bildungschancen der weniger privilegierten Kinder nicht schon in der Grundschule flöten gehen. Nach dem Pisa-Schock 2.0 zeigen sich die Länder entschlossen, das Pro­blem endlich anzugehen.

Die Frage ist nur: Reicht der gute Wille, oder muss der Bund dem föderalen, sechzehnfachen Vor-sich-hin-Gemurkse nicht langsam ein Ende machen und stärker in der Bildungspolitik mitmischen? Etwa in der Definition von bundesweiten Standards – von verpflichtenden Sprachtests im Vorschulalter bis hin zu den Kriterien, nach denen bedürftige Schulen zusätzliches Personal erhalten.

Schaden würde es bestimmt nicht. Vielmehr machte es die Bildungs­bemühungen der Länder vergleichbarer und damit das System gerechter. Der Zeitpunkt für eine neuerliche Föderalismusreform scheint jedenfalls günstig zu sein. Zum einen lässt die Kritik von Bil­dungs­for­scher-in­nen an bisherigen Bund-Länder-Programmen keinen Spielraum für Interpretationen.

Wer vermeiden möchte, dass die nächsten Bundesmilliarden wieder genauso ziellos und unwirksam ausgegeben werden wie letzthin für die Bekämpfung pandemiebedingter Lernlücken, kommt um einheitliche Standards und klare Zielvorgaben nicht herum. Die Länder müssen sich bewegen, wenn sie wie im Sommer lautstark eine Verlängerung des Corona-Aufholprogramms und weitere 500 Millionen Euro vom Bund verlangen.

Hohe Summen für die Chancengleichheit

Völlig zu Recht fordern Bil­dungs­po­li­ti­ker-innen der Ampelparteien, dass mit dem Prinzip Gießkanne – das den Ländern so gut in den Kram passt, weil es sie zu nichts verpflichtet – nun bald Schluss ist. Und dass die Bundesregierung den Ländern künftig im Gegenzug zur locker sitzenden Brieftasche mehr Zugeständnisse abverlangt. Immerhin ist die Ampel mit dem Ziel angetreten, die Rolle des Bundes in der Bildung zu stärken. Seit 2006 darf der Bund laut Grundgesetz nicht mehr in Bildung investieren.

Später haben Bundestag und Bundesrat das „Kooperationsverbot“ auf Drängen der SPD gelockert. Die Ampel will nun auch inhaltlich ein Wörtchen mitreden dürfen. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) träumt von einer „neuen Kooperation zwischen Bund und Ländern“.

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —      Festakt 60 Jahre Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit am 10. Mai 2018 in der STATION BerlinBettina Stark-Watzinger

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Zum Welt-AIDS-Tag

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Dezember 2022

Was zum diesjährigen Welt-AIDS-Tag (wieder) nicht gesagt wurde

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Von Johannes Kreis

Für all diejenigen, die glauben, dass die medizinische Wissenschaft erst im Dezember 2019 jeden Maßstab und jede Ethik verloren hat, möchten wir  darauf hinweisen, was zum diesjährigen Welt-AIDS-Tag, wie auch an allen vorangegangenen Welt-AIDS-Tagen (1.12.), wieder nicht gesagt wurde. Zu den detaillierten Nachweisen verweisen wir auf den unten angefügten Text (in Englisch).

Es geht um das AID Syndrom, das 15 – 20 Jahre nach einer Infektion mit dem HI-Virus auftreten soll („slow virus Hypothese) und das sich nach dieser enorm langen Zeit durch opportunistische Infektionen durch eine vom HI Virus verursachten Immunschwäche (Abnahme der CD4 Zellen) auszeichnen soll. Und das obwohl der Virus während all dieser Jahre durch Antikörper neutralisiert ist. Antikörper dienen bei HIV nur zum Nachweis einer mutmaßlichen Infektion.

Kaum jemand weiß, dass HIV ein „langsamer Virus“ sein soll und dass Antikörper gegen HIV von der Wissenschaft als unwirksam erklärt worden sind. Für beide Annahmen fehlt jeglicher Beweis.

Die Corona-Lockdown-Impf-Katastrophe mit tausenden von Impfopfern hat gezeigt, wie moderne Wissenschaft im Verein mit Medien, Politik und Pharma-Industrie arbeitet. Ausgewählte „Experten“  verkünden, was der Stand der Wissenschaft sein soll und Kritiker werden gnadenlos verfolgt, diffamiert, ausgegrenzt und effektiv rechtslos gestellt. Seltsamerweise erklären die ausgewählten „Experten“ immer das zu Wissenschaft, wo für die Pharma-Industrie der größte Profit liegt.

Die medial und politisch geschürte COVID-19-Panik und die sinnfreien (und damit grundgesetzwidrigen) Maßnahmen haben einen tiefen Einblick gestattet, wofür moderne Wissenschaft tatsächlich steht. Das ist für viele Menschen schwer zu fassen, denn der Begriff der Wissenschaft ist sehr positiv besetzt. Ein Teil des Hasses gegen die Kritiker erklärt sich auch aus diesem naiven Glauben an die Wissenschaft und dem Wunschdenken, die Wissenschaft hätte alle Antworten. Es ist umgekehrt. In vielen Fällen hat die Wissenschaft nicht einmal die richtigen Fragen und viele der aktuellen Gesundheitskrisen gäbe es ohne die Wissenschaft gar nicht. Hier sei an die fortbestehende Opioide-Krise in den USA, mit zahlreichen Toten, erinnert.

Man sollte sich vielleicht vergegenwärtigen, dass es einmal eine Zeit gab, wo die sogenannte Wissenschaft die Religionszugehörigkeit an der Schädelform ablesen wollte. Das ist noch nicht so lange her und die Vorgängerorganisation der Max-Planck-Gesellschaft, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, hat sich hier besonders hervorgetan.

Der Corona-Virus-Wahn hat gezeigt, welchen Wert die Zulassungsverfahren für unterstellte neue Medikamente haben, nämlich keinen. Wenn der Zeitpunkt günstig ist, gibt es Blitzzulassungen von aus „ethischen Gründen“ unzureichend oder gar nicht getesteten Substanzen.

Man hat gesehen, wie die Ethik, vertreten durch das willige und geschmeidige Personal der Berufsethiker, „ethische Gründe“ vorschiebt, um wissenschaftliche Standards zu umgehen und bewährte, aber kostspielige Verfahren in der Arzneimittelsicherheit gezielt zu unterlaufen.

Dank der Teflon Ethiker in den Kommissionen, wurden in der COVID-19 Hysterie in 6 Monaten hastig zusammengepanschte Experimentalsubstanzen für den flächendeckenden Einsatz an der Bevölkerung freigegeben. Die Produktionskapazitäten wurden aufgebaut, bevor diese Substanzen (bedingt) zugelassen wurden. Das entspricht 1:1 dem Vorgehen Mitte der 1980er Jahre in den USA, als unter der Führung von Anthony Fauci und diversen Aktivistengruppen wie ACT-UP, das hochtoxische AZT (Zidovudin) vollkommen unzureichend getestet aus „ethischen Gründen“ zugelassen wurde (Burroughs-Wellcome, 1986/87). AZT hat Millionen von Menschen schwer geschädigt, bis zum Tod. Die tödlichen Folgen von AZT wurden dem HI Virus untergeschoben.

In der COVID-19-Panik-Krise hat man gesehen, wie schwerste Nebenwirkungen bis zum Tod bagatellisiert wurden und wie man versucht hat, die schweren Nebenwirkungen der Experimentalimpfungen dem SARS-CoV2 Virus unterzuschieben. Pharmanahe „Experten“ erstellten dazu katastrophal schlechte Studien, die dann vom Bundesgesundheitsminister und den ihm unterstellen Bundesinstituten (RKI, PEI) zum „Beweis“ herangezogen wurden.

Wir haben gesehen mit welcher Brutalität die Kritiker vernichtet werden sollten. Das reichte bis zu Hausdurchsuchungen bei ordentlichen Richtern und sachverständigen Zeugen. Man ist vor nichts zurückgeschreckt, um ja keine Diskussion zu den belegbaren Tatsachen aufkommen zu lassen, um jede kritischen Meinung schon im Keim zu ersticken und diese als Wissenschaftsleugnung, Rechtsradikalität oder Staatsfeindlichkeit zu brandmarken, wahlweise auch eine Kombination der drei.

Fast die gesamte deutsche Presse ist brav im selbstverordneten Gleichschritt mit der Politik und den Pharmalobbyisten marschiert und tut dies weitgehend auch weiterhin. Bis heute wartet man vergeblich auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, warum die Krankenkassen in Deutschland für 2020 und 2021 übereinstimmend von einen „historisch niedrigen Krankenstand“ berichtet haben, vgl. stellvertretend die TK,

Krankenstand insgesamt gesunken – Insgesamt betrachtet, liefert der Gesundheitsreport jedoch keine Hinweise auf eine grundsätzliche Verschlechterung der Gesundheit von Erwerbspersonen durch die Coronapandemie. Mit einem Krankenstand von 4,14 Prozent lag das Jahr 2020 sogar unter den Werten der Vorjahre (2019 4,22 Prozent; 2018 4,25 Prozent).“

„Der Krankenstand der bei der Techniker Krankenkasse (TK) versicherten Erwerbspersonen war 2021 mit 3,97 Prozent so niedrig wie seit acht Jahren nicht mehr. Das ist nochmal ein deutlicher Rückgang im Vergleich zum ersten Coronajahr 2020 mit einem Krankenstand von 4,13 Prozent. Vor acht Jahren (2013) befand sich der Krankenstand mit 4,02 Prozent das letzte Mal auf so niedrigem Niveau.“

„Die Techniker Krankenkasse (TK) verzeichnet in Bayern weiter rückläufige Daten zum Krankenstand. Dieser sank im Jahr 2021 auf 3,5 Prozent, 0,1 Punkte weniger als im Vorjahr. Die krankheitsbedingten Fehlzeiten je Erwerbstägigen reduzierten sich im gleichen Zeitraum um 0,4 auf nur noch 12,6 Tage. Das ist der niedrigste Stand seit 2013.

Bei den Fehlzeiten wegen Atemwegserkrankungen wie grippale Infekte gab es 2021 sogar einen Rückgang um rund ein Viertel (minus 24,7 Prozent).“

Covid-19-Diagnosen spielen eine untergeordnete Rolle – Durchschnittlich 0,11 Fehltage gingen 2021 in Schleswig-Holstein je erwerbstätigen TK-Versicherten auf das Konto von COVID-19-Diagnosen. 2020 lag dieser Wert bei 0,05 Fehltagen. Auch wenn die Zahl im Vergleich zu 2020 gestiegen ist, spielen Krankschreibungen aufgrund einer Covid-19-Diagnose im Vergleich zu anderen Erkrankungen weiter eine eher untergeordnete Rolle.“

„Der Krankenstand ist in Sachsen im letzten Jahr erneut gesunken. Er betrug bei der Techniker Krankenkasse (TK) in Sachsen versicherten Erwerbspersonen 4,15 Prozent und liegt leicht unter dem Wert von 4,2 Prozent im Jahr 2020.“

Die Bettenauslastung in den Krankenhäusern war und ist historisch niedrig, auch schon in 2020, also vor jeder Impfung, vgl.

Die Anzahl der behandelten Krankheiten des Atmungssystems verringerten sich in NRW in 2020 gegenüber 2019 um 20,1 Prozent,

Wie das Statistische Landesamt weiter mitteilt, verringerte sich die Zahl der 2020 in den nordrhein-westfälischen Krankenhäusern behandelten Krankheiten des Atmungssystems ebenfalls gegenüber 2019 um 20,1 Prozent.“

Wenn vorne der Krankenstand historisch niedrig ist und die Krankenhausauslastung unter normal liegt, dann können hinten nicht die Intensivstationen überlastet sein. Das ist auch nie der Fall gewesen, im Gegenteil.

„Im gesamten Jahr 2020 wurden insgesamt 13,8% weniger Patienten im Krankenhaus behandelt als 2019. In den ersten 26 Kalenderwochen des Jahres 2021 blieb die Fallzahl 20,1% hinter dem Vergleichszeitraum 2019 zurück. Auch die Gesamtzahl der SARI-Fälle, Intensivfälle und Beatmungsfälle blieb im Untersuchungszeitraum unter den Zahlen aus 2019.“

Aber die Pharmalobby läßt impfen, was die Spritzen hergeben, und die Impfärzte sonnen sich in ihrem „Weltenretter“-Status. Nebenbei freuen sie sich über 6-stellige Monatsumsätze.

„Das macht bei durchschnittlich 300 Impfungen täglich rund 64.000 Euro Honorar pro Woche – und pro Monat über eine Viertelmillion – abzüglich der Kosten für Personal oder Miete.“

Soweit eine kleine Auswahl der Lehren aus den letzten 3 Jahren Virus-Panik, gerechnet ab Dezember 2019. Aber, das ist alles nichts Neues. Es hat nur niemand glauben wollen, wie verrottet die Strukturen in dem undurchsichtigen Netzwerk aus Pharma-Lobby, nicht ganz so unabhängigen und uneigennützigen Aktivisten, den Medien und der Gesundheitspolitik ist.

Es ist keineswegs so, dass die  medizinische Wissenschaft im Dezember 2019 den Verstand verloren hat und jede Wissenschaftlichkeit spontan abgelegt hat. Das reicht viel weiter zurück. Das wird klarer, wenn man die medial geschürte COVID-19 Panik im Zusammenhang mit früheren sogenannten Zoonose-Ereignissen und unterstellten Pandemien durch neu zoonotische Erreger sieht. Der letzte Vertreter eines neuen Erregers, der durch eine Zoonose von einem tierischen Wirt auf den Menschen als neuen Wirt übergesprungen sein soll, waren die Affenpocken. Diese sind sang- und klanglos wieder verschwunden. Der Trick dabei ist immer derselbe. Weil der Virus für den Menschen neu sei, sei er eben besonders gefährlich. Dann zieht man schwer vorgeschädigte Populationen heran, z.B. Intensivpatienten und ordnet deren Versterben ohne Beweis dem Virus zu, genauer, dem positiven Test zu dem mutmaßlich neuen Virus. Das treibt die Case-Fatality-Rate (Fallbezogene Versterbensrate) nach oben.

Es geht um MERS, SARS(1), BSE, diverse Schweinegrippen und Vogelgrippen, bis zurück zu HIV. In keinem einzigen Fall gibt es einen Beweis für die jeweilige Zoonose-Hypothese. Das wird seit 40 Jahren nicht diskutiert.

Selbst wenn man dem falschen HIV=AIDS Dogma folgt, so müßte doch auch in der Mainstream-Wissenschaft mindestens die Frage gestellt werden, ob der HI Virus ca. 90 Jahre nach der unterstellten Zoonose von SIV bei Affen zu HIV beim Menschen (fast zeitgleich(!) mindestens 13 unabhängige Zoonose-Ereignisse von 3 unterschiedlichen Affenarten um 1930 herum in Zentralafrika), und 41 Jahre, nachdem der HI Virus zuerst in eine Population von schwer vorgeschädigten Homosexuellen in den USA nachgewiesen wurde (jahrelanger Drogen- und Antibiotikamißbrauch und multiple Infektionen mit Geschlechtskrankheiten), tatsächlich noch tödlich sein soll? Oder warum menschliche Antikörper gegen den HI Virus 90 Jahre nach der unterstellten Zoonose immer noch nicht wirksam seinen sollen?

Welt-Aids-Tag PHOTO DU JOUR DU MERCREDI 1. DEZEMBER 2021.jpg

Es ist den meisten entgangen, dass es ähnliche Überlegungen zu einer ohne Beweis unterstellten Unwirksamkeit von Antikörpern auch bei MERS, SARS(1) und SARS-CoV2 gab. Unwirksame Antikörper sind der heilige Gral, denn sie bedeuten eine lebenslange Therapie oder, wie im Fall von SARS-CoV2 ein lebenslanges Impf-Abo. Bei einem Erreger mit einer Inkubationszeit von einigen Tagen, wie SARS-CoV2, war diese Hypothese nach wenigen Wochen widerlegt. Für unwirksame Antikörper gab es viel zu viele „symptomlos Erkrankte“. D.h. trotz positivem Test zeigten die meisten Menschen keine Symptome („Ischgl-Phänomen“). Die Medizin hat sie dann zu „Erkrankten“ erklärt. Hier wäre auch von der Mainstream-Wissenschaft zu fragen, was die Wirksamkeit von Antikörpern gegen einen mutmaßlich neuen Erreger zoonotischen Ursprungs wie SARS-CoV2 für die Wirksamkeit von Antikörpern gegen den mutmaßlich zoonotischen Erreger HIV bedeutet?

Die wesentliche Begründung für die ohne Beweis unterstellte Wirkungslosigkeit von Antikörpern bei neuen zoonotischen Erregern, speist sich eben aus der unterstellten Neuheit. Der Mensch habe sich im Rahmen der Evolution eben noch nicht an diesen neuen Erreger anpassen können. Deshalb sei der Erreger besonders gefährlich.

Das übersieht, dass der Mensch nur in ganz eingeschränktem Maße über ein genetisches Immungedächtnis verfügt, das von den Eltern vererbt werden könnte. Die humorale Immunantwort (Bildung von Antikörpern und später von Gedächtniszellen) muß jedes Neugeborene neu bilden, sobald einige Wochen nach der Geburt die Antikörper der Mutter abgebaut sind. Das ist bei jedem höher entwickelten Lebewesen so. Jeder Erreger ist nach der Geburt für den Organismus  neu, was man auch daran sieht, dass (fast) alle Menschen dieselben Kinderkrankheiten durchlaufen. Es handelt sich dabei jedes Mal um neue Varianten, für die die Eltern gar keine Immunantwort hätten bilden können, da es diese Varianten vorher nicht gab. Jedoch das Immunsystem des Neugeborenen oder Kleinkindes ist in der Lage auch gegen diese neuen Varianten eine wirksame Immunantwort zu formulieren, obwohl es noch nie mit dieser Erregerart in Berührung gekommen ist.

Dieser Sachverhalt ist unabhängig von der Frage zu sehen, ob es denn überhaupt ein für den Menschen neuer Erreger ist. Die enorme Vielfalt von Virenvarianten, von denen nur ein winziger Bruchteil in den Gendatenbanken hinterlegt ist (und nach sorgfältiger Selektion, welche Gensequenz in die Datenbank aufgenommen wird und welche nicht), läßt erhebliche Zweifel daran aufkommen. Bei der genetischen Variabilität von Viren den genetischen Abstand zwischen einer Virussequenz bei einem Tier und bei einem Menschen als Indiz für eine Zoonose heranzuziehen ist abwegig. Zu weit von der Referenzsequenz abweichenden Gensequenzen werden nicht in die Gendatenbanken aufgenommen. Damit hält man den genetischen Abstand künstlich hoch.

Es gibt keinerlei Beweis, dass der HI Virus tatsächlich nur ca. 90 Jahre alt ist. Im Gegenteil, alles spricht dafür, dass HIV Millionen von Jahren alt ist. Damit bricht die Hypothese von einer viralen Ursache des AID-Syndroms vollständig zusammen, denn vor 1981 gab es kein AIDS.

Es gibt keinerlei Diskussion zu der Frage, warum denn Antikörper gegen HIV 90 Jahre nach der ohne Beweis unterstellten Zoonose immer noch unwirksam sein sollen. Der Grund ist vermutlich, dass zu viele Leute zu viel Geld mit der lebenslangen HIV Therapie (nicht AIDS-Therapie!) verdienen.

Ganz offensichtlich kann es sich nicht in allen Fällen in den letzten 40 Jahren, bei MERS, SARS(1), BSE, diversen Schweine- und Vogelgrippen, bis zurück zu HIV, um einen Laborunfall gehandelt haben. Die Laborhypothese dient dazu, den Glauben an die allwissende Wissenschaft trotz des Corona-Lockdown-Impf-Debakels zu erhalten. An Afrika ist die mutmaßliche Corona-Krise komplett vorbeigegangen. Wenn laborgezüchtete Killerviren so harmlos sind wie SARS-CoV2, das einen ganzen Kontinent verschonte und in westlichen Industrieländern selektiv vor allem Über-80-Jährige betraf, dann scheint die Forschung an Killerviren nicht sehr weit zu sein.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, den der COVID-19 Maßnahmen-Unsinn transparent gemacht hat, ist die Rolle der Tests, hier vor allem der für die Diagnose vollkommen unbrauchbare PCR-Test. Die Vorgabe seitens der Medizin, vertreten u.a. durch „Welt-Ärzte-Boss“ Frank Ulrich Montgomery, ist, dass der symptomlose Mensch als krank gilt, bis er durch einen Test das Gegenteil beweisen kann. Der gesunde, vollkommen symptomfreie Mensch wird unter Generalverdacht gestellt.

 

Ab hier ist alles möglich, so katastrophal schlecht diese Tests auch sind. Die meisten wissen nicht, dass die Falsch-Erkennungsrate der Tests im Bereich von 90 – 95% liegt. Man erklärt dann, dass bei Unsicherheiten bei einem positiven Testergebnis ein Arzt entscheiden soll, bei vollkommen symptomfreien Menschen. Doch der Arzt, der darauf trainiert ist, das Laborergebnis zu therapieren, wird sich nicht über einen positiven Test hinwegsetzen.

Der Test definiert die Krankheit, so wie bei HIV. Es wird bei HIV nicht das AID Syndrom diagnostiziert oder therapiert, sondern der HI Virus. Der PCR Test definiert vollkommen symptomfreie Menschen als krank und die Gut-Menschen der Deutschen AIDS Hilfe treiben sie in die Arme von Ärzten, die in völliger Selbstverblendung hochtoxische Substanzen als nebenwirkungsarme Wunderpillen für eine lebenslange(!) Therapie anpreisen.

Das geht soweit, dass einzelne Vertreter der Ärzteschaft fantasieren, dass durch den sozialen Druck effektiv zwangstherapierte HIV+ Menschen aufgrund der häufigen Arztbesuche eine höhere Lebenserwartung haben könnten, vgl. dazu den Unsinn eines Herrn Bogner von der LMU-Infektionsambulanz,

„Ich habe eine ganz verwegene Hypothese. Es könnte irgendwann ins Umgekehrte umschlagen: HIV-Infizierte leben länger. Und wissen Sie, warum? Das sind Menschen, die gehen alle drei Monate zum Arzt. Da wird das Cholesterin behandelt, da wird der Blutdruck behandelt, da erkennt man den Diabetes rechtzeitig. Die gehen sehr zuverlässig zu Früherkennungsuntersuchungen. Keine Patientengruppe in der Republik ist medizinisch so gut betreut wie unsere Infizierten. Vielleicht leben sie am Ende länger.“

Herr Bogner geht augenscheinlich davon aus, dass der Mensch bis zum Beweis des Gegenteils jede Krankheit zu haben hat, die die moderne Medizin glaubt nachzuweisen zu können.

Wer wissen will, was aus vollkommen gesunden HIV+ gemessenen Menschen nach 30 Jahren „gut verträglicher“ Therapie wird, der schaut auf Scott Jordan,

•    The Guardian, „Growing old with HIV: ‚I’m in my 30th year of sickness. For the last 23, I’ve thought about death almost every day‘“, 2014https://www.theguardian.com/society/video/2014/aug/14/hiv-america-us-aging-video

Herr Jordan nimmt die Mehrzahl seiner täglich 13 Medikamente gegen die schweren Nebenwirkungen der sogenannten antiretroviralen Therapie gegen HIV (nicht AIDS!). Die Leiden dieses Menschen entsprechen 1:1 den Nebenwirkungen der schweren Zellgifte dieser sogenannten Therapie, u.a. Schädigung der Muskelgewebe, einschließlich des Herzmuskels, Abnahme der Knochendichte, schwere Nieren- und Leberschäden, Schädigung der Nervenzellen, Schädigung des Immunsystems (vorzeitige Immunoseneszenz, eine vorzeitige Alterung des Immunsystems).

Scott Jordan wurde für nichts und wieder nichts zum Krüppel therapiert. Er war nie in der Gefahr, 15 – 20 Jahre nachdem er HIV+ gemessen wurde, eine Immunschwäche zu entwickeln, die dann AID Syndrom genannt worden wäre. Aber, es gibt Menschen, die haben Milliarden an Menschen wie Scott Jordan verdient.

Ja, es gibt Viren. Ja, es gibt das AID Syndrom, das nach jahrelangem Antibiotikamißbrauch und schwerer Drogenabhängigkeit auftreten kann. Aber, es hängt auch davon ab, was alles unter dem AID-Syndrom zusammengefasst wird. Zu den AIDS-definierenden Krankheiten gehören u.a. auch die Tuberkulose, länger anhaltendes Fieber und Durchfall.

Das AID Syndrom hat nichts mit einem HI Retro-Virus zu tun, den einige Menschen in ihrem Genom tragen und andere nicht. Ein positiver HIV Test steht in keinem Zusammenhang mit irgendeiner Form von Erkrankung und schon gar nicht erfordert ein positiver HIV Test eine lebenslange(!) Behandlung mit schweren Zellgiften.

Alle Punkte, die oben angesprochen wurden, sind gut belegt, siehe unten. Aber es gibt keine Diskussion dazu. Zu schwer wiegen die Millionen zu Tode therapierten Menschen, vor allem in Afrika. In den Anfangsjahren des Viruswahns, ab Mitte der 1980er Jahre, hat man die Betroffenen mit hohen Dosen schwerster Zellgifte behandelt, bis zu 1800 mg AZT (Zidovudin) pro Tag(!), über Monate. Diese Substanzen wurden ohne ausreichende Tests im Eilverfahren zugelassen. Aus ethischen Gründen wurden die wenigen Studien, die es gab, nach wenigen Wochen unblinded.

Diese Behandlung, nach der Maxime „hit hard and early“, hat bei den Betroffenen zu zahlreichen schweren Gewebeschäden geführt, die alle, ohne jeden Beweis, dem Virus untergeschoben worden sind. Daran kommt man jetzt nicht mehr vorbei.

Inzwischen hat man die Dosis drastisch reduziert und siehe da, die so Behandelten leben länger. Kaum jemand weiß, dass DESCOVY (Tenofovir Alafenamid Formulierung von Tenofovir) 9x weniger Tenofovir nach Molekulargewicht enthält als der Vorgänger TRUVADA (Tenofovir Disoproxilfumarat Formulierung von Tenofovir). Und siehe da, bei mit DESCOVY Behandelten zeigen sich deutlich weniger Nebenwirkungen, wie Nierenschäden und Abnahme der Knochendichte, als bei mit TRUVADA Behandelten. Der Beweis für eine dosisabhängige Schädigung der Betroffenen ist erbracht, aber niemand spricht darüber.

Man hat fast zwei Generationen von Homosexuellen langsam zu Tode therapiert, ganz zu schweigen von dem was in Afrika, weit weg von der Weltöffentlichkeit, passiert ist. Was thematisiert wird, sind die Gefahren der Ausgrenzung und der Zugang zu den „Wunderpillen“ in Afrika. Sich zu den Guten zu zählen kann so einfach sein.

Ganz Wenige in der Mainstream Wissenschaft thematisieren die schweren Nebenwirkungen der sogenannten HIV-Therapie (nicht AIDS-Therapie!) und die zahlreichen Schäden, die bei vormals vollkommen symptomfreien, gesunden Menschen auftreten. Jahrelang wurden die schweren Schäden durch die mutmaßliche „Therapie“ als „HIV-related diseases“ umgedeutet.

HIV ist ein Todesurteil, weil der soziale Druck der Gut-Menschen die Betroffenen zu einer lebenslangen, am Ende tödlichen Therapie verurteilt. Nur ganz wenigen gelingt es, sich auf Dauer dem sozialen Druck zu entziehen. Auch das haben wir aus der COVID-19-Zwangsmaßnahmenkrise gelernt.

HIV war die Blaupause für alle weiteren mutmaßlichen Pandemien durch einen angeblich neuen Erreger zoonotischen Ursprungs. Auch deshalb darf es auch weiterhin keine Diskussion zu dem HIV=AIDS Dogma geben.

Unten hängen wir den Text unserer Newsmail zum Welt-AIDS-Tag 2021 (in Englisch) an. An den Tatsachen hat sich nichts geändert.

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SubjectHIV and AIDS – what was (again) not said on World AIDS Day 2021

To whom it may concern.

For World AIDS Day 2021 we would like to point out some publications that do not fit the picture of the all-round success story drawn of HIV and AIDS by the media and representatives of the pharmaceutical lobby.

The publications cited here are well known to virologists and molecular biologists. Many aspects are undisputed, but are not included in the reporting.

A note on the context:

HIV is a virus of the lentivirus genus from the retrovirus family. These are viruses whose genetic information is stored as RNA and not, e.g. in humans, as DNA. HIV is said to be transmitted through blood or semen and counts as a sexually transmitted disease (STD). An infection with this virus is said to lead to a weakening of the immune system after 10-15 years, so that those affected begin to suffer from what are known as opportunistic infections and diseases. This is then called AIDS, Acquired Immunodeficiency Syndrome. The list of these approx. 30 classic diseases, also known as AIDS-defining diseases, has been expanded several times over the years and includes not only tuberculosis but also weight loss, prolonged fever and diarrhea. According to the current theory, the HI virus jumped over to humans as a new host around 1930 through multiple zoonoses (currently 13 times) in Central Africa from 3 species of monkeys (it is called SI virus there). According to the same theory, it first showed up around 1980 in the USA in a population of heavily drug-dependent, multiple classically infected homosexual men. This is important, because before that there was no AIDS, only from 1980 on. The around 30 AIDS-defining classic diseases have been around for a long time, but now they are summed up under a new label (AIDS) and are said to be caused by HIV. The CD4 cell count is used as a biomarker for the strength of the immune system in the diagnosis. These are cells of the human immune system that are counted and the decreasing number of which is supposed to show the progression of the disease. HIV itself is detected by PCR or antibodies against the HI virus.

So what’s the problem?

The problem is that apart from the very sick, severely drug-addicted homosexuals in the United States who really existed, and the diagnostic methods that actually exist, there is no evidence for any of the statements about the origin and effects of HIV.

Most of these people in the US in the 1980s were seriously ill even without a new virus. On the one hand the drugs, in addition to heroin and cocaine in the gay community mainly nitrites (poppers), and on the other hand multiple infections such as syphilis, gonorrhea, hepatitis A and B, herpes, CMV, etc. through frequent unprotected anal intercourse.

„96-100% of the gay men with AIDS used poppers, usually quite heavily.”

Cf. on the circumstances at that time,

“Results of our study suggest that white Southern male homosexuals without clinical evidence of AIDS who patronize „gay bars“ may have significant zinc deficiency and moderately depressed T-helper/T-suppressor cell ratios. No single causative factor could be identified to explain the significantly low zinc and elevated copper levels measured in whole blood, as well as the depressed OKT4/OKT8 cell ratios. Seventy-four percent of the homosexual male subjects were „recreational“ drug abusers, 81% used inhalant nitrites routinely, and 41% routinely treated themselves with antibioticsEighty-one percent practiced active and/or passive penile-oral insertion, and 55.5% practiced both active and passive anal intercourse. Of the latter, 19% reported anal bleeding. Clinically inapparent, though statistically significant, borderline immunodeficiency and aberrant zinc and copper levels may be a consequence of multiple factors comprising the gay bar life-style.

However, the toxicity of the alleged antiretroviral therapy (ART, sometimes also referred to as HAART for highly active antiretroviral therapy) has been sufficiently proven. Their side effects are indistinguishable from the presumed effects of a virus, as can be read explicitly in the publications.

In the meantime, a positive test for HIV defines the disease. AIDS itself is hardly mentioned any more. HIV is the only disease that knows no spontaneous healing and becomes chronic in all (100%) of the treated cases. In addition, antibodies against this virus only serve to define the disease. According to the current theory, they are otherwise useless. Therefore, lifelong therapy is required, according to the, obviously very profitable, theory.

It starts with the fact that nobody knows how the HI virus is supposed to lead to a reduction in CD4 cells and thus, by definition, to AIDS. Cf.

“HOW DOES HIV-1 CAUSE AIDS?  As is apparent from this article and the rest of the collection, in the 25+ years since its discovery, we have learned an enormous amount about HIV, but we still cannot answer the one big question: How does HIV-1 cause AIDS?”

Even if we knew the mechanism of HIV-mediated cell killing, we would not know how HIV-1 causes CD4+ T-cell decline and AIDS in humans. The observation that virus and cell turnover rates in various SIVs in their natural hosts (such as SIVsm in sooty mangabeys), which do not progress to AIDS, are essentially identical to those in humans, who do progress, implies that cell killing alone cannot account for AIDS pathogenesis. Indeed, this result is consistent with the high natural turnover rate of activated effector memory helper T cells, the primary target for HIV-1 infection, on the order of 1010 cells per day, of which only a small fraction are infected after the initial primary infection phase.”

There are far too few cells infected to explain a decrease in CD4 cell counts. Then there is the bystander cell problem, especially the non-infected cells die. What sense does that make? Both facts are known to science for more than 25 years.

  • Finkel et al. „Apoptosis occurs predominantly in bystander cells and not in productively infected cells of HIV- and SIV-infected lymph nodes.“, Nat Med. 1995 Feb;1(2):129-34,
    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/7585008

We show here, using in situ labelling of lymph nodes from HIV-infected children and SIV-infected macaques, that apoptosis occurs predominantly in bystander cells and not in the productively infected cells themselves.

“Nonetheless, a number of important issues concerning the pathogenesis of HIV infection remain unresolved. For example, it remains unclear how CD4+ T cells are lost after HIV infection. The low frequency of infected cells seen even in advanced infection implies that a direct cythopathic effect of HIV on infected CD4+ T cells cannot explain their disappearance.

  • Muro-Cacho et al. „Analysis of apoptosis in lymph nodes of HIV-infected persons. Intensity of apoptosis correlates with the general state of activation of the lymphoid tissue and not with stage of disease or viral burden.“, J Immunol May 15, 1995, 154 (10) 5555-5566; https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/7730654
“Taken together, these results indicate that the increased intensity of the apoptotic phenomenon in HIV infection is caused by the general state of immune activation, and is independent of the progression of HIV disease and of the levels of viral load”

“However, these attributes – singly and in combination – are shown here to be inadequate to explain the latency, immunological damage, and clinical dynamics of the disease of AIDS. The virological paradigm cannot explain the disease-free period (clinical latency); the mechanism and dynamics of CD4 T cell loss; the reason for the onset of disease at a given time-point; the relationship of CD4 T cell loss to AIDS-type disease; nor the idiosyncratic constellation of immunological and clinical phenomena that comprise AIDS as a unique syndrome.”

The mechanism by which HIV causes depletion of CD4+ T cells in infected individuals remains unknown. Numerous theories have been proposed, but none can fully explain all of the events observed to occur in patients”

With a limited number of infected cells and vastly disproportionate apoptosis in HIV infected patients, it is believed that apoptosis of uninfected bystander cells plays a significant role in this process.”

The number of HIV infected cells in patients is relatively low and cannot solely account for the loss of CD4 cells in vivo. Hence, it is believed that the loss of CD4 cells during HIV infection is due to the process of bystander apoptosis induction.”

Apoptosis mediated by HIV infections is more complex than previously thought. A role of both host and viral factors in this phenomenon is becoming increasingly evident.”

One has no idea how the HIV virus is supposed to lead to AIDS. Of course, this opens up space for plenty of research and numerous conjectures. Virologists love to speculate and they are not accountable to anyone. Only one thing is strictly forbidden for them, to question the HIV=AIDS dogma.

Hardly anyone knows today that already in 1984 70% of adults with Kaposi’s sarcoma, an AIDS-defining cancer, showed no positive test for HIV, cf.

  • Gallo  et al., “Frequent detection and isolation of cytopathic retroviruses (HTLV-III) from patients with AIDS and at risk for AIDS.”, Science. 1984 May 4;224(4648):500-3, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/6200936

[Table 1. Detection and isolation of HTLV-III from patients with AIDS and pre-AIDS]

These were the same people whose bodies had been destroyed by years of abuse of amyl nitrites (poppers) and other drugs.

Nobody knows what influences the CD4 cell count. Even sunburn, said to be common in Africa, lowers this biomarker. Also classic infections, such as AIDS-defining tuberculosis have this effect.

OKT4+ helper T cells were reduced and there was a significant decrease in the OKT4/OKT8 ratio.”

[OKT4+ is an old name for CD4+]

  • Skogmar et al., “CD4 Cell Levels during Treatment for Tuberculosis (TB) in Ethiopian Adults and Clinical Markers Associated with CD4 Lymphocytopenia”,  PLoS One. 2013; 8(12): e83270, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24358268

“In total, 1116 TB patients were included (307 HIV-infected). Among 809 HIV-negative patients200 (25%) had subnormal CD4 cell counts (<500 cells/mm(3)), with <350 cells/mm(3) in 82 (10%) individuals. CD4 cell levels increased significantly during the course of ATT in both HIV+ and HIV- TB-patients, but did not reach the levels in healthy subjects.”

The recovery of the CD4 cell count after anti-tuberculosis treatment in HIV-negative people also shows that tuberculosis influences this bio-marker.

“Inclusion criteria were as follows: …

 (4) seronegative for human immunodeficiency virus (HIV)”

“After 2 months of intensive phase anti-TB treatment, a reduction in the percentage of CD4+ T cells showed a significant restoration similar to that of controls.”

These facts have long been known, cf.

We evaluated 85 human immunodeficiency virus (HIV)-negative patients with tuberculosis for clinical features and CD4 cell counts. Thirty-seven patients had low CD4 cell counts (mean +/- SD, 341 +/- 116 cells/microL), and 48 patients had normal CD4 cell counts (mean +/- SD, 830 +/- 254 cells/microL).”

The CD4 cell counts returned to normal levels in most patients after 1 month of therapy.

“We confirmed previous studies demonstrating that CD4 cell counts are depressed in HIV-negative patients with tuberculosis

A biomarker “CD4 cell count” makes no sense obviously, especially not in Africa where tuberculosis is death factor number 1. Nobody knows what the normal CD4 cell count in an HIV-negative person is.

1.5% and 6% respectively had baseline counts below 350 cells/μl and 1.5% and 2.5% below 250 cells per μlTransient dips to below 250 cells/μl were observed in seven individuals, with two individuals having  persistently low CD4 counts over more than one year.

 „In common with neighbouring countries, HIV-negative populations in Malawi have CD4 counts considerably lower than European reference rangesand healthy individuals may have persistently or transiently low counts. Within Malawi, ranges differ according to the selected population.“

The CD4 cell count also varies with the season, cf.

Gomo et al., “Predictors and reference values of CD4 and CD8 T lymphocyte counts in pregnancy: a cross sectional study among HIV negative women in Zimbabwe.”, Cent Afr J Med. 2004 Jan-Feb;50(1-2):10-9, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15490719

“The late rainy season was associated with higher CD4 counts…”

“Gestational age, gravidity, micronutrient status and season influence T lymphocyte subset levels and need to be considered when designing clinical management and intervention strategies for pregnant women. The data underscores the need for local reference values.“

These results are important because, on the one hand, the CD4 cell count is now used as a surrogate for an AIDS diagnosis and, on the other hand, this number is used to define so-called Long Term Non Progressors (LTNP). These are people who have been measured HIV+, but show no signs of an AIDS-defining disease or a low CD4 cell count even after years.

With a CD4 cell count of 500 cells/μl, the German-Austrian guidelines for antiretroviral therapy of HIV-1 infection recommend starting therapy, even in completely symptom-free people.

Asymptomatische  Fälle  mit  CD4+T-Zellen  <500/μl: Bei allen Patienten mit weniger als 500 CD4-Zellen/μL soll eine Therapie erfolgen. Die Dringlichkeit des Therapiebeginns  (binnen  Tagen,  Wochen  oder  Monaten) erhöht  sich  in  Abhängigkeit  von  der  CD4+-Zellzahl:  Je niedriger die CD4+-Zellzahl, desto dringlicher die Therapie. Bei weniger als 200 CD4+-Zellen steigt das Risiko opportunistischer Folgeerkrankungen erheblich, und Morbidität und Mortalität bleiben trotz  erfolgreicher  Therapie  erhöht  (22),  der  Behandlungsbeginn  ist  daher  dringlich.    Bei  Vorliegen bestimmter   opportunistischer   Infektionen   sollte   die   ART   wegen   des   Risikos   eines Immunrekonstitutionssyndroms  verzögert  begonnen  werden.  Diesbezüglich  wird  auf  die  DAIG-Leitlinie Opportunistische Infektionen verwiesen.“

[Translation: German-Austrian guidelines for antiretroviral therapy of HIV-1 infection, Version 8 based on the consensus conference of April 10, 2019]

Asymptomatic cases with CD4+ T cells <500 / μl: Therapy should be given to all patients with fewer than 500 CD4 cells/μL. The urgency to start therapy (within days, weeks or months) increases depending on the CD4+ cell count: the lower the CD4+ cell count, the more urgent the therapy. With fewer than 200 CD4+ cells, the risk of opportunistic secondary diseases increases significantly, and morbidity and mortality remain higher despite successful therapy (22), so the start of treatment is urgent. In the presence of certain opportunistic infections, ART should be started with a delay because of the risk of immune reconstitution syndrome. In this regard, reference is made to the DAIG Guideline Opportunistic Infections. „

Before “modern medicine” started to use the biomarker “CD4 cell count” to “diagnose” the AID Syndrome, one used a catalog of approx. 30 classic diseases to define the AID syndrome. It should be noted that this catalog was expanded several times to inflate the statistics. Cf.

From this Figure 6 on the AID syndrome case numbers (not HIV!). In 1993 the CDC for the last time differentiated the number of cases according to the different definitions of the AID syndrome. After that, the AID syndrome case numbers were only shown as a uniform, rising (!) curve.

Meanwhile, AIDS-defining diseases are no longer used to diagnose AIDS, but one relies solely on the CD4 cell count. Below about 200 cells/μl one has AIDS, regardless of any symptom. This inflates the statistics even more. Any infection can lower the CD4 cell count.

And one sees no connection between the CD4 cell count and the so-called viral load, which is to be determined by quantitative PCR and with which one drives HIV+ measured people into test madness.

„Despite this trend across broad categories of HIV RNA levels, only a small proportion of CD4 cell loss variability (4%-6%) could be explained by presenting plasma HIV RNA level.”

And what are the consequences of this therapy, which physicians often name „blessed“ and which is supposed to save people from a slow death? The list is long, cf.

Bleeding Events

Bone Density Effects

Bone Marrow Suppression

Cardiac Conduction Effects

Cardiovascular Disease

Cholelithiasis

Diabetes Mellitus and Insulin Resistance

Dyslipidemia

Gastrointestinal Effects

Hepatic Effects

Hypersensitivity Reaction (excluding rash alone or Stevens-Johnson syndrome)

Lactic Acidosis

Lipodystrophy

Myopathy/Elevated Creatine Phosphokinase

Nervous System/Psychiatric Effects

Rash

Renal Effects/Urolithiasis

Stevens-Johnson Syndrome/Toxic Epidermal Necrosis

These are serious and life threatening side effects and that in a lifelong(!) therapy.

This list tends to be too short rather than too long as it does not include some overly toxic substances such as didanosine (ddI), stavudine (d4T), fosamprenavir (FPV), indinavir (IDV), nelfinavir (NFV), saquinavir (SQV) and tipranavir (TPV) which are no longer used. Before that, they had been in use for years, with catastrophic consequences for those treated with them.

What happens is that the presumed therapy damages the human cells. In particular, the nucleoside and nucleotide analogs (so called nucleoside reverse transcriptase inhibitors, NRTIs) also contained in the combination therapies damage the mitochondria, i.e. the energy suppliers of cells. This leads to a variety of different tissue damages.

“In 1988, the suggestion that the first antiretroviral drug, zidovudine, was the potential cause of muscle pathology in HIV-infected persons resulted in structural and biochemical patient studies demonstrating acquired mitochondrial dysfunction. Assessment of subsequent nucleoside analog reverse transcriptase inhibitor (NRTI) antiretroviral drugs has indicated that mitochondria are a common target of NRTI toxicity in multiple tissues, leading to a wide variety of pathology ranging from lipodystrophy to neuropathy. Overwhelmingly, these complications have emerged during post-licensing human studies.”

“Millions of patients have been treated with mitochondrially toxic NRTIs and these drugs remain the backbone of antiretroviral rollout in much of sub-Saharan Africa.”

“A shift from AIDS-related causes of morbidity and mortality to non-AIDS causes such as non-AIDS malignancyliver cirrhosisend stage renal disease and serious cardiovascular events occurred in HIV patients nearly one decade ago due to use of potent antiretroviral therapy.”

“Consistent with two other reports which included participants with lower CD4+ counts, we show that grade 4 events are a major source of morbidity among participants with HIV [26, 27]. Among the participants in our cohort, all of whom had CD4+ counts ≥ 300 cells/mm3 at study entry, the rate of grade 4 events was 3 to 6 times higher than AIDS, CVD (expanded to include less serious events and CVD events that did not meet ERC criteria) or non-AIDS cancer considered separately and was higher than the rate for these three outcomes considered as a single composite outcome.”

Everyone in our investigation was taking suppressive ART. Thus, we can only speculate whether the grade 4 events are due to underlying HIV disease or to ART.

As of 2018. But there is nothing new about these findings. Also the early attempts of a therapy with AZT [zidovudine] were a complete catastrophe.

  • Richman et al., “The toxicity of azidothymidine (AZT) in the treatment of patients with AIDS and AIDS-related complex. A double-blind, placebo-controlled trial”, N Engl J Med, 1987 Jul 23;317(4):192-7, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/3299090/

“Twenty-one percent of AZT recipients and 4 percent of placebo recipients required multiple red-cell transfusions (P less than 0.001). Neutropenia (less than 500 cells per cubic millimeter) occurred in 16 percent of AZT recipients, as compared with 2 percent of placebo recipients (P less than 0.001).”

Although a subset of patients tolerated AZT for an extended period with few toxic effects, the drug should be administered with caution because of its toxicity and the limited experience with it to date.”

If after 44 weeks of therapy 27% of those treated have died, is that no reason to question the therapy, but simply proof of how dangerous the virus is?

“Through a compassionate plea program (Treatment Investigational New Drug), 4805 patients with acquired immunodeficiency syndrome who previously had experienced Pneumocystis carinii pneumonia (PCP) received zidovudine (Retrovir, formerly azidothymidine). Overall survival at 44 weeks after initiation of therapy was 73% (+/- 2.1%).

And 6 years later,

The results of Concorde do not encourage the early use of zidovudine in symptom-free HIV-infected adults. They also call into question the uncritical use of CD4 cell counts as a surrogate endpoint for assessment of benefit from long-term antiretroviral therapy.”
In all, 99 Imm and 38 Def participants stopped trial capsules because of adverse events. In only 16 Imm and 2 Def was haematological toxicity the main reason; in the rest it was predominantly gastrointestinal or neurological symptoms (headache) or malaise (table 6). One or more blood transfusions were received by 18 Imm and 11 Def while they were taking trial capsules.”

Some participants of the trials survived only through blood transfusions, as AZT attacks the blood-forming cells in the bone marrow. Compared to Richman et al. and the CONCORD trial with a daily dose of 1500 mg and 1000 mg AZT, respectively, the doses of the alleged therapy have now been reduced dramatically and one has often switched to less toxic substances than AZT. Lo and behold, people treated in this way live longer. Nevertheless, AZT is still used, e.g. in treating children.

For a while, the diseases caused by the drugs were euphemistically referred to as HIV-associated or HIV-related. But they do not correspond to the so-called opportunistic infections, i.e. the AIDS-defining diseases. That is why they are now being referred to as non-HIV co-morbidities. These are numerous.

  • Maggi et al., “Clusterization of co-morbidities and multi-morbidities among persons living with HIV: a cross-sectional study.”, BMC Infect Dis. 2019 Jun 25;19(1):555, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/31238916

“Non-HIV co-morbidities included: cardiovascular diseasediabetes mellitushypertensiononcologic diseasesosteoporosis, probable case of chronic obstructive pulmonary disease (COPD), hepatitis C virus (HCV) infection, psychiatric illnesskidney disease.”

“Table 1 – Characteristics of 1087 patients enrolled in the Cluster Project: Years since ART initiation 9.0 (4.0–16.0)”

“The most frequent co-morbidity was dyslipidemia (55.3%), followed by hypertension (31.4%), COPD (29.4%), hepatitis C virus (HCV) infection (25.4, 5.5% with detectable HCVRNA), psychiatric illness (10.3%), diagnosis of osteopenia/osteoporosis (10.1%), diabetes (6.1%), and renal impairment (4.8%); 95 (8.7%) subjects had history of non-AIDS-defining cancer. Forty-nine patients (4.5%) had pCVD events.“

“Our data evidence that, in spite of mean age lower than 50, co-morbidity was the rule among our PLWH (82%)and that more than 50% of our patients were multi-morbid. Moreover, about 30% of them had three or more chronic non-HIV related conditions, thus confirming recent data provided by other studies in the field.”

  • Hernández et al., “Increased incidences of noninfectious comorbidities among aging populations living with human immunodeficiency virus in Ecuador: a multicenter retrospective analysis.”, HIV AIDS (Auckl). 2019 Apr 1;11:55-59, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/31114389

“The average age at HIV diagnosis was 34.1 years old and cART in average was started 15.9 months after HIV-diagnosis. Recruited patients were receiving cART for an average of 59.2±40.2 months. Only 9.9% (n=50) of the patients did not show any NICMs [noninfectious comorbidities]. Diabetes and pre-diabetes was found in 6% (n=30) and 16.3% (n=82) patients, respectively; however, dyslipidemia and overweight/obesity was frequent, as they affected 41.4% (n=208) and 36.4% (n=183) patients, respectively.”

Conclusion: Prevalence of NICMs among subjects under cART was greater than that reported among the Ecuadorian general population, therefore specific public health actions are required to make patients aware of and prevent NICMs among PLHIV in Ecuador.”

The non-HIV co-morbidities correspond 1:1 to the side effects of the alleged therapy.

In the press the virologists speculate on these serious and ultimately fatal comorbidities. As a virologist you are not accountable to anyone.

„Liegen bereits Erkenntnisse vor, ob eine langjährige Infektion und Einnahme der Tabletten verstärkt zu bestimmten Begleiterkrankungen führen?

Es gibt verschiedene Forschungsprojekte, die sich mit dieser Frage beschäftigen. Wir wissen, dass BluthochdruckDiabetes Mellitus und Osteoporose häufiger und bereits in jüngerem Lebensalter auftreten. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass bei Infizierten – auch wenn sie mit Medikamenten die Viruslast gering halten – das Immunsystem ständig stimuliert wird. Das löst eine Entzündungsreaktion aus, die all diese Erkrankungen begünstigt.“

[Translation: HIV and AIDS: Fighting stigmatization – Interview with Jürgen Rockstroh, President of the European HIV/AIDS Society]

Are there any findings as to whether a long-term infection and taking the tablets lead additionally to certain concomitant diseases?

There are various research projects dealing with this question. We know that high blood pressurediabetes mellitus and osteoporosis occur more frequently and at a younger age. This is presumably due to the fact that in infected people – even if they keep the viral load low with medication – the immune system is constantly stimulated. It triggers an inflammatory reaction that favors all these diseases.”

The drugs supposedly work, but an adhoc assumed increased level of inflammation leads to diseases that correspond 1:1 to the side effects of the alleged drugs? This is the case in the interviews with the Frankfurter Rundschau.

The fatal consequences of antiretroviral therapy are most evident in misdiagnosed HIV-negative people, cf.

“Earlier this month, Malone, 59, was summoned to his doctor’s office. He listened as the doctor delivered the stunning news: He is HIV negative.”

„’An HIV-positive person can have good T-cell counts and undetectable viral loads over a long period of time,“ Pridmore said. „And in this case, the patient exhibited symptoms that could be consistent with an HIV diagnosis.’“

In a September 2003 letter from Karp, Malone was classified as „permanently disabled and unable to work or participate in any stressful situation whatsoever.“ His medical prognosis was deemed „very poor.“ The letter said Malone was being treated for 20 medical conditions, the first condition being HIV. The sixth item on the list, nausea and vomiting, was said to be „related to condition 1”.“

„Malone, who is thin and voluble and walks with a cane, said that he attributed his frequent nausea, vomiting, diarrhea and weight loss to being HIV-positive.

The assumptions to which Dr. Rockstroh refers in the interview with the Frankfurt Rundschau are deadly nonsense. Just like the immune reconstitution syndrome, also adhoc assumed by medicine, which can hardly be surpassed in terms of patient contempt. The treated people die precisely because the therapy is so successful. Cf.

“This phenomenon is known as a multitude of names including “immune reconstitution inflammatory syndrome (IRIS)”, “immune reconstitution or restoration disease” (IRD) or immune reconstitution syndrome” and includes various forms of a clinical deterioration as a consequence of a rapid and dysregulated restoration of antigen specific immune responses causing an exuberant inflammatory reaction and a cytokines storm. This was first noted following the introduction of zidovudine monotherapy in the early 1990s, […].”

The patients’ health becomes worse or they die because the immune response, which, thanks to the therapy, is supposed to overshoot, according to this very convenient theory. Given the many and severe side effects of the medication and the fact that it is not even clear how the HI virus is supposed to lead to a deterioration in the immune system, see above, this is remarkably thin.

But if you question that, you don’t risk your scientific career, it will then be over. There is a reason for that. The science of HIV and AIDS consists of little more than guesswork.

Very few HIV+ measured people in therapy die from the diseases from the AIDS catalog, cf.

Of 453 deaths reported through January 14, 2008, underlying causes were as follows: 10% AIDS-defining diseases, 21% non-AIDS malignancies, 9% cardiac diseases, 9% liver disease, 8% non-AIDS-defining infections, 5% suicides, 5% other traumatic events/accidents, 4% drug overdoses/acute intoxications, 11% other causes, and 18% unknown.

That too has been known for years. But nobody looks at the consequences of the alleged therapy.

In spite of all this nobody questions the hypothesis of the lentivirus, which is said to lead to a breakdown of the immune system after 10-15 years, cf.

The duration of clinical latency varies, but progression to the acquired immunodeficiency syndrome typically occurs after a mean of approximately 10 years.“

Unless you are a Long-Term-Non-Progressor (LTNP). Then it can take as long as you like. This has long been known, cf.

“Although antiretroviral therapy and Pneumocystis carinii prophylaxis extend AIDS-free survival, 45% of the group who were AIDS-free > or = 3 years after CD4+ cells fell below 200 x 10(6)/l had not used these treatments.

“CONCLUSIONS:

Significant numbers of individuals remain free of illnesses and AIDS symptoms > or = 3 years after CD4+ cell counts drop below 200 x 10(6)/l. This occurs even in the absence of treatment. The associations seen here suggest that host and viral factors play important roles.”

This result from 1995 would no longer be valid today. As stated above, the CD4 cell count, unusable as it is, has replaced the AIDS diagnosis according to the catalog diseases. By today’s definition, due to their CD4 cell count these people would not be have been counted as AIDS-free, though they showed no symptoms. In therapy they will develop symptoms.

Depending on the publication, the prevalence of LTNP (Long Term Non Progressors), i.e. HIV+ people who show no signs of AIDS, amount to up to 22%. The values fluctuate depending on the study, cf. 

Obviously one falls out of the LTNP group once one has started with ART. After that the criteria for LTNP are designed in such a way that even the healthiest person cannot meet them: the slope of the CD4 curve (“stable CD4 slope”) must never be negative (always ≥ 0). I.e. a flu-like infection on the examination, which leads to a temporary drop in the CD4 number, and no LTNP anymore.

The number of LTNPs is calculated in a way to be artificially small. This is important because HIV+ without AIDS in 22% and more of those affected means a blatant violation of Koch’s postulates.

Nobody questions the hypothesis of the currently assumed 13 different zoonoses from at least 3 species of monkeys, i.e. gorillas (SIVgor), chimpanzees (SIVchz) and shooty mangabeys (SIVsm) to humans, around 1930 in Africa, which are supposed to have led to the development of the different strains of the HI virus, cf.

Evidence of simian immunodefciency virus (SIV) infection has been reported for 26 different species of African nonhuman primates. Two of these viruses, SIVcpz from chimpanzees and SIVsm from sooty mangabeys, are the cause of acquired immunodefciency syndrome (AIDS) in humansTogether, they have been transmitted to humans on at least seven occasions.”

“How the AIDS epidemic actually began, what the contributing factors were, and why it appeared in the mid- to late 20th century (and not before) are not known. Whatever the final answers are, they must account for

(i)   at least seven separate introductions of SIVcpz and SIVsm viruses into humans;
(ii)  the fact that the HIV-1 group M, N, and O viruses are significantly more closely related to SIVcpz viruses from P. t. troglodytes than to the single SIVcpz isolate from P. t. schweinfurthii; and
(iii) the estimation of 1930 (range 1910 to 1950) as the timing of the last common ancestor of the HIV-1 group M viruses.

Earlier than 1910 is not possible, otherwise there should have been an epidemic earlier. Later than 1950 does not work due to the >10 year latency of the alleged slow virus and the first cases in 1981 in the USA. More recent publications now speak of at least 13x transitions between the species, cf.

“More in detailed studies showed that SIVs from chimpanzees and gorillas have crossed the species barrier on at least four occasions leading to HIV-1 group M, N, O and P in humans [6,23]. The different HIV-2 groups are the result from at least nine independant transmissions of SIVs from sooty mangabeys in west Africa [6,23,24].”

And the number of required zoonoses will probably grow, cf. ibid,

Already 13 transmissions involving 3 different NHP species to humans have been documented, 4 for HIV-1 and 9 for HIV-2. Most likely other cross-species occurred in the past but remained undetected, because the virus could not adapt to his new host or was not introduced into an environment where conditions for efficient and rapid spread were present. Today humans are still exposed to a wide diversity of SIVs through hunting and butchering NHPs for bushmeat.”

Nobody asks why these alleged zoonoses did not happen much earlier when humans and their ancestors lived under much worse hygienic conditions than today.

According to theory, 2 different putatively pathogenic HI virus groups arose at the same time, HIV-1 and HIV-2, which differ in their genome by > 45%, cf.

“HIV-1 and HIV-2 have similar genetic structures; however, they exhibit significant sequence variation. For example, the two virus strains used in this study contain only 55% nucleotide sequence identity in the viral genome and 54%, 55%, and 35% amino acid sequence identity in gag, pol, and env, respectively.”

This is a very bizarre coincidence. And there would be 2 remarkably different human immunodeficiency viruses.

What is the point of phylogenetic analysis of the family tree of the HI virus if no two HIV+ people on this planet carry the same virus? On this point, we can refer to none other than the co-discoverer of the HI Virus and Nobel Prize winner Françoise Barré-Sinoussi, cf.

“Mutations of the virus occur repeatedly so that every person living with HIV has more than one virus variant [154]. During transmission, a limited number of virus variants (one to a few) are transmitted, but these will also mutate to form new variants so that no two persons’ HIV is identical [155].”

The alleged evidence of a (or at least 13) zoonosis (zoonoses) in Africa around 1930 is simply nonsense. The molecular clock analysis method leads to the conclusion that SI viruses originated in monkeys about 500 years ago. Cf.

“Here, we use relaxed molecular clock dating techniques to estimate the time of most recent common ancestor for the SIVs infecting chimpanzees and sooty mangabeys, the reservoirs of HIV-1 and HIV-2, respectively. The date of the most recent common ancestor of SIV in chimpanzees is estimated to be 1492 (1266-1685), and the date in sooty mangabeys is estimated to be 1809 (1729-1875).”

“Comparisons between the SIV most recent common ancestor dates and those of the HIV lineages suggest a difference on the order of only hundreds of years. Our results suggest either that SIV is a surprisingly young lentiviral lineage or that SIV and, perhaps, HIV dating estimates are seriously compromised by unaccounted-for biases.”

This method makes obviously no sense. Given the prevalence of lentiviruses in the animal kingdom, that’s not even close to plausible. On the contrary, it can be assumed that SIV, like HIV, is several million years old.

“The pattern of adaptive mutation suggests that SIV has been infecting OWM on timescale of millions of years.”

But AIDS has only existed since the early 1980s. The first 5 cases were reported in 1981, cf.

And until today, HIV/AIDS in industrialized countries is limited to so-called risk groups (mostly MSM, men-having-sex-with-men). A heterosexual epidemic does not take place to this day. Why should it be any different in Africa? In Africa there is hunger, misery, contaminated water, heavy metals and many other things. None of this matters any more once a person is measured HIV+. Former South African President Thabo Mbeki once put it this way,

“The question that arises from this is – why! Why does the same Virus behave differently in the US and Western Europe from the way it behaves in Southern Africa!”

Why did it come about that so much noise was made internationally about the 9th leading cause of death in our country, with not even so much as a whimper about the 1st leading cause of death, tuberculosis?    

Why would the South African Government, knowing the health condition of its own population very well, have been expected so to focus on the 9th leading cause of death as virtually to treat as less urgent and important the first eight (8) leading causes of death, even taken together? Did this have to do with the fact that South Africa could be a lucrative market for the sale of ARVs, as it now is?”

Poverty is the main reason why babies are not vaccinated, why clean water and sanitation are not provided, why curative drugs and other treatments are unavailable and why mothers die in childbirth. It is the underlying cause of reduced life expectancy, handicap, disability and starvation. Poverty is a major contributor to mental illness, stress, suicide, family disintegration and substance abuse. Every year in the developing world 12.2 million children under 5 years die, most of them from causes which could be prevented for just a few US cents per child. They die largely because of world indifference, but most of all they die because they are poor.”   

Mr. Mbeki and many others have been severely attacked for this position. It goes as far as the absurd accusation that they failed to save human lives because they did not introduce the antiretroviral therapy based on the virus hypothesis of AIDS quickly enough.

We have seen the results of this alleged therapy above. It was only after the doses were greatly reduced that people lived longer.

One has tried to underpin the attacks against the critics with crude model calculations. Cf. for example,

“To estimate the lost benefits of ARV drug use in South Africa, we compared the actual number of persons who received ARVs for treatment or PMTCT between 2000 and 2005 with what was reasonably feasible in the country during that period. The difference, multiplied by the average efficacy of ARV treatment or PMTCT prophylaxis gives us the lost benefits of ARV use.“

The problem is that there is no evidence for the presumed effectiveness of HAART as a lifelong(!) therapy, on the contrary. I.e. the multiplicative factor of the mean AVR efficacy (… average efficacy of ARV treatment …) is equal to zero. These drugs do not save lives. The lower the doses, the more slowly they kill.

Thousands of times this model nonsense has been adopted and spread in the media. And the journalists stood there with their breast swollen with pride and patted themselves on the shoulders, what good people they are. Once again the planet was saved.

We could only touch on a few topics here. We did not talk about the still missing animal model of AIDS (apes don’t get AIDS), the immunosuppressive effects of drugs, malnutrition or heavy metals, the lack of any evidence for the slow virus theory, the multiple forms of alleged therapeutic failure (including so-called PCR blips) with which one would like to conceal the ineffectiveness of the therapy, the connection between ART and non-AIDS-defining cancer, the complexity that arises from endogenous retroviruses in the human genome (HERV) for detection, the nonsense of pre-exposure prophylaxis (PrEP) where healthy people are treated with toxic agents and get sick, the billions in profits thanks to the virus hypothesis of AIDS, the statistical tricks with which one has inflated the number of cases, for example by expanding the list of AIDS-defining diseases several times, or asking why the population in Africa continues to grow rapidly despite a deadly virus. Nor have we talked about the disastrous consequences of the therapy in pregnant women in Africa, for both mother and fetus.

Of course, like the antibody tests, the HIV PCR tests are a disaster. For HIV, too, PCR is its own gold standard. On tests only representativly here,

Molecular biology. The science of life. And what has one made of it? A profit center – above a morgue.

Everyone should have understood by now why virology in the corona (lockdown) crisis persists in its positions against all evidence. Several million people who have been treated to death prevent any deviation from the zoonosis nonsense and the belief in the „blessed therapy„.

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Grafikquellen          :

Oben     — O Secretario Estadual da Saúde, Jean Gorinchteyn, do Governo do Estado de São Paulo, em Dia Mundial de Luta contra a Aids – Assinatura da Declaração de Paris Ort: São Paulo/SP Daten: 01/12/2021 Foto: Governo do Estado de São Paulo

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2.) von Oben     —         Kanyabayonga, Nord-Kivu, Demokratische Republik Kongo: Der Welt-AIDS-Tag wird heute, am 1. Dezember 2021, unter dem Motto „Beendigung der Ungleichheiten“ begangen. AIDS stoppen. Pandemien stoppen. Bei dieser Gelegenheit haben sich MONUSCO-Friedenstruppen aus Indien den lokalen Bemühungen angeschlossen, um die Bevölkerung von Kanyabayonga auf diese Pandemie aufmerksam zu machen. In der Demokratischen Republik Kongo leben derzeit rund 510.000 Menschen mit HIV, von denen über 300.000 Frauen, etwas mehr als 125.000 Männer und rund 70.000 Kinder sind. Foto MONUSCO/Kraft

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Ein erlogenes Bürgergeld ?

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Dezember 2022

Hartz IV geht, das Bürgergeld kommt – die Notlagen bleiben

File:Die Linke Grundrecht Grundeinkommen BGE Berlin 2013.jpg

Ist in der Politik nicht alles Kunst, da Niemand etwas macht was er gelernt hat?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Suitbert Cechura

Von der hohen Kunst, die Vereinbarkeit von Existenzsicherung und Zwang zur Arbeit zukunftsweisend und respektvoll zu gestalten.

Die Bundesregierung kündigte ein großes Projekt an, ein Herzensanliegen der Sozialdemokratie: „Aus der Grundsicherung soll ein modernes Bürgergeld werden. Die staatliche Hilfe soll bürgernäher, unbürokratischer und zielgerichteter sein.“ (https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/buergergeld-2124684) Der Bürger sollte sich freuen: In Zeiten, in denen die Zunahme sozialer Not allenthalben beschworen wird, handelt die Regierung! Und so verabschiedete der Bundestag mit der Mehrheit der Koalition den Gesetzentwurf zum Bürgergeld (siehe Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes; daraus, so weit nicht anders vermerkt, die weiteren Zitate).

Nachdem es im Bundesrat keine Mehrheit fand, weil sich die CDU/CSU-regierten Länder weitgehend enthielten, stand der Kompromiss des Vermittlungsausschusses zur endgültigen Verabschiedung im Parlament an. Die ist nun erfolgt und Arbeitsminister Heil (SPD) meldet den Erfolg: „Wir lassen heute Hartz IV hinter uns und schaffen ein neues System.“ (SZ, 25.11.22)

Ein demokratischer Konsens

Die CDU hatte vor der Einigung im Vermittlungsausschuss noch befürchtet, dass das „Bürgergeld Anreiz zum Arbeiten mindert“ (https://www.focus.de/politik/deutschland/cdu-vize-linnemann-unionsgefuehrte-laender-werden-buergergeld-nicht-zustimmen_id_174737154.html). Ohne ein Sanktionsregime, das den Beziehern wehtut, wollte die christliche Partei der Modernisierung des Grundsicherungsbetriebs keine Chance geben. Damit lag sie ganz auf Linie mit der AfD, die auch keine Schmarotzer an der Volksgemeinschaft mag. Diese beschwört die Gefahr, dass die „hart arbeitenden Bürger … von ihren Steuern künftig bis zu zwei Jahren lang den Müßiggang Einzelner finanzieren (sollen), die weder kooperieren noch ihre Vermögensverhältnisse offenlegen müssen.“ (https://afdbundestag.de/norbert-kleinwaechter-buergergeld-ist-unsozial/)

Schon im Vorfeld des Vermittlungsausschusses hatten sich Regierung und CDU auf einen Kompromiss geeinigt, sodass der Vermittlungsausschuss nur eineinhalb Stunden dauerte und die Welt der Elendsverwaltung plötzlich ganz anders aussieht. Die SPD entdeckt bei bleibenden Sanktionen einen „System- und Kulturwandel“ (https://www.welt.de/politik/deutschland/article242303173/Buergergeld-Vermittlungsausschuss-einigt-sich-SPD-erwartet-System-und-Kulturwandel), „CDU-Chef Friederich Merz sprach nach dem Beschluss im Vermittlungsausschuss ebenfalls von einem guten Kompromiss.“ (https://www.ndr.de/nachrichten/info/Vermittlungsausschuss-macht-den-Weg-frei-fuer-Buergergeld.buergergeld136.html)

Die Linke hält das Gesetz für unzureichend und eher für eine Umetikettierung von Hartz IV. Diesen Versuch der SPD, das Image als Partei der „sozialen Kälte“ abzustreifen, lässt sie nicht durchgehen; eine Partei, die sich um die Armen kümmert, muss mehr Herz zeigen (https://www.die-linke.de/start/nachrichten/detail/es-bleibt-armut-per-gesetz-hartz-iv-heisst-jetzt-buergergeld/).

Bei dem öffentlich inszenierten Streit geriet etwas in den Hintergrund, worum es in der Sache geht und was sich durch den Kompromiss real geändert hat. Die ausführlichen Begründungen des Gesetzentwurfs und auch die Dokumente des Vermittlungsausschusses geben aber Auskunft darüber, wie sich die Regierung zur Armut im Land ins Verhältnis setzt.

Die Problemlage: Not durch Lohnarbeit

Mit dem Entwurf wird das Zweite Buch SGB verändert. Das Sozialgesetzbuch (SGB) umfasst inzwischen 13 Bücher und dokumentiert allein schon mit seinem Umfang, dass das Leben in Deutschland umfangreicher staatlicher Interventionen bedarf, damit die Bürger über die Runden kommen können. Das Leben im Kapitalismus scheint also keine einfache Angelegenheit zu sein, wenn es für Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, Unfall, Behinderung oder Pflege und allerlei sonstige Notlagen Unterstützungsleistungen braucht, damit das schiere Überleben gelingt. Sozial­politik in Deutschland ist eben als Erstes ein Armutszeugnis über die materielle Lebenslage der Lohnabhängigen, wie es in der Studie „Der soziale Staat“ von Dillmann/Schiffer-Nasserie detailliert ausgeführt wird (https://www.vsa-verlag.de/index.php?id=6576&tx_ttnews[tt_news]=18104).

Begründet wird der Handlungsbedarf zur Reform des SGB II mit der Problemstellung des Gesetzes: „Im August 2022 erhalten rund 5,4 Millionen Menschen in Deutschland Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. In den 405 Jobcentern werden erwerbsfähige und nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte in ganz unterschiedlichen Lebenslagen beraten und gefördert. Dazu gehören Langleistungsbeziehende, Alleinerziehende, Menschen ohne Schul- oder Berufsabschluss, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, Geflüchtete, aber auch Beschäftigte und Menschen, die vorübergehend hilfebedürftig sind. Die Jobcenter unterstützen zielgerichtet die rund 3,8 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bei der Arbeits- und Ausbildungsmarktintegration.“

Die Leistung für Millionen Menschen, die in der Begründung des Gesetzes angesprochen wird, betrifft Arbeitssuchende. Damit ist klargestellt, warum diese Menschen hilfsbedürftig sind: Sie sind darauf angewiesen, dass sie jemanden finden, der sie als Arbeitskraft benutzen will, weil sich deren Anwendung für ihn lohnt. Es handelt sich also um Menschen, die über nichts verfügen als über sich selbst, was oft als die Freiheit der Person gefeiert wird, im Klartext aber heißt: Sie sind darauf angewiesen, sich als Arbeitskraft zu verkaufen, damit sie an das Geld fürs Lebensnotwendige gelangen.

Not wegen fehlender Arbeit

Auch wenn gern über Fachkräftemangel geklagt wird, bleibt es dabei, dass viele Menschen als unbrauchbar aussortiert sind. Bei „Langleistungsbeziehenden“ spricht allein schon die Tatsache gegen sie, dass sich lange Zeit kein Arbeitgeber gefunden hat, der sie beschäftigen will. Alleinerziehende stehen wegen der Kindererziehung nur begrenzt für ihre Benutzung als Arbeitskraft zur Verfügung und das auch nicht immer auf Abruf, also fallen sie ebenfalls aus dem Arbeitsmarkt raus. Menschen ohne Schul- oder Berufsabschluss haben sich nicht in ausreichendem Umfang für die Benutzung als Arbeitskraft hergerichtet, ihnen fehlen nicht nur die grundlegenden Kenntnisse, die es an modernen Arbeitsplätzen braucht, sondern oft auch die entsprechende Moral, sich der Arbeitsdisziplin zu unterwerfen. Also ist ihre Unbrauchbarkeit als Arbeitskraft Fakt. Als Lohnarbeiter braucht man zudem eine stabile Physis wie Psyche, um den Anforderungen der Arbeitgeber gerecht zu werden. Wer darüber nicht verfügt, ist schnell aussortiert.

Mit seiner Außen- und Wirtschaftspolitik hat Deutschland im Verbund mit EU und „freiem Westen“ einiges für die Ruinierung anderer Staaten getan, auch mit seinen Waffenlieferungen für Kriege gesorgt, so dass der Strom der Flüchtlinge nicht versiegt. Diesen Menschen fehlen nicht nur die entsprechenden Sprachkenntnisse. Sie brauchen Orientierung bei rechtlichen Regelungen und kulturellen Gewohnheiten, um sich in dieser Gesellschaft zurechtzufinden und die Arbeitsdisziplin zu entwickeln, die den meisten deutschen Bürgern durchs Ausbildungswesen zur zweiten Natur geworden ist. Hinzu kommen die vielen Beschäftigten, die im Niedriglohnsektor arbeiten und von ihrem Lohn nicht leben können, deshalb als „Aufstocker“ firmieren.

Die Leistungen, die der Sozialstaat erbringt, zielen nicht darauf, diesen Menschen das Leben angenehm, sondern sie selber wieder tauglich zu machen, nämlich für besagte Benutzung. Wer von seiner Arbeitskraft leben muss, steht also in einer doppelten Abhängigkeit: Er muss jemanden finden, der ihn benutzen will, und diese unsichere Angelegenheit kann er nicht mit eigenen Mitteln durchstehen, so dass er abhängig von staatlich organisierten Leistungen ist.

Not durch sozialstaatliche Betreuung – Hartz IV

Der Sozialstaat, der sich um die Existenz dieser Bürger sorgt, weiß, dass bei ihnen einiges im Argen liegt:

„Zugleich haben die außergewöhnlichen Herausforderungen, mit denen sich Staat und Gesellschaft in Folge des Kriegs in der Ukraine konfrontiert sehen, es vielen Menschen in den sozialen Mindestsicherungssystemen erschwert, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Gerade die dynamischen Preisentwicklungen bei Energie und Lebensmitteln sorgen hier für erhebliche Probleme. Aufgabe des Sozialstaats ist, die Menschen in dieser Lage zu unterstützen und dafür Sorge zu tragen, dass die Leistungen der Mindestsicherungssysteme auch in dieser Situation auskömmlich sind… Eine angemessene Erhöhung der Regelbedarfe ist notwendig, denn die bisherige Fortschreibung der Regelbedarfe bildet die Inflationsentwicklung erst im Nachgang ab.“

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Wir haben es gemacht, die Lobbyisten der SPD

Dass erst „Putins Krieg“ den Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, die sozialen Notlagen beschert hat, gehört zur hiesigen Legendenbildung und Kriegspropaganda (https://www.heise.de/tp/features/Verarmung-und-Spaltung-neuerdings-nur-durch-Putin-7216949.html). Schließlich bezeugt die Zahl der Tafeln im Lande – die mit 940 (https://www.tafel.de) die der Jobcenter übersteigt – oder der Kleiderkammern und Winterhilfsaktionen, dass schon vor dem Krieg die Leistungen der sogenannten Mindestsicherungssysteme kein Auskommen gesichert haben, dass der Staat vielmehr seit Jahrzehnten einen Teil seiner Bürger von privater Wohlfahrt abhängig gemacht hat.

Auch haben sich die Preise nicht einfach „dynamisch“ entwickelt. Sie sind vielmehr das – marktwirtschaftlich logische – Resultat des Wirtschaftskrieges, den Deutschland gegen Russland führt. Und wenn die bisherige Berechnung der Regelbedarfe kritisiert wird, so sollte man sich erinnern, dass sie genau aufs Konto der Parteien geht, die jetzt regieren; die waren ja in unterschiedlicher Kombination in den letzten Jahrzehnten an der Macht. Mit ihren Regelsätzen haben sie also während der Preissteigerungen der vergangenen Jahre systematisch die Verelendung der Aussortierten betrieben.

Jetzt wird eine Korrektur angemeldet. Die soll dazu führen, dass erwachsene Leistungsbezieher 53 Euro mehr im Monat erhalten. Die kümmerliche Erhöhung macht deutlich, dass die Ampel-Koalition auch weiter darauf achten will, dass der Zwang zur Arbeit für die Sozialleistungsbezieher erhalten bleibt. Dabei gesteht die Regierung zudem ein, dass sie nicht einfach an eine Verbesserung gedacht hat, sondern gerichtlichen Vorgaben folgt:

„Damit soll auch der im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juli 2014 enthaltene Vorgabe einer zeitnahen Reaktion auf eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigte Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter und Dienstleistungen entsprochen werden.“

Ein Skandal und eine Gemeinheit gegenüber den Betroffenen ist es offenbar nicht, wenn Regierungen acht Jahre lang ein Verfassungsgerichtsurteil ignorieren! Dass sie es jetzt zur Kenntnis nehmen bzw. als Begründung für ihr Handeln heranziehen, soll offenbar für sie sprechen. Mit der Anpassung der Regelsätze wollen sie aber nicht nur die Not der Leistungsbezieher abmildern, sondern verfolgen gleich höhere Ziele:

„Es geht darum, mehr Respekt, mehr Chancen auf neue Perspektiven und mehr soziale Sicherheit in einer modernen Arbeitswelt zu verankern und unnötige bürokratische Belastungen abzubauen.“

Wie alles in dieser Gesellschaft hat offenbar auch der Respekt seinen Preis, ist in dem Fall billig zu haben. Etwas diffiziler sind die Ansagen zur Verankerung von mehr Chancen und neuen Perspektiven in einer modernen Arbeitswelt. Werfen wir dazu einen Blick auf die (un-)nötigen bürokratischen Belastungen!

Die Lösungen: näher am Bürger, näher am Bedarf

„Ziel der Einführung des Bürgergeldes ist es daher, gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, dass es Menschen im Leistungsbezug möglich wird, sich stärker auf Qualifizierung, Weiterbildung und Arbeitssuche zu konzentrieren.“

Erst wird wieder klargestellt, wozu die Menschen in dieser Gesellschaft da sind: zum Arbeiten. Ihnen dazu zu verhelfen, darin besteht die Leistung des Staates. Dass es dieser Hilfe bedarf, liegt – aus sozialstaatlicher Perspektive – nicht an der Wirtschaft, die sie nicht benutzen will, sondern an ihnen selbst und ihrer mangelnden Benutzbarkeit. Hat der Staat in der Vergangenheit den Mangel meist an ihrem unzureichenden Arbeitswillen festgemacht und sie darauf verpflichtet, möglichst schnell jede Arbeit anzunehmen – Vorrang der Vermittlung für die Jobcenter –, entdeckt er nun einen Mangel bei der Qualifikation. Denn der Arbeitsmarkt hat sich verändert:

„Auch hat sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt seit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Jahr 2005 grundlegend geändert. Arbeitskräfte, insbesondere qualifizierte Arbeitskräfte, werden vielerorts gesucht. Der Arbeitsmarkt ist insgesamt in einer guten Verfassung. Die Zahlen zeigen aber auch, dass Langzeitarbeitslose von dieser positiven Entwicklung oft nicht profitieren können.“

Also braucht es zusätzliche Mittel, um die Menschen wieder tauglich für den Arbeitsmarkt und damit unabhängiger von staatlicher Hilfe zu machen. Dass sie als Lohn- und Gehaltsempfänger auch weiter in Abhängigkeit bleiben, davon zeugen natürlich die anderen Sozialgesetzbücher. Damit aber das staatlich anvisierte Ziel der „Modernisierung“ erreicht werden kann, bedarf es der Änderung bisheriger Regelungen. Dazu gehört neben einer etwas aktualisierten Fortschreibung der Regelsätze ein anderer Umgang der Jobcenter mit ihrer „Kundschaft“:

„Menschen im Leistungsbezug sollen sich stärker auf Qualifizierung, Weiterbildung und Arbeitssuche konzentrieren können, die Potenziale der Menschen und die Unterstützung für eine dauerhafte Arbeitsmarktintegration sollen stärker im Fokus stehen.“

Das bisherige Schikanesystem, das die Menschen – obgleich „vom Markt“ als untauglich und damit nicht gefragt befunden – ständig dazu anhielt, ihre Arbeitsbereitschaft unter Beweis zu stellen, gilt nun als ineffektiv; es habe Menschen nur gelegentlich zu Kurzzeitjobs verholfen, damit zu Dauerkunden gemacht hat etc. Deshalb sollen nun andere Regeln im Umgang mit den Klienten her. Dazu gehören Vertrauens- und Karenzzeiten. Doch hier hörte die Einigkeit der Parteien von Ampel und CDU auf. So hieß es im Regierungsentwurf:

„Um den Leistungsberechtigten zu ermöglichen, sich bei gleichzeitiger Existenzsicherung auf die Arbeitssuche zu konzentrieren, sollen in den ersten zwei Jahren des Bürgergeldbezugs Karenzzeiten für die zu übernehmenden Kosten der Unterkunft und Heizung und für die Berücksichtigung von Vermögen eingeführt werden. In diesem Zeitraum wird bei der Bedürftigkeitsprüfung Vermögen nicht berücksichtigt, sofern es nicht erheblich ist.“

Wer sich um seine Weiterbildung für einen neuen Job kümmern muss, sollte sich ganz darauf konzentrieren. Vom Streit mit der Sozialbürokratie darüber, wie sehr er sein Vermögen aufzubrauchen hat und wovon er leben soll, sollte er für einige Zeit befreit werden. Das war der CDU zu lang und nun lautet der Kompromiss: „Der Vermittlungsausschuss schlägt demnach vor, die sogenannte Karenzzeit, in der die Kosten für die Unterkunft in tatsächlicher Höhe und die Heizkosten in angemessener Höhe anerkannt und übernommen werden, auf ein Jahr zu halbieren…“ (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw47-pa-vermittlungsausschuss-buergergeld-921210 ) Wenn es um den Druck auf die Armen geht, kann man nicht kleinlich genug sein und muss möglichst genau prüfen, was denen zusteht und was nicht.

Die Höhe des Schonvermögens – Beträge von 60.000 Euro und mehr waren in der Diskussion –wurde vor allem von den Kritikern des Gesetzes moniert. Zwar kann es kaum viele Menschen mit solchem Vermögen unter den Hartz IV-Beziehern geben, doch wurde dieser Punkt im Streit zwischen Opposition und Regierung zur Prinzipienfrage.

Stellt sich nur die Frage, wie kommen Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, zu solchen Beträgen? Arbeitnehmer müssen lange sparen, um so viel zusammen zu bekommen. Es gibt natürlich nach langer Berufstätigkeit Abfindungen für Entlassene, wenn sie in den Genuss eines Sozialplans kommen. Solche Gelder sofort für die Existenzsicherung einzusetzen, verbietet sich aber aus Sicht der Regierung. Sie hat ja seit der Rentenreform und den massiven Rentensenkungen unter Rot-Grün den Bürgern immer wieder vor Augen geführt, dass die Altersrenten nicht zum Leben reichen, man daher privat Vorsorge zu betreiben hat. Nicht zuletzt wurde dazu die Riesterrente eingeführt. Dass die Bürger fürs Alter selber vorzusorgen haben, darin sind sich alle Parteien einig. Der Regierung ging es darum, zu dokumentieren, dass dies auch möglich ist, und sie wollte nicht, dass durch den Einsatz dieser Vorsorgegelder im Notfall der Arbeitslosigkeit die Unmöglichkeit der eigenen Altersvorsorge offenkundig wird.

Die CDU sah in der Höhe dieses Schonvermögens ein anderes Prinzip verletzt, dass nämlich jeder Bürger alle seine Mittel für seinen Lebensunterhalt zunächst selber einsetzen muss, bevor er staatliche Hilfe erhält. Auch dieser Grundsatz wird von allen Parteien geteilt und so konnte man sich schnell einigen: „Vermögen ist danach nicht zu berücksichtigen, wenn es in der Summe 40.000 Euro für die leistungsberechtigte Person und 15.000 für jede weitere in dieser in Bedarfsgemeinschaft lebenden Person überschreitet“. (Dokumente des Vermittlungsausschusses).

Doch nicht nur an die Alten haben die Sozialpolitiker der Koalition gedacht, und so heißt es im Regierungsentwurf: „Anlässlich der Einführung des Bürgergeldes werden die Grundabsetzbeträge für Schülerinnen und Schüler, Studierende und Auszubildende erhöht, um die Erfahrung zu verstärken, dass sich die Arbeitsaufnahme auszahlt.“

Eine wahrlich großzügige Leistung, dass diejenigen, die arbeiten und Geld verdienen, davon einen größeren Teil behalten dürfen. Zur reformerischen Tat wird es nur dadurch, dass bislang diese Gelder auf das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft angerechnet wurden. Haben Jugendliche damit die schlechte Erfahrung gemacht, dass sich die Aufnahme von Ferienjobs oder Ausbildungsverhältnissen für sie nicht lohnt? Der Sozialstaat hegt immer den Verdacht, dass sich Menschen in der staatlich zugelassenen Armut einrichten, also braucht der Nachwuchs hier „Verstärker“, die ihn im richtigen Sinne konditionieren.

Die Perspektive: Zurück auf den Arbeitsmarkt

Auch der Eingliederungsprozess selber kommt ins Visier der Reformer: „Weiterentwicklung des Eingliederungsprozesses – Einführung eines Plans zur Verbesserung der Teilhabe (Kooperationsplan) mit Vertrauenszeit und Kooperationszeit. Die Eingliederungsvereinbarung im SGB II wird durch einen von den Leistungsberechtigten und Integrationsfachkräften gemeinsam erarbeiteten Kooperationsplan abgelöst. Dieser dokumentiert in klarer und verständlicher Sprache die gemeinsam entwickelte Eingliederungsstrategie. Er dient als ‚roter Faden‘ im Eingliederungsprozess und stellt ein Kernelement des Bürgergeld-Gesetzes dar. Er enthält keine Rechtsfolgebelehrung. Im Hinblick auf vereinbarte Mitwirkungshandlungen (Eigenbemühungen, Maßnahmeteilnahmen und Bewerbungen auf Vermittlungsvorschläge) wird im Kooperationsplan die Selbstverantwortung der Leistungsberechtigten und ihre Vertrauensbeziehung zur Integrationsfachkraft mit dem Ziel einer vertrauensvollen Zusammenarbeit gestärkt. Mit Erstellung des Kooperationsplans beginnt eine sechsmonatige Vertrauenszeit.“

Die Ersetzung der Eingliederungsvereinbarung durch einen Kooperationsplan erscheint zunächst als reine Umbenennung, ist es aber nicht, was der Verweis auf die Rechtsfolgebelehrung deutlich macht. In der Eingliederungsvereinbarung wurde bisher festgelegt, was der Hartz IV-Bezieher zu leisten hatte. Es handelte sich um einen rechtlich bindenden Vertrag, wobei der Schein gleicher Vertragspartner sehr durchsichtig war: War die eine Seite doch auf Geld angewiesen, während die andere Seite diktieren konnte, was dafür an Leistungen zu erbringen war.

Weil es sich um eine Rechtsregelung handelte, war dieser Vertrag auch entsprechend formuliert und nicht unbedingt für den Leistungsbezieher verständlich, was in der Vorgabe für den neuen Kooperationsplan angesprochen wird. Verstöße gegen diesen Vertrag wurden sanktioniert, landeten sehr häufig vor Gericht und nicht selten bekamen die klagenden Leistungsbezieher Recht. Von daher wurde im Regierungsentwurf diese Form der Vereinbarung als ineffektiv aufgegeben und durch einen Plan ersetzt, der während der Vertrauenszeit fast ganz auf Sanktionen verzichtet. Bei wiederholtem Versäumnis von Terminen konnte aber auch während der Vertrauenszeit das staatlich fixierte Existenzminimum um 10 Prozent gekürzt werden.

Die wahre Aufgabe in den staatlichen Amtsstuben: Bürger auspressen !

Das ging den Vertretern der christlichen Nächstenliebe zu weit: „Gänzlich entfallen soll nach dem Vermittlungsergebnis die vom Bundestag beschlossene sechsmonatige Vertrauenszeit, in der auch bei Pflichtverletzungen keine Sanktionen verhängt worden wären. Bei solchen Sanktionen soll nach dem Vermittlungsergebnis ein dreistufiges System Anwendung finden: Bei der ersten Pflichtverletzung mindert sich das Bürgergeld für einen Monat um zehn Prozent, bei der zweiten für zwei Monate um 20 Prozent und bei der dritten für drei Monate um 30 Prozent.“ (Dokumente des Vermittlungsausschuss) Und so wurde auch hier eine schnelle Einigung hergestellt, denn dass Sanktionen sein müssen, war offenbar auch den Ampel-Vertretern eine Selbstverständlichkeit.

„Außerhalb dieser sechs Monate besteht die Kooperationszeit. Die Zusammenarbeit zwischen Integrationsfachkräften in den Jobcentern und erwerbsfähigen Leistungsberechtigten erfolgt in dieser Zeit grundsätzlich ohne Rechtsfolgenbelehrungen. Wenn in der Kooperationszeit jedoch Absprachen zu Mitwirkungshandlungen (Eigenbemühungen, Maßnahmeteilnahmen und Bewerbungen auf Vermittlungsvorschläge) von Leistungsberechtigten nicht eingehalten werden, sollen diese Pflichten durch Aufforderungen mit Rechtsfolgenbelehrungen rechtlich verbindlich festgelegt werden.“ So lautete schon der Regierungsentwurf.

Womit klargestellt wird, wie sich die Kooperation zwischen Jobcentermitarbeitern und Arbeitslosen auf Augenhöhe vollzieht. Eben nach dem Motto: „Bist Du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt.“ Das Bundesverfassungsgericht hatte jedoch die Sanktionsmöglichkeiten eingeschränkt, indem es darauf hinwies, dass es sich bei den Hartz IV-Leistungen um die Sicherung des Existenzminimums und damit um die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins handele. Dessen Senkung widerspreche somit den eigenen Maßstäben! Dieses Bedenken greift der Gesetzgeber jetzt auf:

„Leistungsminderungen wegen wiederholter Pflichtverletzungen und Meldeversäumnisse betragen höchstens 30 Prozent des maßgebenden monatlichen Regelbedarfs. Kosten der Unterkunft und Heizung werden nicht gemindert. Die Leistungsminderung beträgt bei einer Pflichtverletzung 20 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs. Bei jeder weiteren Pflichtverletzung mindert sich das Bürgergeld um 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs… Die bisherigen verschärften Sonderregelungen für die unter 25-jährigen Hilfeempfänger entfallen.“

Auf diese Weise kann auch der Betrag für die Menschenwürde gesenkt werden! Doch nicht nur mit Strafen sollen die Hilfeempfänger zu tauglichen Arbeitskräften gemacht werden, es gibt auch Anreize:

„Um weitere Anreize zu schaffen, Geringqualifizierte auf dem Weg zu einer abgeschlossenen Berufsausbildung zu unterstützen und ihnen damit den Zugang zum Fachkräftearbeitsmarkt und zu den am Arbeitsmarkt besonders nachgefragten Berufen zu öffnen, erhalten Teilnehmende an einer berufsabschlussbezogenen Weiterbildung im SGB II und SGB III künftig ein monatliches Weiterbildungsgeld in Höhe von 150 Euro, wenn sie arbeitslos sind oder als Beschäftigte aufstockende SGB II-Leistungen beziehen.“

Wer sich diesen Lockungen dennoch verschließt und sich nicht als Kunde ins Jobcenter begibt, ist freilich nicht vor sozialstaatlicher Fürsorge sicher:

„Zur Verbreiterung ihres Förderspektrums kann die Agentur für Arbeit oder ein durch diese beauftragter Dritter künftig eine ganzheitliche Betreuung (Coaching) durchführen. Diese verfolgt das Ziel eines grundlegenden Aufbaus der Beschäftigungsfähigkeit von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die aufgrund von vielfältigen individuellen Problemen besondere Schwierigkeiten haben, Arbeit aufzunehmen. Das Coaching kann auch aufsuchend oder beschäftigungsbegleitend erfolgen.“

Sich den Anforderungen des Arbeitsalltags zu unterwerfen, erfordert eben eine gewisse Selbstorganisation und Disziplin. Wem das fehlt, dem soll auf die Sprünge geholfen werden. Jugendliche, die in der Arbeitssuche keine Perspektive für sich sehen und möglicher Weise auf Abwege geraten, werden als Sicherheitsproblem ins Auge gefasst, dem es vorzubeugen gilt. Also muss man sie aufsuchen, um die „Beschäftigungsfähigkeit“ an ihnen vor Ort herzustellen.

Fazit

Jetzt wurde im Bundestag die Einigkeit zwischen Regierung und CDU/CSU als größter Oppositionspartei hergestellt. Die AfD, der der Druck auf die Sozialleistungsempfänger zu gering war, blieb bei ihrer Kritik, sie hatte für Deutschland eine „aktivierende Grundsicherung“ gefordert, „die sicherstellt, dass wirklich Bedürftige die Hilfe erhalten, die sie benötigen“. Auch die Linke war nicht überzeugt, sie hatte vor allem die Höhe der Regelsätze bemängelt.

Aber mit dem von der AfD benannten Prinzip stimmen im Grunde alle Parteien überein – und so ist ja auch der Grundsatz der Hilfen im § 1 SGB I gemeint: Es braucht eine Grundsicherung, damit die Menschen wieder tauglich gemacht und in Arbeit gebracht werden. Sie selber sind dafür verantwortlich, obwohl sie die Sache nicht in der Hand haben. Zur Ausgestaltung des Drucks, der dazu auf sie ausgeübt wird, bieten sich dann viele Varianten an: mehr Zwang zur Arbeit hier, Verstärkung der Anreize da, weniger Schonung der bescheidenen Eigenmittel, größere Nähe zum Klienten etc. Darüber darf munter gestritten werden, das zeichnet unsere demokratische Kultur aus!

Urheberrecht
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Grafikquellen      :

Oben      —         This image, originally posted to Flickr, was reviewed on  by the administrator or reviewer File Upload Bot (Magnus Manske), who confirmed that it was available on Flickr under the stated license on that date.

Source Die Linke

Author stanjourdan from Paris, France

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2.) von Oben       —     Franz Müntefering (l.) und Gerhard Schröder (r.) bei der Abschlusskundgebung im Bundestagswahlkampf 2005 in Frankfurt am Main

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Unten      —         Das neue Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer (1896)

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Stimmen aus der Linken?

Erstellt von DL-Redaktion am 28. November 2022

#MeToo und DIE LINKE

So stehe ich hier als arme Thorin und bin nicht Klüger als zuvor?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Edith Bartelmus-Scholich

Am 15. April 2022 berichtete der Spiegel in einer fünfseitigen Reportage über sexuelle Übergriffe in der hessischen LINKEN. Das ist jetzt mehr als ein halbes Jahr her. Wie geht die Partei DIE LINKE mit den Problemen um?

Der Spiegel-Artikel erschütterte die ohnehin schon angeschlagene Partei. Er belastete die schon vorher geschwächte Vorsitzende Janine Wissler. Er hatte zur Folge, dass auf dem Bundesparteitag in Erfurt im Juni 2022 der Parteivorstand neu gewählt wurde und die Debatte über den Umgang mit #LinkeMeToo großen Raum einnahm. In dieser Debatte erhoben mehrheitlich junge Genossinnen sowohl vor dem gesamten Parteitag als auch im Frauenplenum die Stimme und schilderten eindrücklich ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen oder Sexismus in der Partei. Es waren bewegende Momente eines versuchten Bruchs mit der patriarchalen Unterdrückung von Frauen in der Partei. Sie blieben selten.

Was ist #MeToo?

#MeToo hat Millionen von sexuellen Übergriffen betroffenen Frauen seit seinem Beginn vor 5 Jahren eine Stimme und ein Gesicht in der Öffentlichkeit gegeben. Das war mutig und erfolgreich: Viele Mehrfachtäter sitzen heute hinter Gittern. Viele Millionen Frauen und Männer haben sich mit den Betroffenen öffentlich solidarisiert. Die Gesellschaft ist für sexuelle Übergriffe heute eher sensibilisiert.

Die eigene Geschichte, das eigene Leid, aber auch den Namen des Täters in der Öffentlichkeit zu nennen und seine Bestrafung einzufordern, ist der emanzipatorische Kern von #MeToo. Es ist nicht zufällig, dass #MeToo nicht vor 100 oder 50 Jahren, sondern erst vor 5 Jahren begann. Selbstbewusst das Gesicht zu zeigen und die Stimme zu erheben, die eigene Verletztheit und die Gewalterfahrung zum öffentlichen Thema zu machen, erfordert eine vorausgegangene Emanzipationsgeschichte sowohl wirtschaftlich als auch rechtlich. Die Grundlagen für #MeToo wurden in rechtlicher Gleichstellung und in massenhafter Frauenerwerbsarbeit gelegt. Fast alle Frauen, die sich mit #MeToo zu Wort melden sind erwerbstätig. Millionen Mal erfolgten die offenbarten sexuellen Übergriffe im Rahmen der Erwerbstätigkeit. Gleichzeitig erwächst #MeToo aus einer neuen kämpferischen Welle der Frauenbewegung, getragen von überwiegend jungen Frauen, die sowohl patriarchale Rollenzuweisungen als auch sexualisierte Frauenbilder und sexuelle Gewalt bekämpfen. Ohne diese Voraussetzungen wäre der Erfolg von #MeToo nicht darstellbar.

Patriarchale Reaktion

#MeToo hat allerdings auch zu heftiger Gegenwehr der patriarchalen Gesellschaft geführt. KritikerInnen der weiblichen Gegenwehr warnten schon 2018 vor dem „Klima einer totalitären Gesellschaft“. #MeToo habe eine „Kampagne der Denunziation und öffentlicher Anschuldigungen“ ausgelöst – die Beschuldigten seien auf eine Stufe mit sexuellen Aggressoren gestellt worden, ohne antworten oder sich verteidigen zu können. Als Folge konstatierten sie eine „Säuberungswelle“, von der insbesondere Kunst und Kultur betroffen sei, was letztlich zu einer unfreien Gesellschaft führen könne. Sie befördere zudem einen Puritanismus und spiele so den Gegnern der Emanzipation in die Hände. Zwar sei es legitim, die Formen sexueller Gewalt gegenüber Frauen zu vergegenwärtigen. Eine beharrliche oder ungeschickte Anmache sei jedoch kein Vergehen – schließlich gäbe es keine sexuelle Freiheit ohne eine „Freiheit, jemandem lästig zu werden“.

Aus diesen Argumenten wird klar, dass die sexuelle Freiheit (von übergriffigen Männern) offenbar der seelischen und körperlichen Unversehrtheit von Frauen übergeordnet werden soll. Noch weiter gehen die Angriffe von David Schneider und Thomas Maul in einem Essay in der Zeitschrift Bahamas von März 2018: Die MeToo-Bewegung habe keinen „rationalen bzw. feministischen Kern“ sondern sei „von Anfang an ein hemmungsloser Angriff auf das zivilisierte Zusammenleben in den westlichen Gesellschaften“ gewesen.

Und was ist #LinkeMeToo?

Alle vorgenannten Argumente bekommen betroffene Frauen und ihre UnterstützerInnen auch in linken Zusammenhängen bis hin zur Partei DIE LINKE täglich zu hören. Das Patriarchat bestimmt auch linkes Denken.

Das hat Folgen für den Umgang mit #linkemetoo in der Partei DIE LINKE :

Den Betroffenen von sexuellen Übergriffen und Sexismus in der Partei DIE LINKE wird konsequent die Stimme und das Gesicht genommen. Keinesfalls sollen sie parteiöffentlich sagen, dass sie betroffen von sexuellen Übergriffen sind. Es wird ihnen geraten, nicht den Namen des Täters zu nennen. Das genau ist jedoch der befreiende Kern von #MeToo. Die politische Praxis in der Partei DIE LINKE beraubt die Betroffenen des emanzipatorischen Moments. Wenn #MeToo als eine Selbstermächtigung verstanden werden kann, dann ist #LinkeMeToo das Ersticken einer Selbstermächtigung.

Folgerichtig wird Betroffenen in der Partei DIE LINKE Schweigen empfohlen. Seit einigen Monaten können sie sich zwar an Expertinnen Kommissionen und an Vertrauensgruppen wenden. Dort erfahren sie Unterstützung, aber nicht dabei die Vorwürfe parteiöffentlich zu erheben. Alle Vorwürfe werden praktisch als Geheimsache behandelt. Auch von Dritten, die von der Betroffenen über die Vorwürfe informiert wurden, wird verlangt zu schweigen. Die Unschuldsvermutung gegenüber dem Beschuldigten ist in der innerparteilichen Praxis der Stärkung der Betroffenen übergeordnet.

Betroffene werden ein zweites Mal zum Opfer

Frauen, die sich dem nicht unterwerfen, sondern den Namen des Täters nennen, werden oft mit Unterlassungsklagen überzogen. Im Landesverband Bayern ließ sich ein Beschuldigter dazu von einer Genossin, die Mitglied der Bundesschiedskommission war, anwaltlich gegen Genossinnen, die Vorwürfe gegen ihn erhoben, vertreten. Der Parteikarriere der Genossin aus der Bundesschiedskommission hat es nicht geschadet: Sie ist seit kurzem Sprecherin der bayrischen Landespartei.

Es gibt Rufmordkampagnen und Mobbing gegen Betroffene und deren UnterstützerInnen ohne dass die Vorstände dagegen einschreiten. Aber so gut wie nie hat der Vorwurf einer Genossin Folgen für den Beschuldigten Genossen. Die meisten Parteikarrieren gehen ohne Knick weiter. Zieht sich ein exponierter, beschuldigter Funktionsträger vom Amt zurück, wie zuletzt in NRW, wird die Legende verbreitet, dass seine Ex-Freundin und deren Unterstützerinnen ihn diffamiert und aus dem Amt gemobbt haben. Die Parteikarriere der betroffenen Genossin ist jedoch regelmäßig beendet, sobald sie sich wehrt.

Frauen, die in der Partei DIE LINKE gegen sexuelle Belästigung aufstehen, werden systematisch ein zweites Mal zum Opfer gemacht. Vorwürfe, die schon erwiesen sind, werden dabei kleingeredet und im Umgang mit den Tätern werden Samthandschuhe angezogen. Ganze Strömungen vertreten, dass es faktisch ein Recht auf Selbstverwirklichung durch sexistisches Verhalten geben müsse. Parteitage, wie zuletzt der Landesparteitag in NRW, entgleisen völlig, weil Delegierte ihr vermeintliches Recht Genossinnen herabzuwürdigen und als Objekt zu behandeln, in antifeministischen Redebeiträgen einfordern ohne, dass das Tagungspräsidium auch nur einmal einschreitet. Und in der patriarchalen Partei gibt es zudem eine langjährige Kultur der Kollaboration von Frauen mit übergriffigen Männern, die bis in die höchsten Parteiämter reicht.

Ständige Rückschläge im Kampf gegen Sexismus

Zum Bundesparteitag lag ein Antrag von Feministinnen zur Erneuerung des feministischen Konsens in der Partei DIE LINKE vor. Er wurde verabschiedet und soll nun in den Landesverbänden umgesetzt werden. In NRW war der Landesvorstand mehrheitlich bereit dazu. Der diesbezügliche Beschluss des Landesvorstands wurde von vier Landesvorstandsmitgliedern der Strömung Sozialistische Linke vor der Landesschiedskommission angefochten. Die Anfechtung richtete sich gegen eine Selbstverpflichtung von Funktions- und Mandats Trägerinnen zum Besuch eines Seminars, welches für Sexismus sensibilisieren soll. Im Kern richtete sich damit die Anfechtung auch gegen den Beschluss des Bundesparteitags. Zwei Tage vor einem Landesparteitag signalisierte die Landesschiedskommission, dass sie die Selbstverpflichtung als unzulässigen Eingriff in die Rechte von Funktions- und Mandats Trägerinnen einstuft, und den Landesvorstandsbeschluss aufheben wird. Auf dem anschließenden Landesparteitag gebärdete sich ein Teil der Delegierten triumphalistisch und wie ein sexistischer Sauhaufen.

Erschwerend kommt hinzu, dass es nicht gelungen war auf dem Bundesparteitag eine Satzungsänderung zu beschließen, die er erlaubt hätte, Sanktionen bis hin zum Parteiausschluss gegen überführte Genossen zu verhängen. So bleibt es dabei, dass selbst langjährig als übergriffig bekannte Männer nicht sanktioniert werden können. Auch ist es bislang nicht durchsetzbar, dass Beschuldigte bis zur Klärung der Vorwürfe ihre Ämter ruhen lassen.

Transformative Gerechtigkeit als Perspektive?

Bei sexuellen Übergriffen möchte die Partei DIE LINKE zukünftig das Konzept der transformativen Gerechtigkeit anwenden. Transformative Gerechtigkeit ist eine Idee und Bewegung, die in USA von Schwarzen Cis-Frauen, Queers und Trans*-Menschen getragen wird. Die Bewegungen steht auch für Widerstand gegen den industriellen Gefängnis- Komplex, weißen Mainstream-Feminismus und institutionalisierte Anti-Gewalt-Arbeit. Es handelt sich um ein Konzept welches auf Verbrechen angewendet wird bei denen Täter und Opfer gesellschaftlich marginalisiert sind.

Viele Jahre probiert – aber nichts ist passiert! Haben zu viele Sargnägel der Partei vielleicht im Bundestag gesessen?

Eine Verletzung, z.B. ein sexueller Übergriff, wird als zwischenmenschliche Verletzung begriffen. Daher steht die Wiedergutmachung des erlebten Unrechts im Verhältnis zwischen der verletzten Person und dem Täter im Vordergrund. Die Verantwortungsübernahme der gewaltausübenden Person für ihre Tat ist dabei ausschlaggebend.  Transformative Gerechtigkeit hat nicht das Ziel, die gewaltausübende Person zu bestrafen oder auszuschließen. Gleichwohl hat sie auch gerade nicht das Ziel, sie zu schützen. Vielmehr folgt sie der Annahme, dass für Verletzte oft bessere Ergebnisse erzielt werden können, wenn ausgehend von den Bedürfnissen und Wünschen der verletzten Person ein Dialog mit dem Täter versucht wird. Die kontinuierliche Einbeziehung der Betroffenenperspektive ist deshalb unverzichtbar.

Hierbei gibt es ein praktisches und ein grundsätzliches Problem. Erfolgreiche Prozesse der transformativen Gerechtigkeit dauern häufig bis zu mehreren Jahren. Das heißt praktisch mit einem einzelnen Täter muss eine Gruppe kontinuierlich lange Zeit arbeiten. In der Partei DIE LINKE gibt es jedoch viele Täter, so dass ein solcher Ansatz bald zur Überlastung der dafür geschaffenen Strukturen führen wird. Grundsätzlich stellt sich zudem die Frage, ob ein Konzept das für Verbrechen von Unterdrückten gegenüber anderen Unterdrückten entwickelt wurde, wird in einer linken, weißen, männerdominierten Partei unter Missachtung des gesellschaftlichen Machtgefälles zwischen einem Täter, der gesellschaftlich der Gruppe der Unterdrücker angehört, und einem Opfer, das gesellschaftlich zur Gruppe der Unterdrückten gehört, also unter Nichtbeachtung des gesellschaftlichen Machtgefälles, überhaupt erfolgreich einsetzbar ist.

Edith Bartelmus-Scholich, 27.11.2022

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Oben      —   Foto: Martin Heinlein

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2.) von Oben     —         Foto: DIE LINKE NRW / Irina Neszeri

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von DL-Redaktion am 27. November 2022

Der Klimakampf ist ein Kampf um Lebenschancen, also um Gerechtigkeit

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Unser Gesprächsgast wurde erkennbar ungeduldig. Die Klimaökonomin Claudia Kemfert saß am Dienstag im taz Talk mit meiner Co-Chefredakteurin Barbara Junge und mir. Wir werteten die Klimakonferenz aus, die am vergangenen Wochenende so überaus enttäuschend zu Ende gegangen war. Und obwohl Frau Kemfert eine pädagogisch hochmotivierte Person ist, wies sie doch mehrfach darauf hin, dass sie viele Dinge wirklich schon oft gesagt habe. So wie, sagte sie sinngemäß, übrigens alle Klima-Befassten schon lange in ewigen Schleifen vortrügen, was zu geschehen habe, um den Planeten bewohnbar zu halten.

Dann stellte ich die Frage, ob es denn für ein Fortkommen in dieser Sache nicht auch China brauche, das sich auf der Klimakonferenz in Scharm al-Scheich aber quergestellt habe. Da sagte Frau Kemfert, ihre Brille zurechtrückend: „Ja, das Argument höre ich jetzt tatsächlich seit 18 Jahren, es ist wirklich Wahnsinn.“ Einmal abgesehen davon, dass ich kurz bemüht war, das nicht persönlich zu nehmen, hatte sie natürlich recht. Ganz unabhängig davon, was China klimapolitisch unternimmt: Es ist im Wortsinne fatal, wie sehr sich die Klimadebatte im Kreis dreht.

Schon die Berichterstattung von der Klimakonferenz selbst litt unter dem Murmeltiertag-Syndrom. Die NDR-Show „extra 3“ brachte in einem satirischen Zweiminüter ziemlich gut zur Geltung, wie sich die Ereignisse wiederholen: Ein Reporter berichtet im genervtesten aller Tonfälle von der allkonferenzlich mangelnden Handlungsbereitschaft der Industriestaaten, von der Enttäuschung der NGOs – „ist ja eh immer alles dasselbe“.

Witzig war das wiederum nicht, nur bitter. Die wichtigste Frage dieses Jahrhunderts – und wir denken darüber nach, wie wir uns damit nicht langweilen. Klingt nach Themenstellung fürs Journalistik-Seminar – ist aber kein First World Problem, sondern ein Whole World Problem. Solange es auf die Mehrheiten in demokratischen Staaten ankommt, spielt das Haushalten mit der öffentlichen Aufmerksamkeit eine herausragende Rolle im Kampf gegen die fossile Lobby.

Dabei es geht nicht darum, die üblichen Allesverbrenner aus dem Christian-Lindner- und Friedrich-Merz-Camp vor Klima-Ennui zu bewahren. Den werden sie immer vorschützen, um sich den Argumenten für Tempolimit et cetera nicht beugen zu müssen. Vielmehr geht es darum, die Handlungsbereitschaft der anderen, der Besserwollenden, zu sichern. Das ist schwierig genug.

Ulrike Winkelmann - Zukunft des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks (34715387826).jpg

Ich finde ja, es lohnt sich, mit schlechten Gefühlen zu arbeiten und Schuldige zu finden. Das mag der Debatte die edle „Wir alle in einem Boot“-Note nehmen, hat aber den Vorteil, dass Schwung hineinkommt: Wie genau haben Ölkonzerne verhindert, dass über den Klimawandel geredet wurde? Welche Politiker hat RWE in NRW eingekauft, um so lange wie möglich mit Kohle Geld zu verdienen?

Auch die Letzte Generation, die derzeit für regelrechte Hysterie sorgt, ist meiner Ansicht nach nicht von quasireligiösen Endzeitvorstellungen beseelt, wie so gern unterstellt wird. Treiber scheint mir eher die sehr irdische Wut über den Machtmissbrauch der Eure-Zukunft-ist-uns-egal-Truppen in Politik, Wirtschaft und anderswo zu sein.

Quelle        :          TAZ-online     >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Bushaltestelle Kremenholl/Paulstraße in Remscheid

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Kampf um mehr Lohn

Erstellt von DL-Redaktion am 21. November 2022

Berlin: Nach der Demo beginnt der Klassenkampf

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :      Peter Nowak

Ca. 7000 Menschen haben am Samstag 12. November in Berlin unter dem Motto „Umverteilen jetzt“ gegen die Auswirkungen der kapitalistischen Krise in Berlin demonstriert.

Es war der bisher größte linke Protest in diesen Herbst. Doch wie geht es weiter?Der größte Erfolg war, dass auf der Demonstration der Kampf gegen den Kapitalismus in unterschiedlichen Blöcken im Mittelpunkt stand. Es gab sogar Banner von DGB-Gewerkschaften wie der IG-Bau, aber auch viele Fahnen der FAU. Besonders positiv ist auch der Careblock zu nennen, in dem sich Beschäftigte aus Krankenhäusern und Pflegeberufen versammelt haben. Ganz vorne liefen junge liefen Antikapitalist*innen, die den Zusammenhang zwischen Krise und Krieg in den Mittelpunkt ihrer Losungen gestellt hatten.Sie kritisierten die Nato und den russischen Militarismus. Deswegen ist es absurd, wenn ein Kommentator der linkskonservativen jungen Welt den Demonstrant*innen vorwirft, sie hätten sich nicht gegen die Nato positioniert. Dabei wird eben vergessen, dass der gemeinsame Nenner der sehr unterschiedlichen Demonstrant*innen der Kampf gegen die kapitalistischen Zumutungen war und ein linksreformerisches Programm dagegen propagiert wurde, das sich in dem Begriff Umverteilen zusammenfassen lässt. Diejenigen, die aus der Demo eine Antinatoaktion machen wollen, sollten etwas mehr historisches Bewusstsein haben. Die wesentlich von den Revolutionären Obleuten getragenen Proteststreiks gegen Hunger und Armut im Ersten Weltkrieg im Jahr 1916 beschränkten sich zunächst auf soziale Forderungen. Erst im Januar 1918 entwickelten sic die Streiks unter dem Eindruck der Oktoberrevolution zu einer Maifestion gegen Verelendung und Krieg.

Kampf um mehr Lohn

Jetzt muss erst einmal darum gehen, den Schwung der Demonstration zu nutzen, damit es eine längerfristige Protestbewegung wird. Da kommen eben die künftigen Tarifverhandlungen ins Blickfeld, die demnächst anstehen. Das Bündnis Genug ist genug hat bereits vor einigen Wochen in Berlin-Neukölln die Verbindung von Krisenprotesten und Tarifkämpfen hergestellt. Dort sprachen eben nicht nur linke Bewegungsaktivist*innen sondern Lohnabhängige aus verschiedenen Branchen. Solche Veranstaltungen sorgten dafür, dass es möglich wurde, dass aktive Gewerkschaftler*innen mit ihren Bannern auf eine eindeutig von der unabhängigen Linken geprägte Demonstration vertreten waren.

Das Thema Lohnkampf und Unterstützung von Arbeiter*innen war in fast allen Blöcken dieser Demonstration präsent. Wenn nur ein Bruchteil dieser Menschen die künftigen Tarifkämpfe solidarisch unterstützen würden, könnten die eine besondere Dynamik bekommt. Schließlich wird es dort darum gehen, angesichts einer zweistelligen Inflationsrate Reallohnverluste zu verhindern. Schon wird von der Kapitalseite der Mythos von der Lohnpreis-Spirale gestreut, um auf eine Verzichtspolitik einzustimmen. Es wäre dann die Aufgabe der solidarischen Linken, dem nicht nur ideologisch sondern auch mit Streikposten vor den Betrieben entgegenzutreten.

Wie eine solche solidarische Unterstützung aussehen könnte, zeigte die Aktion Dichtmachen vor 15 Jahren. Im Jahr 2008 unterstützten solidarische Linke die Beschäftigten im Einzelhandel während ihres Streiks, in dem sie die Filialen blockierten und damit den Einsatz von Streikbrecher*innen verhinderten. Der Kontakt zwischen aktiven Kolleg*innen und der Außerparlamentarischen Linken ist damals über die Euro Mayday-Bewegung entstanden. Vielleicht gehört die Kontaktanbahnung zu den streikbereiten Beschäftigten zu den größten Erfolgen der kurzzeitigen Bewegung. So könnten auch die aktuellen Krisenproteste zu einer stärkeren Unterstützung von Arbeitskämpfen führen. Denn gegen den teuren Döner hilft eben kein kleines Feuer wie es auf einen Transparent im autonomen Block hieß, sondern mehr Lohn.

Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. umsetzen

Und dann könnte auch die Bewegung Deutsche Wohnen Enteignen durch die linke Demonstration wieder Auftrieb bekommen. Denn trotz ihres grosses Erfolges bei der Abstimmung im Herbst 2021 wird noch immer über die Umsetzungsperspektiven gestritten. Manche in der Politik wollen die Umsetzung sogar überhaupt verhindern. Eine oft skandierte Parole am Samstag in Berlin lautete „Wir enteignen Euch alle“. Wenn es kein Verbalradikalismus war, sollte es zunächst mal heißen. „Volksbegehren umsetzen – Enteignung von Wohnen und Co sofort“. Zudem müssen die Büros der Kapitalparteien CDU/CSU eigentlich Gegenstand vielfältiger Proteste werden.

Diese Partei inszeniert aktuell einen Angriff auf die Rechte von Erwerbslosen mit ihrer Kampagne gegen das geplante sowieso unzureichende Bürgergeld und bedient dabei die Ressentiments gegenüber angeblich faule Erwerbslose, die nach dem Willen der CDU/CSU weiter sanktioniert und entrechtet werden sollen. Leider spielte dieser Angriff auf Menschen, die sowieso schon durch das Hartz IV-Regime massiv unter Druck sind, keine große Rolle auf der Umverteilen-Demonstration. Das sollte aber die Aktivist*innen nicht hindern, den Unionsparteien ihre Verachtung für ihren Krieg gegen die Erwerbslosen mitzuteilen.

Keine Stromabschaltung unter dieser Nummer

Viele von ihnen sind auch in diesem Winter denen von Gas und Stromsperren bedroht. Sie brauchen solidarische Unterstützung. Das geht nur durch Organisierung im Stadtteil und im Arbeitsplatz. Dafür gibt es Vorbilder in der jüngeren Bewegungsgeschichte: Unter dem Motto „Keine Räumung unter dieser Nummer“ war nach Einführung von Hartz IV ein Nothilfetelefon eingerichtet worden, bei dem sich Menschen melden konnten, denen die Kündigung drohte, weil das Jobcenter nicht mehr die vollen Mietkosten übernahm. Aktuell könnte ein solches Nothilfetelefon unter dem Motto „Keine Abschaltung von Strom und Gas unter dieser Nummer in den Kiezen eingerichtet werden.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben         —        Demonstration für die Umverteilung von Vermögen vom Marx-Engels-Forum über das Finanzministerium und das Willy-Brandt-Haus zum Merhringdamm in Berlin.

Verfasser Leonhard Lenz         /       Quelle    :  Eigene Arbeit      /   Datum    :    12. November 2022

Diese Datei wird unter CreativeCommonsCC0 1.0 Universal Public Domain Dedication zur Verfügung gestellt.

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Hartz 4 oder Bürgergeld?

Erstellt von DL-Redaktion am 15. November 2022

Die lange Gedächtnisleistung der Gesellschaft

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6d/KAS-Rentenpolitik-Bild-12016-1.jpg

Von: Jimmy Bulanik

Derzeit versuchen Konservative und Liberale mit dem Bürgergeld ein Gesetz zu einem Plus an Kooperation und Vertrauen für die Lebensqualität der Menschen in der Gesellschaft zu verwässern. Verhindern können diese Zirkel a la Mont Pèlerin Society das Gesetz nicht. Der Zeitgeist in der Zivilgesellschaft ist diesen Parteien wie CDU, CSU, FDP, AfD weit voraus, wo sich im Geiste die Kreise schließen.

Die Gesellschaft im Inland stellt die Volkswirtschaft Nummer 4 auf der Welt, Volkswirtschaft Nummer 1 auf dem Binnenmarkt der Europäischen Union dar und soll immer egalitärer werden. In der Armut dem daraus resultierenden Elend wie Krankheiten, Schulden, Obdachlosigkeit wohlgemerkt.

Das ist nicht das, wonach die Julia Friedrichs in ihrem Wirken wie Dokumentationen oder dem publizieren von Fachliteratur forscht. Vielmehr gilt es die Menschenwürde in Europa aufrecht zu erhalten. Beispiele für das Gegenteile erlebte die Weltgemeinschaft die vorigen gelegten Grundlagen, welche einen Herrn Trump als Präsident der USA möglich gemacht haben oder innerhalb Europa den Ausstieg des Vereinigten Königreich aus der Europäischen Union. Was ein Friedensprojekt aus den Erfahrungswerten nach zwei Weltkriegen ist, welche den europäischen Boden verbrannt hat und darin zirka 77 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben.

Für die Ziele und Ansinnen der CDU, CSU, FDP, AfD die Gesellschaft insgesamt verarmen, in Elend verkommen zu lassen wie es in dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten von Amerika bereits seit Jahrzehnten der Fall ist, können und dürfen alle Menschen im Land sich das in ihr Langzeitgedächtnis legen. Die lange Gedächtnisleistung der Gesellschaft sollte niemand unterschätzen. Sie münden in dem Wahlverhalten der Menschen.

Für die Parteien wie der CDU, CSU stirbt die Wählerschaft auf Lebenszeit, welche Senioren sind aus. Das bedeutet, es gibt im politischen Sinne keine sichere Bank mehr. Das befördert den Wettbewerb um die Gunst der Gesellschaft zu den Wahlen mit ebensolchen öffentliche bekleidete Ämter und innerparteiliche Arbeitsplätze wie Büropersonal.

Wahltage sind Zahltage

Als auch die Zuwendung auf die Menschen an der Basis in allen Bundesländern. Gute Politik mit ebensolchen würdigen Gesetzen dürfen den verantwortlichen Parteien an der Wahlurnen gewürdigt werden. Ob am 27. November 2022 bei der Wahl des Posten des Landrates im Landkreis Kleve, am 14. Mai 2023 wird in Schleswig – Holstein die Kommunalwahl abgehalten und genau an dem Tag wählt die Freie Hansestadt Bremen ihre Bürgerschaft mit drei Stimmen im Bundesrat, oder später im Herbst 2023 bei der Landtagswahl in Hessen mit fünf Stimmen im Bundesrat, im Herbst 2023 im Freistaat Bayern mit vollen sechs Stimmen im Bundesrat.

Die Termine zur Wahl bei den Landtagswahlen in Hessen und im Freistaat Bayern im Jahr 2023 stehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht fest. Auch steht es den Menschen in allen Bundesländern frei vor den anstehenden Wahlen beispielsweise zur Weihnachtszeit dem Landesverband der bevorzugten Partei eine ebensolche Wahlkampfspende zu überweisen. Jeder Euro ist hilfreich, ganz nach dem musikalischen Narrativ von AC / DC mit deren weltweit bekannten Lied „Money Talks“.

Mit einen gefüllten Magen fliegt ein Republikaner noch besser als Trump.

Die Grundrechte der Menschen in einer demokratisch verfassten Bundesrepublik Deutschland sind sakrosankt. Demzufolge können und dürfen alle Menschen jederzeit ohne eine Obergrenze davon Gebrauch machen. Ob via Email bei dem für sich zuständigen MdB, via den Plattformen im Internet. Diese Zuschriften können in einer Vergleichbarkeit zu Briefen an den Adressat, bzw. den Adressaten nicht unterwegs verloren gehen.

Das ist für alle MdB von Vorteil die Gewissheit zu haben, wie die eigene Auffassung zu welchen Gesetzen, Wirken der Politik insgesamt ist. Das ist in jedem Fall besser als im privaten Segment unproduktiv zu protestieren. Geschweige an Seelenfängerinnen, Seelenfänger zu geraten.

Das mobile Internet auf dem Smartphone in der eigenen Tasche ist eine tatsächliche Macht. Es gibt mit dem Dienst Mastodon mastodon.social/explore eine Möglichkeit sich an der öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen. Dieser ist Sparsam was die Daten anbetrifft und in jedem Fall demokratischer.

Nützliche Links im Internet:

ZDF – Die Anstalt zum Netzwerk der Mont Pèlerin Society

www.youtube.com/watch?v=vzUNwWpk6CE

Der Wikipedia Eintrag zur Mont Pèlerin Society

de.wikipedia.org/wiki/Mont_P%C3%A8lerin_Society

AC / DC – Moneytalks

www.youtube.com/watch?v=2lqdErI9uss

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Grafikquellen        :

Oben        —         Lügen HABEN KURZE BEINE. >>Ich stehe dafür, daß die Renten steigen wie die Nettoeinkommen.<< Gerhard Schröder, 17. Februar 1999 Abbildung: Porträtfoto Plakatart: Kandidaten-/Personenplakat mit Porträt Auftraggeber: CDU-Bundesgeschäftsstelle, Hauptabteilung Öffentlichkeitsarbeit, Bonn Objekt-Signatur: 10-025 : 311 Bestand: Wandzeitungen (10-025) GliederungBestand10-18: CDU-Bundesgeschäftsstelle Lizenz: KAS/ACDP 10-025 : 311 CC-BY-SA 3.0 DE

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Die Long Covid Folgen

Erstellt von DL-Redaktion am 13. November 2022

Das Kind muss an die frische Luft

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Von Birte Müller

Als die Tochter unserer Autorin an Long Covid erkrankt, beginnt für die Familie eine Zeit voller Schmerz und Verzweiflung, Liebe und Hilfsbereitschaft. Wie aus dem „Wurm“ wieder Olivia wurde.

Die Sonne scheint. Die Frösche quaken am Teich. Es ist ein wunderschöner Tag im Mai. Einer, an dem man einfach nur draußen sein möchte. Doch wir sind drinnen, die Vorhänge und Fenster geschlossen. Meine Tochter Olivia liegt im Bett. Seit Monaten. Sie kann nicht aufstehen, nicht mal sitzen oder den Kopf heben. Es ist, als würde eine unsichtbare, tonnenschwere Last sie erdrücken. „Ich bin kein richtiger Mensch mehr“, sagt sie. „Ich bin nur noch ein Wurm.“ Sie ist 13 Jahre alt und an Long Covid erkrankt.

Ich habe keine Worte für den Schmerz, meine Tochter so leiden zu sehen, und noch weniger für meine Fassungslosigkeit darüber, dass sich in unserem Gesundheitssystem niemand verantwortlich fühlt, niemand bereit ist, ihr zu helfen. Das Kind soll einfach daliegen, tatsächlich wie ein Wurm. Und ich als Mutter soll keinen Stress machen, denn Stress schadet ihr.

Die Pandemiezeit war eine Herausforderung für mich und meine Familie. Olivias 15-jähriger Bruder Willi ist schwer geistig behindert, und als im Lockdown alle Hilfen wegfielen, wurde unser Alltag zur Zerreißprobe. Aber Anfang des Jahres waren wir sicher, das Schlimmste sei überstanden, obwohl wir uns mit Corona ansteckten: Wir kannten niemanden, der einen schweren Verlauf hatte, wir waren alle geimpft und die Kinder gingen zu dem Zeitpunkt seit einem halben Jahr wieder ziemlich normal zur Schule.

Nie hätte ich gedacht, dass unser persönlicher Corona-Albtraum da erst anfängt. Ein halbes Jahr erleben wir eine unfassbare Zeit, voller Schmerz und Verzweiflung, aber auch voller Liebe und Hilfsbereitschaft. Und am Ende, wie ein Wunder, findet unsere Tochter zurück ins Leben.

Alles beginnt in der ersten Januarwoche, als meine Familie sich mit dem Coronavirus ansteckt. Um Olivia mache ich mir am wenigsten Sorgen. Ich bin vielmehr beunruhigt, wie wohl ihr Bruder und unsere Eltern durch die Infektion kommen: Sie kommen gut durch.

Zwei Wochen nachdem Willi das Virus aus seiner Förderschule mitgebracht hat, kann er auch schon wieder hingehen. Olivia ist nach mehreren Tagen mit hohem Fieber noch zu groggy. Sie übt lustlos mit mir ein paar Englischvokabeln, chillt im Bett und schaut Youtube. Ich rechne fest damit, dass es ihr bald besser geht.

Aber es geht nicht besser, im Gegenteil. Die Party zum 13. Geburtstag fällt aus. Die geschenkten Lammfellstiefel bleiben unbenutzt auf dem Flur, und das neue 1.500er-„Harry Potter“-Puzzle müssen wir auf dem Boden machen. Auf einem Stuhl sitzen ist für Olivia zu anstrengend.

Der Kinderarzt beruhigt uns: „Das ist normal, Jugendliche benötigten oft viele Wochen, um sich von der Infektion zu erholen.“ Genervt denke ich an meine aufgeschobene Arbeit.

Ich besorge Vitamin D, eine Freundin bringt Proteinpulver, mein Mann Matthias presst frische Säfte. Draußen regnet es. Olivia verbringt viel Zeit auf dem Boden neben meinem Computer, während ich versuche zu arbeiten. Sie bastelt und hört Hörbücher: „Robinson Crusoe“, „Moby Dick“, je länger, desto besser. Zwischendurch spielen wir. Doch die Kalahasteinchen erscheinen Olivia plötzlich schwer, das Backgammonbrett riesig. Immer öfter krabbelt sie zurück in ihren Deckenhaufen, um sich auszuruhen.

Auch die zwei Treppen bis in mein Arbeitszimmer kann sie bald nur noch auf allen vieren bewältigen. „Ich bin so fertig!“, sind ihre häufigsten Worte. Nachmittags kümmere ich mich um Willi. Er findet es super, dass seine kleine Schwester jetzt so viel im Bett liegt, bereit zum Kuscheln. Nur, dass sie nicht mehr zu ihm ins Zimmer zum Murmeln kommen kann, findet er blöd.

Immer wieder spreche ich davon, dass wir an die frische Luft gehen sollten und dass Olivia nächste Woche hoffentlich ein paar Stunden zur Schule könne. Immer wieder antwortet sie, das sei alles viel zu anstrengend. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich bin ungeduldig.

Olivia erzählt von Albträumen, in denen ich sie zur Schule zwinge, wo sie sitzt und sich nicht bewegen kann. Der Kinderarzt nimmt Blut ab und sagt, ich müsse mir keine Sorgen machen, alles sei in Ordnung. Aber ich mache mir Sorgen, denn ganz offensichtlich ist nicht alles in Ordnung.

Es wäre mir lieber gewesen, man hätte etwas im Blut gefunden, das mir erklärte, warum mein Kind immer schwächer wird – so etwas wie Eisenmangel, wo es nur ein paar Tabletten braucht.

„Ich funktioniere einfach nicht mehr“, weint mein Kind

Im ersten Jahr der Pandemie, als es das Wort Long Covid noch nicht gab, hörte ich im Radio, dass sich in Schweden einige Kinder ohne Vorerkrankungen selbst nach leichten Infektionen nicht erholten. Ich fragte mich damals, ob es wohl eine Nachricht wert gewesen wäre, wenn das Problem nur kranke und behinderte Kinder betroffen hätte.Auch ich stelle im Verlauf von Olivias Erkrankung fest, dass ihre gesundheitlichen Probleme deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen, wenn ich berichte, dass wir sonst 70 Kilometer im Monat zusammen joggen, dass Olivia noch im Sommer mit ihren Pfadfinderinnen drei Wochen durch den Wald gewandert ist.

„Ich funktioniere einfach nicht mehr“, weint mein Kind nun häufig. Sie ist ratlos über das, was mit ihrem Körper passiert.

Meine Befürchtung, Olivia könne Long Covid haben, wächst täglich. Aber ich spreche das Wort nicht aus. Als wäre es ein schlechtes Omen. Nur mit dem Kinderarzt würde ich gerne darüber reden, doch er wimmelt uns ab. Nach zwei Monaten höre ich auf zu arbeiten und beginne stattdessen zu googeln. Ich finde Artikel, in denen Ärzte Long Covid bei Kindern entweder als überschätztes Problem bezeichnen oder mutmaßen, dass es das gar nicht gibt.

Eltern, die sich in Facebook-Gruppen über Long Covid austauschen, erzählen etwas ganz anderes. Viele der dort beschriebenen Kinder gingen seit über einem Jahr nicht zur Schule, würden im Rollstuhl geschoben und verbrächten die Tage allein im Bett. Ich lese von schweren Konzentrations- und Schlafstörungen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Muskelschwäche und -zuckungen, Lähmungen, Schwindel und immer wieder von starken Schmerzen und extremer Erschöpfung. Die meisten sind nach der Infektion, einige nach der Impfung erkrankt. Selbst die leicht Betroffenen sind weit entfernt von einer normalen Kindheit. Über Rehas oder Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken erfahre ich, dass die Kinder kränker nach Hause kommen, als sie hingefahren sind.

„Pacing“ ist das Gegenteil von Kindsein

Über die Selbsthilfegruppen erhalte ich so viele, oft widersprüchliche, Informationen, dass ich überhaupt nicht mehr weiterweiß. Doch in einem Punkt sind sich alle einig: Das Wichtigste für die Erkrankten ist „Pacing“. Als ich das Wort google, habe ich die Hoffnung, es sei eine handfeste, medizinische Therapie. Aber es bedeutet nur, niemals mit den Kräften an die Grenze der eigenen Belastbarkeit zu gehen, sondern immer darunter zu bleiben. Das Gegenteil vom Kindsein.

Aber mir leuchtet ein, warum Pacing sein muss. Wann immer Olivia sich nur etwas zu sehr anstrengt, verschlechtert sich ihr Zustand. Ein sogenannter Crash.

Wir wechseln zu Willis Kinderärztin. Auch wenn sie, außer Globuli in Betracht zu ziehen, nichts tun kann, nimmt sie die Sache ernst, rät ebenfalls zur Schonung und überweist uns zu einem Herzecho, um eine Herzmuskelentzündung auszuschließen.

Ich höre auf, Olivia spanische Personalpronomen abzufragen oder zu versuchen, sie an die frische Luft zu zerren. Viele Stunden Häkeln, Puzzeln, SkipBo und zwei Staffeln argentinische Teenie-Telenovela später – für die Olivia im Leben vorher nie Zeit gehabt hätte – haben wir endlich das Gefühl, dass es langsam bergauf geht.

Doch nur ein einziger sonniger Nachmittag, an dem zum ersten Mal Schulfreundinnen kommen und Olivia im Bollerwagen durch die Siedlung ziehen, macht alles kaputt. Am Abend sagt Olivia, es sei der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Am nächsten Morgen kann sie keinen einzigen Schritt mehr ohne Hilfe gehen, geschweige denn stehen.

Olivias Kopfschmerzen werden immer schlimmer. Ihr Herz rast selbst dann, wenn sie liegt, und gerät ständig aus dem Takt. Das macht ihr Angst – doch bis zu dem mühsam ergatterten Termin bei der Kardiologin sind es noch Wochen.

Ich fühle mich oft traurig, bin ungeduldig mit Matthias, und es fällt mir immer schwerer zu essen. Nicht mal der Kaffee schmeckt mehr.

Die Internetrecherche macht mir Angst. Ich lese, dass viele Eltern stark betroffener Kinder nicht von Post Covid oder Post Vac – also Long-Covid-Symptomen nach Impfung –, sondern von ME/CFS sprechen, dem Chronischen Fatigue-Syndrom, einer Erkrankung, die schon lange bekannt, aber weitestgehend unerforscht ist. Viele Erkrankte verbringen ihr Leben im Bett in abgedunkelten Zimmern. Nach jeglicher Aktivität verschlechtert sich der Zustand. ME/CFS tritt meist nach Virusinfektionen auf. Es gilt als nicht heilbar. Schon vor Corona litten daran über 250.000 Menschen in Deutschland – unterversorgt, psychologisiert, ignoriert. Sie nennen sich „lebende Tote“. Ich muss das verdrängen.

Als Olivia Fieber bekommt, verbringe ich die Nacht bei ihr im Bett, ich mag sie nicht mehr alleine lassen. Es ist Mitte März, nach 8.000 gepuzzelten Teilen und über zehn Meter Stricklieselband gehen wir das erste Mal ins Krankenhaus. Keiner von uns kann sich zu dem Zeitpunkt vorstellen, wie viele Krankenhausaufenthalte folgen werden und wie viele Monate es dauern wird, bis Olivia wieder in ihr Kinderzimmer und ich in unser Ehebett zurückkehre.

Ich gehe davon aus, dass mein Kind Long Covid hat und man ihm im Krankenhaus helfen wird. Aber es geht nie um Therapie, sondern nur um Ausschlussdiagnostik. Untersucht wird alles Erdenkliche, und wird nichts gefunden, ist die Diagnose entweder eine psychische Erkrankung oder Long Covid. Dauern die Symptome mehr als drei Monate an, spricht man von Post Covid, bei weiter anhaltenden schwerwiegenden Symptomen vom Chronischen Fatigue-Syndrom.

Viele Mechanismen dieser Erkrankungen sind bis jetzt unerforscht. Doch in mehreren medizinischen Pub­li­ka­tio­nen lese ich, dass es sich bei Post Covid um eine Autoimmunerkrankung handeln könnte. Im Blut der meisten Patienten finden sich bestimmte Autoantikörper, die körpereigene Strukturen angreifen. Aber im Krankenhaus scheint sich damit niemand auszukennen. Kann es sein, dass ich mehr weiß als die Ärzt:innen?

Bei einer der vielen Blutabnahmen traue ich mich, vorsichtig um die Bestimmung dieser Autoantikörper zu bitten. Die Ärztin lacht verächtlich. Mit den Worten: „Brauchen Sie Hilfe von uns oder wir von Ihnen?“, werde ich auf meinen Platz verwiesen.

Das Schlimmste im Krankenhaus ist die Belastung für Olivia. Sie baut weiter ab. Neben den anstrengenden Untersuchungen, den weiten Wegen und Wartezeiten herrscht eine ständige Unruhe. Weinende Kinder, telefonierende Eltern, piepsende Geräte, selbst nachts ein ewiges Rein und Raus, Wecken um 7 Uhr – Pacing unmöglich.

Weil auf Olivia nicht gehört wird, muss ich mein Kind vor unnötigem Stress schützen. Man sagt ihr: „Du musst keine Angst haben. Es ist nicht schlimm.“ Doch wer kann beurteilen, was für einen anderen schlimm ist? Wir erleben, dass körperliche Re­ak­tio­nen wie Herzrasen oder Schwindel, die sich mit den durchgeführten Untersuchungen nicht erklären lassen, als Angst­störung abgetan werden. Oft verzweifelt Olivia, weil man ihr nicht glaubt. Mich hält man für eine He­li­kop­ter­mut­ter.

Vor Olivias Erkrankung hatte ich mal gelesen, es sei schwierig, bei Kindern „Long Lockdown“ von Long ­Covid zu differenzieren, denn Symptome wie Kopfschmerzen oder Erschöpfung träfen auf beide Gruppen zu. Das leuchtete mir damals ein. Aber dass mein völlig gesundes und munteres Kind so viele Monate nach dem Lockdown jetzt zufällig ab dem Tag der Infektion psychisch krank geworden sein soll, ergibt keinen Sinn.

Als eine Krankenhauspsychologin kommt, denke ich, sie will uns helfen. So hatte ich es erlebt, als unser Sohn Willi nach seiner Geburt lange sehr krank gewesen war. Die Psychologin fragt mich, wie es mir geht. Es tut mir gut, endlich mit jemandem über meine Angst und Erschöpfung sprechen zu können. Doch als ihre Mimik am Ende des Gesprächs von verständnis- zu vorwurfsvoll wechselt, ist es wie ein Schlag in mein Gesicht: „Als Mutter müssen Sie das schützende Dach der Familie sein“, sagt sie, als wisse sie plötzlich, wer „schuld“ an der Erkrankung meiner Tochter ist. Eine einfache Rechnung: behinderter Bruder + heulende Mutter = psychosomatisch krankes Kind.

Dabei sind mein Mann und ich sehr wohl ein gutes Dach für unsere Familie – auch wenn es mit Willi oft sehr anstrengend ist. Mein jetziger Zustand ist nicht Auslöser von Olivias ­Erkrankung, er ist die Folge. Mir wird klar, dass ich hier gegen viel mehr als nur dieses scheiß Long Covid zu kämpfen habe. Ich nehme mir vor, nie wieder vor einer Krankenhauspsychologin zu weinen.

Bis heute frage ich mich, was gewesen wäre, wenn Olivia wirklich keine körperliche, sondern eine psychische Erkrankung gehabt hätte. Denn auch bis wir einen Psychotherapeuten finden würden, sollte mehr als ein halbes Jahr vergehen. Er arbeitet mit Olivia heute an den traumatischen Erfahrungen ihrer Erkrankung.

Wir hatten Olivia im Rollstuhl ins Krankenhaus gebracht und schieben sie eine Woche später liegend wieder nach Hause, ohne jegliches Behandlungskonzept. Ich kann das nicht glauben. Vielleicht sind die Ärztinnen genauso ratlos wie wir. Ich weiß es nicht, denn niemand spricht mit uns.

Aber wozu musste Olivia durch diese unvorstellbar belastende Diagnostik gehen – sogar Nervenwasser aus der Wirbelsäule wurde entnommen –, wenn die Diagnose Post Covid schlussendlich überhaupt keine therapeutische Konsequenz hat?

15 Jahre nach der Geburt meines ersten Kindes ist nun auch mein zweites ein Pflegefall. Der Toilettenstuhl, das Pflegebett und eine Matratze für mich kommen ins Wohnzimmer. Den Rollstuhl stellen wir nach oben in Olivias Zimmer, sie kann nicht mehr sitzen, nicht mal mehr den Kopf heben. Ihr verlassenes Zimmer gleicht bald einer Abstellkammer. Ich vermeide es, die Tür zu öffnen. Es schmerzt zu sehr.

Quelle        :           TAZ-online             >>>>>             weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Ein Team von Ärzten, Krankenschwestern und Physiotherapeuten kümmert sich um kritische Patienten mit COVID-19 auf der Intensivstation des Vila Nova Cachoeirinha Krankenhauses nördlich von São Paulo

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Unten      —        Início da vacinação infantil com a Coronavac

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Aus der Arbeitswelt

Erstellt von DL-Redaktion am 13. November 2022

Arbeitsunfälle in Deutschland: Mehr als ein Toter pro Tag

Alles politische Unfäller – so ganz ohne Opfer? 

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Dr. Renate Dillmann

Am 17.10. diesen Jahres starb der bulgarische Arbeiter Refat S. unter bisher ungeklärten Umständen im Duisburger Stahlwerk von Thyssenkrupp. Er war 26 Jahre alt, es war sein zweiter Arbeitstag. Refat S. wurde im Schlacke Becken gefunden, die Polizei ermittelt noch.

In jeder Woche sterben durchschnittlich 10 Arbeiter auf Baustellen, in Stahlwerken, Chemiefabriken, Schlachthöfen. In der Regel sind es Männer. Oft Migranten, die unter besonders hohem Arbeitsdruck in besonders wenig gesicherten Bereichen arbeiten.

Öffentlich interessiert das tägliche Sterben in der BRD nicht groß – jedenfalls deutlich weniger als der natürliche Tod einer uralten Monarchin.

In Duisburg hat es einige durchaus beachtliche Demonstrationen gegeben, in denen Aufklärung und besserer Arbeitsschutz gefordert wurden – davon war in den Blättern der „Funke-Mediengruppe“, die das Ruhrgebiet geistig betreuen, nicht sonderlich viel zu lesen. In die überregionalen Nachrichten der Tagesschau oder des Heute-Journals bringt es ein solcher Protest natürlich erst recht nicht – kein Wunder, er greift ja nicht missliebige Potentaten in Russland, Iran oder China an…

Im Normalfall sind jedenfalls mehr als ein paar Zeilen in der Lokalpresse nicht zu erwarten: „Mann stirbt bei Arbeitsunfall in 30 Meter tiefem Versorgungstunnel“ (22.7.22 Berlin); „Tödlicher Baustellen-Unfall: Arbeiter (47) von Betonbalken erschlagen (21.9.22 München) und so weiter.

Die Statistiker der Gesetzlichen Unfallversicherung zählen selbstverständlich das Gesamtgeschehen in Deutschland penibel mit:

„Im Bereich der UV (Unfallversicherung, RD) der gewerblichen Wirtschaft und der UV der öffentlichen Hand ereigneten sich 2021 insgesamt 806.217 meldepflichtige Arbeitsunfälle, die eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen oder den Tod zur Folge hatten, das sind 6,0 % mehr als im Vorjahr. Das Arbeitsunfallrisiko je 1.000 Vollarbeiter ist mit einem Wert von 19,78 um 7,2 % gestiegen.

Im Jahr 2021 waren 12.079 schwere Arbeitsunfälle zu verzeichnen, bei denen es zur Zahlung einer Rente oder eines Sterbegelds gekommen ist. Damit ist das Risiko je 1.000 Vollarbeiter, einen schweren Arbeitsunfall zu erleiden, von 0,321 im Vorjahr auf 0,296 in 2021 um 7,6 % gesunken. Bei den tödlichen Arbeitsunfällen ist gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um 111 Fälle auf 510 Todesfälle zu verzeichnen.“

Tragische Einzelfälle? Gehört die Gefahr eines eventuell sogar tödlichen Arbeitsunfalls schlicht zum „normalen Lebensrisiko“? Oder ist mehr zu den Ursachen zu sagen?

Unfallursache Kapitalismus

Unternehmen gehen durchaus robust mit der Gesundheit ihrer Arbeitskräfte um, weil sie den Produktionsprozess zum Zweck der Gewinnerwirtschaftung einsetzen. Das, was die Betriebe mit der gezahlten Lohnsumme an Leistung – extensiv wie intensiv – aus ihren Beschäftigten herausholen können, ist das entscheidende Mittel, die Spanne zwischen investiertem und hergestelltem Eigentum zu vergrößern. Wie sehr es ihnen gelingt, die in ihrem Betrieb geleistete Arbeit produktiv zu machen, ist die Größe unter all ihren Ausgaben, auf die sie direkten Einfluss haben.

Mit ihrer Direktionsgewalt über den Betriebsablauf machen sie Vorgaben für den Arbeitsprozess und können diese durch Geschwindigkeit, Taktung oder die Menge der erteilten Aufträge objektivieren; so steigern sie kontinuierlich die Anstrengung, die der einzelne Arbeitnehmer an „seinem“ Arbeitsplatz zu erbringen hat.

Arbeitsunfälle, unmittelbare Gefahren und systematische Gesundheitsgefährdungen für die Arbeitskräfte gehören insofern in der Marktwirtschaft ebenso zum Arbeitsalltag wie der systematische körperliche und mentale Verschleiß, der seine Spuren in Form chronischer Krankheiten hinterlässt (dazu Teil 2). Kurz: Unternehmen verschwenden Physis und Psyche ihrer Beschäftigten und sparen an Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz.

Staat muss Arbeitsschutz erzwingen

Arbeitsschutz ist in der kapitalistischen Produktion nichts, worauf ein Unternehmen von sich aus Wert legt. Schutzvorrichtungen bei der Bedienung von Maschinen, Lärmschutz, die Verwendung nicht schädlicher Stoffe, stabil gebaute Arbeitshallen, die nicht einsturzgefährdet sind und in denen der Brandschutz gewährleistet ist – all das verursacht Kosten und wird deshalb, wenn es allein nach dem Willen der Unternehmen geht, nur gemacht, wenn die entsprechenden Schutzmaßnahmen im Verhältnis zu den anfallenden Kosten und den zu erwartenden „Betriebsausfällen durch Unfall“ sich lohnen.

Ein Blick in die Geschichte oder in Länder, in denen für den kapitalistischen Weltmarkt produziert wird, ohne dass der Staat entsprechende Vorschriften macht, zeigt, wie brutal mit Leib und Leben der Arbeiter umgegangen wird.

Karl Marx berichtet aus den Fabriken seiner Zeit, vom „systematischen Raub an den Lebensbedingungen des Arbeiters während der Arbeit“ und stellt fest: „Was könnte die kapitalistische Produktionsweise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch Zwangsgesetz von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Gesundheitsvorrichtungen aufzuherrschen?“ (Marx 1867: Das Kapital. S. 505)

Die rücksichtslose Praxis seiner Unternehmer hat der deutsche Sozialstaat im Interesse an einer nachhaltigen Benutzbarkeit seiner Arbeitsbevölkerung nach und nach durch Arbeitsschutzgesetze eingeschränkt.1 Heute gehören zum Arbeitsschutz diverse Rechtsverordnungen, u.a. Arbeitsschutzverordnung zu künstlicher optischer Strahlung (OStrV), Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV), Baustellenverordnung (BaustellV), Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV), Bildschirmarbeitsverordnung (BildscharbV), Biostoffverordnung (BioStoffV), Gefahrstoffverordnung (GefStoffV), Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArbSchV), Lastenhandhabungsverordnung (LasthandhabV), PSA-Benutzungsverordnung (PSA-BV), Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV).

Dass dermaßen viele staatliche Verordnungen nötig sind, um den modernen Arbeitsprozess für die Arbeitnehmer wenigstens so aushaltbar zu machen, dass sie – zumindest als statistisches Kollektiv – ein Arbeitsleben durchstehen, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

Erstens stellt es dem Zweck, um den es in den gesetzlich regulierten Fabriken, Baustellen und Büros geht, kein gutes Zeugnis aus – so etwas Unschuldiges wie „Versorgung der Menschen mit Konsumgütern“ wird es wohl kaum sein. Denn wenn es um diesen Zweck ginge, würde niemand die dafür fällige Arbeit so gefährlich und schädlich organisieren, dass bei der Produktion Physis und Psyche schon so in Mitleidenschaft gezogen werden, dass der Genuss der produzierten Güter gar nicht mehr sorglos zustande kommt.

Wenn zweitens per Rechtsverordnung einige (bisher erlaubte) Praktiken verboten werden – etwa die Überschreitung eines bestimmten Tageslärmpegels oder einer Hand-Arm-Vibration, dann sind damit alle Schädigungen an Ohren, Bandscheiben und Leber unterhalb der gezogenen Grenze bzw. Durchschnittswerte (!) erlaubt. Ganz im Gegensatz zur üblichen Vorstellung vom „Schutz“, legen die staatlich definierten Grenzwerte (das gilt übrigens auch für Lebensmittel u.a.) mit ihrem Verbot eines Übermaßes also fest, in welchem Maß die Gesundheit der Betroffenen staatlich erlaubtermaßen angegriffen und verschlissen werden darf.

Drittens verpflichtet der Staat sämtliche Unternehmen, in eine gesetzliche Unfallversicherung einzuzahlen. Er unterstellt damit, dass Arbeitsunfälle auch bei Geltung aller gesetzlichen Regelungen passieren, und zwingt die Betriebe als Gesamtheit, die durch Unfälle am Arbeitsplatz (zu denen auch Unfälle auf dem Weg dorthin gerechnet werden) sowie bei anerkannten Berufskrankheiten hervorgerufenen Behandlungs- und Folgekosten zu übernehmen.

Zur Finanzierung der Versicherung werden die Betriebe in „Gefahrklassen“ eingeteilt, was – neben der Anzahl der von ihnen beschäftigten Arbeitnehmer – unterschiedlich hohe Versicherungsbeiträge begründet. Die Einteilung beinhaltet ein objektives Eingeständnis. Sie macht nämlich deutlich, dass die Beteiligten in Politik und Wirtschaft sehr detailliert zu unterscheiden wissen, wie gefährlich die Produktionszweige ihrer kapitalistischen Marktwirtschaft im Einzelnen sind. Zudem sollen die Beitragskosten die Unternehmen im Idealfall motivieren, die Kosten der Unfallversicherung im Eigeninteresse durch freiwilligen Arbeitsschutz zu senken.

Die Realität dieses Ideals besteht allerdings in einer betriebswirtschaftlichen Abwägung: Sind die entsprechenden Arbeitsschutzmaßnahmen teurer als der einzelbetriebliche Anteil an den Versicherungsbeiträgen, dann spricht aus Sicht des Betriebs „leider“ nichts zugunsten der Schutzmaßnahmen. Oder anders formuliert: Die Gefährdung und Zerstörung von Gesundheit erhält auf diesem Wege einen Preis und wird damit zum Gegenstand einer Kosten-Nutzenabwägung, die nicht selten die Inkaufnahme vermeidbarer Unfälle und Krankheiten einschließt.

Das gilt um so mehr, als staatliche Kontrollen bei den Arbeitsschutzmaßnahmen sich auf Stichproben beschränken und nur alle Jubeljahre stattfinden, bei Betrieben unter 500 Mitarbeitern heißt das im Klartext: alle 20 Jahre – Resultat davon, dass das Personal bei der Gewerbeaufsicht zwischen 2005 und 2010 drastisch zusammengekürzt wurde.

Das Dilemma der Beschäftigten

Die staatliche Regelung erspart den Arbeitnehmern nicht, dass sie um entsprechende Arbeitsschutzvorrichtungen oft selbst noch kämpfen müssen (z.B. Lärmschutz).

Sie selbst sehen sich – gerade angesichts ständig steigender Leistungsanforderungen im Arbeitsprozess – dem Widerspruch ausgesetzt, dass Vorschriften bzw. Vorrichtungen vielfach zu einer Behinderung ihrer Arbeitsleistung führen, also Lohn oder Zeit kosten. So kommt es zu dem bekannten Phänomen, dass Arbeitnehmer die Schutzvorschriften – gegen ihr eigenes Schutzinteresse! – missachten, Maschinen bei laufendem Betrieb reparieren, Schutzvorrichtungen, weil störend abmontieren usw. usf.

Wenn es zu einem Unfall kommt, taucht deshalb als erstes die Frage auf, ob der betroffene Arbeitnehmer Sicherheitsschuhe oder Helm getragen und die neben dem Erste-Hilfe-Kasten ausgehängten Vorschriften beachtet hat – obwohl vom Chef über den Vor- bis zum Hilfsarbeiter alle wissen, dass die geforderte Leistung meist nicht zu erbringen wäre, wenn sich alle so verhalten würden. So wird versucht, die Verantwortung abzuwälzen: Nicht der auf Profit orientierte Betrieb mit seiner Organisation der Arbeit ist schuld, sondern derjenige, der für sich am Arbeitsplatz „zuviel“ rausholen wollte.

Fazit

Mit seiner Gesetzgebung zum Arbeitsschutz legt der moderne Sozialstaat die Bedingungen dafür fest, wie Benutzung und Verschleiß der Arbeitskräfte so vonstatten gehen, dass das Ganze gewissermaßen „nachhaltig“ passieren kann. Das schließt offenbar – siehe die Statistik der Gesetzlichen Unfallversicherung – nach wie vor eine erkleckliche Zahl an Arbeitsunfällen mit gesundheitlichen Folgen ein und auch ein paar hundert Tote pro Jahr.

Das ist auch kein Wunder, denn am Zweck der Arbeitsplätze in seiner Wirtschaft ändert ein solches Gesetz ja erklärtermaßen nichts: Mit der Arbeit der Leute soll Gewinn erwirtschaftet werden – und das bedeutet unter den Bedingungen der globalen Standortkonkurrenz nichts Gutes für die Beschäftigten. Die wiederum müssen sich angesichts des brutalen Unterbietungswettbewerbs, in dem sie „normal“ und erst recht als migrantische Wanderarbeiter stehen, auf alle Bedingungen einlassen und schauen, wie sie damit klarkommen. Für Refat S. ist das nicht aufgegangen.

Es ist schon ein ziemlich robustes Verhältnis zur fremden wie eigenen Gesundheit, wozu die marktwirtschaftliche Konkurrenz ihre Subjekte nötigt…

Lesetipp:

Dillmann,Renate/Schiffer-Nasserie, Arian: Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung. Ökonomische Grundlagen/Politische Maßnahmen/Historische Etappen. VSA-Verlag, Hamburg 2018

1 Es ist kein Zufall, dass viele Länder der 3. Welt nicht einmal rudimentäre Arbeitsschutzbestimmungen aufweisen. Um überhaupt als Kapitalstandorte in Frage zu kommen, haben sie vielfach nichts anzubieten als die extreme Billigkeit und Erpressbarkeit ihres Volks. Gerade die großen Konzerne der westlichen Staaten praktizieren gegenüber ihren Zulieferern in asiatischen Ländern einen solchen Preisdruck, dass völlig offensichtlich ist, unter welchen haarsträubenden Bedingungen die Produktion von Kleidung, Spielzeug, Turnschuhen und I-phones vor sich geht. Selbst wenn die Staaten vor Ort Arbeitsschutz und -recht verbessern wollen, werden sie mit Abwanderungsdrohungen in willigere Länder erpresst (etwa die Regierung der VR China in 2008 durch die Interessenvertreter der US-Industrie, vgl. Dillmann China – ein Lehrstück 2021: 298). „Menschenrechte“ als Berufungstitel sind schließlich ein politisches Druckmittel der westlichen Regierungen und nicht dazu da, dass sie die westlichen Geschäftsinteressen behindern.

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Oben      —     Christian Lindner am Wahlabend der NRW Landtagswahl am 14. Mai 2017 in Düsseldorf

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Drei kleine Unterschiede

Erstellt von DL-Redaktion am 8. November 2022

Drei Länder, eine Krise, verschiedene Reaktionen

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :    Renate Dillmann

Die Berichte zur Lage sehen in Deutschland, Großbritannien und Frankreich ziemlich gleich aus: Steigende Energiepreise, eine bereits ziemlich heftig „trabende“ Inflation, massive Zunahme der Staatsschulden, sinkende Wechselkurse der Landeswährung.

Überall stehen die Regierungen nach eigener Darstellung angesichts des Kriegs gegen Russland, den sie mitveranstalten und eskalieren, vor „harten Herausforderungen“. Ausgetragen wird das auf dem Rücken der Lohnabhängigen, denen die Regierungen deshalb allesamt „schwere Zeiten“ ansagen.

Die deutsche Bevölkerung lässt sich das gefallen. In Frankreich wird gestreikt. Im Vereinigten Königreich kommt der Widerstand von der anderen Klasse. Ein Lehrstück über kleine Unterschiede.

Deutschland: „Wir haken uns unter“

Deutschland scheint in dieser Situation gerade erneut das Kunststück hinzukriegen, Unzufriedenheit und Existenzängste der vom Lohn abhängigen Bevölkerungsmehrheit annähernd lautlos zu bewältigen. Wieder einmal schafft es die Regierung – eine durchaus beachtliche Leistung! – sich mit ihren Entlastungspaketen als überaus fürsorglicher Löser von Problemen darzustellen, mit deren Zustandekommen sie angeblich nichts zu tun hat.

Natürlich: Die deutsche Regierung hat gleich vierfach Glück. Erstens gibt es den Darth Vader „Putin“, auf den man mit ausgestrecktem Zeigefinger deuten und damit so tun kann, als lägen die Gründe der aktuellen Lage ganz ausserhalb der eigenen Einflussmöglichkeiten und Nutzenerwägungen.

Zweitens assistiert gerade bei dieser Art von Volksverblödung wie stets die Mainstream-Presse. Dass die kontinuierliche Inanspruchnahme staatlicher Schulden zur Bewältigung der Finanzkrise und der Corona-Politik die Inflation schon lange vor dem Ukraine-Krieg in Gang gesetzt hatte; dass Inflation kein sachgesetzlich ablaufender Prozess wie etwa die Schneeschmelze ist, sondern Resultat der Preistreiberei diverser und gar nicht russischer, sondern extrem deutscher Kapitale (z.B. der Wohnungs- und Energieunternehmen) – das blendet sie sowieso schon mal aus. Aber auch die politischen Beschlüsse der Regierung zu Waffenlieferungen, Aufrüstungskosten und Wirtschaftskrieg (den man im Land der Meinungsfreiheit nicht einmal so nennen darf) und die dafür rasant wachsenden Staatsschulden sind derzeit eher kein Thema im nationalen Diskurs – dafür aber alle Sorten von Gerechtigkeitsfragen, die man daran in sehr sehr grossen Überschriften aufmachen kann.

Drittens nimmt das deutsche Publikum praktische wie geistige Zumutungen klaglos hin. Die Aufforderung des Kanzlers funktioniert: „Wir“ haken uns lieber unter und stehen diese Sache, sprich: den Kampf gegen Putin „gemeinsam“ durch – auch wenn „diese Sache“ keineswegs gemeinsam beschlossen wurde und auch keineswegs alle trifft, schon gar nicht gleichermassen. Mit den ökonomischen und sozialen Folgen des Wirtschaftskrieges haben die „Mitglieder der Gemeinschaft“ nach ihren Möglichkeiten und ihrer Stellung „solidarisch“ umzugehen. Das heisst praktisch: Kein Inflationsausgleich bei den Löhnen, stattdessen Einmalzahlungen, Abwälzung der höheren Energiekosten auf „die Verbraucher“ und staatliche Hilfen dabei, dass jeder „das Seine“ leisten und ertragen kann.

Und viertens hat die Regierung bei ihrer nationalen Linie auch noch das Glück, dass Linksopposition und Gewerkschaften ihr nicht in die Parade fahren, sondern ihr ganz im Gegenteil tatkräftig und sozialpartnerschaftlich zur Seite stehen, um eventuell doch aufkommende Forderungen und Proteste in staatskonstruktive Bahnen zu lenken und aus dem von allen Seiten lauthals befürchteten „Heissen Herbst“ ein bestenfalls laues Lüftchen bzw. besser: eine nationale Einheitsfront zu machen. Damit kann die Ampel-Koalition offenbar gut leben (im Unterschied zu vielen ihrer Bürger) – solange man, das ist nationaler Konsens, „die Rechten“ da raus hält.

Das läuft in anderen europäischen Staaten gerade nicht so geschmeidig. England und Frankreich bieten da gerade zwei interessante Beispiele.

Großbritannien: Finanzkapital erzwingt neue Regierung(slinie)

„Die Macht der Märkte“ titelt die FAZ (22.10.22) und unter dem Titel „Parkettnotizen“ war in den VDI-Nachrichten zu lesen: „Die Kapitalmärkte zwingen Liz Truss zum Einlenken. Großbritanniens Regierung kassiert die geplante Steuerreform wieder ein. Die Bonität des Landes hätte unter der enormen Neuverschuldung zu sehr gelitten.“ Inzwischen ist die Premierministerin von der Herrschaft über das Vereinigte Königreich und einen der größten Finanzplätze der Welt bekanntlich zurückgetreten. Der Grund: Liz Truss wollte nationales Wachstum in neoliberaler Logik durch drastische Steuersenkung durchsetzen und den steuerlichen Ausfall für den Fiskus mit zusätzlichen Staatsanleihen kompensieren. Im Prinzip bewährt und erfolgreich. Das haben „die Kapitalmärkte“ ihr in dieser Lage allerdings nicht durchgehen lassen.

Die vereinigten Finanzanleger befürchteten gravierende ökonomische Folgen: Abwertung des britischen Pfunds, Ruinierung der Pensionsfonds, Verlust der Bonität für britische Staatsanleihen usw. Um das zu verhindern, haben sie einfach ihre ökonomische Macht ins Spiel gebracht und damit politischen Druck erzeugt – mit Erfolg: die Steuerpläne wurden zurückgenommen; der Finanzminister und die Premierministerin sind zurückgetreten.

Bemerkenswert daran sind die folgenden Punkte: Eine kapitalfreundliche Entscheidung der Regierung wurde zurückgewiesen – und zwar von den Kapitalmärkten. Die Kreditgeber und Profiteure der Kapitalvermehrung zweifelten offenbar daran, dass weitere Steuerentlastungen ihrem Bereicherungsinteresse dienlich sind. Und sie bezweifelten die Vertrauenswürdigkeit neuer britischer Staatsschulden, die unter dem Vorzeichen einer hohen Inflation und künftiger Leitzinserhöhungen wenig rentabel erscheinen. Ihr Zweifel an den Devisen- und Rentenmärkten, nicht der Einspruch der Opposition, nicht die Wut der Arbeiterklasse, fegte zunächst die Steuerpläne, dann den zuständigen Minister und schliesslich die Premierministerin weg.

Darin liegt auch ein Lehrstück in Sachen Demokratie: Liz Truss wurde weder gewählt noch abgewählt. Ihre brutale Kriegspolitik interessiert im Königreich anscheinend kaum jemand (außer Ex-Labour-Chef Corbyn). Die Briten haben auch nicht auf der Strasse rebelliert gegen die Frau und ihre Pläne. Über die Herrschaftsausübung von Frau Truss wird eben auf dem „Börsenparkett“ entschieden. Dort fragt man sich, ob die weitere Fortsetzung des Neoliberalismus zur Kriegswirtschaft passt.

Fazit: Nicht Wahlen, Proteste, Streiks, sondern das anerkannt eigennützige Urteil der Finanzkapitalisten, inwiefern politische Beschlüsse ihrer Bereicherung dienen, entscheiden über die Politik. Die hat sich also damit zu legitimieren und sich daran zu bewähren, inwiefern ihr Handeln dieser Klasse dient.

Frankreich: Gewerkschaft kämpft gegen Verschlechterung der Lebensverhältnisse

„Streiks in Frankreich weiten sich aus. Die Protestwelle in Frankreich reisst nicht ab. Nach wochenlangen Streiks an den Raffinerien dehnen sich die Protestveranstaltungen nun auch auf weitere Branchen aus. Die seit etwa drei Wochen andauernden Streiks an französischen Raffinerien haben sich am Dienstag auf die Eisenbahn, den Pariser Nahverkehr und weitere Branchen ausgeweitet. Auch Gymnasien, Berufsschulen, ein Atomkraftwerk und ein Elektrizitätswerk waren betroffen. Die Streikenden fordern etwa höhere Gehälter angesichts der Inflation.“ (Die Welt, 18.10.22)

In der Folge werden Raffinerien, Treibstofflager und Eisenbahnen sowie ein Dutzend Atomkraftwerke bestreikt, was zu erheblichen Problemen für alle möglichen Teilbereiche des kapitalistischen Produzierens und Vermarktens führt – unter anderem sind ein Viertel bis ein Drittel der Tankstellen ohne Treibstoff, es bilden sich riesige Schlangen.

Die Kämpfe der Gewerkschaften, vor allem der CGT, drehen sich um die Punkte:

a) Echter Inflationsausgleich für die Beschäftigten (ein Angebot von Total Energies von 7% und 6.000 € Jahresprämie wurde von der CGT als ungenügend abgelehnt).

b) Rücknahme der Rentenreform, die das Renteneintrittsalter auf 65 hochsetzt. Stattdessen eine Rückkehr zur Rente mit 60 (!) (eine Forderung, über die die deutsche Presse meist extrem unscharf berichtet – offensichtlich, um ihr Publikum, dem gerade eine Erhöhung des Renteneintritts-Alters auf 69 (!) Jahre als Sachzwang einer „sicheren Rente“ in Aussicht gestellt wird, nicht zu verwirren).

c) Keine Kriminalisierung der Streiks bzw. der Streikenden in der Energieversorgung und der Logistik. Über eine Kritik der französischen Kriegsbeteiligung ist nichts bekannt.

Die Streiks vor allem der Gewerkschaft CGT treffen dabei durchaus auf breite Sympathie in der Bevölkerung – auch die der negativ betroffenen Pendler, wie selbst die Tagesschau berichtet: „Ein paar Meter weiter schaut Sabrine hin und her zwischen den Anzeigen am Gleis und ihrem Handy. Obwohl ihr die Zugausfälle das Leben schwermachen, nimmt sie es den streikenden Lokführern nicht übel: ,Ich kann das verstehen in Bezug auf die Gehälter.‘ Evelyne, eine weitere Passantin, ist auf dem Weg zu einem Seminar. Sie unterstützt die Streiks: ,Es ist immer die einfache Bevölkerung, die die Konsequenzen ausbaden muss. Aber es gibt gute Gründe für die Streiks. Und es ist vielleicht Zeit, dass Frankreich aufwacht.‘“ Unterstützt werden die Forderungen auch durch Proteste der Berufsschüler und Gymnasiasten.

Bemerkenswert an den anhaltenden Streiks (wie bereits an den Aktionen der Gelbwesten 2018) ist einerseits, was eine Gewerkschaft anrichten kann, die im Vergleich mit deutschen Gewerkschaften ziemlich mitgliederschwach ist (die CGT hat unter 700.000 Mitglieder, Stand 2017) und sich laut Friedrich-Ebert-Stiftung in einer bereits Jahrzehnte anhaltenden Krise befindet. Falls deutsche Lohnabhängige also – allen bereits abgehandelten Tendenzen zum Trotz – auf abweichende Ideen kämen: Hier könnten sie sich in Sachen Organizing bzw. geschicktem Aufbau von Streikmacht bedienen!

Andererseits wird allerdings auch deutlich, wie kaltschnäuzig der Protest von unten von der Macron-Regierung zurückgewiesen wird. Der Präsident verlangt seinem Volk seit Beginn des Ukraine-Kriegs eine „Beschränkung des Konsums“ ab und fordert aktuell ein Ende der Blockaden. Um sich durchzusetzen, hat er mit Zwangsrekrutierungen nicht nur gedroht, sondern sie laut einem Bericht der Jungen Welt vom 14.10.2022 auch bereits umgesetzt: „Drei Arbeiter von einer Raffinerie bei Dünkirchen wurden zwangsrekrutiert, um ab 14 Uhr ihre Arbeit für zwölf Stunden wieder aufzunehmen. Nach Angaben der CGT erschien die Polizei bei den Beschäftigten zu Hause und benachrichtigte sie über ihre von der Präfektur unterzeichnete Zwangsrekrutierung. Als Reaktion auf dieses Vorgehen rief CGT-Generalsekretär Philippe Martinez zum Generalstreik auf.

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Macron und seine Premierministerin Élisabeth Borne forderten bereits seit Montag das Ende der »Blockade«, die vor allem in Paris und Umgebung sowie in den nördlichen Departements und der Hafenstadt Marseille im Süden zu Problemen bei der Benzinversorgung führt. Das französische Gesetz zur Funktion der Gebietskörperschaften erlaubt Regierungen die Zwangsrekrutierung eines Teils der streikenden Beschäftigten eines privaten Betriebs, ,wenn dieser für die lebensnotwendigen Bedürfnisse der Bevölkerung wichtig ist und der Ausstand die öffentliche Ordnung gefährdet‘.“

Die Macht der französischen Lohnabhängigen ist insofern – bei allem Einsatz, den sie an den Tag legen – nicht mit dem lautlosen Tritt des Zinsfusses auf dem britischen „Parkett“ zu vergleichen. Ohne Rechtsbruch – etwa bei den Blockaden – ist sie „auf der Strasse“ nicht einmal in Frankreich zu entfalten, wo der politische Generalstreik als Einflussnahme auf die Politik immerhin rechtlich anerkannt ist.

Und natürlich steht die freie Presse auch in Frankreich mehrheitlich ganz wie von selbst auf Seiten der Regierung, fragt sich besorgt, wie der Präsident die Proteste in den Griff kriegt und tut ihr Bestes, eventuelle Ausschreitungen in den Vordergrund ihrer Berichterstattung zu rücken, um die Bewegung zu kriminalisieren und sympathisierende „brave Bürger“ abzuschrecken.

Schon 2016 berichtete das Handelsblatt in ähnlicher Situation: „Die den Kommunisten nahestehende Arbeitnehmerorganisation (die CGT, RD) verhinderte auch die Auslieferung vieler Zeitungen. Ihr Vorsitzender Philippe Martinez hatte verlangt, die Medien müssten eine ausführliche Stellungnahme von ihm veröffentlichen, sonst würden sie nicht erscheinen. Offenbar verwechselte er Frankreich mit Venezuela. Als die Presse sich weigerte, seiner Erpressung zu folgen, blockierten CGT-Anhänger die Druckereien.“

In der Tat: Wo käme denn da die Meinungs- und Pressefreiheit in den europäischen Demokratien hin, wenn Unzufriedene, linke Gewerkschaften oder irgendwelche Aktivisten ihre „ausführlichen Stellungnahmen“ publizieren könnten?

Lehrstück über den kleinen Unterschied

Anders als in Deutschland lassen sich die Franzosen manchen Angriff auf ihre Lebensverhältnisse nicht bieten. Das bewundern viele Deutsche an ihren westlichen Nachbarn und beschweren sich – ein Fall von mittelschwerer Schizophrenie – über ihre eigene Untertanen-Mentalität. Ohne es beim nächsten Mal anders zu machen… Insofern eine stetige Wiederauflage und Steigerung der beliebten Lebenslüge der deutschen Lohnabhängigen, dass sich die erzwungene Unterordnung unter das Krisen- und Kriegsprogramm der Regierung letztlich irgendwie doch rechnet (jedenfalls mehr als das französische Gegenprogramm: Widerstand lohnt sich nicht! als die deutsche Lehre aus der Weltgeschichte).

Wenn in Frankreich die lohnabhängig Beschäftigten mit schöner Regelmäßigkeit gegen die staatlich verordneten Verschlechterungen ihrer Arbeits- und Sozialversicherungsbedingungen mobil machen, zeigt das allerdings auch die Grenzen, auf die für ihre Interessen kämpfende Arbeiter treffen – ob das nun Gewerkschaften oder Gelbwesten sind. Sie können mit Streik, Generalstreik und Randale einiges an Verschlechterungen verhindern; sie können die Regierung im Einzelfall sogar zur Rücknahme ganzer Gesetzesvorhaben zwingen. Was sie aber – jedenfalls solange sie sich im Rahmen dieser Wirtschaftsordnung bewegen (wollen) – nicht erreichen können, ist: den Willen und die Mittel von Kapital und Staat ausser Kraft zu setzen, die dank der „Sachgesetze“ der Standortkonkurrenz dafür sorgen, dass sich die vom Lohn Abhängigen immer und immer wieder derselben Frage ausgesetzt sehen: Ob ihr Verdienst und ihre soziale Absicherung nicht unverträglich mit den Erfordernissen des Marktes sind. Weshalb sie sich immer und immer wieder gegen diese Angriffe wehren müssen.

Da hat es das protestierende Finanzkapital in England einfacher. Seine Interessen an mehr money sind nicht Kosten für die Kapitalvermehrung (wie die Löhne der Arbeiterklasse), sondern ihr Zweck. Sein partikulares Interesse an steigenden Renditen und der dafür nötigen Stabilität von Finanzplatz und Währung fällt aufs Schönste mit dem britischen Allgemeinwohl zusammen: dem Wachstum des Standorts. Kein Wunder also, dass die Bedenken der Banker die Regierungspartei beeindrucken; kein Wunder auch, dass sie dafür nicht zu den plumpen Mitteln des Straßenkampfs greifen müssen…

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Oben      —     Letzte Generation Blockadeaktion Klimademo Karlsplatz Stachus München 2022-11-07 20-34-35

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Unten         —        Demonstration der CGT für höhere Löhne am 29. September 2022 in Belfort.

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Oktober 2022

Gaspreise und Energiekrise
Von Mittelschicht zu Mittelschicht

Personen warten auf nächsten Fahrkorb

Paternoster – Personen warten auf nächsten Fahrkorb

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Die Gaspreisbremse ist ungerecht, weil sie dem Gießkannenprinzip folgt. Zum Glück kann nachgebessert werden, denn die Gaskrise bleibt uns erhalten.

Zu den eigenartigeren Nachrichten dieser Woche zählte, dass wir in den ersten beiden Pandemiejahren weniger geheizt haben als sonst – und das, obwohl ein Gutteil der Leute 2020 und 2021 recht viel zu Hause gehockt hat. Ein Prozent weniger sei in Deutschland geheizt und entsprechend weniger für Energie ausgegeben worden, schrieb das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung am Mittwoch. Das Ergebnis habe auch die Forscher überrascht. Bevor sich jetzt die ersten Schlaumeier regen: Doch, Wetter und Temperaturschwankungen sind da rausgerechnet.

Wenn wir also schon ohne besonderen Anreiz Energie sparen, obwohl wir mehr Zeit als sonst daheim verbringen – wie viel könnten wir erst sparen, wenn wir es wollten beziehungsweise sollten? Oder sparen wir, wenn, dann überhaupt nur freiwillig unbewusst?

Leider ist weiterhin reichlich unklar, wie groß der Energiesparwille derzeit tatsächlich ist. Jedenfalls wurde er in der Liste der Faktoren, die den Gaspreis am Großmarkt diese Woche für einen Moment sogar unter null gedrückt haben, nicht an vorderer Stelle genannt. Stattdessen: das Wetter (keine Temperaturbereinigung an dieser Stelle), kombiniert mit überraschend viel Flüssiggas in Spanien – ein Überangebot also.

Kurz überlegte ich, ob ich bei meinem Versorger anrufen und Geld dafür verlangen sollte, dass ich ihm Gas abnehme. Dann las ich jedoch, dass die Großhandelspreise sowieso nicht so schnell auf die Verträge von uns EndverbraucherInnen durchschlagen.

Ulrike Winkelmann - Zukunft des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks (34715387826).jpg

Extrem ungerecht

Die ÖkonomInnen warnen ohnehin davor, das Thermostat zu weit aufzudrehen, wenn der aktuelle Spätspätsommer vorbei ist – so auch Isabella Weber, Wirtschaftswissenschaftlerin an der University of Massachusetts. Sie sitzt derzeit in der Gaskommission der Bundesregierung, die diesen Monat die Gaspreisbremse vorgestellt hat. Und sie sitzt dort ziemlich gut, denn Weber hat bereits zu Jahresbeginn eine Gaspreisbremse gefordert und auch entworfen.

In einem sehenswerten Gespräch mit Tilo Jung erzählt die Juniorprofessorin nun jedoch, wie unzufrieden sie mit dem Entwurf der Kommission ist: Es sei „inhärent extrem ungerecht“, dass ein Energie verprassender Villenbesitzer ebenso subventioniert werde wie eine sparsam auf wenig Raum lebende Alleinerziehende.

Weber meint es offenbar als eine Art Trost, dass es immerhin 2023 noch Gelegenheit gebe, am Gerechtigkeitsende nachzubessern: „Die Gaskrise wird auf jeden Fall noch nächsten Winter anhalten.“

Quelle         :       TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Linker Protest von rechts?

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Oktober 2022

Neues von der deutschen Protestkultur:

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Johannes Schillo

„Unser Land zuerst!“ Mit solchen Parolen ist es angeblich der AfD gelungen, die Zuständigkeit für die soziale Frage den Linken abzuknöpfen und sich als antimilitaristische Kraft aufzubauen.

Seit Anfang des Jahres kursiert wieder eine Erkenntnis – mit der Extremismus- & Totalitarismustheoretiker seit ewigen Zeiten aufwarten –, dass sich nämlich die Extreme links und rechts berühren. Ja, dass sie nicht nur übereinstimmen, sondern auch übereinkommen, ihr radikales Untergraben von „liberaler Demokratie“ und „offener Gesellschaft“ als Gemeinschaftswerk zu betreiben.

So konstruieren aufmerksame Zeitgenossen unter Anleitung von Innenministerium und Verfassungsschutz eine Linie vom letzten coronaren Querdenkertum hin zu einer neuen Querfront gegen Krieg und Kriegskosten. Und die Vision einer antikapitalistischen „Revolution von rechts“ wird wieder ausgegraben – ein politische Schimäre, wie der Sozialwissenschaftler Norbert Wohlfahrt ebenfalls Anfang des Jahres im Interview (Scharf links, 11.2.2022) darlegte.

Erstaunlich auch: Die soziale Frage, die jahrzehntelang im „rheinischen Kapitalismus“ und in der bundesdeutschen Errungenschaft einer „sozialen Marktwirtschaft“ verschwunden war, ist wieder da, wieder hier. Doch sie klingelt nicht an Deiner Tür, liebe Linkspartei, sondern bei den rechten Gegenspielern, wobei die ja sowieso mit Putin im Bunde sein sollen, auf dessen Konto auch nach allgemeiner Auffassung (https://www.heise.de/tp/features/Verarmung-und-Spaltung-neuerdings-nur-durch-Putin-7216949.html) die soziale Spaltung und Verarmung im Lande gehen.

Ein Novum: Parteien nutzen Unzufriedenheit!

Die niedersächsische Landtagswahl vom 9. Oktober mit einem zweistelligen AfD-Ergebnis hat wieder einigen Stoff geliefert, um das rechte Lager als die Kraft zu identifizieren, die den sozialen Protest betreut. Hat der legendäre kleine Mann, der stets verlor und nie gewann (wie der Sänger singt), jetzt also jemand gefunden, der sich wirklich um ihn kümmert? Fühlt er sich hier nun endlich (zusammen mit seiner kleinen Frau) ernst genommen – statt bei einer Linkspartei, die, mit internen Querelen und Lifestyle-Fragen befasst, ihm nichts zu bieten hat?

Die banalen Mitteilungen zur Wählerbewegung und -motivation geben das zwar nicht direkt her, wie Gerd Wiegel in der Jungen Welt (12.10.22) resümierte: „Es sind mehrheitlich nicht in erster Linie Menschen, die aktuell sozialen Abstieg erleben, die ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben.“ Aber dass sich der angesagte Abwärtstrend bei der AfD jetzt auch noch im Fall der notorisch zerstrittenen niedersächsischen Abteilung einfach umkehrt, gehört sich gar nicht. Vor allem, wo der Bürger in der letzten Zeit genügend Aufklärung von oben über die extremistische Einstufung dieser Mannschaft erhalten hatte!

„In der Krise mobilisiert die Rechte die Unzufriedenen im Land. Sie hat die soziale Frage gekapert. Dabei hat sie überhaupt keine Antwort,“ stellte taz-Journalist Erik Peters im Blick auf die letzten Proteste fest, zu denen die AfD etwa in Berlin oder in den neuen Bundesländern mobilisierte, und Peter Nowak kommentierte nach der Landtagswahl bei Telepolis (https://www.heise.de/tp/features/AfD-Phaenomen-Wie-ein-scheinbar-zerstrittener-Haufen-von-Protestwahlen-profitiert-7291751.html) zustimmend diese „Zustandsbeschreibung“.

„Die Protestierenden in fünfstelliger Zahl“ hätten Nowak zufolge eigentlich bei der Linken auflaufen müssen, seien aber dort nicht „zu finden gewesen, sondern bei der AfD. Es gibt objektive Gründe im Spätkapitalismus, die zu einer massiven Schwächung der gesellschaftlichen Linken weltweit führte[n]. Hier liegt auch der Grund, dass von einer Proteststimmung die Rechten profitieren.“ Na ja, so viel Neues hat der Spätestkapitalismus auch nicht zu bieten, dass er beständig Krisen produziert, wusste auch schon Karl Marx. Wenn die Linke hier versagt, dann liegt der Grund wohl eher bei ihr als im System.

Dass der Zulauf zum Rechtspopulismus mit sozialen Notlagen zu tun haben könnte, lassen auch die Leitmedien in gewissem Rahmen gelten. Dabei wird natürlich den Rechten schwerster Missbrauch ehrenwerter Anliegen vorgeworfen. Die FAZ (10.10.22) kreidete z.B. der AfD nach ihrem Wahlerfolg an, dass sie „Profiteur der Energiekrise“ ist, „die Frustrierte an die Wahlurne treibt“, und legte, tiefer bohrend, gleich damit nach, die populistische Partei wisse sich eben „um die, denen es nur um Protest geht, zu kümmern“. So ist auch mal wieder der Topos vom populistisch angereizten „Wutbürger“, der eigentlich grundlos, aus einer affektiven Verstimmung heraus, gegen „die da oben“ anstinkt, in Umlauf gebracht.

Wo ist der nationale Nutzen?

Was stimmt: Die AfD protestiert gegen den aktuellen Kurs der Bundesregierung. Sie ist die einzige parlamentarische Kraft, die in Opposition zum NATO-Kurs der Ampel-Regierung geht. Das ist ja das Trostlose an der neuen deutschen Protestkultur, dass der heiße Herbst eher wie die Herstellung einer nationalen Einheitsfront daher kommt. „Wir“ stehen gemeinsam füreinander ein – und die Forderungen konzentrieren sich darauf, dass „die da oben“ auch ihren Beitrag leisten, so könnte man die Stoßrichtung der letzten Demos vom 22. Oktober zusammenfassen (https://www.heise.de/tp/features/Heisser-Herbst-oder-nationale-Einheitsfront-7317017.html), eben „Solidarisch durch die Krise“, wie die zentrale Parole hieß.

Die AfD macht natürlich die obligatorische Verurteilung Russlands mit (siehe das „Positionspapier der AfD-Bundestagsfraktion zum Russland-Ukraine-Krieg“ https://afdbundestag.de/positionspapier-ukraine-krieg/), apropos „völkerrechtswidriger Angriffskrieg Russlands, den wir scharf verurteilen“. Dass Deutschland als europäische Führungsmacht, als Aufsichtsmacht über globale Konflikte, befugt ist, in Gewaltaffären Recht zu- und abzusprechen, leuchtet der AfD selbstverständlich ein. Sie entwickelt das sogar weiter – mit einem Moment von nationalem Größenwahn – zur Rolle des Vermittlers, der zwischen, ja über den streitenden Parteien im Ukrainekrieg zur Regelung weltpolitischer Affären schreiten soll. Bismarcks Kalauer vom „ehrlichen Makler“ lässt grüßen! Und Bismarck mit seinem geradlinigen preußischen Militarismus ist ja auch ein expliziter Bezugspunkt der AfD, wenn sie sich etwa im Deutschen Bundestag zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen äußert.

Aber trotzdem hat die Partei was gegen diesen Krieg und gegen die Kosten, die er der Nation aufbürdet: Hier ist „nicht der Krieg, sondern sein unzureichender Ertrag für die deutsche Sache, welche auch immer, das Problem“, wie der Gegenstandpunkt formulierte (https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/deutschland-will-den-krieg). So kann die AfD sich auch mit lautem Protest für wirkliche Inflationsbekämpfung und solide Haushaltsführung zu Wort melden und auf vielfältige Nöte der Bürgerschaft hinweisen.

Das muss man konstatieren, wobei aber in einem grundsätzlichen Punkt Klarheit herrschen sollte: Die AfD hat weder die soziale Frage „gekapert“, sie also anderen entwendet und für sich vereinnahmt, noch ist ihr Manko, dass sie überhaupt keine Antworten auf die drängenden Zeitfragen anzubieten hätte. Was sich hier zu Wort meldet, ist ein rechtsradikales Programm, das mit seinen eigenen Inhalten in der demokratischen Parteienkonkurrenz antritt, Gemeinsamkeiten mit dem konservativen Lager aufweist und sich von der Linken entschieden abgrenzt. Dabei ist ebenfalls zu konzedieren, dass es in der deutschen Linkspartei – siehe Sahra Wagenknecht – Positionen gibt, die nationale Erfolgsmaßstäbe und -wege attraktiv finden und hier auf ihre Art Anschluss suchen. Aktuell liegt dazu ein Beitrag über „Wagenknechts Abrechnung mit den Linken“ vor, der im Gegenstandpunkt Nr. 3/22 erschienen ist (https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/sahra-wagenknechts-abrechnung-den-linken).

Nähere Auskunft zum rechten Aufschwung gibt auch die Reihe „Gestalten der Faschisierung“ des Argument-Verlags, in der jetzt ein neuer Band (https://argument.de/produkt/hoecke-i-deutsche-arbeit-preussischer-staat/) erschienen ist, der sich mit Björn Höcke befasst, dem AfD-Fraktionsvorsitzenden im Thüringer Landtag und Gründer des einflussreichen „Flügels“ der Partei, der 2020 nominell aufgelöst wurde.

Höcke gilt ja auch als besonderer Treiber einer Antikriegsstimmung und Putinfreundschaft im Lande, als graue Eminenz der AfD, so dass jetzt im Blick auf seine Partei die Thüringer SPD-Abgeordnete Dorothea Marx härteste Konsequenzen fordert (https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100065694/spd-politikerin-marx-fordert-afd-verbot-die-zeit-ist-reif-.html): „Für mich ist die Zeit reif, dass das Bundesverfassungsgericht über ein AfD-Verbot, zumindest in Thüringen, entscheidet.“

Deutsche Arbeit & preußischer Staat“

In der Argument-Reihe hat Wolfgang Veiglhuber unter dem Titel „Volksgemeinschaft und ‚solidarischer Patriotismus‘“ Höckes Weltbild analysiert. Der Durchgang durch dessen Programmpunkte wird ins Gesamtbild der AfD eingeordnet, wobei sich zeigt, dass hier kein extremistischer Außenseiter agiert. Von Höcke werden nur in provokativer Form die nationalen Konsequenzen aus der Verteidigung „unserer“ Marktwirtschaft gezogen, wie sie überhaupt bei den Alternativdeutschen und auch bei anderen Parteigängern dieser Wirtschaftsordnung üblich ist. Speziell zeigen sich hier zwei Punkte:

  • Höcke kennt erstens – im Einklang mit seiner Partei – keine soziale Frage, sondern nur eine nationale. Die Volksgemeinschaft ist das Sorgeobjekt; sie gilt es, gegen innere Verfallserscheinungen und auswärtige Bedrohungen zu verteidigen. „Solidarität“ – das neue Schlagwort für Opfer- und Verzichtsbereitschaft – wird dafür, dem demokratischen Brauch folgend, adaptiert und als Attribut dem Patriotismus zugeordnet. Die vorstaatliche, völkische oder blutsmäßige Identität eines in seiner Heimat verhafteten Menschenhaufens, der sich über den Fortpflanzungstrieb von Vati und Mutti beständig reproduziert, ist der Ausgangspunkt der Sorge. Wenn hier soziale Nöte zu entdecken sind, werden sie aufgegriffen und gegen (angebliche) Nutznießer oder Anstifter aus dem Ausland zum Anliegen eines nationalen Widerstandsakts gemacht. Dann muss z.B. unsere soziale Marktwirtschaft gegen einen (angelsächsischen) Kapitalismus verteidigt werden, der mit der Globalisierung zu uns herüberschwappt, sich dabei durch einen „raffenden“ Charakter auszeichnet und unsere „Realwirtschaft“ in eine Art „Zinsknechtschaft“ nehmen will. Dann muss z.B. der „Verantwortungsraum“ unserer Solidargemeinschaft eingegrenzt, d.h. die migrantische Population vom Leistungsbezug bei den Sozialkassen ausgegrenzt werden.

  • Es stimmt also zweitens auch nicht, was bereits die letztgenannten Beispiele deutlich machen, dass die Partei „überhaupt keine Antwort“ anzubieten hätte, wie mit den Missständen im Lande umzugehen wäre. Von der Notwendigkeit einer bundesweiten Inflationsbekämpfung bis zur Aufhebung des baden-württembergischen Nachtangelverbots kann sie mit tausend guten Vorschlägen aufwarten. Veiglhuber geht dem Sammelsurium von ordnungs-, wirtschafts- und sozialpolitischen Konzepten nach, das sich, wie bei demokratischen Parteien üblich, gar nicht groß um Konsistenz zu bemühen braucht. Hauptsache, man dokumentiert die eigene (potenzielle) Tatkraft! Und wenn man die grundsätzliche Linie wissen will, der sich die vielen guten Ideen verdanken, ist die Partei überhaupt nicht um eine Antwort verlegen: Es geht ihr um die Erneuerung der nationalen Sittlichkeit im Lande. Höcke z.B. will einen grundlegenden sittlich-moralischen Wandel – weg von einem „dekadenten westlichen Lebensstil“.

Wem das als Parteiprofil zu wenig oder zu allgemein ist, der sollte sich daran erinnern, dass auch ein Kanzler Kohl einmal mit dem Programm antrat, dem Land eine „geistig-moralische Wende“ zu verordnen. Bei Höcke wird die Erneuerung der nationalen Sittlichkeit richtig brutal ausbuchstabiert – mit ihren antimaterialistischen Konsequenzen und ihrer Propaganda einer „bodenständigen Bescheidenheit“. O-Ton Höcke: „Unsere ‚Klage um Deutschland‘ dreht sich nicht primär darum, dass der Wohlstand zurückgeht, sondern vor allem darum, dass unser Volk seine Seele und Heimat verliert“; der Mann „will keine neue Armut herbeisehnen, aber etwas mehr Bescheidenheit und Orientierung an immateriellen Werten wären heilsam für uns.“

Veiglhuber fasst zusammen: „Moral, Sittlichkeit und Bescheidenheit statt eines guten Lebens für alle. Höcke legt ein völkisch-nationalistisches Wertetableau vor, in dem die Lohnabhängigen unter Hintanstellung der eigenen materiellen Interessen als Dienstkräfte von Volk und Vaterland fungieren sollen, eine nahezu klassische faschistische Perspektive.“ In diesem Resümee darf man allerdings das Wörtchen „nahezu“ nicht überlesen. Natürlich ist in Höckes Äußerungen allenthalben eine gewisse Nähe zur NS-Vergangenheit zu erkennen – zur Deutschen Arbeitsfront, zur Idee einer „organischen“ Marktwirtschaft, zum NS-Winterhilfswerk, zur Verteufelung der „globalen Geldeliten“ (Höcke), zur Anklage vielfältiger Dekadenzerscheinungen.

Aber damit ist die Sache nicht erledigt. Eine Nähe besteht genauso zur Verteidigung unserer – über alle Kritik erhabenen – Idee einer Soziale Marktwirtschaft, wie sie in den demokratischen Parteien anzutreffen ist; und wo nur noch der Einwand zugelassen ist, dass sich die wirtschaftliche Praxis nicht ganz auf der Höhe dieser hehren Idee bewegt, was auch bei Demokraten durchaus mit der Schuldzuweisung an auswärtige Kräfte verbunden werden kann, die den Anstrengungen deutscher Politiker zuwiderlaufen. Veiglhuber kommt immer wieder auf solche Übereinstimmungen zu sprechen und thematisiert auch den strukturellen Zusammenhang. So hält er bei Gelegenheit fest, dass die Äußerungen des Scharfmachers Höcke gar nicht apart rechts sind, sondern schlichtweg deutsche „Staatsideologie“.

Gestohlen haben die Alternativdeutschen also wohl eher bei den regierenden „Altparteien“, die sie sonst verteufeln! Populismus eben, wie er im Buche steht.

Zuerst bei Telepolis erschienen.

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Oben       —      Rechte Tasche – linke Tasche – übrig blieb die leere Flasche /  Screenshot  YOUTUBE

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Unten        —       Jacek Wesołowski „GELD MACHT FREI“

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Umweg als Irrweg

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Oktober 2022

Von den Kontrasten zwischen „Reichtum  und Armut“

Presidential Palace of Turkey

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von    :    Petra Ziegler

Der Kontrast könnte nicht größer sein: Anstatt unser Potential zu verwirklichen, schlagen sich die Menschen um die mickrigen Reste, die bei der Produktion abstrakten Reichtums für sie abfallen.

Abstrakter Reichtum? Was meint das? Die bunte Warenwelt um uns herum, die Gewinne der Konzerne, die Milliarden in den Händen einiger weniger? – Das mag alles übel verteilt sein, aber es ist doch sehr konkret. Erst recht, die Schattenseite. Unzählige leiden am Mangel, kaum reicht es zum Überleben, der Druck auf die Mehrheit steigt spürbar. Alles schmerzhaft wirklich. Nicht von stofflichen Dingen ist hier die Rede, ob nun von Weizen, Mobiltelefonen, High-Tech-Waffensystemen, Werkzeug, von irgendeiner Nascherei, oder dem Reichtum an Fähigkeiten und Talenten. Abstrakter Reichtum bleibt gleichgültig gegenüber irgendeinem konkreten Inhalt. Abstrakter Reichtum – das meint Reichtum in seiner spezifisch kapitalistischen Form. Oberflächlich betrachtet: Geld. Im Grunde: Wert.

Ganz nebenbei betreiben wir tagtäglich sein Geschäft. Der Wert, wiewohl nur durch einen gesellschaftlichen Gewohnheitsakt hervorgebracht, scheint den Waren innezuwohnen als wäre er ihre Eigenschaft. Eine gleichsam übernatürliche Eigenschaft. Ein Trugbild und doch nichts weniger als eine einfache Täuschung. Der im fortwährenden Tausch unserer Arbeitsprodukte befreite, praktisch verselbständigte Wert steht uns in Form von Geld und Kapital als eine höchst reale sachliche Macht gegenüber. Seine Logik wird durch unser Handeln hindurch wirksam. Wir reproduzieren sie in den Beiläufigkeiten des Alltags, unabhängig vom Bewusstsein und den Absichten der Einzelnen. Frei gesetzt in der Konkurrenz zwingt uns der Wert seine Gesetze auf, macht was seiner „Natur“ entspricht – ökonomisches Wachstum und betriebswirtschaftliche Effizienz etwa – zur äußeren Notwendigkeit für die Menschen. Was uns zur kaum hinterfragten Selbstverständlichkeit geworden ist, unsere Existenz als Kauf- und Verkaufssubjekt, als ebenso besitzergreifendes wie verlustängstliches ewiges Mangelwesen schuldet sich seiner Regentschaft.

Ausgedacht hat sich das so niemand. Mit der Gleichsetzung und im Austausch unserer individuellen Arbeitsprodukte schaffen wir spontan, ohne Absicht oder Plan – sozusagen hinterrücks – die grundlegenden Struktur- und Bewegungsmuster unserer Gesellschaft. Es sind unsere eigenen wechselseitigen (Produktions-)Beziehungen, die uns in verselbständigter Gestalt konfrontieren. In unserem täglichen Tun, als Eigentümer von Produktionsmitteln und/oder Arbeitskraft, handeln wir uns eine im Wortsinn eigenwillige Form „sachlicher Abhängigkeit“ jenseits persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse und handgreiflich ausgeübter Herrschaft ein. Mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, die zu keinem Zeitpunkt zur Verhandlung standen oder bewusst in Kraft gesetzt wurden. Als blindes Resultat unserer Handlungen bleiben ihre Regeln wirksam, solange wir an dieser Praxis festhalten. Unsere Realität ist die Konsequenz einer blinden Dynamik, die in ihrer Rasanz noch laufend zunimmt.

Unter der Oberfläche fallen mit steigender Produktivität der Arbeit stofflicher und wertförmiger Reichtum zunehmend auseinander. Verringert sich der gesellschaftlich notwendige Arbeitsaufwand, bleibt das nicht ohne Folgen für die pro stofflicher Einheit „produzierte“ Wertmasse. Der Wert der Waren steht also in umgekehrtem Verhältnis zur Arbeitsproduktivität. Je weniger Arbeitszeit auf die Fertigung einer einzelnen Ware aufgewendet wird, desto weniger Wert „steckt“ im einzelnen Produkt. Schon um die potentielle Umverteilungsmasse nicht schrumpfen zu lassen, müssen Output und (Ressourcen-)Verbrauch permanent erhöht werden. Was folgt, sind nicht kreativer Müßiggang, weitgehend befreit von der Sorge um die materielle Existenz, sondern tendenziell immer noch mehr Maloche, Raubbau am Planeten und üble Emissionen.

Ohne Umweg

Die Entwicklung neuer Mobilitätskonzepte, lokaler Gemüseanbau, die Weitergabe von Erfahrungswissen, Stadtparkpflege, aufmerksame Zuwendung, die Erforschung von Wirkstoffen zur Malariabekämpfung, Butterbrotstreichen, die Überwachung von Produktionsabläufen, Malen und Anstreichen, Komponieren, Erkenntnissuche in Sachen Energieeffizienz, Erkenntnissuche überhaupt, die Betreuung Kranker und Hilfebedürftiger und unendlich vieles mehr sind nicht gegeneinander verrechenbar. Sie bilden auch keine „ökonomische Sphäre“ irgendwo außerhalb des sonstigen Lebens. Sie mögen im Einzelnen unverzichtbar sein oder irgendwann überholt, gesellschaftlich umstritten oder allgemein anerkannt. Eine abstrakte Kategorie, die uns ihre Logik aufzwingt, bilden sie nicht. Eine auf stofflicher Ebene hochgradig vernetzte Produktion wie die unsrige ist in ihren Teilen, wie auch im Ganzen, immer wieder zu hinterfragen und neu auszurichten hinsichtlich Ressourcenverbrauchs, Umweltbelastung, der Anforderungen aller Involvierten. Betriebswirtschaftliche Effizienz ist dabei jedoch kein Maßstab.

Medien in der Nähe des Wohnortes von Joe Biden vor der Ankündigung, dass er der mutmaßliche demokratische Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten ist.

Die Fragen, die sich stellen, liegen auf der Hand. Was brauchen wir? Wie kommen wir dazu? Und wie erfüllen wir unsere Bedürfnisse und Begehrlichkeiten – ohne die Umwelt und unsere Mitlebewesen in irreparablem Ausmaß zu schädigen, ohne nachkommenden Generationen den Planeten ausgeplündert, kontaminiert und vermüllt zu übergeben, ohne uns einseitig zu Lasten Dritter auszuleben und ohne unser jeweiliges Gegenüber willkürlich zu Handlungen oder Unterlassungen zu nötigen?

Der Umweg über Geld und Markt schneidet uns von unseren Möglichkeiten ab und zwingt uns in einen Rationalismus, der einzig und allein der Vermehrung des Geldes um seiner selbst willen dient. Unser Leben rationell zu regeln heißt dagegen, die eigenen Lebensbedingungen bewusst und gemäß freier Übereinkunft zu gestalten, anstatt dabei von einer blinden Macht beherrscht zu werden. Bereits heute verfügen wir über eine Vielzahl von Beispielen, wie Informationsaustausch und Koordinierung auch innerhalb sehr großer Netzwerke gelingen (etwa aus Open Source oder Peer-Commons-Projekten), die Herausforderung liegt eher darin, das Gewohnte zu verlernen. Oder auch, künftigen Generationen verständlich zu machen, warum einstmals, unabhängig von allem, was gewünscht, möglich und machbar war, erst einmal Geld aufgestellt werden musste, bevor Bedürfnisse befriedigt werden konnten. Der unablässige Tausch von Äquivalenten dürfte dann nur noch als barbarische Vorstufe des Teilens innerhalb einer vorgeschichtlichen Sozietät bestaunt werden.

Die Koordination unsere sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Belange (Reproduktion, Verteilung, Ressourcenverbrauch etc.) muss bewusst, das meint direkt und nicht über den Umweg einer mit Eigenlogik behafteten abstrakten Form erfolgen. Das krampfhafte Festhalten an der Verwerterei führt uns nur weiter in den Abgrund. Der Verkauf der eigenen Arbeitskraft muss einem Beitragen und Teilen weichen. Wert und Geld müssen verschwinden. Ersatzlos!

Eine Assoziation freier Menschen muss ohne Formprinzip und immanente Logik auskommen, will sie ihr Handeln selbstbestimmt ausrichten. Menschliches Miteinander kann keinem Masterplan folgen, es kann nur der jeweiligen Situation entsprechend gestaltet und immer wieder neu erstritten und errrungen werden. In ernsthafter Auseinandersetzung, in spielerischem Umgang, nach zu vereinbarenden Regeln oder den bloßen Zufälligkeiten folgend. Wir verfügen über ausreichend geistiges, sinnliches, kreatives Vermögen. Vergeuden wir es nicht länger um aus Geld mehr Geld zu machen. Menschen mögen ebenso hemmungslos und unersättlich sein wie hingebungsvoll und fürsorglich. Kaum etwas ist da vorgegeben, die Schattierungen sind nahezu unendlich. Die Farbpalette des guten Lebens wird jedenfalls andere Töne hervorbringen als jene aus Zeiten, in denen Geld Leben frisst.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Oben     —     Presidential Palace of Turkey

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Ein Posting und die Folgen

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Oktober 2022

 Deutsche Kinderfeindlichkeit, erklärt an einer Instagram-Story

Datei:Mk Berlin Pfefferberg.jpg

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Übers Netz wollte unser Kolumnist auf eine ungünstige Situation für Kinder und ihre Eltern hinweisen. Doch schon bald wurde er vielfach verspottet und beschimpft. Das verrät viel über die Gesellschaft.

Anderntags wurde mein jüngstes Kind zwei Monate alt, und deshalb spazierte ich mit dem Kinderwagen durch den für seinen Kinderreichtum bekannten Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Als ich die Vorzeigekulturstätte Pfefferberg, ein ehemaliges Brauereigelände, besuchen wollte – an einem ausdrücklich als »barrierefrei« bezeichneten Eingang  – stieß ich auf einen breiten Eingangsplatz. Allerdings war er flächendeckend mit Kopfsteinpflaster bedeckt. Worüber ich eine Instagram-Story veröffentlichte, in der ich auf die kinderwagenabweisende Pflastersteinfläche hinwies sowie auf die Schwierigkeiten für Rollstuhlfahrer*innen (hier kann man die Story nachschauen, wenn man einen Instagram-Account hat ).

Stories sind ein Instagram-Format, das in der Regel nach 24 Stunden gelöscht wird. Sie bestehen aus kurzen Videos oder Bildern, die man etwa mit etwas Text, animiertem Dekogetöse oder einem Link anreichern kann. Meine Story mit dem Kinderwagen wurde rund 25.000 Mal angeschaut, das ist etwa mein Durchschnitt. Sie hat allerdings in verschiedenen Darreichungsformen quer durch deutschsprachige soziale Netzwerke weit über zehntausend Reaktionen bekommen. Das ist weit über dem Schnitt – aber noch interessanter ist die Qualität der Reaktionen.

Damit die Situation nachvollziehbar wird, folgt an dieser Stelle ein kurzer Exkurs über einen häufig auftretenden Mechanismus in sozialen Medien. Es geht um einen Effekt namens Personifikation. Bekanntere Menschen im Netz werden – fast egal, worüber sie sich äußern – nicht als Person betrachtet, sondern in erster Linie als Symbol. Für eine Gruppe, für eine politische Richtung, für eine bestimmte Verhaltensweise, für was auch immer.

Dieser Effekt ist bei mir als sehr privilegierter Person eher belustigend, für andere, marginalisierte Menschen aber kann er geradezu vernichtend wirken: Dann wird eine schwarze Frau zur Verantwortlichen für alle schwarzen Menschen gemacht, ein Jude wird zum Verantwortlichen für alle Jüdinnen und Juden sowie natürlich Israel gemacht und so weiter. Das ist jeweils natürlich rassistisch und antisemitisch, es ist eigentlich geradezu die Definition von Stereotypen, von Vorurteilen. Zwar können viele Menschen unter Vorurteilen oder unfairen Zuschreibungen leiden. Aber bei marginalisierten Menschen können Vorurteile töten.

Eine tiefe Wahrheit über die Motive und die Welthaltung des Publikums

Betrachtet man den Mechanismus der Personifikation technosoziologisch, passiert in den Köpfen der vielen etwas Bemerkenswertes: Man findet in der Symbol gewordenen Person endlich eine*n Ansprechpartner*in, um den Gefühlen, positiv wie natürlich auch negativ, freien Lauf zu lassen. Man hat endlich eine*n Adressat*in für das, was einen schon lange umtreibt. Das ist ein wichtiger Grund für die vielen plötzlichen Hass- und Ablehnungsausbrüche an unvermuteter Stelle, von denen Betroffene immer wieder berichten: »Ich hab nur ›Hallo‹ gesagt und hatte plötzlich einen tausend Köpfe starken Schimpfmob am Hacken.«

Es ist auch ein Grund, warum in Shitstorms sich so ungeheuer viel Wut entlädt. In der Personifikation liegt deshalb oft eine tiefe Wahrheit über die Motive und die Welthaltung des Publikums. Eine frauenfeindliche Person lässt bei einer solchen Gelegenheit schnell frauenfeindliche Schimpftiraden los. Eine rassistische Person verwendet dann rassistische Kommunikation. Und eine kinderfeindliche Person wird eben jeden Wunsch nach einem kindergerechten Umfeld verächtlich machen. Dabei lösen sich die Angriffe von der konkreten Person ab und zielen irgendwann nur noch auf das personifizierte Symbol.

Von marginalisierten und diskriminierten Menschen zurück zu mir und meiner Kinderwagensituation, die natürlich weit von jedem Shitstorm entfernt war. Durch meine Instagram-Story wurde ich für überraschend viele Menschen, viele Tausende nämlich, zum Symbol für Prenzlauer-Berg-Eltern mit ihren nervigen Kinderwägen. Man kann das gut daran erkennen, dass oft ohne Umschweife ein Ablehnungsbogen von mir zu den berüchtigten »Prenzlberg-Muttis« oder »Latte-macchiato-Muttis« geschlagen wurde. Also einer stark abwertenden Erzählung, bei der sich Kinderfeindlichkeit mit Mütter- und Frauenfeindlichkeit trifft.

Jetzt kommen die Anti-Kinderwagen-Ultras

Deshalb ist es erst einmal gut, dass es mich trifft, kein Witz, denn um meine Kollegin Margarete Stokowski  in anderem Kontext zu zitieren: Ich kann damit besser umgehen als die allermeisten anderen Menschen. Nicht nur weil ich privilegiert bin, sondern auch schlicht aus Erfahrung. Nach einer »Maischberger«-Sendung, in der ich gegen die AfD gewettert habe, habe ich mal grob geschätzt 2000 Gewaltdrohungen abbekommen, darunter vielleicht ein Viertel Todesdrohungen.

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Es ist strukturell natürlich irgendwie traurig, aber wenn man BKA-bestätigt auf einer mittleren Anzahl von Nazi-Todeslisten steht, schocken einen Anti-Kinderwagen-Ultras jetzt nicht so nachhaltig. Dabei gibt es von dieser Sorte tatsächlich aberwitzig viele, wie sich anlässlich meiner Story gezeigt hat.

  • »Lobo fühlt sich von Kopfsteinpflaster diskriminiert« – 2500 Likes.
  • »Eines der größten Versagen während der industriellen Revolution war es, dass die Fabrikgelände nicht kinderwagengerecht gebaut wurden« – 4000 Likes.

Und so weiter und so fort, verbunden natürlich mit jeder Menge direkter Reaktionen, Widersprüche und Beschimpfungen. Ich finde das persönlich lustig, vor allem weil ich in einer extrem seltenen und enorm luxuriösen Position bin: Ich kann mit Beschimpfungen Geld verdienen! Zum Beispiel genau jetzt in dieser Sekunde, in der Sie diesen Text lesen.

Quelle      :         Spiegel-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Beschreibung: Der Pfefferberg in Berlin (Prenzlauer Berg), ehemalige Brauerei, heute Biergarten und Kulturzentrum.

  • FotografMagadan, selbst fotografiert.
  • Datum: 11. Juni 2004
  • Lizenz: GNU-FDL

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported Lizenz.

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Unten      —       Sascha Lobo; 10 Jahre Wikipedia; Party am 15.01.2011 in Berlin.

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Ein Lauwarmer Herbst

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Oktober 2022

Gewerkschaften und Sozialproteste

Ein Debattenbeitrag von Thomas Gesterkamp

Die meisten Gewerkschaften scheuen den Konflikt mit der SPD und überlassen Proteste weitgehend der AfD. Diese Klüngelei war historisch nicht immer so.

Bei der Vorstellung der “Gaspreisbremse“ zeigte sich ein irritierendes Bild: Michael Vassiliadis, Chef der drittgrößten Mitgliedsorganisation im Deutschen Gewerkschaftsbund, trat als eine Art informeller Regierungssprecher vor Kameras und Mikrofone. Unter dem Motto “Sicher durch den Winter“ erläuterte der Vorsitzende der IG Bergbau-Chemie-Energie die Idee, Privathaushalten einen Monatsabschlag der Heizkostenrechnung als mageres staatliches Weihnachtsgeschenk zu erstatten. Preisbegrenzungen hingegen soll es frühestens im März oder April nächsten Jahres geben.

Gebremst wird also paradoxerweise erst dann, wenn es im Frühling nicht mehr so dringlich ist. Zudem wird die Industrie nach den Plänen eindeutig priorisiert. Die Unternehmen sollen sieben Cent pro Kilowattstunde zahlen, Privatleute zwölf. Weiterhin profitieren Gewerbebetriebe schon ab Januar 2023 von den günstigeren Konditionen – mit der Begründung, die finanzielle Entlastung sei dort wegen einer klareren Datenbasis leichter umsetzbar.

Gewerkschafter Vassiliadis von der IG-Bergbau-Chemie-Energie repräsentiert eine Branche, die stark betroffen wäre, falls Energie in den nächsten Monaten wirklich knapp werden sollte. In der “Kommission Gas und Wärme“, die das Konzept ausgearbeitet hat, vertrat er vorrangig die Interessen der eigenen Klientel. Die Beschäftigten der Aluminiumhersteller zum Beispiel benötigen in ihren Produktionsabläufen besonders viel Energie. Deren Jobs sichern zu wollen, ist ein verständliches gewerkschaftliches Anliegen. Doch müssen Arbeitnehmervertretungen deshalb die Politik einer sozialdemokratisch geführten Regierung kritiklos unterstützen?

Statt mit oppositionellen Kräften kooperiert der DGB in bekannter Manier mit der SPD. Die Gewerkschaften verlangen zwar finanzielle Entlastungen für Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen und eine höhere Besteuerung von Vermögenden. Die Straßenproteste gegen teure Energie und hohe Inflationsraten aber überlassen sie weitgehend der AfD. Die eigentlich dafür prädestinierte Linkspartei ist durch interne Konflikte geschwächt und meist mit sich selbst beschäftigt. Zusätzlich schreckt ab, dass Regierungsmitglieder wie Innenministerin Nancy Faeser die Demonstrationen, ähnlich wie schon in der Corona-Krise, pauschal unter den Verdacht der “Demokratiefeindlichkeit“ gestellt haben.

Anders in Großbritannien und Österreich

Die aktuellen gewerkschaftlichen Forderungen für die kommenden Tarifrunden in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst liegen immerhin zwischen acht und zehn Prozent mehr Lohn. Das klingt auf den ersten Blick hoch, dürfte im Ergebnis jedoch nicht mal die Preissteigerungen ausgleichen. Denn Forderungen sind bekanntlich noch keine Abschlüsse, zu ihrer Durchsetzung bedarf es kämpferischer Aktionen bis hin zu Streiks.

Doch bisher hat es noch keine gewerkschaftlichen Demonstrationen gegeben – anders als in Nachbarländern wie Großbritannien oder Österreich. Der ÖGB organisierte schon Mitte September landesweite Proteste gegen Energiekrise und Teuerung, zudem hat der österreichische Dachverband einen eigenen Vorschlag zur Übergewinnsteuer entwickelt. Der britische Aufruf “Don’t pay UK“ ermuntert Millionen Gas­kun­d-in­nen dazu, das Bezahlen ihrer Energierechnung zu verweigern. Unterstützt wird die breit angelegte Kampagne wesentlich vom Trade Union Congress TUC, dem Pendant zum DGB auf der Insel.

Das Verhältnis der (formal überparteilichen) deutschen Gewerkschaften zur Bundesregierung war historisch betrachtet stets ambivalent. Unter CDU-geführten Kabinetten hörte man auf den Kundgebungen zum Tag der Arbeit am 1. Mai häufig verbalradikale Floskeln wie die Warnung vor einer “Koalition aus Kabinett und Kapital“. Harmonischer ging es zu, wenn die Sozialdemokratie den Kanzler stellte, doch selbst dann scheuten die DGB-Organisationen keineswegs jede Konfrontation.

Quelle         :            TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben      —        Manifestation des auteurs – Festival International de la Bande Dessinée d’Angoulême 2020.

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Ja, guten Morgen, Günter!

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Oktober 2022

Zum 80. Geburtstag von Günter Wallraff

Von : Du Pham

Günter Wallraff forscht seit über fünf Jahrzehnten ganz unten. Zu seinem 80. Geburtstag eine persönliche Erinnerung an meinen ehemaligen Vermieter.

Vor einem Haus stehe ich, auf dem groß das Rettungsschiff „Cap Anamur“ gemalt ist, durch ein Tor trete ich in den Innenhof, gehe über die Treppe auf der linken Seite hinein in das Wohngebäude. Es ist so klein und hutzelig, dass ich – klein und hutzelig – mich reflexartig ducke.

Die Maklerin zeigt mir die Wohnung im zweiten Stock; puh, das ist eine Wohnung? Auch ganz schön klein. Und die Küche, die ist nicht hutzelig, sie ist hässlich. Der Dielenboden, die hohe Decke, große Fenster und die Tatsache, dass man auf eine kleine Terrasse klettern kann, überzeugen mich, das Bewerbungsformular auszufüllen.

Die Miete ist nicht günstig, aber wir sind in Köln, wir sind in Ehrenfeld. Zurück bei der Arbeit erhalte ich am selben Tag einen Anruf der Maklerin, mit einer Zusage. Bis zu diesem Anruf wusste ich nicht, dass du – Günter Wallraff – mein Vermieter sein wirst.

Zweiter Bildungsweg

Das ist nun zehn Jahre her, ich war damals fast 30 und studierte auf dem zweiten Bildungsweg „Online-Redakteur“ – wer sich diese Bezeichnung ausgedacht hat, denkt hoffentlich heute noch darüber nach. Es ist kaum möglich, Studierenden journalistische Darstellungsformen näherzubringen, ohne die Grenzen und legendenumwobenen Spielarten des investigativen Journalismus anzuschneiden, die du, Günter, seit über 50 Jahren immer wieder austestest.

Es ist 2012 und das Jahr, in dem ich mein Praxissemester bei der taz machen sollte. Ja, und dieser Journalist, dessen Arbeit darin besteht zu enthüllen, wird zum vermeintlich Aufgedeckten, als ein ehemaliger Mitarbeiter ihm Ausbeutung vorwirft. Jemand, dem es eine Unerlässlichkeit ist, Unrecht aufzudecken und zu desavouieren, soll selbst eine Person zum Niedriglohn schwarz beschäftigt haben.

Ein Mensch, der sich mit größter Hingabe in die Rollen unter seinesgleichen begibt, unter solche, die im Alltag ganz unten sind, soll selbst jemanden nach unten getrieben haben. Einer, ohne dessen Arbeit vieles in diesem Land weiterhin unentdeckt geblieben wäre, wurde demaskiert. War das so? Das weiß man nicht, ich weiß es nicht.

Hans Esser bei der BILD

Mal hast du als Türke „Levent (Ali) Sigirlioğlu“ bei Thyssen gearbeitet, als „Reporter Hans Esser“ dich in die Bild-Zeitung eingeschlichen, Burger bei Fastfoodketten gebraten. Häufig hast du eine Perücke aufgesetzt, einen Bart angeklebt, ebenso häufig wurdest du vor Gericht geladen.

Die Schilderung deiner Erlebnisse mit Rassismus, Ausbeutung und Verachtung haben die deutsche Gesellschaft aufgeschreckt. Als „Verdammter dieser Erde“ hast du Zugehörigkeit und Freundschaft erlebt. Aber moralische Verurteilung blieb in all den Jahrzehnten intensivster Arbeit nicht aus: Deine Darstellung diffamiere Betroffene ausschließlich als Opfer, hieß es, zu reißerisch sei die Schreibe, zu ungehorsam die Methoden.

Zur Unterzeichnung des Mietvertrags lernen wir uns persönlich kennen. Dein Büro ist nur wenige Häuser entfernt. Als wir uns an einen großen Holztisch, umgeben von unzähligen Papierstapeln, hinsetzen, wirkst du ganz hutzelig. Während wir sprechen, piddelst du in irgendwelchen Unterlagen.

Ja, ja, äh, ja.

Und ich merke, dass du gedanklich längst bei einem anderen Thema gelandet bist. „Ja, ja, äh, ja!“ – diese besondere Form der Aneinanderreihung von Jas werde ich noch oft hören. Denn ich bin ganz gut darin, Themen, die nicht meine eigenen sind, zu sortieren. Und so ergab es sich, dass ich dir im Büro aushelfe.

Es dauerte nicht lange, bis ich mit deiner Betriebsamkeit konfrontiert wurde, manchmal wurde ich noch nach Feierabend angerufen, nur um sicherzu­gehen, dass wirklich keine dringende Mail mehr eingegangen sei. Und die vielen Mails, die täglich hereinkamen, sie wurden alle gelesen. Bei manchen Nachrichten habe ich nervöse Zuckungen bekommen, so absurd schienen sie mir. Von dir hingegen wurden sie wertgeschätzt und respektiert.

Ich bin in einem matriarchalen Haushalt aufgewachsen und du warst damals schon – pardon – der alte, weiße Mann. Attribute, auf die ich bei meinem Gegenüber gern verzichte, sei es beim Schuldirektor oder im Umgang mit diversen Chefs. Du konntest ähnlich geckenhaft sein. Bist mir aber auf Augenhöhe begegnet, hast nicht ge-mansplaint und wurdest so intuitiv ein Wegweiser.

Die engsten Gefährten

Ich lernte deine Gefährten kennen, die genauso kämpferisch und gerechtigkeitsliebend sind: den Journalisten und „work-watcher“ Albrecht Kieser und den selbsternannten radikalen Menschenfreund Rupert Neudeck – dessen Porträt im Wohnzimmer meiner Großeltern hängt. Der Drang, sich zu engagieren, eint euch. Und übertrug sich auch auf mich.

Du und deine Freunde, ihr habt mich intensiviert, in dem, was ich heute tue. Als ich bei dir anfing, wollte ich erfolgreiche Autorin werden, über all die Auswüchse der Gesellschaft berichten, wallraffen. Es kam anders, ungewollt. Ich schreibe, ja. Aber nicht vorrangig. Und selten weltbewegend. Engagement findet nicht in der Theorie statt, das habe ich durch dich begriffen. Deine stoische Art, Dinge einfach zu machen – das habe ich im Selbstversuch gemerkt – ist so viel direkter und so viel effektiver.

Erinnerst du dich noch? Als der TV-Sender RTL das Format „Team Wallraff“ gestartet hat, war ich verwundert und fragte dich, ob du damit nicht an Serio­sität einbüßen würdest. In meiner angehenden, arroganten Akademikerblase waren wir uns alle einig, dass Privatfernsehen gar nicht ginge. Du hast mir entgegnet, dass es darum gehe, eine breite Masse zu erreichen, nicht nur Anerkennung von Aka­de­mi­ke­r*in­nen zu ernten. Ja, da habe ich mich ein bisschen geschämt!

Ausschließlich zur Berieselung

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Der deutsche Enthüllungsjournalist Günter Wallraff während einer Lesung in der Thalia-Filiale Linz Landstraße.

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Mit Samthandschuhen

Erstellt von DL-Redaktion am 29. September 2022

Deutsches Verhältnis zum Iran

Juni 2021

Ich trage doch kein Kopftuch

Ein Debattenbeitrag von Gilda Sahebi

Außenministerin Annalena Baerbock reagiert auffallend zurückhaltend auf den Tod Mahsa Aminis. Das sendet eine fatale Botschaft an den Iran.

Es ist die erste feministische Protestbewegung in der iranischen Geschichte. Diese Bewegung wird nun zur Bewährungsprobe für die Außenpolitik von Annalena Baerbock, die sie ausdrücklich auch „feministisch“ nennt. Und die Bewährungsprobe legt offen, was für eine Strategie die Bundesregierung gegenüber dem iranischen Regime gewählt hat. Spoiler: keine gute.

Auslöser der Proteste war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini nach ihrer Festnahme. Sie war festgenommen worden, weil ihr Kopftuch nach Ansicht der sogenannten Sittenpolizei nicht „richtig“ saß. Die Proteste, die seit ihrem Tod das gesamte Land erfasst haben, richten sich gegen die systematische Entrechtung von Frauen. Die Protestierenden kämpfen gemeinsam für Menschen- und Frauenrechte – und riskieren dabei ihr Leben.

Von der feministischen Außenministerin kam vier lange Tage nach Mahsa Aminis Tod: nichts. Schließlich äußerte sich Baerbock am Rande der UN-Vollversammlung: Sie erklärte, dass die iranischen Frauen „gehört“ werden müssten, und dass sie nur Rechte einforderten, „die allen Menschen zustehen“.

Das ist richtig. Und doch, mehr als moralisch wertvoll klingende Sätze zum Thema Frauenrechte waren bei Baerbocks Statement nicht dabei. Die einzige Kritik, die sie gegenüber dem Regime äußerte: „Diese Botschaft muss endlich bei allen Verantwortlichen ankommen.“ Dass eine solche laue Botschaft bei einem Regime ankommt, das Femizide staatlich verordnet, ist fraglich. Baerbock verkündete außerdem, dass sie den Fall Mahsa Amini vor den UN-Menschenrechtsrat bringen möchte. Auch das ist nicht mehr als Symbolik. Das Gremium hat weder Sanktionierungsrechte, noch besitzt es eine nennenswerte Autorität.

Die Bundesregierung ließ verlauten, dass sie „eine rasche und umgehende Untersuchung“ des Tods Mahsa Aminis fordere – was unweigerlich zu der Frage führt: Gibt es in der Bundesregierung eigentlich Menschen, die sich mit dem Iran auskennen? Aufklärung von einem Regime wie dem iranischen zu erwarten, erfordert entweder ein gehöriges Maß an Naivität oder schlicht Unwissen.

Von der feministischen Außenministerin kam vier lange Tage nach Mahsa Aminis Tod: nichts

Propaganda und Lügen sind seit ihrem Bestehen ein fester Bestandteil der Islamischen Republik. Eine Bundesregierung sollte das wissen. Das einzige schärfere Schwert, das bisher gezückt wurde – nachdem es laut iranischen Behörden mindestens 1.200 Festnahmen und laut Nichtregierungsorganisationen mehrere Dutzend Tote gegeben hat –, ist die Einbestellung des iranischen Botschafters.

Die US-Regierung reagierte hingegen noch am Tag von Mahsa Aminis Tod: Sicherheitsberater Jake Sullivan schrieb, dass ihr Tod „unverzeihlich“ sei und man das Regime für solche Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung ziehen werde. Kurze Zeit später verhängte die US-Regierung Sanktionen gehen die „Moralpolizei“. Nur: Warum hält sich dann die Bundesregierung derart mit Kritik zurück?

Es locken Geschäfte

Deutschland fasst das iranische Regime traditionell mit Samthandschuhen an. Heute ist Deutschland einer der wichtigsten Fürsprecher des Nuklearabkommens mit dem Iran. Seitdem die US-Regierung unter Donald Trump das Abkommen aufgekündigt hatte, liegt es am Boden. Nun geht es um eine Neuauflage. Deutschland will das iranische Regime durch das Abkommen aus der Paria-Rolle herausholen und die Geschäfte mit dem Iran noch weiter ausbauen. Das Land hat riesengroße Gas- und Erdölvorkommen.

Aus den zurückhaltenden Reaktionen der Bundesregierung lässt sich nur schließen, dass man glaubt, Deutschland dürfe die Mullahs nicht zu sehr verärgern, damit diese die Verhandlungen nicht abbrechen. Was für ein Fehlschluss: Die Machthaber brauchen dieses Atomabkommen. Das Regime ist dringend auf Gelder angewiesen, die durch das Abkommen wieder ins Land fließen würden. Gelder übrigens, mit denen sie Armee und Militär weiter aufrüsten wollen – und die sich die Machthaber wie nach dem ersten Nukleardeal 2015 in die eigenen Taschen stecken.

Von einer Atombombe hält ein Abkommen das Regime zudem nicht ab. Wie man jetzt sieht, lässt sich die Urananreicherung schnell wieder hochfahren: Die Machthaber können das Abkommen jederzeit aufkündigen und die Anreicherung vorantreiben. In der Zwischenzeit hätten sie ihr Militär dank des Geldes aus dem Westen weiter aufgerüstet und säßen fester denn je im Sattel. Es ist nicht verwunderlich, dass Israel – das am allermeisten von einer iranischen Atombombe gefährdet wäre – weiterhin strikt gegen ein solches Nuklearabkommen ist. Israel schätzt das iranische Regime weitaus realistischer ein als Deutschland.

Kontraproduktives Schweigen

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Oben     —     August 2021

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Dekolonisation Anyone?

Erstellt von DL-Redaktion am 28. September 2022

 Reparationen, Reparatur –
und das Leben nach der Klimakatastrophe

Quelle        :     Berliner Gazette

Von    :     Nishat Awan

Nach der kolonial-industriellen Expansion Europas ist die Klimakatastrophe längst in Regionen angekommen, in denen die Emissionen, die zu dieser Katastrophe geführt haben, nicht produziert wurden. Wenn dies zu einer großflächigen Vertreibung von Millionen von Menschen führt, dann ist es höchste Zeit, Umwelt- und Migrationspolitik zu dekolonisieren, wie Nishat Awan in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” argumentiert.

Ein Drittel Pakistans steht unter Wasser, ertrunken in der Sintflut eines “Monsuns auf Steroiden“, wie der UN-Generalsekretär António Guterres es nannte. Zu den Monsunregenfällen kommen noch die Wassermassen hinzu, die durch das Abschmelzen der Gletscher infolge der globalen Erwärmung entstehen. Was kann man in einem solchen Kontext über die Klimakatastrophe – und Europa – sagen, ohne das Wort Wiedergutmachung zu benutzen?

Klima- und Kolonialreparationen

Doch dieses Wort will Europa nicht hören. Als sie die Verwüstung durch die Überschwemmungen sahen, reagierten viele Menschen in Pakistan in den sozialen Medien verzweifelt – mir ging es nicht anders – ich war aufgebracht, wütend und forderte Wiedergutmachung. Eine interessante Antwort auf meinen Tweet bestand darauf, dass ich mich auf die Reparationen beziehen sollte, die “wir schulden” und nicht “ihr schuldet”, was vermutlich auf die Tatsache anspielt, dass ich im Vereinigten Königreich lebe.

Dass das historische Gedächtnis bei manchen Dingen so kurz und bei anderen so lang ist, sollte nicht überraschen; das sehen wir an der parteiischen Geschichte, die derzeit in den britischen Medien nach dem Tod von Königin Elisabeth II. erzählt wird. Diejenigen von uns, die Reparationen fordern, meinten sowohl Klima- als auch koloniale Reparationen, weil beides untrennbar miteinander verbunden ist. Ich mag in London leben und mehr als meinen gerechten Anteil an den Ressourcen der Erde verbrauchen, wie wir alle, die wir im globalen Norden leben, es mehr oder weniger zwangsläufig tun. Aber meine Vorfahren (um genau zu sein: mein Großvater und mein Vater) wurden von ihrem Land vertrieben, um die größte Kaserne des britischen Empires zu bauen, und wurden dann erneut heimatlos, als die koloniale Politik des Teilens und Herrschens den Subkontinent aufteilte.

Nach Angaben des Wirtschaftswissenschaftlers Utsa Patnaik indischen Subkontinent Reichtümer im Wert von 45 Billionen Dollar gestohlen, und Pakistan ist derzeit mit fast 250 Milliarden Dollar verschuldet, deren Rückzahlung dem Land keinen Aufschwung ermöglicht hat. Natürlich haben auch unsere eigenen Regierungen und das gefräßige Militär nichts dazu beigetragen, aber wir waren schon zum Scheitern verurteilt, bevor wir überhaupt angefangen hatten.

Die koloniale Matrix der Migration

Vieles davon wird für viele Leser nichts Neues sein, und doch wird dieser Kontext in angrenzenden Debatten, z. B. im Zusammenhang mit Migration, oft vergessen. Ich untersuche die undokumentierte Migration aus Pakistan nach Europa und die Art und Weise, wie die Kolonialpolitik die große Mehrheit der Menschen in Pakistan als billige Arbeitskräfte geformt hat und weiterhin formt. Ein historischer Hintergrund, der oft vergessen wird. Pakistan ist eines der wenigen Länder, die die Auswanderung kriminalisiert haben, d. h. das Verlassen des Landes mit den “falschen” Absichten kann ein Verbrechen sein.

Die Gesetzgebung, die praktisch die rechtliche Behandlung von Bürgern bestimmt, die aus Pakistan auswandern, ist die Emigration Ordinance (1979), die sowohl Vermittler als auch undokumentierte Migranten kriminalisiert. Sie hat ihre Wurzeln in der kolonialen Gesetzgebung, die die Zuwanderung von Arbeitsverpflichteten aus Indien zur Arbeit auf den Plantagen des britischen Empires kontrollierte. Später wurde der Geltungsbereich des Gesetzes auf die Kontrolle von “ungelernten Migranten” ausgeweitet, da die Kolonialherren befürchteten, dass linke Bewegungen die Arbeiter in Übersee radikalisieren könnten.

Die letzte Fassung des Gesetzes wurde nach der Unabhängigkeit von der autoritären Regierung von General Zia ul-Haq verabschiedet, als die Arbeitsmigration in die Golfstaaten zunahm und die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes von Überweisungen wuchs.Andere Länder, die in den letzten zehn Jahren ähnliche Gesetze wie Pakistan eingeführt haben, sind Marokko, Algerien, Tunesien und der Senegal, die alle unter dem Druck der EU (und des Vereinigten Königreichs) stehen, um die Migration einzudämmen, und als Teil umfassenderer Bemühungen, die EU-Grenzen zu externalisieren.

Einschränkung der Freizügigkeit von Menschen

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der aktivistische Diskurs in Europa über Freizügigkeit und Grenzsicherung dazu tendiert, sich auf die Frage nach dem Recht zu konzentrieren, die befestigten Räume der nördlichen Privilegien zu betreten, und nicht auf die Kriminalisierung des Verlassens des eigenen Landes. Man könnte sich fragen, warum diese Nuancierung wichtig ist, da sie im weiteren Sinne auch die Freizügigkeit von Menschen einschränkt.

Am Beispiel Pakistans ) wird ein “biometrischer Personalausweis” verwendet, der von lokalen Behörden ausgestellt wird. Das bedeutet, dass jeder, der in einem Bus in der Nähe der pakistanisch-iranischen Grenze reist und beispielsweise einen Ausweis aus einem Dorf in der Provinz Punjab besitzt, von der Polizei oder der Federal Investigation Agency (FIA) angehalten werden kann.

Zwar gibt es keine rechtliche Handhabe, jemanden zu belangen, nur weil er sich in einem anderen Teil des Landes aufhält, doch werden häufig Personen festgenommen und dann ohne Anklage freigelassen, weil sie wahrscheinlich versuchen, das Land ohne die erforderlichen Genehmigungen zu verlassen. Ein örtlicher Grenzbeamter in der Provinz Belutschistan beklagte2019:

“Auf der 600 km langen Straße von Quetta nach Taftan gibt es keinen einzigen FIA-Kontrollposten. Wie können wir also Migranten ohne Papiere erkennen und festnehmen? Außerdem haben wir es mit Problemen der Rechtsprechung zu tun: Es gibt kein Gesetz, das mich daran hindern kann, zur Grenze zu fahren, und niemand kann wissen, wohin ich eigentlich fahren will.”

Dieses Zitat zeigt deutlich, dass eine präventive Verhaftung von Möchtegern-Migranten von den Behörden als unproblematisch angesehen wird, während die Tatsache, dass sie nicht in der Lage sind, sie erfolgreich zu verfolgen, als Problem angesehen wird. In der Tat wird auch die Bewegung bestimmter Menschen innerhalb ihres eigenen Landes kriminalisiert, und zweifellos bestimmen Fragen der Klasse und des Privilegs, wer wohin reisen darf.

Verflechtung von Umwelt- und Wirtschaftsfragen

Um zu verstehen, warum sich die Menschen gezwungen sehen, diese höchst gefährliche Reise anzutreten, ist es wichtig, die Verflechtung von Umwelt- und Wirtschaftsfragen zu beachten. In den letzten Jahren habe ich in den Dörfern des nördlichen Punjab im Bezirk Gujranwala recherchiert und Interviews geführt, woher viele der Menschen stammen, die versuchen, nach Europa zu gelangen. Das landwirtschaftlich geprägte Gebiet ist berühmt für seine Bewohner aus Übersee, aber auch für die Produktion von hochwertigem Basmati-Reis. Der Widerspruch zwischen diesen beiden Tatsachen erklärt sich ein wenig, wenn man von der Stadt Lahore aus in das Gebiet fährt. Es wird von der Urbanisierung verschlungen, die sich in den letzten zehn Jahren von der Stadt aus nach Norden ausgebreitet hat.

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In dem Maße, wie Dörfer ihr Land an private Wohnsiedlungen, Industrieanlagen und kleine, stark umweltverschmutzende Fabriken verlieren und der Klimawandel die Ernteerträge unvorhersehbar macht, werden junge Männer dazu verleitet, sich auf eine beschwerliche Reise zu begeben, um bahir zu gehen, ein Wort, das “draußen” bedeutet und für sie normalerweise irgendwo im wohlhabenden Westen bedeutet. Die Dörfer liegen eingebettet zwischen Kleinstädten, halbfertigen Autobahnen und den Trümmern einer schnellen und unkontrollierten industriellen Expansion. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit hoch, und die Arbeit, die es gibt, ist äußerst prekär.

Politik der Undurchsichtigkeit

In einigen Dörfern haben fast alle älteren Männer schon einmal versucht, nach Europa zu reisen – mit unterschiedlichem Erfolg. Viele dieser Männer sind als Agenten tätig – das heißt, sie sind Agenten, die anderen die Reise erleichtern. Ein Mann (unter den Personen, mit denen ich sprach), der vor kurzem aus Griechenland zurückgekehrt war, verfügte über ein enzyklopädisches Wissen über die verschiedenen bürokratischen, biometrischen und Datenerfassungsverfahren, die von der EU an ihren Außengrenzen eingeführt wurden. Er hatte viele Monate auf Lesbos und dann in Athen als Freiwilliger für eine NGO gearbeitet.

Auf diese Weise war es ihm auch gelungen, über das so genannte Programm der IOM zur freiwilligen Rückkehr zurückzukehren. Er war sich der Funktionsweise der verschiedenen Datenbanken und Kontrollsysteme, die er im Falle einer Rückkehr durchlaufen müsste, sehr bewusst. Denn die Frage der Rückkehr ist in seinem unsteten Leben, in dem der Ort, den er sein Zuhause nannte, aufgrund von Urbanisierung und Umweltzerstörung nicht mehr existiert, immer offen.

Da er weiß, wie die Kontrollsysteme funktionieren, war er auch zuversichtlich, dass er einen Weg hindurch finden würde, indem er die Undurchsichtigkeit mobilisierte, die das Geschenk einer rassifizierten Welt an diejenigen ist, die als undifferenzierte Masse angesehen werden. Wie mir bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt wurde, besteht der Trick darin, seine Finger- oder Augenabdrücke nicht in die biometrischen Kontrollapparate einzuspeisen, da sich die (menschlichen) Grenzbeamten ohne diese maschinelle Unterstützung wahrscheinlich nicht an Sie erinnern oder Ihr Gesicht erke