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Archiv für die 'Innere Sicherheit' Kategorie

Trilog-Verhandlungen:

Erstellt von DL-Redaktion am 4. August 2023

Bürgerbeauftragte rügt EU-Parlament wegen verspäteter Transparenz

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Wo die Köpfe auf die Tischplatten  fallen

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von              :       

Das EU-Parlament hat wichtige Dokumente zu langsam an NGOs herausgegeben. Das sei auf Misswirtschaft zurückzuführen, sagt die EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly. Sie empfiehlt künftig proaktive Transparenz über die wichtigen Trilog-Verhandlungen.

Das Europäische Parlament hätte Transparenzanfragen von mehreren Nichtregierungsorganisationen im Jahr 2022 schneller beantworten und wichtige Dokumente früher der Öffentlichkeit zugänglich machen müssen. Zu diesem Schluss kommt die Bürgerbeauftragte der Europäischen Union Emily O’Reilly nach einer Beschwerde der NGOs. Die EU-Ombudsfrau wirft dem EU-Parlament „Misswirtschaft“ vor und fordert es auf, interne und externe Beratungen schnell genug zu vollziehen, damit es gesetzliche Auskunftsfristen einhalten kann.

O’Reillys Untersuchung sei eine „politische Ohrfeige“ für das EU-Parlament, so die Transparenzorganisation LobbyControl. Gemeinsam mit dem Corporate Europe Observatory, FragDenStaat und dem Centre for Research on Multinational Corporations hatte die NGO im Frühjahr 2022 die sogenannten Vier-Spalten-Dokumente aus dem Trilog zum Digital Markets Act angefordert. Mit dieser 2022 verabschiedeten Verordnung will die EU die Macht der großen Digitalkonzerne einschränken. Entsprechend groß war der Lobbyismus-Aufwand, den die Konzerne betrieben haben, um das Gesetz zu verwässern.

Entscheidende Phase der EU-Gesetzgebung

Der Trilog ist eine entscheidende Phase von EU-Gesetzgebungsprozessen. Zunächst legt die Kommission den Gesetzentwurf vor, Rat und Parlament legen eigene Positionen zu einem Thema fest, dann müssen sie im Trilog zu einem Kompromiss finden. Vier-Spalten-Dokumente sind wichtige Instrumente dieser politischen Auseinandersetzung zwischen den drei Institutionen. In den ersten drei Spalten dieser Dokumente sind die Positionen von Kommission, Rat und Parlament festgehalten, in der vierten Spalte der bisherige Kompromiss. Nach jeder Verhandlungsrunde werden die Dokumente aktualisiert.

Den Antrag auf die Dokumente zum Trilog um den Digital Markets Act hatte das Parlament zunächst abgelehnt, dann verzögert bearbeitet und erst nach Abschluss der Verhandlungen final beantwortet. Es gab die Vier-Spalten-Dokumente dann zwar heraus, doch für die Öffentlichkeit war es zu spät, noch Einfluss auf die Verhandlungen zu nehmen.

Die EU-Bürgerbeauftragte kommt in ihrer Untersuchung zu dem Schluss, dass die verspätete Herausgabe an internen Fehlern in den Prozessen des Parlaments lag. Es habe zunächst nicht das richtige Dokument identifiziert, weshalb die Beratungen mit den anderen beteiligten Insitutitonen länger gedauert hätten.

Proaktive Veröffentlichung gefordert

„Der Verzögerungstaktik und den Ausreden des EU-Parlaments erteilt Emily O’Reilly eine klare Absage“, so LobbyControl zur Entscheidung. Das sei ein wichtiges Signal für künftige Anfragen: „Verzögerter Zugang ist verweigerter Zugang.“ Nur wenn wichtige Dokumente zeitnah und während laufender Verhandlungen veröffentlicht würden, könnten Bürger:innen die Entscheidungen der EU im Detail nachvollziehen und so ihre demokratischen Rechte wahrnehmen.

Emily O’Reilly empfiehlt dem EU-Parlament, die Trilog-Dokumente künftig proaktiv zu veröffentlichen. Das würde auch den Aufwand verringern, einzelne Anfragen zu beantworten. Dies hatten auch die Nichtregierungsorganisationen in ihrer Beschwerde gefordert.

Eine entsprechende Petition von LobbyControl haben inzwischen mehr als 15.000 Menschen unterzeichnet. Im Herbst wollen sie die Unterschriften an Parlament, Kommission und Rat übergeben. Bis dahin kann man den Appell für mehr mehr Einblick in die Verhandlungen über Gesetze noch mitzeichnen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —       The Hemicycle of the European Parliament in Strasbourg during a plenary session in 2014.

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Kultur. Kampf, oder was?

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Juli 2023

Gerade verschwindet alles, was widerspenstig und aufregend ist

Die Uniform einer schlagenden und schießenden Einheit bringt jedes Eis zum schmelzen.

Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Die Kultur geht unter, wenn sie rein marktwirtschaftlich geregelt wird. Wie aber steht es um eine Kultur, die sich aus lauter Angst vor ihren Mördern selbst abschafft?

Auch wenn immer irgendwas los ist, kommt man doch manchmal ins eher fundamentale Grübeln, mitten im Sommer. Zum Beispiel darüber, was eigentlich mit unserer Kultur los ist und was das überhaupt ist: Kultur. Wahrscheinlich gehört „Kultur“ zu den Worten, die nur funktionieren, wenn man akzeptiert, dass damit mehrere verschiedene, aber miteinander verbundene Dinge gemeint sind. Man könnte sich ja mal drei grundsätzliche Bereiche vorstellen, für die das Wort „Kultur“ irgendwie angemessen sein könnte. Das Erste kommt aus dem Feld der materialistischen Gesellschaftsforschung und behauptet: Kultur ist, wie der ganze Mensch lebt. Das heißt, Kultur ist die Art, wie wir in einer Supermarktkassenschlange anstehen, wie oft wir uns eine neue Zahnbürste leisten oder ganz allgemein, wie wir mit uns selbst und mit den anderen umgehen. Kultur ist, was uns dazu bringt, mit Würde, Respekt und Empathie miteinander zu leben.

Die zweite Vorstellung widerspricht oder ergänzt da, wie man es nimmt: Kultur ist gerade das, was über den Alltag und das Benehmen darin hinausgeht, ein Experimentieren mit dem, was nicht gewöhnlich ist, eine Erfahrung jenseits der Codes und der Riten, kurz gesagt: ein freier Raum der Möglichkeiten für Fantasien, für die Kritik des ­Bestehenden und die Sehnsucht nach dem Anderen.

Und mit der dritten Definition von Kultur wird man speziell. Kultur ist ein gesellschaftliches Subsystem wie die Wissenschaft, die Religion, die Medizin oder der Sport, in dem es professionelle Arbeit ebenso gibt wie öffentliche Debatten. Diese Kultur hat nicht nur eine Funktion, und sie ist nicht nur immer auch mit ihrer eigenen Erforschung beschäftigt, sie hat auch eine politische Ökonomie.

Kultur ist etwas, das wie die Luft zum Atmen, das Wasser zum Trinken und das Recht auf Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit niemals allein marktwirtschaftlich geregelt werden kann. Eine Gesellschaft, die an Kultur nur hervorbringt, was der Markt hergibt, darf getrost barbarisch genannt werden.

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Georg Seeßlen

ist freier Autor und hat über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm „Corona­kontrolle, oder: Nach der Krise ist vor der Katastrophe“ bei bahoe books.

Die Schlagloch-Vorschau

12. 7. Ilija Trojanow

19. 7. Jagoda Marinić

26. 7. Mathias Greffrath

2. 8. Georg Diez

Für die Praxis hat August Everding einst ein schönes Beispiel angeführt: Ich, sagte er, bin in meinem ganzen Leben noch nicht in ein Freibad gegangen. Und trotzdem zahle ich mit Freuden meine Steuern, damit Menschen ins Freibad gehen­ können. Ist es deswegen nicht durchaus gerecht, dass diejenigen, denen ich mit einem Euro zum Besuch des Freibades verhelfe, mir mit fünf Cent ermöglichen, ins Theater zu gehen? Und wenn jemand, wie der Schreiber dieser Zeilen, sowohl ins Freibad als auch ins Theater gehen möchte, dann muss er es wohl sehr direkt spüren, dass Kultur in jeder Hinsicht eine Frage der sozialen Gerechtigkeit ist. Der Kulturkampf, wie ihn die Rechten wollen, beginnt, wenn die im Freibad glauben, dass die im Theater schuld daran sind, dass das Freibad so heruntergekommen ist, und wenn die im Theater glauben, die im Freibad seien schuld am Niedergang des Theaters.

Eine Gesellschaft kann man nicht nur anhand der versicherungspflichtigen Privatfahrzeuge oder der Anzahl häuslicher Unfälle, sondern auch an ihrer (dreifachen) Kultur messen. Beides ist nun aber auch wieder auf vertrackte Weise dialektisch miteinander verbunden: Kultur erzeugt Gesellschaft, so wie Gesellschaft Kultur erzeugt.

Vom harten Kern der Kultur, von den profes­sio­nell geführten Debatten, der demokratisch vermittelten Kunst, der verantwortungsvoll-freien Presse oder den selbstverwalteten Szenen aus, strahlt „Kultivierung“ auf alle anderen Lebensbereiche aus. Dann gibt es eine Kultur der Arbeit, eine Kultur der politischen Auseinandersetzung, eine Kultur der Geschlechterordnungen und der Sprachen des Begehrens, eine Kultur des Straßenverkehrs, eine Kultur des Freizeitverhaltens usw.

Oder es gibt sie eben nicht, denn so wie es die Anstrengungen der Kultivierung gibt, gibt es die Kräfte der Entkultivierung. Wer jetzt und hier die größte Kraft der Entkultivierung bildet, ist nicht zu übersehen: Es ist die Idee der radikalen Vermarktung und Selbstvermarktung, der wir den Namen „Neoliberalismus“ gegeben haben, und es ist der Rechtspopulismus, der ganz offen bereits einen „Kulturkampf“ ausgerufen hat, der für erstaunlich viele Menschen attraktiv scheint. Auch hier geht es um drei „Schlachtfelder“: die Eroberung kultureller Institutionen und Instanzen, die semantische und ideologische Hegemonie in den öffentlichen Medien und die Vernichtung des widerständigen, utopischen und queeren Geistes in der Kultur.

Quelle          :          TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben     —    Empfang der Berliner Teilnehmenden der Olympischen Winterspiele 2022 zur Gästebucheinzeichnung im Roten Rathaus

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Die Politik der Inlandsspione

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Juli 2023

Kritik am deutschen Verfassungsschutz

Von Till Schmidt

Der Journalist Ronen Steinke nimmt in seinem Buch den Verfassungsschutz ins Visier – vor allem dessen große Macht, im Inland Personen auszuspionieren.

Im Vergleich zu anderen liberalen Demokratien ist der deutsche Verfassungsschutz ein Unikum. Trotz ähnlicher Bedrohungen, wie sie etwa in den USA, Frankreich oder in Österreich vor allem von Rechtsextremen ausgehen. Das FBI, der Inlandsgeheimdienst DGSI oder die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst sind anders konzipiert.

Ronen Steinke hat nun ein neues Buch veröffentlicht, das sich mit den Aufgaben und der Funktionsweise der hiesigen Verfassungsschutzämter beschäftigt. Man könnte auch von einem pointierten Profil sprechen, das der Jurist, Journalist und Buchautor angelegt hat: Auf knapp 200 Seiten geht Steinke mit den gewachsenen Strukturen, dem Selbstverständnis und dem konkreten Agieren der Verfassungsschutzämter ins Gericht – und das mitunter sehr hart.

Steinke schildert anschaulich, wie folgenreich etwa eine Nennung in den Verfassungsschutzberichten für Organisationen und ihnen angehörende Einzelpersonen ist. Ein bekanntes Beispiel aus den letzten Jahren ist der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Anti­faschisten), dem durch eine später wieder rückgängig gemachte Aberkennung seiner Gemeinnützigkeit exis­tenzgefährdende Steuernachzahlungen drohten.

Oder Klimaaktivist:innen, die von manchen Ämtern gar nicht wegen ihrer Protestmethoden, sondern schon wegen politisch relativ gemäßigter Forderungen als „Verfassungsfeinde“ gelten.

An den Grundrechten rütteln

Die Argumentationen, die zu solchen Einschätzungen seitens der Behörden führen, sind häufig alles andere als stichhaltig. Bei genauerem Hinsehen würden die als Beweis für eine Verfassungsfeindlichkeit angeführten Aussagen häufig sogar solide auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Denn wirtschaftspolitisch ist das Grundgesetz eigentlich „ziemlich offen“, schreibt Steinke. Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung von unliebsamen politischen Akteuren.

Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung

Seehofer musste gehen und ließ den Haldenwang allein im Regen stehen ?

Steinke geht es nicht unbedingt darum, politisch Partei zu ergreifen für die von den Behörden ins Visier genommenen Gruppen. Als Verteidiger eines liberalen Rechtsstaates stört er sich vor allem daran, wie stark mitunter an Grundrechten wie Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gerüttelt wird sowie linke und rechte Gruppierungen mit Doppelstandards beurteilt werden. Steinke kritisiert die deutschen Verfassungsschutzämter als „Politik-Beobachtungs-Geheimdienst“.

Aspekte wie behördliche NS-Kontinuitäten, die Zeit des „Radikalenerlasses“ oder die Mordserie des NSU behandelt Steinke relativ knapp. Besonders spannend sind die Kapitel zur digitalen Quellen-Überwachung und der Präsenz der Ämter in den sozialen Medien. Hierfür hat sich Steinke auch mit Agenten und ehemaligen Mitarbeitern getroffen. An diesen Stellen liest sich das Buch teils wie eine Reportage.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen 

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Oben     —     Buildung of the Federal Office for the Protection of the Constitution in Berlin

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Frankreich tut weh

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Juni 2023

Polizist tötet Jugendlichen in Nanterre

Aus Paris von Rudolf Balmer

Im Pariser Vorort Nanterre hat ein Polizist einen Jugendlichen erschossen – schon wieder. Dieses Mal meldet sich auch Fußballstar Kylian Mbappé zu Wort.

Im Pariser Vorort Nanterre hat am Dienstagvormittag ein Verkehrs­polizist einen Jugendlichen im Verlauf einer Kontrolle mit seiner Dienstwaffe tödlich verletzt. Der 17-Jährige am Lenkrad eines Pkw habe versucht, sich einer polizeilichen Überprüfung seiner Papiere zu entziehen, und damit die beiden Beamten in Gefahr gebracht. Darum habe der Polizist zu seiner Verteidigung „in angemessener Weise“ reagiert, lautete dazu die erste offizielle Version. Suggeriert wurde damit, dass der Polizist zu seiner eigenen Verteidigung geschossen habe oder schießen musste.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen

Doch die Zweifel an dieser Notwehrthese sind erheblich: Im Internet war wenig später ein Video der Kontrolle zu sehen. Darauf ist deutlich zu erkennen, wie einer der Polizisten neben dem gestoppten gelben Mercedes den Fahrer mit seiner Pistole bedroht. Trotz des Verkehrslärms ist zu hören, wie einer der beiden Beamten unter anderem schreit: „Du bekommst eine Kugel in den Kopf!“ Daraufhin setzt sich das Fahrzeug im Schritttempo in Bewegung, und der verhängnisvolle Schuss fällt, der Wagen rollt noch ein paar Meter weiter, bis er an ein Verkehrsschild prallt. Der in der Herzgegend verletzte Jugendliche starb wenige Minuten später nach vergeblichen Wiederbelebungsbemühungen der Sanitäter einer Ambulanz.

Während Politiker des rechtspopulistischen Rassemblement national und der konservativen Partei Les Républicains sogleich das Vorgehen der Polizei in Nanterre verteidigten und deren Recht auf eine besondere Unschuldsvermutung in ihrem gefährlichen Kampf gegen Verbrecher unterstreichen, kommt von links scharfe Kritik an einer längst notorischen Polizeigewalt und dem laxen Umgang mit ihr von vorgesetzten Stellen und der Justiz.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen. Allein im Jahr 2022 sind 13 Personen von Polizisten getötet worden, weil sie sich angeblich der Kontrolle und einer eventuellen Festnahme entziehen wollten. Nur gegen fünf Beamte wurden Ermittlungen eingeleitet.

„Diese Situation ist unerträglich.“

Da sich diese Tragödien vor allem in konfliktreichen Außenquartieren ereignen und die Todesopfer meistens Jugendliche mit Migrationshintergrund sind, ist in Anspielung an den emblematischen Fall George Floyd von einer „Amerikanisierung der französischen Polizei“ die Rede. Der Fußballstar Kylian Mbappé, der sich früher schon zum Thema Polizeigewalt geäußert hatte, erklärte auf Twitter: „Mein Frankreich tut mir weh, diese Situation ist unerträglich.“

Ausnahmsweise hat sich diesmal nun selbst Innenminister Gérald Darmanin, der sich sonst immer hinter seine Polizisten stellt, entsetzt geäußert: Die Bilder auf dem fraglichen Video seien „extrem schockierend“ und könnten „eine solche Reaktion (des Polizeibeamten) keinesfalls rechtfertigen“, sagte er vor Abgeordneten der Nationalversammlung.

Quelle       :           TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —       Gare de Nanterre-Préfecture, Nanterre.

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US – Geheimdienste:

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Juni 2023

Lizenz zur weltweiten Überwachung läuft aus

 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

Der US-Kongress verhandelt derzeit, wie US-Geheimdienste weltweit Menschen überwachen und Daten auswerten dürfen. Trotz Reformen stehen missbräuchliche Abfragen auf der Tagesordnung. Die EU-Kommission will den transatlantischen Datentransfer wohl trotzdem weiter zulassen.

Es ist ein Abschnitt im US-Recht, der laufend Kopfzerbrechen bereitet – kürzlich dem US-Konzern Meta, der ein milliardenhohes Bußgeld bezahlen und den transatlantischen Datentransfer einstellen muss. Section 702 des Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) heißt die Passage, sie regelt die praktisch schrankenlose Überwachung von Menschen außerhalb der USA. Nicht zuletzt der Whistleblower Edward Snowden hatte vor einem Jahrzehnt das Ausmaß der technisierten Massenüberwachung offengelegt, mit bis heute andauernden Konsequenzen.

Doch laufen mit Ende des Jahres die Befugnisse für die US-Behörden aus. Schon seit Monaten ringt der US-Kongress darum, wie es mit dem umstrittenen Gesetz weitergehen soll. Im Zentrum der Debatte stehen freilich nicht die Sorgen europäischer Datenschützer:innen, das zeigte einmal mehr die Anhörung im Rechtsausschuss des US-Senats am Mittwoch.

Dort warben hochrangige US-Beamte, unter anderem der stellvertretende NSA-Chef George Barnes, für eine Verlängerung der Überwachungserlaubnis. Vor allem Cyberangriffe aus dem Ausland – und nicht mehr Bombenanschläge – habe das geheime Anzapfen von Datenströmen in den letzten Jahren vereitelt oder aufgeklärt, heißt es. „So wichtig die 702-Berechtigung heute schon ist, sie wird in den nächsten fünf Jahren nur noch wichtiger, da ausländische Cyberangriffe immer raffinierter und häufiger werden“, sagte der stellvertretende FBI-Chef Paul Abbate.

Massenhafter Missbrauch

Dass besagte Section 702 verlängert wird, steht kaum außer Frage. Offen bleibt aber vorerst, unter welchen Vorzeichen. Er werde dem nur zustimmen, wenn es bedeutsame Reformen gebe, sagte der Ausschussvorsitzende Dick Durbin. Insbesondere brauche es bessere Schutzmaßnahmen, um US-Bürger:innen vor illegaler Überwachung zu schützen sowie eine bessere Aufsicht durch den Kongress und Gerichte, so der Demokrat aus Illinois.

An sich erlaubt Section 702 nicht, US-Bürger:innen oder Menschen innerhalb der US-Grenzen zu überwachen. Dennoch kommt es ständig zu missbräuchlichen Abfragen der Datenbank. So hatte jüngst ein Gerichtsdokument enthüllt, dass massenhaft Daten illegal abgefragt wurden, etwa von Black-Lives-Matter-Demonstrant:innen, Spender:innen politischer Kandidat:innen oder auch Protestierender, die am Sturm des Kapitolgebäudes teilgenommen hatten.

Allein im Jahr 2022 habe das FBI über 200.000 unberechtigte Anfragen abgesetzt, um an Informationen über US-Bürger:innen zu gelangen, lässt sich dem jüngsten Bericht der zuständigen Aufsichtsbehörde entnehmen. Zwar beteuert das FBI, seine internen Prozesse inzwischen geändert zu haben. Aber nicht nur dem Demokraten Durbin reicht das nicht, auch manche Republikaner:innen drängen auf tiefgreifende Reformen.

NGOs fordern harte Reformen

Konkrete Vorschläge kommen aus der Zivilgesellschaft, darunter einem breiten Bündnis von Grundrechteorganisationen, etwa der American Civil Liberties Union, der Electronic Frontier Foundation und Wikimedia. Unweigerlich würden die globalen Spionagetätigkeiten unter Section 702 auch viele Daten von US-Bürger:innen aufsaugen, wie die NGOs darlegen.

Die Reformen aus dem Jahr 2018, als das Überwachungspaket zuletzt verlängert wurde, seien jedoch weitgehend erfolglos geblieben und müssten künftig deutlich härter ausfallen. Dabei gewonnene Daten müssten möglichst minimiert werden, zudem dürfe die Kommunikation von US-Bürger:innen nur mit einem Durchsuchungsbefehl abgefragt werden. Außerdem müsse es bessere Möglichkeiten geben, sich vor Gerichten zu wehren.

Auch sollen sich US-Behörden nicht mehr an Gesetzen vorbei bei Datenbrokern bedienen, um massenhaft Daten zu horten. Die Praxis, aus Smartphone-Apps oder sonstigem Online-Verhalten gewonnene Daten in staatliche Überwachungssysteme einfließen zu lassen, hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Dies würde eine „einzigartige Gefahr für die Privatsphäre“ darstellen und müsste klar begrenzt sowie reguliert werden, fordert das Bündnis.

Mit Blick auf die EU müssten aber auch die Auswirkungen auf Wirtschaft und Privatsphäre bedacht werden, die mit ausufernder Überwachung einhergehen, schreiben die NGOs. Bereits zwei Mal hat der Europäische Gerichtshof die Rechtsgrundlage für den Datentransfer aus der EU in die USA gekippt. Dem noch nicht final abgesegneten Nachfolger des Rechtsrahmens, der das Datenschutzniveau in den USA erneut für angemessen erklärt, dürfte das gleiche Schicksal drohen, erwarten Beobachter:innen. Und es drängt sich die Frage auf: Wenn die USA nicht einmal die Grundrechte ihrer eigenen Bürger:innen schützen können, wie soll ihnen das bei EU-Bürger:innen gelingen?

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Oben           —       Illinois Senator Dick Durbin Youth Climate Strike Chicago Illinois 5-3-19_0472

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Die Hängematte BIG-Tech

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Juni 2023

Ein schlechter Zeitpunkt für Bequemlichkeit

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Big Tech hat eine bequeme Hängematte aufgespannt, in der die halbe deutsche Verwaltung baumelt. Um da wieder rauszukommen, bräuchte es Willenskraft und Ideen, schreibt unsere Kolumnistin. Stattdessen deklarieren wir die Abhängigkeit von Microsoft, T-Systems und Google als „Souveränität“.

„Bianca, du könntest doch mal eine Kolumne dazu schreiben, was du auf der re:publica so erlebt hast, so was Einfaches.“ Mal was ganz Einfaches schreiben in dieser Ausgabe von Degitalisierung. Nach der re:publica 2023, Leitmotto Cash. Ich könnte mir das ja bequem machen. Also eigentlich.

Nun, leider ist gerade ein ziemlich schlechter Zeitpunkt für Bequemlichkeit. Oder anders gesagt: Auf dieser re:publica wurde mir noch stärker bewusst, was Bequemlichkeit zum falschen Zeitpunkt für verheerende Folgen hat. Die Auswirkungen von schlecht getimter Bequemlichkeit merken wir heute aller Ort am Zustand der Digitalisierung in Deutschland. Aber nicht nur dort. Es geht weit tiefer. Letztlich betrifft uns ein bequemer Umgang mit Digitalisierung zum falschen Zeitpunkt als Gesellschaft.

Leider fürchte ich, dass uns diese Bequemlichkeit im Umgang mit Digitalisierung zu immer mehr Problemen führen wird. Auch wenn wir das noch so nett mit Floskeln wie digitaler Souveränität zu übertünchen versuchen. Der schwammige Begriff der digitalen Souveränität sei in diesem Text eher gelesen als die Möglichkeit, Kontrolle über Abhängigkeiten von digitalen Technologien oder Unternehmen selbstbestimmt ausüben zu können.

Selbstverstärkende Systeme

Aus der Eröffnungskeynote von Signal-Präsidentin Meredith Whittaker ist für mich vor allem ein Abschnitt wesentlich: „Die Technologieunternehmen, die das Geschäftsmodell der computergestützten Überwachung frühzeitig verfeinert haben, bauten massive Infrastrukturen, riesige Datenspeicher und große Nutzerbasen auf. Konkurrenten konnten das nicht einfach nachahmen oder kurzerhand einkaufen. Auf diese Weise verstärkte sich das System selbst.“

Big Tech hat systematisch ein feingliedriges Gesamtkonstrukt aufgebaut, das im Wesentlichen nichts wirklich besser kann in individuellen Aspekten, nur eben alles wesentlich bequemer als Gesamtpaket.

Beispiel Microsoft: IT-Infrastruktur auf Basis von Microsoft-Produkten ist nichts, was sich nicht auch mit anderen Produkten oder Open-Source-Lösungen anders umsetzen ließe. Es ist nur sehr bequem auf das ganze Ökosystem zu setzen. Microsoft Exchange als Basis zur Verwaltung von Unternehmenskonten, Office für Dokumente, dazu jetzt auch noch sogenannte KI mit ChatGPT. Selbstverstärkende Systeme auf vielen zueinander passenden Ebenen. Eine ganze Abhängigkeitskaskade.

Am Ende kommt dann aber wieder das große Wehklagen, wenn die finanzielle Abhängigkeit von Microsoft-Produkten etwa in der Bundesverwaltung von Jahr zu Jahr größer wird.

Versteckte Bequemlichkeit

Nun naht aber Abhilfe: eine Cloud, mit der „der öffentliche Dienst souverän“ bleibe. So zumindest die Ankündigung auf der Webseite von Delos, einer Cloudplattform auf Basis von Microsoft Azure und Microsoft 365 für die Verwaltung. Falls man nun meinen könnte, das sei doch wieder nur Microsoft, nein, nein. Das ist alles – ganz souverän – in deutschen Rechenzentren und unter eigenem Betrieb.

Bemerkenswerterweise übersetzt Delos-Chef Georges Welz die postulierte Souveränität eher als „Wahlfreiheit“. Das ist bemerkenswert anhand der tiefen Verzahnung einer Cloud-Office-Suite wie Office 365 mit allen Abhängigkeiten. Insbesondere dem De-Facto-Stillstand von Behörden ohne Zugriff auf Microsoft Office in eben dieser vermeintlich souveränen Cloud. Aber die Verfehlungen der letzten 20 Jahre könne man nun mal nicht „mit einem Fingerschnippen“ umkehren, befindet der Delos-Chef. Kannste nichts machen. Aber immerhin kann alles so bleiben wie es ist und das auch noch in der Cloud.

Klar, Clouds und deren zugrundeliegende Software gingen auch anders. Ebenfalls auf der re:publica gelernt habe ich, dass es problemlos möglich wäre, selbst aufgebaute Clouds in echten physikalischen Containern direkt in einem Wärmekreislauf aus Photovoltaik und Nahwärme zu Wohngebieten einzubinden.

Nur müsste man sich dann sehr genau damit beschäftigen, wie sich das mit „der Cloud“ in unsere gesellschaftliche Umgebung angemessen einfügen kann. Bequem ist das nicht. Stattdessen setzt der Markt lieber auf so fadenscheinige Produkte mit Spuren gefühlter Unabhängigkeit wie eine „T-Systems Sovereign Cloud powered by Google Cloud“.

Die in letzter Zeit oft beschworene digitale Souveränität geht also eigentlich in dem Moment verloren, an dem verzweifelt versucht wird, einen Weg zu finden, die eigenen kaum aufzulösenden Abhängigkeiten als „souverän“ zu deklarieren.

Schlimmer noch: Mit den bequem verzahnten Technologiestacks aus Clouds, Datenspeichern und darauf aufbauender sogenannter KI wird es immer schwieriger, eine wirklich selbstbestimmte und damit im eigentlichen Sinne souveräne Alternative zu wählen. Geht ja so bequem alles miteinander zusammen.

Wann sind wir falsch abgebogen?

Ein Hinweis, wann wir technologisch etwa in der Verwaltung abgebogen sind und aus Bequemlichkeit den Anschluss verloren haben, gab mir der kurzweilige Talk von Lilith Wittmann zum Thema Verwaltungsdigitalisierung. 1999 erschien ein Konzept namens Bund Online 2005. Ziel: Verwaltung digital bis 2005. Mit frappierender Ähnlichkeit zu aktuellen Vorhaben wie dem Onlinezugangsgesetz, auch in Version 2.0.

Im Konzept zu Bund Online lassen sich – neben der schon angesprochenen Abhängigkeit von Microsoft schon damals – folgende Perlen finden, die heute unverändert zutreffen: „Ein wichtiger Aspekt ist die zentrale Koordination der gesamten Aktivitäten. Zum einen müssen die einzelnen Aktivitäten in einer integrierten Gesamtarchitektur münden. Zum anderen können durch eine zentrale Koordination bzw. Bereitstellung einer Reihe von Basiskomponenten erhebliche Einsparungspotenziale bei gleichzeitig gesteigerter Qualität realisiert werden.“

Eigentlich wurde damals schon die Problematik des gebündelten Betriebs in Clouds heute und der Mangel an architektonischer Gesamtplanung klar umrissen. Eigentlich war alles absehbar, schon damals. Aus Bequemlichkeit und Verantwortungsdiffusion haben wir uns aber stattdessen tiefer in Abhängigkeiten und digitalen Zugzwang begeben. Immerhin hat das Tradition: „Das haben wir schon immer so gemacht“.

T.I.N.A.?

Technologie und ihre Abhängigkeitsfallen entwickeln sich aber weiter. Cloud-Infrastrukturen etwa sind gar nicht mehr die einzige Abhängigkeit, die wir auflösen müssten. Wir haben das Thema Clouds in der Digitalisierung in Deutschland auf einer so basalen Ebene verschlafen, dass der Verwaltung oder dem Gesundheitswesen droht, beim Hype-Thema KI nicht mehr hinterher zu kommen.

Die Entwicklung digitaler Technologien suggeriert oft, dass es keine Alternative gäbe. There is no alternative. T.I.N.A. Kannste nichts machen, musste hinterhergehen dem Trend.

Jedem technologischen Trend folgen zu müssen ist aber genauso gefährlich wie sich nicht verändern wollen. Es gilt einen sinnvollen Mittelweg zu finden zwischen den Polen „Haben wir schon immer so gemacht“ und „Hilfe, wir haben technologische Veränderungen verschlafen und müssen jetzt schnell unreflektiert Technologien einführen – obwohl sich gar kein gesellschaftlicher Mehrwert ergibt“.

Für mich ist die wesentliche Botschaft zur re:publica 2023 die aus tantes fabulösem Talk: Nichts, absolut nichts ist alternativlos.

Es ist mühsam und beschwerlich, sich ernsthaft mit technischen Entwicklungen und ihren Konsequenzen zu beschäftigen. Speziell wenn die Digitalisierung von Verwaltung und Gesundheitswesen Jahrzehnte im Rückstand ist. Aber diesen digitalen Rückstand werden wir nicht durch das hastige Aufbauen neuer versteckter Abhängigkeiten aufholen. Auch wenn es der vermeintlich einfache und bequeme Weg wäre.

Also ran an die Details neuer und verschlafener Technologien. Denn jetzt ist ein ganz und gar schlechter Zeitpunkt für Bequemlichkeit.

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Oben           —       Digitalisierung in der British Library

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Schallangriffe auf die USA

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Juni 2023

Mit ARD-aktuell ist ganzjährig 1. April

Siegel des

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Die „Schallangriffe auf US-Diplomaten“ waren ein Hirngespinst. Für die Tagesschau bleiben sie „ein Rätsel“

Das Staatsgebilde der US-Amerikaner gilt – wer wollte das bestreiten – als das Allerwichtigste auf dieser Welt. Deshalb wird ihm hierzulande mehr journalistische Aufmerksamkeit gewidmet als der restlichen Menschheit. Als das State Department in Washington vor fast sechs Jahren behauptete, wertvolle US-Diplomaten in Havanna seien Opfer eines ominösen „Schallangriffs“ geworden, grabschten die Faktenfinder der Tagesschau begeistert nach diesem Giftköder der CIA-Schwadron Psychologische Kriegsführung. Seither erzählten ARD-aktuell-Redakteure das Ammenmärchen dutzendmal, in unterschiedlichen Varianten. Oft genug, zuletzt im März 2023, wurde dem nüchternen Betrachter deutlich, dass die Geschichte purer Humbug war. Die Hamburger Volljournalisten aber machen damit weiter.

Unter dem Titel

USA weisen zwei kubanische Diplomaten aus

hatte Tagesschau.de am 10. August 2017 noch halbwegs trocken gemeldet

Mehrere Mitarbeiter der US-Botschaft in Havanna wurden krank. Warum, ist nicht klar. Die USA reagieren, indem sie zwei kubanische Diplomaten des Landes verwiesen. Den Zusammenhang können sie nicht so recht erklären. i

Zwei Wochen später aber langten dann die „Faktenfinder“ der ARD-aktuell zu:

US-Diplomaten in Kuba: Krank durch Schallwaffen?

Mehrere US-Botschaftsangehörige in Kuba hatten laut State Department plötzlich körperliche Beschwerden. … Als Ursache werden „akustische Angriffe“ vermutet.ii

Die Zentralredaktion hätte es bei diesem Eumel belassen können. Auch sowas versendet sich. ARD-aktuell aber schob die Räuberpistole nicht unauffällig ins Archiv, sondern legte einen Monat später nach:

USA erwägen Schließung der Botschaft in Kuba

Die USA reagieren auf mutmaßliche Akustikattacken gegen ihre Botschaftsmitarbeiter in der kubanischen Hauptstadt Havanna. Insgesamt 16 Mitarbeiter wiesen gesundheitliche Schäden auf, die laut US-Angaben durch mysteriöse akustische Attacken hervorgerufen worden sein sollen. iii

Die Amis veranlassten tatsächlich eine „wissenschaftliche Untersuchung der mysteriösen Erkrankungsfälle“. Daraufhin setzte die Tagesschau ebenfalls ihre Fehlleistung fort, letztlich über Jahre. Zunächst fuhr das ARD-Studio Washington im Februar 2018 auf einen Artikel ab, der in der medizinischen Fachzeitschrift Journal of the American Medical Association iv erschien und von denkbaren Schädel-Hirn-Traumata der angeblichen „Opfer“ handelte:

Kranke US-Diplomaten in Kuba: Wie nach einer Gehirnerschütterung v

Der Chefredakteur und seine Vizes denken aber gar nicht dran, evidenten Blödsinn wenigstens nachträglich und öffentlichkeitswirksam zu korrigieren. Auch dummdreiste Propaganda beeinflusst schließlich Michels Meinung in gewünscht prowestlichem Sinne.

Die nachfolgenden Zitate sind dem oben erwähnten „Gehirnerschütterung“-Artikel entnommen. Er war eine gute Weile in der Mediathek der Tagesschau.de nachzulesen, ehe er erklärungslos entfernt wurde.vi Im allgemeinen Webarchiv (https://web.archive.org) findet man das edle Teil trotzdem, wenn man den erblindeten Link in die Suche-Zeile eingibt.vii Auszüge:

2017 klagten 21 Mitarbeiter der US-Botschaft in Kuba über Beschwerden, die auf einen mutmaßlichen akustischen Angriff hindeuten. … Schwindel, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen und Tinnitus gehörten zu den Symptomen, die die Mitarbeiter beeinträchtigten. … Forscher der University of Pennsylvania stellen … fest, dass die Beschwerden am ehesten denen nach einer Gehirnerschütterung gleichen – ohne dass es je eine Erschütterung gegeben habe. Die meisten Betroffenen hatten ein durchdringendes Geräusch, wie ein Brummen oder Quietschen gehört, einige außerdem von ungewohntem Druck und Vibrationen gesprochen. Ohren zuhalten hatte dagegen nicht geholfen. Das hatte Spekulationen über einen gezielten Angriff ausgelöst.

Es folgen weitere Details über die entsetzlichen Qualen, denen jene armen US-Diplomaten (niemand sonst!) angeblich ausgesetzt waren. Schlussfolgerungen:

Das Geräusch selbst halten die Experten als Ursache für unwahrscheinlich. … hörbare Geräusche würden in der Regel keine Hirnverletzungen auslösen. … Auch eine Art Massenhysterie halten die Forscher für unwahrscheinlich. (ebd.)

Okay, wenn schon US-Wissenschaftler ihre Landsleute von Massenhysterie freisprechen, dann ist für die Tagesschau natürlich auch alles sauber. Pures Pech, dass die Tonaufzeichnungen von den mysteriösen, angeblich gesundheitschädigenden Geräuschen nichts Verwertbares hergaben, obwohl sie von den „Opfern“ selbst mitgeschnitten worden waren.

Wir haben es demnach mit richtig fiesem Schall zu tun, der nur von US-Diplomaten wahrgenommen werden kann, von anderen Menschen nicht; auch handelsübliche Mikrofone sprechen nicht drauf an. Der homo sapiens americanus diplomaticus kriegt davon aber Hirnschäden: akut spinnose Stupiditose, eine Krankheit, die nicht mal im medizinischen Nachschlagewerk Pschyrembel viii verzeichnet ist, so speziell und elitär US-amerikanisch ist sie.

Eine solche Sensation – Kubanische Schall-Attacke, viele US-Opfer! – zu vermelden, ist Tagesschau-Pflicht. „Wat mutt, dat mutt“, sagt der gebildete Qualitätsvolljournalist. Dass Schallwaffen, die präzise zwischen US-amerikanischen Trommelfellen und denen von anderer, geringerwertiger Nationalität unterscheiden, nur im Reich einer kranken Fantasie existieren, fällt ihm nicht auf.

Na gut, na schön. Hat alles seine zwei Seiten. Je mehr Schwachsinniges die Hamburger Luxus-Nachrichtenredakteure absondern, desto härter im Nehmen wird ihr Publikum.

Immerhin wagten diese Edelfedern eine spekulative Zwischenüberschrift, wenn auch nur mit Fragezeichen:

Zirpen einer Grille?

Kubanische Experten hatten nach Abhören einer Aufnahme des Geräuschs erklärt, es könne sich um das Zirpen einer Grille handeln. Die amerikanischen Mediziner sehen dagegen keine Anzeichen für eine Simulation. (ebd.)

Kubanische Experten haben ja keine Ahnung von dem, was US-Diplomaten alles hören können. Grillen sollen das gewesen sein? Lachhaft! Mindestens Urknall war das …

Und deshalb bot Tagesschau.de den sagenhaften Blödsinn zusätzlich in der ARD-Mediathek als Audio-Clip an, unter dem Titel

US-Botschaft in Kuba: Symptome der Mitarbeiter bleiben weiter medizinisches Rätsel ix

Inzwischen wurde er dort allerdings ebenfalls gelöscht, und zwar so gründlich, dass er nicht einmal mehr mit der waybackmachinex zurückzuholen ist.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist nicht nur zum Angebot von Bildungs- und Informationsprogrammen verpflichtet, sondern hat auch einen Unterhaltungsauftrag. Aber besoffen machen sollten seine Nachrichtenangebote eigentlich nicht. Zu bedenken wäre außerdem: Was einmal als angeblicher Fakt ins kollektive Hirn der Öffentlichkeit gedengelt wurde, lässt sich nicht mehr ausbeulen.xi, xii, xiii Es kann später noch so oft widerrufen und richtiggestellt werden, das ursprünglich Gehörte beziehungsweise Gelesene wird nicht restlos aus dem Gedächtnis gelöscht. Sein Einfluss aufs Unterbewusstsein bleibt bestehen.

Die dummdreiste antikubanische/antikommunistische Propagandanummer der USA fand international Aufmerksamkeit (Deppen-Fernsehen wird ja nicht nur in Deutschland geboten). Solcher Erfolg macht süchtig: Die Washingtoner „spin doctors“ spulten ihr Idiotenstück deshalb noch mehrere Male andernorts ab. Als nächste waren, im Juni 2018, die Chinesen dran.

Vorfälle in China: Rätselhafte Erkrankung von US-Diplomatenxiv

Abermals assistierten die begnadeten Qualitätsjournalisten der ARD-aktuell:

Ärzte untersuchen Erkrankungen von US-Diplomaten in China. Zuletzt erkrankten US-Diplomaten in Kuba an einem mysteriösen Ohrenleiden und lösten eine diplomatische Krise aus. Jetzt melden US-Behörden ähnliche Vorfälle aus China … (ebd.)

Erkrankt, Tatsache. Hypochonder und Simulanten mit Ami-Pass gibt es für die Tagesschau nämlich nicht. Nachrichten aus den USA übernimmt die deutsche Elitejournaille ungeprüft. Das schützt den Restbestand an grauen Zellen des ARD-aktuell-Redakteurs vor Gebrauchsspuren und verbessert seine Karriereaussichten.

Ähnliche Vorfälle wie in Kuba

Aus US-Regierungskreisen verlautete, die aus China eingeflogenen Amerikaner würden an der University of Pennsylvania behandelt. … Dabei solle auch herausgefunden werden, ob es Zusammenhänge zu den Vorfällen auf Kuba gebe. (ebd.)

Zusammenhänge „zu“. Mieses Deutsch, auch das noch. Volle Tagesschau-Dröhnung, Fakten, nichts als Fakten:

In der kubanischen Hauptstadt Havanna waren seit November 2016 mehr als 20 Botschaftsmitarbeiter an mysteriösen Ohrenleiden erkrankt. Einige der Betroffenen verloren dauerhaft ihr Gehör. (ebd.)

Kein „angeblich“. Kein „wie es heißt“. Nein, die reine Grundwahrheit:

Betroffene verloren dauerhaft ihr Gehör. 

Futsch. Für immer taub. Telefonisch nicht mehr erreichbar.

Bezweifeln, infrage stellen, die Unglaubwürdigkeit solcher abenteuerlichen Behauptungen bemerken? Nicht Sache der Tagesschau. Sie machte weiter auf der nach oben offenen Verblödungsskala:

Im Mai gaben die USA eine Gesundheitswarnung für die Diplomaten heraus. (ebd.)

Wirklich kalorienreich, dieser Quatsch mit Soße. Das State Department gibt auch Warnungen vor Gesundheit raus. Das meldet dann die Tagesschau. Zuviel Gesundheit ist ungesund.

Sprache ist der Schlüssel des Denkens. Sie offenbart auch, wer damit die Tür nicht zukriegt.

ARD-aktuell denkt nicht daran, auf das Offenkundige hinzuweisen: dass die Regierung in Washington den Flohzirkus auf dem Trommelfell ihrer Auslandsvertreter zunächst hauptsächlich für den Hausgebrauch veranstaltet haben dürfte. Schließlich hatten viele US-Bürger die von Obama eingeleitete kurze Entspannungsphasexv genutzt und günstige Reisen nach Kuba unternommen.

Nach Kuba! Zu den Kommunisten! Das geht gar nicht. Da hatte dringend was geschehen müssen. Also:

Mysteriöse „Schallattacken“: USA warnen vor Reisen nach Kuba

Wer ist für die mutmaßlichen „Schallattacken“ auf US-Diplomaten in Kuba verantwortlich? Die Frage ist weiter offen. Die US-Regierung zieht nun mehr als die Hälfte ihres Botschaftspersonals ab. Zudem gab sie eine Reisewarnung heraus.xvi

Nach der Gesundheitswarnung kommt die Reisewarnung. Und nach dem Hals der abwaschbare Gummikragen. Wer solche ARD-Nachrichtenredakteure hat, braucht sich um die Zukunft der Realsatire nicht zu sorgen.

Mutmaßliche“ Schallattacken heißt: Es ist anzunehmen, dass es die gab. Es handelte sich also nicht bloß um „vorgebliche“ Schallattacken oder allenfalls um „angebliche“? Ach was, ein ARD-aktuell-Redakteur pfeift auf sprachliche Genauigkeit, denn

Die Frage ist weiter offen. (ebd.)

So offen wie Hirnriss.

Mit dem Havanna-Syndrom im Schlepp hielt das ARD-„Flaggschiff“ jahrelang AgitProp-Kurs. Keine Rede davon, dass US-amerikanische und britische Wissenschaftler die Seifenblase vom Schallangriff „schon“ ein Jahr später hatten platzen lassen. Im Januar 2019:

Die Wissenschaftler verglichen die Aufzeichnungen der Geräusche, die von ehemaligen Mitarbeitern der Botschaft vorgelegt worden waren, mit dem Zirpen von Grillen der Art Anurogryllus celerinictus, bekannt als Indische Kurzschwanzgrille. „Sie stimmt bis ins Detail mit der Aufzeichnung überein, und zwar in Dauer, Pulsfolgefrequenz, Leistungsspektrum, Pulsfrequenzstabilität und Schwingungen pro Puls.“xvii

Die New York Times titelte:

Die Geräusche, die die US-Diplomaten in Kuba heimsuchten? Liebeskranke Grillen, sagen die Wissenschaftler.xviii (Übers. d. Verf.)

Der Artikel geht gut zur Sache:

Aufnahme von beunruhigenden Geräuschen, die von amerikanischen Diplomaten in Kuba gemacht wurden, in Wirklichkeit von einer sehr lauten Grillenart stammen könnte. (ebd.)

In einer anderen Quelle im April 2019:

Die Geräusche stammten von Grillen, die in der Umgebung der Botschaft vorkommen. Die Studie, die auf der Konferenz der US-amerikanischen Society for Integrative and Comparative Biology (SICB) vorgestellt wurde, bestätigt, dass die Geräusche, die Diplomaten und Beamte der US-Botschaft angeben gehört zu haben, mit dem Zirpen … übereinstimmt.“xix

Treffer, versenkt? Aber nicht doch, nein! Soo leicht geht das „Flaggschiff der ARD“ nicht unter. Die Tagesschau lief trotz des schweren Einschlags weiter volle Fahrt. Im Oktober 2021 erschien dieser Titel auf Tagesschau.de:

Havanna-Syndrom-Gesetz xx

Darunter neue „Fakten“, versteht sich, wieder nichts als Fakten:

Mehr als 200 US-Botschaftsmitarbeiter leiden am „Havanna-Syndrom“ … Es klingt fast wie in einem Agentenfilm: Mitarbeiter in US-Botschaften klagen über mysteriöse Symptome wie Schwindel, Hör- und Sehstörungen, Migräne und Gedächtnisverlust. … Ursache … sind offenbar Verletzungen des Gehirns, mutmaßlich verursacht durch schädliche Funkwellen unbekannten Ursprungs. 

Fast wie in einem Agentenfilm“: Der Vergleich lag nahe, denn im August 2021 war auch Berlin in den Blick geraten, Schauplatz für viele Spionage-Thriller und tatsächlich Spielwiese zahlreicher Geheimdienste:

Havanna-Syndrom bei US-Diplomaten in Berlin

Mehrere Beschäftigte der US-Botschaft in Berlin zeigen offenbar Symptome des „Havanna-Syndroms“. Medienberichten zufolge haben sich mindestens zwei US-Vertreter in ärztliche Behandlung begeben. xxi

Die Quellenangabe „Medienberichten zufolge“ taugt nichts. Aber wenn der Tagesschau-Redakteur in Berlin nun schon mal beim Schmuddeln ist, kann er auch gleich eine Portion antirussische Hetze untermischen. Daran hatte es im Zusammenhang mit den Schallwaffen noch gemangelt.

Forschung an Akustik-Waffe?

US-Diplomaten räumten ein, dass es in der Vergangenheit bereits ähnlich Fälle in anderen europäischen Staaten gegeben habe. Manche der Opfer seien Offiziere der Nachrichtendienste, die sich vor allem mit Russland befasst hätten.

Edle „mit Russland befasste“ CIA-Offiziere hatten Ohrensausen? Diese Russen sind aber wirklich sowas von gemein!

Brisant ist in diesem Zusammenhang, dass Russland nach Recherchen des ‚Spiegel‘ und der schwedischen Plattform ‚Bellingcat‘ an einer Methode arbeiten soll, aus der Ferne gefährliche Wellen an eine Zielperson zu senden. (ebd.)

Russland „soll“ an einer Methode arbeiten. Nix Genaues weiß man nicht. Schlimm, dieser Putin.

Der Spiegel war übrigens mal ein Nachrichtenmagazin, lang, lang ist’s her. Bellingcat hingegen ist noch immer keine „schwedische“ Plattform, sondern britisch. Eigentlich auch keine „Plattform“, sondern CIA-geschmierte „Nicht-Regierungs-Organisation“ mit Sitz in London.xxii Dass sie hauptsächlich Falschnachrichten transatlantischer Geheimdienste verbreitet xxiii, xxiv, sollte ein Tagesschau-Redakteur eigentlich wissen.xxv, xxvi, xxvii

Mit dem Respekt vor den „anerkannten journalistischen Grundsätzen“ ist es bei der Tagesschau allerdings nicht weit her. Und deshalb treibt sie ihre Hetze auch ungeniert auf die Spitze:

Verdacht gegen Russland

Vertreter aus der US-Regierung äußerten in der Vergangenheit den Verdacht, russische Geheimdienste hätten ihr Botschaftspersonal angegriffen. Die US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines musste allerdings Anfang August einräumen, dass die Ursache des „Havanna-Syndroms“ noch immer nicht gefunden sei. (ebd.)

Klar doch, der Russe provoziert, rund um den Globus. Und deshalb vermeldete die Tagesschau im Oktober 2021, ein paar Wochen nach dem Avril-Haines-Klops:

Havanna-Syndrom nun auch in Kolumbien

im Umfeld der US-Botschaft in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá Menschen erkrankt.xxviii

Machen wir einen Zeitsprung. Im März 2023 bestand die vorerst letzte Chance für die Tagesschau, zu journalistischem Anstand zurückzufinden. Und wieder kriegte sie die Kurve nicht:

Havanna-Syndrom bleibt ein Rätsel

Ein nun veröffentlichter Bericht der Geheimdienste stellt lange gehegte Verdächtigungen von Betroffenen infrage, sie könnten Ziel einer globalen Kampagne Russlands oder eines anderen Landes geworden sein … Stattdessen hieß es in dem Bericht, es gebe mehr Beweise dafür, dass das Ausland nicht beteiligt war. xxix (Hervorhebung d. Verf.)

Die US-Geheimdienste höchstselbst haben also ihrer Story die Luft rausgelassen und machten einen Rückzieher. Aber die Tagesschau macht weiter, dass die Schwarte kracht:

Havanna-Syndrom bleibt ein Rätsel. (ebd.)

Eine notwendige Klarstellung. Mikrowellen- und Schallkanonen gibt es wirklich. Sie wurden in Deutschland entwickelt, von Rheinmetall DE-TEE (Düsseldorf) und Diehl BGT Defence (Nürnberg). Darüber kam nichts in der Tagesschau. Natürlich nicht. Und wer hat diesen Dreck gekauft und als Erster eingesetzt? Die USA. Natürlich doch. Schon vor 20 Jahren, in ihrem völkerrechtswidrigen Irakkrieg.xxx, xxxi, xxxii

Falls Ihnen, verehrter Leser, demnächst ein ARD-aktuell-Redakteur über den Weg laufen sollte: schöne Grüße von der Indischen Kurzschwanzgrille. Sie habe sich sehr über die mediale Aufmerksamkeit gefreut.

vii https://web.archive.org/web/20180219195714/https://www.tagesschau.de/ausland/kuba-usa-109.html

viii https://www.lehmanns.de/shop/medizin-pharmazie/54023367-9783110683257-pschyrembel-klinisches-woerterbuch

ix https://web.archive.org/web/20180220181018/http://www.tagesschau.de/multimedia/audio/audio-52599.html

x https://archive.org/web/web.php

xiv https://web.archive.org/web/20180607105448/https://www.tagesschau.de/ausland/china-us-botschaft-101.html

xv https://www.tagesspiegel.de/politik/us-botschaft-in-kuba-wiedereroeffnet-sternenbanner-ueber-havanna/12191016.html

xvi https://web.archive.org/web/20170929195305/https://www.tagesschau.de/ausland/kuba-usa-107.html

xviii https://archive.is/aC2pD

xix https://www.biorxiv.org/content/early/2019/01/04/510834

xxi https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/berlin-usa-botschaft-havanna-syndrom-101.html

xxii https://de.bellingcat.com/kontakt/

xxiii https://www.rnd.de/politik/nordstream-sprengung-was-ueber-boot-taeter-und-ihr-vorgehen-bekannt-ist-UGI4SNP6VNGU5HK7AWATJRHQHM.html

xxiv https://euvsdisinfo.eu/report/bellingcat-navalny-poisoning-aimed-destroy-nord-stream-2/

xxviii https://www.tagesschau.de/ausland/kolumbien-havanna-syndrom-101.html

xxx https://www.telepolis.de/news/Armee-in-Honduras-setzt-Schallkanonen-ein-1990657.html

xxxi https://www.epochtimes.de/politik/ausland/griechenland-will-mit-ohrenbetaeubenden-schallkanonen-fluechtlinge-abschrecken-a3530087.html

xxxii https://wissenschaft-und-frieden.de/artikel/gegen-das-volk-geruestet/

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Mit Mut: „Letzte Generation“

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Mai 2023

Solidarität mit der Letzten Generation

Wo denn sonst könnte ein „Demokratisch“ sich nennender Staat, schöner seine politische Unfähigkeit unter Beweis stellen ? Er hat doch nicht einmal seine eigene Gewalt unter Kontrolle.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Hans Christoph Stoodt

Die Razzien gegen die Aktivisten von „Letzte Generation“ zeigen einmal mehr, wo sich Staat und Justiz derzeit positionieren.

Razzien gibt es nicht wegen des sehr wahrscheinlichen Bruchs der Verfassung und ihres Artikels 20a GG im Rahmen der derzeitigen Verkehrs- oder Energiepolitik.

Kein Manager irgendeiner der betrügerischen Autofirmen, die im Zusammenhang der „Dieselgate“-Affäre nicht etwa, wie es verharmlosend hieß, „geschummelt“, sondern wissentlich und mit voller Profitabsicht Menschen und Mitwelt massiv geschädigt haben, wurde in der heute zu erlebenden Art und Weise drangsaliert, Razzien gibt es auch nicht gegen die RWE-Manager, die Landesregierungen von NRW und anderen Bundesländern, die ebenfalls wissentlich für das Profitinteresse großer Energiekonzerne riesige und nicht wieder gut zu machende Schäden angerichtet haben, auch nicht gegen die Autobahn-GmBH, die DEGES und die schwarzgrüne Landesregierung von Hessen, die beim Bau der A49 mitverantwortlich für die nun zu befürchtende Trinkwasservergiftung mit krebserzeugenden Rückständen der Sprengstoffproduktion bei Stadtallendorf für die frühere Nazi-Wehrmacht ist, und von der sie seit Jahren wissen konnten.

Nein. Razzien gibt es gegen Menschen, die mit fast schon religiösem und oft genug auch verzweilfeltem Eifer die Gewaltfreiheit ihrer Aktionen Zivilen Ungehorsams betonen und penibel praktizieren, auch wenn sie von wütenden Autofahrer:innen getreten, geschlagen, beschimpft, bespuckt, angezeigt wurden. Solch ein Verhalten soll den Tatbestand der Bildung einer „Kriminellen Vereinigung“ erfüllen.

Die Flut der Anzeigen von in ihrer Mobilitäts-Freiheit sich eingeschränkt fühlenden Büger:innen hat nun, so hört man es aus München, zu den heutigen Razzien gegen „Letzte Generation“ geführt.
Gegen sie wird als mögliche „kriminelle Vereinigung“ ermittelt.

Das ist bodenlos, absurd, das ist staatliche Gewalt. Das ist zutiefst irrational – denn kein Milligramm CO2 weniger wird durch diese Aktion in die Atmosphäre gegast, nichts ändert sich in der Sache, um die es geht, zum Besseren. Das ist die in der Klimafrage in Wahrheit hilflos mit ihren Machtmitteln fuchtelnde Demonstration eines um sich schlagenden Staats, der diejenigen bestraft, die ihn, leider wohl allzu illusionär, an seine Amtspflichten erinnern.

File:Letzte Generation Friedlicher Protestmarsch 04 2023 Berlin.jpg

Ich möchte, anstatt vieles andere zu zitieren, einfach nur daran erinnern, daß der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau, Pfarrer Dr. Volker Jung, vor nicht allzulanger Zeit seine Solidarität mit „letzte generation“ bekundet und sie ausdrücklich gegen Kriminalisierungsversuche in Schutz genommen hat (https://www.ekhn.de/aktuell/detailmagazin/news/tempolimit-kirchenpraesident-drueckt-fuers-klima-auf-die-bremse.html).

Es bedarf schon eines CSU-Verständnisses von Christentum und Schöpfung, staatliche Machtmittel im heute zu erlebenden Ausmaß gegen Klimagerechtigkeitsaktivist:innen in Marsch zu setzen.

Alle, die die Hoffnung auf eine Welt nicht aufgegeben haben, in der soziale Gerechtigkeit, Frieden und ein rationaler, zukunftsfähiger Umgang mit den natürlichen Grundlagen der menschlichen Zivilisation als Möglichkeit in Blick und Reichweite bleiben, sind aufgerufen, sich lautstark und deutlich mit „Letzte Generation“ zu solidarisieren – völlig gleichgültig, ob man mit dieser oder jener Aktion der Gruppe voll und ganz einverstanden ist.

Urheberrecht
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Grafikquellen       :

Oben       —       Caris und Solvig, zwei Mütter vom Aufstand der Letzten Generation, haben sich im Naturkundemuseum festgeklebt. Caris hat einen Sohn und Solvig vier Kinder. Hier löst die Polizei den Kleber. Ein Knochen des Sauriers, ein Imitat, ist abgebrochen. Berlin, 30.10.22

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Kolumne-La dolce Vita

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Mai 2023

Kümmert euch um das Problem selbst!

Aber Pollitiker haben noch nicht einmal das gelernt und sind auf ihre Knüppelbarden angewiesen.

Von    :    Amina Aziz

Debatte über Rassismus in der Polizei. – Nach der Kritik der Dozentin Bahar Aslan am Rassismus in der Polizei diskutieren alle über die Art der Diskussion – doch viel zu selten über die Sache.

Als Horst Seehofer vor zwei Jahren Hengameh Yaghoobifarah mit einer Anzeige gedroht hat, habe ich ihm Yaghoobifarahs Roman „Ministerium der Träume“ geschickt. Es war unfassbar für mich, dass ein deutscher Innenminister so gegen ihm unliebsame Jour­na­lis­t*in­nen vorgehen will.

Jetzt wurde mal wieder durch eine rassifizierte Person eine Polizeidebatte ausgelöst. Bahar Aslan hat als Dozentin für interkulturelle Kompetenz bei der Polizei in einem Tweet vom „braunen Dreck bei den Sicherheitsbehörden“ gesprochen und ist ihren Job los. Dagegen klagt sie. Aus Solidarität mit ihr haben Hunderte einen offenen Brief unterzeichnet.

Während es in anderen Ländern völlig normal ist, auf Polizei und Politik zu schimpfen, verzeiht man in Deutschland so eine Wortwahl nicht. Der Ton macht die Musik und ist bisweilen wichtiger als das Anliegen. Die Anfeindungen gegen Aslan sind nur ein Beispiel für eine intolerante Rechte, die alles noch so Banale zum Anlass nimmt, ihren Rassismus so auszuleben, dass migrantische Personen gecancelt werden und eine Öffentlichkeit glauben gemacht wird, dass so eine Aussage tatsächlich schlimm sei.

Die Debatte, die das entfachte, ist gesellschaftspolitisch und intellektuell armselig. Das liegt auch an dem offenen Brief. Darin wird sich von der Wortwahl Aslans distanziert. Dieser Wortwahl stehen die im Brief selbst erwähnten Beamten gegenüber, die Nazis sind, aber nicht beleidigt werden sollen. Wo kämen wir da hin, Nazis zu beleidigen?

Der Streit um den Knochen?

Der Brief beginnt mit dem Satz: „Wir stehen hinter der Polizei.“ Es ist erschreckend, wie viele Menschen diese Aussage unterzeichnet haben, als ob es der einzige Weg ist, Solidarität mit Aslan zu äußern. Es gibt keinen Grund, hinter einer Staatsgewalt zu stehen.

Als seien migrantische Cops cooler

In Brief und Debatte werden auch weder die Opfer von Polizeigewalt erwähnt, noch problematisiert man Antirasissmus-Workshops bei der Polizei. Als ob es eine rassimussensible Polizei geben könnte und migrantische Cops cooler wären.

Der Brief zeigt, dass die Kritik an der Polizei, die seit dem Mord an George Floyd und der Debatte mit Seehofer geäußert wurde, in der Breite nicht angekommen ist.

Stattdessen wird über die Art und Weise diskutiert, wie man Kritik äußern sollte. Als wäre dieses Land Herr von Knigge persönlich und nicht eins, über dessen Bevölkerung es Studien zu ihrem autoritären Charakter gibt.

Quelle      :    TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben     —    Kostüm von Danilo Donati für „Il Casanova“, Film von Federico Fellini en 1976, Schauspieler Donald Sutherland. – Anita Ekberg – Giulietta Massina et Marcello Mastroianni / Kostüme, Accessoires, Dessins, Dekore, Scénarios, Fotografien, Montage, Postproduktion.

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Wenn Cancel Culture wirkt

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Mai 2023

Rechter Shitstorm nach Kritik an Polizei

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Die Bundespolizeiakademie in Lübeck

Von Carolina Schwarz

Die Dozentin Bahar Aslan kritisierte Rechtsextremismus in der Polizei und verlor daraufhin ihren Lehrauftrag an der Polizeihochschule. Ein Armutszeugnis.

Er warnte vor einer „Afrikanisierung und Islamisierung“ europäischer Städte, hetzte gegen die Ehe für alle, schrieb für die rechte Zeitung Junge Freiheit, hielt Vorträge vor Menschen aus dem NSU-Umfeld und gründete einen rechtsextremen Verein. Klingt alles ziemlich rechts? Ist es auch. Trotzdem konnte Stephan Maninger mehrere Jahre als Professor an der Bundespolizeiakademie Lübeck lehren.

Als sein Hintergrund 2021 öffentlich bekannt wurde, setzte die Akademie seine Lehrveranstaltungen kurzzeitig aus und überprüfte den Fall. Das Ergebnis: Sie konnten kein „straf- und/oder disziplinarrechtlich relevantes Fehlverhalten“ feststellen.

Erst auf Druck der Landesregierung wurde ihm der Lehrauftrag entzogen, doch Maninger ist bis heute Professor an der Bundespolizeiakademie. Siehe auch die Wikipedia 

Maninger ist kein Einzelfall. Im rechten Wirrwarr der Sicherheitsbehörden den Überblick zu behalten ist schwer. Ständig legen Recherchen neue Missstände offen: Rechtsextreme Chatgruppen, Polizist_innen, die andere rassistisch, sexistisch oder antisemitisch beleidigen oder bedrohen, die aktiv sind in rechtsextremen Netzwerken. Konsequenzen bleiben meist aus, viele von ihnen sind noch im Amt: auf Streife, als Kommissar_innen oder in Polizeihochschulen.

Auf den Tweet folgte der Shitstorm

Bahar Aslan dagegen hat ihren Job verloren. Seit 2022 hat die 38-jährige Lehrerin „interkulturelle Bildung“ an der Hochschule für Polizei und Verwaltung (HSPV) in NRW gelehrt. Doch jetzt beendet die Hochschule die Zusammenarbeit mit Aslan. Auslöser ist ein Tweet vom Samstag, in dem Aslan rechte Polizeipraktiken kritisiert hatte. Darin bezeichnete sie rechtsextreme Polizist_innen als „braunen Dreck“. Die HSPV begründet ihre Entscheidung gegenüber der taz damit, dass Aslan ungeeignet dafür sei, eine „vorurteilsfreie, fundierte Sichtweise im Hinblick auf Demokratie, Toleranz und Neutralität zu vermitteln“.

Die Argumentation, dass wer rechte Missstände anprangert, keine Demokratie und Toleranz vermitteln könne, ist dabei an Absurdität kaum zu überbieten. Die Gleichzeitigkeit, dass rechte Po­li­zis­t_in­nen über Jahre im Amt bleiben, während eine An­ti­ras­sis­tin ihren Job wegen eines Tweets verliert, ist ein Armutszeugnis für die Sicherheitsbehörden.

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Seit Samstag ist Aslan mit einem Shitstorm konfrontiert, in dem auch Politi­ker_in­nen der CDU und Mitglieder der Po­li­zei­ge­werkschaft GdP mitmischen. Dieser zieht sich vor allem an dem Begriff „brauner Dreck“ hoch. Klar könnte man darüber diskutieren, ob es legitim ist, rechtsextreme Menschen als Dreck zu bezeichnen. Aslan selbst hat gesagt, es sei eine unglückliche Wortwahl gewesen, und sie hat sich bei nicht rechten Polizist_innen entschuldigt. Damit könnte man den Nebenschauplatz abhaken und sich dem Hauptaspekt zuwenden.

Nämlich dass wir in Deutschland ein strukturelles Problem mit Rechtsextremen und Rassist_innen in den Sicherheitsbehörden haben. Doch anstatt den „braunen Dreck“ zu thematisieren, sollen diejenigen verschwinden, die ihn sichtbar machen. Die Beendigung des Lehrauftrags an der Polizeihochschule und die fehlende Unterstützung aus dem Innenministerium NRWs zeigen: Es liegt ihnen mehr daran, Kritiker_innen mundtot zu machen, als rechte Netzwerke und Praktiken in den eigenen Reihen aufzudecken und zu unterbinden.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Haupttor der Bundespolizeiakademie Lübeck

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Unten     —       Vorstellung des neuen blauen Uniformmodells

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Bürgermeisterwahl Chicago

Erstellt von DL-Redaktion am 7. April 2023

Gute Kinder, böse Stadt

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Aus Chicago von Lukas Hermsmeier

695 Menschen wurden 2022 in Chicago getötet. Bei der Wahl des neuen Bürgermeisters dreht sich alles um die Frage: Was tun gegen die Gewalt? Die einen wollen mehr Polizei, die anderen wollen sie abschaffen.

 

Die erste Schusswaffe hatte Camiella Williams mit elf Jahren. Ein 9-mm-Kaliber, für 25 Dollar vom Taschengeld gekauft. Nichts Besonderes in Englewood, sagt sie. Hatten die Jungs ja auch.

Wenn sie die anderen einschüchtern wollte, holte sie die Pistole aus ihrem Rucksack und wedelte damit herum. Muss sie sich abgeguckt haben, sagt Williams. Wer zu einer Gang gehört, sorgt besser für Angst, als sie zu zeigen.

In Englewood gibt es kein Leben ohne Gewalt. Gewalt ist draußen und zwischen den Menschen und irgendwann auch in einem drin, sagt Williams. Als Trauma, kalt und glühend. Man weiß, dass Personen, die schwere physische Gewalt ausüben, fast immer selbst Gewalt erfahren haben. In Englewood erlebt man es.

Wer mit Camiella Williams, die heute 35 Jahre alt ist, zwei Söhne hat und als Lehrerin arbeitet, durch ihre alte Heimat im Süden von Chicago fährt, spürt, wie sehr sie an Englewood hängt. Sie zeigt auf den Kiosk, an dem sie damals Fruchtgummis für 75 Cent kaufte, die Marke, die sie jetzt immer noch holt. Sie erzählt vom Shoppingcenter, das es nicht mehr gibt, Evergreen Plaza, „von allen nur Everblack genannt“. Erinnerungen an jeder Ecke. Und an jeder zweiten nennt sie einen neuen Namen.

Deonte. Rekia. Porshe. Terrell. Starkesia. Tyshawn.

Wie viele Menschen sie in ihrem Leben durch Gewalttaten verloren hat? „Es müssten über 50 sein.“ Freundinnen, Cousins, Lehrerinnen, Bekannte.

„An manchen Tagen weiß ich einfach nicht mehr weiter“, sagt Williams, als sie an einer Ampel hält. Angst, schiebt sie wie im Reflex hinterher, habe sie aber keine. Williams zeigt links neben sich auf das kleine Fach in der Autotür. Dort liegt ihre Pistole. Dass Selbstbewaffnung keine langfristige Lösung ist, muss man ihr nicht erzählen. Kaum jemand weiß das besser als sie.

***

Wenn Chicago, mit 2,7 Millionen Ein­woh­ne­r*in­nen die drittgrößte Stadt der USA, am 4. April einen neuen Bürgermeister wählt, wird die Southside eine entscheidende Rolle spielen. Es sind allerdings nicht die Leute in Englewood, ihre Perspektiven, die im Mittelpunkt der Debatten stehen. Maßgebend ist auch nicht in erster Linie die Gewalt, die sich hier durch Armut, fehlende Angebote und oft rassistische Repressionen der Polizei ins Leben der Menschen drückt und dann zwischen ihnen explodiert. Gewalt wird von den politischen Verantwortlichen als Problem nur sehr selektiv wahrgenommen.

Das dominierende Thema dieser Wahl ist Crime, also Kriminalität.

Kriminalität und Gewalt haben natürlich etwas miteinander zu tun, aber es sind doch ganz verschiedene Denkgrößen, verschiedene Rahmen. Besonders deutlich wird das in Vierteln wie Englewood, wo das Label „crime hotspot“ eine Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt geradezu verhindert.

2022 wurden in Chicago 695 Menschen getötet. Im Jahr davor waren es 804. So hoch waren die Zahlen zuletzt in den 90er Jahren. Dass die Zahl der Straftaten in den vergangenen Jahren laut Polizei gestiegen ist, wird vor allem mit der Pandemie erklärt. 2022 wurden pro Tag durchschnittlich 59 Autodiebstähle gemeldet. Schießereien gehören zur Normalität. Laut aktueller Umfragen fühlen sich zwei Drittel der Ein­woh­ne­r*in­nen von Chicago unsicher.

Hat man diese Statistiken im Kopf, überrascht es kaum, dass das Thema den Wahlkampf bestimmt. Und doch ist dieses Jahr etwas Besonderes. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es einen aussichtsreichen Kandidaten auf das höchste Amt der Stadt, der anders über Gewalt und Kriminalität nachdenkt – der nicht noch mehr Polizei in Viertel wie Englewood schicken will, sondern im Gegenteil, so viele Be­am­t*in­nen wie möglich durch Sozialarbeiter*innen, The­ra­peu­t*in­nen und Leh­re­r*in­nen ersetzen will.

Linker Wandel oder Recht und Ordnung?

Brandon Johnson heißt der Mann, der einen linken Wandel für Chicago anstrebt. Der 47-jährige Afroamerikaner war Lehrer an einer öffentlichen Schule und Gewerkschaftsaktivist, bevor er Politiker wurde. Aktuell sitzt er im Parlament von Cook County, so heißt der Verwaltungsbezirk, in dem Chicago liegt. Johnson wohnt mit seiner Familie in Austin, einem überwiegend prekären Viertel im Westen der Stadt. Er weiß, wie sich Schüsse aus der Nähe anhören. Und er gibt zu, dass er manchmal Angst hat, wenn seine Kinder draußen spielen.

„Glaubt mir“, sagt Johnson bei jeder Gelegenheit, „mir liegt persönlich daran, dass wir das Problem lösen“.

Sein Kontrahent, der 69-jährige Paul Vallas, will keinen Bruch, sondern den Strafapparat weiter ausbauen. Vallas war in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen US-Metropolen als Chef der Schulbehörde im Einsatz und sorgte in Chicago, Philadelphia und New Orleans dafür, dass Teile des Bildungssystems privatisiert wurden. Statt großflächig in öffentliche Schulen zu investieren, ließ Vallas sogenannte Charter Schools eröffnen, die von privaten Trägern gemanagt werden. Darüber hinaus führte er rigidere Teststandards ein und kürzte beim Rentenfonds der Lehrer*innen.

Damit Chicago zurück zu „Gesetz und Ordnung“ kommt, will Vallas Tausende weitere Po­li­zis­t*in­nen einstellen. Mit diesem Versprechen konnte er im ersten Wahlgang Ende Februar vor allem die wohlhabenden, überwiegend weißen Wäh­le­r*in­nen im Zentrum und im Norden Chicagos überzeugen. Vallas landete – bei einer Wahlbeteiligung von nur 36 Prozent – vor Johnson auf Platz eins. Amtsinhaberin Lori Lightfoot, die in ihren vier Jahren im Rathaus weitestgehend orientierungslos agierte, stürzte ab.

In der Stichwahl kommt es nun zu einem Duell der politischen Visionen. Johnson und Vallas sind zwar beides Demokraten, könnten aber innerhalb der Partei kaum weiter voneinander entfernt stehen. Der eine kommt aus der Bewegung, der andere aus der Bürokratie. Der eine wird von progressiven Graswurzelgruppen unterstützt, der andere von der Polizeilobby. Er sei „mehr ein Republikaner als ein Demokrat“, hat Vallas mal über sich gesagt.

Es funktioniert

Von Bedeutung ist diese Wahl weit über die Grenzen von Chicago hinaus. Der Umgang mit Gewalt ist eine zentrale Frage der amerikanischen Politik. Republikaner und rechte Medien haben in den vergangenen Jahren – auch als Antwort auf die Schwarzen, linken Massenproteste im Sommer 2020 nach dem Mord an George Floyd durch einen weißen Polizisten – ihre Crime Panic intensiviert: Weil die Demokraten in den Städten nicht hart genug regierten, versinke das Land im Chaos, lautet ihre Erzählung.

Das Unheimliche an der Crime Panic ist, dass sie nichts löst und trotzdem funktioniert: Die meisten Demokraten lassen sich bereitwillig treiben, mindestens so oft treiben sie die Aufrüstung selbst voran. Es gilt: Auf keinen Fall soft on crime wirken. Präsident Joe Biden hat das Polizeibudget insgesamt um mehrere Milliarden erhöht. Seinem Plan nach sollen in den kommenden Jahren 100.000 neue Po­li­zis­t*in­nen eingestellt werden.

In Chicago, ausgerechnet dort, könnte nun ein Gegenexperiment beginnen. Johnson verspricht zwar keinen radikalen Abbau der Polizei, aber einen radikalen Wandel im Umgang mit der Gewalt. Sollte er gewinnen, hätte die linke Bewegung Macht demonstriert – und stünde sofort unter enormen Druck. Sie müsste gegen alle Widerstände beweisen, dass es anders geht.

***

Wenn Camiella Williams lacht, und ihre Zahnlücke zum Vorschein kommt, dann wirkt sie mit ihrem runden Gesicht für einen kurzen Moment wie ein Kind. Das passiert nicht oft an diesem Nachmittag.

Sie trägt einen blauen Kapuzenpullover, auf dem „GoodKidsMadCity“ steht, so heißt die Community-Organisation, bei der sie als Mentorin arbeitet. Der Name ist eine Anspielung auf Kendrick Lamars legendäres Album, natürlich ist es auch eine politische Botschaft: Nicht die Kids sind das Problem, sondern die Umstände, in die sie geworfen werden.

GoodKidsMadCity wurde 2018 in Englewood gegründet, mehrere hundert Jugendliche sind dort mittlerweile aktiv. Sie treffen sich, um über Konfliktlösungen zu sprechen, organisieren Basketballturniere und Proteste, unterstützen die Angehörigen von Gewaltopfern. Sie setzen sich dafür ein, dass in ihre Nachbarschaften investiert wird: neue Jobs, bessere Bildung, Zugang zu Gesundheitsversorgung, mehr Sportplätze. Sie wollen Gewalt präventiv entgegenwirken. Und sie fordern eine Abschaffung der Polizei.

Williams versucht, ihre Erfahrung an die jungen Ak­ti­vis­t*in­nen weiterzugeben. Sie sagt ihnen nicht: Gebt eure Waffen weg. Sie sagt: Fangt keinen Streit an. Sie fordert nicht: Verlasst eure Gangs. Sie weiß: So was passiert nicht einfach so. „Ich nehme sie ernst“, so Williams, „indem ich ihnen meine Verletzbarkeit zeige.“

Williams war zehn, als ihr Vater an Aids starb. Ihre Eltern waren da schon eine Weile geschieden. Dann erfuhr sie, dass ihre Mutter Brustkrebs hat. Zu viel für ein Kind, sagt sie, vor allem, wenn es keine professionelle Hilfe bekommt. Williams suchte Prügeleien, egal mit wem. In der High School fing sie an, mit Drogen zu dealen, schloss sich einer Gang an, deren Namen sie lieber nicht verraten möchte. Sie entwickelte eine „Vorliebe zur Gewalt“, wie sie im Rückblick sagt.

Die Bewegung ist stark

Im März 2006, Williams war 19 und zum ersten Mal schwanger, wurde ein 14-jähriges Mädchen in der Nachbarschaft durch einen Irrläufer eines Sturmgewehrs getötet. „Sie bringen jetzt auch Kinder um?“ Williams wusste, dass sie irgendwie rausmuss. Sie wandte sich an den Pastor der St.-Sabina-Kirche, deren angeschlossene Schule Williams besucht hatte. Zusammen installierten sie vor dem Gebäude eine Gedenkwand mit Fotos von getöteten Jugendlichen aus Chicago. Knapp 200 Bilder hängen dort heute in sechs Glasvitrinen. Für Williams war es der Einstieg in den Aktivismus.

Sie zog aus Englewood in einen Vorort südlich der Stadt, schrieb sich in ein Community-College ein. In den folgenden Jahren trat sie verschiedenen aktivistischen Gruppen bei. Black Lives Matter nahm seinen Lauf. Der Glaube an eine Reform der Polizei war damals noch da.

„Als ich als politische Organizerin angefangen habe, wurde mir beigebracht, dass man seine Wut besser nicht zeigt“, sagt Williams. „Die Kids von heute sind zum Glück radikaler.“

Und in kaum einer Stadt ist die Bewegung so stark wie in Chicago.

Neben GoodKidsMadCity gibt es in der Windy City, so Chicagos Spitzname, diverse Organisationen, die für den Abolitionismus kämpfen, also die Überwindung von Polizei und Gefängnissen. Da wäre zum Beispiel das Project NIA, von der Vordenkerin Mariame Kaba initiiert, das sich dafür einsetzt, Kinder und Jugendliche aus dem Strafsystem zu holen. Da wären Assata’s Daughters, benannt nach der Schwarzen Freiheitskämpferin Assata Shakur, die politische Bildung anbieten und Ak­ti­vis­t*in­nen trainieren. Auch Kollektive wie BYP100, Love & Protect oder das Rampant Magazine setzen sich dafür ein, den jetzigen Strafapparat obsolet zu machen.

Brandon Johnson, Bürgermeisterkandidat für Chicago :

„Die sichersten Städte der Welt haben eine Sache gemeinsam: Sie investieren in die Menschen“

Alder Planetarium

Chicago ist wieder einmal Wegbereiter. So war es ja schon im 19. Jahrhundert, als dort Zehntausende Ar­bei­te­r*in­nen für einen Acht-Stunden-Tag kämpften und damit den Tag der Arbeit aus der Taufe hoben. So war es in den 1960er Jahren, als Fred Hampton die revolutionäre Rainbow Coalition ins Leben rief. So war es auch 2012, als Zehntausende Leh­re­r*in­nen – organisiert durch die Gewerkschaft CTU – streikten und damit der amerikanischen Ar­bei­te­r*in­nen­be­we­gung Schwung verpassten. In Chicago sitzt der linke Verlag Haymarket Books, benannt nach dem blutigen Aufstand 1886. Hier findet auch die alljährliche Sozialismuskonferenz statt. Chicago ist die Stadt, in der eine wiedererstarkte Gewerkschaftsmacht auf einen Schwarzen, linken Feminismus trifft. Sollte Johnson die Wahl zum Bürgermeister gewinnen, hätte er das vor allem der Graswurzel-Organisierung der vergangenen Jahre zu verdanken.

Quelle         :            TAZ-online          >>>>>      weiterlesen

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Oben     —     From top left: Downtown Chicago, the Willis Tower, the bucetar, the Chicago „L“, Navy Pier, the Field Museum, and Millenium Park

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Eine Frage der Öffentlichkeit

Erstellt von DL-Redaktion am 20. März 2023

Strafen für rechtsextreme Polizei-Chats

Sehr viel Haus für wenig Kopf – wer fasst Denen am Schopf ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von      :     

Frankfurter Polizist:innen schickten sich in einer Messenger-Gruppe Hakenkreuze und machten sich über Minderheiten lustig. Es könnte sein, dass sie nicht strafrechtlich belangt werden, denn die Hürden dafür sind hoch. Wir erklären die Rechtslage.

Deutschland hat ein Problem mit Rechtsextremen bei der Polizei. Inzwischen vergeht kaum ein Monat, indem nicht rechtsextreme Umtriebe von Polizist:innen Schlagzeilen machen. Das hat oft auch eine digitale Komponente: Beamte geben Daten an Nazis herausschreiben selbst Drohbriefe an Linke oder schicken sich in Chatgruppen Hakenkreuze und rassistische oder antisemitische Sprüche.

Währen Innenminister:innen versprechen, mit aller Härte gegen Verfassungsfeinde in den Reihen der Polizei vorgehen zu wollen, bleibt die juristische Aufarbeitung bislang oft hinter den Erwartungen der Öffentlichkeit zurück. Wir haben zwei Expert:innen zur Rechtslage befragt: Sind rechtsextreme Chats von Polizist:innen wirklich nicht strafbar?

Hakenkreuze und Hitlerbilder

Anstoß für diese Recherche gab eine Entscheidung des Landgerichts Frankfurt zu einer rechtsextremen Chatgruppe von Polizist:innen. Mehrere Jahre lang hatten fünf Beamt:innen aus dem 1. Polizeirevier in Frankfurt und die Lebensgefährtin eines Beamten in der Messenger-Gruppe „Itiotentreff“ unter anderem Hakenkreuze, Hitlerbilder und Verharmlosungen des Holocausts ausgetauscht. Auch über Menschen mit Behinderung und People of Colour machten sie sich lustig und verleumdeten diese. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen zudem Gewaltdarstellungen und Besitz sowie Verbreitung pornographischer Schriften vor.

Die Gruppe flog nur durch Zufall auf: Diensthandys der Angestellten wurden untersucht, weil die Daten der Anwältin Seda Başay-Yıldız von einem Computer im 1. Polizeirevier abgerufen wurden, unmittelbar bevor sie einen rassistischen NSU2.0-Drohbrief erhielt.

Im Februar entschied nun das Landgericht, das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafverfahren gegen die Gruppe gar nicht erst zu eröffnen. Dabei besteht offenbar kein Zweifel daran, dass die Polizist:innen verbotene Kennzeichen geteilt und den Holocaust verharmlost haben.

Die Rechtslage ist kompliziert

Fälle wie dieser würden das „Vertrauen in die politische Integrität der Polizei stark beschädigen“, konstatiert im Gespräch mit netzpolitik.org Josephine Ballon von HateAid. Die Organisation unterstützt Opfer von Hasskriminalität. Immer wieder komme es vor, dass Betroffene von digitaler Gewalt die Taten nicht zur Anzeige bringen würden – aus Angst vor der Polizei. „Diese Menschen sorgen sich, dass sie bei der Polizei auf Täter:innen treffen.“ Auch die Angst davor, dass Polizist:innen Schindluder mit den Daten der Opfer treiben könnten, wie es in der Vergangenheit passierte, spiele eine Rolle.

Die Rechtslage ist in Hinblick auf Chatnachrichten durchaus kompliziert. Grundsätzlich können sowohl die Verwendung von Hakenkreuzen als auch die Verharmlosung des Holocausts in Deutschland strafbar sein. Relevante Paragrafen des Strafgesetzbuches sind hier § 86a zum Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen sowie § 130 zu Volksverhetzung. Ob die Straftatbestände bei rechtsextremen Chats tatsächlich zutreffen, hängt vom konkreten Fall ab.

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„Ist so kalt der Winter !“

Besonders komme es darauf, ob die fraglichen Äußerungen öffentlich oder in einer Versammlung getätigt wurden, erklärt der Düsseldorfer Rechtsanwalt Eren Basar. „Die Abgrenzung, was als Öffentlichkeit und was als Versammlung gilt, kann im Einzelfall sehr filigran sein.“ So habe der Bundesgerichtshof in der Vergangenheit zum Beispiel entschieden, dass das Posten eines Hakenkreuzes im Freunde-Feed auf Facebook mit mehreren hundert Kontakten durchaus als öffentliche Verbreitung gelte. Ein Mann, der ein Hakenkreuz in seinem Hausflur anbrachte, kam jedoch straffrei davon.

Wann ist eine Chatgruppe öffentlich?

„Das Strafrecht ist grundsätzlich sehr zurückhaltend, was Äußerungen und Haltungen angeht“, erklärt Basar, der sich als Mitglied des Deutschen Anwaltvereins regelmäßig mit den Themen Polizei, Sicherheit und öffentliche Ordnung auseinandersetzt. Auch wenn es manchmal schwer auszuhalten sei: Das sei ein wichtiger Grundsatz der liberalen Demokratie, „weil wir sonst Gefahr laufen, unliebsame Meinungen unter Strafe zu stellen.“

Im Fall des „Itiontreffs“ gehe das Landgericht Frankfurt offenbar von einer eindeutig nicht-öffentlichen Verbreitung aus und sehe den Chat auch nicht als Versammlung an, so Basar. Tatsächlich schreibt die FAZ, dass das Gericht in seiner nicht veröffentlichten Entscheidung darauf abstelle, dass die Chatgruppe exklusiv und jederzeit kleiner als zehn Personen gewesen sei. Offenbar haben sich die Polizisten in der Gruppe sogar darüber ausgetauscht, dass ihr Verhalten strafbar wäre, wenn es einer größeren Öffentlichkeit zugänglich wäre. Von einer öffentlichen Verbreitung könne deshalb nicht die Rede sein, so das Landgericht. Teile der Äußerungen seien zudem satirisch und von der Kunstfreiheit gedeckt.

Auch Josephine Ballon von HateAid räumt ein, dass die Voraussetzungen für eine Verurteilung wegen Messengernachrichten hoch seien. Im Fall der Frankfurter Nazi-Chats sieht sie die Sache jedoch nicht ganz so eindeutig wie das Landgericht. Die Juristin verweist auf mehrere Gerichtsentscheidungen, die Menschen wegen Volksverhetzung in kleinen und nicht-öffentlichen Chatgruppen verurteilten. Der erste Absatz des Volksverhetzungsparagrafen setze nämlich weder Öffentlichkeit noch Verbreitung voraus, sondern stelle auf die Störung des öffentlichen Friedens ab.

Wichtiger als die Frage der Öffentlichkeit sei hier die Frage der Diskretion. Also: Ob sich die Kommunikationsteilnehmer:innen darauf verlassen können, dass die Inhalte nicht den Kreis der Chat-Gruppe verlassen und dann den öffentlichen Frieden beeinträchtigen. Ein Familienchat sei zum Beispiel vertraulicher als einer mit Kolleg:innen. So wurde kürzlich in Fulda ein junger Mann wegen rassistischer Bilder in einem Chat mit zehn Freunden verurteilt und 2020 ein Würzburger Faschingsfunktionär, der volksverhetzende Inhalte in einer 20-köpfingen Chat-Gruppe mit Vereinskolleg:innen geteilt hatte.

Gleiche Maßstäbe für alle

Klar sei jedenfalls, dass Polizeibeamte sich grundsätzlich nicht mit vermeintlicher Unwissenheit herausreden könnten. „Sie bringen eine Vorbildung mit und sind auf die Verfassung vereidigt“, so Ballon. Dass die Chats der Frankfurter Polizist:innen von der Kunstfreiheit gedeckt sein könnten, hält Ballon für unwahrscheinlich. „Hier geht es ja offenbar um eine Gruppe, die dem regelmäßigen Austausch rechtsextremer Inhalte diente.“

Wie es in dem Fall weitergeht, muss nun das Oberlandesgericht entschieden. Die Staatsanwaltschaft hat Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts eingelegt, das Verfahren nicht zu eröffnen. „Für die Öffentlichkeit wäre das kein gutes Signal, wenn diese Polizist:innen straffrei bleiben“, findet Josephine Ballon, „auch wenn die öffentliche Signalwirkung natürlich kein Bemessungsmaßstab für Strafen ist.“

Müssten dann vielleicht für die Chatgruppen von Polizist:innen andere Maßstäbe gelten? Das halten weder Ballon noch Basar für eine gute Idee. Einer der Grundsätze des Strafrechts sei es, dass alle Menschen gleich behandelt werden. „Polizist:innen sind auch Bürger:innen“, sagt Ballon. „Daran sollten wir nicht rütteln“, sagt Basar.

Rechtsextreme aus dem Dienst entfernen

Handlungsbedarf sehen die beiden trotzdem: In der konsequenten Anwendung des Disziplinarrechts. Denn unabhängig von Strafverfahren müssten rechtsextreme Beamte dienstrechtliche Konsequenzen zu spüren bekommen. „Im Endeffekt geht es doch darum, dass wir keine Leute als Beamte haben wollen, die eine rechtsextreme Haltung teilen oder mit deren Kennzeichen spielen“, so Basar. „Schon gar nicht als Beamte, die über die rechtliche Befugnis zur Ausübung physischer Gewalt verfügen.“ Wer Volksverhetzung verharmlose, müsse aus dem Dienst entfernt werden.

Basar verweist hier auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Es hatte im Fall eines Soldaten entschieden, dass dieser aufgrund rechtsextremer WhatsApp-Nachrichten aus dem Dienst entfernt werden könne. Dessen Verteidigung, es habe sich lediglich um geschmacklose Witze gehandelt, hatte das Gericht nicht gelten lassen.

Im Fall der Frankfurter Polizist:innen liegt das Disziplinarverfahren derzeit noch auf Eis. Aus juristischen Gründen muss erst der Ausgang eines möglichen Strafverfahrens abgewartet werden, die Entscheidung des Landgerichts ist wegen der Beschwerde der Staatsanwaltschaft noch nicht rechtskräftig.

Unterdessen bringt Josephine Ballon einen weitere Verbesserungsmöglichkeit ins Spiel: Die Polizei müsse deutlich stärker für Aufklärung unter Polizist:innen sorgen. Regelmäßig veranstalte HateAid Workshops und Vorträge bei der Polizei. Hier nehme sie insgesamt ein gesteigertes Problembewusstsein für Rechtsextremismus in den eigenen Reihen wahr. Von einer ganzheitlichen Antidiskriminierungsbildung und vor allem Sensibilisierung für Extremismus im digitalen Raum sei die Polizei aber noch weit entfernt. 

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquelle :

Oben     —    Frankfurt Police HQ. Main entrance at Adickes Avenue.

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Blast from the Past

Erstellt von DL-Redaktion am 7. März 2023

Die verlorene Ehre von Frau Cäsar oder Warum die Londoner Polizei in Schwierigkeiten ist

Die königliche Familie Juni 2013.JPG

Kolumne von Karina Urbach

Cäsars Frau muss über jeden Verdacht erhaben sein!“ Mit diesen Worten soll Julius Cäsar erklärt haben, warum er die Scheidung von seiner Frau Pompeia eingereicht hatte. Sie war in einen Gesellschaftsskandal geraten, der seine Karriere und Reputation gefährdete.

Der Satz kann auch heute auf Ehepartner und Kinder von Politikern angewendet werden, die sich korrupt oder amoralisch verhalten. Präsident Bidens missratener Sohn Hunter wäre hierfür ein Paradebeispiel. Er ist sowohl in dubiose Geschäfte wie auch in ungute Sexgeschichten verwickelt.

Eine etwas andere Auslegung des Satzes erzählt gerade die BBC-Serie „The Gold. Sie zitiert das Cäsar-Dilemma und fragt: Wenn die Polizei nicht mehr über jeden Verdacht erhaben ist, welchen Schaden nimmt dann der Rest unserer Gesellschaft? Die Antwort ist alles andere als beruhigend.

„The Gold“ beruht auf einem wahren Kriminalfall von 1983. In der Nähe des Londoner Flughafens Heath­row erbeuteten Kriminelle Goldbarren im heutigen Wert von 100 Millionen Euro. Nicht der Überfall steht im Mittelpunkt der Serie, sondern die Frage, wie dieses Gold anschließend gewaschen wurde und wer daran verdiente. Neben Kriminellen aus der Unterschicht waren an der Geldwäsche auch Mitglieder der Oberschicht beteiligt: Banker, Makler und ein Rechtsanwalt. Zwei Welten trafen aufeinander und verstanden sich gut. Bis die Situation eskalierte.

„The Gold“ ist eine fulminant erzählte Geschichte, die nicht nur die Auswüchse der britischen Klassengesellschaft in den Blick nimmt, sondern auch zeigt, wie viele korrupte Polizisten es damals gab. Das ist insofern aktuell, da die englische Polizei gerade mal wieder ein Imageproblem hat. Betroffen ist die Metropolitan Police (Met), die Londoner Polizeibehörde. Bisher spielten bei Polizeiskandalen immer Schmiergelder die Hauptrolle. Aber dieses Mal geht es noch ein paar Stufen tiefer.

Die Met wird beschuldigt, jahrelang eine große Gruppe von Polizisten gedeckt zu haben, die Sexualstraftaten begingen. Ins Rollen kam die Geschichte während des Corona-Lockdowns 2021: Der Met-Polizist Wayne Couzens gehörte einem Elite-Team an, das für den Schutz der ausländischen Botschaften in London zuständig ist und deswegen Waffen tragen darf (nur ein Teil der englischen Polizei ist bewaffnet). Man würde annehmen, dass solche Jobs an mental stabile Charaktere vergeben werden. Aber Couzens war schon 2015 als Exhibitionist aufgefallen. Seine Kollegen hatten die Hinweise gegen ihn jedoch nicht weiterverfolgt. Nachdem er dafür 2020 wieder nicht verhaftet worden war, ging er einen Schritt weiter.

Im März 2021 vergewaltigte und ermordete er die 33-jährige Sarah Everard auf ihrem Nachhauseweg. Er hatte vorgegeben, sie wegen eines Verstoßes gegen die Coronaregeln zu kontrollieren.

Kurz darauf wurde bekannt, dass ein Kollege von Couzens, der Met-Polizist David Carrick, ein Serienvergewaltiger war. Er hatte über 19 Jahre lang Frauen missbraucht und bekannte sich diesen Januar schuldig, 20 Vergewaltigungen begangen zu haben.

Sein Fall machte auch publik, dass mittlerweile 1.000 Anzeigen wegen sexueller und häuslicher Gewalt gegen 800 Met-Beamte untersucht werden müssen. Mehrere Polizistinnen sagten dabei aus, dass Sexismus an der Tagesordnung gewesen sei. Es habe in der Met eine „Kantinenkultur“ geherrscht, in der männliche Kollegen einander deckten.

Es half dem Image der Londoner Polizei sicher auch nicht, dass zeitgleich „The Gold“ anlief. Darin werden wenige Polizisten den hohen moralischen Ansprüchen Cäsars gerecht.

Quelle       :         TAZ-online             >>>>>         weiterlesen

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Oben     —    Die königliche Familie beobachtet das Vorbeifliegen, Trooping the Colour Juni 2013

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Drogenmafia + Paramilitärs

Erstellt von DL-Redaktion am 17. Februar 2023

Vor Ort bei der Drogenmafia und den Paramilitärs

Quelle      :        INFOsperber CH.

Josef Estermann /   

Afro-kolumbianische Jugendliche kämpfen um Anerkennung, Integration und Arbeit – sie wollen Armut, Gewalt und Drogen entkommen.

Red. Josef Estermann befindet sich auf einer vierwöchigen Reise durch die Andenländer Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien. Er trifft alte Bekannte, Orte und eine Gegenwart, die von Widersprüchen und ungelösten Konflikten geprägt ist. Estermann lebte und arbeitete während 17 Jahren in Peru und Bolivien.

72 Prozent Arbeitslosigkeit

Die kolumbianische Stadt Tumaco an der Pazifikküste in unmittelbarer Nähe zur ecuadorianischen Grenze galt lange Zeit als ein Hotspot der Guerilla-Organisation FARC. Nach dem Friedensabkommen zwischen der Regierung und der FARC vor über sechs Jahren sind deren Mitglieder zwar weniger präsent, dafür machen sich umso mehr der Drogenhandel und paramilitärische Einheiten bemerkbar. Für Jugendliche bedeutet diese Situation eine schier unlösbare Herausforderung, da die Arbeitslosigkeit insgesamt bei 72 Prozent liegt, bei der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen sogar noch höher.

Tumaco zählt rund 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner. 95 Prozent davon sind Afro-Kolumbianerinnen und Afro-Kolumbianer, also Nachfahren von Sklavinnen und Sklaven , die aus Afrika verschleppt wurden. Eine kleine Minderheit bilden vertriebene indigene Menschen. Weisse oder Mischlinge sieht man praktisch keine. In ganz Kolumbien liegt der Anteil der afro-kolumbianischen Bevölkerung gemäss der Volkszählung von 2019 bei nur neun Prozent.  Sie gehört neben der indigenen Bevölkerung zu den am meisten diskriminierten Gruppen in Kolumbien.

Das Armenviertel «Nueva Esperanza»

Auf dem Landweg ist Tumaco nach 15 Stunden Busfahrt von Bogotá über Pasto erreichbar, oder dann wie jetzt – wo die Strasse wegen eines Erdrutsches gesperrt ist – mit dem Flugzeug, was sich aber kaum jemand leisten kann. Die Zentralregierung in Bogotá hat die Gegend an der Grenze zu Ecuador immer schon vernachlässigt, sodass sich in diesem Gebiet die verschiedenen Guerillagruppen, aber auch Schmuggler und Drogenhändler relativ ungestört bewegen konnten. Daran hat auch der Friedensvertrag wenig geändert.

Das Armenviertel «Nueva Esperanza» (Neue Hoffnung) beherbergt rund 10‘000 Menschen, die zum Teil wegen der Gewalt vom Land in die Stadt flohen, zum Teil aber auch dorthin zogen, weil die Stadt neue Möglichkeiten für eine (meist illegale) Tätigkeit eröffnet. Weit über 60 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner sind jünger als 25 Jahre alt. Die Lebensbedingungen sind miserabel. Wie auch in den anderen Teilen der Stadt sind die Häuser in «Nueva Esperanza» auf Stelzen über dem Meeresspiegel gebaut. Das Wasser bahnt sich wie eine riesige Kloake einen Weg durch die «Gassen». Über abenteuerliche Stege mit unregelmässigen Holzbrettern gelangt man zu den Häusern.

Ein Abwassersystem gibt es nicht. Alles wird direkt ins Meereswasser eingeleitet. Trinkwasser gibt es nur alle vierzehn Tage über ein behelfsmässig angelegtes Leitungssystem, um grosse Wassertanks zu füllen. Die Stadt stellt nur die Stromzufuhr und eine Kehrrichtabfuhr sicher; sonst ist die öffentliche Hand nicht präsent. Viele Menschen leiden an endemischen Krankheiten und Parasiten.

Von der FARC geschützt

Entgegen den üblichen Nachrichten sind die Mitglieder der FARC aufgrund des Friedensvertrags nicht einfach alle entwaffnet und in die Zivilgesellschaft zurückgeführt worden. Viele sind ob der nur halbherzigen Umsetzung der im Friedensprozess versprochenen Reformen enttäuscht wieder in den Dschungel zurückgekehrt und haben wieder zu den Waffen gegriffen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass «Nueva Esperanza» von den FARC beherrscht wird, auch wenn man keine maskierten oder uniformierten Guerillakämpferinnen und Guerillakämpfer sieht. Sie sind unsichtbar für jemanden, der oder die von aussen kommt. Aber es ist klar, dass sie unseren «Besuch» von allem Anfang an registriert haben.

Tumaco from Air.jpg

Wir konnten nur deshalb nach «Nueva Esperanza» gelangen, weil eine europäische Mitarbeiterin – nennen wir sie Klara – seit zehn Jahren im Stadtviertel wohnt und mit den Jugendlichen alternative Lebensprojekte aufzubauen versucht. Sie kennt die Menschen und weiss auch genau, wer zur Guerilla gehört. Polizei und Militär kommen normalerweise nicht ins Viertel. Sollten sie es trotzdem tun, gilt es, zu ihnen die nötige Distanz zu wahren, um nicht in den Verdacht einer Zusammenarbeit zu kommen und somit als «Verräter» gebrandmarkt zu werden.

Die FARC sorgt dafür, dass Ruhe und Ordnung im Viertel herrschen. Klara versichert uns, dass es praktisch keine Einbrüche und Diebstähle gibt. Unlängst sei ein Dieb auf frischer Tat ertappt und gelyncht worden. Wie komisch es auch tönt, aber Klara – und auch wir als Besucher – fühlen uns nicht trotz, sondern gerade wegen der Präsenz der FARC sicher.

Allerdings ist es ein offenes Geheimnis, dass die FARC im Drogenhandel aktiv ist. Die Gegend um Tumaco hat sich in letzter Zeit zu einem eigentlichen Koka-Anbaugebiet entwickelt. Zum Teil werden die Kokablätter vor Ort zu so genannter Pasta Básica (Kokapaste) verarbeitet, zum Teil gibt es sogar geheime Kokain-Labore im praktisch undurchdringlichen Dschungel. Leider ist der Koka-Anbau für die Bauern immer noch viel rentabler als der Anbau von Früchten, Soja oder Reis.

Drogenmafia und Paramilitärs

Die Drogenhändler gelten neben den paramilitärischen Gruppierungen – die in Kolumbien für die meisten Todesopfer verantwortlich sind – als jene Kreise, die skrupellos zur Gewalt schreiten und ihr Terrorregime mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten trachten. Zu den Methoden gehören Erpressung – praktisch alle Unternehmen in Tumaco bezahlen Schutzgeld an die «Narcos» – und Lynchjustiz, Bombenattentate und Entführungen. In letzter Zeit war es zwar relativ ruhig, aber es soll eine grosse Abrechnung zwischen Narcos und «Paras» bevorstehen. Die Paras näherten sich vom Land der Stadt.

Das Militär hat sich in Tumaco regelrecht eingebunkert, und auch die Polizei tritt nur selten in Erscheinung. Das eigentliche Verkehrsmittel sind die vielen Motorräder mit bis zu vier Passagieren, die auch als «Taxis» fungieren. Verkehrsregeln werden kaum beachtet. Nur unser Taxifahrer hält bei Rot, weil wir Gringos sind. Allerdings sollte man es sich mit der Polizei auch nicht verderben, gilt sie doch als die korrupteste Institution im Land.

Die Jugendlichen von «Nueva Esperanza» befinden sich zwischen allen Fronten: auf der einen Seite die Guerilla. Neben der FARC ist auch die ELN in der Gegend aktiv. Auf der anderen Seite die Paramilitärs und die Drogenhändler. Dazu kommen noch das Militär und die Polizei, mit denen man sich irgendwie arrangieren muss. Aufgrund der Perspektivenlosigkeit optieren viele junge Menschen, vor allem Männer, für die Guerilla oder den Drogenhandel, oft auch für beide.

Ein Zentrum für afro-kolumbianische Jugendliche

Angesichts dieser schwierigen Situation hat Klara vor Jahren mit der Hilfe der katholischen Kirche und Missionaren eines religiösen Ordens in «Nueva Esperanza» ein Zentrum aufgebaut – nennen wir es «Encuentro Afro» –, in dem junge Menschen Begleitung und Hilfe für ein Leben ohne Gewalt, Drogen und Waffen erhalten. Das Zentrum wurde mehrfach ausgezeichnet und leistet wertvolle Hilfe, damit die Jugendlichen aus dem Teufelskreis von Armut, Gewalt und Arbeitslosigkeit herausfinden. Alle sind im Zentrum willkommen, mit einer Bedingung: keine Waffen oder Drogen.

Gearbeitet wird mit kreativen Mitteln, um die gewaltlose Kommunikation zu fördern, das Selbstwertgefühl zu stärken in einer Gesellschaft, welche die Schwarzen generell diskriminiert und an den Rand der Legalität drängt, und um solidarische Selbsthilfe aufzubauen. Viele Jugendliche konnten so ihre Schulbildung abschliessen, einige schafften es sogar an die Universität. Aber dies alles ist noch keine Garantie dafür, dem erwähnten Teufelskreis zu entrinnen.

So zum Beispiel Ruben (Name geändert), der einen Master in Ingenieurwissenschaften erlangte, aber seit über einem Jahr händeringend nach einem Job Ausschau hält. Mit Gelegenheitsjobs hält er sich über Wasser und hilft im Zentrum «Encuentro Afro» mit. Trotzdem bleibt er der Misere und den Versprechungen der Guerilla, der Drogenmafia und der Paras weiter ausgesetzt.

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Oben      —   Fotos Juan Pablo Bello SIG

   


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Politische Werbung:

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Februar 2023

Post und Parteien missachten Stopp-Kleber

Selbst dort wo Bullen sonst friedlich weiden – sehen wir schon Ballons aus China

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Pascal Sigg / 

Vor Wahlen fluten Flyer von Parteien Briefkästen, die Werbung ablehnen. Nun fordert der Konsumentenschutz gesetzliche Klarheit.

Ein an vielen Briefkästen angebrachter Kleber sagt deutlich: «Stopp! Bitte keine Werbung!» Doch auch derart markierte Briefkästen wurden in den vergangenen Tagen und Wochen mit politischer Werbung eingedeckt.

So zum Beispiel in der Stadt Zürich. Weil Kantons- und Regierungsratswahlen anstehen, machen viele Parteien mittels Flyern auf die eigenen KandidatInnen aufmerksam – und werben auch da, wo Werbung ausdrücklich unerwünscht ist.

«Wahlflyer gelten für uns nicht als Werbung»

«Ja, die Flyer gehen auch in Briefkästen mit dem Kleber», schreibt zum Beispiel die Stadtzürcher FDP auf Infosperber-Anfrage. Auch SP und Alternative Liste (AL) bestätigen, dass sie auch da flyern, wo das eigentlich niemand will. Die SVP antwortete nicht auf die Infosperber-Anfrage. Und vonseiten der Grünen hiess es bloss, man verstehe nicht, was die Fragen sollen.

Die Parteien beteuern unisono, dass sie nichts Verbotenes tun. «Wahlflyer gelten für uns nicht als Werbung», schreibt die AL. Die FDP schreibt: «Viele Leute wissen nicht, dass Wahlwerbung nicht als Werbung im eigentlichen Sinn gilt.»

Die Parteien berufen sich dabei allerdings nicht etwa auf ein Gesetz. Die AL schreibt zum Beispiel: «Wir halten uns damit an die Regeln der Schweizerischen Post.» Die «Post» betrachtet Versände politischer Parteien nämlich nicht als Werbung, sondern als sogenannte «offizielle Sendungen». Auch mit «Sendungen von überparteilichen Komitees, die in einem konkreten Zusammenhang mit bevorstehenden Wahlen und Abstimmungen stehen», darf die Post nach eigenem Befinden auch mit Leuten Geld verdienen, welche bei diesem Geschäft ausdrücklich nicht mitmachen wollen.

Die Rechtfertigung dafür lautet: Bei diesen Sendungen handle es sich gar nicht um Werbung im eigentlichen Sinn. So schreibt zum Beispiel die FDP: «Wahlwerbung dient als Information der Bevölkerung.» Und von der SP heisst es: «Eine direkte Demokratie lebt schlussendlich von möglichst gut informierten Bürgerinnen und Bürgern.»

Post erfindet ein Kundenbedürfnis

Dies sehen allerdings nicht alle Bürgerinnen und Bürger so. Ein Zuhörer schrieb der Sendung «SRF Espresso» im Herbst 2019: «Ob für ein Produkt oder eine Wählerstimme geworben wird: Es ist auch Werbung für mich. Was da im Briefkasten steckt, ist in der Regel nichts anderes, als das, was auf den Plakaten steht, die mir überall begegnen. Da muss ich nicht noch extra etwas im Briefkasten haben.»

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Auf Infosperber-Anfrage findet die Post gleichwohl, sie erfülle ein Bedürfnis der briefkastenkleberanbringenden Schweizer Bevölkerung: Die Praxis entspreche «dem Bedürfnis der werbekritischen Kundinnen und Kunden, zwar keine unadressierten Werbesendungen zu erhalten, dabei aber nicht generell auf unadressierte Sendungen verzichten zu müssen, die für sie wichtig oder interessant sind.»

Lauterkeitskommission will nicht für eigene Richtlinien zuständig sein

Zudem verweist die Post auf die Richtlinien der Lauterkeitskommission (C.4, Ziff.4). Doch auf Infosperber-Anfrage nach den gesetzlichen Grundlagen der genannten Praxis will die Lauterkeitskommission nichts mit diesem Teil der eigenen Richtlinien zu tun haben. Ihre Tätigkeit beschränke sich nämlich auf die kommerzielle Kommunikation. «Auch das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), welches die zentrale gesetzliche Grundlage betreffend unlauterem Verhalten bildet, findet nur Anwendung auf Sachverhalte, welche einen Einfluss auf den Wirtschaftswettbewerb haben», schreibt Geschäftsführer Marc Schwenninger.

Datenschützer: Überwiegendes öffentliches Interesse «denkbar»

Neben dem UWG könnte im vorliegenden Fall auch das Datenschutzgesetz zur Anwendung kommen. Aus dem Büro des Eidgenössichen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) heisst es auf Infosperber-Anfrage: «Wer einen «Bitte keine Werbung!»-Kleber auf dem Briefkasten anbringt, äussert dadurch seinen ausdrücklichen Willen, keine physische Werbung im Briefkasten erhalten zu wollen.» Man gehe davon aus, dass dies auch politische Werbung beinhalte. Eine Bearbeitung von Personendaten, wie einer Wohnadresse, gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen sei zulässig. Allerdings nur sofern ein Rechtfertigungsgrund wie überwiegendes öffentliches Interesse geltend gemacht werden könne. Im Kanton Bern ist dies beispielsweise gesetzlich geregelt (Art. 48 des Gesetzes über die politischen Rechte des Kantons Bern). Ohne gesetzliche Grundlage sei es in einer Interessenabwägung im vorliegenden Fall «denkbar, dass das öffentliche Interesse an einer politischen Meinungsbildung durch Wahlwerbung das Interesse der Einzelperson, keine Wahlwerbung zu erhalten, überwiegt.»

Konsumentenschutz fordert gesetzliche Regelung

In Abwesenheit einer klaren gesetzlichen Grundlage für das eigene Ignorieren der Stopp-Kleber verweist die Post – welche mit jeder dieser Sendungen Geld verdient – auch noch auf eine «Absprache mit dem Konsumentenschutz». Die Stiftung für Konsumentenschutz, welche entsprechende Kleber verkauft, bestätigt auf Infosperber-Anfrage ein Abkommen.

Doch sie schreibt auch: «Leider fehlt bislang eine gesetzliche Regelung. Grundsätzlich fordert der Konsumentenschutz, dass eine Präzisierung betreffend adressierten und unadressierten Postsendungen in das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) aufgenommen wird, was das Parlament bei der letzten Revision nicht für nötig befunden hat. Eine solche Regelung müsste sich an einem wirksamen Schutz der Konsumentinnen und Konsumenten und den heutigen Begebenheiten orientieren.» Bei der letzten Revision des UWG habe das Parlament absichtlich auf eine Lösung verzichtet. Obschon der Konsumentenschutz ausdrücklich eine gesetzliche Regelung für «unadressierte Werbung» gefordert hatte.

Im März 2020 reichte GLP-Nationalrätin Katja Christ zwar eine Motion für eine «Opt-In-Lösung» für unadressierte Werbesendungen ein. Sie forderte, dass Werbung künftig nur erhalten würde, wer dies explizit möchte. Doch der Bundesrat war dagegen und auch der Ständerat lehnte den Vorstoss ab. Zudem hätte auch diese Lösung Sendungen politischer Parteien ausdrücklich ausgenommen.

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Oben      —     Miriam Meyer vom Aufstand der Letzten Generation wird nach Ballon-Aktion am Flughafen BER festgenommen, Berlin-Schönefeld, 25.02.22 The rebellion of the last generations is blocking ports and airports to force the drafting of a law against food waste and an agricultural turnaround so that food security is maintained despite the climate crisis. Berlin-Schoenefeld 02/25/22

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Nancy Faesers Zukunft

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Februar 2023

Die Frau aus Schwalbach, die alles will

Von Konrad Litschko

Bundesinnen­ministerin Nancy Faeser galt als Hoffnungs­trägerin der Ampel. Nun dürfte sie SPD-Spitzenkandidatin in Hessen werden. Kann das gutgehen?

s war im November vergangenen Jahres, als sich Nancy Faeser offensichtlich angekommen fühlte. „Lieber Holger“, begrüßte sie Holger Münch, den Präsidenten des Bundeskriminalamts, als sie in Wiesbaden hinter dem Pult seiner Herbsttagung stand. Forschen Schrittes hatte sie die große Bühne betreten. Nun gab sie Münch mit auf den Weg, er solle den BKA-Beamten ihren herzlichen Dank für deren Arbeit ausrichten. Und Münch dankte der „lieben Nancy“ zurück: Das werde er ausrichten. Betonte Vertrautheit, auf offener Bühne.

Das war das eine Signal. Aber es gab noch ein zweites. Denn Faeser hätte auf dem BKA-Podium über den Krieg in der Ukraine reden können, über Cybercrime oder die „Heißer Herbst“-Proteste. Sie wählte: organisierte Kriminalität. „Wir müssen diese Strukturen dauerhaft zerschlagen“, rief die Bundesinnenministerin in den Saal. Ein Punkt sei ihr dabei „besonders wichtig“: die „Clankriminalität“. Diese sei „absolut inakzeptabel“, niemand stehe über dem Recht. „Und das müssen diese Leute lernen – wenn es sein muss, auf die harte Tour.“

Es klang nach neuen Tönen von Nancy Faeser. Nach klarer Kante, Law and Order. Ganz anders als der Sound, mit dem Faeser zu Amtsbeginn aufwartete. Und er war wohl bewusst gewählt, gerade hier beim BKA in Wiesbaden. Denn womöglich richtete sich auch da schon Fae­sers Blick nach Hessen.

Denn am 8. Oktober wird in dem Bundesland gewählt. Und kaum noch einer zweifelt daran, dass Faeser, die gebürtige Hessin und unangefochtene SPD-Landeschefin, jetzt am Freitag auf dem SPD-„Hessengipfel“ ihre Spitzenkandidatur erklärt. Die 52-Jährige selbst weicht seit Wochen dieser Frage aus. In ihrem Umfeld aber gibt es zu Fae­sers Kandidatur keinen ernsthaften Widerspruch mehr. Ein von der Partei aufgebauter Alternativkandidat existiert nicht. Bereits im November soll die hessische SPD-Führung als eines der großen Wahlkampfthemen vereinbart haben: die innere Sicherheit.

Hessen im Herbst

Am 8. Oktober wählt Hessen einen neuen Landtag. Für die CDU tritt Amtsinhaber Boris Rhein (CDU) an, der im Mai 2022 das Amt des Ministerpräsidenten von Volker Bouffier (CDU) übernahm. Rhein regiert derzeit weiter mit den Grünen um Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir. Der wiederum gilt als ausgemachter Spitzenkandidat der Grünen bei der Hessenwahl.

Die längste Zeit CDU

Seit 24 Jahren regiert die CDU Hessen, seit zehn Jahren zusammen mit den Grünen. In Umfragen stand die CDU zuletzt mit 27 Prozent fünf Prozentpunkte vor SPD und Grünen, die gleichauf lagen. Die AfD käme demnach auf 12 Prozent, die FDP kreist um die 5-Prozent-Hürde. Die Linke, einst von der heutigen Parteichefin Janine Wissler angeführt, schafft es wohl nicht wieder in den Landtag. (taz)

Faeser ist zudem weiter in Hessen verwurzelt. An Wochenenden pendelt sie nach Schwalbach bei Frankfurt am Main, wo sie seit der Geburt lebt, nur vom Jura-Studium in Frankfurt unterbrochen. Mann und Sohn wohnen in der 15.000-Einwohner-Stadt im Vordertaunus, unmittelbar an der Frankfurter Stadtgrenze. Faeser ist bekennender Eintracht-Fan. Und wie hatte sie im Mai 2022 auf dem hessischen SPD-Parteitag gesagt, als sie als Landeschefin wiedergewählt wurde? „Mein Herz ist in Hessen.“ Und sie werde dafür kämpfen, dass das Land „wieder rot“ werde.

Keine makellose Bilanz als Innenministerin

Aber die Sache wirft mehrere Probleme auf. Denn offenbar ist Faeser gewillt, auch als Wahlkämpferin weiter Bundesinnenministerin zu bleiben – und soll dafür auch den Segen des Kanzlers haben. Aber geht das, mit einem Ministerium, das ständig in Alarmbereitschaft ist? Ein Sieg in Hessen, nach 24 Jahren CDU-Regierung, wäre zweifelsohne ein Coup für die SPD. Aber der ist keineswegs ausgemacht. In letzten Umfragen lag die CDU vorne, auch die Grünen setzen auf Sieg. Und Faesers Bilanz als Innenministerin, mit der sie in den Wahlkampf ginge, ist nicht makellos. Verliert sie am Ende, könnte sie wieder dort landen, wo sie zuvor war: in der hessischen Opposition.

Es war eine echte Überraschung, als Scholz damals Faeser für sein Ampelkabinett vorstellte – als erste Innenministerin der Bundesrepublik. 18 Jahre lang hatte Faeser in Hessen SPD-Innenpolitik gemacht, sich als Aufklärerin des NSU-Terrors und Polizeikennerin profiliert. Am Ende war sie Fraktions- und Landeschefin. Nun sollte sie in Berlin einiges anders machen als ihr CSU-Vorgänger Horst Seehofer.

Und das klappte, zunächst. Fae­ser erklärte den Kampf gegen den Rechtsextremismus als „ihr besonderes Anliegen“. Sie versprach im Bundestag Serpil Temiz Unvar, die beim Hanau-Anschlag ihren Sohn verlor, persönlich Aufklärung zu dem Attentat. Am Jahrestag reiste sie nach Hanau, hielt die Hand einer Angehörigen. Später verkündete Faeser einen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus, versprach auch in der Migrationspolitik „einen neuen Geist“. Deutschland sei „ein Einwanderungsland“, nun müsse es auch „ein besseres Integrationsland“ werden.

Und Faeser war und ist sehr präsent. Sie veröffentlichte Aktionspläne und Strategiepapiere. Sie besuchte Bundespolizist:innen, Feuerwehrleute, Ordnungsämter, ukrainische Geflüchtete, Gewerkschafter, den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz. Sie reiste nach Israel, Brüssel oder zur WM nach Katar. Sie fuhr nach Mecklenburg-Vorpommern, als dort eine Geflüchtetenunterkunft niederbrannte, oder erst dieser Tage ins schleswig-holsteinische Brokstedt, wo ein Mann zwei junge Menschen in einem Zug erstochen und weitere verletzt hatte.

Bei alldem vergaß Faeser nie, sich bei den Einsatzkräften zu bedanken. Und tatsächlich hat sie einen guten Draht zur Polizei, auch jenseits von BKA-Chef Münch. Schon in Hessen besuchte sie Wachen, forderte mehr Personal und bessere Ausrüstung. Als Innenministerin schuf sie nun 2.000 neue Stellen für die Bundespolizei, versprach mehr Befugnisse und höhere Pensionen.

Polizeivertreter loben, dass sich die Sozialdemokratin ernsthaft für ihre Belange interessiere – was bei Seehofer, der sich gerne zurückzog, nicht immer klar gewesen sei. Auch Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang kann gut mit Faeser. Bremste ihn Seehofer etwa bei der Beobachtung der AfD aus, liegt Haldenwang mit Faeser nun auf einer Linie. Sie nannte die AfD schon zu Hessen-Zeiten „Feind der Demokratie“.

Klagender Grünen-Fraktionär :

„Die Chance auf einen progressiven Neuanfang in der Innenpolitik, die wurde bisher nicht genutzt“

Und dennoch wurde es zuletzt auch in der Ampel unruhig. Denn woran es lange fehlte, waren konkrete Maßnahmen und Gesetzentwürfe. Sieben Monate dauerte es, bis Faesers Ministerium einen ersten wirklichen Aufschlag machte – mit dem ersten Teil ihres „Migrationspakets“, das Kettenduldungen beenden und den Zuzug von Fachkräften erleichtern soll. Auch zu Faesers Rechtsextremismus-Aktionsplan, der „kurzfristige“ Maßnahmen ankündigte, folgten erst zum Jahreswechsel Gesetzentwürfe, hier zum Disziplinar- und Waffenrecht. Und den Verbotsreigen von Seehofer in der rechtsextremen Szene setzte Fae­ser bisher auch nicht fort – obwohl sie „Netzwerke zerschlagen“ wollte.

Ganz überraschen kann das nicht. Faeser kam von der hessischen Oppositionsbank, hatte nie zuvor eine Behörde geführt. Nun steht sie an der Spitze eines Großministeriums mit gut 2.000 Bediensteten und 19 unterstellten Behörden – das zuvor 16 Jahre lang in der Hand der Union war. Und das den Ruf genießt, ein Eigenleben zu führen.

Ausnahmezustand im Innenministerium

Zudem traf auch Faesers Ministerium der Krieg in der Ukraine unvermittelt: Am 24. Februar 2022 wollte sie eigentlich ein Diskussionspapier zum Demokratiefördergesetz präsentieren, da begann Russland seine Angriffe. Faeser sagte die Pressekonferenz ab. Und musste plötzlich die Aufnahme von Hunderttausenden Geflüchteten koordinieren, über Hilfslieferungen und Grenzkontrollen entscheiden, später reiste sie nach Kiew. Ein Ausnahmezustand, auch in ihrem Haus.

So blieb in Faesers Ministerium lange erst mal einiges beim Alten. Auch Monate nach ihrem Antritt waren noch etliche Leitungsposten mit denselben Leuten wie unter Seehofer besetzt. Heute sind es noch die Hälfte der Abteilungsleiter:innen, die zentrale Bereiche wie Öffentliche Sicherheit, Migration oder Digitales führen. Bei den Un­ter­ab­tei­lungs­lei­te­r:in­nen sind es gar 17 von 20.

Und bei den Staats­se­kre­tä­r:in­nen blieb ausgerechnet der Posten für Migration fast ein Jahr lang vakant – die Arbeit wurde von anderen Staatssekretären und dem hausinternen Ukraine-Krisenstab miterledigt. Selbst Seehofers Heimatabteilung blieb erhalten – sie soll sich nun um gleichwertige Lebensverhältnisse oder politische Bildung kümmern.

Dazu schasste Faeser im Oktober Arne Schönbohm, den damaligen Chef des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), wegen vermeintlicher Russlandnähe. In Zeiten des Ukraine­kriegs sollte hier nicht der Hauch eines Verdachts entstehen. Konkrete Verfehlungen von Schönbohm im Dienst bleibt Faeser indes bis heute schuldig, der BSI-Personalrat schrieb erboste Briefe. Und die Leitung des BSI, das bundesweite Zentralstelle für IT-Sicherheit werden soll, ist bis heute vakant.

Dabei hatte sich die Ampel einiges vorgenommen. Eine „grundrechtsorientierte Sicherheitspolitik“ wurde im Koalitionsvertrag versprochen, ohne Massenüberwachung, wissenschaftlich evaluiert. Ein progressiver Aufbruch. Nun aber klingt manches, was aus Fae­sers Haus kommt, als wäre es noch unter Seehofer entstanden: eine Cybersicherheitsstrategie, die liebäugelt mit Hackbacks, offensiven Gegenschlägen bei Cyberangriffen. Ein Hin und Her bei der Chatkontrolle, ein Bundespolizeigesetz, das den Beamten eine Quellen-TKÜ erlauben soll, ein Abgreifen von Kommunikation vor der Verschlüsselung – obwohl der Koalitionsvertrag genau das ausschließt.

Faeser für umstrittene Vorratsdatenspeicherung

Dazu forderte Faeser zuletzt, mit Verweis auf den Kampf gegen Kindesmissbrauch, offensiv die Vorratsdatenspeicherung ein – die Grüne und FDP vehement ablehnen. Auch will die Sozialdemokratin eine „Rückführungsoffensive“, will Frontex stärken – oder sich eben kriminelle „Clans“ vorknöpfen. Nach den Silvesterkrawallen sprach Faeser von migrantischen „Integrationsverweigerern“, die Klebeaktionen der Letzten Generation nannte sie „völlig inakzeptabel“, die Barrikadenbauer in Lützerath „verantwortungslos“. Und in Brokstedt fragte sie, warum der palästinensische Messerstecher überhaupt noch im Land sei. Da war sie wieder, die Law-and-Order-Nancy.

Bei Grünen und FDP verfolgt man das zunehmend frustriert. „Die Chance auf einen progressiven Neuanfang in der Innenpolitik, die wurde bisher nicht genutzt“, klagt ein Grünen-Fraktionär. „Es wirkt, als hätten Faesers Fachabteilungen noch nicht begriffen, dass es einen Neuanfang gibt. Das Ministerium muss endlich anfangen, den Koalitionsvertrag umzusetzen.“ Auch in der FDP ist von einer „dürftigen Bilanz“ Faesers die Rede.

Ambitionierte Gesetzentwürfe, die Zeit brauchen

Quelle        :       TAZ-online           >>>>>>         weiterlesen 

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Grafikquellen          :

Oben     —   Nancy Faeser beim hessischen Landtag (2019)

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Der Überwachungsskandal:

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Januar 2023

Misstrauensvotum gegen griechischen Ministerpräsidenten

 Erzählte Geschichten zwischen Täter und Täterin ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

Der Überwachungsskandal in Griechenland, in dem sogar ein Minister ausspioniert wurde, führt nun zu einem Misstrauensvotum gegen die konservative Regierung. Die Opposition wirft ihr vor, den Skandal unter den Teppich zu kehren.

Der frühere griechische Ministerpräsident und jetzige Oppositionsführer Alexis Tsipras hat am Mittwoch vor dem Parlament in Athen die Überwachung von hochrangigen Personen durch den griechischen Geheimdienst EYL kritisiert und deswegen ein Misstrauensvotum gegen den konservativen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis gestellt. Die Abstimmung darüber findet laut dpa voraussichtlich am Freitag statt. Die Regierung hat eine Mehrheit von 156 von 300 Stimmen im Parlament.

Laut einem Bericht von Euractiv hat sich die konservative Regierung mit Verweis auf die nationale Sicherheit bisher geweigert, Namen betroffener Personen aus dem im letzten Jahr bekannt gewordenen Überwachungsskandal zu nennen. Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis sagt, dass er nichts von der Überwachung gewusst habe. Die Opposition wirft ihm vor, die Angelegenheit unter den Teppich zu kehren. Tsipras nannte am Mittwoch im Parlament sechs Namen von Betroffenen, unter den Überwachten sind der Arbeitsminister der konservativen Regierung sowie Vertreter der Militärführung des Landes.

Datenschutzbehörde in Arbeit behindert

Zuvor hatte laut dem Euractiv-Bericht die griechische Datenschutzbehörde (ADAE) den Fall, wie von der Verfassung vorgesehen, untersucht – obwohl die Generalstaatsanwaltschaft dies in einer Stellungnahme als illegal eingeschätzt hatte. Auch das Parlament mit seiner konservativen Mehrheit hatte der Aufsichtsbehörde den Zugang zu einer Anhörung im Abgeordnetenhaus verweigert.

Tsipras besuchte dann die Behörde, nachdem diese ihre Untersuchung abgeschlossen hatte und wurde von dieser, wie rechtlich vorgesehen, auch über die Namen einiger von der Überwachung betroffener Personen informiert. Dafür hatte ein Sprecher der konservativen Regierung der Datenschutzbehörde eine Überschreitung ihrer Kompetenzen vorgeworfen. Der ADAE-Chef Christos Rammos wies die Vorwürfe laut der Zeitung Kathimerini zurück.

Bei einem Treffen mit der griechischen Präsidentin Katerina Sakellaropoulou am Dienstag sagte Tsipras laut Euractiv, dass er diese besuche um seine „Abscheu über die eklatante Verletzung der Rechtsstaatlichkeit“ zum Ausdruck zu bringen. Tsipras sprach dabei von „einem kriminellen Netzwerk, das im Büro des Premierministers operierte und vom Premierminister selbst geleitet wurde“. Tsipras hatte weitere Schritte beim Treffen mit der Präsidentin angekündigt und dort seine „tiefe Besorgnis“ über die Vorfälle geäußert.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen      :

Oben     —         

On Tuesday, the Greek Prime Minister focused on the need to broaden and deepen the EU while addressing MEPs during the fifth “This is Europe” debate. At the beginning of his speech, Prime Minister Mitsotakis stated that his country suffered more than any other in the past few years, but was ultimately able to overcome the political and economic challenges that almost led to its exit from the euro. Now, in addition to being among the top growing economies in Europe, Greece is on the front line of fighting for the future of the EU – in the EU’s response to the pandemic, as well as in protecting the external border from Turkey’s instrumentalisation of migrants and its aggression against Greece and Cyprus. Read more: www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20220701IPR3436… This photo is free to use under Creative Commons license CC-BY-4.0 and must be credited: „CC-BY-4.0: © European Union 2022– Source: EP“. (creativecommons.org/licenses/by/4.0/) No model release form if applicable. For bigger HR files please contact: webcom-flickr(AT)europarl.europa.eu

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lrre und krank ? ……

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Januar 2023

Sehnen sich die Täter nach demselben?

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…..   Nicht alle Tassen im Schrank ? – Würde man eher bei vielen Politikern erwarten

Von   :  Konstantin Nowotny

Wenn in Deutschland extreme Taten begangen werden, ist oft von psychisch kranken Einzeltätern die Rede. Was aber, wenn nicht die Tä­te­r*in­nen krank sind, sondern das System? Sehnen sich die Täter nach demselben? Danach, in einer imaginierten Zukunft zu den Gewinnern zu gehören?

Im Oktober 2019 werden in Deutschland zwei Menschen ermordet. Ein 27-jähriger Mann wollte in Halle an der Saale eine ­Synagoge stürmen, scheiterte und brachte anschließend zwei Menschen um. Der Attentäter veröffentlichte zuvor ein umfassendes Pamphlet voller rassistischer und antisemitischer Gedanken. Er glaubte an eine jüdische Weltverschwörung. Er hasste unter anderem auch den Feminismus, war sich aber sicher, dass hinter allem, was ihm sein Leben erschwert, letztlich die Juden steckten.

Krank. Der „fanatisch-ideologische Einzeltäter“ habe sich als „Teil“ eines rechtsextremen Netzwerks „verstanden“, argumentierte die Staatsanwaltschaft. Ein forensischer Psychiater bescheinigte dem Täter später nach dreimaliger Befragung eine „komplexe Persönlichkeitsstörung mit autistischen Zügen“. Im vergangenen Dezember nahm der Täter nach knapp zwei Jahren Haft in der JVA Burg zwei Geiseln und versuchte zu fliehen. Er scheiterte.

Im Februar 2020 werden in Deutschland neun Menschen ermordet. Bevor der 43-jährige Täter in einer Shishabar um sich schoss, veröffentlichte er einen Text, gesättigt mit rassistischen und antisemitischen Ideologien. Er glaubte an einen Rassenkrieg, der bevorstehe oder bereits im Gange sei. Und er glaubte daran, dass Geheimdienste mitverantwortlich dafür seien, dass ihn keine Frau liebe.

Krank. Der Terrorismusexperte Peter Neumann sprach von einem „massiv psychisch gestörten Einzeltäter“. Krankheit und Ideologie seien beim Täter „untrennbar miteinander verschmolzen“, zudem fehle ihm die Fähigkeit, sich mit seiner „krankhaft verformten Weltsicht“ auseinanderzusetzen, urteilte ein forensisch-psychiatrisches Gutachten.

„Untrennbar verschmolzen“, „krankhaft verformte Weltsicht“: Sind Rassismus und Antisemitismus nun eine Weltsicht oder eine Krankheit? Geht das eine aus dem anderen hervor?

Noch keine hundert Jahre ist es her, dass die Theo­re­ti­ke­r*in­nen der Frankfurter Schule sich in ihren „Studien zum autoritären Charakter“ der Frage widmeten, warum Menschen faschistischen Ideologien verfallen. Mit Blick auf den Nationalsozialismus fragten sich die Forscher*innen, warum Menschen Lust aufs Töten verspüren, sich als Teil eines mächtigen Kollektivs verstehen wollen, warum sie mörderische Befehle geben und ausführen. Die Studien offenbarten, wie viele Menschen insgeheim daran glaubten, dass an ihrem individuellen Schicksal ganz konkrete Personen und keine „überindividuellen“ Strukturen schuld sind. Das nütze den „falschen Propheten“ der herrschenden Klasse, argumentierten die Autor*innen: Statt dass sich der Ärger über persönliche Missstände gegen das System richtet, glauben die Leute lieber, ihr Nachbar sei schuld am eigenen Elend.

Die Studien waren nicht unumstritten, aber einflussreich. Jüngst wurden sie wieder öfter diskutiert – etwa im Band „Konformistische Rebellen“ aus dem Jahr 2020 –, weil die falschen Propheten in Form von autoritären Bewegungen wieder erstarken. Weil es wieder Mächtige gibt, die sagen, dass am Weltelend nicht falsche Strukturen schuld sind, sondern falsche Menschen.

Von Sozialpsychologie, vom Zusammenhang zwischen Charakter und Erziehung, Gesellschaft und Ideologie wollten nach Hanau und Halle aber nur wenige etwas wissen. Zu unangenehm sind die Fragen, die eine solche Analyse provoziert. Leben wir etwa in einer Welt, die systematisch potenzielle Mörder hervorbringt?

Nein, das kann nicht sein. Komfortabler: Die Täter sind irre, gestört, autistisch, narzisstisch, schizophren oder paranoid oder paranoid-schizophren; bedauerliche Einzelfälle in einer tragischen, aber losen Reihe; braun verblüht kranke Pflänzchen auf einer ansonsten intakten Wiese. „Es reicht nicht, einen Anschlag wie den in Halle zu verurteilen – und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am ersten Jahrestag des Attentats. Man müsse „die Motive ergründen, die Hintergründe solcher Taten aufklären“. Die „Ergründung“ sah in etwa so aus: Der Täter war einzeln und krank, so wie alle anderen, die Krankes tun.

Selbst wenn die potenziellen Mörder in Kollektiven auftreten, sind es irgendwie doch Einzelfälle. Eine „dreistellige Anzahl von Verschwiegenheitserklärungen“ sollen die Er­mitt­le­r*in­nen bei einer Gruppe von 25 Festgenommenen gefunden haben, die sie der sogenannten Reichsbürgerbewegung zuordnen. Eine Gruppe, bestehend aus ehemaligen Soldaten, Polizisten, Juristen, AfD-Mitgliedern, Neonazis und weiteren Personen hatte einen Putsch geplant, angeführt von einem Adligen. Sie verfügten über Kampferfahrung, Waffen und Geld. Der Adlige selbst schwang zuvor große Reden darüber, dass die Juden Kriege und Revolutionen anzettelten. Seine Gefolgschaft fand das überzeugend. Teile der Gruppe glaubten an die sogenannte QAnon-Theorie, nach der unter anderem Juden Teil einer blutrünstigen Weltverschwörung seien. Auch der Attentäter von Hanau glaubte das wie laut Studien etwa 15 Prozent aller Amerikaner*innen.

Scrooge-Romney.jpg

Krank. Reichsbürger seien „psychisch auffällig“, kommentierte der prominente Jurist und Spiegel-Kolumnist Thomas Fischer nach der Razzia. Er gab aber Entwarnung: „Deutschland drohte weder ein Staatsstreich noch ein Putsch.“ So sahen es viele. Eine Reporterin der Welt sprach auf Twitter von „verstrahlten Reichsbürger-Rentnern“ und wunderte sich über die „äußerst eigenartigen Hysterie“ rund um den Fall. Der ehemalige Innenminister Otto Schily gestand, er habe zwar „keine Erkenntnisse über Organisationsgrad und Gefahrenpotenzial“ der Reichsbürger-Bewegung, halte sie aber dennoch für eine „eher skurrile Spinner-Truppe“, die keine reale Gefahr darstelle. Das reimte sich mit den Deutungen ordinärer Faschisten: Von einer „Seifenoper“ rund um einen Staatsstreich, geplant von einem „Häuflein“, sprach Björn Höcke am Tag nach dem Zugriff. Ein Häuflein: Etwa 23.000 Menschen umfasst laut Bundesverfassungsschutz das „Personenpotenzial von Reichsbürgern und Selbstverwaltern“. Gerade einmal 5 Prozent gelten für die Behörden als „rechtsextrem“, fand die Süddeutsche Zeitung heraus. Und der Rest? „Nur“ verrückt?

Psychische Krankheiten fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen in einer bestimmten Gesellschaft, in einem bestimmten Zustand. Der Kulturtheoretiker Mark Fisher erklärte so unter anderem, warum Millionen Menschen unserer Zeit depressiv werden: Das Erodieren der staatlichen Vorsorgenetze – Rentensystem, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Bildungssystem – mache Menschen unsicher, nervös und auf lange Sicht krank. „Depression ist die Schattenseite unserer Wirtschaftskultur, sie ist, was passiert, wenn der magische Voluntarismus auf eingeschränkte Möglichkeiten stößt.“ Diejenigen, die das System am Laufen halten wollen, so Fisher, hätten ein Interesse daran, dass psychische Krankheiten Privatsache bleiben. Sie sollen nicht politisch thematisiert werden, damit keiner auf die Idee kommt, dass irgendetwas faul sein könnte.

„Magischen Voluntarismus“ nannte Fisher den Glauben, dass man sich nur genug anstrengen müsse, um seine Ziele zu erreichen. In der Realität finden sich die meisten, die in diesem Glauben erzogen wurden, in einem System wieder, dass davon lebt, dass es einigen ohne erkennbaren Grund schlechter und anderen besser geht. Ist es denkbar, dass sich der Ärger darüber, die Aggression, nicht nur nach innen richten kann wie bei der Depression, sondern auch nach außen, gegen andere, vermeintlich Schuldige?

Quelle       :           TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Zur Innenministerkonferenz:

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Dezember 2022

Für die Vorratsdatenspeicherung, gegen „radikale“ Klima-Aktivist:innen

Nicht die mutigen Klima-Aktivist-innen sind das Problem in diesem Land – sondern einzig die gierigen Politiker-innen welche aus finanziellen Vorteilen, für die eigenen Taschen, die Situation um runde 50 Jahre verschlafen haben. Sie alleine sind die radikalen Schuldigen in ihrer Machtbesessenheit. 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von      :   

Die Innenminister-innen von Bund und Ländern fordern unisono die anlasslose Vorratsdatenspeicherung. Außerdem wollen sie härter gegen Klima-Aktivist-innen vorgehen. Die Sicherheitsbehörden des Bundes sollen dazu ein umfassendes Lagebild erstellen.

Zum Abschluss ihrer dreitägigen Konferenz in München haben die Innenminister-innen von Bund und Ländern ihre restriktive Linie bekräftigt. Auf der Agenda standen unter anderem die Neuregelung der Speicherung von IP-Adressen und die Proteste „radikaler Klima-Aktivisten“ – also jener Menschen, die mithilfe von zivilem Ungehorsam mehr Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe einfordern.

Bei der abschließenden Presse-Konferenz am Mittag zeigte sich Bundesministerin Nancy Faeser (SPD) erfreut, dass sich die Innenministerkonferenz (IMK) einstimmig für die Speicherung von IP-Adressen ausgesprochen hat. Das wird den Konflikt um die anlasslose Vorratsdatenspeicherung innerhalb der Ampel-Koalition weiter anheizen.

Die Ministerin verwies auf das von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) präferierte Quick-Freeze-Verfahren. Dieses stelle aus Sicht Faesers nur eine „Methodik“ dar, die jedoch notwendigerweise auf die Speicherung von IP-Adressen angewiesen sei, um Täter-innen schwerer Verbrechen zu ermitteln. Einige Provider würden hierzulande derzeit „gar nichts mehr“ speichern, was sich daher ändern müsse. Die Sozialdemokratin ist nach eigenen Angaben optimistisch, dass sich die Bundesregierung „bald“ einigen werde. Wie ein Kompromiss aussehen könnte, ließ sie allerdings offen.

Faeser vs. Buschmann

Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) erteilte dem Quick-Freeze-Verfahren ebenfalls eine Absage, weil es „keinen Erfolg“ verspreche. Stünden den Behörden hingegen IP-Adressen zur Verfügung, erhöhe sich der Ermittlungserfolg, so Beuth. Daher seien die Länder übereingekommen, dass sie die Bundesministerin „sehr unterstützen in ihren Bemühungen, gegenüber dem Justizminister zum Erfolg zu kommen“.

Damit dürften sich die Fronten in der Ampel-Koalition bei diesem Thema weiter verhärten. Erst vor gut drei Wochen hatten sich die Justizminister-innen der Länder noch gegen eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen und damit Buschmann den Rücken gestärkt.

Wenige Tage zuvor hatte der Bundesjustizminister einen Entwurf für das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren vorgelegt, das der vom Europäischen Gerichtshof abgelehnten Vorratsdatenspeicherung nachfolgen soll. Der Entwurf sieht vor, dass Telekommunikationsanbieter künftig Verkehrsdaten mit möglichem Bezug zu Straftaten einen Monat lang speichern müssen, damit Ermittlungsbehörden sie nutzen können.

Bundesinnenministerin Faeser spricht sich hingegen schon seit längerem für die massenhafte, anlasslose Speicherung von IP-Adressen aus – ungeachtet klarer Absagen durch den Europäischen Gerichtshof und obwohl der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP eine solche Speicherung für die Zukunft dezidiert ausschließt.

Klima-Aktivist-innen als „kriminelle Vereinigung“ im Visier

Ähnlich geeint wie bei der Vorratsdatenspeicherung zeigte sich die IMK bei der Bewertung „radikaler“ Klima-Aktivist-innen. Die Innenminister-innen von Bund und Länder entschieden, die Aktivist-innen stärker beobachten zu lassen. Sie forderten die Sicherheitsbehörden des Bundes auf, ein bundesweites Lagebild zu deren Blockade-Aktionen zu erstellen.

Beuth sagte, die Gesellschaft werde durch die „politischen Erpressungsversuche“ der „radikalen, sogenannten Aktivisten […] gegängelt und genötigt“. Weil dies kein friedlicher Protest mehr sei, müssten die Sicherheitsbehörden prüfen, ob es sich bei den Aktivist-innen um eine „kriminelle Vereinigung“ handele, „die arbeitsteilig und bundesweit organisiert vorgeht“.

Dafür setzt sich auch Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) ein. Er sagte bereits gestern der Leipziger Volkszeitung, dass die Strafverfolgungsbehörden klären müssten, ob bei den Klimaprotesten „netzwerk- oder gruppenartige Strukturen“ vorlägen und „wer die Steuerung“ innehabe. „Wenn sich sogenannte Aktivisten an Kunstschätze oder auf Straßen oder auch auf Landebahnen kleben […], sind das schwerwiegende Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit.“ Die Politik müsse daher „vor die Lage“ kommen.

Ins gleiche Horn stieß Schusters bayerischer Amtskollege Joachim Hermann. Er bezeichnete die Letzte Generation als „straffe Organisation“ und verteidigte zudem die Präventivhaft, auch wenn diese „die Ausnahme“ bleiben werde, wie er auf der heutigen Pressekonferenz sagte, etwa wenn Leib und Leben gefährdet seien.

Bayern geht im bundesweiten Vergleich massiv gegen den zivilen Ungehorsam der Klima-Aktivist-innen vor. Zuletzt waren 19 von ihnen ohne Gerichtsverfahren für fast zwei Wochen in Präventivhaft genommen worden, um weitere Straßenblockaden zu verhindern. Möglich macht dies das umstrittene Polizeiaufgabengesetz, das härteste Polizeigesetz seit 1945. Die letzten der inhaftierten Aktivist-innen kamen am vergangenen Wochenende frei.

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Grafikquellen      :

Oben     — Innenministerkonferenz in München: Freitag, 2. Dezember 2022

Innenminister Joachim Herrmann hat als Schwerpunkte den Schutz Kritischer Infrastrukturen, die Warnung der Bevölkerung in Katastrophenfällen, die finanzielle Verantwortung des Bundes beim Bevölkerungsschutz, die verbleibenden Spielräume bei der Speicherung von IP-Adressen, die Bekämpfung von Kinderpornografie und aktuelle Herausforderungen der Asyl- und Flüchtlingspolitik angekündigt.

Veranstaltungsdatum: 02.12.2022

Veranstaltungsort: München

Bildnachweis: Sebastian Widmann

Fotos und Videos können für redaktionelle Berichterstattung frei genutzt werden – Videos auch ohne Quellenhinweis.

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Unten      —     Letzte Generation Blockadeaktion Klimademo Karlsplatz Stachus München 2022-11-07 20-34-35

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Kolumne – Diskurspogo

Erstellt von DL-Redaktion am 23. November 2022

Ab auf die Straße gegen rassistische Polizeigewalt

Kolumne von Simone Dede Ayivi

Der Protest gegen tödliche Polizeigewalt ist in Deutschland kleiner geworden. Fälle, für die Aufklärung gefordert werden könnte, gebe es genug.

Am 8. August 2022 wurde der 16-jährige Mouhamed Dramé bei einem Einsatz in Dortmund von der Polizei erschossen. Jedes Detail über den Ablauf dieses Polizeieinsatzes, das nach und nach an die Öffentlichkeit kommt, ist erschütternd. Der Eindruck, der gerade entsteht: Ein junger Mensch richtet ein Messer gegen sich selbst und wird dann von der Polizei vorsätzlich erschossen.

Am Samstag fand in Dortmund eine bundesweite Demonstration gegen tödliche Polizeigewalt statt.
 Zu dieser Demo erschienen rund zweitausend Menschen. Man fragt sich, was aus den Black-Lives-Matter-Protesten im Sommer 2020 geworden ist. Warum der Mord an George Floyd in den USA bei uns so viel mehr Reaktionen ausgelöst hat als der Tod von Mouhamed in NRW. Sicherlich ist es einfacher, mit dem Finger auf ein anderes Land zu zeigen, als ihn in die eigene Wunde zu legen. Ein Video, das den Hergang für alle sichtbar macht, hat mehr Effekt als über mehrere Monate durchtröpfelnde Informationen. Dazu kommt der Eindruck, dass es generell weniger Empathie für Schwarze Afri­ka­ne­r*in­nen gibt als für afroamerikanische oder Schwarze europäische Menschen.

Es gibt auch Entwicklungen in der Bewegung, die hoffen lassen: Es geht nicht mehr um Antirassismustraining für die Polizei oder um mehr Schulungen im Umgang mit Menschen in psychischen Krisen. Es werden nicht nur Kontrollinstanzen gefordert – sondern das System Polizei wird infrage gestellt und es wird über Alternativen nachgedacht. In den USA ist das schon länger Teil der öffentlichen Diskussion.

Dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Be­treue­r*in­nen einer Jugendhilfeeinrichtung bei der Möglichkeit von Selbstgefährdung eines suizidalen Jugendlichen in ihrer Sorge keine bessere Option sehen, als die Polizei zu rufen, gefährdet Menschenleben und lässt mich ratlos zurück:
 Ich kann mir kein Szenario vorstellen, in dem der Anblick von bewaffneter Polizei beruhigend auf eine Person im psychischen Ausnahmezustand wirken könnte.

Schwung und Glanz ist vorbei

All diese Fragen also, die aktuell gestellt werden, sind vielleicht weniger anschlussfähig und komplizierter als die empowernde Pro Blackness von 2020, die sich so gut auf Instagram zeigen ließ. Aber: Sie sind substanzieller und schließen mehr Menschen mit ein, die im öffentlichen Raum Repression durch die Polizei erfahren: Sexarbeiter*innen, Obdachlose, Menschen mit seelischen Erkrankungen und eben alle, die von Rassismus und Racial Profiling betroffen sind.

Quelle         :           TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben        —     Eine „Wall of Death“ im Publikum von 4Lyn (2004)

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Ein Politischer Staatsverkauf

Erstellt von DL-Redaktion am 16. November 2022

Ein Extremistisches Weiter-so

Finden wir nicht die meisten Extremisten unter den politischen Exoten? 

Ein Schlagloch von Ilija Trojanow

Nicht die Kartoffelbreiwerfer und Straßenblockierer sind extremistisch, sondern die rigorosen Verteidiger des Status quo. Zum Beispiel Christian Lindner. Die Befreiung des Denkens in die Vielfalt des tatsächlich Möglichen zu verdammen, ist extremistisch.

Als junger Verleger brachte ich 1991 ein Büchlein mit dem Titel „Extremismus, Radikalismus, Terrorismus in Deutschland. Zur Geschichte der Begriffe“ von Susanna Böhme-Kuby heraus – eine wissenschaftliche Analyse der Instrumentalisierung und selektiven Nutzung aufgeladener Begriffe im politischen Diskurs. Wenig später fragte mich ein Wissenschaftler, mit dem ich über einen Sammelband verhandelte, wieso ich verfassungsfeindliche Literatur verlegen würde. Er zeigte mir eine Liste indizierter Bücher, auf der sich dieser Titel befand. Offensichtlich war das Nachdenken über die Verwendung des Begriffs Extremismus schon extremistisch.

In den letzten Wochen erlebt der Begriff eine Konjunktur. Zunächst wurden wir von Politik und Medien vor extremistischen Reaktionen der Bevölkerung gewarnt. Schon die Vorstellung von massenhaften Demonstrationen weckte den inneren Philister in manch einem menschlichen Warndreieck. Dann erlebten wir extremistische Gewalttaten von unvorstellbarer Verwerflichkeit, die angeblich „große moralische Fragen“ aufwerfen: die Proteste von Klimaaktivistinnen. Sofort war die heilige Trinität der rechtschaffenen Empörung zur Hand: Extremismus, Radikalismus und Terrorismus.

Ein Beispiel unter unzähligen: Der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler twitterte unter dem Eindruck diverser beworfener Gemälde aufgeregt: „Dieser Terrorismus ist das eine. Die Verschwendung von Lebensmitteln ist das andere.“ Ein Höhepunkt unfreiwilliger Tragikomik. Die einmalige Nutzung von Kartoffelbrei zu außerkulinarischen Zwecken ist zweifellos das schlimmste Beispiel von Verschwendung in einem System, das bis zu 40 Prozent der Nahrungsmittel vergammeln lässt oder wegwirft. Für Herrn Schäffler ist das faule Ei, mit dem manche ihn gern bewerfen möchten, bestimmt schlimmer als die Millionen Tonnen Essen, die hierzulande auf dem Müll landen. Denn wir verbrauchen Boden, Luft, Wasser und Energie ohne Sinn und Verstand. Um dies zu bekämpfen, geben wir dem Problem einen schicken Namen: Food Waste, und unternehmen nichts Wirkungsvolles. Aber für Herrn Schäffler ist der Ist-Zustand – vermute ich – weder Terrorismus noch Verschwendung, sondern das gute Funktionieren des freien Marktes.

Nun stellt sich die Frage, was extremistischer ist: Das Bewerfen eines verglasten Bildes mit Suppe oder die giftige Suppe aus Verschwendung, Zerstörung und Klimakatastrophe, die uns der Wachstumswahn eingebrockt hat? Was ist extremistischer: dagegen aufzubegehren, für eine lebenswerte, würdevolle Zukunft, oder die verkrampfte Verteidigung des Status quo und die rigorose Ablehnung selbst der kleinsten Verbesserung (etwa beim Fleischkonsum: Tierhaltung macht mindestens 16,5 Prozent der globalen CO2-Emissionen aus). Wer genauer hinschaut, entdeckt in der viel beschworenen Mitte unserer Gesellschaft einen extremistischen Wahn des Weiter-so. Und wir haben nur die tragische Wahl zwischen einer extremistischen Mitte und dem Extremismus der Rechten.

Sind das nicht die wahren Helden dieser Tage welche es sogar schaffen dass ein im Stau stehender Lastwagen eine Radfahrerin überrollt haben soll !

Ähnlich moralisch blindwütig wurde auf den Tod einer Radfahrerin in Berlin reagiert. Die große moralische Frage ist offenbar nur, inwieweit der Protest daran Schuld hatte, weitaus weniger aber, wieso unzählige Radfahrerinnen im Straßenverkehr unter die Räder kommen, und auch nicht, dass jedes Jahr in der EU laut der Europäischen Umweltagentur Hunderttausende Menschen wegen Feinstaubbelastung und anderer Schadstoffe vorzeitig sterben. Mehr als die Hälfte dieser Menschen könnten noch leben, wenn wir die Richtwerte der WHO einhalten würden. Feinstaub ist vernünftig und notwendig, Protest hingegen frivol und unnötig, weswegen laut einer Umfrage des Spiegel 86 Prozent der Befragten finden, dass die Klimaaktivistinnen zu weit gehen.

Die extremistische Mitte behauptet gern, sie vertrete den gesunden Menschenverstand. Gegen Spinnerei und Utopismus und Weltfremdheit. Der Zusatz „gesund“ impliziert, dass konträres Denken „krank“ ist, daher abzulehnen und sogar zu verteufeln. Das englische common sense wäre geeigneter, zu übersetzen mit Hausverstand, also das, was jeder unter dem Dach seines eigenen Schädels finden könnte, wäre er nicht Opfer einer extremistischen Ideologie.

Quelle         :          TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Christian Lindner, Politiker (FDP), Wahlkampfveranstaltung in München (September 2021). Titel des Werks: „Christian Lindner im Wahlkampf 2021“

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Unten     —   Öl Aktion vom Aufstand der Letzten Generation vor dem Bundeskanzleramt, Berlin, 09.07.2022

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»NSU 2.0«-Komplex

Erstellt von DL-Redaktion am 16. November 2022

Zur Urteilsverkündung im »NSU 2.0«-Komplex

Quelle       :        Scharf  —  Links

Gemeinsame Erklärung von Seda BaSay-Yldiz, Idil Baydar, Anne Helm, Martina Renner, Janine Wissler und Hengameh Yaghoobifarah anlässlich der Urteilsverkündung im Prozess gegen den Angeklagten A. M. am 17. November 2022 vor dem Landgericht Frankfurt am Main.

Viereinhalb Jahre nach Beginn des NSU2.0-Komplexes: Ein wichtiges Urteil, aber weiter keine vollständige Aufklärung und sicher kein Freispruch für rechte Netzwerke in der hessischen Polizei

Wir erhoffen uns von dem Gericht ein wichtiges Urteil mit einer starken Signalwirkung – an den Angeklagten A. M. und alle Nachahmer*innen, die mit rechtsextremen, rassistischen und misogynen Drohschreiben ein Klima der Angst und Einschüchterung weit über den unmittelbaren Kreis der Betroffenen schüren wollten und wollen. (https://verband-brg.de/kurzgutachten-zur-ideologie-und-wirkung-der-nsu2-0-drohschreiben/)

Ebenso erhoffen wir uns von dem Gericht ein Signal, dass die Drohserie nicht vollständig aufgeklärt und die hessische Polizei durch die Verurteilung des M. auch nicht entlastet ist.  Deshalb hat die Nebenklage einen Freispruch für den Angeklagten M. in Bezug auf das erste Drohschreiben beantragt.

Nach der umfangreichen Beweisaufnahme ist weiterhin die Rolle von mindestens einem Polizeibeamten und einer Polizeibeamtin des 1. Frankfurter Polizeireviers ungeklärt. Am 2. August 2018 wurden durch eine fünf Minuten dauernde Abfrage mit 17 verschiedenen Abfragemodalitäten die privaten Daten von Seda Ba?ay-Y?ld?z und ihrer Familie in polizeilichen Datenbanken abgerufen. Bereits 90 Minuten später wurde das erste mit NSU 2.0 unterschriebene Drohfax an sie versandt.

Wir gehen nach der Beweisaufnahme davon aus, dass der Angeklagte M. die Daten von Seda Ba?ay-Y?ld?z nicht durch einen Anruf auf dem Revier erhalten haben kann und dass er nicht die technischen Mittel zum Versenden dieses ersten Drohfaxes hatte. Hingegen hat die Beweisaufnahme für den Datenabruf und das Verschicken des Drohfaxes einen plausiblen Alternativtäter ergeben: Den Beamten des 1. Polizeireviers Johannes S. [Link Antrag vdB]. Die als Zeugen geladenen Polizeibeamt*innen des 1. Polizeireviers haben in ihren Aussagen vor dem Landgericht nichts zur Aufklärung dieses Sachverhalts beigetragen und sich schützend vor den verdächtigen Beamten Johannes S. gestellt.

Wo gibt es den Staat, welcher die eigene Züchtung seiner Ordnungskräfte an den Pranger stellt ?

Für uns ist es ein Skandal, dass die Staatsanwaltschaft Frankfurt sich auf den vermeintlichen Einzeltäter, den Angeklagten M. festgelegt und versucht hat, die Frage zu der Rolle von hessischen Polizeibeamt*innen und einer verfestigten Gruppe rechter Polizeibeamt*innen im 1. Polizeirevier zu Beginn der Drohserie NSU 2.0 aus dem Verfahren herauszuhalten.

Mit dem Urteil – so viel steht schon jetzt fest – ist kein Freispruch für rechte Netzwerke in der Polizei verbunden.

Wir fordern die Ermittlungen in Hinblick auf die polizeilichen Datenabrufe weiter nachdrücklich zu betreiben, dies gilt insbesondere für die noch offenen Ermittlungsverfahren gegen in diesem Zusammenhang beschuldigte und namentlich bekannte Polizeibeamt*innen.

Frankfurt und Berlin, den 15. November 2022

Urheberrecht
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Grafikquellen       :

Oben      —       Landgericht Frankfurt am Main, Dienstgebäude C (Staatsanwaltschaft beim Landgericht). Links (Flachbau) Verhandlungssäle, rechts (Hochhaus und flacherer Gebäudeteil) Büros der Staatsanwaltschaft. Im Hintergrund links (mit grauem Dach) das Dienstgeäude B.

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Unten          —     Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“), Satz 1, des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, im Gerichtsgebäude in Frankfurt am Main, Deutschland.

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Umgang mit Widersprüche

Erstellt von DL-Redaktion am 6. November 2022

Der Krieg und die Traumwelt des Absoluten

 David gegen Goliath

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Relativierungen gelten schnell als Verrat an der guten Sache, zumal in Kriegszeiten. Doch ist die Frage von Gut und Böse wirklich so eindeutig zu beantworten?

Verzeihung
Diese Kolumne wird, dem Schicksal sei’s geklagt, so langsam zum »Relativierungs«-Hotspot. Bei ihren Feinden sowieso, deren Schreibinhalte aus umso mehr behaupteten Axiomen und frei erfundenen Unerschütterlichkeiten zu bestehen scheinen, je weniger sie zu den Gegenständen zu sagen haben, um welche es geht. Aber auch im Übrigen ist das sogenannte Relativieren höchstgradig in Verruf geraten: »Entweder – oder« lautet die Devise der Gläubigen, die es sich leisten können.

Das erinnert mich an eine Zeit, in der ich ziemlich sicher war, dass zum Beispiel der Aufstand der Kronstädter Matrosen von mir gewaltfrei hätte befriedet werden können, und dass auch die Lösung weiterer Weltkrisen mit meiner Hilfe unschwer möglich gewesen wäre.

Nun gut, das war vor 50 Jahren. Inzwischen steuere ich, Covid-19-Erinnyen im Nacken, auf meinen 70. Geburtstag zu, was immerhin schon doppelt so viel ist wie die bewundernswerte Leistung vieler, die im Paradies 35 Jahre alt geworden sind und daher jetzt endgültig Bescheid wissen.

Es gibt also heute überhaupt keinen Grund, dem jeweils anderen die Verzeihung zu verweigern, für was auch immer und insbesondere für die jeweilige »Meinung«. Das Letztere ist ja ein wundersames Ding im Jahrhundert der Authentizität, da die Evolution den Menschen gleichzeitig zur Smartphoneabhängigkeit von 500 Millionen und zum Verhungern von 500 Millionen leitet, zum Kampf um die eingebaute Vorfahrt des Lastenfahrrads und in die Kriege um die letzten Vorräte des Faulschlamms aus Urzeitalgen, von dem die Menschheit derzeit pro Tag ungefähr 14.500 Millionen Liter verbraucht (20 Prozent davon die US-Menschheit) und von heute an in 30 Jahren geschätzte 25 Prozent mehr.

Eine »Meinung« zu haben, ist derweil nicht mehr nur ein Potenzial menschlicher Existenz, sondern eine Verpflichtung, welche sich von der empirischen Kognition und sogar vom Menschen selbst entkoppelt zu haben scheint: Dass auch die Sachen inzwischen – der Influencer Karl Marx hat es einst beschrieben – Meinungen, Ansichten und Philosophien haben, gilt dem allzeit Meinungsbereiten, für den jeden Monat eine »neue Ära« von irgendwas beginnt, als philosophisch alter Hut, um nicht zu sagen »sowas von Achtziger«.

Einerseits – andererseits

So viel zur Einleitung. Nun folgen ein paar Zitate:

Beispiel 1

Einerseits:

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Grenze der Meinungsfreiheit

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Oktober 2022

Mit Hausdurchsuchungen gegen Likes

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von     :   

Kann ein Like strafbar sein? Das Landgericht Meiningen bejaht diese Frage erstmals und rechtfertigt dafür sogar Hausdurchsuchungen. Das fragwürdige Urteil erlaubt es Strafverfolgungsbehörden somit mit Bazookas auf Spatzen schießen – und verschiebt die Grenze der Meinungsfreiheit.

Likes bilden den Treibstoff sozialer Netzwerke. Werden Beiträge per Klick mit Herzchen, Sternchen oder gerecktem Daumen versehen, erhalten sie bekanntlich mehr Verbreitung, mehr Aufmerksamkeit und damit weitere Likes. Dass ein gereckter Daumen eine strafbare Äußerung sein kann, die sogar Hausdurchsuchungen rechtfertigt, ist indes neu. So entschied das Landgericht Meiningen (Az. 6 Qs 146/22) und bestätigte damit ein vorangegangenes Urteil des dortigen Amtsgerichts. Sollte das Urteil Bestand haben, wird dies nicht nur Folgen für die sozialen Netzwerke haben, sondern darüber hinaus die Grenzen der Meinungsfreiheit verschieben.

Das Amtsgericht hatte im Juni die Durchsuchung der Wohnung und des Kraftfahrzeuges eines Beschuldigten angeordnet. Dieser hatte zuvor auf Facebook einen Eintrag von „Arminius Hetzer Hermann“ geliked, indem er ihn mit dem Emoji einer Faust mit nach oben gereckten Daumen versah. In dem Eintrag hatte „Arminius Hetzer Hermann“ die Trauerfeier zweier Polizist:innen, die im Januar bei einer Verkehrskontrolle im pfälzischen Landkreis Kusel erschossen worden waren, mit den Worten kommentiert „Keine einzige Sekunde Schweigen für diese Kreaturen.“ Das Amtsgericht sah es als erwiesen an, dass sich der Beschuldigte die Aussage mit seinem Like zu eigen gemacht habe und ordnete die Hausdurchsuchung an, um Smartphones und „sonstige elektronische Speichermedien“ sicherzustellen.

Hausdurchsuchung wegen eines Likes

Der Beschuldigte war nicht der einzige, dessen Wohnräume durchsucht wurden. Am Tag, bevor der Gerichtsprozess gegen die beiden des Polizist:innenmordes Angeklagten begann, durchsuchte die Polizei in 15 Bundesländern die Wohnungen von 75 Personen, denen sie die Veröffentlichung von Hass-Postings vorwarf. Mehr als 180 Geräte wurden dabei beschlagnahmt, darunter vor allem Laptops und Smartphones.

Der Beschuldigte legte Widerspruch gegen die Hausdurchsuchung beim Landgericht Meiningen ein. Er habe keinen eigenen Eintrag verfasst, sondern nur das Posting eines anderen Nutzers mit einem Like versehen. Damit habe er sich weder dessen Inhalt zu eigen gemacht noch stünde dieser Eintrag in direktem Zusammenhang mit dem Mord an den Polizist:innen. Die Bezeichnung „Kreaturen“ beziehe sich vielmehr auf die Polizei als Ganzes, eine persönliche Verunglimpfung liege daher nicht vor.

Das Gericht überzeugte diese Argumentation nicht. Es kam zu dem Schluss, dass die Durchsuchung „wegen der Schwere und Stärke des Tatverdachts“ verhältnis- und rechtmäßig sei. Der Verdächtige „sei sowohl der Billigung von Straftaten als auch des Verunglimpfens des Andenkens Verstorbener (nach § 189 StGB) hinreichend verdächtig“ gewesen. Dafür habe es ausgereicht, dass er den Facebook-Eintrag mit dem Emoji versehen habe. Die Faust mit nach oben gereckten Daumen könnten selbst „Rezipienten im Vorschulalter“ eindeutig verstehen.

Gegen das Urteil lassen sich zunächst zwei juristische Einwände vorbringen.

Zum einen ist die Annahme des Gerichts fragwürdig, der Beschuldigte hätte sich den Inhalt des Facebook-Eintrags mit seinem Like „zu eigen gemacht“. Selbst wenn die pietätlose Bezeichnung „Kreaturen“ in dem Facebook-Eintrag den ermordeten Polizist:innen „ersichtlich die Menschenwürde [abspricht]“ und daher als „schwere Ehrkränkung“ anzusehen ist, wie das Gericht behauptet, bedeutet das nicht, dass sich damit auch jene schuldig machen, die diese Äußerung öffentlich gutheißen.

Letztlich differenziert das Landgericht unzureichend zwischen einer Beleidigung und deren Billigung – eine Unterscheidung, die wir im analogen Leben treffen. Das Gericht muss sich daher fragen lassen, ob es künftig auch Häuser von Menschen durchsuchen lassen will, die etwa auf einer Kabarettveranstaltung eine mutmaßlich rechtswidrige Äußerung oder Ehrkränkung beklatschen oder auch nur dazu lachen.

Das Landgericht geht aber noch weiter: Laut Urteil habe der Beschuldigte einen Mord „in einer Weise öffentlich gebilligt, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“. Allerdings trifft dies – laut Paragraph 140 des deutschen Strafgesetzbuchs (mit Verweis auf Paragraph 126) – nur dann zu, wenn Äußerungen handfest zu Gewalt, gemeingefährlichen Vergehen oder Landfriedensbruch aufstacheln. Likes in sozialen Netzwerken sind dort nicht aufgeführt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass das Gericht die Grenzen der Meinungsfreiheit erheblich verengt. Denn bislang zog das Strafrecht diese Grenze erst dort, wo zu handfester Gewalt aufgerufen wird.

Mit der Ermittlungsbazooka auf Like-Spatzen

Zum anderen ist die Durchsuchungsanordnung alles andere als verhältnismäßig. Sie diente laut Gericht dazu, „die Daten auf dem emittierenden Endgerät“ als Beweismittel sicherzustellen und das „Tatwerkzeug“ einzuziehen. Weniger einschneidende Maßnahmen seien sowohl im Juni als auch rückblickend nicht verfügbar gewesen.

Wo bleibt der Richter mit der Flinte ?

Der Beschuldigte hat jedoch offenbar zu keiner Zeit bestritten, die Bewertung des Facebook-Eintrags vorgenommen zu haben. Die Sicherstellung des „Tatwerkzeugs“ Smartphone ist daher auch für den Verlauf der Ermittlungen unerheblich gewesen. Warum also diese drastische Maßnahme, die einen erheblich in die Privatsphäre der betroffenen Person eingreift?

Das Smartphone hier wie ein Messer oder eine Pistole als Beweismittel zu nutzen, zeugt entweder von digitaler Unkenntnis – oder aber Polizei und Gerichte wollen mit Ermittlungsbazookas auf Like-Spatzen schießen. Dann aber stellt sich die Frage, ob ihr entschiedenes Vorgehen damit zu tun hat, dass in diesem Fall keine österreichische Ärztin oder junge Twitch-Streamerin, sondern Beamt:innen aus den eigenen Reihen betroffen waren.

Sollte das Gerichtsurteil bestehen bleiben, hat dies gravierende Folgen für die Meinungsfreiheit – und zwar über das Internet hinaus. Abgezeichnet hatte sich diese Entwicklung bereits Ende 2020, als die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main erstmals Strafverfahren wegen Facebook-Likes einleitete. Damals sagten die Beamt:innen aber immerhin noch offen, dass die Verfahren der „Verwarnung“ dienten. Und nur wenige Monate zuvor hatten in der Bundestagsdebatte um die Novellierung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) sogar Abgeordnete der Regierungsfraktionen „unzureichende Begriffsklärungen“ eingeräumt, etwa in der Frage, ob ein Like laut NetzDG den Strafbestand des „Billigens“ erfülle oder nicht. Fahrlässigerweise klären nun Gerichte diese Frage – zulasten der Meinungsfreiheit und der Grundrechte der Bürger:innen.

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Grafikquellen      :

Oben     —   Landgerichtsgebäude im Justizzentrum Meiningen

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Kulturkampf in Deutschland

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Oktober 2022

Was Hans-Georg Maaßen mit Winnetou verbindet

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Ob albernes Kinderbuch oder Kommentar zum Grundgesetz: Ist es richtig, Bücher und Autoren aus dem Sprach- und Denkraum tilgen zu wollen?

Indianer

Wer von Ihnen, sehr geehrte Leser, den Film »Karl May« von Hans-Jürgen Syberberg (1974; 187 Minuten) gesehen hat, wird sich vermutlich an die wunderbare Szene erinnern, in welcher der Protagonist nach eines weiteren Radebeuler Tages Müh’ sich so hoffnungsvoll wie tiefenpsychologisch verstrickt in das von Federkissen quellende Ehebett begibt und der dort schon schlummerbereiten Liebsten mitteilt: »Heute ist unser Winnetou gestorben«. Sodann umarmen sich die Liebenden, Winnetou inside, auf das Berührendste und opfern dem toten Freund ihre Tränen.

Das ist, wenn Sie möchten, selbstverständlich nichts wert. Gleichwohl könnte man es unter Gesichtspunkten der Kunst als solcher einmal bedenken, was ja den Winnetou-Kollegen Prinz Eisenherz, Superman, Ronja Räubertochter und Lukas Lokomotivführer auch gern zuteilwird. Der Südseekönig ist, wie wir wissen, nicht mehr mit an Bord, dafür inzwischen aber ein paar rassereine Elben sowie jede Menge kampfstarke Amazonenkriegerinnen.

Karl Mays Figuren waren durchaus erträglich, wenn man sie mit dem Tiger von Eschnapur vergleicht

Man kann auch »Old Shatterhand vor Gericht« von Jürgen Seul (2009) lesen, die ebenso berührende wie entnervende Geschichte des Scheiterns eines früh Verzweifelten an sich selbst.

Natürlich sprechen wir aufgeklärt Gebildeten hier nicht über Humboldt, Cooper oder London. Aber auch nicht über Brice und Barker, Elspe und Bad Segeberg. Der Apache wohnte bei May ja nicht in Zelten, wie dem Radebeuler Weltreisenden derzeit von der unbelesenen Bachelor-Schar vorgehalten wird, sondern in liebevoll beschriebenen Pueblos, und die »Westmann«-Community des kleinen Herrn May bestand zu erheblichen Teilen aus gierigen Verbrechern und Landräubern, hasszerfressenen Zivilisationsflüchtlingen und halbverrückten Bisonausrottern. Also eigentlich durchaus erträglich, wenn man es mit der deutschen Südafrikaliteratur, dem Tiger von Eschnapur samt Elefantenboy oder der französischen Afrika-Kultur vergleicht.

Dass man als Außenminister nicht Indianerhäuptling werden gewollt haben darf, die Sprechzettel-Lieferanten aus der Ministerial-Unterabteilung aber gerne »Sherpas« nennen dürfte, wenn man wollte, ist eines der kleineren Rätsel der selektiven Erweckungsbewegung.

Der Indianer als solcher ist ja gar kein echter Inder, sondern ein verwechselter. Er lebte teils am Thlewiaza-River, teils in der Gegend von Tenochtitlan, gern auch am Rio Gallegos. Er sprach 1200 Sprachen, die allesamt von Herrn May beherrscht wurden, der die Bösen belauschte und den Guten half, wo immer es etwas auf Zehen- und Fingerspitzen anzuschleichen gab zwischen Ernstthal, Kötzschenbroda, Oberlößnitz und Radebeul.

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Nicht demokratisch

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Oktober 2022

Wo sitzen die größten Manipulatoren-innen auf dieser Erde ? 

Gruppenfoto der Staats- und Regierungschefs der G20, Gipfel 2017 in Hamburg.

Ein Debattenbeitrag von Reiner Wandler

Nicht nur in Polen und Ungarn, auch in Spanien wird die Justiz politisch manipuliert. Doch hier ist nicht die Regierung, sondern die Opposition das Problem.

Geht es um Justiz in Europa, schauen alle nach Ungarn und Polen. Dort werden immer mehr demokratische Prinzipien eingeschränkt. Doch es gibt ein weiteres Problemland: Spanien. Die dortige Justiz ist mittlerweile auch ins Blickfeld des Justizkommissars der Europäischen Union, Didier Reynders, gerückt.

Reynders kritisierte auf einem Besuch in Madrid Ende September die völlige Blockade der in der Verfassung vorgesehenen Erneuerung wichtiger Instanzen, darunter die Ernennung von Mitgliedern des Consejo General del Poder Judicial, des Obersten Justizrats (CGPJ) – so etwas wie die Regierung der Richter – und des Verfassungsgerichts durch das spanische Parlament. Seit nunmehr vier Jahren werden diese Institutionen nicht erneuert. Am Montag trat der Präsident des CGPJ, Carlos Lesmes, aus Protest gegen die Situation zurück. Spaniens Justiz steckt in einer nie dagewesenen Krise.

Anders als in Polen und Ungarn ist die Blockade der Justiz nicht der regierenden Linkskoalition aus Sozialisten und Linksalternativen zuzuschreiben, sondern der rechten Opposition der Partido Popular (PP). Sie weigert sich, mit der Regierung eine Neubesetzung auszuhandeln. Die erforderliche Drei-Fünftel-Mehrheit im Parlament kommt so nicht zustande. Die alten Richter bleiben, und das, obwohl diese immer wieder ihre Ablösung fordern. Der Grund, zumindest der offizielle: Die PP möchte verhindern, dass auch der kleinere Koalitionspartner, die linksalternative Unidas Podemos, ihre Vorschläge machen kann. Diese Partei sei undemokratisch, behauptet die PP, und bricht damit selbst seit nunmehr vier Jahren die Verfassung.

Die Konservativen leben gut mit dieser Blockade. Gegen die PP, die bereits einmal als „korrupte Partei“ verurteilt wurde, laufen zahlreiche weitere Verfahren wegen illegaler Parteienfinanzierung und persönlicher Bereicherung. Viele der Tatbestände datieren aus der Zeit, als José María Aznar und dessen Nachfolger an der Spitze der PP, Mariano Rajoy, Spanien regierten. Je höher in der Justizhierarchie, desto mehr PP-treue Richter. Die Konservativen wollen diese Vormachtstellung durch eine Erneuerung des CGJP nicht verlieren.

Wo so viel für die Sicherheit anwesender Personen aufgeboten werden muss, spricht dieses gerade nicht für deren Beliebtheit !

Noch immer werden vor allem von den obersten Instanzen Ermittlungen gegen PP-Politiker eingestellt oder milde Urteile gesprochen. Nur ein Beispiel: Bis heute ist für Rich­te­r:in­nen bis hinauf zum Obersten Gerichtshof nicht geklärt, wer denn nun bei einer Auflistung von Schwarzgeldzahlungen des mittlerweile inhaftierten PP-Kassenwarts an PP-Politiker mit dem Eintrag „M. Rajoy“ gemeint sein mag. Dass dabei die Justiz – einer der wichtigsten Pfeiler einer Demokratie – längst den Ruf hat, parteipolitisch und nicht unabhängig zu sein, stört Spaniens Rechte nicht.

Der wohl nur zufällig namensverwandte Mariano Rajoy, der vor vier Jahren per Misstrauensvotum durch den Sozialisten Pedro Sánchez als Ministerpräsident abgelöst wurde, nutzte die Justiz, wo immer er konnte, um seine Politik zu machen. So ließ er nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien vor fünf Jahren weit über eintausend Un­ab­hän­gig­keits­be­für­wor­te­r:in­nen gerichtlich verfolgen. Ein Großteil der Minister der katalanischen Regierung musste wegen Aufstandes vor Gericht und wurde zu Haftstrafen von bis zu 13 Jahren verurteilt. Etwas, das so in anderen EU-Ländern nicht hätte geschehen können. Sowohl Belgien als auch Schottland und Deutschland weigerten sich Mitangeklagte auszuweisen, die sich rechtzeitig in Exil begeben hatten. Darunter der einstige katalanische Regierungschef Carles Puigdemont, der heute in Brüssel lebt und Abgeordneter im EU-Parlament ist.

Eben das beschäftigt sich mit einem anderen Skandal aus jenen Jahren. Die Handys von mindestens 65 Un­ab­hän­gig­keits­po­li­ti­ke­r:in­nen und -aktivist:innen wurden mittels der Spionagesoftware Pegasus ausspioniert. Bei mindestens 18 hatte der Geheimdienst – der offiziell gar nicht über die israelische Spyware Pegasus verfügt, so das Verteidigungsministerium – eine richterliche Genehmigung. Während das Europaparlament den Fall zusammen mit anderen Fällen aus Ungarn und Polen untersucht, geschieht in Spanien nichts.

Quelle         :         TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Gruppenfoto der Staats- und Regierungschefs der G20, Gipfel 2017 in Hamburg. Gastgeberland Deutschland, mit Angela Merkel in Rot; 20 Politiker, die die wichtigsten Länder vertreten, stehen in den ersten 2 Reihen: Bewegen Sie Ihren Mauszeiger auf das Foto (Mouseover), wenn Sie die Namen lesen möchten. Oder Sie können zu den Kategorien unten auf der Seite „Kategorie:Offizielles Gruppenfoto von Politikern auf dem G-20-Gipfel in Hamburg 2017“ gehen, um weitere Fotos der Staats- und Regierungschefs zu erhalten. Die Gäste befinden sich in der 3. Reihe, Mitglieder internationaler Organisationen im hinteren Teil des „Familienfotos“, mit Christine Lagarde in der Mitte.

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Kolumne Linksklick :

Erstellt von DL-Redaktion am 26. September 2022

„Spaß bei der Arbeit“ zahlt keine Miete

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Eine freche Stellenausschreibung wirft ein Schlaglicht auf eine Branche, die mit sich ringt, ihre Mitglieder fair zu bezahlen. Wie kann das sein?

Die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) sucht Verstärkung beim Sichten von Computerspielen. Sie ist für die Alterseinschränkungen zuständig und dafür muss jemand die neu erscheinenden Titel spielen.

Das Aufgabenfeld der zukünftigen „engagierten Spiele Sichter-innen“ umschreibt die offizielle Stellenausschreibung so: „Du spielst Computer- und Videospiele, die bei der USK zur Prüfung eingereicht werden und bist damit Teil der technischen und inhaltlichen Vorbereitung des Prüfprozesses eines Spiels.” Dazu gehören jede Menge Aufgaben. Etwa eine “umfassende Sichtung eines Spiels” und “das Verfassen eines schriftlichen Testberichts, der die inhaltlichen Aspekte und jugendschutzrelevanten Faktoren zusammenfasst”. Bei der Präsentation sollen die Sichter-innen “einen neutralen Überblick über das Gameplay, technische Funktionalitäten sowie Narration” bieten und dem Prüfgremium für Rückfragen zur Verfügung stehen. Home Office geht leider nicht.

Ein stolzer Aufgabenkatalog für eine wichtige, verantwortungsvolle Aufgabe: Spiele gründlich auf potentiell jugendgefährdende Inhalte abklopfen, ein schriftlicher Test, eine Präsentation vor dem USK-Gremium. Und am Ende mitverantwortlich für das USK-Siegel sein, das bei der Kaufberatung eine große Rolle spielen soll.

Die Entlohnung für diesen Job?

100 Euro pro Spiel.

Das ist eine Katastrophe.

Von Spaß kann man sich nichts kaufen

Weil unsere Gesellschaft in Deutschland noch immer auf dem Leitsatz „über Geld spricht man nicht“ aufbaut, stammt diese Honor Auskunft nicht direkt aus der Ausschreibung: Hier heißt es nur „angemessene Aufwandsentschädigung“, eine Floskel ohne Bedeutung. Ein Mitarbeiter der USK aber nennt diesen Honorarsatz auf Twitter, als ihn die ersten irritierten Reaktionen auf die Stellenausschreibung erreichen. Es wirkt selbstbewusst, wie er das Honorar verkündet: einhundert Euro. Für einen Arbeitsaufwand im zweistelligen Stundenbereich. Auf meine offizielle Presseanfrage, ob mir die USK diesen Honorarsatz bestätigen kann, habe ich noch keine Antwort erhalten.

Es bedarf hoffentlich keiner langen Ausführungen, dass dieser Honorarsatz für die verlangte Arbeit eine Frechheit ist. Eine Frechheit, die sich in den Köpfen der Verantwortlichen wohl nur mit einer Argumentationskette rechtfertigen lässt: „Spielen macht doch eh Spaß und ist keine echte Arbeit.“ Und keine echte Arbeit muss auch nicht angemessen bezahlt werden, so offenbar die Logik.

Für mich als Journalist, der beruflich über Spiele schreibt und spricht, ist diese Annahme ein häufig gehörter Satz. Warum will ich Geld für etwas, das andere Menschen in ihrer Freizeit machen?

Ich kann diese Irritation verstehen, die mir zuletzt während einer Hochzeitsfeier entgegenschlug: Dort standen ein Pilot, eine Lehrerin und ein Schreiner um mich herum – alles „ordentliche Berufe“. Keiner der drei verstand, wie ich mit „Spielen“ wirklich meine Miete zahlen kann.

Wo das Verständnis aufhört

Sie kennen das Medium als Teil ihrer Freizeit oder Kindheit, zum Abschalten, zum Ablenken. Sie nehmen Videospiele nicht als Kulturgut wahr, das ebenso wie Bücher und Filme analysiert und kritisiert werden kann, sie lesen keine investigativen Reportagen über die schlechten Arbeitsbedingungen in der Branche, sie setzen sich nicht mit Diskussionen über Mikrotransaktionen und Suchtspiralen auseinander, die so viele Menschen finanziell ruinieren. Sie bewegen sich am Rand der Spielkultur und das ist vollkommen in Ordnung. Ich erkläre ihnen gerne, warum meine Arbeit ebenfalls echte Arbeit ist und ein angemessenes Honorar verdient. Dafür habe ich Verständnis.

File:USK 6.svg

Die USK aber ist Teil der Spielkultur, sitzt in ihrem Zentrum, weiß um die Wichtigkeit ihrer Arbeit. Trotzdem bietet sie nur 100 Euro Aufwandsentschädigung an, lockt sogar damit, das Sichter Innen dann auch früher als alle anderen ersehnte Spiele testen dürfen – als wäre das schon Lohn genug.

Das verdient Kritik, nicht Verständnis – zumal diese Aufwandsentschädigung nicht nur vollkommen unangemessen für die Arbeit selbst ist. Sie macht diese Arbeit auch unerreichbar für Menschen, die darauf angewiesen sind, Geld zu verdienen. Ein Job, der den Einstieg in die Spielebranche ermöglicht und die Gelegenheit zur Vernetzung bietet, bleibt so weniger privilegierten Menschen schlichtweg verwehrt.

Symptom für ein altes Problem

Diese Kritik richtet sich aber nicht nur gegen die USK. Ihre Stellenausscheibung ist vielmehr das Symptom eines Problems, das seit Jahren die Spielebranche beherrscht, sowohl auf Seiten der EntwicklerInnen als auch der JournalistInnen. Wichtige Aufgaben, die viele Stunden Arbeitszeit bedeuten, werden immer wieder nicht oder nur schlecht entlohnt, denn „Spaß“ sei ja bereits Bezahlung genug.

So vergütet eine der größten deutschsprachigen Spieleredaktionen seit Jahren freie MitarbeiterInnen für die Erstellung von Komplettlösungen mit Honorarsätzen um die 50 Euro, gelöstes Spiel als Dank obendrauf. Manchmal. Ein offenes Geheimnis in der Branche und eine unverschämte Entlohnung für eine Arbeit, die dutzende Stunden kostet – und für die Redaktion ironischerweise einen wichtigen Baustein im Online-Angebot darstellt.

Unterdessen war das Einstiegsgehalt eines Vollzeitredakteurs mit Berufserfahrung bei einem anderen großen Verlag in Deutschland vor einigen Jahren gerade einmal so Mindestlohn, unbezahlte Überstunden ohne Freizeitausgleich wurden trotzdem erwartet. Und QualitätsprüferInnen kleiner Entwicklerteams arbeiten gratis, weil sie das Spiel weit vor allen anderen „genießen“ dürfen.

Beispiele dieser Art gibt es viele. Das ist, ich wiederhole mich, eine Katastrophe – und eine große Ironie: Seit Jahren ringt die Branche darum, als wichtige Industrie ernst genommen zu werden, Spiele als Kulturgut hochzuhalten und auf Augenhöhe mit der Politik zu verhandeln. Wie aber soll dieser Anspruch zur Realität werden, wenn genau diese Branche in Teilen nicht einmal sich selbst ernst nimmt – und ihre Mitglieder behandelt, als würde „Spaß bei der Arbeit“ genügen, um die Miete am Ende des Monats zu bezahlen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen      :

Oben     —    Rechte Tasche – linke Tasche – übrig blieb die leere Flasche /  Screenshot  YOUTUBE

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Unten        —    Klassifikationsetikett der USK. Dies ist Freigegeben ab 6 Jahren gemäß § 14 JuSchG (Eingeschränkt für Personen unter 6 Jahren)

Urheber Originally uploaded by StG1990, created by Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle / Datum :  01.12.2008
Quelle Wiki-de  http://www.usk.de/media/pdf/221.pdf

Diese Abbildung einfacher Geometrie ist gemeinfrei („public domain“), weil sie ausschließlich Allgemeingut enthält und die nötige Schöpfungshöhe nicht erreicht.

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– Vorratsdatenspeicherung

Erstellt von DL-Redaktion am 23. September 2022

Mehr Nein geht nicht

Nichts ist unmöglich – mit sozial Sozialisten-innen

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Die von jedem Urteil unbeirrte Forderung nach Vorratsdatenspeicherung kommt stets aus demselben Haus: dem Innenministerium. Als ob es um Sicherheit ginge.

Ein vermutlich hervorragend funktionierendes Instrument gegen viele Formen der Kriminalität wäre eine rigide durchgesetzte Ausgangssperre für Männer zwischen 19 Uhr und 6 Uhr morgens. Jeden Tag, alle Männer, überall in Deutschland.

Nach ernsthaftem Überlegen dürften die meisten zivilisierten Menschen zum Schluss kommen, dass das eigentlich kein sinnvoller Weg ist, um Kriminalität zu bekämpfen. Verfassungskonform wäre er ohnehin nicht, und zwar sehr nicht. Damit wäre geklärt, dass nicht alle Methoden, die nachweislich oder wahrscheinlich der Kriminalitätsbekämpfung dienen, auch sinnvoll sind oder auch nur durchführbar.

Dieses Beispiel mag sich drastisch anhören, aber manche Leute brauchen ja drastische Argumente, um zu begreifen, sogar bei Grundrechten. Und manche erreicht nicht einmal das. Womit wir bei einem bizarren politischen Ritual wären: Wenn Menschen aus Union oder SPD Innenminister:innen werden, fordern sie die Vorratsdatenspeicherung, meistens im Einklang mit den ihnen unterstellten Behörden wie Landes- oder Bundeskriminalämtern. Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist ein Zombie der Digitalpolitik, sie kommt immer und immer und immer und immer wieder.

Dabei ist sie juristisch schon toter als tot – denn der Europäische Gerichtshof hat sie für unzulässig erklärt. Mehrfach. Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht. Manchmal in Bausch und Bogen, manchmal in maßgeblichen Details. Aber immer wurde sie abgelehnt. Auch die aktuelle deutsche Variante der Vorratsdatenspeicherung verstößt gegen Gesetze, konfligiert mit Grundrechten, ist mit den Werten der liberalen Demokratie nicht vereinbar, solange es nicht um die nationale Sicherheit geht.

Mehr Nein geht nicht, noch neiner würde die Welt zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung nur sagen, wenn sie vorsorglich explodieren würde. Aber vermutlich würde Innenministerin Nancy Faeser auch im Fall der Detonation des Planeten noch ein- oder zweimal versuchen, die Vorratsdatenspeicherung einzuführen.

Grundrechtliche Zumutungslandschaft

Moment, mögen jetzt einige Leute rufen, die sich nur wenig für die gesellschaftlichen Unwägbarkeiten der vernetzten Technologie interessieren – die Vorratsdatenwas? Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung könnte man auch vorauseilende Generalüberwachung nennen, denn faktisch ist sie genau das: Der Staat lässt mit der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung zwar keine Kommunikationsinhalte, aber die Telefon- und Internetverbindungs- sowie Standortdaten von allen Menschen auf Vorrat speichern, für den Fall, dass irgendjemand möglicherweise etwas Verbotenes tut. Für die FDP und die Grünen innerhalb der Ampel gilt die Vorratsdatenspeicherung seit vielen Jahren als nicht akzeptabel. Aber in der Vergangenheit war die CDU die CDU und jetzt ist die SPD die SPD.

Man könnte natürlich kurz (ganz kurz) einmal aus Sicht der Vorratsdatenspeicherungsfans argumentieren. Es ist zum Beispiel aus Sicht mancher Ermittler eine verlockende Aussicht, bei jeder Form der digitalen Fragwürdigkeit auf ein riesiges Reservoir von höchstpersönlichen Daten zurückgreifen zu können. Aber eine zentrale Errungenschaft des Rechtsstaates steht dem diametral entgegen. Es braucht einen Verdacht, damit etwa die Polizei in intime Lebensbereiche von Menschen hineinleuchten kann. Und dass auch Verbindungsdaten ein solches Hineinleuchten ermöglichen, hat der EuGH am Dienstag wieder einmal klar zum Ausdruck gebracht.

Aber selbst wenn man diese höchstrichterlich bestätigte, grundrechtliche Zumutungslandschaft ausblenden wollen würde, ergäbe sich eine immer weniger plausible Situation. Denn als die Idee für die Vorratsdatenspeicherung entstand, war die digitale Sphäre noch eine völlig andere.

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Warum ist das relevant? Weil es eine große Verschiebung in den letzten Jahren gab, und zwar bei der Form von Kriminalität, die in den meisten Fällen als Hauptbegründung für die anlasslose Vorratsdatenspeicherung dient: dokumentierter Kindesmissbrauch. Diese katastrophale Kriminalität ist leider durch das Netz in neue Größenordnungen katapultiert worden, wogegen es zwingend und unbedingt und dringend auch drastische Gegenmittel braucht. Wer wollte das bestreiten?

Allerdings ist, um es vorsichtig auszudrücken, noch dem letzten Kindesmissbraucher klar, dass er Verbotenes tut. Weshalb inzwischen ein erheblicher Teil insbesondere der schlimmsten Verbrechen im Darknet stattfindet. Wo die Vorratsdatenspeicherung exakt nichts nutzt. Also wirklich: gar nichts. Weil die Technologie einzig darauf ausgelegt ist zu verschleiern, wer sich mit welcher Seite verbindet.

Ähnlich sieht es im Darknet des kleinen Mannes aus, also den mehr oder weniger verschlüsselten Messengern wie Telegram. Dafür aber kennt man, oder besser: kennen die Messenger-Betreiber ja die Telefonnummer, die wiederum zur Identifikation geeignet ist. Was bedeutet, dass bei einem Verdacht ein zumindest theoretisch gut funktionierender Ansatz gegeben wäre. Aber eben nur bei Verdacht.

Quelle         :          Spiegel-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   re:publica 2022: Bundesinnenministerin Nancy Faeser bei der Sesion ‚Der resiliente Staat: Die Folgen des Ukrainekriegs für das digitale Deutschland‘

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Unten      —       Sascha Lobo; 10 Jahre Wikipedia; Party am 15.01.2011 in Berlin.

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Rassismus+Rettungsdienst

Erstellt von DL-Redaktion am 18. September 2022

Mit Blaulicht nach rechts

Aus Köln und Berlin von Sebastian Erb und Anne Fromm

Hass auf Geflüchtete, Nazi-Geburtstage im Kalender, rassistische Chats: Rettungskräfte haben ein Problem mit Rechtsextremismus in den eigenen Reihen.

Gleich neben der Tür im Aufenthaltsraum der Feuer- und Rettungswache 9 in Köln, hängt ein Kalender. An einem Sommertag im Jahr 2020 stehen darin plötzlich ein paar neue Namen, mit blauem Kugelschreiber hineingekritzelt. Alle Sa­ni­tä­te­r:in­nen der Johanniter, die sich hier in der Pause einen Tee kochen oder auf den Sofas ausruhen, können sie sehen. Joseph Goebbels, Eva Braun, und am 20. April: Adolf.

Die Johanniter Unfallhilfe ist eine der großen Hilfsorganisationen in Deutschland. Evangelisch, der christlichen Nächstenliebe verpflichtet. Das weiß-rote Johanniter-Kreuz prangt auf Krankenwagen, auf Rettungshubschraubern, auf den Jacken von Sanitätern und Notärztinnen. In ganz Deutschland übernehmen die Johanniter einen Teil des Rettungsdienstes, 6.000 Mitarbeitende auf rund 300 Wachen gibt es. Ihre Hilfe richte sich an „Menschen gleich welcher Religion, Nationalität und Kultur“, heißt es im Leitbild der Organisation. Und: „Unser Umgang miteinander ist geprägt von Achtung und Respekt.“

Auf der Feuerwache 9 in Köln, wo die Johanniter unter anderem einen 24-Stunden-Rettungswagen besetzen, klaffen Leitbild und Wirklichkeit weit auseinander. Die Nazi-Geburtstage im Kalender sind nur der plakative Höhepunkt einer jahrelangen Entwicklung: Rechtsradikale konnten ihre Weltanschauung hier ziemlich frei ausleben. Ein Mitarbeiter hingegen, der das Problem ansprach, wurde gekündigt. „Ich wurde rausgemobbt“, sagt er.

In jüngerer Zeit ist der Rettungsdienst immer wieder in den Schlagzeilen. Es geht um Personalmangel, Überstunden, Überlastung. Es geht darum, dass etwa in Berlin von 140 Krankenwagen an einem Samstag nur 80 verfügbar sind, oder darum, dass Sa­ni­tä­te­r:in­nen im Dienst angegriffen wurden. Darüber wird zu recht gesprochen.

Über Rassismus und Rechtsextremismus im Rettungsdienst reden die Mit­ar­bei­te­r:in­nen dagegen nicht so gerne. In diesem Job verbringt man viel Zeit miteinander, auf engem Raum, in 12- oder 24-Stunden-Schichten. Man rast zusammen mit Blaulicht durch die Stadt, man meistert emotionale Einsätze gemeinsam – das verbindet, da verrät man einander nicht. Korpsgeist. Selbst wer sensibel für problematische Entwicklungen ist, schweigt oft lieber, aus Angst vor Konsequenzen am Arbeitsplatz.

Aber manche reden dann doch. In den vergangenen Monaten haben wir ausführlich mit mehr als einem Dutzend Rettungsdienst-Mitarbeitenden gesprochen. Die meisten wollen anonym bleiben. Sie arbeiten in verschiedenen Organisationen, in verschiedenen Bundesländern und in verschiedenen Positionen. Wir konnten Chatgruppen und interne Mails einsehen, Berichte und Unterlagen aus arbeitsrechtlichen Streitigkeiten. Wir stießen auf Rettungsdienst-Mitarbeitende, die sich gegenseitig ein NS-Lied auf dem Handy vorspielen oder gegenüber Kol­le­g:in­nen äußern, dass sie ein Flüchtlingsheim lieber anzünden würden, als den Be­woh­ne­r-in­nen dort zu helfen. Alles Fälle, von denen die Öffentlichkeit bislang nichts weiß.

Aus den Schilderungen und Dokumenten wird deutlich: Rechte Retter sind keine Ausnahme. Der Rettungsdienst in Deutschland hat ein Problem mit Rassismus und Rechtsextremismus – und kaum ein:e Vor­ge­setz­te-r unternimmt etwas dagegen. Seit dem Flüchtlingssommer 2015 ist die Lage offenbar schlimmer, oder zumindest offensichtlicher geworden. Leidtragend sind der taz-Recherche zufolge vor allem Mitarbeitende mit Migrationshintergrund – und Patient-innen.

Üble Spielchen auf Wache 9

Guido Schäpe, 52 Jahre alt, seit 2003 als Sanitäter auf der Feuer- und Rettungswache 9 in Köln-Mülheim, kann heute nicht mehr sagen, wann genau es anfing. Es waren viele kleinere Dinge, die zusammen ein dunkles Bild ergeben.

Da war der Anti-Islam-Aufkleber auf der Toilette. Der Kollege, der auf der Außenwache gerne die Junge Freiheit las. Die Flyer der „Identitären Bewegung“, die dort auslagen; zwei Mitarbeitende, die aus ihrer Nähe zur rechtsextremen Organisation vor dem Kollegium keinen Hehl machten. Einer der beiden hat schon vor Jahren ein Spiel geprägt, zum Zeitvertreib während der Fahrt. Sie nannten es das „Möp-Spiel“: Immer wenn man eine schwarze Person auf der Straße sieht, muss man „möp“ sagen. Gedanklich wurde dann eine Strichliste geführt. Das alles berichtet nicht nur Schäpe, es bestätigen auch mehrere seiner Kolleg-innen.

Fast 20 Jahre hat Guido Schäpe bei den Johannitern gearbeitet. Er hat sich fortgebildet, war erst Rettungssanitäter, dann Rettungsassistent, und seit 2017 Notfallsanitäter. Das ist die höchste Qualifikation nach dem Notarzt. Guido Schäpe ist ein großer Mann mit breitem Kreuz. Er ist politisch links eingestellt, so sagt er es über sich selbst. Aber noch mehr sagen das seine damaligen Kolleg:innen. Den langhaarigen Bombenleger aus Kreuzberg hätten sie ihn früher scherzhaft genannt. Damit kam er klar. Mit seiner Biografie war er auf der Wache eher der Außenseiter. Er hat jahrelang auf dem linken Musikfestival Fusion mitgearbeitet. Später war er für Sea Watch unterwegs und holte Geflüchtete aus dem Mittelmeer. „Wenn du einmal mit dem Rettungsdienst angefangen hast, dann willst du nie wieder etwas anderes arbeiten“, sagt Schäpe.

Nur habe das, was er mit dem Beruf verbunden hat – Menschen helfen, Leben retten – irgendwann nicht mehr zu dem gepasst, was er im Alltag erlebt habe. Verstärkt aufgefallen sei es ihm ab 2015, 2016, sagt Guido Schäpe.

Das, was manche Kol­le­g:in­nen in Köln von sich gaben, wurde eindeutiger, beunruhigender. Einige bekannten sich als AfD-Fans. Andere sprachen schlecht über Geflüchtete oder äußerten Reichsbürger-Parolen.

Und dann stehen im Sommer 2020 plötzlich die Nazi-Größen im Wandkalender. Der taz liegen Fotos davon vor. Es ist auf der Wache kein Geheimnis, wer die Namen eintrug. Mehrere Personen haben den Mann nach taz-Recherchen dabei beobachtet.

Es sind viele kleine Dinge, die zusammen ein dunkles Bild ergeben

Am 11. August 2020 schreibt Guido Schäpe eine Mail an seine Vorgesetzten bei den Johannitern, darunter der Regionalvorstand, der Wachleiter und der Dienstgruppenleiter. Auch die Mitarbeitenden Vertretung ist im Verteiler.

„Liebe Kollegen“, schreibt Schäpe, „leider muss ich euch von erschreckenden Entwicklungen auf der FW 9 berichten. In dem Wandkalender, der im Aufenthaltsraum des Containers hängt, wurden mehrere Geburtstage von Nazigrößen eingetragen.“ Es gebe Zeugen dafür, wer das gemacht habe, aber niemand wolle etwas sagen, aus Angst vor Ausgrenzung. Es gebe eine „Mauer des Schweigens“, es herrsche ein „Klima der Angst“ auf der Feuerwache 9, schreibt er und schildert in der Mail weitere rechte Vorfälle. „Die Leitwerte [der] Johanniter und der Humanismus werden hier mit Füssen getreten.“

Datei:Feuerwache 9, Berufsfeuerwehr Köln.jpg

Der Regionalvorstand Reinhold Lapp-Scheben antwortet Schäpe am nächsten Tag, die Mail geht auch an den Wachleiter und den Dienstgruppenleiter. „Die derzeit im Raum stehenden Vorwürfe“ verlangten eine „zeitnahe und gründliche Aufklärung“, schreibt der Regionalvorstand. Und: „Als Johanniter können und wollen wir, sollten sich die Vorwürfe erhärten, diese nicht dulden.“ Er bittet um sachdienliche Hinweise. „Wichtig ist, dass wir zeitnah agieren“. Er werde auch mit dem ärztlichen Leiter des Rettungsdienst sprechen, gegebenenfalls müsse ein Rettungswagen außer Dienst genommen werden. Weil man sich von einigen Mitarbeitenden kurzfristig trennen müsse. Er klingt ziemlich entschlossen.

Doch dann eskaliert die Angelegenheit in eine unerwartete Richtung.

Der Regionalvorstand und der Wachleiter bekommen wieder Post, aber nicht von Guido Schäpe. „Betreff: Personeller Konflikt Feuer-/Rettungswache 9“. Unterschrieben haben den Brief 20 von gut 50 Mitarbeitenden der Wache, auch der Dienstgruppenleiter soll darunter gewesen sein, erfährt Schäpe. Formuliert hat das Schreiben offenbar der Mann, der die Namen der Nazis in den Kalender eintrug.

In dem Brief üben die Unterzeichnenden Kritik an Guido Schäpe. Er habe nur im Notarztfahrzeug eingesetzt werden wollen und nicht im Rettungswagen, er habe Wohnungen nicht betreten wollen, aus Angst vor einer Corona-Ansteckung. Dies sorge für „Unmut und Unverständnis bei der Mitarbeiterschaft“. Nachdem Guido Schäpe darauf angesprochen worden sei, heißt es im Brief weiter, habe er „als vermeintliche Ablenkung vom eigentlichen Problem zu einem großen Paukenschlag ausgeholt, indem er einen nicht vorhandenen ‚Rassismus-Eklat‘ ins Leben gerufen hat.“ Man werde es nicht hinnehmen, dass hier „in unerträglicher Art und Weise das Personal der Rettungswache 9 in Verbindung mit vermeintlichem ‚Rassismus‘ gebracht wird“. Guido Schäpe, so die Forderung, solle die Wache verlassen.

Nicht im Brief steht, dass auf der Wache einige Mitarbeitende als Corona-Leugner aufgefallen sind und Schutzmaßnahmen offenbar nicht immer richtig eingehalten wurden. Mehrere Mitarbeiter verbreiten online Querdenker-Parolen, einer bezeichnet Karl Lauterbach in seinem WhatsApp-Status als „Hurensohn“.

Und jetzt? Sollen nicht die rechten Retter gehen, sondern der Mann, der Rassismus und Rechtsextremismus angesprochen hat.

Es kommt zu Treffen auf unterschiedlichen Ebenen, zu 18 Einzelgesprächen mit Mitarbeitenden. „Aber es gab keinen Willen, dass sich was ändert“, sagt Guido Schäpe rückblickend. Der Wachleiter habe ihm empfohlen, die „Umfeldbeleuchtung“ auszumachen, nicht mehr schauen, was die anderen so machen. Und der Dienstgruppenleiter habe ihm nahegelegt, er solle nicht „dauernd in alten Wunden rumdrücken“. So erinnert sich Schäpe.

Der Wachleiter will nicht mit der taz sprechen, der damalige Regionalvorstand der Johanniter, Reinhold Lapp-Scheben, ist nicht zu erreichen, er ist inzwischen in Rente. Die Pressesprecherin der Johanniter Köln antwortet zunächst nur ausweichend auf Fragen. Der Mann, der die Namen in den Kalender geschrieben haben soll, stimmt einem Gespräch mit der taz erst zu, sagt dann aber wieder ab. Als wir ihm Fragen schicken, behauptet er, er wisse nichts von einem Kalender. Er habe mit Nazis nichts zu tun. Er schreibt: „Woher nehmen Sie diese schwachsinnigen Falschinformationen, wer startet hier eine Hetzkampagne?“

Nicht alle Kol­le­g:in­nen auf der Wache sehen die Situation so dramatisch wie Guido Schäpe. Der sei als Linker eben angeeckt, sei ein sehr emotionaler Mensch, habe provoziert. Zur Entschuldigung führten manche an: Auch die Geburtstage von Jesus und Stalin seien im Kalender vermerkt gewesen.

Lieber Hetze als Hilfe

Eine Rettungswache an einem anderen Ort in NRW, sie wird vom Malteser Hilfsdienst besetzt, einer weiteren großen Hilfsorganisation in Deutschland. Sie ist katholisch und hat das Motto: „… weil Nähe zählt“. Die Wache liegt in der Nähe eines Wohngebiets, grasfreie Pflasterfugen, Vorstadtidylle. Mehrere Rettungswagen sind hier stationiert, 24 Stunden Bereitschaft, dazu kommen Krankentransporte. Genauer können wir den Ort nicht beschreiben, um unsere Quellen zu schützen.

Die Mitarbeitenden hier kommunizieren in mehreren Chatgruppen, eine hat einen offiziellen Charakter, dort geht es zum Beispiel um Dienstpläne und den Tausch von Einsatzschichten. In einer anderen Gruppe geht es um solche dienstlichen Belange nur am Rande. Diese Chatgruppe konnte die taz einsehen.

Die Kol­le­g:in­nen schicken sich dort Fotos und teilen private Veranstaltungstipps. Vor allem machen sie Witze, posten Memes aus dem Internet. Einige davon haben Bezug zu ihrem Job, etwa der Spruch: „Mit der Leitstelle ist es wie mit Frauen. Wenn du glaubst, sie zu verstehen, bist du sicher komplett auf dem Holzweg“. Manche Männer und Frauen aus der Gruppe verschicken sexistische Motive, etwa eine Fotomontage von Greta Thunberg mit riesigen Brüsten.

Und dann sind da die rassistischen Inhalte. Ein Foto von Schwarzen mit Federschmuck, darüber steht, dass Kannibalen in Papua-Neuguinea Flüchtlinge aufnehmen würden und der Satz „Damit ist das Thema gegessen“. Einer verschickt das Foto von einem schwarzen Jungen, mit dem Text: „Das ist Mabuto, sein Schulweg beträgt täglich 3 Stunden. Spende jetzt 5€ und wir kaufen eine Peitsche und wir garantieren, dass der faule N***** es in 8 min schafft“. Das N-Wort ist ausgeschrieben.

Niemand in der Gruppe reagiert darauf. Niemand sagt: Lasst das.

Der Rettungsdienst, das hören wir immer wieder, ist ein hartes Geschäft. Aggressive Patientient:innen, anstrengende Einsätze, schlaflose Nächte. Da braucht man etwas, um sich abzureagieren – deswegen hätten viele im Rettungsdienst einen derben Humor. Nur ist das, was in den Chatgruppen geteilt wird, eben keine harmloses Witzeln mehr.

Der Rassismus beschränkt sich nicht auf die Chatgruppe. Auf der Malteser-Wache werden Mit­ar­bei­te­r:in­nen von ihren eigenen Kol­le­g:in­nen rassistisch beschimpft, ergibt unsere Recherche. Ein Mitarbeiter, der aus Iran nach Deutschland gekommen ist, wurde als „Kameltreiber“ bezeichnet, eine andere Mitarbeiterin mit Migrationshintergrund als „scheiß Ausländerin“.

Rettungsdienst-Mitarbeitende aus ganz Deutschland berichten von solchen Vorfällen. Eine junge Frau mit Migrationshintergrund, die ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Arbeiter-Samariterbund abgebrochen hat, sagte der taz: „Es war die schlimmste Zeit meines Lebens.“ Wie sie sind es oft jüngere Personen, die für Rassismus und Sexismus sensibilisiert sind. Dahinter steht auch ein Generationenkonflikt beim Rettungsdienst: Die Jüngeren sind oft besser ausgebildet, haben aber weniger zu melden, weil sie in dem streng hierarchischen System weiter unten stehen.

Da ist der Sanitäter, der beim Einsatz im Fußballstadion die Spieler eines türkischen Vereins als „Dreckskanacken“ bezeichnete. Da ist der Dienstgruppenleiter, der einem Praktikanten sagte: „Deinen Nachname kann ich eh nicht aussprechen, ab sofort heißt du Isis oder Taliban“. Und da ist der Mann auf der Malteser-Rettungswache in NRW.

Ein Notfall in einem Flüchtlingsheim. Der Rettungsdienst-Mitarbeiter sagt: „Ich würde die Flüchtlinge lieber anzünden, als einem von ihnen zu helfen.“ Drumherum hätte ein knappes Dutzend Kol­le­g:in­nen gestanden, so schildert es eine Person, die dabei war. Die meisten hätten gelacht.

Der Landesverband der Malteser in Nordrhein-Westfalen teilt auf taz-Anfrage mit, diese Vorfälle seien auf Landesebene nicht bekannt. Man gehe ihnen „selbstverständlich unverzüglich“ nach. „Wir verurteilen so ein menschenverachtendes Verhalten, generell und insbesondere in unseren eigenen Reihen“, sagt ein Sprecher.

Die Sprüche unter Kol­le­g:in­nen sind das Eine. Sie sorgen dafür, dass etliche Sa­ni­tä­te­r:in­nen ihren Job weniger gern machen, besonders natürlich diejenigen, die direkt von rassistischen Bemerkungen betroffen sind. Sie kapseln sich auf der Wache ab, kündigen schließlich vielleicht. Aber dabei bleibt es nicht. Die rassistische Einstellung der rechten Retter hat auch Auswirkungen auf ihre zentrale Aufgabe: verletzten und kranken Menschen helfen. Leben retten. Wer in Not ist, muss dem Personal des Rettungsdienstes vertrauen. Man könnte sagen: Er oder sie ist diesen Menschen ausgeliefert, hat selten Chancen, sich zu wehren, weiß nicht, welche Diagnostik notwendig ist und welche nicht. Wer nicht gut Deutsch spricht, ist in der Not noch verletzlicher.

Werden schwarze, muslimische, eingewanderte Menschen schlechter behandelt als weiße Deutsche?

„Morbus Bosporus“

Es gibt einen Begriff, der in keinem normalen Medizinlehrbuch steht, der im Alltag des Rettungsdienstes aber in vielen Situationen benutzt wird, als sei er ein ganz normaler Fachbegriff: „Morbus Bosporus“. Manchmal ist auch von „Morbus Mediterraneus“ die Rede oder von dem „Südländer-Syndrom“. Manche sagen auch schlicht TMS. „Türke mit Schmerz“. Gemeint ist immer Dasselbe.

Die Begriffe werden verwendet bei Menschen, von denen angenommen wird, dass sie ursprünglich nicht aus Deutschland kommen, sondern irgendwo aus dem Süden, Mittelmeerraum, Naher Osten. Das wird an ihrem Aussehen festgemacht oder schlicht am Namen. Diese Menschen hätten ein anderes Schmerzempfinden – so sehen es offenbar viele im Rettungsdienst. Sie äußerten heftige Schmerzen, obwohl es gar nicht so schlimm sei. Man hält sie für Simulanten.

Datei:Rettungsdienst der Stadt Köln - Anlegen der Schutzausstattungen-5778.jpg

Wäre der Patient kein Türke gewesen, sondern blond und blauäugig, wäre ihm besser geholfen worden, vermutet ein Insider

Menschen gehen unterschiedlich mit Schmerz um. Es mag Hinweise geben, dass das auch kulturell bedingt ist. Für ihre Arbeit können Rettungskräfte daraus medizinisch begründet allerdings nichts ableiten. Dass es manche dennoch tun, hat Folgen: Pa­ti­en­t:in­nen werden schlechter behandelt, weil die von ihnen geäußerten Beschwerden nicht ernst genommen werden.

So halte es laut Schilderungen aus seinem Umfeld auch der Johanniter-Mitarbeiter, der die Nazi-Geburtstage in den Kalender geschrieben hat. Der Notfallsanitäter sei fachlich nicht schlecht, aber da sei eben seine Einstellung. Er trage stolz ein T-Shirt mit Deutschlandflagge, wenn er eine türkische Flagge sehe, rege er sich auf: „Ich hasse Türken“. Und Einsätze bei Menschen mit Migrationshintergrund seien für ihn oft: „nur Pillepalle“. In Köln-Mülheim leben viele Menschen mit Migrationshintergrund.

Wir bekommen diesen Vorfall geschildert: Ein Patient, der nur türkisch spricht, ist apathisch, kaltschweißig, sehr blass. Das sind durchaus Anzeichen für schwerwiegende Krankheiten. Der Notfallsanitäter sieht das anders, er bleibt während des Einsatzes im Führerhaus sitzen. Der Rettungssanitäter und der Auszubildende müssen alleine raus. Sie rufen die Tochter des Patienten an, damit sie übersetzt. „Wäre der Patient blond gewesen, mit blauen Augen, hätte er den Einsatz sofort übernommen“, sagt ein damaliger Kollege.

„Morbus Bosporus“, immer wieder: „Ich habe den Begriff bestimmt hundertmal gehört“, sagt ein langjähriger Notfallsanitäter, der für das Deutsche Rote Kreuz in Rheinland-Pfalz und Hessen im Einsatz war. Einer aus Niedersachsen sagt: „Jeder im Rettungsdienst kennt diesen Begriff“. Er habe die Bezeichnung sogar schon in Arztbriefen gelesen, berichtet ein leitender Rettungsdienst-Mitarbeiter aus Berlin.

Dass die diskriminierende Pseudo-Anamnese mit Begriffen wie „Morbus Bosporus“ ein Problem ist, hat auch Guido Schäpe in der Mail an seine Vorgesetzten erwähnt. Passiert ist: nichts.

Eine Sprecherin der Johanniter Köln bezeichnet den Begriff auf Anfrage als „absolut inakzeptable Bezeichnung“, die die Gefahr von „unvollständigen diagnostischen Maßnahmen“ berge.

Wie schlimm sind die Folgen für Betroffene, wenn Rettungsdienstmitarbeitende rassistische Vorurteile haben?

Allzu oft lässt sich das nur schwer sagen. Bei Notfallbehandlungen besteht ein gewisser Ermessensspielraum: Legt man nach einem Sturz ein EKG an, weil es eine organische Ursache geben könnte? Lässt man einen Verletzten zum Rettungswagen laufen oder trägt man ihn? Mehrere Ret­tungs­dienst­mit­ar­bei­te­r-in­nen berichten der taz, dass sie erlebt haben, wie dieser Spielraum bei von Rassismus betroffene Menschen eher weit ausgedehnt wird, und das nicht zu Gunsten der Patient-innen. Wir können zum Schutz der Quellen diese nicht genauer angeben.

Ein weiterer Einsatz der Johanniter in Köln: Eine Frau mit Kopftuch krümmt sich auf der Straße plötzlich unter heftigen Unterleibschmerzen, liegt in Embryohaltung auf dem Boden, Passanten wählen die 112. Aber die Rettungsdienstler nehmen das nicht richtig ernst. Nach dem Einsatz hätten sie Witze gemacht, „über das Kopftuch abgefuckt“ und gemeint, nur wegen der Regelblutung „macht die so ne Show“, dabei sei noch gar nicht klar gewesen, was sie hatte.

Auch auf der Malteser-Wache in NRW berichtet man uns, dass viele Kollegen bestimmten Menschen nicht helfen wollten: „Die haben keinen Bock auf die Behandlung von Geflüchteten.“ Sie würden dann keine richtige Anamnese erheben, keine Vitalparameter, sie würden nicht viel fragen und die Pa­ti­en­t:in­nen nur in den Rettungswagen verfrachten und ins Krankenhaus fahren.

Quelle      :         TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Rettungswagen und Notarzteinsatzfahrzeug

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2.von Oben      —      Feuerwache 9 der Berufsfeuerwehr Köln in der Bergisch-Gladbacher-Strasse.

Verfasser: G. Friedrich        /      Quelle      :    Eigene Arbeit

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Unten         —    Zwei Mitarbeiter des Rettungsdienstes mit FFP3-Masken als Mund-Nasen-Schutz, Schutzbrillen und Kittel

Verfasser    :        © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

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Aus alt mach alt – diesmal

Erstellt von DL-Redaktion am 7. September 2022

Verfassungsreferendum in Chile

Ein Schlagloch von Georg Diez

Beim Volksentscheid in Chile blieb die Veränderung dem Altbekannten unterlegen. Der Prozess hat allerdings einen demokratischen Diskurs angeschoben.

Politik braucht Imagination, Vorstellungskraft, Veränderungswillen – sonst gleitet sie ab in die Verwaltung des Status quo, was dann fast automatisch dazu führt, dass sie Interessen vertritt und nicht Prinzipien. Und es ist jetzt schon ein großer Erfolg des chilenischen Verfassungsprozesses, auch wenn der so vielversprechende Neuentwurf gerade in einem Referendum abgelehnt wurde, dass diese Imagination befreit wurde aus der Enge des Denkens der vergangenen Jahre und Jahrzehnte.

Wir leben, das wird in diesen Tagen wieder klar, wo Liz Truss laut New Statesman die rechteste britische Premierministerin mindestens seit Margaret Thatcher sein wird, wir leben am Ende des neoliberalen Zeitalters. Was nicht heißt, dass der Neoliberalismus am Ende ist; es heißt vor allem, dass die Verfassung der Welt, so wie der Neoliberalismus sie geschaffen hat, zu Verheerungen in den Menschen und in der Natur geführt hat, deren Folgen immer deutlicher werden – das Ende der Welt scheint da leichter vorstellbar als das Ende des Kapitalismus.

Und das Verwirrende dieser Situation ist, dass Dringlichkeit und Notwendigkeit der Veränderung immer deutlicher werden, die Folgen des Raubbaus der vergangenen Jahre und Jahrzehnte für Klima, Natur, Gerechtigkeit – dass die Kraft und der Mut aber oft genau denen zu fehlen scheint, die unter der Ungerechtigkeit des gegenwärtigen Regimes am meisten leiden. Die Abstimmung in Chile hat gezeigt, woran das liegen könnte.

Sie hat auch gezeigt, dass es eine neue, andere, offene Linke gibt, die es versteht, die verschiedenen Themen zusammenzuführen und neue politische Lebensentwürfe zu entwickeln, umfassend und menschenfreundlich. Es war, wie so oft, ein Kampf des Alten gegen das Neue. Der neue Verfassungsentwurf markierte die Grenze zur Vergangenheit, eine Vergangenheit unterstützt durch mächtige Interessen:

Mediale Kampagne im In- und Ausland

Chiles derzeitige Verfassung ist ein Produkt der Diktatur von General Pinochet, 1980 erdacht, um der Privatisierung und dem radikalen Staatsabbau den Weg zu bereiten – das Land wurde zum neoliberalen Labor erklärt, unterstützt von US-Ökonomen, die kein Problem damit hatten, Grundrechte wie Bildung, Gesundheit, Zugang zu sauberem Trinkwasser zu kommerzialisieren.

Wie mächtig diese Strukturen der Vergangenheit sind und bleiben, zeigte sich etwa in der medialen Kampagne gegen die neue Verfassung: In Chile selbst, wo der politische Diskurs massiv verengt ist, aber auch in internationalen Medien, die mit grenzüberschreitender Parteilichkeit – man könnte es auch Aktivismus oder Lobbyismus nennen – das Alte gegenüber dem Neuen favorisierten.

The Economist etwa, lange Leitmedium einer Umverteilung von unten nach oben, brachte Schreckenstexte mit Krawallbildern. Und die Washington Post, im Besitz des Internet-Milliardärs Jeff Bezos, warnte davor, dass Chile seine reichhaltige Lithiumproduktion durch die neue Verfassung anders, womöglich gerechter oder weniger umweltschädlich, gestalten könnte; Lithium treibt die Internet-Ökonomie an.

Georg Diez im Jahr 2018.jpg

Während also die Kräfte der Vergangenheit und des Status quo mächtig und gut organisiert waren, war auch der Kampf um die Zukunft nicht leicht, bleibt nicht leicht – auch das ist eine Lektion dieses Verfassungsprozesses, der schon deshalb inspirierend war, weil er eben über lange Zeit ein gesellschaftliches Großgespräch ermöglichte, wie die Wunden der Vergangenheit, koloniale Ausbeutung von Mensch und Natur, Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, Frauenfeindlichkeit, mit den Möglichkeiten und Erfordernissen des 21. Jahrhunderts in Einklang gebracht werden könnten.

Von Lateinamerika lernen

Der Verfassungsentwurf bleibt exemplarisch, weil er eine Ordnung nach dem Nationalstaat entwirft, einen plurinationalen Staat, in dem die souveränen Rechte der indigenen Bevölkerung anerkannt werden. Wobei der Gedanke eines sehr viel weiter gefassten politischen Rahmens eben auch für Nationalstaaten in Europa oder anderswo eine Inspiration sein sollte – der demokratische Diskurs ist in vielen Ländern so veränderungsscheu heruntergefahren, die politische Imagination des sogenannten Westens könnte so viel von Chile, aber auch Kolumbien und anderen lateinamerikanischen Ländern lernen, es ist ein Jammer, dass eine direktere Kraftübertragung ausbleibt.

Quelle      :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben       —     Santiago im April 2013

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Klare Kante – Chatkontrolle

Erstellt von DL-Redaktion am 31. August 2022

FDP-Papier bringt Innenministerin Faeser in Zugzwang

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von 

Chatnachrichten durchleuchten, private Fotos scannen: Für die FDP-geführten Ministerien kreuzt die von der EU-Kommission geplante Chatkontrolle an vielen Stellen „rote Linien“. Ein internes Dokument zeigt, die Bundesregierung ist sich bei dem Thema nicht ganz einig.

Die FDP-geführten Bundesministerien machen offenbar intern Druck auf die Bundesregierung, denn die von der EU-Kommission geplante Chatkontrolle geht ihnen zu weit. Das wird aus einer Liste von „roten Linien“ deutlich, die das Justizministerium und das Digitalministerium laut Tagesspiegel Background an das SPD-geführte Innenministerium geschickt haben. (Wir veröffentlichen die Liste im Volltext.)

Mit Chatkontrolle sind Pläne der EU-Kommission gemeint, um die Verbreitung von Aufnahmen sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen. Die Kommission hat im Mai einen Entwurf vorgelegt, der weitreichende Pflichten für Tech-Unternehmen vorsieht. Unter anderem sollen sie bekannte und bislang unbekannte Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder automatisch erkennen, auch in privaten Chats. Die Pläne haben teils vernichtende Kritik geerntet, unter anderem warnten die EU-Datenschutzbehörden vor einer anlasslosen Massenüberwachung.

Auch die Bundesregierung übte Kritik an den geplanten Maßnahmen. Sie löcherte die EU-Kommission in einem Schreiben mit mehr als 60 teils sehr pointierten Rückfragen, etwa zum Stellenwert der verschlüsselten Kommunikation oder den zu erwartenden Fehlerquoten bei der Erkennung solcher Bilder. Jetzt zeigt ein Schreiben, die kritische Haltung innerhalb der Bundesregierung ist offenbar nicht konsistent. Wie Tagesspiegel Background berichtet, wenden sich in dem Papier das  Justiz- und Digitalministerium an das in der Sache federführende Innenministerium (BMI) von SPD-Ministerin Nancy Faeser.

„Rote Linien“: Kein Scan nach unbekannten Aufnahmen

Die in dem Schreiben gezogenen „roten Linien“ betreffen den Kern der geplanten EU-Gesetzgebung. Unter anderem fordern die Ministerien: „Keine Regelungen, die zu einer Chatkontrolle führen“. Nachrichten, die man per Messenger oder E-Mail verschickt, sollen ausdrücklich von der automatisierten Durchsuchung ausgenommen werden. Damit würde die zentrale und namensgebende Maßnahme aus der geplanten Verordnung entfallen.

Auch Material, das Nutzer:innen in persönliche Cloudspeicher hochladen und mit niemandem teilen, etwa ein Backup der eigenen Fotos auf dem Handy, sollte demnach nicht unter die Anordnungen zur Durchsuchung fallen.

Ein weiterer Punkt dreht sich um einen besonders umstrittenen Teil der geplanten EU-Verordnung. Tech-Unternehmen sollen demnach nicht nur gezwungen werden, nach bereits bekanntem Material in den Daten ihrer Nutzer:innen suchen müssen. So etwas ist mit weniger invasiven Verfahren möglich. Die Unternehmen sollen darüber hinaus auch neues, bislang unbekanntes Material aufspüren. Außerdem sollen sie auch automatisch die Anbahnung sexueller Kontakte mit Minderjährigen erkennen, das sogenannte Grooming. Das bedeutet weitreichende Eingriffe in die Privatsphäre Millionen unschuldiger Nutzer:innen. Beide Maßnahmen sollen dem Papier zufolge verworfen werden.

Ende-zu-Ende-Verschlüsselung soll bleiben

In dem Papier kommen die Ministerien auch auf die Vertraulichkeit privater Kommunikation zu sprechen. Die EU-Verordnung soll demnach ausdrücklich ausschließen, dass Unternehmen die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung untergraben können, um automatisch Inhalte zu durchleuchten. Ende-zu-Ende-Verschlüsselung stellt sicher, dass nur Empfänger:in und Sender:in eine verschickte Nachricht lesen können. Eine Aufhebung der Verschlüsselung von Nachrichten würde insgesamt die Möglichkeit zur sicheren Kommunikation schwächen.

Das Papier lehnt auch ausdrücklich das sogenannte Client-Side-Scanning ab. Dabei durchleuchten Anbieter die Nachrichten ihrer Nutzer:innen direkt auf dem Gerät, noch bevor sie Ende-zu-Ende-verschlüsselt verschickt werden. Diese Methode gilt als eine der wenigen Möglichkeiten, um Inhalte trotz Ende-zu-Ende-Verschlüsselung überprüfen zu können. Doch auch ein Scannen vorm Verschicken schwächt anonyme Kommunikation. Davor hatten auch die EU-Datenschutzbehörden schon gewarnt.

Wojciech Wiewiórowski, Assistent Supervisor, European Data Protektion Supervisor

Nicht verhandelbare „rote Linien“ sind für die FDP-Ministerien offenbar auch die Kommissions-Pläne zur Alterskontrolle. Die EU-Kommission will, dass Anbieter das Alter Ihrer Nutzer:innen überprüfen. Die Ministerien fordern, im Text der Verordnung müsse ausgeschlossen werden, dass dabei ein Personalausweis oder ein anderes Identifikationsmittel vorgelegt werden muss. In Deutschland lässt sich die Volljährigkeit mit der Online-Ausweisfunktion bestätigen, ohne weitere Daten preiszugeben. Solche Technologien gibt es aber nicht für alle EU-Bürger:innen. Diese könnten dann gezwungen sein, weitere Daten preiszugeben.

Die Ministerien fordern auch, dass Inhalte und Verhaltensweisen, die nach nationalem Recht nicht strafbar seien, aus der Verordnung ausgenommen werden. Dabei geht es wohl um ein Problem, das das internationale Vorgehen gegen Darstellungen sexualisierter Gewalt erschwert. Je nach nationalem Recht sind bestimmte Aufnahmen nicht strafbar – etwa weil sich das Alter der sexuellen Mündigkeit unterscheidet. Das betrifft zum Beispiel Nacktaufnahmen, die beim einvernehmlichen Sexting zwischen Jugendlichen verschickt werden. Schon heute ist mehr als Hälfte der Tatverdächtigen bei sogenannter Kinderpornographie selbst minderjährig.

Kein Durchleuchten von Audionachrichten

Die FDP-Ministerien prangern einen weiteren Punkt an, der bislang kaum beachtet wurde. Zuletzt hatten ihn die EU-Datenschutzbehörden in ihrer Einschätzung aufgegriffen: Sprachnachrichten und Audiokommunikation in Echtzeit, also Telefonate, sollen demnach in der Verordnung ausdrücklich ausgenommen werden. Der Entwurf der EU-Kommission schließt bislang nicht ausdrücklich aus, dass Anbieter auch Audio-Dateien wie etwa Sprachnachrichten und Telefonate durchleuchten müssen.

Die Forderungen in der Liste sind teils sehr knapp gehalten und vor allem negativ formuliert: Es geht um das, was in der Verordnung nicht passieren darf. Ob die Ministerien darüber hinaus auch eigene Vorschläge für Alternativen machen werden und wann das Papier verschickt wurde, wollten wir gerne vom Justizministerium wissen. Zu Einzelheiten laufender regierungsinterner Abstimmungen äußere man sich nicht, war die Antwort. Stattdessen verwies das Ministerium auf ein allgemeines Statement des Justizministers Marco Buschmann zur Chatkontrolle. Er sei „sehr skeptisch, was diesen neuen Entwurf angeht“ und lehne eine „generelle flächendeckende Überwachungsmaßnahmen privater Korrespondenz“ ab.

Auch das Bundesinnenministerium schrieb auf Anfrage nur, dass im Rahmen der aktuellen Verhandlungen „nach gängiger Praxis“ alle beteiligten Ressorts aufgefordert wurden, ihre Position für die weitere Diskussion zu übermitteln.

Die Forderungen aus den FDP-Ressorts sind in dem Papier klar abgesteckt. Die Frage ist, was das Bundesinnenministerium nun damit macht. Zumindest einige der Forderungen lassen sich direkt aus dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung ableiten. Darin steht: „Maßnahmen zum Scannen privater Kommunikation und eine Identifizierungspflicht lehnen wir ab.“ In einem nächsten Schritt soll das Ministerium im Digitalausschuss des Bundestages einen Bericht zu den Plänen der Kommission vorstellen, wie Tagesspiegel Background berichtet.


Rote Linien BMDV und BMJ

Folgenden Forderungen müssen zumindest erfüllt sein, um dem Verordnungsentwurf der KOM (VO-E) zustimmen zu können („rote Linien“):

  • Klare Vorgaben für den Erlass von Aufdeckungsanordnungen (hinreichende Eingrenzung des „erheblichen Risikos“ in der VO, näheren Vorgaben für die Abwägungsentscheidung nach Art. 7 (4) b) des VO-E).
  • Keine Regelungen, die zu einer Chatkontrolle führen (auszuschließen durch Streichung der Anwendbarkeit des Art. 7 VO-E auf interpersonelle Kommunikationsdienste (insb. E-Mail-Dienste, Messenger) nach Art. 2 b) VO-E).
  • Ausschluss persönlicher Speicher, die nicht geteilt werden. Cloudspeicher, die etwa als Backup der eigenen Fotos auf dem Handy dienen, dürfen von den Regelungen zur Aufdeckungsanordnung ausdrücklich nicht erfasst werden (auszuschließen durch Ausschluss der Anwendbarkeit des Art. 7 VO-E auf persönliche Speicher).
  • Streichung der Anwendbarkeit des Art. 7 VO-E auf sog. unbekanntes Material und Grooming.
  • Expliziter Ausschluss des Einsatzes von Client-Side-Scanning und der Aufhebung der Ende-zu-Ende Verschlüsselung zur Erfüllung von Pflichten aus dem VO-E (auszuschließen in eigenem Artikel des VO-E).
  • Audiokommunikation (Sprachaufzeichnungen und Echtzeit-Audiokommunikation) ist wie in Interims-VO ausdrücklich vom Anwendungsbereich des VO-E auszuschließen.
  • Anbietern muss es möglich sein, die Pflichten aus dem VO-E (RisikobewertungRisikominderung, Löschung/Sperrung) zu erfüllen, ohne die in Artikel 10 Abs. 1 VO-E beschriebenen Aufdeckungstechnologien Dies ist im Text des VO-E festzulegen.
  • Altersverifizierung zur Umsetzung der Pflichten aus dem VO-E (wie Risikominderung, Artikel 4 VO-E, Verpflichtung für App-Stores in Artikel 6 (1)(c) VO-E) nur, wenn die Möglichkeit einer anonymen oder pseudonymen Nutzung der betroffenen Dienste gewahrt bleibt. Hierzu ist im Text des VO-E die Vorlage des Personalausweises oder eines anderen Identifikationsmittels zum Zweck der Altersverifizierung auszuschließen.
  • Keine Einbeziehung von Inhalten oder Verhaltensweisen, die nach nationalem Recht nicht strafbar sind (Begriffsbestimmungen in Artikel 2 des VO-E müssen die in der Richtlinie 2011/93/EU zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (RL) gewährten Entscheidungsspielräume der MS berücksichtigen, insbesondere hinsichtlich der Bestimmung des Alters der sexuellen Mündigkeit (Artikel 6 der RL) und der Straflosigkeit bestimmter Handlungen (Artikel 5 Abs. 8 der RL)).

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Oben     —   re:publica 2022: Bundesinnenministerin Nancy Faeser bei der Sesion ‚Der resiliente Staat: Die Folgen des Ukrainekriegs für das digitale Deutschland‘

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Ende Berliner Modellprojekt:

Erstellt von DL-Redaktion am 28. August 2022

Politik und Polizei streiten über Taser

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von     :   

Seit der Jahrtausendwende sind deutsche Spezialeinheiten mit „Distanzelektroimpulsgeräten“ ausgestattet, immer mehr Länder erlauben sie nun im Streifendienst. Innerhalb von drei Jahren starben sechs Personen in Deutschland nach einem Beschuss. Der Einsatz dieser Waffe ist in Berlin umkämpft.

Seit fünf Jahren testet die Polizei in Berlin Taser im alltäglichen Dienst. Dieser bereits um ein Jahr verlängerte Probelauf solle bald beendet und die Geräte nicht weiter benutzt werden, meldete das Berliner Boulevardblatt B.Z. vergangene Woche unter Berufung auf eine E-Mail des Staatssekretärs Torsten Akmann (SPD). Dem widerspricht seine Parteikollegin und vorgesetzte Innensenatorin Iris Spranger heute in einer Pressemitteilung, die mit den Worten „Der Taser muss bleiben“ beginnt. Ähnlich hatte sich die Sozialdemokratin bereits gegenüber der Presseagentur dpa geäußert.

Auch das Spezialeinsatzkommando (SEK) der Polizei Berlin verfügt über Taser. Für das SEK steht der Weiterbetrieb der Taser selbst beim linken Partner der Rot-Grün-Roten Koalition nicht infrage. Seit 2017 haben SEK-Einheiten die Geräte in drei Einsätzen zur Verhinderung eines Suizids genutzt, insgesamt wurden sie dort 18 Mal ausgelöst.

Schüsse „möglichst gegen den Rücken“

Die bei der Polizei bundesweit gebräuchlichen Taser werden als „Distanzelektroimpulsgeräte“ (DEIG) bezeichnet und stammen von der Firma Axon. Werden sie scharf gestellt, zeigen sie einen Lichtbogen zwischen den Elektroden, das Ziel wird mit einem farbigen Laser anvisiert. Taser können zwei Drähte mit Elektroden verschießen, die wenige Millimeter in die Haut eindringen. Das Opfer wird durch einen Stromimpuls für einige Sekunden gelähmt.

Seit der Jahrtausendwende werden Taser von der Polizei in allen Bundesländern genutzt, allerdings bis vor wenigen Jahren ausschließlich durch SEKs. In Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ist dies auch weiterhin der Fall. In Bremen sprach sich die Bürgerschaft dagegen aus, eine Ausnahme gibt es aber für Bremerhaven. Bundesweit sollen sie im vergangenen Jahr mindestens 1.005 Mal eingesetzt worden sein, berichtet das RedaktionsNetzwerk Deutschland unter Berufung auf eine Abfrage in allen Landesinnenministerien. Gegenüber 2020 ist dies ein Anstieg von über 65 Prozent. Als Grund dafür gilt eine groß angelegte Erprobungsphase in Nordrhein-Westfalen mit 1.392 Geräten. Insgesamt sollen die Landespolizeien und SEKs über mindestens 2.432 Taser verfügen.

Ein weiteres Pilotprojekt führt die Bundespolizei in Berlin, Kaiserslautern und Frankfurt/Main Hauptbahnhof durch. Dort sollen die Beamt:innen laut einer Verwaltungsvorschrift Schüsse „möglichst gegen den Rücken“ oder auf den unteren Oberkörper der Zielperson abfeuern. Nicht erlaubt ist die gleichzeitige Nutzung zweier Geräte gegen eine Person. Auf Kinder darf geschossen werden, wenn es sich um Notwehr oder Nothilfe handelt.

40 weitere Taser für Berlin

Im Rahmen des Berliner Modellprojekts sind die Polizeiabschnitte 53 (Kreuzberg) und 57 (Mitte) mit jeweils zehn Tasern ausgestattet. Die „Brennpunkt-und Präsenzeinheit“ der Polizeidirektion 5 (City) hat weitere acht. Zusammen mit Geräten, die zur Aus- und Fortbildung oder als Reserve dienen, wurden für das Projekt 40 Taser beschafft.

Der Probelauf beim Streifendienst geht auf eine Idee des früheren CDU-Innensenators Frank Henkel zurück, umgesetzt wurde es aber durch seinen SPD-Nachfolger Andreas Geisel. Laut der Antwort auf eine Anfrage des Linken-Abgeordneten und innenpolitischen Sprechers der Fraktion, Niklas Schrader, hat die Berliner Polizei dafür 144.102 Euro ausgegeben. Darin enthalten sind auch „Munition“ und die Wartung der Geräte. Im Februar, zum Zeitpunkt der Anfrage, waren 69 Beamt:innen für den Einsatz an einem DEIG geschult.

Den Zahlen zufolge nutzte der Streifendienst die „Distanzelektroimpulsgeräte“ wenig. Seit 2017 seien sie 15 Mal ausgelöst worden, in ähnlich vielen Fällen wurde der Einsatz nur angedroht. Komplikationen nach den Einsätzen sind dem Senat laut eigener Auskunft nicht bekannt. In einer früheren Antwort hatte es geheißen, die Taser hinterließen „lediglich kleine Wundmale durch die Elektroden“. Die Betroffenen seien deshalb ärztlich versorgt worden.

Polizeigewerkschaft will Taser wie Knüppel einsetzen

Der Berliner Taser-Test endet offiziell am 31. Dezember 2022. Dann will der Senat entscheiden, ob weitere Dienststellen damit ausgestattet werden. Darauf verweist auch die Innensenatorin Spranger in ihrer heutigen Pressemitteilung. „Dafür werde ich mir die Ergebnisse der Evaluierung genau ansehen“, schreibt Spranger. Fällt diese Entscheidung negativ aus, sollen die übrig bleibenden Geräte dem SEK zur Verfügung gestellt werden, erklärte der Senat im Februar.

Eine Lehrstunde der Demokratie für den kleinen Olaf als Bürgermeister von Hamburg.

In sämtlichen Einsätzen lagen laut der Antwort des Senats auf die Anfrage von Niklas Schrader die Voraussetzungen für den Schusswaffengebrauch vor. Die Taser dürfen also nicht wie ein Polizeiknüppel oder Pfefferspray genutzt werden.

Genau dies erzürnt die Polizeigewerkschaften, die seit Beginn des Modellprojekts eine Absenkung der Schwelle fordern. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) beklagt ein „Misstrauen“ in die Polizei. Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) unterstellt der „Berliner Politik“ eine „Realitätsverweigerung, vermutlich aus ideologischen Gründen“.

Kein Gesetz für Taser in Berlin

Der DPolG-Landessprecher will den Probelauf deshalb sogar noch erweitern und fordert, „seine Rechtsgrundlagen zu verbessern“. Diese Rechtsgrundlagen existieren jedoch gar nicht, weil der Senat für die Taser kein eigenes Gesetz erlassen hat. Deshalb gelten sie weiterhin als Schusswaffe und sind dem Gebrauch von Pistolen oder Langwaffen gleichgestellt.

Auch die Opposition hat das Thema nach dem Boulevard-Bericht skandalisiert. Der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion spricht von einem „Kniefall“ der SPD-geführten Innenverwaltung „vor Polizeigegnern der Linken und Grünen“. Tatsächlich sind die Berliner Grünen jedoch in der Frage nicht pauschal ablehnend. „Ich bin grundsätzlich skeptisch, weil es zu wenig Zahlen für eine valide Datengrundlage gibt“, schreibt Vasili Franco auf Nachfrage von netzpolitik.org. Taser könnten jedoch „grundsätzlich sinnvoll sein“, so der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion.

Deutlich gegen die Ausweitung von Tasern auf den Berliner Streifendienst – jedoch für die Beibehaltung bei SEKs – spricht sich Amnesty International in Deutschland aus und verweist auf Zahlen der US-amerikanischen Sektion. Deren Statistiken zählen bereits Hunderte von Toten im Zusammenhang mit Taser-Einsätzen.

Sechs Tote nach Einsätzen in Deutschland

In Deutschland starben in den vergangenen drei Jahren sechs Personen nach dem Beschuss mit einem Taser, davon je zwei in Rheinland-Pfalz und Hessen, zwei weitere in Bayern und Niedersachsen. Außer Niedersachsen erlauben diese Bundesländer den Taser-Einsatz auch im Streifendienst.

Meist befanden sich die Betroffenen der tödlichen Einsätze in einer psychischen Ausnahmesituation. „Für so etwas ist die Polizei aber nicht ausgebildet“, schreibt Niklas Schrader dazu auf Anfrage von netzpolitik.org. Ziel müsse es deshalb sein, gefährliche Situationen zu deeskalieren, „und zwar bevor es zum Einsatz von Waffen kommt“. Würde der Taser polizeiliches Alltagsinstrument, stiegen die Gefahren insbesondere für Menschen mit Vorerkrankungen oder unter Drogeneinfluss.

Der grüne Innenpolitiker Vasili Franco will statt Polizei mit Taser oder Schusswaffe lieber „multiprofessionelle Kriseninterventionsteams“ in kritische Einsätze schicken. Diese seien „ein Ansatz, der sowohl Polizei wirksam unterstützen und Betroffene besser schützen könnte“. Schrader verweist dazu auf den Berliner Koalitionsvertrag von Linken, Grünen und Sozialdemokrat:innen, der die Schaffung von „mobilen Kriseninterventionsteam“ mit psychologisch ausgebildeten Fachleuten vorsieht. Diese sollen in einem Modellprojekt erprobt werden. Die Ausweitung des Taser-Einsatzes sei hingegen im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen, merkt Schrader an.

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Oben     —   Der X-26-TASER (älteres Modell von Axon) in der Polizei-Version

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Fragwürdige Pressearbeit:

Erstellt von DL-Redaktion am 17. August 2022

Die Polizei ist keine privilegierte Quelle

Eintracht hooligans2.jpg

Polizei und Behörden sind nicht mehr als die Lakaien ihrer Regierungen.

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von    : 

Zu viele Journalist:innen übernehmen unkritisch, was die Polizei sagt, schreibt und twittert. Dabei ist nach unzähligen Vorfällen klar: Die Polizei ist nicht neutral, sondern ein eigenständiger Akteur in der öffentlichen Meinungsbildung. Es wird Zeit, sie auch so zu behandeln.

Die Polizei gilt, wie Behörden und Nachrichtenagenturen, vielen Journalist:innen als „privilegierte Quelle“. Gemeint ist, dass man dieser Quelle vertrauen kann, weil sie nüchtern, sachlich und wahrheitsgemäß berichtet. Und weil man vertraut, übernimmt man mit weniger Prüfung, was diese Quelle sagt.

Das Konzept der privilegierten Quelle ist an sich schon fragwürdig. Schließlich können auch Nachrichtenagenturen oder Behörden Fehler unterlaufen. Noch fragwürdiger ist das Konzept im Fall der Polizei. Häufig sehen wir, dass die Polizei nicht sachlich kommuniziert, sondern selbst zum Akteur der öffentlichen Meinungsbildung wird.

Aber trotz zahlreicher Vorfälle von Desinformation in den letzten Jahren schreiben immer noch viele Journalist:innen treu-doof ab, was die Polizei auf Twitter, in Pressemitteilungen oder über ihre Sprecher:innen verbreitet. Dabei ist nicht erst seit dem vergangenen Wochenende Vorsicht angesagt.

Da demonstrierte die Klimabewegung „Ende Gelände“ in Hamburg. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrant:innen. Die Polizei behauptet bis heute auf Twitter, sie sei von den Demonstrierenden mit Pfefferspray angegriffen worden und habe danach die Versammlung aufgelöst und selbst Pfefferspray eingesetzt. Eine Nachricht, die dazu geeignet ist, die Klimaproteste – die selbst unter dem Konsens stehen, keine Menschen zu gefährden – zu diskreditieren. Die Polizei-Version wurde von Teilen der Presse ungeprüft übernommen, in Springer-Medien machte man sie gar zur Überschrift, die AfD nutzte sie zur Stimmungsmache.

Nun kam heraus, dass die Polizei sich vermutlich selbst mit dem Reizgas verletzt hat als sie es unkontrolliert in den Wind sprühte. Diese Version hat auch der Spiegel-Reporter Jonas Schaible vor Ort gesehen und so aufgeschrieben.

Auch die Polizei schließt nun auf Hamburg1 und beim NDR nicht mehr aus, dass sie sich selbst mit dem Reizgas getroffen habe. Zugleich schreibt sie auf Twitter weiter, Polizeikräfte vor Ort hätten gemeldet, „dass sie aus der Personengruppe heraus mit Pfefferspray angegriffen wurden“ und verwehrt sich gegen den Vorwurf, Fake News zu verbreiten.

Wiederholungstäter Polizei

Dieses Verhalten ist nicht neu. Die Polizei ist im Hinblick auf politische Proteste immer wieder mit Falschmeldungen aufgefallen. Populäres Beispiel ist der „Türknauf des Todes“, mit dem die Berliner Polizei vor einigen Jahren auf Twitter Stimmung gegen Besetzer:innen eines Hauses machte. Unvergessen auch die Behauptung beim G8-Gipfel in Heiligendamm, die Polizei werde von Clowns mit Säure angegriffen – am Ende handelte es bei der Flüssigkeit offenbar um Pustefix.

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Heute wird aus Notwehr geschossen

Ebenfalls um Säure ging es im Jahr 2016, als die Berliner Polizei kolportierte, sie sei auf einer Demonstration mit „Säure-Konfetti“ beworfen worden – gemeint war Papier, das mit chemischen Stoffen behandelt worden sein soll. Auch das stellte sich als falsch heraus.

Dass die Polizei auch bei der Nennung von Zahlen hinterfragt werden muss, zeigt eine Episode vom G20-Gipfel in Hamburg. Da schrieb die Hamburger Polizei ohne jegliche Einordnung in einer Pressemitteilung: „Die Zahl der verletzten Polizeibeamtinnen und -beamten erhöhte sich auf 476.“ Der Kontext der Meldung suggerierte, dass diese Beamten:innen im Protestgeschehen verletzt wurden. Die Welt titelte dann auch: „Bei G20-Krawallen bisher 476 verletzte Beamte“. Eine Recherche von Buzzfeed zeigte aber: Etwa die Hälfte der Beamten hatte sich schon vor den eigentlichen G20-Protesten verletzt und nur 21 der 476 waren so schwer verletzt, dass sie am Folgetag nicht arbeiten konnten.

Bei fragwürdiger Pressearbeit muss es übrigens nicht immer um Proteste gehen: Jüngst stellte das Bundeskriminalamt den Anstieg von Straftaten im Zusammenhang mit Darstellungen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder in einer Pressemitteilung irreführend dar. Die dpa, als Nachrichtenagentur selbst eine „privilegierte Quelle“, übernahm die Polizeimeldung ungeprüft und musste später korrigieren.

Die Fälle zeigen: Wer es mit dem Journalismus ernst meint, muss polizeiliche Verlautbarungen überprüfen und darf diese nicht einfach übernehmen. Man muss nachfragen und nachhaken, eine zweite Meinung oder unabhängige Zahlen einholen, sich durch soziale Medien wühlen, andere zu Wort kommen lassen. Schlicht gesagt: die Plausibilität der polizeilichen Aussagen prüfen.

Gut aussehen in der Öffentlichkeit

Polizeien werden von verschiedenen Interessen geleitet: Einerseits wollen sie in der Öffentlichkeit gut aussehen, letztlich geliebt und respektiert werden. Da machen sich Bilder von kontroversem polizeilichem Verhalten, von Fehlern und Polizeigewalt immer schlecht. Dazu kommt eine ausgeprägte Abwesenheit von Fehlerkultur bei gleichzeitiger Anwesenheit von Korpsgeist. Gefördert wird dies durch eine obrigkeitsstaatliche Verherrlichung des Polizeiapparates quer über die Parteien hinweg.

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Bundeswehr in Schulen Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

In ihren Uniformnen sehen alle Täter gleich dumm aus

Die Glaubwürdigkeit polizeilicher Kommunikation leidet vor allem in Fällen wie in Dortmund, wo die Polizei vergangene Woche einen psychisch kranken Jugendlichen erschoss. In einer internen Mitteilung erklärte das Polizeipräsidium Dortmund, dass keine:r der zwölf beteiligten Polizist:innen in der Situation die Bodycam angeschaltet habe.

Dass ausgerechnet in Fällen von Polizeigewalt die Bodycams nichts aufzeichnen, passiert immer wieder: Mal sind die Akkus plötzlich leer gewesen, als Polizeibeamte einen Festgenommenen mit Tritten traktieren, ein anderes Mal wurden die Bodycams nicht eingeschaltet, als ein Mensch in Mannheim bei einer Polizeikontrolle stirbt. Oder die Videokameras haben einen „Wackelkontakt“ und entscheidende 62 Sekunden fehlen, wenn bayerische Beamte ohne erkennbaren Grund Fußballfans verprügeln.

Interessengeleitete Behörden

Andere Interessen der Polizei können eher systemischer Art sein, zum Beispiel das Bedürfnis nach mehr Budget, mehr Personal oder mehr Befugnissen. Diese Wünsche, die in Deutschland lautstark von mehreren Polizeigewerkschaften artikuliert werden, können sich auch in offizielle Pressemitteilungen in eher indirekter Form einschleichen – beispielsweise über eine irreführende Darstellung von Kriminalitätssteigerungen.

Dabei gibt es eigentlich klare Regeln, wie polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit zu laufen hat: Die Polizeibehörden haben keine Meinungsfreiheit, sondern sind dem staatlichen Gebot verpflichtet neutral, sachlich und richtig zu kommunizieren. Neutral ist hierbei als politisch neutral zu verstehen.

Weil die Polizei diese Regeln immer wieder verletzt, muss die Presse sie endlich wie eine ganz normale Quelle behandeln.

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Oben     —     Ultras des Fußballvereins de:Eintracht Frankfurtanlässlich eines Lokalderbys (gegen Offenbach, August 2009). Die Polizei greift ein, nachdem es Verletzte gab.

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 16. August 2022

Polizeigewalt in Deutschland: Fehler im System

Rote Flagge II.svg

Von     :    Fatma Aydemir

Vier Tote durch Polizeigewalt in einer Woche. Solange es keine neutralen Ermittlungen gibt, kann man sich nicht sicher fühlen, findet unsere Autorin.

Wir haben ein Polizeiproblem. Und das nicht erst seit ein paar Tagen. Wenn sich die Todesfälle durch Polizeigewalt so häufen wie in der letzten Woche, dann ist das ein Grund mehr, alarmiert zu sein. Im Frankfurter Bahnhofsviertel wurde ein wohnungsloser 23-Jähriger am Dienstag vergangener Woche mit einem Kopfschuss von Polizeibeamten getötet. Am Tag darauf erschoss die Polizei einen 48-jährigen Kölner, der sich gegen die Zwangsräumung seiner Mietwohnung gewehrt hatte. Beide Opfer sollen mit Messern bewaffnet gewesen sein. Am Sonntag verstarb ein 39 Jahre alter Mann im Kreis Recklinghausen nach Fixierung und Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei – der Mann hatte in einer Wohnung randaliert.

Nicht nur in diesen drei Fällen stellt sich dringend die Frage, wie unfähig die Polizei im Umgang mit aufgebrachten, existenziell bedrohten, traumatisierten oder unter Drogeneinfluss stehenden Menschen sein muss, dass sie ein tödliches Ende nehmen. Am Montag kam es zu einem weiteren Fall: Ein suizidaler 16-Jähriger, der unbegleitet aus dem Senegal geflohen und in einer Jugendhilfeeinrichtung in Dortmund untergekommen war, wurde getötet. Ein Betreuer habe die Polizei verständigt, weil der Jugendliche mit einem Messer unterwegs gewesen sei und „bedrohlich“ gewirkt habe.

Bei einem Polizeieinsatz wurde der Junge von fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole getroffen. Fünf Schüsse, weil er ein Messer bei sich trug, mit dem er sich offensichtlich vor allem selbst verletzte? Wie konkret kann eine Bedrohungslage sein, dass mehrmals mit einer MP5 auf einen Minderjährigen gefeuert werden muss? Was rechtfertigt so etwas?

Verhältnismäßigkeit ist keine brauchbare Kategorie mehr, wenn Polizeigewalt eskaliert

Gedenkstele für die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg.jpg

Wenn der Mord zum täglichen Polizeialltag mutiert hat der Staat versagt.

Solange diese Fragen nicht geklärt sind, solange die Polizei sich nicht unabhängigen Ermittlungen stellen und mit Konsequenzen rechnen muss, ist es schier unmöglich, sich in diesem Land sicher zu fühlen. Verhältnismäßigkeit ist keine brauchbare Kategorie mehr angesichts der Eskalation, die von der deutschen Polizei gegenüber armen, kranken oder schwarzen Menschen ausgeht. Oury ­Jalloh, der 2005 in Polizeigewahrsam in Dessau starb, dürfte der bekannteste ungeklärte Todesfall durch Polizeigewalt in der jüngeren deutschen Geschichte sein. Er ist bei Weitem nicht der einzige. Jahr für Jahr wird die Liste der Namen von bei Festnahmen oder in Gewahrsam getöteten Menschen länger. Ermittlungen finden statt, doch zu Verurteilungen von Polizisten kommt es so gut wie nie. Stattdessen wird vertuscht und abgewimmelt. Niemand weiß, wer Oury Jalloh in seiner Zelle an eine Matratze gefesselt und angezündet hat.

Die eigene Macht schützen

Quelle        :       TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten     —           Gedenkstele aus Beton für die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Text: „Zum Gedenken an die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt“. Es wurde wahrscheinlich am 26.09.2020 errichtet.

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Der Fall Kellermayr:

Erstellt von DL-Redaktion am 8. August 2022

Das dreifache Versagen der Polizei

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von       :     

Die österreichischen Sicherheitsbehörden haben im Fall Lisa-Maria Kellermayr die Gefahrenlage offenbar lange unterschätzt. Umso mehr ist nun zu hoffen, dass der Tod der Ärztin endlich zu einem Umdenken führt. Ein Kommentar.

Vor genau einer Woche wurde Lisa-Maria Kellermayr leblos in ihren Praxisräumen aufgefunden. Der Suizid der Ärztin hat eine intensive Debatte um die fatalen Folgen von Gewalt und Hetze im Netz ausgelöst. Vor allem die österreichischen Polizeibehörden müssen sich fragen lassen, warum sie die Attacken aus dem Querdenker:innen-Milieu nicht ausreichend ernst nahmen, sondern vielmehr herunterspielten.

Umso mehr aber ist nun zu hoffen, dass der Tod Kellermayrs nicht nur die Landespolizeidirektion Oberösterreich zum Umdenken bewegt. Denn der Fall offenbart geradezu exemplarisch ein dreifaches polizeiliches Versagen: Erstens haben die Sicherheitsbehörden das Problem im Vorfeld offenkundig nicht nur verharmlost, sondern ihre Ermittlungen zweitens auch nur mit wenig Engagement betrieben. Und drittens versuchten sie, allzu kritische Nachfragen nach einem möglichen Fehlverhalten abzuwürgen.

Öffentliche Diskreditierung

In den zurückliegenden Monaten hatte sich Kellermayr immer wieder öffentlich für Corona-Infizierte und -Maßnahmen eingesetzt. Aus diesem Grund hatten Querdenker:innen und rechte Verschwörungsgläubige die Ärztin attackiert – mit dem Ziel, sie mundtot zu machen oder gar zu vernichten. Was Kellermayr erlebt habe, sei „gezielter Terror von radikalen Impfgegnern und Rechtsextremen“ gewesen, so die österreichische Journalistin Ingrid Brodnig.

Trotz der massiven Angriffe ließ sich Kellermayr nicht einschüchtern. Stattdessen suchte sie Hilfe bei der Polizei und erstattete Anzeige. Als Kellermayr Morddrohungen erhielt, richtete sie sich an die Öffentlichkeit. Daraufhin wurde sie vom Leiter der Pressestelle der Landespolizeidirektion Oberösterreich, David Furtner, öffentlich diskreditiert. Er behauptete, Kellermayr wolle sich profilieren und „über die Medien das eigene Fortkommen“ fördern.

Auch nach Kellermayrs Tod verteidigen die zuständigen Polizeibehörden ihr Handeln: Seit November 2021 habe man die Ärztin polizeilich beraten, heißt es in einer Stellungnahme. Es sei „zu zahlreichen weiteren Kontaktaufnahmen und Gesprächen“ gekommen, dabei seien „alle gesetzlich möglichen Maßnahmen“ ausgeschöpft worden. Ebenso betont Österreichs Innenminister Gerhard Karner (ÖVP), „ein reflexartiges und generelles Schlechtreden der Polizistinnen und Polizisten und der Polizeiarbeit in unserem Land ist […] völlig unangebracht und unzulässig.“

Ermittlungen liefen ins Leere

Kellermayr hat sich nach eigenen Angaben vor allem selbst um ihre Sicherheit kümmern müssen. So habe sie unter anderem für Sicherheitstüren und -fenster sowie einen sicheren Rückzugsraum in ihrer Praxis rund 100.000 Euro bezahlt, wie sie auf ihrer Internetseite schrieb. Ende Juni entschied sie sich schließlich, ihre Praxis  zu schließen, weil die Ermittlungen der oberösterreichischen Polizei nicht vorankämen und sie sich zunehmend unsicher fühle.

Zuvor hatte die Landespolizeidirektion gegenüber Kellermayr erklärt, dass sie den Absender ihrer Hass-Mails nicht ermitteln konnte, weil deren Spuren sich im Darknet verlören. Doch was der Polizei nicht gelang, schaffte die Hacktivistin Ornella Al-Lami aus Deutschland innerhalb weniger Stunden. Unter dem Pseudonym „Nella“ kontaktierte sie Kellermayr über Twitter, um die Ermittlungen privat zu unterstützen. Am 29. Juni vermeldete „Nella“, dass sie den möglichen Kreis an Tätern stark eingrenzen konnte, die Spur führte unter anderem zu einem einschlägig bekannten Rechtsextremen in Berlin.

Statt mit der Hacktivistin zu kooperieren, versuchte die oberösterreichischen Polizei daraufhin, deren Recherchen in Verruf zu bringen. Die Staatsanwaltschaft erklärte, dass sie bei Tatverdächtigen aus Deutschland nicht zuständig sei. Man habe Namen an die deutschen Behörden übermittelt.

Fehlender Aufklärungswille

Auf Kritik und Nachfragen reagierte die Landespolizeidirektion Oberösterreich nervös. So erhielt sie bereits im Mai eine Presseanfrage der ZDF-Journalistin Julia Klaus und ging in „Abwehrhaltung“: Laut polizeilicher Akten widme „sich der journalistische Fragesteller weniger dem Täter“, sondern sei vielmehr „bestrebt ein mögliches Polizeiversagen herbeizureden.“

Und erst vor wenigen Tagen hatte der Programmierer Fabian Pimminger den oberösterreichischen Polizeisprecher Furtner auf Twitter für dessen öffentliche Aussagen vor dem Tod der Ärztin kritisiert. Furtner hatte ihm daraufhin von seinem Anwalt eine Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung zukommen lassen. Inzwischen ist es zu einer außergerichtlichen Einigung gekommen.

Nach dem Tod Kellermayrs haben die österreichischen Behörden ihre Ermittlungen wieder aufgenommen, die „inländische Gerichtsbarkeit“ sei wieder gegeben. Nach einem Hinweis aus Österreich hat die Generalstaatsanwaltschaft München eine Hausdurchsuchung bei einem Verdächtigen durchgeführt.

Der Fall Kellermayr steht exemplarisch dafür, wie im Netz und von polizeilicher Seite mit Hass im Netz umgegangen wird. „Der Tod von Lisa-Maria Kellermayr ist kein Alarmsignal. Er ist die Konsequenz daraus, dass Alarmsignale ständig überhört werden“, schreibt der Journalist Christian Vooren zutreffend auf Twitter.

Und die Serie der Alarmsignale setzt sich fort. Erst vor wenigen Tagen deaktivierten unter anderem die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl und der Anwalt Chan-jo Jun ihre Twitter-Konten, um der zunehmenden Hetze in ihren Kanälen zu entkommen. „Eine furchtbare, dramatische Entwicklung“, kritisiert der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) diese Entwicklung, die Plattform und die Behörden versagten darin, „Demokratie und Meinungsfreiheit zu schützen“.

Der Tod von Lisa-Maria Kellermayr sollte uns daher vor allem eines verdeutlichen: Solange wir als Gesellschaft Hass nicht entschieden begegnen, solange können Querdenker:innen und Verschwörungsgläubige weiter ungehindert im Netz und auf der Straße hetzen – und die Schadenfreude über die Opfer ihrer Gewalt kundtun.

Fühlst du dich antriebslos oder bist in einer scheinbar ausweglosen Situation? Unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 findest du zu jeder Tags- und Nachtzeit Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen, welche Form der Therapie dir helfen könnte. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen bietet die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention.

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Oben     —   seen in front of the austrian parliament in vienna. note that there are three people in this picture that keep the parliament clean ;-).

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Die Polizei Berlin:

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Juli 2022

Dutzende Beamte verstießen gegen Datenschutzvorgaben

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von               :        

Immer wieder gerät die Berliner Polizei wegen Datenschutzproblemen in die Schlagzeilen. Jetzt hat sie selbst zahlreiche Beamte aufgespürt, die wiederholt gegen interne Weisungen zum Thema verstoßen haben.

Eine interne Untersuchung der Berliner Polizei hat ergeben, dass dutzende Polizist:innen in der Hauptstadt wiederholt gegen Weisungen zum Datenschutz verstoßen haben. Darüber informiert die Behörde in einer Pressemitteilung.

Konkret geht es um Zugriffe auf das Polizeiliche Landessystem für Information, Kommunikation und Sachbearbeitung, kurz POLIKS. In Berlin haben Polizist:innen Zugriff auf mehr als 130 unterschiedliche Datenbanken. Über POLIKS können sie etwa Informationen über Adressen oder Vorstrafen von Bürger:innen einsehen. Um Missbrauch dieser umfangreichen Befugnisse besser aufklären zu können, werden die POLIKS-Zugriffe protokolliert, Beamte müssen zudem einen Grund für ihre Anfrage angeben.

Der Pressemitteilung zufolge haben 83 Polizist:innen die hierfür geltenden Vorgaben missachtet und nicht angemessen dokumentiert, warum sie Informationen über bestimmte Personen abrufen. Dabei handelt es sich offenbar um Wiederholungstäter:innen, die mehrfach gegen die Regeln verstoßen haben.

Immer wieder Datenschutzprobleme bei der Polizei

Schon 2019 hatte die Berliner Datenschutzbehörde bemängelt, dass in diesem Bereich Probleme gibt. Damals ging es in erster Linie darum, dass die Polizei persönliche Infos von Bürger:innen rechtswidrig weiter gespeichert haben soll, obwohl sie diese hätte löschen müssen. Dabei stellte die Aufsichtsbehörde jedoch auch fest, dass Polizist:innen in das vorgesehene Feld statt einem Grund einfach „XXX“ eintrugen.

Die Berliner Polizei ist in den letzten Jahren immer wieder wegen Datenschutzproblemen in den Schlagzeilen gewesen. Unter anderem nutzte ein Polizist unrechtmäßig Informationen aus Polizeidatenbanken, um damit Drohbriefe an Personen aus der linken Szene zu schicken. Erst kürzlich informierte die Datenschutzbehörde die Öffentlichkeit darüber, dass sie im Jahr 2021 mehrere Beanstandungen gegen die Polizei ausgesprochen hat. Das rechtlich wirkungslose Instrument der Beanstandung ist das schärfste Schwert, auf das die Aufsichtsbehörde bei der Ahndung von Datenschutzproblemen bei der Polizei zurückgreifen kann.

Auch bundesweit gibt es Probleme mit dem Datenschutz bei der Polizei. Immer wieder kommen spektakuläre Fälle des Datenmissbrauchs durch Polizist:innen ans Licht. Auch im Fall der rassistischen „NSU 2.0“-Drohschreiben ist bis heute ungeklärt, wie genau ein Mann aus Berlin zahlreiche Daten von bekannten linken oder migrantisierten Personen aus Polizeidatenbanken erlangen konnte.

Vieles deutet auf strukturelle Mängel beim polizeilichen Datenschutz hin. Die EU-Kommission hat inzwischen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, weil dieses die europäischen Vorgaben zum Datenschutz bei Polizei und Justiz nicht vollständig umsetzt.

Disziplinarermittlungen laufen

In ihrer Pressemitteilung weist die Polizei Berlin darauf hin, dass die Verstöße gegen die Dokumentationsvorgaben nicht notwendigerweise auf illegale Abfragen deuten müssen. In den 83 Fällen sind demzufolge dienst- und disziplinarrechtliche Ermittlungen aufgenommen worden, um dies zu prüfen. In diesem Rahmen werde auch geprüft, „ob und inwieweit die Abfragen rechtmäßig waren“

Eine kurzfristige Presseanfrage zu den Details des Prüfverfahrens blieb am Tag der Veröffentlichung dieses Artikels zunächst unbeantwortet. Offen ist etwa, nach welchem System die „turnusmäßige Kontrolle“ erfolgte. Die Pressemitteilung setzt die 83 Fälle in Relation zu den „insgesamt gut 20.000 Zugriffsberechtigten“ bei der Polizei. Es macht jedoch einen großen Unterschied, ob alle 20.000 Personen überprüft wurden oder ob die 83 Wiederholungstäter bei einer Stichprobenziehung aufgefallen sind.

Wir tragen die Antwort der Polizei Berlin nach, wenn sie vorliegt.

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Oben     —       Die Polizeidirektion 3 und andere Dienststellen der Berliner Polizei in der Kruppstraße in Berlin-Moabit

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BKA und Verfassungsschutz:

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Juli 2022

Anlasslose Übermittlung kurdischer Vereinsdaten ist rechtswidrig

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Ach ist Politik doch schön – wenn wir an den Schrauben drehen

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von     :       

Vereine von ausländischen Staatsangehörigen werden in Deutschland in einem zentralen Register geführt. Mitglieder kurdischer Gründungen unterliegen einer besonderen Überwachung. Ein entsprechender Erlass von 1994 ist jedoch unauffindbar.

Das Bundesverwaltungsamt (BVA) übermittelt anlasslos Daten zu kurdischen Vereinen an die Polizei und den Geheimdienst. Hintergrund ist ein Erlass des damaligen Innenministers Manfred Kanther (CDU) aus dem Jahr 1994, mit dem die ein Jahr zuvor in Deutschland verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verfolgt werden sollte.

Allerdings fehlt für diese bald dreißigjährige Praxis eine Rechtsgrundlage. Dies bestätigt ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste im Bundestag, das die Linken-Abgeordnete Gökay Akbulut beauftragt hat. Gegenüber netzpolitik.org kommentiert Akbulut dies als „krassen Rechtsbruch und politisch unerträglich“.

Extra-Auskunft, wenn Verein „politisch“ ist

Vereine, deren Mitglieder oder Vorstand sämtlich oder überwiegend keine Bürger:innen von EU-Mitgliedstaaten sind, gelten in Deutschland als „Ausländervereine“. Nach § 19 des deutschen Vereinsgesetzes müssen sie persönliche Daten aller Vorstände oder entsprechend berechtigter Personen innerhalb von zwei Wochen bei den zuständigen Landesvereinsbehörden melden.

Die Bundesländer leiten die Informationen anschließend zur Speicherung im Ausländervereinsregister beim BVA in Köln weiter. Auch dies ist im Vereinsgesetz geregelt. Mit Stichtag 14. April zählt das Register 14.690 Gründungen.

Sofern die Vereine als „politisch“ gelten, müssen sie auf Verlangen der Behörden zudem Namen und Anschriften aller Mitglieder herausgeben. Dann besteht auch eine Pflicht zur Auskunft über die Tätigkeit des Vereins sowie die Herkunft und Verwendung ihrer finanziellen Mittel. Für dieses Auskunftsverlangen muss keine konkrete Gefahr erkennbar sein, es genügt dafür das Ermessen der Vereinsbehörde.

„Spontanübermittlung“ von Vorratsdaten

Die kurdischen Vereine unterliegen einer zusätzlichen Überwachung. Das BVA leitet ihre auf Vorrat gespeicherten Informationen als sogenannte „Spontanübermittlung“ an das Bundeskriminalamt (BKA) und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) weiter. Dort werden sie nach Auskunft des Ministeriums „mit dem Datenbestand der Sicherheitsbehörden abgeglichen“ und bei Bedarf behalten.

Diese anlasslose Weitergabe personenbezogener Daten ist ein Grundrechtseingriff, für den es eine gesetzliche Ermächtigung benötigt, betonen die Gutachter:innen der Wissenschaftlichen Dienste. Dies kann auch durch den Kanther-Erlass von 1994 nicht umgangen werden, denn bei diesem handele es sich um „bloßes Binnenrecht der Verwaltung“.

Hinzu kommt, dass der Erlass auch nicht mehr rechtlich überprüft werden kann. Denn beim Bundesinnenministerium ist das Dokument verschwunden, wie der Innenstaatssekretär Mahmut Özdemir (SPD) der Abgeordneten Akbulut jüngst mitgeteilt hat.

BKA- und Verfassungsschutzgesetz genügen nicht

Als Rechtsgrundlage für die Übermittlung an den Inlandsgeheimdienst sieht die Bundesregierung unter anderem das Verfassungsschutzgesetz des Bundes. Den Wissenschaftlichen Diensten zufolge genügt dies jedoch nicht. Zwar soll das BVA ohne Aufforderung bestimmte Informationen an den Geheimdienst übermitteln, etwa wenn dem Amt sicherheitsgefährdende Tätigkeiten bekannt werden. Hierunter fiele etwa die Mitgliedschaft in der 1993 verbotenen PKK oder etwaigen Tarnorganisationen.

Jedoch müsste das BVA in jedem Einzelfall vor der Weitergabe der Informationen an das BfV feststellen, ob solche Bestrebungen als Tatsachen erkennbar sind. In den „Spontanübermittlungen“ erfolgt dies aber regelmäßig nicht.

Ähnlich fragwürdig ist die Weiterleitung an das BKA, die das Innenministerium auf das BKA-Gesetz gründet. Auch hier braucht es aber tatsächliche Anhaltspunkte für Straftaten, schreiben die Wissenschaftler:innen des Bundestages. Die bloße Gründung eines kurdischen Vereins kann hierfür nicht genügen.

Prüfung, ob Erlass aus 1994 „dem aktuellen Bedarf entspricht“

In dem Gutachten zitieren die Verfasser:innen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Bestandsdatenauskunft vom 27. Mai 2020, in dem von einem „Doppeltürmodell“ die Rede ist. Demnach braucht es für derartige Informationsflüsse unter Behörden jeweils eine Rechtsgrundlage für die Abfrage sowie die Übermittlung. „Erst beide Rechtsgrundlagen gemeinsam, die wie eine Doppeltür zusammenwirken müssen, berechtigen zu einem Austausch personenbezogener Daten“, heißt es in dem Gerichtsbeschluss.

In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Akbulut schrieb auch das Innenministerium Ende April, es werde geprüft, „inwieweit der diesbezügliche Erlass aus dem Jahre 1994 noch dem aktuellen Bedarf entspricht“. Als Begründung wird jedoch nicht die fehlende Rechtsgrundlage genannt. Die „Datenübermittlungen zu Ausländervereinen“ genügten nicht mehr den „datenschutzrechtlichen Anforderungen“, heißt es in der Antwort.

Aus den Zahlen der letzten Jahre ist indes kein Rückgang der „Spontanübermittlungen“ erkennbar. 2021 wurden 75 kurdische Vereine vom BVA an Polizei und Geheimdienst gemeldet, ein Jahr zuvor waren es 90, für 2019 wird die Zahl mit 44 angegeben.

Mögliche Weitergabe an türkische Geheimdienste

Akbulut weist auf ein weiteres Problem hin. So ist es angesichts der deutsch-türkischen Sicherheitszusammenarbeit denkbar, dass die Daten aus dem Ausländervereinsregister direkt oder indirekt auch an türkische Geheimdienste weitergegeben werden. „Aus Gründen des Staatswohls“ will das Innenministerium hierzu aber keine Auskunft erteilen. Es ist also möglich, dass erst die Informationen aus Deutschland für einen Verfolgungswillen türkischer Behörden sorgt.

Auch das Bundesinnenministerium weiß um diese Repression gegen kurdische Bewegungen in der Türkei. Besondere Vorkehrungen werden deshalb aber nicht getroffen. Vielmehr heißt es in der Antwort auf die Kleine Anfrage, die Mitglieder „in einem in Deutschland legal tätigen Verein mit Bezug zu kurdischen Anliegen“ sollten die allgemeinen Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes für die Türkei beachten.

„Dass die Bundesregierung das Erdogan-Regime mit der Datenweitergabe dabei unterstützt, Oppositionelle zu verfolgen, ist ein absoluter Skandal“, kommentiert Gökay Akbulut. „Diese Geheimdienstkooperation mit der Türkei muss umgehend gestoppt werden.“

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Oben     —    Manfred Kanther Antworten auf Fragen unserer Zeit! CDU Besser für Hessen Abbildung:
Porträtfoto vor Menschenmenge im Hintergrund

Landtagswahlplakate Hessen (10-007) » CDU
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Unten      —     Istanbul 2018

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KOLUMNE FERNSICHT – USA

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Juni 2022

Diesmal nicht wie nach Watergate

Von Brenda Wilson

Der Einbruch im Watergate-Hotel, der zur Anklage gegen Präsident Richard Nixon und zu seinem Rücktritt führte, ist in diesem Juni genau 50 Jahre her. Bei den Kongresswahlen im darauffolgenden November konnten die De­mo­kra­t*in­nen zahlreiche Sitze hinzugewinnen.

Die aktuellen Anhörungen des Untersuchungsausschusses über Trumps Rolle beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 wecken Erinnerungen an die Watergate-Anhörungen von 1972. Zeuge um Zeuge belegte die Machenschaften, mit denen Trumps Lakaien versuchten, die Wahlergebnisse in den für Joe Bidens Sieg entscheidenden Bundesstaaten in Zweifel zu ziehen. Sie wollten so viel Verwirrung stiften, dass Vizepräsident Mike Pence am Ende die gesamte Wahl für ungültig erklären würde.

Die für die Auszählung Verantwortlichen und sogar deren Familienangehörige wurden bedroht, bedrängt und belästigt. Doch am Ende hatten Trumps Un­ter­stüt­ze­r*in­nen genauso wenig Erfolg wie die Einbrecher im Watergate. Ein Klebeband an der Tür zum Hauptquartier der Demokratischen Partei machte einen Sicherheitsbeamten im Watergate stutzig und ließ ihn die Polizei alarmieren.

Aber diesmal darf man nicht auf große Zugewinne der Demokraten im November hoffen. Selbst Re­pu­bli­ka­ne­r*in­nen haben es schwer genug – falls sie für die Amtsenthebung Trumps gestimmt hatten. Von den zehn, die es wagten, treten vier nicht mehr an. Andere erleben, wie ihre politischen Karrieren schon bei den Vorwahlen enden. Die Abgeordnete Liz Cheney, die Tochter des früheren Vizepräsidenten, ist die stellvertretende Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zum 6. Januar. Sie warnt laut vor dem moralischen Verfall, für den der Ex-Präsident steht, und drängt ihre republikanischen Parteifreunde, sich einen Rest an Würde zu bewahren. Cheney muss sich im August der Vorwahl für ihren Kongresssitz stellen und wird wohl gegen eine von Trump unterstützte Kandidatin unterliegen. Aber es heißt, sie könnte 2024 als Unabhängige für das Weiße Haus kandidieren.

Die meisten Kom­men­ta­to­r*in­nen glauben nicht, dass die Anhörungen viele Wäh­le­r*in­nen umstimmen werden. Zu viele andere Themen beschäftigen sie derzeit, von der Schusswaffenkontrolle, die der Kongress wohl minimal verschärfen wird, über steigende Preise für Benzin bis zur Angst vor einer Rezession und Bidens Unfähigkeit, diese Probleme abzuräumen.

Ein spannendes Duell erwartet man im November in Pennsylvania, wo der aus dem TV bekannte und von Trump unterstützte Mediziner Mehmet Oz gegen den populären linksliberalen demokratischen Vizegouverneur John Fetterman für einen Sitz im Senat antritt.

Quelle        :      TAZ-online        >>>>>         weiterlesen

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Oben     —    Titel: Watergate Hotel, place of the scandalous break-in of Democratic Party Headquarters during the Nixon Administration. Washington, D.C.

Quelle Kongressbibliothek

Verfasser
Berechtigung
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Keine bekannten Einschränkungen bei der Veröffentlichung.

Dieses Werk stammt aus der Sammlung des Carol M. Highsmith Archive in der Library of Congress. Nach Angaben der Bibliothek gibt es keine bekannten urheberrechtlichen Einschränkungen für die Nutzung dieses Werkes.
Carol M. Highsmith hat festgelegt, dass ihre Fotografien gemeinfrei sind. Fotografien von Skulpturen oder anderen Kunstwerken können durch das Urheberrecht des Künstlers eingeschränkt sein.

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Unten       —       Einer von einer Vielzahl von Anti-Ford buttons generiert während der Präsidentschaftswahl 1976: Es heißt „Gerald … Pardon me!“ und zeigt einen Dieb, der einen Safe mit der Aufschrift „Watergate“ knackt.

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Xinjiang Police Files

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Mai 2022

Das monströse Menschensieb

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Eine Kolumne von Sascha Lobo

Die wirtschaftliche Abhängigkeit von China ist ein Problem der westlichen Demokratien: Wie bigott sind wir, wenn wir die Menschenrechte der Uiguren mit einer Verminderung unseres Wohlstands aufwiegen?

55 Prozent. Eine Zahl, in der sich Weltpolitik samt ihrer Folgen versteckt. Es handelte sich um den Anteil des 2021 von Deutschland importierten Erdgases, der aus Russland kam . Die Folgen lassen sich an der Ukrainepolitik erkennen: Deutschland wird von vielen internationalen Partnern als zögerlich empfunden. Im Hintergrund steht immer die – durch die Arbeit der jetzigen Bundesregierung immerhin schon reduzierte – Abhängigkeit des Landes vom russischen Gas.

Eine andere Zahl: 37,4 Prozent. Weltpolitisch ist sie wahrscheinlich wirkmächtiger, es handelt sich um den Anteil der deutschen Autoproduktion, der 2021 in China verkauft wurde . Ein Jahr zuvor lag er sogar bei 39,4 Prozent. Das bedeutet, dass eine hingeworfene Gesetzeszeile der Kommunistischen Partei Chinas die großen deutschen Automobilhersteller an den Rand des Ruins bringen kann. Dann könnte wohl nicht einmal Robert Habeck schnell ein paar Millionen Autos an andere Länder verkaufen.

Das ist nur die Spitze der Spitze des Eisbergs, die tiefe Abhängigkeit nicht nur Deutschlands, sondern der gesamten Weltwirtschaft von China wird oft kritisiert. Reduzieren lässt sie sich nur sehr schwer, vielleicht auch gar nicht, und die beiden Gründe dafür heißen Globalisierung und Digitalisierung. Diese Abhängigkeit ist der Hintergrund, vor dem die neuesten Enthüllungen über die chinesische Diktatur betrachtet werden müssen, die Xinjiang Police Files. Es handelt sich dabei um eine antimuslimische, rassistische, ethnische »Säuberung«, der Exil-Präsident der Uiguren spricht von Völkermord. Es ist vielleicht der erste digital betriebene Völkermord.

China liefert Überwachungstechnik in rund 80 Länder

Das politische Konzept »Wandel durch Handel« ist seit dem russischen Debakel ohnehin schwerbeschädigt. Jetzt könnte es sich sogar ins Gegenteil verkehren: Die liberalen Demokratien des Westens könnten sich wandeln, und das nicht zum Besseren, weil sie heftig mit China handeln. Denn der Überwachungs- und Kontrollapparat, der auch in den Xinjiang Police Files in seinen Umrissen sichtbar wird, ist zwar lange bekannt. Weniger bekannt hingegen ist der Export: China hat seine Überwachungstechnologien in rund 80 Länder geliefert, auch in Europa, zuletzt etwa nach Serbien. Das heißt, wir müssen uns ohnehin mit chinesischer Überwachung beschäftigen und deshalb mit der Technologie sowie der Ideologie dahinter. Die jetzt deutlich sichtbare Massenunterdrückung der Uiguren folgt aus dem wichtigsten, selbsterklärten Ziel, das die KP mithilfe der Überwachung erreichen will : »Aufrechterhaltung der Stabilität«. Diese Formulierung ist alles andere als irrelevant, sie stellt vielmehr sowohl die Perspektive auf die per Überwachung gesammelten Daten dar als auch die Richtung der Interpretation.

Beide Überwachungsformen gehen technisch ineinander über, aber unterscheiden sich konzeptionell stark: Dokumentation ist auf die Vergangenheit bezogen, Vorhersage auf die Zukunft. Oder präziser: auf die Wahrscheinlichkeit, mit der eine bestimmte Zukunft eintritt. High-End-Überwachungmaschinerien arbeiten mit Wahrscheinlichkeiten.

Der Vorteil von Wahrscheinlichkeiten: Es gibt immer ein Ergebnis. Für einen Überwachungsapparat mit dem Zwang, Ergebnisse zu liefern, ist das fabelhaft. Für die Überwachten eher nicht. Denn fügt man zu diesem Prinzip das Ziel »Aufrechterhaltung der Stabilität« hinzu, dann werden die Daten aus der Überwachung benutzt, um die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, mit der eine Person eine Gefahr für ebendiese Stabilität darstellt. Eine der dazugehörigen Softwareplattformen heißt IJOP, kurz für Integrated Joint Operations Platform. Jede überwachte Person bekommt einen Score, wenn der Score eine bestimmte Höhe erreicht, handeln der Staat und seine Organe.

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Diese Verfahrensweise erklärt auch, warum einzelne Personen wegen vollkommen absurder »Vergehen« weggesperrt werden. Adiljan T. musste ins Gefängnis, weil er zwei Wochen in einem bestimmten Fitnessstudio trainiert hatte . Das kann damit zusammenhängen, dass sich in dieser Zeit dort eventuelle Terrorverdächtige getroffen haben – muss es aber nicht. Denn hier kommt eine andere urdigitale Mechanik ins Spiel: die Datenkorrelation. Das Prinzip ist simpel, es steckt auch hinter vielen Anwendungen der künstlichen Intelligenz, nämlich bestimmte, vermeintlich oder tatsächlich aussagekräftige Muster in Datensätzen zu finden, die sich gar nicht um Kausalität kümmern, sondern nur Korrelationsschlüsse aus der Kombination alter und neuer Daten ziehen. Die Behörden glauben dann beispielsweise: Jemand, der oft bei Rot über die Ampel geht und im Chat bestimmte Worte benutzt, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, zum Unruhestifter zu werden. Die überwachten Verhaltensweisen, die korreliert werden, können dabei vollkommen harmlos wirken und auch sein: Sport machen, mit dem Rauchen aufhören, an Ramadan fasten. In Xinjiang sind mindestens 10.000 Menschen allein aufgrund der algorithmischen Korrelation ihrer Verhaltensdaten eingesperrt worden.

Je mehr Datensätze, desto besser, so glauben die Überwacher, rein technisch stimmt das. Manchmal wirkt die Logik dahinter aber, als würde man eine Nadel im Heuhaufen suchen und zu diesem Zweck mehr Heu bestellen. Das Programm, das mehr Heu bestellt, heißt Sharp Eyes und führt viele unterschiedliche Datenquellen zusammen, »data fusion« in der Fachsprache. In China ist die Hälfte der Überwachungskameras der Welt aufgestellt, von den zwanzig meistüberwachten Städten des Planeten sind 17 in China. Diese Daten kann IJOP zusammenführen mit allen Adressdaten, Verhaltensdaten wie der Reise- und Konsumhistorie und physischen Attributen wie Gesichtsmerkmalen, Größe und Blutgruppe.

Quelle        :           Spiegel-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Chinesische Proteste 2011

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Ein Rassistischer Terror

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Mai 2022

Beruhend auf Unterdrückung

Zeichen der Stärke sind Gesten für Unterdrückung !

Von Michaela Dudley

Rechtsextremisten werden nicht als solche geboren, sondern dazu gemacht. Um das zu verhindern, ist eine Auseinandersetzung mit unserem Rassismus nötig.

Während Payton G. am Streifenwagen stand, konnte ihn niemand mit George Floyd verwechseln. Die Polizisten, die den 18-jährigen Weißen umsäumten, tasteten ihn geradezu schonend ab. Zwar bekam er Handschellen angelegt, aber niemand schmiss ihn auf den Boden. Wieso denn auch? Er ist ein Student, ein Nerd. Mitglied der Inceligentsia (Schlachtparole der Autorin). Ein Gamer, kein Gangster.

Der Kerl hat viel auf dem Kasten. Aber auch auf dem Kerbholz, wenn seine Gesinnung ihm ein Gewissen zulässt. Vor und in einem Einkaufszentrum am Eriesee hatte G. kurz zuvor 50 Schuss abgefeuert. Sein Sturmgewehr war mit rassistischen Beleidigungen beschriftet. 10 Tote, 3 Schwerverletzte. Fast ausschließlich Schwarze Opfer. Das ist die blutige Bilanz nach seiner Ballerei in Buffalo, New York.

Der Anschlag wirft Fragen auf, und die Folgen, die von uns allen in einer tief gespaltenen Gesellschaft getragen werden müssen, bergen akute Brisanz. Dasselbe gilt für das wenige Tage zuvor vereitelte Sprengstoffattentat eines 16-jährigen Deutschen auf zwei Essener Schulen. In Buffalo und in Essen handelt es sich um terroristische Aktivitäten. Trotzdem tut man sich schwer damit, die tatverdächtigen Jungs so richtig als Terroristen zu bezeichnen.

Denn sie sind Einheimische aus gutem Hause, keine zum Islam Konvertierten und auch keine Linksextremisten. Angesichts der Kraft solcher Denkmuster ist es zusätzlich bedenklich, wenn ausgerechnet NRW-Innenminister Herbert Reul den Eindruck erweckte, das mörderische Vorhaben relativieren zu wollen. Ich möchte dem guten Herrn Reul partout nicht vorwerfen, auf einem Auge blind zu sein.

Schwarze und Muslime im Visier

Doch bei der Nacht- und Nebelaktion des SEKs in der Wohnung des Jungen kamen einschlägige Beweggründe und Beweisstücke ans Licht. Der Bombenbastler hat es auf Schwarze und Muslime abgesehen. In seinem obligatorischen Manifest proklamierte er die Absicht, wegen „des Untergangs der weißen Rasse“ ein Zeichen zu setzen. Er liebt Adolf Hitler, er lobt die Attentäter von Erfurt (2002) und Winnenden (2009).

Im Rahmen der Pressekonferenz nach der Festnahme beschrieb Reul das Unterfangen des Tatverdächtigen dennoch als „dringenden Hilferuf eines verzweifelten jungen Mannes“. Die gelernte Juristin in mir weiß, dass küchenpsychologische Diagnosen seitens des Staates dem Verteidigungsteam in die Hände spielen können. Es wäre ohnehin besser gewesen, die seelischen Bedürfnisse der Menschen zu thematisieren, die der Junge ins Visier genommen hatte.

Selbst ein verhinderter Terroranschlag hinterlässt Traumatisierte. Viele der potenziellen Opfer laufen sowieso mit einer Zielscheibe auf dem Rücken herum, sie sind ungesühnten Mikroaggressionen und der scheußlich selbstgefälligen weißen Mittelmäßigkeit dauernd ausgesetzt. Nach wie vor herrscht die Unschuldsvermutung, was den mutmaßlichen Attentäter anbelangt, und in einem demokratischen Staat ist die Justiz zu Recht dazu verpflichtet, auch entlastende Umstände zu berücksichtigen, ganz egal, wer der Tatverdächtige ist.

So weit, so gut. Aber das unbedarfte Philosophieren über die Empfindsamkeiten eines in U-Haft sitzenden Naziverehrers, der Mit­schü­le­r*in­nen und Lehrkräfte in die Luft zu sprengen beabsichtigte, entpolitisiert das angestrebte Verbrechen, ohne die noch bedrohliche Lage zu entschärfen.

Angst vor dem „großen Austausch“

Sechstausend Kilometer trennen Payton G. von dem Rohrkrepierer aus dem Ruhrgebiet. Doch sie teilen eine gemeinsame Ideologie: White Supremacy. Sofern die erzkonservativen Medien wie Fox News nun aus ihren Fuchslöchern kriechen, um die Bluttat von Buffalo zu erwähnen, verorten sie den Schuldigen eher in dem „großen Austausch“, jenem Geheimplan der christenfeindlichen Elite, wonach die weiße Mehrheitsbevölkerung durch Nichtweiße ersetzt werde.

Tatsächlich kann ein demografischer Wandel infolge legaler Zuwanderung und niedriger weißer Geburtenraten kaum geleugnet werden. Voraussichtlich 2044 werden Weiße nicht länger die Mehrheit in den USA bilden. So sei man dazu gezwungen, die Heimat gegen die Überfremdung und die damit verbundene hohe Kriminalität zu verteidigen.

Quelle        :    TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Der BND-Verfassungsschutz

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Mai 2022

Verwaltungsgericht Düsseldorf gibt antikommunistischer Hetze des Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ einen Freifahrtschein

Kann eine staatliche Aufsichtsbehörde anders  arbeiten als es Ihnen die dafür zuständigen politischen Gremien einer Regierung vorgeben?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Anwaltskanzlei Meister & Partner

Am 18.05.2022 fand vor der 20. Kammer des VG Düsseldorf ein denkwürdiger Prozess gegen das Land Nordrhein-Westfalen/Verfassungsschutz statt. Geklagt hatten MLPD (AZ: 20 K 4761/20) und die Kommunalen Wahlbündnisse AUF Gelsenkirchen, AUF Witten, NV Auf geht’s‘ Neukirchen-Vluyn und BergAUF Bergkamen (AZ: 20 K 4760/20) gegen Diffa­mierungen und Unterstellungen im Verfassungsschutzbericht 2019. Beide wurden durch unsere Kanzlei und die Anwälte Roland Meister und Peter Klusmann vertreten.

Die MLPD wurde dort bezichtigt, sie arbeite auf kommunaler Ebene „verdeckt“. Die über­parteilichen Bündnisse seien nicht überparteilich, sondern „struktureller Unterbau“ der MLPD. Sie wurden im „Index“ des Berichts direkt nach Al-Qaida (!) als angeblicher „Verdachtsfall“ angeführt.

Nach 3,5-stündiger Verhandlung und langer Beratungspause erklärte das Gericht all dies für völlig rechtmäßig.

Und das, nachdem die Vertreterinnen und Vertreter der überparteilichen Wahlbündnisse sachkundig und konkret die überparteiliche Arbeit der Bündnisse deutlich gemacht hatten. Die Vertreter des Inlandsgeheimdienstes konnten dagegen nicht eine einzige Aussage der Wahl­bündnisse als Beleg für den angeblichen Verdacht einer „Verfassungsfeindlichkeit“ anführen.

Noch nicht einmal das ist jedoch nach Ansicht des Gerichts notwendig. In der Nähe der „Verfassungsfeindlichkeit“ ist man künftig nach der Logik von Geheimdienst und Gericht bereits dann, wenn man mit Mitgliedern der MLPD zusammenarbeitet und die MLPD nicht wenigstens in aller Öffentlichkeit attackiert. Ausdrücklich erklärte die Vorsitzende zur Begründung: ‚Vom Verhalten und Zielen der MLPD hätten sich die Kläger nicht distanziert.“ Die Aufnahme könne vermieden werden, wenn man sich der „MLPD-Mitglieder entledige“.

Damit würden die Bündnisse aber gerade jede Überparteilichkeit verlieren, machten ihre Vertreter deutlich. Überparteilichkeit bedeutet ja, dass Parteilose und Mitglieder verschiedener Parteien gleichberechtigt zusammenarbeiten, mit Ausnahme von Faschisten und religiösen Fanatikern. Statt dessen fordern Geheimdienst und Gericht eine pseudo-Überparteilichkeit unter Ausschluss von Kommunisten. Statt der viel beschworenen mündigen Bürgern wird in Zeiten der Rechtsentwicklung antikommunistisches Duckmäusertum gefordert.

An die MLPD gerichtet führte das Gericht aus, dass ja unbestritten Mitglieder der MLPD in solchen Bündnissen arbeiten, weshalb man von „verdeckter“ Arbeit sprechen dürfe. Dabei wurde im Prozess sehr detailliert vorgetragen, dass die MLPD es eben nicht verdeckt, dass auch Mitglieder ihrer Partei in solchen Bündnissen arbeiten. So haben die heutige Parteivorsitzende Gabi Fechtner oder die Internationalismusverantwortliche Monika Gärtner-Engel bei ihren Kandidaturen für solche Bündnisse in der Öffentlichkeit ausdrücklich und mehrfach darauf hingewiesen, dass sie auch in der MLPD seien, was in der Presse erst recht breitgetreten wurde. „Hier wird mit zweierlei Maß gemessen“, kritisiert Rechtsanwalt Roland Meister. „Wenn die neue DGB-Vorsitzende aus der SPD kommt, ist das völlig normal. Wenn Kommunisten für überparteiliche Bündnisse kandidieren, soll es anrüchig sein und der öffentlichen Verhetzung unterliegen? Auch hier gilt, dass man den Anfängen wehren muss.“

Die nächste Instanz ist das Oberverwaltungsgericht für das Land NRW…

Urheberrecht
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Oben      —       BND-Zentrale in Berlin, Hauptsitz seit 2019

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Pleite – Firma Wirecard

Erstellt von DL-Redaktion am 15. April 2022

Wahn, Betrug und sterbende Pflanzen

Aschheim-Dornach, Einsteinring 31 v N, 3, ret Wirecard.jpeg

Von den politischen Chef-Verkäufer-Innen, welche auf Steuerkosten um die Welt reisten wird leider nichts geschrieben.

Von Patrick Guyton

Markus Braun, Ex-Boss von Wirecard, ist in München angeklagt. Zwei frühere Beschäftigte erinnern sich an eine bizarr-denkwürdige Zeit.

Er überlegte, sich sein altes Leben zurückzukaufen. Schreibtisch, Bürodrehstuhl oder Grünpflanzen im Hydrocontainer? Alles war Mitte Februar zu haben bei der Online-Auktion, als die Überreste der Pleitefirma Wirecard versteigert wurden – das Inventar vom Unternehmenssitz in Aschheim bei München. „Ich habe 20 oder 30 Euro auf ein paar Sachen geboten“, erzählt Jörn Leogrande. „Aber schnell ging immer jemand drüber.“ Alles kam unter den Hammer.

Ihn hätten die „Todespflanzen“ interessiert, wie sie in der Firma genannt wurden – „das waren so Topfpflanzen, die keiner gegossen hat und die völlig vertrockneten“. Jörn Leogrande, 58 Jahre alt, war mal was bei Wirecard. Erst Werbetexter und zuletzt Chef der globalen Innovationsabteilung, bis die Firma im Juni 2020 zusammenkrachte. 15 Jahre hatte er für Wirecard gearbeitet, nun sagt er: „Die meiste Zeit meines beruflichen Lebens war ich auf dem falschen Dampfer.“

Vor Kurzem hat die Staatsanwaltschaft München in dem Betrugskomplex die erste Anklage erhoben gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Markus Braun und zwei weitere Ex-Manager. Die Vorwürfe lauten bandenmäßiger Betrug, Veruntreuung und Bilanzfälschung. Das Landgericht dürfte die Anklage bis zum Sommer annehmen, dann beginnt der Prozess im Herbst.

An einem schönen Frühlingstag sitzt Jörn Leogrande am Ufer des Weßlinger Sees, knapp 30 Kilometer südwestlich von München. Mit seiner Familie wohnt er in der Nähe. Ein guter Ort, um nachzudenken. Etwa darüber, wie es zu diesem größten Wirtschaftsbetrugsfall der Nachkriegsgeschichte kommen konnte, bei dem Aktienanleger 20 Milliarden Euro verloren haben.

Analystentalks

Hatte man denn nie Zweifel an den von der Firmenspitze regelmäßig gemeldeten riesigen Steigerungen bei Wachstum und Gewinn? „Mit Markus habe ich immer wieder Analystentalks gemacht“, erzählt Leogrande. „Da waren Leute von Goldman Sachs dabei, von der Deutschen Bank und anderen Großbanken. Da hat nach meiner Erinnerung keiner etwas hinterfragt.“ Er nennt die Bosse mit Vornamen, so wie sich bei Wirecard alle geduzt hatten. Markus ist der Vorstandsvorsitzende Markus Braun. Er spricht von Henry, dem Briten Henry O’Sullivan, engem Vertrauten von Jan. Das wiederum ist Jan Marsalek, Vorstandsmitglied und weiterhin flüchtig.

Viele Bürger haben nie richtig verstanden, was Wirecard eigentlich gemacht hatte. Es geht um die Entwicklung digitaler Zahlungssysteme. Wie kann ein Produkt oder eine Dienstleistung bezahlt werden ohne Bargeld oder Banküberweisung? Begonnen hatte das Geschäft 1998 klein mit der Schaffung von Zahlungsmöglichkeiten in den Schmuddelecken des Internets – Online-Glücksspiel etwa oder Pornos. Die Firma expandierte, schuf mehr und mehr Produkte, die Kundenzahl stieg.

Datei:Jan Marsalek Search.pdf

Die drei Beschuldigten sollen laut der Anklage unter anderem 3,1 Milliarden Euro Bankkredite erhalten haben, mit denen sie sich die eigenen Gehälter und Boni sicherten. Zum Bankrott führten letztlich 1,9 Milliarden Euro, die in Singapur gebucht, aber nicht aufzufinden waren. Dies hatten die Rechnungsprüfer der Gesellschaft Ernst & Young (EY) so festgestellt. Gab es diese 1,9 Milliarden? „Das weiß ich nicht“, sagt Jörn Leogrande. Zum System gehörte seiner Meinung nach vor allem auch, dass kriminelles Handeln nur „unter sehr wenigen Personen“ abgelaufen ist.

Vom SEK gestürmt

Lisa B. (Name geändert) war bei Wirecard beschäftigt. Sie hat die Pleite erlebt und die Übernahme des Kerngeschäfts durch die spanische Großbank Santander im Januar 2021. Vor einem halben Jahr hat sie gekündigt. „Für die Ermittlungen wurden wir zweimal vom SEK gestürmt“, erinnert sie sich, „Polizei und Staatsanwaltschaft waren in Scharen da.“

B. erzählt, dass die meisten Beschäftigten auch teils erheblich in Wirecard-Aktien investiert hatten – alles ist dahin. Weltweit hatte Wirecard 5.100 Beschäftigte, bei den Santander-Nachfolgern sind es in der Zentrale noch 400, die internationalen Außenstellen werden vom Konkursverwalter abgewickelt. „In diesem Jahr zog Santander mit dem Betrieb aus dem Gebäude in Aschheim aus und wechselte nach München. Aschheim hatte schlechte Energien“, meint Lisa B. Es gab mehrere Versuche, Betriebsräte zu gründen, die von der Unternehmensleitung aber „rigoros blockiert“ wurden. Sie erinnert sich an „Psychopathen und Aufschneider“ unter den Führungskräften. Vorstand Jan Marsalek, der wie Markus Braun aus Österreich stammt, bezeichnet sie als „skurrile Type“ mit hohem Geltungsdrang.

Quelle         :      TAZ-online         >>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Aschheim-Dornach, Einsteinring 31, von Norden gesehen. Ehemaliges Wirecard-Gelände; das bereits abmontierte Firmenschild wurde im Foto durch den Stand von Anfang 2019 (roter i-Punkt) ersetzt.

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Unten     —        Fahndungsplakat des PP München zur Suche von Jan Marsalek

Datum Dienstag, 21. August 2020
Quelle BKA Deutschland: https://www.bka.de/DE/IhreSicherheit/Fahndungen/Personen/BekanntePersonen/Jan_Marsalek_wirecard/Sachverhalt.html?nn=26874#detailinformationen137138
Verfasser Polizeipräsidium München (Munich Police Department)

Dieses Bild ist nach deutschem Urheberrecht gemeinfrei, weil es Teil eines Gesetzes, einer Verordnung, eines behördlichen Erlasses oder eines Urteils (Amtswerk) einer deutschen Behörde oder eines Gerichts ist (§ 5 Abs.1 UrhG).

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Polizei und Pokémon

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Januar 2022

Das Problem strukturelle Polizeigewalt

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Der Staatszirkus ist bekannt – wo kommen die weißen Clowns her ?

Von Mohamed Amjahid

In Los Angeles wurden zwei Polizisten gefeuert, weil sie trotz eines akuten Notrufs lieber Pokémon spielten. Das ist so symbolisch wie tragisch.

Bei meiner täglichen Polizei-Lektüre ist mir letzte Woche diese Schlagzeile entgegengesprungen: „Polizisten in Los Angeles gefeuert, weil sie ein Snorlax anstatt Kriminelle jagten.“

Officer Lozano und Officer Mitchell vom Los Angeles Police Department (LAPD) ignorierten laut Ermittlungen einen Notruf, bei dem sie Diebe hätten festnehmen sollen, und entschieden sich, ein Snorlax zu fangen. Beim 3D-Reality-Spiel Pokémon Go sind meist in Stadtgebieten überall auf der Welt Pokémons versteckt.

Man kann ihre Standorte auf dem Smartphone sehen und sie, wie in der Serie, mit einem virtuellen Poké-Ball fangen, somit Prestige und Macht sammeln. Vor einer Untersuchungskommission gaben Lozano und Mitchell an, dass sie „beschäftigt gewesen“ seien und nicht zum Einsatz fahren konnten. Eine Kamera im Einsatzwagen brachte Klarheit: sie zeigte, wie die Polizisten das Pokémon-Monster triumphierend mit dem Smartphone einfangen.

Den ganzen Tag schlafen

Als Kind hätte ich das Spiel geliebt, ich war ein großer Fan der Anime-Serie von 1999. Damals gab es weder Smartphones noch mobiles Internet, noch wusste ich über das Polizeiproblem Bescheid. So interpretiere ich heute viel in diese Geschichte mit meinem Pokémon-Insiderwissen und meinen Recherchen zur strukturellen Polizeigewalt:

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Die meisten Pokémon-Monster gehen durch Entwicklungsstadien, lernen fürs Leben, reifen und entwickeln eine Fehlerkultur. So auch das berühmte Elektro-Pokémon Pikachu, das zu einem weisen Raichu wird. Pikachu soll by the way eine Ratte symbolisieren, habe ich neulich gelesen. Das hat den jugendlichen Pokémon-Enthusiasten in mir richtig getroffen. Ich komme vom Thema ab …

Quelle        :      TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —  Ultras des Fußballvereins de:Eintracht Frankfurtanlässlich eines Lokalderbys (gegen Offenbach, August 2009). Die Polizei greift ein, nachdem es Verletzte gab.

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Bursche und Bauernopfer

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Januar 2022

Taz-Recherche zur Bundestagspolizei

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Von Kersten Augustin und Sebastian Erb

Nach einem Rechtsextremismus-Skandal wurde ein neuer Sicherheitschef im Bundestag eingesetzt. Der steht politisch selbst rechts außen.

Fünf Seiten lang ist der Fragebogen, ganz oben auf der Seite prangt der Bundesadler. Die Überschrift lautet: „Verwaltungsermittlungen zum Pressebericht der Tageszeitung (taz)“. Alle Po­li­zis­t:in­nen des Bundestags mussten einzeln zum Gespräch erscheinen und 15 Fragen beantworten. Fragen wie: „Existieren Chatgruppen der Kolleginnen und Kollegen?“ oder: „Haben Sie davon gehört, dass jemand den Hitlergruß gezeigt hat?“

Im Juli 2021 hatte die taz eine Recherche über Rechtsextremismus bei der Bundestagspolizei veröffentlicht. Es ging um einen Reichsbürger in Uniform, einen Hitlergruß im Reichstag und rassistische Aussagen in Chatgruppen. Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble kündigte daraufhin an, den Vorwürfen nachzugehen. Mehr als 200 Be­am­t:in­nen wurden seitdem befragt, darunter sogar 30 ehemalige. Das ist ein ungewöhnlich großer Aufwand. Hat die Bundestagsverwaltung die Tragweite des Problems also erkannt?

Wer den Fragebogen und die Ergebnisse der internen Ermittlungen genauer betrachtet, bekommt Zweifel. Und auch eine aktuelle Personalie zeigt, dass es offenbar wenig Interesse daran gibt, sich wirklich mit der Problematik auseinanderzusetzen. Neuer Leiter des Sicherheitsreferats und damit Vorgesetzter aller Po­li­zis­t:in­nen im Bundestag wurde nun ausgerechnet ein Beamter, der politisch selbst weit rechts verortet ist.

Öffentlich würde die Verwaltung des Bundestags die Sache am liebsten totschweigen. Die Pressestelle teilt lediglich mit, dass die internen Ermittlungen inzwischen weitestgehend abgeschlossen seien. Zu eingeleiteten Disziplinarverfahren wolle man nichts sagen – Datenschutz.

Bei der internen Ermittlung berichteten Befragte von rassistischen und rechts­extremen Äußerungen von Bun­des­tags­po­li­zis­t:in­nen

Rassistisch und rechtsextrem

Doch was die internen Er­mitt­le­r:in­nen nach taz-Informationen zusammengetragen haben, zeigt, dass es ein Problem gibt: Es wurden fünf Disziplinarverfahren gegen Bun­des­tags­po­li­zis­t:in­nen eröffnet. Bei zwei der betroffenen Beamten sind die Vorwürfe so schwerwiegend, dass sie vom Dienst suspendiert sind. Dabei handelt es sich um zwei von der taz recherchierte Fälle: einen Polizisten, der Mitglied einer Reichsbürgerpartei war, und einen Beamten, der im Reichstag den Hitlergruß gezeigt haben soll. Gegen diesen hat die Berliner Staatsanwaltschaft nach taz-Informationen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Zudem wird ein Pförtner eines externen Sicherheitsdienstes, der am Westeingang saß und rassistisch aufgefallen ist, nicht mehr im Bundestag eingesetzt.

Bei der internen Ermittlung berichteten zudem mehrere Befragte von rassistischen und rechtsextremen Äußerungen und Handlungen von Bundestagspolizist:innen. Außerdem von homophoben Äußerungen, in einem Fall von der Androhung von Schlägen.

In der Bundestagsverwaltung scheint man der Auffassung zu sein, dass mit der Identifizierung von vermeintlichen Einzelfällen das Problem erledigt ist. „Pauschale Unterstellungen“, heißt es in einem Vermerk, „sind auch im Ergebnis der Verwaltungsermittlungen nicht angebracht.“

Doch so einfach ist die Sache nicht.

Im vergangenen Sommer hatte die damalige Vizepräsidentin des Bundestags, Claudia Roth, in der taz eine externe Untersuchung der Bundestagspolizei gefordert. Doch man entschied sich für eine interne Aufarbeitung. Der Fragebogen, mit dem die Po­li­zis­t:in­nen befragt wurden, liegt der taz vor. Die Be­am­t:in­nen wurden teils sehr suggestiv befragt. Auf: „Haben Sie beobachtet, wie ein Beamter den Hitlergruß gezeigt hat?“ folgt die Nachfrage: „Eventuell im Rahmen von Imitation, Rumalbern?“ Andere Fragen sind so allgemein formuliert, dass darauf keine sinnvollen Antworten zu erwarten sind. Etwa: „Sind Ihnen sonst rassistische/rechtsextreme/verfassungsfeindliche Handlungen oder Äußerungen aufgefallen oder haben Sie davon gehört?“

Auf der Jagd nach Whistleblowern

Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass alle Befragten aussagen, dass es keine problematischen Inhalte in Polizei-Chatgruppen gegeben habe. Eingehend überprüft wurde das nicht.

Die Verantwortlichen interessierten sich besonders dafür, wer die taz über rechtsextreme Vorfälle bei der Polizei informiert hat. 3 von 15 Fragen drehen sich darum: „Haben Sie mit der taz gesprochen?“, „Haben Sie Namen/personenbezogene Daten an die taz oder an Dritte herausgegeben?“ Mit der letzten Frage werden die Be­am­t:in­nen dann sogar implizit dazu aufgefordert, mögliche Whistleblower zu melden: „Haben Sie eine Erklärung dafür, wie die Daten nach außen gelangt sind?“

Statt Po­li­zis­t:in­nen darin zu ermutigen, gegen Diskriminierung einzustehen, entsteht der gegenteilige Eindruck: Die Aufklärung der Vorfälle ist unerwünscht. Die Pressestelle betont, dass nach der taz-Veröffentlichung eine interne Vertrauensperson für Bundestagsmitarbeitende bestimmt wurde.

Der Druck auf Whist­leb­lo­wer:­in­nen jedenfalls steigt: Ein Polizist berichtet der taz, dass Kol­le­g:in­nen sich gegenseitig verdächtigen. Die Kolleg:innen, gegen die disziplinarisch vorgegangen werde, seien „Bauernopfer“. An den Strukturen ändere sich nichts, leitende Beamte, die zum Teil seit Jahrzehnten in den Leitungspositionen seien, blieben auf ihren Posten.

Bevor der scheidende Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) im Juli Be­am­t:in­nen der Bundestagspolizei zum Gespräch traf, hätten Vorgesetzte sie angehalten, gegenüber Schäuble nicht über Probleme zu sprechen. So berichten es Teilnehmer:innen. Dennoch hätten sich vereinzelt Po­li­zis­t:in­nen gemeldet und von diskriminierenden Handlungen und Äußerungen gesprochen. Daraufhin hätten sich leitende Beamte gemeldet und ihren Vorrednern widersprochen.

Weit rechts stehende Verbundung

Dass es in der Bundestagsverwaltung weiterhin an Sensibilität mangelt, zeigt auch die schon erwähnte Personalentscheidung: Das Referat ZR3, das für die Sicherheit im Parlament zuständig ist, hat seit Anfang Dezember einen neuen Leiter. Dieser ist laut einer internen Beschreibung zuständig für die „Unterstützung der Präsidentin bei der Ausübung der Polizeigewalt und des Hausrechts“, er soll auch Abgeordnete in Sicherheitsfragen beraten.

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Die Gewalt darf nicht fehlen wenn es darum geht, dem zahlenden Volk aus Maul zu schlagen!

Der Jurist Norman P. ist Anfang 50 und arbeitet seit vielen Jahren in der Bundestagsverwaltung, zuletzt leitete er ein Personalreferat. Nun ist er nicht nur für die Polizei im Bundestag verantwortlich, sondern auch für die Beamt:innen, die an den Pforten entscheiden, wer das Gebäude betreten darf.

Doch ist Norman P. geeignet, die Bundestagspolizei nach einem Rechtsextremismusskandal zu führen?

Recherchen der taz ergeben, dass Norman P. Mitglied der Berliner Burschenschaft Gothia ist. Gothia ist eine politisch weit rechts stehende Verbindung. Sie ist Teil des Dachverbands Deutsche Burschenschaft, den andere Verbindungen verlassen haben, nachdem extrem Rechte das Ruder übernahmen. Ins Gothia-Haus wurden unter anderem der Holocaustleugner Horst Mahler und mehrfach Referenten des Instituts für Staatspolitik eingeladen, das heute vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Eine Reihe von Mitgliedern sind durch eine Nähe zur völkischen Identitären Bewegung aufgefallen, es gibt personelle Überschneidungen mit der AfD. Norman P. war nicht nur während seiner Studienzeit bei der Gothia aktiv. Er lebt das Prinzip der Burschenschaft als Bund fürs Leben. Noch 2020 nahm er nach taz-Recherchen an einem Altherrentreffen der Burschenschaft teil und wurde als Kassenprüfer wiedergewählt.

Quelle       :        TAZ-online         >>>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Logo der Bundespolizei

Gemeinfreiheit Dieses Bild ist nach deutschem Urheberrecht gemeinfrei, da es Teil eines Gesetzes, einer Verordnung, eines amtlichen Erlasses oder eines Urteils(Amtswerk)einer deutschen Behörde oder eines deutschen Gerichts ist (§ 5 Abs.1 UrhG).

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Unten     —       07.07.2017 – all photos: <a href=“http://www.montecruzfoto.org/07-07-2017-Block-G20-Hamburg“ rel=“nofollow“>www.montecruzfoto.org/07-07-2017-Block-G20-Hamburg</a>

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Der Staatsfunk und Assad

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Januar 2022

Folter in Syrien unter US-Schirmherrschaft

Krokodilstränen für Syrien.png

Komplizen und Mitwisser auch in Deutschland / „regime-change“-Informationen der ARD-aktuell

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

An:

Rundfunkrat des NDR

Rothenbaumchaussee 131

20149 Hamburg

Per E-Mail gremienbuero@ndr.de

Von: Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Programmbeschwerde / Tagesthemen 13.01. 22

https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-8763.html

Sehr geehrte Damen und Herren Rundfunkräte,

die Anmoderation des Aufmachers der „Tagesthemen“-Sendung enthält mehrere grobe Verstöße gegen Programmauftrag und Programmgrundsätze des NDR-Staatsvertrags sowie des allgemeinen Medienstaatsvertrags. Sie wirft grundsätzliche Fragen auf.

Caren Miosga-Wortlaut (Hervorhebungen d. Verf.):

… Heute erging in Deutschland ein Urteil, das diese Welt ein wenig gerechter macht. Diktatoren [sic!] wie Syriens Machthaber [sic!] Assad sind immer noch an der Macht. Ihre Verbrechen können dennoch gesühnt werden. Die Fotos dieser Verschollenen erinnern daran. Im syrischen Bürgerkrieg [sic!] sollen fast 15000 Menschen zu Tode gefoltert worden sein,100000 gelten als vermisst. Das Weltrechtsprinzip macht es möglich. Egal, wo auf der Welt Verbrechen gegen die Menschlichkeit [sic!] begangen werden: Sie können aufgeklärt und die Täter vor [sic!] einem Gericht bestraft werden. Das ist jetzt in Deutschland zum ersten Mal geschehen.“

Auch für die Anmoderation einer Nachricht gelten die „anerkannten journalistischen Grundsätze“ (§ 8, Abs. [2], NDR-Staatsvertrag): Verpflichtend sind bekanntlich Sachlichkeit, weltanschauliche Unabhängigkeit usw. usf. Nachrichten und Anmoderation sollen beim Einordnen der Informationen helfen und dazu beitragen, dass der Zuschauer sich ein fundiertes eigenständiges Urteil bilden kann. Versuche, ihn zur Unterstützung der „regime change“-Politik des West-Imperiums zu agitieren, sind hingegen in den Staatsverträgen nicht vorgesehen.

Foltern im Auftrag des Westens

Zwingend hätte daher in diesen Moderationstext die Grundinformation gehört, dass Syriens Baschir al Assad bis zum Beginn des US-gesteuerten und -finanzierten Umsturzversuchs (1) terroristischer Insurgenten und angeheuerter ausländischer Söldner im Jahr 2011 – fälschlich: „Bürgerkrieg“ (2) – ein Liebling des Westens war. Er wurde als Reformer belobigt (3), weil er die Ein-Parteien-Diktatur seines Vaters Hafiz al Assad beendete, demokratische Parlamentswahlen herbeiführte und sein Land dem westlichen Einfluss öffnete.

Bis zu jenem Zeitpunkt wurde Baschir al Assad auch deshalb geschätzt, weil er gut bezahlte Aufträge der US-Geheimdienste (vorwiegend CIA, aber auch NSA und DIA) annahm und deren Gefangene in seinen Kerkern foltern ließ. (4)

Zum Verständnis des Zuschauers hätten Tagesschau und Tagesthemen darüber informieren müssen, dass die USA quasi die Schirmherrschaft über Assads Folterpraxis hatten und ihren Vorteil daraus zogen. Es wäre hilfreich gewesen – Namen sind Nachrichten! – ausdrücklich zu erwähnen, dass sich kriminelle Sadisten wie der vormalige US-Vizepräsident „Dick“ Cheney und der inzwischen gestorbene US-Kriegsminister Donald Rumsfeld (mit Billigung ihres Präsidenten George W. Bush [5]) höchstselbst der Mitwirkung Assads beim Totquälen ihrer Opfer versicherten. Sie wagten nicht, sich innerhalb der USA auszutoben und hatten deshalb ein weitgespanntes Netz für geheime Gefangenen-Transportflüge – „extraordinary rendition“ – eingerichtet. (6)

Deutsche Komplizen

Zur Vollständigkeit der Moderation/Nachricht hätten Einlassungen darüber gehört, dass der deutsche Bundesnachrichtendienst, BND, seinerzeit Beamte nach Damaskus entsandte, die an den Folterungen passiv beteiligt waren und über ihre Erfahrungen nach Deutschland berichteten. (7) Wahrscheinliche Mitwisser waren auch Beamte des Verfassungsschutzes, BfV, sowie des Bundeskriminalamtes, BKA. (ebd.)

Vor diesem Hintergrund rechtfertigt es sich nicht, Deutschland als Avantgarde einer weltumspannenden justiziellen Redlichkeit herauszustreichen (Miosga: „Weltrecht … heute in Deutschland erstmals …“). Nicht mal indirekt. Unvertretbar ist das schon deshalb, weil der seinerzeitige Innenminister Wolfgang Schäuble, CDU, sich ausdrücklich dazu bekannte, aus Folter gewonnene „Erkenntnisse“ im Rahmen seiner ministeriellen Befugnisse auszuwerten. (8, 9)

Karikatur Auswirkungen Vogelgrippe.jpg

Sind die Deutschen nicht dafür bekannt, immer schon mit ihren Fingern auf Andere zu zeigen ?

Der deutsche „Verfassungsminister“ setzte sich damit ideell über unser Grundgesetz und über die Ächtung der Folter seitens der Vereinten Nationen hinweg. Weder erinnerte ihn Kanzlerin Merkel an deutsche Staatsräson, noch erwies sich die Tagesschau seinerzeit als öffentliche Kontroll- und Protestinstanz.

Auf weitere Hindernisse für deutsche Selbstgerechtigkeit, zum Beispiel die schäbige Rolle des vormaligen Kanzleramtsministers und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (Affären: Kurnaz! Zammar! el Masri!) sowie auf deutsche Gleichgültigkeit gegenüber der US-Foltertradition (KZ Guantanamo, zahlreiche „Black Sites“, u. a. in Deutschland, Polen, Italien, Rumänien, Afghanistan) soll hier gar nicht erst im Detail eingegangen werden.

Man mag zu Herrn Baschir al Assad stehen wie man will; man mag seine Wiederwahl unter Kriegs- und sonstigen einschränkenden Bedingungen (10) für undemokratisch und gefingert halten und seine Amtsführung für kriminell: Er ist gegenwärtig der Einzige, der seinem Land ein multireligiöses und multiethnisches Zusammenleben dank laizistischer Regierungspraxis ermöglicht und das auch beibehalten will – im Unterschied zu dem islamistischen Terroristen-Geschmeiß, das ihn unter Oberhoheit der USA und ihrer Vasallen ersetzen soll.

Im Umsturzfalle würde dieses Pack ein neuerliches Blutbad unter den Minderheiten in Syrien anrichten und das Land in einen islamistischen Gottesstaat verwandeln –der Allgemeinen Menschenrechts-Charta zum Hohn. Aus eben diesem Grund „stehen noch viele Syrer hinter Assad“ (11). Auch seine Rehabilitation in der arabischen Welt hat längst begonnen. (12, 13) Ohne ihn ist eine friedliche Lösung in und für Syrien auf absehbare Zeit nicht denkbar. (14)

Moderierte Desinformation

Das alles hätte eine gute, einordnende Anmoderation berücksichtigt – und Entsprechendes hätten eine Barbara Dickmann oder ein Hanns-Joachim Friedrichs geboten, und zwar in astreinem Deutsch. Frau Miosga beschränkt sich hingegen grundsätzlich auf die Vorwegnahme (in anderen Worten) dessen, was in der anschließenden Filmreportage nochmal kommt.

Laut Staatsvertrag sollen die Nachrichtensendungen der ARD-aktuell „zur Völkerverständigung beitragen“. Den Auftrag verfehlen Tagesschau und Tagesthemen gründlich, weil sie die transatlantische Hetzpropaganda assoziierend in ihre Moderationstexte, Reportagen, Nachrichten und Kommentare übernehmen. TS und TT liefern besonders üble Tendenzberichterstattung, wenn Informationen über Syrien und damit in Zusammenhang Stehendes gegeben werden sollen. (Nachrichten über die massenmörderische Wirkung der völkerrechtswidrigen deutschen (EU-)Sanktionen sowie die Finanzierung von Weißhelm- und anderen Terroristen in Syrien verschweigt ADR-aktuell grundsätzlich).

Qualitätsjournalismus

Dass Frau Miosga eine Meisterin der kruden Vergleiche, verhunzten Sprachbilder und verkorksten Sätze ist, soll hier nur der Vollständigkeit halber noch angemerkt werden. Dergleichen Qualität ist eben ein Nachweis dafür, dass das Peter-Prinzip auch in der redaktionellen Hierarchie der ARD-aktuell gilt.

Man hat der Moderatorin wohl beigebracht, kurze Sätze zu formulieren zwecks besserer Verständlichkeit. Das kriegt sie auch hin, und wie! Ihr zufolge werden „die Täter vor Gericht bestraft“. Das ist neu. Bisher wurden Täter hierzulande nur vor Gericht gestellt und von selbigem zu einer Strafe verurteilt. Bestraft wurden sie erst in einem nachfolgenden Akt, in den extra dafür vorgesehenen Vollzugsanstalten. Sprachliche Genauigkeit setzt gedankliche Genauigkeit voraus, und bekanntlich gibt nur ein Schelm mehr, als er hat.

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Dass Frau Miosga die Formel „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verwendet, rundet den Gesamteindruck von ihren knapp neun Zeilen Kappes ab. Zum wiederholten Mal sei daran erinnert: Das gemeinte Verbrechen wurde erstmals (nach der Befreiung Deutschlands von der NS-Diktatur und unmittelbar vor Beginn der Nürnberger Prozesse) im Jahr 1946 zu einem gesonderten, eigenständigen Straftatbestand gemacht: in englischer/amerikanischer Sprache als „crime against humanity“, auf Französisch „crimes contre l’humanité“ und auf Russisch „Преступления против человечества“. Das rechtfertigt es aber nicht, diese Nomenklatur der Weltkrieg-II-Alliierten wörtlich und in deshalb versautes Deutsch zu übersetzen – und dessen langjähriger Gebrauch wiederum rechtfertigt nicht, bei der sinnwidrigen Gewohnheit zu bleiben.

In unserer Sprache, nach unserem Verständnis werden Verbrechen eben nicht „gegen“ jemanden (bzw. „gegen“ etwas) begangen bzw. verübt, sondern „an“ jemandem. Für die mehrdeutigen fremdsprachigen „humanity“, „l’humanité“ und „Человечество“ stehen im Deutschen zwei Wörter mit sehr unterschiedlicher Bedeutung: „Menschheit“ (real) und „Menschlichkeit“ (ideell). Weil man gemäß deutschem Denken ein Verbrechen an Menschen verüben kann, nicht aber gegen ein Ideal, muss es im hier besprochenen Fall selbstverständlich „Verbrechen an der Menschheit“ heißen.

Moderatorinnen und Moderatoren, die ihren Kopf außer zur Haarpflege auch zum Denken verwenden, wissen das alles selbstverständlich.

Der NDR-Rundfunkrat ist dazu da, die Erfüllung des Programmauftrags und die Beachtung der Programmgrundsätze sowie der Programmrichtlinien zu überwachen und gegebenenfalls durchzusetzen. Er sollte die sich häufenden audiovisuellen Angriffe der ARD-aktuell auf die intellektuelle Integrität ihres Publikums endlich stoppen und ihre als Nachrichtensendung getarnte Kränkung des gesunden Menschenverstands unterbinden. Die ARD-aktuell-„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sind Weiße Folter (15). Auch die ist aber in Deutschland verboten.

Höflich grüßen

Friedhelm Klinkhammer, Volker Bräutigam

Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.democracynow.org/2007/3/2/gen_wesley_clark_weighs_presidential_bid

(2) http://www.balqis.de/de/8gruende.html

(3) https://www.washingtonpost.com/blogs/fact-checker/post/hillary-clintons-uncredible-statement-on-syria/2011/04/01/AFWPEYaC_blog.html

(4) https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/magazin-amnesty/2008-4/usa-lassen-in-syrien-foltern

(5) https://www.deutschlandfunk.de/george-w-bush-blick-zurueck-am-70-geburtstag-100.html

(6) https://www.anstageslicht.de/fileadmin/_processed_/csm_el_masri_netz500px_02_bc42a25416.jpg

(7) https://www.ecchr.eu/fileadmin/Publikationen/Folter_und_die_Verwertung.pdf

(8) https://www.heise.de/tp/features/Alles-in-Ordnung-3404094.html

(9) https://www.wallstreet-online.de/diskussion/500-beitraege/1027026-1-500/schaeuble-will-informationen-nutzen-auch-wenn-sie-durch-folter-erpresst-wurden

(10) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/syrien-assad-wahl-102.html

(11) https://www.freiewelt.net/nachricht/viele-syrer-stehen-nach-wie-vor-hinter-assad-10070664/

(12) https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/krieg-in-syrien-versoehnen-sich-die-araber-mit-al-assad-17326992.html

(13) https://www.cashkurs.com/gesellschaft-und-politik/beitrag/syrien-assads-rehabilitation-in-der-arabischen-welt

(14) https://www.deutschlandfunk.de/parlamentswahl-in-syrien-nur-scheinbar-alternativen-zu-assad-100.html

(15) https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/1496908

Das Autoren-Team: 

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Grafikquelle :

Oben      —       Weißes Haus weint Krokodilstränen für syrische Menschenrechte. Was ist mit Bahrain, Jemen und Ägypten?

2.) von Oben      —     Karikatur

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Unten      —         Hamza Ali Al-Khateeb ist ein 13-jähriger Junge, der von syrischen Streitkräften gefoltert und getötet wurde, was den Krieg in Syrien auslöste.

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Lechte Ecke – Rinke Ecke ?

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Januar 2022

Ziemlich rechts im Kampf gegen „rechts“

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Quelle :      NachDenkSeiten

Ein Artikel von Wolf Wetzel | Verantwortlicher: Redaktion

Ein Teil der Linken kämpft nicht gegen „Querdenken“, sondern gegen ihr eigenes Selbstverständnis. Wo waren all diese Gruppierungen und Parteien, die nun gegen „rechts“ antreten wollen, als es um den Kampf gegen richtige, so ganz echte Nazis ging? Dass es der aktuellen Bundesregierung nicht um den Kampf gegen „rechts“ geht, sondern um die Durchsetzung einer Corona-Politik, die vor allem rechts, autoritär und repressiv ist, sollte leicht nachvollziehbar sein.

Für Samstag (15. Januar) hatten Gegner der Corona-Politik der Bundesregierung zu einer Demonstration unter anderem in Hamburg aufgerufen. Die SPD-geführte Stadt hatte via Versammlungsbehörde die Demonstration verboten.

Die Art und Weise, wie das Demonstrationsrecht ausgehebelt wird, ist nicht sonderlich neu: Man macht unerträgliche Auflagen, wie eine Höchstzahl an Teilnehmern, und/oder „erlaubt“ ausschließlich eine Kundgebung an einem abgelegenen Ort. Beides ist den Veranstaltern „angeboten“ worden, was diese dankend abgelehnt haben. An der letzten Demonstration gegen die Corona-Politik hatten in Hamburg über 14.000 Menschen teilgenommen.

Nun kommt etwas besonders hinzu. Gruppierungen, denen man zumindest keine Nähe zu Regierungspolitiken unterstellen kann, hatten für den 15. Januar zu einer Gegendemonstration aufrufen, unter dem Motto:

„Solidarität gegen Verschwörungsideologien“

Unterstützt wurde der Aufruf von Parteigliederungen von DIE LINKE und den GRÜNEN, von der DKP bis hin zur anarchistischen FAU Hamburg, von Gewerkschaftsgliederungen (Verdi) bis zur „Seebrücke“, von „Omas gegen Rechts“ bis zu „Lesben gegen Rechts – Regionalgruppe Hamburg“. „Den Bündnis Aufruf unterstützen inzwischen über 100 Gruppen und Organisationen sowie zahlreiche Einzelpersonen keine-stimme-den-nazis.org.“

Die „Minderheiten“ werden gegeneinander in Stellung gebracht

Diese Gegen-Demonstration wurde von der Versammlungsbehörde erlaubt. Dass die SPD-geführte Stadtregierung an diesem Demokratieangebot sehr gelegen ist, ist naheliegend. Aber es ist ihr sicherlich noch etwas wichtiger: Die „Minderheiten“ gegeneinander in Stellung zu bringen. Auf der einen Seite stehen die „Querdenker“ (die Kritiker der Corona-Politik werden hier im Folgenden unter dem Begriff „Querdenker“ geführt, wohl wissend, dass dieser Begriff diffamiert wurde und sich nicht alle Kritiker mit ihm identifizieren). Auf der anderen Seite Gruppierungen, die sich im Kampf gegen „rechts“ vereinen und diesen Kampf mit großer medialer und politischer Unterstützung nun gegen die „Querdenker“ richten.

Alleine diese ungewöhnliche Allianz müsste doch aufstoßen, zum Nachdenken anregen. Wenn es um den Kampf gegen Nazis geht, wie zum Beispiel gegen den NSU, gegen das NSU-Netzwerk, dann jubeln weder die SPD noch andere Regierungsparteien diesem Ansinnen zu. Man lässt es im besten Fall leerlaufen. Im Normalfall macht man ihm das Leben schwer. Und ganz massiv wird schließlich die politische und juristische Verfolgung, wenn sich der Antifaschismus tatsächlich gegen organisierte Nazis richtet, wie in Leipzig zum Beispiel. Dann jubelt die Stadtregierung nicht, sie hat nicht einmal Verständnis, sondern fährt das ganze Repressions-Instrumentarium auf, wie die Verhaftung und Verfolgung von Antifaschisten als „Mitglieder in einer kriminellen Vereinigung“, nach § 129 des StGB.

Nicht nur das stößt auf. Wo waren all diese Gruppierungen und Parteien, die nun gegen „rechts“ antreten wollen, als es um den Kampf gegen richtige, so ganz echte Nazis ging? Wo waren sie in den letzten über zehn Jahren? Alle wissen es und sollten doch keiner politischen Amnesie verfallen. Noch nie war der antifaschistische Kampf oder Widerstand so kleinlaut, so schwach, so piepsig wie im Kampf gegen das NSU-Netzwerk und seine staatlichen Beihelfer (in Gestalt von manipulierten Ermittlungsarbeiten, in Form von Geheimdiensttätigkeiten, die vor allem damit beschäftigt waren, die Strafverfolgung von Nazis zu sabotieren und die ins Visier geratenen Nazis zu warnen).

Jetzt also wollen ganz viele antirassistische und antifaschistische Gruppierungen Flagge zeigen, um den Kampf gegen Nazis aufnehmen? Warum fragt niemand, warum die aktuelle rot-grün-gelbe Bundesregierung, warum die aktuelle SPD-Stadtregierung in Hamburg so schlagartig das Ruder herumreißen, im Kampf gegen „Neonazis“?

Regierung geht es nicht um Kampf gegen rechts

Dass es der aktuellen Bundesregierung nicht um den Kampf gegen „rechts“ geht, sondern um die Durchsetzung einer Corona-Politik, die vor allem rechts, autoritär und repressiv ist, sollte leicht nachvollziehbar sein.

Aber was ist mit all denen, die den Kampf gegen Neonazis, gegen „rechts“ als Widerstand gegen „Querdenker“ entdecken? Vorausschicken muss man, wie selbst die Polizei die große Mehrheit der Kritiker der Corona-Politik in Hamburg einschätzt:

„Zwar sehen die Hamburger Behörden anders als in anderen Bundesländern keine Steuerung durch Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten bei den Protesten. Der Innensenator blickt dennoch mit Sorge auf das Geschehen. ‚Es besteht die Gefahr, dass sich der Protest selbst radikalisiert‘, sagte Grote der Deutschen Presse-Agentur. ‚Das Opfer-Narrativ ist sehr ausgeprägt. Und je näher beispielsweise eine Impfpflicht rückt, desto unversöhnlicher wird der Ton und desto größer wird die Gefahr einer Radikalisierung‘.“ (ndr. de vom 24.12.2021)

Wer die Neonazis kennt, in Hamburg und anderswo, der kann eines ganz sicher sagen: Die Mehrheit der Teilnehmer sind keine Nazis und in der Tat „steuern“ keine Neonazis die Demonstrationen von über 10.000 Menschen. Wer noch halbwegs bei Trost ist, muss sich nur die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anschauen, um dies ganz sicher nicht mit einem Aufmarsch von Nazis zu vergleichen. Und wer sich tatsächlich mit neonazistischen Strukturen und ideologischen Think Tanks auskennt, der weiß, dass diese ganz und gar nicht mit dem Verlauf der „Querdenker“-Demonstrationen zufrieden sind.

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Können Uniformen  Links sein ?

Was hält dieses „Bündnis gegen Rechts“ in Hamburg den „Querdenkern“ vor? Erst einmal all die Schlagworte, die man seit der Corona-Krise wie Luftballons aufsteigen lässt: Das Bündnis wolle „gegen Verschwörungsideolog*innen, Coronaleugner*innen, Reichsbürger*innen, Antisemit*innen und andere Schwurbler*innen“ demonstrieren.

Anpassung an offizielle Phrasen

Der Unterschied zum Regierungstalk ist gleich Null! Begriffloser können Vorwürfe kaum noch gemacht werden.

Was ist eine Verschwörungsideologie? Wenn man sagt, dass es bei der Pandemiebekämpfung nicht um unsere Gesundheit geht? Gehört zu einer Verschwörungstheorie, dass man mächtige Kapitalinteressen hinter dieser Art von Pandemiebekämpfung sieht?

Gehört es zu einer Verschwörungstheorie, wenn man die wissenschaftliche Daten- und Studienlage infrage stellt, weil über 80 Prozent der Studien von den Pharmakonzernen selbst in Auftrag gegeben werden und diejenigen Studien, die ungünstig ausfallen, einfach im Papierkorb landen?

Ist das ein Zeichen von einer Verschwörungstheorie, wenn man das Weltwirtschaftsforum (WEF), seinen Chef ernst nimmt, der vom großen Reset (Great Reset) träumt und die Pandemie als Chance sieht und propagiert?

Und wie abgedroschen ist der Vorwurf, Gegner der Corona-Maßnahmen seien „Coronaleugner“. Geht es wirklich noch dümmer? In der Mehrheit wird bei „Querdenkern“ und drumherum nicht die Wirklichkeit eines tödlichen Virus bestritten, sondern Corona-Maßnahmen kritisiert, die mit der Bekämpfung nichts zu tun haben! All das ist kein besonderes „Querdenker“-Phänomen, sondern Teil der wissenschaftlichen Debatte. Manchmal sagen sogar die Experten, dass sie nur auf Sicht fahren. Manche wissen sogar, dass es zu den Grundkenntnissen einer tödlichen Krankheit gehört, dass man wenig bis viel zu wenig weiß. Wenn man das ganz Banale zum Ausgangspunkt macht, dann sind gegensätzliche Annahmen und Schlussfolgerungen nicht irre, sondern ein Grundwerkzeug der Aufklärung. Dazu gehört eben auch, dass die Impfstrategie nicht alternativlos ist und schon gar nicht unschlagbar, wenn man mittlerweile weiß, dass der neuartige Impfstoff gar nicht in angemessener Weise das macht, wozu er mit allen Schikanen gespritzt und geboostert werden soll.

Und dann der Baseballschläger der Stunde, den sich Regierung und “Bündnis gegen rechts“ teilen: „Antisemit*innen!“. Wissen die Bündnisteilnehmer nicht, wie schamlos dieser Begriff, dieser Vorwurf missbraucht wird? Als ganz zentrales Beweisstück wird der Vorwurf angeführt, „die“ Querdenker würden Bill Gates und eine kleine nichtgewählte Elite für diese Art der Pandemiebekämpfung verantwortlich machen. Reicht das ernsthaft, um jemand zum Antisemiten zu machen? Warum führt man nicht eine Diskussion, eine öffentliche, über diese Frage, wer in Deutschland, im wertebestimmten Westen das Sagen hat? Ist Horst Seehofer nach dieser Leseart auch ein Antisemit, als er sehr erfahren sagte:

„Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.“ (Pelzig unterhält sich, 20. Mai 2010)

Diese profunde Feststellung sehr präzise auf heute anzuwenden, ist nicht einfach. Aber was steuert die Linke dazu bei, die den „Querdenkern“ Antisemitismus vorwirft? Wie geht sie mit Horst Seehofers Aussage um? Wie erklärt sie sich die massiven Repressionen und Einschränkungen von Grundrechten (nicht erst seit Corona) im staatstheoretischen Sinne? Hat sie noch etwas von Marx auf der Pfanne? Weiß sie noch, was mit dem Staat als „ideellem Gesamtkapitalisten“ gemeint ist?

Und damit wären wir beim allerletzten Vorwurf, der tatsächlich eine Corona-Geburt ist: „Schwurbler*innen!“. Muss man so unterirdisch und dämlich auftreten? Muss man den Bumerang so grandios gegen sich selbst richten? Mit „Schwurbler*innen sind Menschen gemeint, die nur Halbwissen haben, die nur so daherreden, von nichts bis wenig Bescheid wissen. Gilt das nicht mindestens genauso für jene Linke, die nun im Namen der guten und faktenbasierten Wissenschaftlichkeit auftreten? Haben genau diese Linke noch nichts von der Wissenschaftskritik gehört, die unter anderem die Kritische Theorie (Adorno/Habermas) zum guten Teil formuliert hat? Haben all diese Besserwisser sich damit auseinandergesetzt? Was bedeutet es, wenn man diese Wissenschaftskritik auf heute anwendet?

Widersprüche aushalten

Es gäbe also genug, um sich selbst schlau zu machen, um Widersprüche zu benennen, sie auszuhalten. Dies gilt für die Linke, die in Hamburg gegen die „Querdenker“-Demonstration aufruft. Aber auch die Querdenkenden sollten sich einige Fragen stellen. Dazu gehört sicherlich auch die berechtigte Frage, was Reichsbürger, AfD-Funktionäre und Identitäre auf einigen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen zu suchen haben. Fallen sie (den meisten) nicht auf oder weiß man gar nicht, was einen von diesen trennt oder doch eint? Dabei geht es nicht nur darum, den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es geht vor allem darum, selbst genauer darin zu werden, wohin die Kritik an der Corona-Politik führen soll.

Die Linke täte gut daran, in der notwendigen Debatte um die Corona-Politik zu überzeugen, anstatt als „Politkommissare“ aufzutreten.

Quellen und Hinweise:

Freigabe durch die Nachdenkseiten durch Herrn Jens Berger zur Veröffentlichung liegt mir vor. Freundlichen Gruß   Wolfgang

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Grafikquellen          :

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Der Hass im Netz

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Januar 2022

Hakenkreuz an der Tür, tote Vögel im Briefkasten

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Wenn Politiker Hass säen – werden sie reichlich ernten !

Ein Essay von Margarete Stokowski

Wenn es nicht bei Beschimpfungen in sozialen Medien bleibt und die Wut in die analoge Welt schwappt, stehen Betroffene oft allein da. Weder Polizei noch Justiz sind ausreichend handlungsfähig. Was jetzt passieren muss.

Wenn man über die polarisierte Gesellschaft und den öffentlichen Diskurs redet, landet man immer wieder beim Thema »Hass im Netz« – aber was damit gemeint ist, ist oft eigenartig unklar. Alle wissen – oder scheinen zu wissen –, dass »Hass im Netz« schlimm ist und schlimmer wird, Debatten schädigt und zur Spaltung der Gesellschaft beiträgt. Aber wenn es um die Details geht, ist die Kenntnislage bei Nichtbetroffenen oft eher dünn.

Ich habe das häufig bei Lesungen oder anderen Veranstaltungen erlebt, fast immer werde ich bei solchen Anlässen gefragt, wie ich als Autorin damit umgehe, dass ich von »Hass im Netz« betroffen bin. Die Fragen gehen dann meistens in die Richtung: »Wie ist das für Sie, was macht das mit Ihnen?« und »Was kann man dagegen tun?«

»Wird sie uns etwas über Nervenzusammenbrüche erzählen?«

Zwei Punkte dazu: Was »es« mit »mir« macht, halte ich erstens nicht für den zentralen Punkt der Debatte. Das Interesse daran ist verständlich, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass diese Frage von einer gewissen Sensationslust getragen ist: Na, hält sie das aus? Wird sie uns etwas über Nervenzusammenbrüche und schlaflose Nächte erzählen?

Wird sie nicht. Sie kommt schon klar.

Und das zweite Problem: Es geht nicht weg, wenn man wegguckt. Im Zweifel kann es sogar gefährlich werden, wenn man nicht mitbekommt, dass Leute einen Angriff ankündigen oder die Wohnadresse veröffentlichen. Sogenanntes Doxing ist längst ein zentraler Bestandteil von »Hass im Netz« geworden: die Veröffentlichung privater Daten einer Person, also etwa von Politiker:innen oder Journalist:innen, gegen deren Willen, zwecks Einschüchterung. Dabei kann es um die Wohnadresse gehen, aber auch um die Telefonnummer, Mailadresse, Auto und Autokennzeichen, die Namen der Kinder oder anderer Familienmitglieder, oder Orte, an denen die Person oder ihre Familienmitglieder sich häufig aufhalten.

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Grafikquellen     :

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Vorwürfe ./. Bremer Polizei

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Januar 2022

„Der Fisch stinkt vom Kopf“

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Aus Bremen von Sebastian Heidelberger

Bremer Po­li­zis­t-In­nen werfen ihrer Behörde Rassismus vor. Doch Ermittlungen könnten schwierig werden: Die Angst vor den Kol­le­g-In­nen ist groß.

Die Bremer Polizei sieht sich deutschlandweit in einer Vorreiterrolle, wenn es um Antidiskriminierung geht. Seit fast 15 Jahren gibt es einen Integrationsbeauftragten, seit Anfang 2021 zudem eine Referentin für Vielfalt und Antidiskriminierung. Sie soll ein Konzept entwickeln, wie Sensibilität für diese Themen bei der Bremer Polizei gefördert werden kann. Trotz dieser Bemühungen wird der Behörde Rassismus vorgeworfen – und das nicht von Menschen, die der Polizei ohnehin kritisch gegenüberstehen, sondern von Po­li­zis­t:in­nen selbst.

Einer von ihnen ist Jürgen G. Er will anonym bleiben und schätzt, dass 20 bis 30 Prozent seiner Kol­le­g:in­nen rassistische Einstellungen haben und Racial Profling betreiben, also Menschen nur aufgrund ihrer Hautfarbe kontrollieren. Solche Kontrollen sind verboten. In Bremen können kontrollierte Personen sich aber eine Quittung ausstellen lassen, auf der angegeben wird, durch was sie den Verdacht auf sich gezogen haben.

Jürgen G. sagt, dass einzelne Kol­le­g:in­nen auch noch weiter gehen. „Die gehen dann los und sagen: ‚Wir checken heute mal ein paar N****r ab.‘ Wenn die bei einem Einsatz bei einer deutschen Familie sind, dann läuft alles normal. Wenn sie aber bei einer Familie sind, die farbig ist oder einen Migrationshintergrund hat, dann verhalten die sich anders. Dann wird eine Widerstandshandlung provoziert. Dann wird dem Familienvater zum Beispiel ins Ohr geflüstert: ‚Ich ficke deine Frau.‘ Wenn der dann aggressiv wird, wird entsprechend hart eingegriffen.“

Es sind Aussagen, die sich nicht überprüfen lassen. Doch bundesweit werden immer wieder ähnliche Vorwürfe laut. Wie viele Po­li­zis­t:in­nen rassistische Einstellungen haben und welche Folgen das im Dienst hat, dazu gibt es in Deutschland kaum wissenschaftliche Forschung. Eine bundesweite „Rassismus-Studie“ bei der Polizei gibt es nicht.

Forscher: Verhalts weisen werden „kulturalisiert“

In Bremen zeigte man sich offen für eine solche Untersuchung. Doch der damalige Bundesinnenminister, Horst Seehofer (CSU), lehnte diese ab. „Es wird keine Studie geben, die sich mit Unterstellungen und Vorwürfen gegen die Polizei richtet“, erklärte Seehofer. Denn die überwältigende Mehrheit seiner Be­am­t:in­nen stehe auf dem Boden des Grundgesetzes. Geht es also nur um Einzelfälle?

Jürgen G. ist anderer Meinung. Er sieht ein strukturelles Problem beim Thema Rassismus in seiner Behörde. Viele seiner Kol­le­g:in­nen würden einen „tollen Job“ machen. Er will sie nicht alle pauschal verurteilen. Er hat aber festgestellt, dass es eine problematische Polizeikultur gibt: „Man fängt an, Menschen in Schubladen zu stecken.“ Es gebe Polizist:innen, die Menschen je nach Herkunft bestimmte Eigenschaften zusprechen.

Dies hat auch der Wissenschaftler Frank Müller beobachtet. Er arbeitet als Ethnologe an der Universität Bremen. Zwischen 2014 und 2018 hat er im Rahmen eines Forschungsprojekts Bremer Po­li­zis­t:in­nen immer wieder auf Streife begleitet. Offener Rassismus sei ihm dabei nicht begegnet, sagt er. Seine Forschung habe aber gezeigt, dass sich bei der Polizei Stereotype bilden würden. Verhaltensweisen von bestimmten Bevölkerungsgruppen würden „kulturalisiert“.

„Da sagt man dann, die Polen machen dies und das oder die Russen dieses und jenes“, erklärt Müller. „Und da wird dann eben ein Sprechen und ein Denkmuster bedient, die dann in bestimmten konkreten Situationen problematisch werden können.“

Beabsichtigte Eskalation

Müller sei auch aufgefallen, dass Bremer Po­li­zis­t:in­nen bestimmte Einsätze eskalieren lassen. Die Polizei sei nicht immer neutral, sagt er. Solche Situationen träten in der Regel bei jungen Männern aus einem schwierigen sozialen Milieu auf, „die in unserer Stadt sehr häufig Migrationshintergrund, teilweise dann eben auch keinen deutschen Pass haben“.

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Die Be­am­t:in­nen hätten ein Gespür dafür, wie sie Situationen eskalieren lassen können, sagt Müller. „Sie sind durch ihre Berufserfahrung durchaus in der Lage, Situationen zu steuern. Und in der ein oder anderen Situation ist mir klar geworden: Sie steuern es jetzt gerade in eine Richtung, wo es zur Eskalation kommt.“ Laut Müller seien dies aber Provokationen von beiden Seiten. Er habe bei seinen Beobachtungen auch einen fehlenden Respekt gegenüber der Polizei wahrgenommen. „Aber umgekehrt gibt es eben auch Situationen, in denen das zurückgespielt wird“, so Müller.

Polizist Jürgen G. kennt weitere rassistische Vorfälle bei der Polizei in Bremen. Einer davon sei in der Behörde ein offenes Geheimnis. Eine Gruppe von Po­li­zei­an­wär­te­r:in­nen habe vor einiger Zeit beim Laufen das Lied „10 kleine N****lein“ gesungen. Reaktionen von Seiten der Aus­bil­de­r:in­nen habe es daraufhin nicht gegeben.

Die Bremer Innenbehörde kennt den Vorfall, der sich bei der Bereitschaftspolizei abgespielt haben soll. Es gebe Ermittlungen – allerdings zunächst ohne ein Ergebnis. Denn trotz eines Aufrufs hätten sich keine Zeu­g:in­nen gemeldet.

Auch andere Po­li­zis­t-In­nen erheben anonym Vorwürfe

Jürgen G. ist nicht der einzige Polizist im Bundesland Bremen, der seiner Behörde Rassismus vorwirft. Das belegen interne Unterlagen der Polizei schon im Jahr 2018. Darin schildert ein Polizeianwärter, der als Person mit Migrationshintergrund beschrieben wird, einen Vorfall während seiner Ausbildung in Bremen. Er sei bei einer Verkehrskontrolle dafür verantwortlich gewesen, die Fahrzeuge auszuwählen. Der Praxisanleiter sei vor Beginn der Kontrolle zu ihm gekommen und habe ihm die Anweisung gegeben: „Du hältst jetzt genau die an, die so aussehen wie du!“

Quelle      :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —   Blockupy 2013: Spaltung und Einkesselung der Demonstration durch die Polizei. Die Gesichter von Demonstranten wurden durch den Fotografen unkenntlich gemacht.

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„KEIN 10. OPFER !“ im NSU

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Dezember 2021

Der NRW Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA)

Kalte Steine, kaltes Eisen – zeigen wie Politiker-Innen weinen

Von Jimmy Bulanik

Der NRW Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) zum benannten Nationalsozialistischem Untergrund (NSU) hat im Januar 2016 mit den Vernehmungen zum Mord an Mehmet Kubasik begonnen. Noch immer tragen die Obleute im Landtagsausschuss eine eminente Verantwortung. Sie sollen aufklären, so lautet der Untersuchungsauftrag des NRW Landtages in Düsseldorf.

Am 04. April 2006 wurde in der Mallinckrodtstrasse 190 in Dortmund Mehmet Kubasik ermordet. Gleich zwei Tage später, am 06. April 2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internet – Cafe in der Holländische Straße 82 in Kassel erschossen. Mehmet Kubasik wurde lediglich 39 Jahre alt. Halit Yozgat war im April 2006 21 Jahre jung. Beide Mordopfer wurden wurden durch Kapitalverbrecher des neonazistischen NSU Netzwerkes erschossen. Sowohl im Mai als auch im Juni 2006 organisierten Familienangehörige der ermordeten NSU Mordopfer Kubasik und Yozgat im Mai und Juni 2006 in Dortmund und Kassel Schweigemärsche. Ismail Yozgat, Halit Yozgats Vater, forderte das Innenministerium und seine Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden damals eindringlich auf, dafür Sorge zu tragen, das keine weiteren Morde dieser Mordserie passieren, das es „KEIN 10. OPFER !“geben darf: „Es sollen keine hinterhältigen Schüsse mehr fallen ! Sorgen Sie dafür !

Acht Jahre später hat der NRW PUA NSU seine Arbeit zu den Ermittlungen aufgenommen, die den Morden und Anschlägen des Nationalsozialistischen Untergrundes folgten. Mehr als ein Jahr später hat der NRW PUA NSU begonnen, nach den Ermittlungssachverhalten zum Mord an Mehmet Kubasik zu fragen. Im Dezember 2015 waren zuletzt die Vernehmungen von Zeuginnen und Zeugen zum „Tatkomplex Keupstrasse in Köln – Mülheim“ vorerst beendet worden. Zu dem Nagelbombenanschlages, durch den am 09. Juni 2004 in der Köln – Mülheimer Geschäftsstraße mehrere dutzend Menschen zum Teil schwer verletzt wurden, hatten die polizeilichen Ermittlungen seinerzeit keine Erkenntnisse zu der Täterschaft ergeben. Erst nach der öffentlichen Enttarnung des harten Kern des NSU Netzwerk am 04. November 2011 wird der deutschen Sicherheitsarchitektur bundesweit begreiflich geworden sein, dass sie zu ihrer Arbeit in allen ihren Ermittlungsschritten kapitale Fehler und Versäumnisse einzuräumen haben. Von Anfang an war es der Anwohnerschaft und Kaufleuten der Keupstraße selbst, denen die Kölner Staatsanwaltschaft (StA) und Polizei negativ voreingenommen die größte Aufmerksamkeit widmeten.

Aufrichtige Anerkenntnis ?

Im NRW PUA NSU hatten im Oktober 2015 Geschädigte des Nagelbombenattentat der Kölner Keupstraße in ihrer Eigenschaft als Zeugen ausgesagt. In ihrer übereinstimmenden Erinnerung war es die Kölner Polizeibeamten die ein Klima der Belastungstendenzen schuf, da sie in ihren Ermittlungen die Hypothese präferierten, dass eine Bombendetonation in der Köln – Mülheimer Keupstraße Wahlweise lediglich ein Anschlag seitens der organisierten Kriminalität (OK), ein Verbrechen im Spannungsfeld der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) wie Beispielsweise der kurdischen PKK, der türkischen Hezbollah in Deutschland operierend gewesen sein könne. Die Wahrnehmungen und Einschätzungen der Opfer des rechtsterroristischen NSU Netzwerkes, das die am Fahrrad versteckte Nagelbombe von deutschen Rassisten detoniert wurde, galt den Ermittlungsorganen als nicht gewichtig. Sekundärrassistische Ermittlungsrichtungen schienen der Kölner Staatsanwaltschaft, Polizeibeamten aus Köln, dem Landeskriminalamt (LKA) NRW, Bundeskriminalamt (BKA) im südhessischen Wiesbaden genehm und bequem zu sein. Eine gravierende Fehleinschätzung, welche heute öffentlich anerkannt ist. Das die Strafverfolgungsbehörden und Verantwortlichen von der Leitung der kriminalpolizeilichen Ermittlungsgruppen, Besondere Aufbauorganisation des Bundeskriminalamt (BAO) bis hin zu Fritz Behrens (SPD), Staatsminister (NRW Justizminister, NRW Innenminister) a.D. Fehler gemacht zu haben, wurde im NRW PUA NSU in Düsseldorf evident. Deutliche Positionierungen in Form von Zeugenaussagen dafür, dass die Geschädigten des NSU Netzwerkes selbst über viele Jahre hinweg als Tatverdächtige behandelt wurden, dass es staatlich institutioneller, struktureller (Sekundärer) Rassismus und mitnichten eine intersubjektive Innenrevision von Ermittlungshypothesen waren, die von vielen bis heute akut leidenden Geschädigten der rechtsextremistischen Terrororganisation NSU als einen „Anschlag nach dem Anschlag“ tituliert worden sind, empfanden die Zeugen der Staatsanwaltschaft und Polizeibeamte im Untersuchungsausschuss aber niemand. Weder die damals Verantwortlichen und Ermittelnden, die im NRW NSU Untersuchungsausschuss bisher ausgesagt haben, noch die Obleute der NRW Landtagsfraktionen, welche sich immer wieder über Stunden hinweg die monotonen Floskeln des „Das entzieht sich meiner Kenntnis…“, „Wir haben in alle Richtungen ermittelt, aber… oder „für eine rechtsmotivierte Tat fehlten uns hinreichende Erkenntnisse“ angehört haben.

Mit Zeichen für Trauer konnte Politik noch nie Geld verdienen

„Die haben alles kaputt gemacht“

Nur wenige Tage, nachdem am 13. Januar 2016 die Beweisaufnahme zum „Tatkomplex Dortmund“, zum NSU – Mord an dem deutschen Staatsangehörigen Mehmet Kubasik, begonnen hatte, machte der öffentliche Auftritt des NRW NSU Untersuchungsausschussvorsitzenden MdL Sven Wolf (SPD) für den Wahlkreis Remscheid bei einer Veranstaltung im Rahmen der Theaterproduktion „Die Lücke“ am Schauspielhaus Köln (Mülheim), Schanzenstrasse 6 – 20 verstörend darauf aufmerksam, wie wenig zugehört, wie wenig verstanden er hatte: strukturellen oder staatlich institutionellem Rassismus der seinerzeit ermittelnden Behörden und beteiligten Instanzen vermochte dieser nicht zu erkennen. Auch wollte der SPD MdL Sven Wolf es nicht stehen lassen, wenn im NRW PUA NSU die Positionierung entsteht, das staatlich institutioneller Sekundarrassismus die damaligen Ermittlungen und Behandlung mit den NSU Geschädigten in typischer Täter – Geschädigten – Umkehr maßgeblich beeinflusst habe. NRW SPD MdL Sven Wolf kenne persönlich einzelne Polizeibeamten, welche keine Rassisten sein. Dem NRW PUA NSU Vorsitzenden Sven Wolf ist vermeintlich zuzustimmen. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, so ein bekanntes Sprichwort. Im NRW PUA NSU sprach niemand vom Scheitern oder der politisch wie menschlich kritikwürdigen Geisteshaltung Einzelner. Vielmehr ging und geht es seit über zwölf Monate darum, dass bei Justiz, Polizei und Inlandsgeheimdienst das Augenlicht des politisch rechtem Auge getrübt sein soll. Dies haben die Sachverständigen wie beispielsweise die bundesweit anerkannte Diplom Politologin, Buchautorin sowie unabhängige Journalistin Andrea Röpke zu Beginn der NRW PUA NSU Arbeit herauskristallisiert. Dies haben die Aussagen von Zeugen des NRW PUA NSU der deutschen Sicherheitsbehörden und Verantwortungsebenen zu erkennen gegeben. Der ehemalige NRW Justiz- und Innenminister Fritz Behrens hatte die Köln – Mülheimer Keupstraße seinerzeit nach dem rassistischen Terroranschlag am 09. Juni 2004 nicht besichtigt, weil der Tatort an sich bereits dazu angetan gewesen sei, dass ein falsches Signal gesetzt werden könnte, wenn es sich doch um ein Verbrechen aus dem Umfeld der organisierten Kriminalität gehandelt hätte. „Wegen dieser Unsicherheit wollte man sich vor Ort nicht verwickeln lassen“, so die Aussage des Zeugen Fritz Behrens im NRW PUA NSU.

Die Lücke

Das Schauspielstück „Die Lücke“, das die Geschichte der vorurteilsbehafteten mutmasslichen Unterstellungen, Verdächtigungen, behördlichen Verdunkelungen und insbesondere dem institutionellem Rassismus der Minister- Justiz und Polizeibeamten bei der Aufklärung zum rechtsterroristischem Nagelbombenattentat auf der Keupstaße in Köln – Mülheim thematisiert, dürfte dem SPD MdL Sven Wolf bei all seiner verniedlichenden Haltung zum strukturellem Rassismus in der Ermittlungstätigkeit der beteiligten Behörden nicht gefallen haben. Vor allem erschreckte die Einlassung des Sven Wolf vor der Aufführung, die Anwesenheit des NRW PUA NSU Vorsitzenden Sven Wolf durchaus als kalkulierte Öffentlichkeitsmassnahme bewertet werden darf, besonders deshalb, weil Sven Wolf drei Tage zuvor sehr viel verständnisvoller, aufmerksamer und emphatischer aufgetreten ist. Am Mittwoch, 13. Januar 2016 waren mit der Dortmunder Witwe und Mutter Elif Kubasik und deren Tochter Gamze Kubasik zur Zeugenaussage in den parlamentarischen Untersuchungsausschuss geladen worden. Beeindruckend berichteten Elif und Gamze Kubasik davon, dass Mehmet Kubasik am 04. April 2006 ermordet wurde. Einen Tag darauf, am 05. April 2006 die Witwe Elif Kubasik und die Tochter Gamze Kubasik für die Polizei Dortmund zu dem Kreis der Tatverdächtigen gewertet worden sind. Das ein geliebter Familienangehöriger, den sie gerade durch einen Mord verloren hatten, gar selbst verdächtigt wurden. Mehmet Kubasik war deutscher Staatsbürger von türkisch – alawitischer Abstammung. Organisierte Kriminalität ? PKK ? Zu all jenen Motiven hat die Polizei Dortmund im Wohnumfeld ermittelt, habe Nachbarschaft und Freundeskreis befragt, ob sie ein Foto Mehmet Kubasik zeigend diesen Mann kennen und etwas dazu sagen könnten, ob er etwa in der organisierten Kriminalität (wie Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, eine Verbindung wie Mitgliedschaft einer terroristischen Organisation wie der PKK) verwickelt sei. Das öffentlich bekannte Stigma lastete fortan auf der Familie Kubasik. Menschen welche bis zum Mord an Mehmet Kubasik der Familie Kubasik wohlwollend gewesen sind, wandten sich durch Ungewissheit von der Familie Kubasik ab. Abwertende Blicke, Drohungen und Beschimpfungen konfrontierten die Angehörigen tagtäglich damit, dass die Polizei aus dem Mordopfer einen Verdächtigten gemacht hatte. Gamze Kubasik fasste im parlamentarischen Untersuchungsausschuss ihre Empfindungen von damals sowie der Gegenwart zusammen: „Ich muss sagen, es ist ja schon schlimm, wenn man einen Vater verliert. Aber die haben uns auch noch den Stolz weggenommen. Wir haben Freunde und Bekannte. Und Menschen, die uns gemocht haben. Die meinen Vater gemocht haben. Das haben die alles kaputt gemacht. Jahrelang hat man uns verdächtigt. Die Polizei ist dafür verantwortlich, dass man uns jahrelang das Leben weggenommen hat. Vielleicht konnte ich verarbeiten: ja mein Vater ist nicht mehr da, und das Leben geht weiter. Aber die Polizei hat das unmöglich gemacht.“ In Anbetracht der eindrucksvollen Schilderungen Elif und Gamze Kubasik äußerten die Obleute interfraktionell ihr tiefes Entsetzen im Bezug auf die Modalität, wie mit den Familienangehörigen umgegangen worden war. Seitens der Obleute bestand Einigkeit, dass derlei Amtsmissbrauch niemals mehr wieder stattfinden werden. Dass Beamte, welche in ihrer Ermittlungsarbeit mit Geschädigten umgingen, hierfür speziell ausgebildet sein werden. Das erlittene Leid, welches den Betroffenen wie den Opfern, Angehörigen durch belastend tendenziöse Ermittlungen angetan worden ist, um so vieles gravierender sei in einer Vergleichbarkeit der Wut, die der Kölner SPD – Obmann Andreas Kossiski (ein Polizeibeamter in den Bundesländern Schleswig – Holstein und Nordrhein – Westfalen) nun, nach der Aussage der Zeugen Kubasik, über die Ermittlungsfehler empfinde. Der Vorsitzende Sven Wolf wünschte den beiden Zeugen, dass die einschneidenden emotionale Wunden heilen mögen. Pietätvolle Äusserungen, welche die Anwesenden des NRW PUA NSU durchaus glaubwürdig empfanden konnten. In dieser spezifischen Situation. MdL Sven Wolf, der drei Tage später in einer ganz anderen Situation, vor einer anderen Öffentlichkeit, vor der Aufführung der „Lücke“ davon sprechen sollte, dass er den Eindruck eines staatlichen Rassismus in den zu den Morden des rechtsterroristischem Netzwerk NSU damals ermittelnden Behörden nicht für richtig erachte, hat -das muss Sven Wolf sich wohl sagen lassen – indessen wenig Fingerspitzengefühl dafür, wie viel Verantwortung er und sein Kollegium im NRW PUA NSU inne haben. Die Obleute der Fraktionen sind es, welche mittels Fragen sowie Eruieren sollen, welche behördlichen Verfehlungen begangen worden sind, im Zusammenhang der kapitalen Verbrechen des rechtsterroristischem Netzwerk NSU. Die Obleute sollen zum Beispiel einen leitenden Kriminalbeamten fragen, immer wieder, weshalb diese/r der Spur, es könnte ebenfalls eine rechtsterroristisches Kapitalverbrechen in Form eines Mordes gewesen sein, zu jener Zeit nicht nachgegangen worden ist. Der Kriminalbeamte Michael Schenk, seinerzeit Leiter der polizeilichen Ermittlungen zum Mord an dem Kaufmann Mehmet Kubasik, der für den 21. Januar 2016 zur Zeugenvernehmung im NRW PUA NSU erschien, versuchte sich präzise zu dem Sachverhalt, mehr als augenscheinlich um eine sinnige Antwort verlegen, aus der Affäre zu ziehen: Weshalb die Aussage der Dortmunder Zeugin Jelica Dzinc vom 14. Januar 2016, einer Passantin und Anwohnerin der Mallinckrodtstrasse in Dortmund zum Zeitpunkt unmittelbar vor dem Mord an Mehmet Kubasik damals zwei Männer am Tatort gesehen hatte, die wie „Junkies oder Nazis“ ausgesehen haben, nicht weiter verfolgt worden sei, konnte der Zeuge Michael Schenk den Mitgliedern des NRW PUA NSU nicht plausibel erklären. Der damals zuständige Dortmunder Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper, welcher am 15. Januar 2016 vor dem NRW PUA NSU als Zeuge aussagte, konnte sich nicht entsinnen, wo die Ermittlungen zu dem Mord an Mehmet Kubasik suboptimal verlaufen sein mochten. Die StA Dortmund hätte einen Mordfall aufzuklären gehabt und hätten demzufolge alle Ermittlungsrichtungen verfolgt.

Nie wieder ! „Sorgen Sie dafür !“

NSU-Prozess 5547.jpg

Mit Ende des Prozess begann die politische Vertuschung ?

Elif Kubasik hatte zuvor am Mittwoch, 13. Januar 20016 zwei Tage zuvor auf dem selben Stuhl als Zeugin des nordrhein westfälischen parlamentarischen Untersuchungsausschuss Nationalsozialistischer Untergrund im Landtag von Düsseldorf Platz genommen, auf dem am 21. Januar 2016 der Zeuge, Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper so wenig einer kritischen Reflektion bezüglich der damalige Ermittlungstätigkeiten beitragen konnte unmissverständliche Äusserungen gewählt. Frau Elif Kubasik hatte davon gesprochen, dass „wir ja sehen, dass der Staat bisher nicht hat aufklären können.“ Protektionismus oder Unterstützung brauche sie nicht – heute: nicht mehr. Sie sei stark. Gleichwohl, so Elif Kubasik, „ich möchte das es Aufklärung gibt, ich möchte nicht, dass andere Kinder ohne Väter aufwachsen.“ Erneut haben die Geschädigten des Netzwerkes NSU selbst, die mit dem Mord an ihrem geliebten Ehemann und fürsorglichen Familienvater, der Trauer, emotional aufgewühlt bis heute leben, uns allen in wirkungsmächtigen Worten verdeutlicht, welch starke Persönlichkeiten sie sind. Dieser Charaktereigenschaften von Stärke, menschlicher Größe zu begegnen, diese zu ertragen, sie ernst zu nehmen, ist der öffentliche Untersuchungsauftrag, welchen die Obleute der Landtagsfraktionen im NRW PUA NSU zu erfüllen haben. Ungeachtet dessen, ob ihr Wirken zu „Behördenversagen“ („Staatsversagen“ nannte der FDP Obmann Joachim Stamp für den Wahlkreis Bonn – Duisdorf während der öffentlichen Sitzung des NRW PUA NSU im Landtag von Düsseldorf mit den Zeuginnen Kubasik den behördlichen Umgang mit den NSU Kapitalverbrechen in Form von Mord und Anschlägen selbst mit Sprengmittel) oder zu „Ermittlungspannen der Inlandsgeimdienst Apparaten oder dem Scheitern oder der bewussten, gezielten Verdunkelung Einzelner kristallisiert – eines ist klar, das wird bei jeder öffentlichen Untersuchungsausschusssitzung stets evidenter: die strukturelle Verwobenheit rassistischer Geisteshaltungen sowie arbeitstechnische Modalitäten, welcher einer vorurteilsbehafteten Konnotation der PMK Rechtsextremismus Geschädigten und ihrem persönlichem Umfeld ausgingen, in der Arbeit der ermittelnden Institutionen ist unverkennbar. Staatsanwaltschaften, Polizei, Inlandsgeimdienste: Sie alle trugen zum Sekundarrassismus in der Erscheinungsform von Täter – Geschädigten – Umkehr bei, welche für die betroffenen geschädigten Familienangehörige so bitter in präsenter Erinnerung ist obendrein bis heute schmerzlich begleitet. Das zu konstatieren, insbesondere -aufrichtig- zu würdigen und daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, ist der öffentlich beauftragte Verantwortungsbereich der Mitglieder des Landtages in Nordrhein – Westfalen. Ismail Yogats bedeutsamen Worten zum Trauermarsch für seinen verblichenen Sohn Halit Yozgat gelten auch an dieser Stelle aktuell und dringend: Es soll sich etwas verändern. Solche Ermittlungen dürfen nie wieder oder so ähnlich stattfinden. Dazu muss der institutionelle Rassismus in Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden wahrgenommen und intersubjektiv konstatiert werden. Wir nehmen Sie, die Mitglieder des NRW parlamentarischen Untersuchungsausschuss NSU, die Sie allesamt gemeinsam am Ende ihrer Untersuchungsausschuss – Tätigkeit einen öffentlichen Bericht und eindeutig verbindliche Handlungsaufträge zu verfassen haben, hier bei ihren anteilnehmenden Worten in die öffentlich überprüfbare Pflicht. Hören Sie den betroffenen Geschädigten des rechtsterroristischem Netzwerk Nationalsozialistischer Untergrund aufmerksam zu und ziehen Sie alle notwendigen Entscheidungen: „Sorgen Sie dafür !“

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Grafikquellen          :

Oben     —         Tatort der Erschießung Mehmet Kubaşıks in Dortmund, mit Gedenkstätte

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Der Verfassungsschutz

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Dezember 2021

Bayerisches Verfassungsschutzgesetz

Dienstgebäude in Milbertshofen-Am Hart im Münchner Norden

Quelle    :     FF – Gesellschaft für Freiheitsrechte

GFF-Klage gegen uferlose Befugnisse des Bayerischen Inlandsgeheimdienstes wird jetzt beim Bundesverfassungsgericht mündlich verhandelt

Die von der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) über die letzten vier Jahre koordinierte Klage gegen eine Vielzahl von Regelungen des neuen Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG) wurde am am 14. Dezember 2021 endlich in Karlsruhe mündlich verhandelt. Die Verhandlung zeigt: Die Verfassungsrichter*innen sehen die aktuellen Befugnisse des Bayrischen Verfassungsschutzes kritisch. Besonders das Verschwimmen der Zuständigkeiten von Polizei und Geheimdiensten warf einige Fragen auf. Finanziell unterstützt wird das Vorgehen der GFF in diesem Verfahren durch die Stiftung Erneuerbare Freiheit.

  • Einen detaillierten Bericht der Verhandlung in Karlsruhe finden Sie hier
  • Das in der Verhandlung gehaltene Eingangsstatement unseres Vorsitzenden Ulf Buermeyer finden Sie hier

Die am 1. August 2016 in Kraft getretene Novelle des BayVSG gibt dem bayerischen Inlandsgeheimdienst erweiterte Überwachungsbefugnisse, die im Dienste der „Inneren Sicherheit“ noch breiter und tiefer in die Grundrechte der Bevölkerung eingreifen, als dies in den übrigen Verfassungsschutzgesetzen der Länder und des Bundes der Fall ist.

Engagement für die Freiheit braucht einen langen Atem: Unterstützen Sie die GFF mit Ihrer Fördermitgliedschaft!

Wer klagt?

Die Beschwerdeführer sind mehrere Personen, die als Funktionsträger bzw. Mitglieder von im Bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnten Organisationen glaubhaft machen können, Gegenstand der geheimdienstlichen Überwachung zu sein. Zu diesen Organisationen gehört insbesondere der Landesverband Bayern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA).

Einer der Beschwerdeführer ist der Augsburger Oberarzt Dr. Harald Munding, Landessprecher der VVN-BdA. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung bezeichnete er sein langjährige Beobachtung durch den Bayerischen VS als “Stigmatisierung” und die Erwähnung einer Organisation im Verfassungsschutzbericht als “Einschüchterungspolitik, die wirkt”.

Die Verfassungsbeschwerde wurde verfasst von Prof. Dr. Matthias Bäcker (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und ist seit Ende Juli 2017 beim Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts anhängig (Aktenzeichen: 1 BvR 1619/17). Der Experte im Informationsrecht und Datenschutzrecht arbeitet bereits im “G 10”-Verfahren als Prozessvertreter mit der GFF zusammen.

Wogegen wendet sich die Verfassungsbeschwerde?

Zu den Befugnissen im Bayrischen Verfassungsschutzgesetz (BayVSG), die aus Sicht der GFF unverhältnismäßig und damit verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind, gehören:

Diese und weitere Maßnahmen greifen unzulässig in mehrere Grundrechte ein, insbesondere in die Menschenwürdegarantie, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme (das sogenannte “Computer-Grundrecht”), das Fernmeldegeheimnis, die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Recht auf effektiven Rechtsschutz.

Unterstützen Sie die Arbeit der GFF zum Schutz der Grund- und Menschenrechten!

Verfassungsrechtliche Angriffspunkte

Aus Sicht der GFF sind die angegriffenen gesetzlichen Befugnisnormen aus mehreren Gründen verfassungsrechtlich unhaltbar. Der in Deutschland präzedenzlose Zugriff eines Geheimdienstes auf die bei den Providern gespeicherten Telekommunikations-Vorratsdaten verstößt bereits gegen Bundesrecht. Denn nach § 113c Abs. 1 Nr. 2 Telekommunikationsgesetz (TKG) dürfen die „Vorratsdaten“ nur an eine „Gefahrenabwehrbehörde“ eines Landes übermittelt werden. Ein Inlandsgeheimdienst ist aber gerade getrennt von der Polizei und eben keine Gefahrenabwehrbehörde. Die strikte Trennung von Polizei und Geheimdiensten ist eine Lehre aus dem Nationalsozialismus.

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Hinzu kommt, dass etwa beim „Großen Lauschangriff“ eine automatisierte Dauerüberwachung ermöglicht wird. Das Bundesverfassungsgericht fordert hier aber eine hinreichende Sicherung zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung – diese fehlt hier völlig. Auch die verfassungsrechtlich gebotenen Schutzregeln zugunsten von Berufsgeheimnisträgern wie Ärztinnen oder Rechtsanwälten fehlen im BayVSG für die meisten Überwachungsmaßnahmen. Teils unterscheiden sie unzulässig zwischen Strafverteidigern und sonstigen Rechtsanwälten und Rechtswanwältinnen.Das Gesetz stellt außerdem vielfach keine Voraussetzungen für den Datenzugriff auf. Damit fehlt es an einer Garantie dafür,  dass die Überwachungsmaßnahmen nicht schon aus viel zu geringem Anlass selbst gegen selbst unbeteiligte Kontaktpersonen eingesetzt werden. Das Bundesverfassungsgericht verlangt für personengerichtete Überwachungsbefugnisse, dass die gesetzliche Grundlage einen hinreichend gewichtigen Anlass für die jeweilige Maßnahme klar regelt  und dass die betroffene Zielperson in einem hinreichenden Näheverhältnis zu dem Anlass der Maßnahme steht. Verfassungsrechtlich unzulässig sind damit geheimdienstliche Überwachungsmaßnahmen, die schon vor jeder konkretisierten Gefahrenlage und / oder gegenüber Nichtverantwortlichen tief in Freiheitsrechte eingreifen. Diesen Anforderungen genügen viele der neuen Befugnisse im BayVSG nicht: Sie ermöglichen stattdessen schon bei diffusen Bedrohungslage eine breit gestreute Überwachung, die auch völlig Unverdächtige betrifft.

Bei verdeckten Überwachungsmaßnahmen wie dem Einsatz von V-Leuten sieht das BayVSG keine Vorabkontrolle durch eine unabhängige Stelle vor. Auch werden die von der geheimdienstlichen Überwachung betroffenen Personen nachträglich nicht ausreichend benachrichtigt, ihr eigener Auskunftsanspruch ist übermäßig stark beschränkt. Ohne Transparenz wird aber ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz unmöglich gemacht; damit können Grundrechte im Einzelfall nicht wirksam durchgesetzt werden. Viel zu weit geht schließlich die Befugnis des Bayerischen Verfassungsschutzes, erhobene Daten an in- und ausländische öffentliche Stellen oder an nicht-öffentliche Stellen weiterzugeben.

Konsequenzen des Verfahrens

Dieses Verfahren um das BayVSG hat aus Sicht der GFF Signalwirkung: Zum Schutz der Grundrechte gilt zu verhindern, dass sich die übrigen Verfassungsschutzämter ein Beispiel am „Vorreiter“ Bayern nehmen.

Auch über den geheimdienstlichen Bereich hinaus ist es der GFF wichtig, gegen verfassungsrechtliche zweifelhafte Freiheitseingriffe nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in den Ländern vorzugehen.

Spenden und Fördermitgliedschaften für die GFF ermöglichen unsere Unterstützung und Beratung bei diesem Verfahren. Unsere Arbeitet kostet Geld. Freiheit und Gerechtigkeit brauchen viele Freundinnen und Freunde – unterstützen Sie die GFF!

Hier finden Sie die Beschwerdeschrift der GFF.

Photo credit: “Kopfhörer” by JouWatch auf Flickr (CC BY-SA 2.0

Pressemitteilungen

Weitere Informationen

Medienberichte (ausgewählt):

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Die Front : Belarus / EU

Erstellt von DL-Redaktion am 25. November 2021

Weißrussland – Drama zwischen den Fronten

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Kai Ehlers

Das Drama, das zurzeit an den östlichen Außengrenzen der Europäischen Union, konkret am Grenzstreifen zwischen Polen, Litauen, Lettland gegenüber Weißrussland auf dem Rücken der dort um Asyl nachsuchenden Menschen aufgeführt wird, veranlasst die westlichen Medien wieder einmal den Ausbruch eines Krieges im Herzen Europas an die Wand zu malen.

Die Wirklichkeit ist aber komplexer: Einen Krieg gibt es bereits, nur wird er nicht militärisch, sondern medial, man könnte auch klar sagen, als Informationskrieg ausgetragen. Auch ist er nicht auf Europa beschränkt. Vielmehr verbinden sich die lokalen Konflikte an der Grenze zwischen Europäischer Union, konkret ihren nordöstlichen Mitgliedstaaten und Weißrussland zu einem Vexierbild unterhalb der Kriegsschwelle, das seine sich überschneidenden Linien in globalen Verschiebungen hat.

Da ist zunächst der neue Schub der Migration, ausgelöst durch den plötzlichen Abzug der Westmächte aus Afghanistan, der erneut Menschen zu Gestrandeten an die Ufer Europas spült. Der Schub trifft die Europäische Union an ihrer bisher noch nicht durch Frontex abgeschotteten Nord-Ostflanke, nachdem die südlichen Grenzen bereits geschlossen worden sind. Die meisten der Ankommenden wollen über Weißrusslands Grenze durch Polen, Litauen, Lettland nach Deutschland. Weißrussland ist für sie nur Transit – wie auch die östlichen Länder der Europäischen Union.

Schon in der „Flüchtlingskrise“ von 2015 waren die drei östlichen Grenzländer, da nicht unmittelbares Ziel der Einwanderungswilligen, nicht willens die ihnen zugeteilten Kontingente von Menschen zu aufzunehmen. Jetzt, da diese Länder selbst als Eingangstor angelaufen werden, sind sie dazu übergegangen, die noch nicht abgeschottete Außengrenze, also ihre eigene Grenze mit Gewalt, einschließlich des Auffahrens einer von Panzern gebildeten Drohkulisse, gegen die auf die Grenze einstürmenden Menschen zu schließen. Über eine zukünftige Ausweitung der Frontex-Einsätze, wie sie an den anderen Grenzbereichen der Europäischen Union stattfinden, wird verhandelt.

Folgt man den Darstellungen aus Brüssel, wie sie in den Medien weitergegeben werden, dann hat Weißrusslands Präsident Lukaschenko die Asylsuchenden mit Unterstützung, zumindest mit Duldung Wladimir Putins als „Waffe“ ins Land geholt, um die Europäische Union dazu zu erpressen, ihre Sanktionspolitik einzustellen, mit der sie die Opposition unterstützt, die nach den letzten von der Europäischen Union als Fälschung kritisierten Wahlen in Weißrussland entstanden ist.

Lukaschenko hält dagegen: er habe als Reaktion auf die Sanktionspolitik und das völkerrechtswidrige Eingreifen in die inneren Angelegenheiten Weißrusslands durch die Politik der Europäischen Union lediglich die zuvor von Weißrussland praktizierte Schließung der Grenzen gegenüber durchreisewilligen Asylsuchenden aufgehoben. Von einem „orchestrierten Einsatz“ der Asylsuchenden als „Waffe“ durch Weißrusslands Behörden könne nicht die Rede sein. Die Asylsuchenden, die Weißrussland ohnehin nur als Durchgangsland nutzen wollten, kämen über ein internationales Schlepperkartell in eigener Initiative und auf eigene Kosten.

Auch Putin, seitens der Europäischen Union der Duldung, wenn nicht gar der Unterstützung Lukaschenkos für das ihm angelastete Vorgehen verdächtigt, wies eine Beteiligung an einer solchen Politik zurück und forderte im Gegenzug die Politiker der Europäischen Union auf, direkte Gespräche zur Lösung der Krise mit Lukascheko zu suchen.

Die Wirklichkeit, wenn auch nicht unbedingt die Wahrheit, dürfte zwischen diesen beiden Positionen liegen. Sie könnte durchaus zu entwirren sein, wenn es bei dem Konflikt nur um die Frage ginge, ob es für die zwischen 6.000 bis 10.000 Menschen, um die es sich nach unterschiedlichen Angaben handelt, eine Aufnahmebereitschaft in der Europäischen Union hergestellt würde. Zu reden wäre nach Lage der Dinge konkret über eine Durchreiseerlaubnis durch Polen mit der Weiterreise nach Deutschland. Im Vergleich zu den Millionen, die im Jahre 2015 unterzubringen waren und den über 48.622, die 2021 nach Angaben der Plattform Statista (siehe Link am Ende des Textes) bis zum August des Jahres an die Europäische Union gestellt haben, wären die jetzt an der polnischen Grenze aufgehaltenen sechs- oder zehntausend Menschen kein Problem, zumal dann nicht, wenn – wie ruhigere Stimmen, etwa die des ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages, Schäuble – vorschlagen, sie erst einmal alle aufgenommen werden könnten, um die Mehrzahl von ihnen nach Prüfung ihrer Asylanträge dann wieder in ihr Heimatland zurückzuschicken. Das ist auch nicht gerade so human, wie es klingen soll, aber doch die weichere Variante.

Badge of the European Border and Coast Guard.svg

Aber Stimmen wie die Schäubles und selbst die der deutschen Kanzlerin, die offenbar vermeiden möchte, mit einem letzten dunklen Fleck, der an die „Flüchtlingskrise“ von 2015 erinnern könnte, in die politischen Annalen der Ehemaligen einzugehen, und daher eine hektische Telefondiplomatie mit Lukaschenko und Putin entfaltet, konnten deutsche Hardliner, namentlich den Innenminister Seehofer bisher nicht davon überzeugen, das Problem in dem von Schäuble angedachten Sinne zu entschärfen. Es geht ums Prinzip: Man will es Lukaschenko zeigen, ihm klar machen, dass die EU sich nicht erpressen lasse.

Damit werden die übergeordneten Konflikte sichtbar, die in den Vorgängen an der polnisch-weißrussischen Grenze stellvertretend aufbrechen, wo sie auf dem Rücken der dort gestrandeten Asylsuchenden ausgetragen werden. Diese Konflikte lassen sich in aller Kürze wie folgt skizzieren:

Da sind die inneren Widersprüche in der Europäischen Union, die zum Zerreißen gespannt sind: Exemplarisch sei nur auf die Reaktion Ungarns auf die genannten Ereignisse an der polnischen Grenze verwiesen. Ungarns Vertreter beklagten sich prompt nach Bekanntwerden der „push backs“, mit denen die polnische Regierung die Asylsuchenden zurück hinter die Grenze zu Weißrussland treiben lässt, dass Ungarn und Polen in der EU mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen würden, wenn Polen für seine brutale Abwehr der Migranten von Brüssel gelobt, Ungarn für sein Gesetz zum Schutz seiner Grenzen dagegen als nationalistisch verurteilt werde. Was für Polen richtig sei, könne für andere Mitglieder der Union doch nicht falsch sein, ließen die Ungarn Brüssel wissen.

Angesichts der Konfrontation, die sich in letzter Zeit zwischen Brüssel und Polen über Polens zunehmenden nationalistischen Kurs entwickelt hat, kann man solche Zustimmung Brüssels zu dem harten Kurs Polens, der den „Werten“ der Union krass widerspricht, nur als Versuch verstehen, die bröckelnde Einheit der Union durch den Aufbau einer Front gegen einen gemeinsamen Feind, der Europas Einheit gefährde, also Lukaschenko und hinter ihm Wladimir Putin wieder herzustellen. Diese Haltung Brüssels reiht sich voll und ganz in die anti-russische Kampagnen ein, die mit Joe Bidens erneuerter Feinderklärung gegenüber Russland unter erheblichem propagandistischem Aufwand geführt wird. Ob das die Union auf die Dauer kitten kann – vor allem auf Basis welcher „Werte“ – das muss ein Geheimnis der Brüsseler und gegebenenfalls auch deutscher EU-Strategen bleiben.

Kein Geheimnis sind schon jetzt die tiefer liegenden Motive seitens der Brüsseler Union und der hinter ihr stehenden USA einem Zusammenwachsen Weißrusslands und Russlands zu einer weißrussisch-russischen Union entgegenzuwirken. Denn was mit dem Regimechange im Zuge der Maidan-Proteste und danach gelang, nämlich die Ukraine ins westliche Lager zu ziehen, sogar zum unerklärten Partner der NATO zu machen, ließ sich mit Weißrussland trotz aller Interventionen der Europäischen Union in die inneren Angelegenheiten Weißrusslands bisher nicht erreichen. Die Maßnahmen haben lediglich dazu geführt, Weißrussland trotz aller seiner Abneigungen gegen die Aufgabe der eigenen Souveränität enger in die Gemeinschaft mit Russland zu treiben.

Im Ergebnis haben Lukaschenko und Putin kürzlich vertraglich vereinbart, die formal schon seit dem Ende der Sowjetunion angestrebte Union zwischen Russland und Weißrussland durch eine Reihe von wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Maßnahmen effektiv einzuleiten. Damit wird weiteren Versuchen der Destabilisierung Weißrusslands erst einmal ein Riegel vorgeschoben. Die weißrussische Union hat das Zeug, weiteren Versuchen der Einflussnahme des Westlichen Lagers eine erkennbare Grenze zu setzen. Und schon ist durch Lukaschenko auch wieder von einer Stärkung der Eurasischen Union die Rede.

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Seehofer  – bald ohne Job – wird bestimmt die EU Grenzen bewachen

Dass dies in Brüssel und den hinter Brüssel stehenden USA ein Dorn im strategischen Auge ist, versteht sich von selbst. Hinzu kommt, last not least, der Kampf um die Versorgung Europas mit russischem Gas, genauer der Kampf um den Zugriff darauf und den zukünftigen globalen Energiemarkt. Schon die Ukrainekrise war wesentlich durch diesen Konflikt bestimmt, als Russland und die Ukraine sich nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion, in dessen Zuge die durch die Ukraine führende südliche Pipeline zum Eigentum der Ukraine wurde, nicht auf die von Russland geforderte Einführung von Marktpreisen einigen konnten. Die Jamal-Europa-Linie durch Weißrussland blieb von solchen Umwandlungen unberührt. Sie blieb Eigentum Russlands, wird aber von Weißrussland unterhalten, das dafür Vorzugspreise für Eigenverbrauch und Weiterleitung erhält.

Neuerdings erleben wir die heftigen Auseinandersetzungen um die „Nord stream 2“, von der sich ihre Betreiber, die Russen, wie auch über die aktuelle Allianz mit den USA hinausblickende Europäer, nicht nur eine Kapazizätserweiterung, sondern zugleich eine Rückversicherung gegen Lieferbeschränkungen durch mögliche Krisen in der Ukraine oder Weißrussland und auf lange Sicht auch in den Beziehungen zu den USA versprechen. Das ist strategisch im Eigeninteresse der Europäischen Union gedacht. Wurde doch in den massiven Versuchen der USA, den Bau dieses nördlichen Lieferweges zu verhindern, nicht nur ihr ökonomisches Interesse offenbar, nämlich ihr eigenes Gas an Europa zu verkaufen, sondern auch die Absicht, Europa für ihre Eindämmung gegen Russland und die erklärte Offensive gegen China in Abhängigkeit zu halten.

Als Lukaschenko jetzt andeutete er könne als Reaktion auf die Sanktionen seitens der Europäischen Union die Durchleitung des Gases, das über die Jamal-Europa-Pipeline durch Weißrussland nach Europa führt, unterbinden, wurde deutlich wie krisenanfällig nicht nur die südliche, sondern auch diese Verbindung ist. Die öffentliche Erklärung Putins, er könne sich nicht vorstellen, dass Lukaschenko zu solch einem Akt fähig sei, deckte zunächst einmal das Tuch globaler Diplomatie über den Abgrund, der sich hier auftat. Auf Dauer überbrückt ist er damit noch nicht.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

(https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1263980/umfrage/antraege-auf-asyl-in-der-eu-nach-nationalitaeten/

Urheberecht
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Grafikquellen      :

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2.) von Oben       —     Abzeichen der Europäischen Grenz- und Küstenwache

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Europas neue Todeszone

Erstellt von DL-Redaktion am 20. November 2021

Was zur Hölle ist mit Europa ?

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Von Christian Jakob und Kateryna Kovalenko

Während die EU Polen mit Millionen für eine „Grenzbarriere“ zu Belarus unterstützen will, werden Freiwillige daran gehindert, den Flüchtenden vor Ort zu helfen. Immer mehr Menschen werden tot aufgefunden. Ein Lagebericht vom Ort einer Tragödie.

Ahmed al-Hasan wurde 19 Jahre alt. Am 19. Oktober 2021 ertrank er im Grenzfluss Bug, zwischen Belarus und Polen, so stellt es die Staatsanwaltschaft Lublin später als Todesursache fest. Die nächste muslimische Gemeinde ist zwei Autostunden weiter nördlich, in Bohuniki.

Nachdem die Staatsanwaltschaft al-Hasans Leichnam freigibt, lassen Hel­fe­r:in­nen sie dorthin bringen. Sie wird nach islamischem Ritual gewaschen. Am vergangenen Montag, es ist bereits dunkel, laden vier Männer in schwarzen Daunenjacken den Holzsarg aus einem VW-Transporter, so ist es auf Videoaufnahmen der Agentur Reuters zu sehen.

Freiwillige Hel­fe­r:in­nen haben das Begräbnis organisiert. Einige laufen mit Handys hinter dem Sarg her, einer von ihnen streamt die Bilder zu der Familie des jungen Mannes. Aus Syrien schaut diese dabei zu, wie ihr Sohn auf dem katholischen Friedhof in die Erde gelassen wird. „Ich weiß, ihr wolltet ihn noch einmal sehen“, sagt der Mann in sein Telefon.

Es ist das erste Begräbnis eines Toten, der seit Beginn der Flüchtlingsankünfte Anfang August an der Grenze zu Belarus gefunden wurde. Weitere werden folgen. Wohl dreizehn Tote wurden bis zum vergangenen Donnerstag gezählt. Wie viele wirklich starben, weiß niemand – auch, weil keine Ärz­t:in­nen oder Be­ob­ach­te­r:in­nen in die „Emergency Zone“, den Grenzstreifen, in dem der Ausnahmezustand gilt, hineingelassen werden.

Eine der wenigen Ausnahmen ist Hanna Machińska, sie ist die polnische Vizekommissarin für Menschenrechte. Machińska gab am Montag ­T-Online ein Interview. Sie dürfe über das, was sie gesehen habe, nicht alle Informationen weitergeben, sagt sie darin. Doch es gebe „Hunderte von Beispielen“, die zeigten, wie angespannt die Situation ist. Eines davon: „Wir haben von einer jungen Mutter im Grenzgebiet erfahren, die einen Schwamm ausgewrungen und das schmutzige Wasser mit dem Milchpulver für ihr Kind vermischt hat. Sie wusste, was sie tat: Es war der sichere Tod für das Baby, aber sie konnte nicht anders, das Kind hatte Hunger.“

Deutschlands Regierung nimmt an all dem keinen Anstoß. Der Sprecher des scheidenden Innenministers Horst Seehofer (CSU) schrieb am Donnerstag auf Twitter, Polen handele „seit Wochen an der Grenze zutiefst europäisch“. Deutschland stehe „fest an der Seite Polens.“

In Michałowo, einer Kleinstadt am Rande der Emergency Zone, gibt es genug Milch für Babys. Große Dosen mit Pulver stehen säuberlich gestapelt in weißen Containern auf dem Gelände der Grundschule im Ortskern. Michałowo wurde in den vergangenen Monaten bekannt, weil die An­woh­ne­r:in­nen grüne Lichter an ihren Häusern brennen lassen, um den Flüchtlingen zu signalisieren, dass sie dort Hilfe bekommen. Seit einer Woche hat das „Große Orchester der Weihnachtshilfe“, eine polnische Organisation ähnlich der deutschen „Ein Herz für Kinder“, auf dem Schulhof einen Hilfsposten aufgebaut. Große Generatoren liefern Strom, es gibt heißen Tee, volle Powerbanks für Handys, Jacken und Decken.

Die Toten an der polnischen Außengrenze

19. 9. Zwei Männer aus dem Irak, sollen erfroren sein, nahe Zubry. Ahmed Hamid, 29 Jahre, aus dem Irak, nahe Dworczysko. Eine Frau aus dem Irak, 39 Jahre, auf belarussischer Seite, Leśnoje

23. 9. Ein Mann aus dem Irak soll an Herzinfarkt gestorben sein, nahe Nowy Dwór, Sokólski, Polen

14. 10. Ein Mann aus Syrien, 24 Jahre, nahe Klimówka

19. 10. Ahmed al-Hasan aus Syrien, 19 Jahre, ertrunken im Fluss Bug nahe Woroblin

22. 10. Keine näheren Angaben, nahe Kuścińce

29. 10. Gaylan Diler Ismail, 25 Jahre, Kurde aus dem Irak, Diabetiker, soll durch fehlende Medikamente nach Pushback gestorben sein, Fundort unklar

31. 10. Kurdo Khalid, 34 Jahre, Kurde aus dem Irak, soll an Hirnblutung gestorben sein, Fundort unklar

10. 11. Ein Kurde, 14 Jahre, nahe Kuznica auf belarussischer Seite

12. 11. Ein Syrer, 20 Jahre, nahe Wólka Terehowska

Vor dem 18. 11. Einjähriges Kind, Syrien, Todesursache unklar. Die Familie war 1,5 Monate im Wald

Es ist Montag, der 15. November. Purtas, ein junger Mann mit Dreadlocks und Daunenweste, hat seinen Job als LKW-Fahrer gekündigt, um hier zu arbeiten. Auch eine junge Frau namens Justyna ist hier. Sie arbeitet sonst als Nuklearphysikerin in einem Atomkraftwerk, sagt sie. „Ich habe mir Urlaub genommen, um herzukommen.“ Ein Fernsehteam kommt, Purtas öffnet die Containertüren, damit es die Hilfsgüter filmen kann. Sie sind dafür gedacht, dass Freiwillige sie zu den Frierenden in den Wald bringen. Doch das ist zuletzt immer schwieriger geworden. Die Freiwilligen können nur zu solchen Flüchtlingen, die die Rote Zone hinter sich gelassen haben. Sie müssen sich auch weiterhin vor der Polizei verstecken, weil ihnen sonst der Pushback droht. Deshalb sind sie auch außerhalb des Sperrgebiets auf Hilfsgüter angewiesen. Aber kaum Flüchtlinge schaffen es noch aus der „Emergency Zone“ heraus. Dass gleichzeitig die schon jetzt eisigen Temperaturen weiter fallen, macht den Hel­fe­r:in­nen in Michałowo Sorgen. „Wir haben Angst, dass es in drei Wochen niemanden mehr zu retten gibt“, sagt Justyna. Auch bei Alinca Miszuk in Hajnówka stapeln sich die Hilfsgüter in großen blauen Ikea-Taschen bis unter die Decke. Die Seniorin verteilt Spenden aus ganz Polen in der südlichen Grenzregion. Am Montagabend sitzt sie allein unter einem riesigen Drachenbaum im Dachgeschoss des Hauses vom Roten Kreuz. An der Tür steht die Telefonnummer, die Geflüchtete anrufen können, damit ihnen Hilfsgüter in den Wald gebracht werden. Die Nummer hatte sich in den vergangenen Monaten unter den Flüchtlingen verbreitet. „Im Oktober habe ich 30 Anrufe pro Woche bekommen,“ sagt Miszuk. Jetzt hat seit einer Woche niemand mehr angerufen.

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Eine Sprecherin der Stiftung Ocalenie, die vor allem in der nördlichen Grenzregion Hilfe leistet, sagt der taz, die Zahl ihrer Einsätze in den Wäldern bei den sich versteckenden Flüchtlingen habe sich zuletzt halbiert. Grund sei, dass der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko einen Großteil der Flüchtlinge nahe einem Grenzübergang bei Kuźnica habe sammeln lassen – offensichtlich, um dort eine Auseinandersetzung mit den polnischen Sicherheitskräften zu provozieren.

Die Menschen dort saßen bis Mitte der Woche fest und kamen nicht weiter. Andere, die versuchten, die Grenze und die Rote Zone anderswo zu durchqueren, seien viel schneller als früher von den polnischen Soldaten, Polizisten und Milizionären aufgehalten worden. Polen hatte deren Zahl zuletzt auf über 15.000 aufgestockt. „Das größte Problem ist, dass wir nicht in die Rote Zone dürfen“, sagt Alinca Miszuk. „Wir wissen nicht, wie viele Menschen da drin sind, wir denken es sind viele.“ Miszuk glaubt, dass sich an dieser Situation bis auf Weiteres nichts ändern wird. „Das bleibt jetzt erst mal so.“

Miszuk ist nur eine von vielen Hel­fe­r:in­nen in der Grenzregion, die sich von der Propaganda der Regierungspartei PiS, dem ganzen „Kriegs“-Getöse nicht beeindrucken lassen, sondern helfen wollen. Dabei zieht die PiS alle Register: Seit dem vergangenen Montag kann man in Polen von allen Postfilialen im Land umsonst Dankesgrüße an die Einsatzkräfte an der polnisch-belarussischen Grenze verschicken. Die polnische Zentralbank kündigte an, eine eigene Banknote zur „Verteidigung der Ostgrenze“ zu drucken. Alinca Miszuk treibt um, was für ein Bild von Polen angesichts des Leids an den Grenzen entsteht. „Was denken die Menschen im Ausland über das, was hier geschieht? Wie sehen sie uns?“, fragt sie.

Die Nationalversammlung verlängerte am Dienstag den Ausnahmezustand im Grenzgebiet, der eigentlich Anfang Dezember ausgelaufen wäre. Und so sitzen viele Flüchtlinge weiter in der Roten Zone, wo die Hel­fe­r:in­nen nicht hindürfen.

Die einzige Ausnahme bildet seit Anfang der Woche die polnische katholische Caritas. Die hat „Zelte der Hoffnung“ im Grenzgebiet aufgebaut, weitere sollen folgen. Bislang nur eines davon steht in der Roten Zone, in der Gemeinde Białowieża, dem Nachbarort von Hajnówka. „Wir durften es nur deshalb innerhalb der Roten Zone aufstellen, weil wir dort mit den Dorfbewohnern zusammenarbeiten“, sagt Dariush Ghobad, ein Sprecher der Caritas in Deutschland. „Sonst würde man uns das verbieten.“ Nicht einmal die katholische Kirche lässt die PiS ungehindert zu den Notleidenden.

Ist das der fliegende Sensenmann aus Bayern ?

Doch das „Zelt der Hoffnung“ wird nicht reichen. Auch die Be­woh­ne­r:in­nen von Białowieża haben sich zu einer Hilfsinitiative zusammengetan. Am Dienstag veröffentlichten sie einen dramatischen Appell: „Da wir uns in einem Ausnahmezustand befinden, können wir nicht auf Hilfe von außen zählen, wir haben keine medizinische oder mediale Unterstützung“, schreiben sie. Sie seien mit einer Situation völlig alleingelassen worden, die „alles übersteigt, was wir uns vorstellen konnten“. Trotzdem wollten sie den Bedürftigen helfen, vor allem, weil sich aufgrund der Kälte die Todesfälle häuften. „Wir kennen diesen Wald besser als die Uniformierten, die aus ganz Polen hierherkommen, und wir wissen, dass es unmöglich ist, in diesem Wald zu überleben“, schreiben sie weiter. Menschen dort dem Tod zu überlassen, sei eine „Straftat, unmenschlich und inakzeptabel“. Sie selbst wollten „keine passiven Beobachter sein“ und „keine Leichen in unseren Wäldern sammeln“. Vom Staat fordern sie, nicht behindert zu werden. Die Bereitstellung humanitärer Hilfe verstoße nicht gegen die Regeln des Ausnahmezustands. Was sie ansehen müssen, belaste sie. „Der psychologische Druck, das tägliche Funktionieren in einem Klima des ‚Krieges‘, die dramatischen moralischen Entscheidungen, vor denen wir stehen, machen auch uns zu Opfern dieser Situation“, schließen sie ihren Appell. „Was wir jetzt erleben, wird in uns bleiben und nicht mit dem Abzug der Armee verschwinden.“

Von denjenigen, die es auf polnisches Territorium schaffen, werden nicht alle an die Grenze zurückgeschoben. Auf welcher Grundlage ausgewählt wird, weiß niemand. Sie können dann in Polen Asyl beantragen. Bis darüber entschieden ist, werden sie in eines von neun geschlossenen Internierungslagern im Land gesperrt. Die Verfahren dauern so lange, dass selbst von denen, die im August ankamen, noch kein Verfahren beendet ist. Die Anerkennungsquote in Polen ist niedrig: 2020 stellten 2.800 Menschen einen Antrag, 161 wurden anerkannt.

Quelle       :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Bug River near Nur.

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Unten     —   The view from the bridge over the Bug RiverSokal, Lviv Oblast, Ukraine.

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Unten     —       Die Darstellung des Todes in Le Petit Journal 1912 während einer Cholera-Epidemie.

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Ein Einzelfall geht in Rente

Erstellt von DL-Redaktion am 18. November 2021

Scheidender Innenminister Seehofer

Thomas Haldenwang und Horst Seehofer in der Bundespressekonferent am 6. Oktober 2020.jpg

Ein „Leerstuhl“ auf der Versagerbank wird neu besetzt?

Von Konrad Litschko

50 Jahre lang war Horst Seehofer in der Politik, nun tritt er ab. Auf der BKA-Herbsttagung ermahnt er die Ampel, die Überwachung nicht einzudampfen.

Es ist sein letzter großer Auftritt. Und ausgerechnet der, pandemiebedingt, nur digital. Am Mittwochnachmittag lässt sich Horst Seehofer zur BKA-Herbsttagung in Wiesbaden zuschalten. Und der Noch-Bundesinnenminister nutzt den Auftritt zu einem Rundumschlag, mit Selbstlob für seine Amtszeit – und Mahnungen an die künftige Ampel-Regierung.

„Es war eine wunderschöne Zeit“, schwärmt Seehofer übers Innenministerium

Stolze 50 Jahre machte der CSU-Mann Politik. Er war Bayerns Ministerpräsident, Gesundheits- und Landwirtschaftsminister im Bund, seit 2018 Innenminister. Nun geht der 72-Jährige in Rente, die Ampel übernimmt. Und die kündigt eine neue, progressive Sicherheitspolitik an: präventive Ansätze und Bürgerrechte sollen gestärkt werden, eine „Generalrevision“ der Sicherheitsarchitektur erfolgen.

Seehofer gibt der neuen Koalition dafür Appelle mit auf den Weg: Die Sicherheitsbehörden müssten auch künftig „mithalten können“, mahnt er. Dafür brauche es die nötige technische Ausrüstung und rechtlichen Befugnisse.

Seehofer lobt seine Bilanz

Zunächst aber lobt Seehofer seine Arbeit: „Unsere Bilanz kann sich sehen lassen.“ Die Kriminalitätszahlen sänken seit Jahren, die Sicherheitsbehörden hätten zuletzt gut 10.000 neue Stellen bekommen, vor allem gegen den Rechtsextremismus sei so viel getan worden wie noch nie, mit Verboten und neuen Gesetzen.

Seehofer verweist aber auch auf Probleme: Fälle von Kindesmissbrauchsdarstellungen hätten sich verdoppelt, die politisch motivierte Kriminalität steige, Querdenker schürten Misstrauen gegen den Staat, psychisch erkrankte Einzeltäter verübten schwere Gewalttaten. Und der Rechtsextremismus bleibe „die größte Bedrohung unserer Gesellschaft“, so Seehofer.

Und klar ist ohnehin: Wenn der oder die neue InnenministerIn übernimmt, werden die ersten Aufgaben Krisenmanagement sein. Denn mit den Geflüchteten an der belarussischen Grenze und der wieder explodierenden Coronapandemie warten zwei ungelöste Großaufgaben.

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Einmal ist jede Maß leer

Auch Seehofer nennt die aktuelle Coronalage „hochgefährlich“. Im Belarus-Konflikt fordert er einen „klaren Kurs und Fingerspitzengefühl“. Den Geflüchteten müsse geholfen, die EU-Grenze aber auch geschützt werden. Das „perfide Vorgehen“ von Belarus dürfe nicht erfolgreich sein.

Plädoyer für Vorratsdatenspeicherung

Dann folgen Seehofers Mahnungen an die Ampel – vor allem was die Überwachungsbefugnisse angeht. „Die Cybergefahr wird eine der größte Herausforderungen der nächsten Jahre“, warnt er. „Die Sicherheitsbehörden dürfen nicht blind und taub werden.“ Seehofer benennt die Onlinedurchsuchung, sehr deutlich auch die Vorratsdatenspeicherung – ein jahrelanges Streitobjekt. Auch diese müsse man „endlich nutzen“, fordert der CSUler. „Ich habe nie verstanden, welch hysterische Abwehrreaktionen der Begriff hervorruft. Es gibt in Deutschland keinen Überwachungsstaat mehr.“

Quelle       :      TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Thomas Haldenwang (Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz) und Horst Seehofer (Bundesinnenminister) in der Bundespressekonferent am 6. Oktober 2020 bei der Vorstellung des Lageberichts zum Rechtsextremismus in Sicherheitsbehörden

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Unten        —   Der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer und Münchens OB Dieter Reiter: Anstoßen auf der Wiesn. Titel des Werks: „Auf der Wiesn: Horst Seehofer und Dieter Reiter (2017)“

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Der Kriminalitäts – Report

Erstellt von DL-Redaktion am 13. November 2021

Das Periodensystem der Sicherheit

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Der schwarze Mob als Verunsicherung

Ein Gastbeitrag von Thomas Fischer

Die Bundesregierung hat den »Dritten Periodischen Sicherheitsbericht« vorgelegt. Danach wird Deutschland immer sicherer. Darf das sein, oder kann das weg?

Fach und Leute

Am 5. November 2021 hat die Bundesregierung den »Dritten Periodischen Sicherheitsbericht« vorgelegt. Er folgt dem Bericht von 2006, stellt also die letzten 15 Jahre dar und bewertet sie. Man kann den Bericht, der 232 Seiten umfasst, im Internet leicht finden, was ich hiermit ausdrücklich empfehlen möchte. Wer sich für Fragen der Sicherheit und der Kriminalität interessiert und gern die eine oder andere Weltbetrachtung dazu kundtut, sollte den Bericht anschauen. Sie müssen ihn nicht Seite für Seite lesen. Wichtig für alle Schlaumeier ist es in jedem Fall, die Seiten 15 bis 20 zu lesen: »Erläuterungen zur Datengrundlage«. Da steht, was die statistischen Daten aussagen und was nicht, ob und wie man sie vergleichen kann und wo ein paar Stolpersteine des Verständnisses liegen.

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Das Belmarsh-Tribunal

Erstellt von DL-Redaktion am 10. November 2021

Belmarsh-Tribunal verschwiegen: ARD vertuscht weiterhin Assange-Justizskandal

Sydney Wikileaks 2010-Dec-10.JPG

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Hannes Sies

Assange-Prozess in London letzte Woche: Die Tagesschau-Hauptausgabe vom 27.10.2021 widmete dem größten Justizskandal des 21.Jahrhunderts nur 30 Sekunden? Ein journalistisches Feigenblatt der ARD, die das Belmarsh-Tribunal der Assange-Verteidiger verschweigt. Unter der Überschrift „Berufungsverfahren in London: Prozess um Auslieferung von Assange an die USA“ wiederholt die ARD die Bezichtigungen der US-Justiz gegen Julian Assange -ohne zu erwähnen, dass diese längst widerlegt sind.

„In London hat der Berufungsprozess um die Auslieferung von Wikileaks-Gründer Assange an die USA begonnen. Vor dem Gericht demonstrierten Unterstützer für die Freilassung des 50jährigen Australiers. Die US-Justiz wirft ihm Spionage und die Veröffentlichung geheimer Dokumente zu den Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan vor. Im Januar war das Auslieferungsgesuch wegen Assanges schlechter physischer Verfassung und der zu erwartenden harten Haftbedingungen in erster Instanz abgelehnt worden.“ 30sec ARD-Text zu hektisch geschnittenen Videoschnipseln

Die Bezichtigung lautet auf „Spionage“ und „Geheimnisverrat“. Für beides stützten sich die US-Ankläger auf einen windigen Hauptzeugen, der sich als FBI-Spitzel entpuppte. Er wurde vor zehn Jahren als 18jähriger Kleinkrimineller in Island angeheuert und bei Wikileaks eingeschleust. Seine jetzt als zentrale Beweise für die Anklage angeführten Beschuldigungen gegen den Wikileaks-Gründer zog der korrupte Denunziant längst zurück. Doch davon weiß der ARD-Zuschauer nichts und soll es auch nicht erfahren. An russischer und polnischer Justiz lässt die ARD selten ein gutes Haar -die massive Kritik an der britischen Justiz im Fall Assange verschweigt und vertuscht sie wie ein ideologisch gesteuerter Staatssender in Nordkorea. Kein Geringerer als der zuständige UNO-Folterbeauftragte Prof.Nils Melzer hat das Verfahren gegen Assange als nicht rechtsstaatlich beurteilt und die sofortige Freilassung des Angeklagten gefordert. Der Schweizer Professor für humanitäres Völkerrecht Melzer bezeichnete die Einschränkung der Verteidigerrechte als ebenso inakzeptabel wie die offenkundige Ignoranz der Richter gegen wohlbegründete Argumente und Beweise der Verteidiger von Assange. Die Behandlung des im „Britischen Guantanamo“ inhaftierten Angeklagten bewertet Melzer als fortgesetzte Folter, die seit Monaten dessen Gesundheit und inzwischen sogar sein Leben gefährdet.

Weiter hatte Melzer die jahrzehntelang auch von der ARD gegen den Wikileaks-Gründer gefahrene Schmierkampagne eines angeblichen „Vergewaltigungsverdachts“ als Justiz- und Geheimdienst-Intrige entlarvt. Assange-Unterstützer hatten dies schon seit 2011 vermutet, wie etwa Gerd R. Rueger in seinem Underground-Klassiker „Julian Assange: Die Zerstörung von Wikileaks“, dessen damalige Spekulationen sich durch die Ermittlungen Melzers größtenteils bestätigten. Auch die ARD hatte Assange seit 2010 immer wieder unter „Vergewaltigungsverdacht“ gestellt und verweigert dem heute politisch Verfolgten dafür weiterhin eine Entschuldigung. Stattdessen schweigt die Tagesschau verbissen über diese mit ihrer maßgeblichen Beihilfe betriebene Schmierkampagne gegen einen kritischen Enthüllungsjournalisten. Melzer bewertet die Anti-Assange-Hetzkampagne inwestlichen Medien unter dem Stichwort „Public Mobbing“ als Teil der brutalen psychischen Folter, die den Journalisten diskreditieren, mundtot machen und psychisch brechen sollte. Die moralischen Zeigefinger der bornierten ARD-Berichterstatter weisen stur nach Osten, nach Moskau, Minsk und Warschau, wenn mangelnde Rechtsstaatlichkeit eingefordert wird: Dort liegt vieles im Argen, doch vor der eigenen Haustür liegt der größte Dreckhaufen des Jahrhunderts.

Belmarsh-Tribunal verschwiegen

Die ARD, sonst sehr großzügig mit Sendezeit, wenn es um die Anhänger etwa von Nawalny geht, würdigte die Assange-Unterstützer nur mit drei kurzen Videoschwenks über Demonstranten vor dem Gericht. Dass in der Woche vor der Wiederaufnahmeverhandlung ein prominent besetztes Belmarsh-Tribunal Geschichte schrieb, erwähnte die ARD nicht. In der Tradition des berühmten Russel-Tribunals zur Aufklärung über US-Kriegsverbrechen in Vietnam, will man sich als Protest gegen den Assange-Schauprozess (Melzer) den von Wikileaks enthüllten US-Kriegsverbrechen widmen. Edward Snowden, Daniel Ellsberg, Jeremy Corbyn, Yanis Varoufakis und Tariq Ali sind nur einige der prominenten Assange-Unterstützer und Ankläger des Belmarsh-Tribunals. Aus Sicht der Assange-Unterstützer ist die derzeitige Navalny-Hype pure Ablenkungstaktik vom Assange-Justizskandal und damit von den Wikileaks-Enthüllungen der letzten zehn Jahre. Das Belmarsh-Tribunal will das penetrante Medienschweigen im Westen zumindest erschweren -doch die ARD stellt sich taub.

Der Enthüllungs-Journalist Julian Assange wird seit zehn Jahren von US-Behörden verfolgt, sitzt seit zwei Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem „Britischen Guantanamo“. Das Belmarsh-Tribunal der Assange-Unterstützer dreht den Spieß um: Auf der Anklagebank sehen sich nun die von Wikileaks bloßgestellten Kriegsverbrecher, Politik und Militär der Briten und der USA. Treibende Kraft des Tribunals sind die 2018 von Noam Chomsky, Srecko Horvat u.a. gegründete Progressive Internationale, die progressive politische Kräfte weltweit organisieren und mobilisieren will, und die Partei Democracy in Europe Movement 2025 (DiEm25) des Ex-Finanzministers der Syriza-Regierung in Athen, Yanis Varoufakis.

Der Philosoph Srecko Horvat führt den Vorsitz des Belmarsh-Tribunals und eröffnete die erste Anhörung damit, man werde nicht nur Julian Assange verteidigen, sondern auch die „blutigen Verbrechen“ westlicher Regierungen verurteilen. Nach Enthüllungen über CIA-Pläne, den Journalisten Julian Assange auf britischem Boden zu töten, so Horvat, müsse nicht nur die derzeitige US-Regierung, sondern auch die britische Regierung dafür verantwortlich gemacht werden, dass der Wikileaks-Gründer immer noch in Haft ist.

Das Belmarsh-Tribunal ist dem Russel-Tribunal von 1966 nachempfunden, das von Bertrand Russell und Jean-Paul Sartre organisiert wurde, um die USA für den Vietnamkrieg zur Rechenschaft zu ziehen. Heute geht es darum, Washington wegen seiner Kriegsverbrechen des 21. Jahrhunderts vor Gericht stellen. Versammlungsort ist die Convocation Hall, Church House, in Westminster, London, die während des Zweiten Weltkriegs für Parlamentssitzungen genutzt wurde.

Die aktuelle Anhörung des Belmarsh Tribunals zielt auch darauf ab, Versuche und Pläne der USA-Behörden aufzudecken, Julian Assange zu bespitzeln, zu drangsalieren und sogar zu vergiften. Grund ist zweifellos, dass der Wikileaks-Gründer unzählige abscheuliche Verbrechen des sogenannten „Krieges gegen den Terror“ aufgedeckt hat. Bei der Veranstaltung drängten Persönlichkeiten wie der ehemalige Labour-Chef Jeremy Corbyn, der Whistleblower Edward Snowden und Yanis Varoufakis, die US-Regierung und -Justiz von ihrer Klage gegen den Journalisten Assange abzulassen.

Warum ist all das kaum einem Sender oder Blatt in Deutschland eine Meldung wert? Bei all dem Geschwätz über jeden debilen Kultur-, Sport- oder Politprominenten, das uns sonst bei ARD, ZDF & Co zu Tode langweilt? Wohl nur aus Gründen politischer Zensur, die unsere Verfassung strikt untersagt. Medien des Mainstreams blenden die politische Linke nur allzu gerne aus.

Siehe auch: Linksblindes Plädoyer: Mathias Bröckers zu Julian Assange

http://scharf-links.de/45.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=74914&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=dc1433298b

Urheberecht
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Grafikquellen      :

Oben          —      Demonstration in front of Sydney Town Hall in support of Julian Assange, 2010, December 10

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Die Moral stirbt zuletzt

Erstellt von DL-Redaktion am 4. November 2021

Flüchtlinge sterben, Werte nicht

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Sitzt hier vielleicht schon der Deutsche IMI im Gebüsch als Beobachter

Quelle:    Scharf  —  Links

Suitbert Cechura

Ein Eiserner Vorhang, eine Mauer – der Westen erwärmt sich für Neuerungen an der Grenze zum Osten und anderswo.

Die Öffentlichkeit ist bzw. wird alarmiert. Flucht und Migration treten wieder in ihren Blickpunkt: „Horst Seehofer (CSU) schlägt am Mittwoch im Kabinett Alarm. Der Innenminister bringt ein Papier, mit sieben Seiten. Sein Haus spricht dort von einer ‚hoch dynamischen Migrationslage‘ mit kontinuierlich steigenden Zahlen.“ (WAZ, 21.10.21)

Diesmal sind es nicht die vielen Ertrinkenden im Mittelmeer – die sind allenfalls noch Thema in Kleinstmeldungen –, sondern die Flüchtlinge, die über das Baltikum oder Polen nach Europa kommen. Dabei wird in der Sache, abgesehen vom grenzschützenden Aufrüstungsbedarf, wenig Neues geboten. Erstaunlich ist jedoch, wie die damit verbundenen Fragen in der Öffentlichkeit verhandelt werden.

Flüchtlinge, Migranten oder Grenzverletzer?

Schon die Einordnung der Personen, die sich zur Flucht aufmachen, als Fall von Migration fällt auf. Lange Zeit war es selbstverständlich, asylsuchende Menschen nach eben diesem Status, den sie in der modernen Staatenwelt haben, zu benennen – oder eben als Flüchtlinge. Die Kennzeichnung als Migranten stellt die Notsituation der Asylsuchenden in Frage und den betreffenden Personenkreis mit Auswanderern oder denjenigen, die sich aus beruflichen Gründen regional verändern wollen, auf eine Stufe.

Mehr und mehr ist auch von illegalen Grenzüberschreitungen oder Grenzverletzungen die Rede: „Seehofer bietet an, die Präsenz der Bundespolizei deutlich zu erhöhen, um die illegale Einreise von Flüchtlingen zu unterbinden.“ (SZ, 21.10.21) Damit nehmen die Politik und in deren Gefolge die Medien eine Position ein, die sich zur Verteidigung der Grenzen gegen illegale Elemente verpflichtet sieht. So wird im Prinzip jedem hochgerüsteten Grenzschutz, ob Zaun, Stacheldraht oder Mauer, das Wort geredet.

Apropos illegal: Wie sollten Flüchtlinge denn auch anders ins Land kommen? Einen Visumsantrag in Afghanistan oder Syrien können die Betreffenden ja schlecht stellen, um danach ins Flugzeug zu steigen. Wenn sie Asyl beantragen wollen, müssen sie den Boden der EU oder Deutschlands erreichen – irgendwie. Insofern sind Asylsuchende in ihrer größten Zahl automatisch Grenzverletzer und damit illegal oder kriminell.

Die Entscheidung der Politik, diesen Umstand zu betonen und darauf zu bestehen, dass die Betreffenden gefälligst regulär einreisen sollen, kommt der Abschaffung des Asylrechts gleich. Doch so soll die Sachlage nicht erscheinen, schließlich halten Deutschland und die EU sich zu Gute, Vertreter von allerhöchsten Werten zu sein. Doch dazu später mehr.

Was die Sache betrifft, praktizieren polnische Grenzbeamte genau das, was Seehofer fordert, die Abschiebung illegal eingereister Flüchtlinge: „Für Tausende Migranten aber endet der Weg an der Grenze. Offiziell verhindern Polens Grenzschützer täglich ‚Versuche illegaler Grenzübertritte‘, wobei viele offenbar mehrfach gezählt werden. Internationalem Recht zufolge haben Migranten, auch wenn sie eine Grenze illegal überquert haben, das Recht einen Asylantrag zu stellen.“ (SZ, 27.10.21)

So bekommt die alte Protest-Parole „legal, illegal, scheißegal“ eine ganz neue Bedeutung, wird sie doch nicht mehr trotzig gegen die Regierenden gewandt, sondern von denen selber praktiziert.

Der Ge- und Missbrauch von Menschen

Mit den Flüchtlingen an den Grenzen der baltischen Staaten und Polens hat die Diskussion um die Asylsuche eine neue Wende erhalten. Schuld an der Flucht sind nicht mehr die elenden Zustände in den Ursprungsländern derjenigen, die sich auf den Weg gemacht haben, sondern der „Autokrat“ Lukaschenko: „Seehofer: Belarus setzt Flüchtlinge als Waffe ein.“ (SZ, 21.10.21)

Bevor man dem zustimmt (weil die ‚Unregelmäßigkeiten‘ bei Lukaschenkos Wahl – anders als die in den USA oder Deutschland – an die große Glocke gehängt wurden), sollte man sich kurz einiges ins Gedächtnis rufen. Hatten die europäischen Staaten nicht nach der Wahl in Belarus die Demonstranten zur Flucht ermuntert und Flüchtlinge dazu benutzt, die Herrschaft in ihrem Heimatland aggressiv in Frage zu stellen? All das zu dem Zweck, die Unmenschlichkeit des dortigen Regimes anzuprangern?

Denn um ein „Regime“ soll es sich dort selbstverständlich handeln, obwohl Lukaschenko – anders als etwa unsere Freunde in Saudi-Arabien, die ein ehrenwertes Mitglied der G 20 sind – sich um die Abhaltung von Wahlen bemüht. Es soll eben mit den hehren Werten von Demokratie und Menschenrechten der dortigen Herrschaft von vornherein jedes Recht abgesprochen werden.

Wenn dann der Präsident des angeklagten Landes hingeht und die Vertreter der hohen europäischen Werte mit den Opfern ihrer Politik in Afghanistan, Syrien, Irak oder Afrika konfrontiert, dann soll das ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein! Und zur Menschlichkeit soll es natürlich gehören, dass man diejenigen, die auf diese Werte gesetzt haben, in die Kälte zurückstößt und dort sterben lässt.

Das Verbrechen, dessen sich der Präsident von Belarus schuldig macht, besteht darin, dass er den Flüchtlingen Visa ausstellt und sich weigert, weiterhin als Bollwerk der EU zu fungieren; dass er nicht dienstbeflissen den in den Augen der EU unerwünschten Zuzug abwehrt: „Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hatte als Reaktion auf die Sanktionen der Europäischen Union erklärt, er werde die Migranten mit Ziel EU nicht mehr aufhalten… Viele Migranten aus dem Nahen Osten, zumeist aus dem Irak, aus Zentralasien und Afrika profitieren dabei bisher von einer erleichterten, visafreien Einreise nach Belarus, die Lukaschenko per Dekret gestattet hat.“ (SZ, 21.10.21)

Der harte Vorwurf lautet, dass hier Menschen zu politischen Zwecken missbraucht werden. Und er hat Lukaschenko den Titel Schleuser eingebracht: „Bundesinnenminister wirft dem Regime in Minsk vor, Schleusungen in Richtung der Europäischen Union zu organisieren.“ (SZ, 21.10.21) Der Vorwurf des politischen Missbrauchs von Menschen ist aber insofern krude, als diejenigen, die ihn erheben, dasselbe seit langem praktizieren.

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Die letzte Grenzpredigt – Heiliger Bimbam

Denn: Asylsuchende sind nicht gleich Asylsuchende. Vor einer wachsenden Zahl an Flüchtlingen wurde nicht gewarnt, als viele Bürger aus Belarus Asyl in den baltischen Staaten oder in Polen, dem bekannten Hort demokratischer Werte, suchten. Im Gegenteil, sie waren hoch willkommen, bekamen Radiosendungen in Richtung Belarus etc. zur Verfügung gestellt und waren der menschliche Beweis für das besagte unmenschliche Regime. Als Material gegenüber einem Staat, der sich nicht in Richtung EU bewegt, stattdessen die Nähe von Russland sucht, waren diese Menschen willkommen und als Mittel für diesen politischen Zweck höchst brauchbar.

Wenn jedoch ein Lukaschenko, gegen den sich die ganze Agitation richtet, ähnliche Mittel benutzt und seiner von Europa diktierten Funktion in Sachen Flüchtlingsabwehr nicht mehr nachkommt, sondern sie konterkariert, dann liegt eindeutig Missbrauch vor.

In der Sache ist bei der Behandlung der Menschen an der Grenze zwischen Polen und Belarus nicht zu unterscheiden, wer da schäbiger mit den dort festsitzenden Flüchtlingen umgeht. Aber die westliche Öffentlichkeit hat ein ganz einfaches Kriterium: Das Asylrecht ist nur dann gültig, wenn es der eigenen Politik dient, sonst liegt Missbrauch vor – und gegen den ist jede Maßnahme gerechtfertigt.

Gute und schlechte Zäune und Mauern

Ganz ohne Kritik bleibt die Behandlung der Flüchtlinge an den Grenzen der EU allerdings nicht: „Dass Seehofer auch Zurückweisungen (von Asylsuchenden) nicht ausschließen will, kritisierte die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl scharf. Die Abwehr, von der Seehofer spreche, setze die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention außer Kraft.“ (WAZ, 21.10.21)

Viele Kommentatoren sorgen sich um das Ansehen der EU als Hüterin von Werten. Diese Werte müssen allerdings sehr flexibel sein. Denn schon der Aufschrei seinerzeit gegen die Mauer eines Trump an der Südgrenze der USA oder den Zaunbau eines Orban an der ungarischen Grenze war verlogen. Es gab ja längst meterhohe Zäune an der Grenze Spaniens zu Marokko in der afrikanischen Exklave des Landes. Diese Zäune waren nie groß in der Kritik, höchstens mal für eine Sensationsmeldung gut, sie dienten immer schon der akzeptierten Grenzsicherung des Landes.

Ganz anders beim Anliegen von US-Präsident Trump, das Gleiche an der Südgrenze seines Landes zu praktizieren. Weil der Mann der europäischen Politik und Öffentlichkeit wegen seiner „America first!“-Politik nicht passte, war seine Grenzsicherung ein Akt der Unmenschlichkeit. Und Orbans Bestehen auf der nationalen Zuständigkeit für seine Grenzen gegenüber der Forderung Deutschlands und Teilen der EU, diese in europäische Hände zu legen, zeigte ebenso den unmenschlichen Charakter seiner Politik.

Inzwischen ist diese Kritik verstummt, nicht aber die Forderung Deutschlands, bei der Sicherung der Außengrenzen der EU ein Mitspracherecht zu haben. Also wird auch jetzt wieder allen Staaten mit Außengrenzen europäische Hilfe bei der Grenzsicherung und der Behandlung von Flüchtlingen angeboten, was die lieben Partner großenteils ablehnen: „Die Bundesregierung und die EU-Kommission wollen helfen, stellen Griechenland 50 Millionen Euro bereit, damit die Menschen ‚Brot, Bett und Seife‘ bekommen. Nur Athen nimmt das Angebot nicht an.“ (WAZ 21.10.21) Schließlich dienen die miserablen Verhältnisse der Abschreckung weiterer Flüchtlinge und gehen von daher voll in Ordnung.

Überhaupt hat sich die Kritik an der Grenzsicherung durch meterhohe Stacheldrahtzäune – früher einmal die Todsünde des Ostblocks, der den Kontinent mit einem Eisernen Vorhang teilte – erledigt, einschlägige Maßnahmen scheinen kein Angriff mehr auf die Werte der EU zu sein: „Polen sowie Lettland und Litauen versuchen derweil die EU-Außengrenzen nach Belarus dichtzumachen. Die Länder bauen Grenzzäune, Polen plant auch eine dauerhafte Befestigung.“ (SZ, 21.10.21)

Auch deutsche Politiker zeigen dafür großes Verständnis: „Wir brauchen Zäune und wir brauchen vermutlich auch Mauern.“ So Michael Kretschmer, sächsischer Ministerpräsident (WAZ, 27.1021), der sich als Ostgewächs natürlich bestens mit Mauerbau und Grenzschützertum auskennt.

Die immer noch massenhaft Ertrinkenden im Mittelmeer oder die auf Geheiß der EU Internierten in Libyen und deren himmelschreiende Behandlung sind daher kaum noch irgendwo Thema. Wenn dann doch die Behandlung von Flüchtlingen, etwa vor Gericht, zum Skandal wird, dann fragt sich, wem eigentlich die Sorge gilt – den abgeschobenen Flüchtlingen oder dem Ansehen der EU?

„Niederländische Anwälte haben am Mittwoch vor dem Europäischen Gerichtshof eine Klage gegen Frontex eingereicht. Die EU-Grenzschutzagentur habe die Grundrechte syrischer Flüchtlinge verletzt, die im Oktober 2016 per Pushback von Griechenland in die Türkei zurückgeschoben worden seien, heißt es in den Medienberichten zu der Klage. Es ist die erste dieser Art. Sie könnte die EU auch deshalb in Bedrängnis bringen, weil sie offenbar mit einer besonders detaillierten Dokumentation untermauert ist. Bisherige Berichte über Pushbacks, die von der Frontex zumindest geduldet worden seien, beruhten auf Zurückweisungen auf hoher See, die schwierig nachzuweisen sind.“ (SZ, 21.10.21)

Solange die Menschen still im Meer ertrinken, ist die Welt in Ordnung, blöd nur, wenn die Pushbacks auch noch nachgewiesen werden können.

Drohende Hilfe

Wenn es um die Behandlung von Flüchtlingen geht, dann gibt es einen eigenartigen Streit. Die einen betonen, dass nicht alle Notleidenden hier aufgenommen werden können. Die anderen fordern mehr Hilfen für die Herkunftsländer. Beide Positionen sind seltsam.

Die Betonung der begrenzten Aufnahmemöglichkeiten von Flüchtlingen in Deutschland ist in mehrfacher Hinsicht absurd. Erstens wollen nicht alle Menschen in Not nach Deutschland, es handelt sich um eine begrenzte Zahl.

Zweitens können die Menschen, die gerne ihrer Not in Richtung Westen entkommen würden, dies nur in seltenen Fällen bewerkstelligen. Die meisten kommen nicht weit und landen in einem der regionalen Flüchtlingslager der UN. Die UN zählt mittlerweile 82,4 Millionen Flüchtlinge weltweit, also eine Größenordnung wie die Einwohnerzahl Deutschlands. Dabei zeigt dieses Fluchtproblem, dass die vielgelobte freie Wirtschaft und ihre militärische Absicherung weltweit nicht nur der Natur schaden, sondern die Lebensgrundlage vieler Menschen ruinieren.

Von der genannten Zahl sind 48 Millionen, also mehr als die Hälfte, Binnenflüchtlinge, verbleiben innerhalb des eigenen Landes; 20,7 Millionen werden von der UNHCR betreut und versorgt (https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen). Eine Flucht kostet schließlich Geld, deshalb legen viele Familien ihr Geld zusammen oder verschulden sich, um ein oder zwei Mitglieder auf den Weg zu schicken.

Drittens stellt sich die Frage, wo denn die Grenze der Aufnahmefähigkeit liegen soll. Kann Deutschland 100.000, 1 Million oder wie viele zugereiste Menschen verkraften? Die Betonung der begrenzten Aufnahmefähigkeit wird offenbar auch dann nicht ad absurdum geführt, wenn gleichzeitig Fachleute die Zahl der notwendigen Migranten berechnen, die es für das Funktionieren der Wirtschaft als Fachkräfte oder für die Finanzierung der Rentenversicherung braucht.

Dass dafür Flüchtlinge wegen fehlender Qualifikation nicht in Frage kämen, ist ebenso eine Legende, zählen doch zu den vielgesuchten Arbeitskräften auch und gerade Ungelernte. Es geht also gar nicht darum, dass Deutschland keine Fremden vertragen könnte und überfordert wäre, sondern es geht lediglich darum, dass Deutschland wie die anderen Staaten auch darauf besteht, selber zu bestimmen, wie viele und wen es aufnimmt. Und da sind Flüchtlinge in den Augen der Politik anmaßend, im Endeffekt kriminell, wenn sie für sich ein Recht auf Asyl einfordern.

Die Forderung nach mehr Hilfe in den Herkunftsländern als Fluchtvermeidungsstrategie erweist sich bei näherem Hinsehen als ebenso absurd. Kommen denn die meisten Flüchtlinge nicht gerade aus Ländern, denen europäische oder westliche Hilfe zu Teil geworden ist? Nicht nur die Afghanen, die jetzt vergeblich versuchen, die EU zu erreichen, können ein Lied davon singen. Sie sind doch Resultat der „Hilfe“, die der Westen dort beim Aufbau der Zivilgesellschaft mit Panzern und Bomben zwei Jahrzehnte lang praktiziert hat!

Sie haben davon gelebt, dass sie Dienstleistungen für das NATO-Militär und die begleitenden Projekten erbrachten. Jetzt sind die Militärs und Entwicklungsprojekte weg und damit die Lebensgrundlage vieler Afghanen. Ein Grund, sie hier aufzunehmen, ist dies – nach der ersten Euphorie über gelungene Transitflüge der Bundeswehr ab Flughafen Kabul – allemal nicht.

Schon die Visavergabe bereitet Probleme – und überhaupt sollen die doch besser, wenn nicht zu Hause, so doch in der Region bleiben. Bundesaußenminister Maas hat ja in diesem Sinne die Anrainerstaaten besucht und ihnen klargemacht, wie viel Platz bei ihnen für die Aufnahme von Notleidenden besteht. Eile, sie hierher zu holen, gibt es jedenfalls nicht – und wenn sie sich jetzt selber über Belarus auf den Weg machen, dann ist das ein Grund, sie nicht hereinzulassen.

Nicht zufällig kommen die meisten Flüchtlinge aus Ländern, in denen westliche Staaten und damit auch Deutschland für die Durchsetzung von Werten gesorgt haben. So musste seinerzeit mit Bomben ein drohender Holocaust auf dem Balkan sowie der Einsatz von Massenvernichtungswaffen im Irak verhindert werden; das unmenschliche Assadregime in Syrien galt es zusammen mit menschenfreundlichen Islamisten zu bekämpfen und den libyschen Diktator Gadhafi zu liquidieren, um diversen Warlords frei Bahn zu schaffen.

Alles im Namen hoher Titel, die den dortigen Menschen nicht gut bekommen sind! Und wenn die Afrikaner als massenhafte Bedrohung für Europa gelten, denen der Weg bereits in Mali abgeschnitten werden soll, so sind sie doch auch Resultat jahrzehntelanger Hilfe Europas bei der Entwicklung ihrer Länder. Schließlich hat die Hilfe dazu geführt, dass dortige Ländereien von ihren Bewohnern gesäubert werden mussten, um Kenia-Böhnchen oder Blumen anzubauen, die europäischen Küchen oder Büros zugute kommen; oder dass Shell ein ganzes Niger-Delta mit Öl verschmutzen durfte – um nur einige Beispiele zu nennen.

2016-11-04 Horst Seehofer CSU 2546.JPG

In seinen Rücken steht wohl viele hundert mal CSU geschrieben ! Auf das er nie Vergisst!

All das ist das Werk der legendären Entwicklungshilfe aus dem reichen Norden. Und nicht zuletzt die Flüchtlingsströme zeigen, was die dortigen Bewohner (sofern sie nicht zu der kleinen, besitzenden Elite gehören) davon haben. Vor weiterer Hilfe aus Europa sollte man die dortigen Menschen vielleicht eher bewahren als mehr davon zu verlangen.

Die Moral stirbt zuletzt

Verborgen bleiben die Misshandlungen von Flüchtlingen nicht. Den Klagen von NGO‘s oder Kirchen wird in den Medien immer mal wieder Platz eingeräumt. Praktisch klargestellt ist damit, dass nicht die Werte es sind, die politisches Handeln bestimmen. Sie dienen vielmehr der Legitimierung der politischen Ziele, und noch der letzte westliche Staatenlenker kann sich beim Papst-Besuch sicher sein (US-Präsident Biden jetzt mit einer Rekord-Audienz von 75 Minuten!), dass die moralische Autorität in Rom ihm diese Legitimation bestätigt – Ermahnungen zum gottesfürchtigen Handeln und Warnungen vor Fehltritten natürlich inbegriffen. Diese bestätigen ja gerade die Legitimität der Herrscher!

Trotz dieser gebotenen Aufklärung ist der Glaube daran, dass im Staatshandeln „unserer“ Politiker die Werte den Kompass abgeben, unerschütterlich:

„Denn dass Geflüchtete zur Waffe gemacht werden, wie Seehofer sich ausdrückt, dass sie am Ostrand der EU misshandelt werden, in Koatien halbtot geprügelt oder in Griechenland illegal in die Rechtlosigkeit zurückgestoßen werden – das ist alles eine Schande und mit europäischen Grundsätzen unvereinbar.“ (Constanze von Bullion, SZ, 21.10.21)

Da macht es offenbar gar nichts, wenn alle Staaten Europas für eine bessere Grenzsicherung eintreten, die sicherstellen soll, dass Flüchtlinge gar nicht erst den Boden Europas erreichen, um einen Asylantrag stellen zu können. Auch die vielen Verträge mit Staaten – die nur einen Inhalt haben, nämlich die Flüchtlinge von einem Versuch des Grenzübertritts abzuhalten, und dafür im Austausch Geld oder die Ausstattung mit militärischen Mitteln bieten –, erregen offensichtlich keinen Zweifel an der Güte europäischer Politik.

Wenn Flüchtlinge weitab von Europa interniert und misshandelt werden, dann ist das ja nicht das Ergebnis europäischer Politik! Man soll das vielmehr den dortigen Machthabern anlasten, die von unseren Werten keine Ahnung haben:

„Wenn die nächste deutsche Regierung es nicht schafft, eine ebenso konsistente wie humanitäre Asylpolitik für Europa durchzusetzen, werden in der Migrationspolitik die Herren Alexander Lukaschenko oder Recep Tayip Erdogan bestimmen. Nicht mit dem Gesetzbuch, sondern mit dem Knüppel.“ (SZ, 21.10.)

Da können europäische Grenzwächter noch so viel knüppeln. Schuld sind immer die anderen, denn europäische Machthaber gehören zu den Guten, ganz gleich, was sie zur Sicherung ihrer Hoheit an den Grenzen auch immer veranstalten.

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Grafikquelle :

Oben      —   Grenzstreifen zwischen Deutschland und Polen am Wolgastsee auf Usedom (2004)

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Verschlusssache — NSU

Erstellt von DL-Redaktion am 4. November 2021

Die geheime Akte

Eine lesenswerte Kolumne im heutigen Tagesticker

Von Konrad Litschko

Vor zehn Jahren flog der NSU-Terror auf. Hält der Verfassungsschutz dazu bis heute etwas zurück? Eine geheime Akte schürt diesen Verdacht. Die TAZ hat sie eingesehen,

Die Liste erstreckt sich über 150 Seiten. Die Rede ist von „Wehrsportübungen mit scharfen Waffen“ in einem Wald, von Schießtrainings hessischer Neonazis in der Schweiz oder Tschechien, von Hinweisen auf den Aufbau einer „Untergrundorganisation“, ein Sprengstoffdepot oder eine Waffenwerkstatt. Es ist eine Liste mit Hinweisen auf mögliche rechtsterroristische Aktivitäten in Hessen von 1992 bis 2012. Eine Liste, die eigentlich bis heute geheim bleiben sollte. Ursprünglich gar bis 2134.

Denn diese Liste gehört zu einem internen Bericht des hessischen Verfassungsschutzes, der nach dem Auffliegen des NSU-Terrors am 4. November 2011 – vor genau zehn Jahren – erstellt wurde. Er war das Ergebnis eines Prüfauftrags, ob im Landesamt nicht doch Hinweise auf den jahrelang unerkannten Terror des Nationalsozialisten Untergrunds übersehen wurden: auf die zehn Morde an neun migrantischen Gewerbetreibenden und einer Polizistin, die drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Ein Bericht von 2014, der für 120 Jahre als geheim eingestuft werden sollte.

Der Bericht ist heute längst ein Politikum – und eine Chiffre für das Mauern des Verfassungsschutzes bei der Aufklärung des NSU-Terrors. Direkt nach der Selbstenttarnung ließ ein Mitarbeiter im Bundesamt für Verfassungsschutz Akten von Thüringer V-Leuten schreddern. Später klagten Untersuchungsausschüsse über nicht gelieferte oder geschwärzte Akten und Verfassungsschützer mit Erinnerungslücken. Für die größte Empörung sorgte zuletzt aber die gesperrte Akte in Hessen. Was hat das Amt zu verbergen?

Vergebliche Forderung nach Veröffentlichung

Der taz liegt nun der Geheimbericht vor, wenn auch mit einigen Schwärzungen. Die zentralen Ergebnisse aber liegen offen zutage – und sie stellen dem hessischen Verfassungsschutz ein verheerendes Zeugnis aus.

Am 6. April 2006 erschossen die Rechtsterroristen in Kassel den 21-jährigen Halit Yozgat in dessen Internetcafé. Die Tat ist bis heute rätselhaft, denn vor Ort war auch ein hessischer Verfassungsschützer, Andreas Temme. Der will mit dem Mord nichts zu tun gehabt und diesen nicht mal bemerkt haben. Vor und nach der Tat telefonierte er aber mit V-Leuten, darunter einem Neonazi. Worüber, daran wollen sich beide nicht mehr erinnern. Der Fall bleibt bis heute nebulös.

Auch deshalb forderte im Frühjahr eine Petition mit 134.000 Unterzeichnenden die Offenlegung des hessischen NSU-Geheimberichts. Die Opferfamilien und die Öffentlichkeit hätten „ein Recht auf Aufklärung“.

Der Landtag diskutierte die Petition, die schwarz-grüne Landesregierung aber blieb hart. Zwar hatte sie schon 2019, nach ersten Protesten, die Geheimhaltungsfrist auf 30 Jahre gesenkt. Eine sofortige Veröffentlichung aber sei aus rechtlichen Gründen nicht möglich, erklärte Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU). Denn dies würde die Arbeit der Geheimdienste und die Sicherheit der V-Leute gefährden.

Der Ursprung der Geheimakte liegt viele Jahre zurück. Als am 4. November 2011 die NSU-Zelle aufflog, wurden auch im hessischen Landesamt hektisch Akten nach Hinweisen durchsucht. Der damalige Innenminister Boris Rhein (CDU) verordnete am 18. Juni 2012 schließlich eine systematische Aufarbeitung: Alle Akten der vergangenen 20 Jahre sollten noch einmal auf NSU-Bezüge geprüft werden.

Hier wurde Halit Yozgat ermordet. Ein Verfassungsschützer war anwesend – und hat keine Ahnung

Es war ein Kraftakt: 123.500 Akten mussten durchleuchtet werden, mehr als 1 Million Blatt. Im Dezember 2013 legte das Landesamt dann einen ersten Bericht vor, ein knappes Jahr später die finale Version. Der Öffentlichkeit aber blieben beide Berichte unbekannt.

Erst nachdem die Linke im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss auf den Bericht stieß und eine teilweise Veröffentlichung erstritt, wurde dessen Existenz bekannt. Auch der Ausschuss erhielt diesen, aber nur mit Schwärzungen. Und für die Öffentlichkeit ist er bis heute unter Verschluss.

Der taz liegen nun beide Fassungen des Berichts vor. Die Erkenntnisse sind in der ersten Version auf 7 Seiten zusammengefasst, in der zweiten auf 17 – plus der langen Anhänge, die teils geschwärzt sind. Und dort heißt es: In den Verfassungsschutzakten hätten sich „keine Bezüge zu den Rechtsterroristen des NSU und ihren Straf- und Gewalttaten“ gefunden. Auch anderweitig habe sich kein „terroristisches Verhalten von Rechtsextremisten“ feststellen lassen. Jedoch: An späterer Stelle wird diese Entwarnung wieder einkassiert.

30 Hinweise zum NSU-Trio

Zum NSU-Trio stießen die hessischen Aktenprüfer durchaus auf 30 Hinweise. Diese seien aber bereits bekannte, abgeklärte Sachverhalte gewesen, heißt es. Dazu gehörten etwa eine Meldung zu einem angeblichen „Kennverhältnis“ des hessischen NPD-Funktionärs Stefan Jagsch zu Beate Zschäpe, zu Besuchen des Neonazis Kevin S. im „Braunen Haus“ in Jena, in dem auch der NSU-Waffenbeschaffer Wohlleben verkehrte, oder vermeintliche Überlegungen des Trios, bei der hessischen Szenegröße Manfred Roeder unterzukommen.

Zum Fall Temme vermerkt der Bericht dagegen fast nichts – der Fokus liegt auf Hinweisen zur Neonaziszene.

Dort aber dokumentiert der Bericht rund 380 Hinweise auf Waffen- oder Sprengstoffbesitz von hessischen Neonazis. Darunter auch Meldungen, in denen die Rede davon ist, „Zellen zu bilden“ oder besagte „Untergrundorganisation“ aufzubauen. Ob und wie diesen nachgegangen wurde, bleibt zumeist unklar. Die Entwarnung klingt hier bereits schal.

Dazu finden sich in den Meldungen auch heikle Personalien. So taucht etwa der Kasseler Neonazi Stephan Ernst gleich elfmal auf – er wird später zum Mörder von Walter Lübcke. Oder Benjamin Gärtner, auch aus Kassel und V-Mann des Landesamts – jener Spitzel, mit dem Andreas Temme am Mordtag von Halit Yozgat telefonierte. Hier notiert der Bericht, dass Gärtner im Oktober 2001 eine Demonstration des Thüringer Heimatschutzes in Eisenach besuchte, zu dem auch Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gehörten. Auch soll er über einen Bekannten weitere Kontakte nach Thüringen und zu Blood & Honour haben. Wurde dem nachgegangen? Hatte Gärtner NSU-Bezüge? Der Bericht lässt es offen.

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

Zehn Jahre nach NSU-Enttarnung
Die mutmaßlichen Helfer

Von Konrad Litschko und Andreas Speit

Vor zehn Jahren flog das NSU-Trio auf. Die Bundesanwaltschaft leitete Ermittlungen gegen neun mögliche Unterstützer ein, Anklagen gab es nicht.

Der NSU bekundete es selbst in seiner Bekenner-DVD: man sei ein „Netzwerk von Kameraden“. Als am 4. November 2011 der Terror aufflog, machten sich die Ermittler auf die Suche. Gab es wirklich so ein Netzwerk? Gab es Helfer, gar weitere Mitglieder?

Vier Männer ließ die Bundesanwaltschaft schließlich festnehmen, sie wurden später zu Haftstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt: der frühere NPD-Mann und Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben, der langjährige Helfer André E., der Passbesorger Holger G. und der reuige Waffenüberbringer Carsten S. Zugleich leitete die Bundesanwaltschaft gegen neun weitere Rechtsextremisten Verfahren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ein.

Diese Verfahren sind bis heute offen. Aber es ist sehr ruhig um sie geworden. Opferanwälte erhalten dazu keine Akteneinsicht, Ermittlungsschritte sind nicht bekannt. Die Opferfamilien fordern Anklagen gegen die neun Beschuldigten. Die Bundesanwaltschaft entgegnet, dass es dafür bisher an einem ausreichenden Nachweis fehlt, dass die Beschuldigten ihre Unterstützung in Kenntnis der Terrortaten leisteten.

Wer sind diese Helfer, was ist aus ihnen geworden?

Susann E.

Die heute 40-Jährige ist die Ehefrau des engsten Triovertrauten André E. Diesen bezeichnete selbst sein Anwalt als „Nationalsozialist mit Haut und Haar“. Susann E. teilt seine Gesinnung, nahm etwa an Treffen der völkischen „Artgemeinschaft“ teil. Das Paar besuchte die Untergetauchten regelmäßig, Susann E. wurde zur besten Freundin von Zschäpe. Fotos zeigen beide bei einem Stadtfest in Zwickau oder auf einem Cocktailabend. Susann E. überließ Zschäpe Bahncards. Und Zschäpe nutzte ihren Namen als einen ihrer Aliase. Als die Terroristin am 4. November 2011 aus Zwickau floh, bekam sie von Susann E. neue Kleidung. Mehmet O., verletztes Opfer des ersten NSU-Anschlags 1999 in Nürnberg, will Susann E. auch auf einem Polizeifoto wiedererkannt haben. Weitergehende Ermittlungen dazu gab es nicht. Auf dem PC der E.s fanden Ermittler Kartenausschnitte aus Nürnberg, dazu auch NS-Bilder. Im NSU-Prozess verweigerte Susann E. die Aussage.

Heute lebt das Paar in einem Dorf bei Zwickau. Während ihr Mann weiter Szeneveranstaltungen besuchte, blieb Susann E. unauffällig. Als Beamte zwei Jahre nach dem NSU-Auffliegen nochmals die Wohnung der Familie durchsuchten, fanden sie im Wohnzimmer eine Zeichnung mit den Gesichtern von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, dazu der Schriftzug: „Unvergessen“.

Matthias D.

Matthias D. aus Johanngeorgenstadt besuchte die Untergetauchten regelmäßig, auf einem Video sieht man ihn mit Zschäpe Einkäufe in deren Wohnung tragen. Er mietete für das Trio in Zwickau eine Wohnung in der Polenzstraße an, später auch den letzten Unterschlupf in der Frühlingsstraße 26. Die Mietzahlungen liefen über sein Konto. Der Fernfahrer gehörte Anfang 2000 der Weißen Bruderschaft an, in der auch André Eminger aktiv war. In einer Vernehmung sagte er, er habe die Wohnungen zunächst nur an einen Szenebekannten, Max-Florian B., untervermietet, mit dem Trio kaum Kontakt gehabt. Im NSU-Prozess verweigerte er die Aussage.

Einem MDR-Reporter antwortete der 46-Jährige im Juni dieses Jahres auf die Frage nach den Mordopfern und den offenen Fragen im NSU-Komplex: „Das ist mir egal.“

Mandy S.

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Die letzte Wohnung des NSU-Trios in Zwickau wurde von Beate Zschäpe im November 2011 zur Verdeckung zerstört

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2.) von Oben        —       Haus Holländische Straße 82 in Kassel, Tatort der Ermordung Halit Yozgats

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3.) von Oben     —–   Demonstration gegen Rechtsextremismus und als Zeichen der Solidarität mit den Angehörigen der NSU-Opfer vor Beginn des NSU-Prozesses im April 2013 am Stachus in München

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Berlin meine Schöne

Erstellt von DL-Redaktion am 2. November 2021

Zur Demo nach der Köpi-Räumung

Polizei-Einsatz während der Köpi-Demonstration in Berlin, 15.

Quelle     :     Untergrundblättle – CH 

Von Sebastian Lotzer

Zickenplatz im Dunkeln, ferne Erinnerungen, alte Geschichten, tolldreiste Nächte, wilde Fluchten, heute hängen die Strassen und Bürgersteige voller Menschen, alles ganz ruhig, aber das ist nur die Konzentration, der Moment sich zu sammeln vor dem Sprung.

Mein Gespräch, meine Lieder
mein Hass und mein Glück
mein Tag, meine Nacht, mein Vor, mein Zurück
meine Sonne und Schatten, Zweifel, die ich hab
an dir und in mir bis zum letzten Tag
deine Strassen, wo ich fliehe, stolper und fall
deine Wärme, die ich brauch, die ich spüre überall

Klaus Hoffmann – Berlin

Dann knallt Body Count aus dem Lautsprecher, und alles setzt sich in Bewegung, schnell, aber nicht hektisch. Eine schwarze Menge, die sich durch die Strassen schiebt. Die ersten Fenster zersplittern, dieses dumpfe Dong, wenn der Stein aufprallt, dass du tausend mal gehört hast und das du nie wieder vergessen wirst, wie das Rauschen des Meeres oder den Atmen des Geliebten im Bett neben dir.

Irgendwo laufen die Bullen seitlich mit, Pyros, Knaller und Steine fliegen ihnen um die Ohren. Eine Scheibe nach der anderen fällt in sich zusammen, du findest die alten Gefährten, wie selbstverständlich, kurze Umarmungen, du schlüpfst in dein alte Haut, das verwaschene Halstuch, an dem du so hängst, bedeckt jetzt dein Gesicht. Scherze unter alten Männern, die Wehwehchen, die vergessen sind, die morschen Knochen, die noch einmal tanzen.

An der Kottbusser Brücke zieht ein Bullentrupp halbherzig auf die Fahrbahn, der allseits bekannte Haufen Zivis taucht aus einer Seitenstrasse auf. Kurzes Zögern, ein paar werden hektisch, aber dann kassieren die Bullen schon wieder Steine und die Zivis rennen panisch zurück in die dunkle Seitenstrasse. Der Kotti taucht auf, ein Ring aus Licht, du siehst schon die lauernden Hundertschaften, das übliche Szenario, aber Käsekuchen, die Bullen fahren Raumschutzkonzept, eine taktische Katastrophe, bekommen ihre Truppen nicht schnell genug verlegt.

Die Bullen und Wannen, die am Kotti postiert sind, kassieren Wurfmaterial bis Anschlag, irgendwo gehen weitere Scheiben und obere Preisklasse Schlitten kaputt. In der Reiche dann der erste wirklich grosse Bullentrupp. Wartet erst unschlüssig auf dem Gehweg, während der Frontblock einfach weiter zieht, die ganze Zeit fliegen Steine und Pyros, die Bullen stürmen dann los, ein Teil dem Frontblock hinterher, ein Teil rennt wie bescheuert den Gehweg Richtung Kotti runter.

Die Demo reorganisiert sich, den Frontblock haben die Bullen auch nicht erwischt. Am O Platz erwischt es die nächsten Bulleneinheiten, ein Trupp flüchtet in Panik hinter sein Gruppenfahrzeug, das Schickimicki Hotel am Platz verliert ein paar seiner Sicherheitsglasfenster, Abendgesellschaften fliehen angesichts der unverhüllten Realität aus dem Foyer.

So langsam haben die Bullen ihre Truppen umgruppiert, nach 20 Minuten vollständigen Kontrollverlusts in der Oranienstrasse jetzt Spalier, Ecke Adalbert brechen aber schon die ersten Gruppen wieder aus, Richtung Köpi. Ein halbe Hundertschaft hinterher, ein paar Steinwürfe später stoppen sie aber sichtlich beeindruckt die Verfolgung. Na gut, also Spalier, aber dann eben Stimmung, Tausende ziehen mit Parolen durch die mit Touristen, Nachtwärmern und verbliebenen Einheimischen bevölkerten Oranienstrasse, das rhythmische Klatschen hallt von den Fassaden zurück. Dann zähes Stopp und Go durch die dunklen, engen Seitenstrassen. Die Bullen zupfen an den Seitentranspis und Schirmen, machen heute aber nicht den Larry, sichtlich verunsichert. die Demo noch immer mit Anmeldung und Lauti, während sonst wegen jedem Scheiss aufgelöst wird, lassen sie heute lieber laufen, die Angst vor dezentraler Action muss tief sitzen.

File:Berlin Riot Police.jpg

An der Köpi Bullenmassen und Wasserwerfer, trotzdem aus dem Dunkeln Abwerfen der nachrückenden Fahrzeugkolonne der Bundespolizei, irgendwann erreicht die Demo wieder die Adalbertstrasse, ein letztes Aufstoppen, dann sickern die Gruppen langsam raus. Einige hundert finden noch den Weg zurück in die Oranienstrasse, wo auswärtige Bulleneinheiten vom Bierflaschen schwenkenden Völkchen angepöbelt werden. Die alten Knochen fangen wieder an zu frieren, im Hahn ist es schön warm von Schnaps und Liebe, überall strahlende Gesichter, viele Umarmungen, aufgeregtes Vibrieren, ein typischer Freitagabend, bis ein Trupp Bullen unvermittelt den Laden stürmt.

Auf alles einschlägt in der engen, knallvollen Kneipe, wo alles übereinander stolpert und fällt, aber trotzdem keine Panik und man hilft sich wo man kann inmitten des Tumults. Schläge im Schwitzkasten gegen den Kopf, einige gehen zu Boden, zwei schleppen sie raus. Dann verpissen sie sich wieder. Rolläden fahren runter, Tische werden nach vorne geschoben, Blessuren versorgt. Vor der Kneipe eine Masse Bullen. Alte Kreuzberger Historie, vom Verwertungsprozess ausgemustert, aber immer noch mit einem Barhocker in der Hand, wenn sie nochmal stürmen. Lassen sie aber sein. Raussickern in die Nacht, von Genossen in Empfang genommen, der Schädel brummt, aber scheiss drauf. Begrabt mein Herz am Heinrichplatz.

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Grafikquellen          :

Oben     —      Polizei-Einsatz während der Köpi-Demonstration in Berlin, 15. Oktober 2021. / Nina (PD)

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Unten     —      Bereitschaftspolizei läuft Spalier bei einer Demo gegen die Zwangsversteigerung der Køpi

Urheber    :        Oliver Wolters     /   Datum  ;   unbekannt

Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Deutschland“ lizenziert.

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Der Staat und Religionen

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Oktober 2021

Antisemitismus und Islamophobie

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Das Deutsche Wesen wird nimmer genesen – Schon 1338 – im Blut tut nimmer gut.

Von Sabine Schiffer und Constantin Wagner

Juden- und Muslimhass existieren parallel und oft im gleichen Milieu. Trotz bestehender Unterschiede ist eine offene Vorurteilsforschung gewinnbringend für alle Minderheiten.

Mit dem Satz „Was unseren Vätern der Jud ist für uns die Moslembrut“ dokumentieren Rechtsradikale 2009 am KZ Mauthausen ihren Hass auf Muslime. Der Eindruck, dass Muslimhass den Judenhass abgelöst habe, ist jedoch falsch. Beide Ressentiments sind komplementär, beide existieren parallel und nicht selten im gleichen Ressentimentträger.

Nicht zuletzt der Anschlag in Halle vor zwei Jahren hat gezeigt, dass der Hass gegen Juden virulent ist und – was nicht so prominent im Fokus der Berichterstattung steht – oft einhergeht mit dem Hass auf Muslime. Nicht zufällig steuerte der Täter nach dem gescheiterten Anschlag auf die Synagoge einen Dönerimbiss an. Sein „Manifest“ wie auch die Gerichtsprotokolle bestätigen, dass sein rechtsradikales Weltbild von antimuslimischem Rassismus ebenso geprägt ist wie von antisemitischen Weltverschwörungsmythen.

Es besteht eine Schieflage in der Wahrnehmung. Die deutsche Geschichte hatte eine besondere Sensibilisierung für Antisemitismus zur Folge – und das ist gut so und noch lange nicht ausreichend. Aber das Außer-Acht-Lassen der islamophoben Komponente schafft ein reduziertes Framing, das der Problematik nicht gerecht wird. Zudem ist wichtig festzuhalten, dass Antisemitismus und Islamophobie nicht auf Rechtsradikale beschränkt sind. Während der Antisemitismus aufgrund sozialer Erwartungen in der Öffentlichkeit häufig weniger explizit vorgetragen wird, verrät er sich in Äußerungen und Meinungsumfragen.

Der Kampf um die Anerkennung von antimuslimischem Rassismus als vergleichbares Moment zur Spaltung der Gesellschaft hat noch einen weiten Weg vor sich. Der verallgemeinernde Verweis auf muslimische Attentäter oder Antisemiten trägt zur erschwerten Anerkennung der Gefahr bei, die sich durch Anschläge auf Moscheen und Personen zeigt und die nicht weniger virulent ist. Es ist deshalb ein Vergleich antisemitischer und antimuslimischer Diskurse angebracht.

Nicht selten wird mit dem Verweis auf die Problematik des „Islamophobie“-Begriffs von der Existenz des antimuslimischen Rassismus abgelenkt. Doch auch der im 19. Jahrhundert geprägte Begriff des „Antisemitismus“ trifft nicht das Phänomen, das er beschreiben will. Wilhelm Marr – Journalist und Begründer der Antisemitenliga im Kaiserreich – suchte mit der Bezeichnung den christlich geprägten Antijudaismus, der durch die Aufklärung diskreditiert schien, wissenschaftlich zu verbrämen. Dass er dafür einen Fachterminus der Sprachwissenschaft übernahm und aus der Sprachfamilie der Semiten nun allein die Juden fokussierte, führt bis heute zu dem Missverständnis, dass arabische Muslime – ebenfalls Semiten im linguistischen Sinne – glauben, sie könnten ja qua definitionem keine Antisemiten sein. Der Begriff ist also schief, aber inzwischen etabliert und akzeptiert– zumindest, was den Kern der Bedeutung anbelangt: Vorurteile, Hass und Gewalt gegen Juden als Juden. Kaum jemand würde versuchen, über die Kritik am Begriff Antisemitismus das Phänomen des Judenhasses zu bestreiten. Anders beim Islamophobie-Begriff, der in der internationalen Öffentlichkeit das repräsentiert, was die Wissenschaft im Deutschen korrekt als antimuslimischen Rassismus bezeichnet – davon ausgehend, dass sich langsam herumgesprochen hat, dass es keine Menschenrassen, aber Rassismus als ethnisierende Struktur gibt.

Wenn heute über Moscheebau und Muezzinruf gestritten wird, lohnt der Vergleich mit den Debatten um den Synagogenbau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Besonders heftige Abwehrreaktionen gegen Indizien der Gleichstellung der bis dato Unterprivilegierten zeigten sich auch rund um die sogenannte Emanzipa­tionsdebatte und die Anerkennung der Juden als Staatsbürger im preußischen Landtag Mitte des 19. Jahrhunderts. Es wurde darüber diskutiert, ob die langjährig Ausgegrenzten loyale Staatsbürger sein könnten, gar als Lehrkräfte auf die Kinder einwirken dürften und ob man nicht das Predigen auf Deutsch vorschreiben sollte, um die Inhalte besser kontrollieren zu können. Diese Momente des Misstrauensdiskurses haben tatsächlich einige wiedererkennbare Vergleichsmomente mit den sarrazinesken Abwehrreaktionen auf erfolgreiche Integration heute.

Sehr vergleichbar – wenn auch nicht gleichzusetzen – ist die Grundstruktur eines Misstrauensdiskurses: Stereotyp ausgewählte Fakten werden ständig wiederholt und als repräsentativ für eine ganze Gruppe verstanden, Beispiele für das Behauptete finden sich immer. Es entsteht ein kohärentes System, das wie ein Filter für die weitere Wahrnehmung wirkt und damit der Selbstbestätigung zuarbeitet. So lässt sich die Vorstellung von „Parallelgesellschaften“ konstruieren, die auch als „Staat im Staate“ – so das Bild aus dem antisemitischen Diskurs – gelesen werden können. Und wer aus den erwarteten Mustern ausbricht, etwa jüdische oder muslimische Gebräuche ablegt, die/der kann – ganz kohärent – mit dem Vorwurf der Verstellung belegt werden. Das einmal geschaffene geschlossene System an Vorstellungen kann, auch nach Phasen der Aufklärung und geglaubter Überwindung, immer wieder belebt werden unter Rückgriff auf längst widerlegte Falschbehauptungen.

Nicht nur Rechtsradikale sind antisemitisch und islamophob

An dieser Stelle zeigt sich aber auch ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen antisemitischem und antimuslimischem Diskurs: Während beide ins Verschwörungsmythische abgleiten, bildet der Antisemitismus bislang das Alleinstellungsmerkmal der omnipotenten Welterklärungsformel, die hinter allem auf den ersten Blick Unerklärlichen sofort jüdische Akteure vermutet. Und hierin liegt auch ein weiterer Unterschied in der Perspektivgebung: Dem Überlegenheitsgefühl Muslimen gegenüber steht auf der anderen Seite ein Unterlegenheitsgefühl den als besonders mächtig interpretierten Juden gegenüber; wofür einige aktuelle Verschwörungsmythen im Covid-19-Kontext ein weiteres Beispiel für strukturellen Antisemitismus abgeben. Die Angst vor einer Verharmlosung des Holocaust darf nicht dazu führen, dass der Maßstab für die Einschätzung von Bedrohungslagen zu hoch angelegt wird; und nicht dazu, dass man andere Abwertungsdiskurse neben dem Antisemitismus leugnet, wozu die Islamfeindlichkeit ebenso gehört wie Sexismus oder Homophobie, Antiziganismus, DDR- und Obdachlosenfeindlichkeit, wie dies der langjährige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, in seinem Plädoyer für eine Nutzbarmachung der Erkenntnisse aus dem gut erforschten antisemitischen Diskurs für eine offene Vorurteilsforschung – selbstverständlich ohne Gleichsetzung – anmahnt.

Quelle       :         TAZ-online           >>>>>         weiterlesen 

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Grafikquellen          :

Oben     —     Jews burned alive for the alleged host desecration in Deggendorf, Bavaria, in 1338, and in Sternberg, Mecklenburg, 1492; a woodcut from the Nuremberg Chronicle (1493)

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Unten     —     DITIB-Zentralmoschee Köln – April 2015

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Polizei unter Verdacht

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Oktober 2021

Die lange Liste der Rechtsextremen Vorfälle 2021

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Von Denis Gießler

Wann sind Po­li­zis­t:in­nen durch Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus aufgefallen? Die Liste der Vorfälle im Jahr 2021 – bislang.

Die Liste der rechten Vorkommnisse bei der Polizei füllte im Jahr 2020 eine ganze Zeitungsseite. Und 2021? Eine Übersicht der Ereignisse bis zum 20. Oktober.

2. Januar 2021

Bei der Berliner Polizei laufen 47 Disziplinarverfahren wegen des Verdachts auf rechtsextremistische oder rassistische Äußerungen. Im Februar 2020 flog eine Gruppe mit 25 Po­li­zis­t:in­nen auf, die über Jahre rassistische Nachrichten verschickt hatte. Im Oktober 2020 entdeckten Er­mitt­le­r:in­nen eine Chatgruppe mit 26 Polizeischüler:innen, die Nachrichten mit Hakenkreuzen austauschten, sechs durften ihre Ausbildung nicht fortsetzen.

2. März 2021

Nach aufgeflogenen rechten Whatsapp-Chats bei der Polizei in Mülheim an der Ruhr wollen die Er­mitt­le­r:in­nen 12.750 Telefonnummern aus den Handys der Verdächtigen überprüfen lassen. Zwei Mitglieder der rechtsextremen Chatgruppe der Mülheimer Polizei waren auch in der Reality-TV-Serie „Ruhrpottwache“ zu sehen. Über einen der Darsteller stießen die Er­mitt­le­r:in­nen auf die Chats. Im September 2020 waren bei der Polizei in Mülheim an der Ruhr mehrere Whatsapp-Gruppen aufgeflogen, in denen teilweise rechtsextreme und rassistische Inhalte ausgetauscht wurden. Mehr als 20 Polizisten sind suspendiert worden. Anfang Juli beantragt die Staatsanwaltschaft Duisburg Strafbefehle gegen sechs beschuldigte Po­li­zis­t:in­nen.

3. März 2021

Ein ehemaliger Polizeikommissaranwärter muss sich vor dem Amtsgericht Offenbach verantworten. Anfang September 2018 sollen auf seinem Mobiltelefon zwei kinder- bzw. jugendpornografische Videos festgestellt worden sein. Der Beschuldigte befand sich zu dem Zeitpunkt bei der Hessischen Bereitschaftspolizei in Mühlheim am Main in Ausbildung. Laut Staatsanwaltschaft Frankfurt erging gegen den Mann bereits ein Strafbefehl über eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 50 Euro, also 4.500 Euro. Dagegen legte der Mann Widerspruch ein.

10. März 2021

Ein polizeiinterner Untersuchungsbericht zu den im September 2020 aufgeflogenen rechtsextremen Chatgruppen bei der Polizei Nordrhein-Westfalen stellt den Kol­le­g:in­nen ein schlechtes Zeugnis aus. „Das Handeln der Treiber und Unterstützer ging deutlich über das Posten rechtsextremistischer, rassistischer und antisemitischer Inhalte hinaus“ heißt es in dem knapp 30-seitigen Dossier. Es erfasse nahezu alle Aspekte von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, nämlich Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Sexismus und Homophobie. Laut der Sonderinspektion hätte es bei der Polizei schon früher Konsequenzen geben müssen, auch die Vorgesetzten kritisiert der Bericht. Seit September 2020 wurde gegen 29 Po­li­zei­be­am­t:in­nen ermittelt, wobei die Mülheimer Dienstgruppe A samt Dienstgruppenleiter komplett suspendiert wurde.

27. April 2021

Der Polizeioberkommissar Fabian G. muss sich vor dem Amtsgericht Alsfeld verantworten. Dem 37-Jährigen wird vorgeworfen, im Februar 2018 ein Hitler-Bild auf WhatsApp geteilt zu haben. Zudem soll er im März 2018 über das Auskunftssystem der Polizei Abfragen ohne dienstlichen Anlass vorgenommen und Informationen weitergegeben haben. In seiner Wohnung sollen bei einer Durchsuchung im Dezember 2018 zudem mehrere unerlaubte Schusswaffen und Munition gefunden worden sein. Anfang Oktober wird er zu einer Geldstrafe in Höhe von 7.000 Euro verurteilt. Wegen der rechten Chats wird er nicht belangt, weil die Chats als private Kommunikation eingestuft werden.

4. Mai 2021

In der Polizeidirektion Osnabrück laufen dienstrechtliche Ermittlungen gegen sechs Be­am­t:in­nen, die mehrere Hundert Bilder und Videos via Whatsapp verschickt haben sollen, darunter verfassungsfeindliche Symbole. Drei der Po­li­zis­t:in­nen werden vorläufig suspendiert, ein vierter ist es bereits seit März 2020.

9. Juni 2021

Gegen 20 Be­am­t:in­nen des Spezialeinsatzkommandos (SEK) Frankfurt wird wegen volksverhetzender Chatnachrichten ermittelt, bei sechs von ihnen gibt es Durchsuchungen. Den 19 beschuldigten Polizeibeamt:innen, die noch im Dienst sind, wird verboten, die Dienstgeschäfte weiter auszuführen. Drei von ihnen sind Vorgesetzte. Ei­ne:r der Be­am­t:in­nen wird suspendiert. Seit April 2021 ermittelt die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main gegen die Polizist:innen, beim Landeskriminalamt wurde dafür am 21. April eine eigene Arbeitsgruppe eingerichtet.

Hauptwache Ffm April 2010 DSC 9367.jpg

10. Juni 2021

Nur einen Tag nach den Durchsuchungen bei Be­am­t:in­nen des SEK Frankfurt wird die Spezialeinheit aufgelöst. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) spricht von „inakzeptablem Fehlverhalten“ der Be­am­t:in­nen und einer „Verrohung einer Dienstgruppe“, die eine Auflösung des SEK „unumgänglich“ gemacht hätte. Beuth wolle sie bestenfalls „aus der hessischen Polizei entfernen“.

16. Juni 2021

Zur rechten Chatgruppe von hessischen SEK-Polizist:innen, die Anfang Juni aufgeflogen ist, hatten weit mehr Be­am­t:in­nen Zugang als bisher bekannt. Mindestens 29 weitere hessische Po­li­zei­be­am­t:in­nen gehörten zur Chatgruppe, sagt Hessens Innenminister Beuth. Gegen neun von ihnen laufen inzwischen Disziplinarverfahren, ihre Beiträge seien allerdings nicht strafbar, weil die Whatsapp-Chats als private Kommunikation eingestuft werden.

24. Juni 2021

Das SEK Frankfurt kommt nicht zur Ruhe. Mitte Juni äußert sich der Polizeipräsident des Präsidiums Westhessen Stefan Müller selbst rassistisch. Niemand von der Spezialeinheit müsse fürchten, dass nun „das Spiel der zehn kleinen N****lein“ starte. Müller soll das Spezialeinsatzkommando als Leiter eines Expertenstabes neu aufbauen. Anschließend habe er sich entschuldigt, sagte Innenminister Beuth Zeit Online. Das sei Zeichen einer gesunden Fehlerkultur.

12. Juli 2021

Quelle       :      TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —  Ultras des Fußballvereins de:Eintracht Frankfurtanlässlich eines Lokalderbys (gegen Offenbach, August 2009). Die Polizei greift ein, nachdem es Verletzte gab.

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Forschen zur Polizei

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Oktober 2021

„Und dann konfrontieren wir die Polizei“

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INTERVIEW VON PLUTONIA PLARRE mit Christiane Howe

Einen Blick auf Deutschland von außen zu werfen – Christiane Howe kennt das seit ihrer Kindheit. Die Wissenschaftlerin forschte zu Migration und Sexarbeit. Jetzt verantwortet die 58-Jährige eine Rassismus-Studie über die Berliner Polizei.

taz: Frau Howe, was für ein Werdegang! Früher haben Sie sich mit Sexarbeit und Prostitution beschäftigt, heute forschen Sie zur Polizei. Hätten Sie sich das träumen lassen?

Christiane Howe: Früher hätte ich das vermutlich auch abwegig gefunden, aber aus heutiger Sicht erscheint mir das folgerichtig. Ich beschäftige mich schon länger mit Migration und Sicherheit und habe da auch schon mit der Polizei gearbeitet. Mein Fokus liegt auf diesen Kämpfen um den öffentlichen Raum und damit meine ich nicht nur Gentrifizierung.

Um was geht es Ihnen?

Ich bin leidenschaftliche Forscherin. Ich will verstehen, was genau wie vor sich geht. Auch, um einen Beitrag zu leisten, dass sich Dinge verbessern, für die Betroffenen und die, die an den Zuständen beteiligt sind.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich habe früher zum Beispiel Bordellrazzien beobachtet. Da habe ich mich schon gefragt: Muss das so sein? Die Beamten sind ziemlich hart in die Bordelle reingegangen. Wenn sie an die Türen gewummert haben, sind manche Frauen voller Angst auf die Fensterbänke geklettert. Viele kommen ja aus Ländern, wo man mit der Polizei ganz schlimme Erfahrungen machen kann.

Im Frühjahr erreichte Sie die Anfrage des Berliner Innensenators, ob Sie eine unabhängige Studie zu Rassismus und Diskriminierung bei der Polizei Berlin machen wollen. Was war Ihr erster Gedanke?

Extrem ambivalent. Auf der einen Seite fand ich das total spannend. Auf der anderen Seite war die Befürchtung mit Blick auf die im Herbst anstehenden Berliner Landtagswahlen: Ist das jetzt ein Feigenblatt? Man will sich ja nicht instrumentalisieren lassen.

Sie sind eigentlich eher in der linken Szene zu Hause.

Nicht in der autonomen Szene, aber in der Bürgerrechtsbewegung schon. Ich habe in Frankfurt am Main Soziologie studiert und da die ganzen Abrüstungsdemos miterlebt: die Wasserwerfer, über Gartenzäune abhauen und auch, dass Steine geworfen wurden. Heute erlebe ich die Polizei vielleicht noch im Verkehr. Wenn sie einen drangsalieren, wenn man mit dem Fahrrad nicht so fährt, wie man sollte (lacht), also rausgefischt wird.

Sie haben auch eine Migrationsgeschichte, nur anders herum. Wie sind Sie aufgewachsen?

Geboren bin ich im Ruhrgebiet. Meine Mutter war Lehrerin, mein Vater Elektrotechniker. Mitte der Sechziger, ich war vier und meine Schwester zwei, haben unsere Eltern uns unter den Arm geklemmt und sind ausgewandert.

Einfach so?

Das Nachkriegsdeutschland war für sie zu dem Zeitpunkt, glaube ich, einfach zu eng. Über verschiedene Kontakte hatte es sich ergeben, dass mein Vater in Eritrea als Elektrotechniker in einer Zementfabrik arbeiten konnte. Ich habe auch Tigrinya gesprochen, die dortige Landessprache. Danach sind meine Eltern mit uns in den Iran, das war noch unter dem Schah. Dort bin ich dann auch zur Grundschule gegangen, habe fließend Persisch gesprochen. Bis 1974/75 waren wir dort. Dann waren wir knapp vier Jahre in Deutschland an vier verschiedenen Orten in Hessen, im Rheinland, in Westfalen. Als ich 14 war, sind wir nach Kairo. Ich habe in Grundzügen Arabisch gesprochen, bei Jugendlichen geht das ja schneller. Auf einer zweisprachigen Schule in Kairo habe ich mein Abitur gemacht, mein Vater ist dort auch beerdigt.

Wie sehr hat Sie das geprägt?

Ich sag mal, ich habe zu Deutschland ein eher äußerliches Verhältnis. Zwar durchaus teilnehmend, aber so, dass ich mich immer wieder hinsetze, etwas beobachte und mich frage: Wieso passiert das hier jetzt eigentlich? Ich muss dazu sagen, es gab ja diese knapp vier Jahre, die wir in Deutschland waren. Mit 11 bin ich das erste Mal bewusst in mein Ursprungsland gekommen, das war Mitte der 1970er Jahre. Das Erleben war ganz schön krass. Man kann mir eine Migrationserfahrung ja nicht sichtbar zuschreiben.

Sie sind weiß, Deutsch ist Ihre Muttersprache und auch Ihr Name ist nicht ungewöhnlich.

Und dennoch haben meine Schwester und ich uns offenbar anders verhalten. Es gibt diese Erfahrungen, auf dem Schulhof zu stehen und angespuckt zu werden, permanent nach vorne zitiert zu werden an die Tafel, weil der Lehrer den Nachweis erbringen wollte, dass man des Deutschen nicht mächtig ist; Schüler, die einen geärgert haben; Lehrkräfte, die einen nicht geschützt haben. Mir wurde aufgelauert, ich habe mich heftig wehren und prügeln müssen. Ich hatte Atemprobleme, dann hieß es, ich hätte einen Herzfehler, dabei waren es Rippenquetschungen von Schlägen. Meine Eltern waren damit schwer beschäftigt, wir alle unterschiedlich in tiefster Trauer, auch meine Schwester musste gucken, wie sie klarkommt. Das war richtig schwierig, ist aber auch typisch für Migrationen. Wir sind dann wieder umgezogen innerhalb von Deutschland und dann konnte ich sagen, ich komme aus der und der deutschen Stadt.

Das hat Sie dann geschützt?

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Blau blühte früher nur der Enzian in Bayern

Die Begrifflichkeit für das, was meine Schwester und ich sind, ist Third Culture Kids, weil wir in mehreren sogenannten Kulturen aufgewachsen und nicht wirklich zuordenbar sind. Wir haben in gewisser Weise eine dritte Kultur dazwischen entwickelt. Ich konnte dann auf Hidden Migration machen.

Wie meinen Sie das?

Ich konnte mit dem ersten Umzug innerhalb Deutschlands mein ganzes Werden bis dahin verstecken. Das können sicht- und hörbar Zugewanderte oder Menschen, denen dies zugeschrieben wird, hier nicht. Mir war und ist bewusst, dass es ein enormes Privileg ist, weiß zu sein, so konnte ich darunter durchsegeln. Aber es war auch eine immense Kraftanstrengung, diese Anpassung zu leisten. Ich habe dann lange überlegt, ob ich wirklich in Deutschland studieren soll. Irgendwann habe ich dann gesagt, ich gebe dem Land noch eine Chance. Inzwischen denke ich, diese Erfahrungen haben mich vielleicht auch für meine Forschungen prädestiniert.

Inwiefern?

Ich bin mit dieser Mehrperspektivität groß geworden. Dass Eritrea ganz anders ist als Iran, Ägypten oder Deutschland. Dass Menschen ganz viele Möglichkeiten haben, ihr Zusammenleben zu gestalten. Bei der Forschung, die ich mache, geht es immer wieder um dieses Gefühl: Ein bisschen so dazwischenzustehen und auch einen Blick von außen darauf legen zu können. Auch das ist eine gute Voraussetzung für die Studie über die Berliner Polizei.

Sie arbeiten im Zentrum für Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin. Der Auftrag kam nicht von ungefähr und Berlin ist auch nicht das einzige Bundesland, das eine Polizei-Rassismus-Studie durchführt. Hintergrund ist, dass bundesweit zunehmend rechte Netzwerke bei der Polizei aufgedeckt werden.

Meines Wissens machen auch Niedersachsen und Rheinland-Pfalz eine solche Studie. Hamburg und andere Bundesländer überlegen das ebenfalls, weil sie mit dem Seehofer-Diskurs nicht wirklich zufrieden sind.

Sie meinen die Bundesstudie, mit der Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Deutsche Hochschule der Polizei in Münster Ende 2020 beauftragt hat – polemisch auch Feelgood-Studie genannt. Was ist der Unterschied zu Ihrer Untersuchung?

Die Bundesstudie ist eine auf drei Jahre angelegte, vorrangig quantitative Studie. Im Groben ist das vor allem eine statistische Vollerhebung. Alle 300.000 Po­li­zis­t*in­nen in der Bundesrepublik bekommen einen Fragebogen, der online mittels Ankreuzen ausgefüllt wird. Abgefragt werden Motivation, Einstellung und Gewalterfahrungen im Polizeialltag. Wir hier in Berlin machen eine ethnografische Studie, eine komplett qualitative Studie. Es war die einzige Bedingung der Berliner Innenverwaltung, das in Form von Interviews mit den Beteiligten und sogenannter teilnehmender Beobachtung vor Ort zu machen. Aber das ist ohnehin mein Spezialgebiet. Abgesehen davon haben wir vollkommen freie Hand.

Was genau ist der Plan?

Unser Fokus ist Rassismus und Diskriminierung. Diskriminierung ist noch mal weiter gefasst als Rassismus. Auf jeden Fall geht es um Rassismus gegen schwarze Menschen, um antimuslimischen Rassismus und um Antiziganismus, der insbesondere auch im öffentlichen Raum stattfindet. Wir sondieren noch, wie weit wir die Schwerpunkte ausdehnen können. Das Projekt ist ja auf ein Jahr befristet.

Was ist der erste Schritt?

Wir treffen uns mit den Betroffenenverbänden und sprechen mit ihnen über ihre Erfahrungen mit der Polizei. Wir lassen uns auch Orte nennen, an denen sie mit der Polizei negative Erfahrungen machen.

Wo Racial Profiling stattfindet, man also allein wegen seines Aussehens verdächtigt und kontrolliert wird?

Quelle     :           TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     07.07.2017 – all photos: <a href=“http://www.montecruzfoto.org/07-07-2017-Block-G20-Hamburg“ rel=“nofollow“>www.montecruzfoto.org/07-07-2017-Block-G20-Hamburg</a>

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Der braune Faden

Erstellt von DL-Redaktion am 21. September 2021

Der braune Pfad zwischen Uniformen und Behörden

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Eine Uniform zeigt den Mann ?

Von Sebastian Wehrhahn und Martina Renner

Beim Terror von rechts bleibt in der Öffentlichkeit das Bild vom Einzeltäter bestimmend, wie der Fall des Neonazis Uwe Behrendt zeigt. Das liegt nicht zuletzt an den Behörden, die sich hartnäckig weigern, aus ihren Fehlern Lehren zu ziehen.

Die gesellschaftliche Wahrnehmung von rechtem Terror versagt vor allem davor, Hintergründe und Netzwerke zu erkennen. So erscheinen Anschläge wie das Oktoberfestattentat aber auch der Mord an Walter Lübcke als das Werk von Einzeltätern oder im Fall des NSU als Taten eines Trios. Das verhindert nicht nur, rechten Terror als Kontinuität zu verstehen, auch geraten politische Bedingungen, Mittäter und sogar weitere Taten aus dem Blick. Beispielhaft für dieses Verhältnis ist der Rechtsterrorist Uwe Behrendt.

Der Neonazi Behrendt gilt als alleiniger Verantwortlicher für die Morde an dem jüdischen Verleger Shlomo Lewin und dessen Partnerin Frida Poeschke 1980 in Erlangen. Er wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Nach der Tat floh er in den Libanon, wo er sich später das Leben genommen haben soll. Weder ist allerdings seine Alleintäterschaft wahrscheinlich noch sind die Umstände seines Todes eindeutig. Dazukommen Hinweise, dass Behrendt weitere Morde begangen haben könnte.

Auskunft über den Lebensweg Behrendts geben nicht nur die Prozessakten zu dem Mordfall Lewin/Poeschke oder zum Oktoberfestattentat. Auch in der Berliner Stasiunterlagenbehörde finden sich Berichte mit Bezug zu dem deutschen Rechtsterroristen. Nicht zuletzt haben teils jahrzehntelange Recherchen wie die des Journalisten Ulrich Chaussy Wesentliches zusammengetragen.

Behrendt, der nach einem Fluchtversuch in der DDR inhaftiert war, wurde 1974 von der BRD freigekauft und fand schnell Anschluss an die rechte Szene. Kurz nachdem er sein Studium in Tübingen aufnahm, zog er aus dem Studierendenwohnheim aus und bei der schlagenden Burschenschaft Arminia ein, weil er seine Mitbewohner im Heim für zu links hielt. In dieser Zeit schloss er sich auch dem extrem rechten Hochschulring Tübinger Studenten (HTS) an, der im Dezember 1976 eine Veranstaltung über die „schwarz-kommunistische Aggression im südlichen Afrika“ organisierte. Referent war Karl-Heinz Hoffmann, Führer der nach ihm benannten neonazistischen Wehrsportgruppe. Ebenfalls angereist war an diesem Tag ein junger Mann aus Donaueschingen, der vier Jahre später eine Bombe auf dem Münchener Oktoberfest deponieren sollte: Gundolf Köhler. Die Veranstaltung konnte nicht stattfinden. Stattdessen kam es zu schweren Auseinandersetzungen mit Linken, bei denen sich Behrendt auf Hoffmanns Seite beteiligte. Für diesen waren die südafrikanischen Länder nicht nur theoretischer Bezugspunkt. Zusammen mit dem HTS-Chef Heinzmann bemühte er sich darum, Söldner zur Unterstützung der Diktaturen in Südafrika, Rhodesien und Angola zu vermitteln. Auch Behrendt zog 1979 nach Südafrika und schrieb von dort seinem Onkel, er sei bei der südafrikanischen Armee. Möglicherweise erhielt er dort militärisches Training. Für deutsche Neonazis sind solche Söldnereinsätze nicht ungewöhnlich. Die Bundesregierung behauptete 2009 in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen zur Wehrsportgruppe Hoffmann und dem Oktoberfestattentat allerdings, dass ihr keine Erkenntnisse dieser Art vorlägen.

Wem streckt der Adler seine Zunge entgegen  ?

Nach seinem Aufenthalt in Südafrika zog Behrendt zu Hoffmann, zunächst nach Heroldsberg, später nach Ermreuth, und wurde bald zu dessen engstem Vertrauten. Auch nachdem die WSG in Deutschland verboten und mit Unterstützung der PLO in den Libanon verlegt wurde, übernahm Behrendt des Öfteren Stellvertreter-Aufgaben für Hoffmann.

Im Dezember 1980 wurden Shlomo Lewin und Frida Poeschke in ihrem Erlanger Bungalow erschossen. Wie 30 Jahre später bei den Ermittlungen zum Tod der NSU-Opfer ging wertvolle Zeit verloren, weil die Polizei sich lange auf das persönliche Umfeld der Opfer konzentrierte. Medienberichte spekulierten ebenso ehrabschneidend wie haltlos über Vergangenheit und Lebensführung der Toten. Entsetzen über die rechten Morde gab es nur innerhalb der jüdischen Gemeinde, erinnerte sich der spätere Zentralratsvorsitzende Paul Spiegel, während der öffentliche Aufschrei ausblieb. Auch das ist eine Parallele nicht nur zu den NSU-Morden. Zur Kontinuität des Rechtsterrorismus gehört auch, dass viele Morde lange völlig falsch eingeordnet werden. Bei den Morden David Sonbolys im Münchener Olympia-Einkaufszentrum 2016 dauerte es Jahre, bis die Behörden einen rechten Hintergrund einräumten, beim Oktoberfestattentat sogar Jahrzehnte.

Erst spät richteten sich die Mord­ermittlungen gegen die Wehrsportgruppe. Dabei wäre das im Wortsinne naheliegend gewesen. Tatort und Wohnsitz von Hoffmann, dessen Partnerin Franziska Birkmann und Behrendt trennten nur wenige Kilometer. Außerdem blieben am Tatort Reste eines selbst gebauten Schalldämpfers zurück, der in Bauart und Material einem Modell gleicht, das Hoffmann und Behrendt vor der Tat gemeinsam gebaut hatten. Auch eine Brille mit Herstellergravur wurde gefunden; wie sich später herausstellte, ein Geschenk der Firma an Birkmann.

Erst 1984 begann der Prozess gegen Hoffmann und Birkmann. Doch nach 186 Verhandlungstagen wurden beide in allen die Morde betreffenden Punkten freigesprochen – trotz der Hinterlassenschaften am Tatort und trotz der Aussagen anderer WSG-Mitglieder, die angaben, Hoffmann hätte auch sie versucht für einen Mordauftrag an einem Juden zu rekrutieren.

Quelle          :       TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Royal London Wax Museum – Adolf Hitler Royal London Wax Museum, Victoria, British Columbia, Canada

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Unten     —       Reichswappen mit Reichsadler ab 1928, als deutscher Bundesadler des Bundeswappens ab 1950

 

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Abschiebung nach Kamerun

Erstellt von DL-Redaktion am 19. September 2021

Verwaltungsgericht Sigmaringen ordnet Stopp der angedrohten Abschiebung von Alassa Mfouapon nach Kamerun an

Die BAMF – nicht jede kanns !

Quelle:    Scharf  —  Links

Von RAe Meister & Partner

Der Gerichtsbeschluss stellt eklatante Verfahrensverstöße des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) fest

Am 17. September wurde uns der Beschluss der 10. Kammer des VG Sigmaringen (A 10 K 2382/21) zugestellt. Er ordnet auf Kosten des BAMF den Stopp der Abschiebungsandrohung[1] an, da das BAMF zu Unrecht den Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat.

Dies ist ein bedeutender Erfolg im Kampf um Flüchtlingsrechte und Ergebnis der breit gefächerten und vielfältigen Solidarität mit dem wohl profiliertesten Repräsentanten der selbstorganisierten Flüchtlingsbewegung in der BRD.

Die Begründung des Beschlusses stärkt über den konkreten Fall von Alassa M. hinaus die Rechte von Flüchtlingen im Asylverfahren. Er ist eine „juristische Ohrfeige“ für das BAMF und stellt weitgehende eklatante Verfahrensverstöße fest.

Der Beschluss stellt fest:

„Es bestehen … ernstliche Zweifel, ob dem Antragsteller keine Verfolgung und keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.“

Und weiter:

„Zudem war im vorliegenden Fall eine persönliche Anhörung des Antragstellers geboten, die jedoch nicht durchgeführt wurde. … Die besondere Bedeutung der Anhörung im Asylverfahren führt grundsätzlich zur Aufhebung des angefochtenen Bescheids, wenn die Anhörung nicht während des gerichtlichen Verfahrens nachgeholt wird. Die Anhörung dient als asylrechtliche Verfahrensgarantie der effektiven Durchsetzung des materiellen Rechts, indem sie dem Antragsteller die Gelegenheit verschafft, mit den zuständigen Behörden … effektiv zu kommunizieren … Eine zu Unrecht unterlassene Anhörung führt als Verfahrensfehler grundsätzlich zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids.“

Deutscher Bundestag

Der Rechtsstaat wird diese Begrifflichkeit seinen Behörden nicht erklären ?

Die eklatante Missachtung von Verfahrensrechten belegt, dass die Ablehnung offensichtlich politisch motiviert war und bei der Entscheidung des BAMF verfahrensfremde Gründe eine Rolle spielten.

So die Tatsache, dass Alassa M. es gewagt hat, Verantwortliche von EU, Frontex und der Bundesregierung beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuzeigen oder gegen die Polizeiattacke auf die Flüchtlinge in der LEA Ellwangen 2018 den Protest zu organisieren und das Land Baden – Württemberg erfolgreich  zu verklagen.

(https://verwaltungsgericht-stuttgart.justiz-bw.de/pb/,Lde/9020882/?LISTPAGE=5597587)

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc/.

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Grafikquelle :

Oben      —     Hauptsitz des BAMF in Nürnberg

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KOLUMNE – AUFRÄUMEN

Erstellt von DL-Redaktion am 19. September 2021

Bekennt euch doch selbst!

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Von Viktoria Morasch

Die Linkspartei soll sich zur Nato bekennen, obwohl sie das Bündnis im Wahlprogramm ablehnt. Wann bekennen sich die anderen Parteien zu Dingen, die in ihrem Wahlprogramm stehen?

Wahlkampf heißt, man hört als politisch interessierter Mensch über Wochen hinweg dieselben Vorwürfe, Argumente, Formulierungen. Ein Wort ist mir dabei besonders aufgefallen: Bekenntnis. Ein schönes, altes Wort, finde ich. Wenn ich es höre, denke ich sofort an Kirche. „Ich bekenne mich“, das sagt man nicht einfach so, das muss man schon meinen.

Im aktuellen Wahlkampf fällt „Bekenntnis“ immer wieder in diesem Zusammenhang: Die Linkspartei soll sich verdammt noch mal zur Nato bekennen. Das fordern vor allem SPD und Grüne. Wenn die Linke das nicht tut, kriegt sie keine Koalitionsverhandlungen.

Nun könnte man einwenden: Die Nato ist ein veraltetes Konstrukt. Sie ist gerade in Afghanistan gescheitert. Sogar Joe Biden sagt, dass es Kriege zur „Umgestaltung anderer Länder“ in Richtung Demokratie nicht mehr geben werde. Dieses Militärbündnis zu hinterfragen, finde ich okay, wenn dabei der Schutz osteuropäischer Länder nicht als Lappalie abgetan wird. Aber darum geht es mir gar nicht. Denn man könnte – viel einfacher – auch einwenden: Warum soll sich die Linkspartei zu etwas bekennen, das sie in ihrem Wahlprogramm explizit ablehnt? Und, daran anschließend: Wann bekennen sich die anderen Parteien eigentlich zu den Dingen, die tatsächlich in ihren Wahlprogrammen stehen?

Die FDP zum Beispiel könnte sich zum Liberalismus bekennen. Zu einem kosmopolitischen Liberalismus, der Bürgerrechte schützt, für wirkliche Freiheit steht und nicht nur für die Freiheit von SpitzenverdienerInnen. Der FDP hängt etwas Reaktionäres an, das sie nicht abschütteln kann oder will, ich sag nur: Ehegattensplitting. Daran wollen die Liberalen festhalten.

Hans-Georg Maaßen 02.jpg

Olaf Scholz soll sich dazu bekennen, die Situation von Hartz-IV-EmpfängerInnen wirklich verbessern zu wollen. Mit konkreten Zahlen, nicht nur mit dem neuen Begriff „Bürgergeld“. Warum kann er sich beim Mindestlohn auf einen Betrag festlegen, bei der Grundsicherung aber nicht?

Die Union schreibt in ihrem Wahlprogramm: Rechtsextremismus sei die größte Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Warum spielt das Thema dann keine Rolle in ihrem Wahlkampf? Ich will, dass sich die CDU und die CSU zum Kampf gegen Rechtsextreme bekennen. Nicht nur sagen, auch meinen.

Quelle        :        TAZ         >>>>>          weiterlesen

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Oben      —   NATO/OTAN Logo. Source converted by Imalipusram

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Von Tätern zu Rettern ?

Erstellt von DL-Redaktion am 17. September 2021

Die Vermittler-Lücke füllen

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Unter den Uniformen hat sich in Deutschland auch nicht viel verändert !

Von Gil Murciano

Die israelisch-arabische Annäherung zu fördern und neu zu definieren ist eine Aufgabe wie maßgeschneidert für Deutschland und Europa.

Ein Jahr nach der Unterzeichnung der Abraham-Abkommen steht der Normalisierungsprozess in der Nahostregion an einer entscheidenden Wegscheide: Er könnte die israelisch-arabischen Beziehungen grundlegend verändern – oder aber nur zu einer weiteren Fußnote in der langen Geschichte des israelisch-arabischen Konflikts werden.

So sind durch die Abkommen relativ erfolgreich Verbindungen zwischen Ministerien und Unternehmen in Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Bahrain entstanden. In nur einem Jahr sind die VAE zu einem der 20 wichtigsten Handelspartner Israels geworden. Außerdem haben sie ermöglicht, dass viele Israelis als Touristen in die Emirate gereist sind.

Dennoch haben die Abkommen bislang nicht die Erwartungen erfüllt, von denen ihre Architekten zum Zeitpunkt der Unterzeichnung geträumt hatten. Es hat keinen Dominoeffekt gegeben, durch den weitere Staaten der arabischen Welt ihre Beziehungen zu Israel normalisiert hätten, und es ist auch keine vereinte regionale Front gegen die militärischen Ambitionen des Iran entstanden. Vor allem hat sich die grundlegende öffentliche Wahrnehmung Israels und der Israelis in der arabischen Welt nicht gewandelt.

Zwei Gründe sind für das unerfüllte Potenzial hauptsächlich verantwortlich. Zum einen gibt die Regierung von US-Präsident Joe Biden den Verträgen nur geringe Priorität. Öffentlich unterstützen die USA den Normalisierungsprozess, aber Bidens Leute sind nicht sonderlich begierig, einen der bedeutendsten Erfolge Donald Trumps ins Rampenlicht zu rücken. Es gibt bis heute keinen Sondergesandten für den Normalisierungsprozess. Da offensichtlich geworden ist, dass die USA sich mehr und mehr aus dem Nahen Osten heraushalten wollen, fehlt für viele Staaten dort der Anreiz, ihr Verhältnis zu den USA zu verbessern, indem sie ihre Beziehungen mit Israel regeln.

Doch das Haupthindernis, die politische Landschaft des Nahen Ostens umzukrempeln, ist die Illusion, die von Anfang an in die Verträge eingewoben war: Die Beziehungen Israels zur arabischen Welt lassen sich nicht komplett vom israelisch-palästinensischen Konflikt abkoppeln. Einer der wichtigsten Beweggründe von Ex-Regierungschef Benjamin Netanjahu für die Abkommen war seine Wunsch, dass die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts nicht länger als eine Bedingung für gute Beziehungen zur arabischen Welt vorausgesetzt wird. In den Monaten nach der Unterzeichnung schien die palästinensische Frage so weit an den Rand gerückt zu sein, dass über die Zukunft Israels im Nahen Osten das Geschehen in Abu Dhabi oder Manama entscheiden würde – und nicht das in Gaza oder Sheich Dscharrah. Diese Illusion zerbrach im letzten Krieg um Gaza. Die Eskalation im Frühjahr zeigte, dass sich zwar die Beziehungen zu den Golfstaaten verbesserten, der israelisch-palästinensische Konflikt gleichzeitig aber immer dramatischer in den israelischen Alltag drängte. Für die Abraham-Abkommen hatte es die Folge, dass der Normalisierungsprozess seinen Schwung verlor und seine Unterstützung in der arabischen Welt weiter schwand.

The Palestinian by Latuff2.jpg

Flüchtlingskinder in Griechischen Lagern sehen kaum anders aus !

In dieser Situation könnten Europa und insbesondere Deutschland den Normalisierungsprozess aktiv unterstützen und auch seinen Kurs verändern. Europa sollte die Leerstelle füllen, die die USA zurückgelassen haben. Auch wenn es nicht die Absicht Trumps und Netanjahus war, könnte Europa den Prozess des Ausgleichs zwischen Israel und der arabischen Welt nutzen, um den Friedensschluss zwischen Israel und den Palästinensern voranzutreiben.

In einem ersten Schritt könnte Europa die an der Normalisierung beteiligten Staaten dazu bringen, die wirtschaftliche Entwicklung im Westjor­dan­land und in Gaza zu fördern, und eine multilaterale Initiative fördern, an der Israel, die VAE und die palästinensische Autonomiebehörde beteiligt sind und die sich der langfristigen Entwicklung des Gazastreifens wie der wachsenden wirtschaftlichen Krise im Westjordanland widmet. In diesem Kontext könnte Europa helfen, die seit der Unterzeichnung der Abraham-Abkommen immer schlechter werdenden Beziehungen der VAE zur Autonomiebehörde zu verbessern. Dabei könnte auf der veränderten Haltung der Regierung von Jair Lapid und Naftali Bennett zur Autonomiebehörde aufgebaut werden.

Quelle        :            TAZ -online        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —   „Israeli soldiers are just following orders“ (by Latuff).

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Unten         —         „The Palestinian“ by Carlos Latuff.

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NSU – erledigt

Erstellt von DL-Redaktion am 21. August 2021

Entscheidung des Bundesgerichtshofes

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Ein Kommentar von Thomas Fischer

Der Bundesgerichtshof hat die Revisionen von drei Angeklagten im NSU-Verfahren verworfen. Ihre Verurteilungen sind rechtskräftig. War’s das?

Entscheidungen

Das Aktenzeichen des Bundesgerichtshofs – 3. Strafsenat – lautet: 3 StR 441/20. Hinter den Ziffern verbergen sich bürokratische Bedeutungen: »3« heißt: Dritter Strafsenat, »StR« heißt: Revision in Strafsachen, »441/20« heißt: Das war die vierhunderteinundvierzigste Revision, die beim Generalbundesanwalt – der »Staatsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof« – im Jahr 2020 für den 3. Strafsenat eingegangen ist. Am 12. August 2021 hat der Senat in der Sache zwei Beschlüsse gefasst und am 19. August zusammen mit einer längeren Presseerklärung veröffentlicht, nachdem er – sehr ungewöhnlich – am 12. August eine Pressemitteilung des Inhalts herausgegeben hatte, er werde demnächst eine Pressemitteilung herausgeben.

Das Verfahren 3 StR 441/20 wurde durch die beiden Beschlüsse hinsichtlich drei von vier Angeklagten rechtskräftig abgeschlossen. Entscheidungen des BGH in Strafsachen ergehen, wie es in § 349 Strafprozessordnung (StPO) geregelt ist, entweder durch Urteil oder durch Beschluss. Beschlüsse sind nur zulässig, wenn der Generalbundesanwalt (GBA) sie beantragt oder jedenfalls nicht die Durchführung der Hauptverhandlung beantragt hat, und wenn der Senat aus fünf Richtern einstimmig entscheidet. Ob über eine Revision durch einstimmigen Beschluss oder durch Urteil nach Hauptverhandlung entschieden wird, sagt nichts über die Bedeutung der Sache oder über die Erfolgsaussicht einer Revision. Routinemäßig wird über Revisionen von Staatsanwaltschaften stets mündlich verhandelt, auch wenn sie eigentlich »offensichtlich unbegründet« sind; angeblich verlangt das die Höflichkeit. Angeklagten, Nebenklägern oder Nebenbeteiligten wird sie meist nicht zuteil: Hier wird in 90 Prozent der Fälle ohne Hauptverhandlung durch Beschluss entschieden, obwohl diese Entscheidungsform nach der Vorstellung des Gesetzes eigentlich die Ausnahme ist. Täte man das nicht, würden allerdings die Senate mit der Arbeit nicht fertig. Und ehe die Justiz unter Stress gerät, sollen doch lieber die Angeklagten sich mit schriftlichen Nachrichten ohne Begründung zufriedengeben: 87 Prozent der Revisionen werden »als offensichtlich unbegründet verworfen, weil ein Rechtsfehler nicht vorliegt« – Ende.

So war es im Fall 441/20 aber nur teilweise: Das NSU-Verfahren ging zwar in Sachen Wohlleben mit einem Verwerfungsbeschluss zu Ende, dessen Begründung zwei Zeilen umfasst. Aber für die Verwerfung der Revision der Angeklagten Beate Zschäpe als »offensichtlich unbegründet« (mit kleinen Korrekturen des Schuldspruchs) hat der Senat doch 31 Seiten aufgewandt, wovon die Begründung zu der Frage, die allgemein als spannend angesehen wurde, zehn Seiten umfasst: Zschäpe war Mittäterin der Mörder Böhnhardt und Mundlos, nicht nur Gehilfin.

Täterschaft und Teilnahme

Über die Abgrenzung zwischen Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) und Teilnahme durch Beihilfe (§ 27 StGB) ist unendlich viel geschrieben und diskutiert worden, und auch in diesem Fall war sie Gegenstand der Erörterung. Dass man nicht »Täter« im Rechtssinn sein könne, wenn man am Tatort und/oder zum Tatzeitpunkt nicht körperlich anwesend ist, ist eine Mär, die noch nie gestimmt hat. Jeder würde es für ungerecht halten, wenn der sprichwörtliche »Bandenboss«, der seine Handlanger per Handy fernsteuert und nach der Tat 80 Prozent der Tatbeute kassiert, nur als »Gehilfe« mit einer geminderten Strafe bedroht würde. Wie so oft, lassen sich für die Abgrenzung keine allgemeinen, objektiven, stets exakt ablesbaren formalen Kriterien finden. Gerade im so genannten »Allgemeinen Teil« des Strafgesetzes ist das so: Was ist (schon) eine »Handlung« oder (noch) ein Nichtstun? Wann hört die bloße straflose Zustimmung auf und fängt die strafbare »Anstiftung« an? Ist jemand »Gehilfe« einer Tat, die von einem anderen in seiner Wohnung begangen wird? Was genau ist ein »Irrtum«? Solche Fragen sind nicht für Juraklausuren erfunden worden, sondern ergeben sich aus den unendlichen Lebenssachverhalten selbst, aus der Notwendigkeit, sie rechtlich einzuordnen, und aus der Unmöglichkeit, die unbegrenzte Vielfalt des Lebens in exakten, technisch messbaren Begriffen und Beschreibungen einzufangen.

So ist es auch mit der »Täterschaft«. Hier kommt es – einmal mehr – »darauf an«: Täter ist jemand, wenn er eine Tathandlung oder einen Taterfolg »beherrscht« oder mitbeherrscht, ihn steuert, etwas Notwendiges zur Verwirklichung beiträgt, über das Ob, Wie und Wann einer Tat entscheidet, und wenn er die Verwirklichung der Tat selbst will. Die Rechtsprechung nennt das »Tatherrschaft« und »Tatinteresse«. Wer für 50 Euro beim Einbruch »Schmiere steht« und gar nicht weiß, worum es geht, ist in der Regel nicht Mittäter, sondern Gehilfe. Wer die Einbruchsobjekte mit aussucht und die Hälfte der Beute kriegt, ist Mittäter, auch wenn er selbst nicht einsteigt.

Das Oberlandesgericht (OLG) München, dessen Staatsschutzsenat erstinstanzlich im NSU-Fall entschieden hat, hat Tatsachen »festgestellt«, nach deren Bewertung die Angeklagte Zschäpe sowohl Tatherrschaft als auch Tatinteresse in allen abgeurteilten Fällen hatte, also Mittäterin gemeinsam geplanter und arbeitsteilig begangener Verbrechen war. Der Bundesgerichtshof als Revisionsgericht prüft, ob das Urteil der ersten Instanz »Rechtsfehler« enthält (§ 337 StPO). Er hat nicht zu entscheiden, ob man vielleicht auch etwas anderes hätte feststellen können oder ob andere Tatsachen als die festgestellten vielleicht wahrscheinlicher gewesen wären. Das Revisionsgericht prüft, ob die Feststellungen in sich schlüssig und vollständig sind, ob die Beweiswürdigung die naheliegenden Möglichkeiten gesehen und vertretbare Ergebnisse gefunden hat, und ob der rechtlichen Bewertung die richtigen Kriterien und Maßstäbe zugrunde gelegt worden sind. Wenn das der Fall ist, ist das Urteil »rechtsfehlerfrei« und eine Revision zu verwerfen.

Quelle         :      Spiegel-online            >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben          —           Bundesgerichtshof („Federal Court of Justice of Germany”) in Karlsruhe

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Alltag für Jour­na­lis­t-In­nen

Erstellt von DL-Redaktion am 31. Juli 2021

Schon bist du beim Verfassungsschutz

WDR-Dreharbeiten zu Tatort Köln „Wacht am Rhein“-8738.jpg

Sitzen die Staats-Schwachköpfe schon in den Bäumen ?

Von Jessica Ramczik

Tim Mönch ist professioneller Fotojournalist. Sächsische Staatsschützer sammeln trotzdem Daten über ihn – weil sie ihn als Linksextremisten sehen.

Am 14. Dezember 2019 tut Tim Mönch das, was Fotojournalisten tun. Mönch, dessen Fotos bereits in der taz, im Spiegel und beim ARD-Magazin „Monitor“ gezeigt wurden, fotografiert einen rechten „Zeitzeugenvortrag“ im sächsischen Leubsdorf. Das Foto des anwesenden Chemnitzer Stadtrats Robert Andres (ProChemnitz) veröffentlicht er auf seinem Twitter-Profil. Andres ist als Stadtrat eine Person des öffentlichen Lebens. Eine Veröffentlichung also rechtlich zulässig.

Dass Mönch in Leubsdorf als Journalist tätig war, will die Behörde nicht anerkennen. Grund für die Speicherung seiner Personendaten soll vielmehr sein, dass Mönch 2015 und 2016 an Demonstrationen teilgenommen habe, die „jeweils einen links­extremis­ti­schen Charakter aufwiesen“

Geregelt wird dies in Paragraf 23 des Kunsturhebergesetzes. Demnach dürfen Personen der Zeitgeschichte, so auch Politiker, fotografiert und diese Bilder veröffentlicht werden. „Ich bin mit der Veröffentlichung also völlig im Rechtsrahmen dessen geblieben, was ich als Journalist darf. Auch habe ich keine Fotos anderer Teilnehmer veröffentlicht“, sagt Mönch der taz.

Auch vor Ort sei alles regulär abgelaufen, sagt Mönch. „Ich war als Journalist zu allen Zeiten erkennbar. Die Beamten haben meinen Presseausweis kontrolliert.“ Trotzdem speichert der sächsische Verfassungsschutz diese journalistische Tätigkeit in seinen Akten, welche der taz vorliegen. Dort steht auch, dass Mönch einige Jahre zuvor linke Demos besucht habe.

Das Speichern der Daten von Berufsgeheimnisträgern ist rechtlich nicht zulässig, zudem genießen Jour­na­lis­t*in­nen auch durch die verfassungsrechtlich garantierte Pressefreiheit besonderen Schutz.

Als Extremist unterwegs

Dass Mönch jedoch in Leubsdorf als Journalist tätig war, will die Behörde nicht anerkennen. Grund für die Speicherung soll vielmehr sein, dass Mönch in den Jahren 2015 und 2016 an einer Demonstration teilgenommen habe, die „jeweils einen linksextremistischen Charakter aufwiesen“, wie es in der Antwort des sächsischen Verfassungsschutzes an Mönchs Anwältin heißt. Mithin verstoße die Datenspeicherung auch nicht gegen geltendes Recht, da Mönch auch beim Fotografieren der Teil­neh­me­r*in­nen des „Zeitzeugenvortrages“ als Linksextremist gehandelt habe.

Mönch erfährt davon erst, als er beim sächsischen Datenschutzbeauftragten ein Auskunftsgesuch darüber stellt, was die Behörde über ihn gespeichert hat.

Mönch beantragt schließlich mit Hilfe seiner Anwältin, dass diese Daten gelöscht werden. Der Verfassungsschutz gibt dem statt. Dass Mönchs Daten rechtswidrig gespeichert wurden, will der Verfassungsschutz dagegen nicht anerkennen: „Die Art von Recherchetätigkeit über den politische Gegner stellt eine typische Handlungsweise von Linksextremisten“, heißt es in einem Schreiben des sächsischen Verfassungsschutzes an Mönchs Anwältin. Eine Datenspeicherung sei damit rechtmäßig.

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Mit irre Potentaten – war schon immer beschwerlich zu Spaaßen

Der Verfassungsschutz teilt Mönchs Anwältin Kristin Pietrzyk lediglich mit, dass die Daten nicht mehr benötigt würden. Mönch widerspricht diesem Vorgehen, auch wegen fragwürdiger Quellen. Denn dass Mönch überhaupt beim Fotografieren als Linksextremist gehandelt habe, begründet der Verfassungsschutz mit der Nennung Mönchs in einem Artikel auf der rechtsextremen Webseite „Einprozent“.

Von Rechten diktiert

„Zugespitzt bedeutet dies, dass das Landesamt bei der Prüfung, ob Datenspeicherungen erfolgen dürfen, keine eigene Prüfung vorgenommen, sondern sie sich von Rechtsextremisten hat diktieren lassen“, heißt es im Widerspruchsschreiben von Anwältin Pietrzyk.

Der Verfassungsschutz weist dies in einem weiteren Schreiben zurück, Mönch sei bereits vor jenen Ereignissen erfasst worden. Auf Nachfrage der taz zu diesem Fall entgegnet eine Sprecherin der Behörde, dass sie aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Angaben zu Einzelpersonen machen werde.

Quelle          :          TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —WDR-Dreharbeiten zu Tatort Köln „Wacht am Rhein“ Foto: Fotojournalisten bei der Arbeit.

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Alles mit amtlicher Wirkung

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Juli 2021

Die ultimative Marx-Widerlegung

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Eine politische Clownerie im Deutschen Alltag? Nachdem vor rund 150  Jahren in aller Ruhe sterben durfte?

Quelle     :     Untergrundblättle – CH 

Von Johannes Schillo

Extremismusforschung im Dienste der Staatssicherheit. Der deutsche Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ hat mit amtlicher Wirkung festgestellt, wie viel Marxismus im öffentlichen Diskurs zulässig ist.

Anfang Juli entschied der deutsche Bundeswahlleiter, dass die „Deutsche Kommunistische Partei“ (DKP) nicht zur Bundestagswahl zugelassen wird – aus rein formalen Gründen, wie es hiess. Die Entscheidung passt inhaltlich aber bestens zu den jüngsten Mitteilungen aus dem hochaktiven Staatssicherheitsapparat der BRD. So hatte der Staatssekretär des Innenministeriums (BMI) im Mai in einer Bundestagsdebatte die Beobachtung der linken Tageszeitung „Junge Welt“ (JW) durch den Verfassungsschutz verteidigt, was dann bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes im Juni bekräftigt wurde (siehe „Journalismus im Visier des Verfassungsschutzes“).

Wer sich auf Marx und Engels beruft, muss demnach aufpassen: Macht er sich deren Theorie als eine „Denkweise“ zu eigen und gelangt dann zum Befund einer „Klassengesellschaft“, ist er ein Feind der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, widerspricht z.B. mit der „Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde“. Dieses Verdikt über die Marxsche Theorie, das nur ein paar Irritationen bei Rechtsexperten, linken Journalisten und Wissenschaftlern hervorrief, steht übrigens als Fazit der Extremismusforschung seit längerem fest. Es wurde vom BMI-Vertreter jetzt nur griffig resümiert.

Die betreffende Forschung wendet sich – dem Abwehrgedanken der streitbaren Demokratie folgend – gegen Extremismus überhaupt. Die Ablehnung des Marxismus ist dabei nur ein Unterfall, der im Grunde durch die Subsumtion unters Extremismus-Schema erledigt ist. Dafür reicht ein formaler Kriterienkatalog, der die mangelnde Übereinstimmung mit Essentials des demokratischen Verfassungsstaates feststellen soll. Doch hat sich der ausgewiesene Extremismusforscher Prof. Armin Pfahl-Traughber, ehemals im Bundesamt fürs Verfassungsschutz tätig, 2014 in einer Publikation zum „Linksextremismus in Deutschland“ eigens die Mühe gemacht, auf die Theorie von Marx und Engels einzugehen, und damit dem Innenministerium die Vorlage geliefert.

Vorentscheidung getroffen

Pfahl-Traughbers Abrechnung nimmt sich die Theorie gesondert von Leninismus, Stalinismus etc. vor. Als „bekannteste Werke“ nennt sie neben zwei Schriften von Engels das Kommunistische Manifest, „Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie“, den 18. Brumaire und die „Kritik des Gothaer Programms“. Zu seiner Auswahl bemerkt der Autor: „Bereits aus den Titeln dieser Publikationen geht hervor, dass Marx/Engels mit polemischem Unterton für inhaltliche Positionen eintraten, für ihre Analysen der gesellschaftlichen Gegebenheiten aber auch einen wissenschaftlichen Anspruch erhoben.“ (PT 30)

Mit dem Hinweis auf Polemik wird hier ein Gegensatz zur Wissenschaftlichkeit suggeriert, der aber aus den Titeln nicht hervorgeht. Auch die Hauptwerke des Philosophen Kant tragen das Wort „Kritik“ im Titel und wollen damit gerade ihren wissenschaftlichen Anspruch zum Ausdruck bringen. Gemeint ist nicht mehr als die Ankündigung, dass sich der Autor die prüfende Beurteilung des betreffenden Gegenstandes zum Anliegen macht. Ob und in welchem Sinne der Anspruch eingelöst wird, muss sich an den vorgelegten theoretischen Leistungen erweisen. Ohne deren Sichtung lässt sich dazu nichts sagen. Pfahl-Traughber deutet aber mit seiner Feststellung schon die Vorentscheidung an, dass Wissenschaftlichkeit nur als die eine Seite des Marxismus gelten kann.

Deren Existenz wird anhand eines Zitates aus der „Deutschen Ideologie“ eingeräumt, wo Marx und Engels gegen die (jung-)hegelianische Spekulation die Notwenigkeit „wirklichen Wissens“ setzten. Das kommentiert der Extremismusexperte so: „Mit solchen Auffassungen bekannten sich Marx und Engels zu einem empirischen und positivistischen Wissenschaftsverständnis. Gleichzeitig verknüpften sie dieses mit ihren politischen und sozialen Grundpositionen, woraus sich eine innere Spannung und Widersprüchlichkeit ergab.“ (Ebd.)

Das ist ein Missverständnis, gegen das sich auch Vertreter einer positivistischen Position zur Wehr setzen dürften. Keine Schrift der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus – vielleicht mit ein bis zwei Ausnahmen wie Engels‘ Frühwerk über die Lage der arbeitenden Klasse in England – tritt mit dem Anspruch an, eigenes empirisches Material zu präsentieren. Immer geht es darum, die gesellschaftliche Realität samt ihren vorfindlichen Widersprüchen zu erklären. Dafür werden dann zahlreiche Daten, Fakten, Berichte verwendet, die von Fachleuten oder offiziellen Stellen stammen, oft auch, wie die berühmten Berichte der Fabrikinspektoren im „Kapital“, von der Öffentlichkeit nicht gross zur Kenntnis genommen wurden.

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Dass Widersprüchlichkeit bei Marx und Engels erst durch das Einbringen von „Grundpositionen“ zustande käme, ist entweder ein Vorurteil oder ein Missverständnis dessen, was als „dialektische Methode“ bezeichnet wird. Für Voreingenommenheit spricht das anschliessende erste Resümee, das grosszügig einräumt: „Auch wenn im Marxismus die Ideologie mit der Wissenschaft einhergeht, sollte die Existenz von Letztgenanntem nicht ignoriert werden.“ (Ebd.) Na ja, wenn das eine mit dem andern einhergeht, ist dessen Existenz ja schon zur Kenntnis genommen. Im Grunde bleibt also nur die Vorentscheidung des Autors, den Marxismus als fragwürdiges Gebilde einzuführen; es wurde kein einziger Beleg für den ideologischen, d.h. unwissenschaftlichen Charakter vorgebracht.

Praxisbezug und Geschichtsverlauf

Mit dem Bemühen, diese These zu beweisen, fährt der Autor auch nicht fort, sondern wechselt die Ebene. Zunächst will er den „Anspruch des Marxismus als exklusives Modell der Gesellschaftsanalyse“ (PT 31) veranschaulichen, wozu als Erstes die Differenz zu den utopischen Sozialisten festgehalten wird. Marx und Engels sei es nicht darum gegangen, „den Entwurf einer späteren Idealgesellschaft zu zeichnen“. Dies ist einer der wenigen zutreffenden Sätze im Text; er wird aber gleich wieder durch die Feststellung verfälscht, dass die Utopisten politisch dasselbe wie der Marxismus gewollt hätten: „die Etablierung einer Gesellschaft von sozialer Gleichheit“. Ein Blick in die „Kritik des Gothaer Programms“ hätte den Autor darüber belehren können, dass es Marx um etwas anderes ging, nämlich um die Abschaffung der Klassenherrschaft, also der Indienstnahme der Lohnarbeit für die Verwertung des Kapitals, und dass er die sozialdemokratischen Gleichheits-Phrasen kritisierte, da sie sich am bürgerlichen Wertehimmel orientierten.

Pfahl-Traughber hält jedenfalls fest, dass Marx und Engels im „zukünftigen Weg vom Kapitalismus über den Sozialismus zum Kommunismus eine historische Notwendigkeit sahen“ (ebd.). Das kann man nicht bestreiten, Marx und Engels hielten diesen Weg für notwendig. Sie neigten auch dazu, vor allem im revolutionären Pathos des Manifests, den „Untergang“ der Bourgeoisie und den „Sieg des Proletariats“ für „unvermeidlich“ zu halten (MEW 4, 474). In dieser Prognose haben sie sich – wie in einigen anderen – getäuscht, während sie angeblich, so die Kommentierung der bürgerlichen Presse anlässlich des 150. Jubiläums des Manifests, im Blick auf die Globalisierung zu den hellsichtigsten Prognostikern der Neuzeit zählen.

Dazu ist jedoch anzumerken, dass bei Marx der Geschichtsoptimismus weder das erste noch das letzte Wort hat. Das Manifest hält gleich eingangs bei seiner – ebenfalls etwas apodiktischen und daher korrekturbedürftigen – Bestimmung der Geschichte „aller bisherigen Gesellschaft“ als „Geschichte von Klassenkämpfen“ (MEW 4, 462) fest, dass die erfolgreiche revolutionäre Umgestaltung geschichtlich nicht fest steht. Es gebe auch die Möglichkeit vom „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“. Das ist übrigens in der Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert mit dem geflügelten Wort von der Alternative „Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei“ zum Ausdruck gebracht worden.

In der Kritik der politischen Ökonomie, die Marx begründet hat, ist die Berufung auf die Zwangsläufigkeit einer geschichtlichen Tendenz eine absolute Randerscheinung, im dritten Band des „Kapital“ fällt z.B. in einem Halbsatz eine Bemerkung, die in diesem Sinne ausgelegt werden kann (vgl. MEW 25, 260). Wenn sie die theoretische Leistung von Marx tangieren sollte, wäre das darzulegen. Das tut Pfahl-Traughber aber nicht. Mit seiner Thematisierung des Geschichtsoptimismus will er nämlich auf etwas anderes hinaus: Er nimmt Anstoss am Programm der sozialistischen Bewegung, die sich auf die Marxsche Theorie stützt, den Kapitalismus zu überwinden.

Das ist ein erstaunlicher Vorwurf. Dass die Bewegung die Notwendigkeit der Veränderung theoretisch untermauert, ist ja für sich kein Kritikpunkt, man müsste dies gerade als eine vernünftige Entscheidung bewerten. Denn so wird das Programm rational nachprüfbar – und ist nicht das Produkt einer weltanschaulichen (Glaubens-)Entscheidung. Dass dann eine Bewegung das Ziel, das sie sich gesetzt hat, in der Erwartung angeht, es zu erreichen, und dazu möglicher Weise Optimismus verbreitet, verwundert auch nicht. Die Hoffnung diskreditiert das Unternehmen nicht – genauso wenig, wie sie es beglaubigt.

Wenn übrigens ein moderner Politikwissenschaftler den Weg von der antiken Demokratie über die Neuzeit, die bürgerlichen Revolutionen und das „Jahrhundert der Extreme“ bis zum gegenwärtigen demokratischen Verfassungsstaat nachzeichnet und darin die Erfüllung der historischen Hoffnungen auf ein humanes Zusammenleben sieht – so der Standpunkt der Extremismusforschung –, dann geht das in Ordnung. Beim Marxismus aber nicht. Hier sollen die Konsequenzen, die aus der Theorie gezogen werden (können), diese disqualifizieren. Das Vorhandensein eines praktischen Interesses soll unvereinbar mit wissenschaftlicher Professionalität sein.

Unerhörter Wahrheitsanspruch

Im modernen akademischen Diskurs hätte man hier übrigens das Wertfreiheits-Postulat erwartet. Marx hat ja keine wertfreie Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse angestrebt, was nicht heisst, dass er aus einem voreingenommenen Standpunkt heraus die Welt betrachtet hätte. Die Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen hat er vielmehr darauf verwiesen – das Zitat aus der „Deutschen Ideologie“ wurde beigebracht –, dass sie von wirklichem Wissen auszugehen habe und nicht von einer idealistischen Bestimmung der Welt, wie sie zu sein hätte. Dass die Wertfreiheit bei Pfahl-Traughber nicht zum Thema wird, dürfte damit zusammenhängen, dass die Extremismusforschung selber wertbasiert auftritt und ihren Grundwert apodiktisch an den Anfang stellt, ja dass sie im Grunde nichts anderes als das Abziehbild der staatsschützerischen Wertung politischer Strömungen ist.

Pfahl-Traughber fährt statt dessen mit einer eigenartigen Kritik fort. Wegen der Überzeugung von einer historischen Notwendigkeit „handelt es sich beim Marxismus nicht um eine politische Theorie wie andere politische Theorien. Er beansprucht neben einer rationalen Begründung für seine Grundprämissen die wissenschaftliche Gültigkeit für seine Weltanschauung. Dadurch könnte es zu einer kritischen Prüfung der Kernaussagen des Marxismus kommen, sofern sie durch deren Formulierung realisierbar wäre. Aufgrund der Abstraktheit und Vieldeutigkeit zahlreicher Bestandteile dieser Lehre – von der ‚Arbeitswerttheorie‘ über die ‚Dialektik‘ bis zur ‚Entfremdung‘ – lässt sich ein solches Verfahren aber nicht umsetzen.“ (PT 31)

Dass Theorien einen gewissen Abstraktionsgrad aufweisen, ist kein exklusives Merkmal des Marxismus. Auch die Extremismusforschung, die ja mit zentralen Kategorien wie „Demokratie“ oder „Freiheit“ arbeitet, ist dadurch gekennzeichnet. Die beiden gehören übrigens zu den vieldeutigsten im politischen Kontext. Antiextremistisch orientierte Wissenschaftler verzichten aber nicht auf ihre Verwendung, sondern versuchen eben, sie für ihre Zwecke zu präzisieren. Es wäre daher gerade nachzuweisen, inwiefern sich die Bestandteile bei Marx einer rationalen Prüfung entziehen. Dafür müsste man sie allerdings erst einmal referieren…

Kapitulieren will Pfahl-Traughber vor der Aufgabe jedoch nicht ganz, er macht ein Zugeständnis. „Gleichwohl bleibt aufgrund der ideologischen Prägungen des Marxismus das wissenschaftliche Selbstverständnis existent: Es geht mit seinem exklusiven Erkenntnisanspruch mit einer Absolutsetzung eigener Auffassungen als allein wissenschaftlich und Negierung gegenteiliger Positionen als notwendigerweise unwissenschaftlich einher. Hierin kann ein bedeutender Gesichtspunkt zur extremistischen Rezeption des Marxismus gesehen werden.“ (PT 31f) Kann – muss aber nicht? Und müsste es nicht „trotz“ statt „aufgrund“ heissen? Auf jeden Fall steht der Vorwurf der Exklusivität im Raum. Der trifft in einem banalen Sinne zu – wie eben auch bei sonstiger Theoriebildung: Der betreffende Gegenstand wird erklärt, natürlich mit dem Anspruch, dass die Erklärung zutrifft und daher andere Positionen teilweise oder ganz negiert.

So verfährt z.B. der Extremismusforscher. Er orientiert sich am Verfassungsstaat, erläutert, worin dieser besteht, und zieht die Grenze zu extremistischen Auffassungen, denen generell ihre Gültigkeit abgesprochen wird. Sie sollen als Ideologien unter ein theoretisches und (in der streitbaren Demokratie auch) praktisches Verdikt fallen, somit ausgegrenzt werden. Die Grundprämisse Verfassungsstaat gilt übrigens absolut, ist nicht verhandelbar. Inwiefern man Letzteres bei Marx antrifft, wäre gerade nachzuweisen. In seinem Referat hat Pfahl-Traughber nichts Derartiges geleistet, sondern nur belegt, dass der Marxismus einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt und seine Erklärung der sozialen Welt mit einer Hoffnung auf tief greifende Veränderungen verbindet bzw. diese durch praktische Tätigkeit auf den Weg bringen will.

Soweit ist die Zurückweisung des Marxismus ein einziges Armutszeugnis des Experten. Die Sache ist allerdings noch nicht zu Ende. Es folgen drei kurze Kapitel, die der Darstellung von (1) „Dialektik und Materialismus als Grundlagen“, (2) „Gesellschaftsbild, Kapitalismus und Klassenkampf“ sowie (3) des „Kommunismus als Folge von Revolution und Sozialismus“ gewidmet sind. Nach einer Würdigung „unangemessener Kritik am Marxismus“ folgen dann vier „Einschätzungen“ des Marxismus. Immerhin – im Rahmen der Extremismusforschung schon ein ungewöhnlicher Aufwand, rund zehn Seiten einer solchen Widerlegung zu widmen! In ähnlich gelagerten Publikationen macht man das in der Regel kürzer ab, wenn man sich überhaupt Mühe gibt, einen Satz von Marx zur Kenntnis zu bringen. Im Folgenden kurz die Kritikpunkte der drei Kapitel.

Theoriegeschichte statt Theorie

Der Autor beginnt wiederum nicht mit der Prüfung einer sachlichen Aussage, die unhaltbar wäre, sondern mit einem theoriegeschichtlichen Resümee, die Herkunft des Marxismus aus der idealistischen Philosophie Hegels betreffend. Mit deren Prämisse – der Selbstbewegung des Begriffs, dem bestimmenden Charakter des (Welt-)Geistes – hat Marx in der Tat gebrochen, während er Hegels begriffliche Schärfe, die dieser in seiner dialektischen Logik demonstrierte, für die Analyse der gesellschaftlichen Bewegungsgesetze als vorbildlich ansah. Diese „Arbeit des Begriffs“ schätzte Marx als „Dialektik“.

Ob die Herkunft aus solchen Kämpfen mit der damals herrschenden Form der Philosophie für die Beurteilung der Marxschen Theorie erhellend ist, mag dahin gestellt bleiben. Auf jeden Fall führt es vom Thema ab. Zweifelhaft ist auch die daraus abgeleitete Widerspiegelungstheorie, die Pfahl-Traughber anschliessende referiert. Er belegt seine Behauptung, die Widerspiegelung sei für Marx von grundlegender Bedeutung, mit einem Zitat aus dem ersten Band des „Kapital“ (MEW 23, 27). Das Ideelle wäre nichts anderes „als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle“, heisst es da. „Umsetzen“ bzw. „Übersetzen“ ist allerdings etwas anderes als „Widerspiegeln“, mit den beiden erstgenannten Tätigkeiten wird eine subjektive Leistung der Individuen angesprochen und nicht der passive Zustand eines Reflektors, der die gegebenen Verhältnisse abbildet.

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Hätte Pfahl-Traughber den ganzen Absatz aus dem „Kapital“ zitiert, wäre auch klar geworden, was solche methodischen Hinweise und die Berufung auf den Materialismus meinen. Bei Marx heisst es: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen…“ (ebd.).

Materialismus ist also bei Marx die Entscheidung, diese idealistische Prämisse zu verwerfen. Die philosophischen Fragen könnte man mithin als geschichtlichen Hintergrund abbuchen, der zu der entscheidenden Frage – was vom Erklärungswert der Kritik der politischen Ökonomie zu halten ist – nichts Wesentliches beiträgt, sondern ein geistesgeschichtliches Zusatzproblem aufmacht. Es ist aber bezeichnend, dass Pfahl-Traughber solche Umwege braucht, um die Seiten seiner knapp bemessenen Widerlegung zu füllen.

Zudem hätte ihm auffallen können, dass Marx an der besagten Stelle des „Kapital“ von der Darstellungsweise spricht, die ihm viel Kopfzerbrechen bereitet habe. Beim Forschungsprozess gehe es darum, sich „den Stoff im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht“ ist, fährt Marx fort, „kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffes ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.“ Er geht also nicht von einer Setzung aus, sondern vom „Stoff“, von der wirklichen Welt, die durch die gedankliche Arbeit erfasst wird.

D.h., die Marxsche Theorie will explizit keine Weltanschauung sein, keine „Konstruktion a priori“. Sie will sich daran messen lassen, inwiefern sie die politökonomische Realität auf den Begriff bringt, das „Leben des Stoffes“, wie es heisst, „ideell widerspiegelt“, also der Wirklichkeit gemäss ist und nicht einen Standpunkt des Autors abbildet. Dies ist kein aparter Zugang, der eine eigene Zurichtung des Denkens bräuchte – ausser der Auf- und Durcharbeitung des „Stoffes“ ist nichts verlangt.

Kritik der politischen Ökonomie

Endlich kommt Pfahl-Traughber auf rund einer Seite zum eigentlichen Punkt, zur Kritik von Marx am Kapitalismus. Doch auch hier muss er – bevor er sich in rund 20 Zeilen dem Thema widmet – wieder auf methodische Fragen ausweichen, nämlich darauf, dass Marx bei der Gesellschaft die Basis vom Überbau trennt. Das tut er, und es ist keine gewagte gedankliche Operation. Bei der ökonomischen Basis einer Gesellschaft handelt es sich um das zentrale Thema, das zur Klärung ansteht, um die kapitalistische Produktionsweise. War Marx hier nun Ideologe? Oder hat seine Theorie Hand und Fuss? Das ist die Frage, um die sich alles drehen müsste. Die ideelle Bezugnahme auf die vorhandene ökonomische Basis, der „ideologische Überbau“, die Verkehrung des Verhältnisses in der idealistischen Philosophie etc. – all das sind Themen, denen man sich widmen kann oder auch nicht, die aber von der zentralen Frage wegführen.

Über die kapitalistische Basis erfährt man dann endlich von Pfahl-Traughber, dass hier Besitzer der Produktionsmittel, die man früher „Bourgeoisie“ nannte, den Arbeitern als abhängig Beschäftigten, dem früheren „Proletariat“, gegenüberstehen. Beide hätten für Marx „unvereinbare soziale Interessen“: „Erstere strebten eine Steigerung ihrer Gewinne auf Kosten der Arbeiter, diese eine Erhöhung der Löhne auf Kosten der Unternehmer an.“ (PT 34)

Nach so vielen Präliminarien findet man endlich eine inhaltliche Aussage. Es ist keine falsche Paraphrase, aber auch nicht gerade die Marxsche Theorie. Den Gegensatz von Arbeit und Kapital kennen ebenfalls die katholische Soziallehre oder das DGB-Grundsatzprogramm. Bei Marx geht dagegen die ganze theoretische Anstrengung darauf, die Notwendigkeit, die den unversöhnlichen, „antagonistischen“ Charakter dieses Gegensatzes hervorbringt, nachzuweisen. Ob das nun stimmt oder nicht, bleibt im Dunkeln. Für sich genommen hält die Aussage nur einen grundsätzlichen Sachverhalt der Wirtschaftsweise fest, in der sich Lohnarbeit und Kapital gegenüber stehen. Soweit müsste man dem Marxismus Realismus bestätigen, der sich jenseits ideologischer Vorannahmen und im Einklang mit Kritikern des Neoliberalismus befindet.

Was Pfahl-Traughber dazu beizusteuern hat, soll in voller Länge zitiert werden:

„Für Marx und Engels war der Wert einer Ware durch die in ihr enthaltene menschliche Arbeitskraft (‚Wertgesetz‘) bedingt. So könne jeweils mehr Wert geschaffen werden als für das Leben des Menschen notwendig sei. Den damit entstandenen Überschuss aus der Produktion (‚Mehrwert‘) eigne sich der Kapitalist einseitig an, d.h. es handle sich eigentlich um die Ausbeutung fremder Arbeit im eigenen Interesse.

In der Erzeugung dieses Mehrwerts sahen Marx und Engels ein Grundprinzip des Kapitalismus, erlaube dieses doch erst den Unternehmern möglichst hohe Profite zu erlangen. Die ständige Erhöhung der Produktion von Waren würde aber zu Absatzkrisen führen, könnten diese doch nicht mehr verkauft werden. Insofern käme es im Kapitalismus aufgrund dieser inneren Logik kontinuierlich zu Wirtschaftskrisen. In deren Folge würden einerseits immer mehr kleine und mittlere Unternehmen bankrott gehen und danach in den Besitz von grösseren Kapitalisten gelangen, wodurch eine Konzentration und Zentralisation des Kapitals vorangetrieben werde.“ (PT 34)

Das ist an Dürftigkeit nun wirklich nicht zu unterbieten. Es beginnt bei der Referierung des Wertgesetzes, das ja nicht von Marx und Engels in die politische Ökonomie eingeführt wurde, sondern auf der Arbeitswerttheorie der Vorläufer beruht. Marx revidierte die ursprüngliche Theorie.

Die entscheidende Grösse ist bei ihm die abstrakte Arbeit, denn in der konkreten Ausübung der menschlichen Arbeitskraft unterscheiden sich die Tätigkeiten und können in dieser Hinsicht nicht als Tausch-Äquivalente gleich gesetzt werden. Nur in der Abstraktion von den Unterschieden bilden sie Wert. Der ist das Ziel des Arbeitens in der Warenproduktion, der Gebrauchswert ist nur die lästige Bedingung, an die dieser ökonomische Zweck gebunden ist. Das „so“ im zweiten Satz des Referats ist überhaupt kein logischer Fortgang vom Wertgesetz zur Mehrwertproduktion, hier wird schlichtweg auf die Wiedergabe der Argumentation verzichtet.

Dass das Ganze Ausbeutung zum Inhalt hat, wird stattdessen in redundanten Formulierungen vermerkt. Wie sich der Prozess vollzieht – vom Einsatz einer Geldgrösse, die somit als Kapital fungiert, über einen zweckmässig organisierten Produktionsprozess (inklusive ständiger Produktivitätssteigerung) bis zu den Gesetzmässigkeiten der Akkumulation, der Zirkulation etc. – und wie Marx das entwickelt, fällt völlig unter den Tisch. Auf dieses Funktionieren des Kapitalismus bezieht sich aber die Marxsche Kritik. Pfahl-Traughber dagegen landet nach vier Sätzen bei der Krisenanfälligkeit, die dann auch noch mit der unabhängig davon bestehenden Tendenz zu Konzentration und Zentralisation (übrigens nicht nur von KMU) vermengt wird.

Das „Einerseits“ des letzten Satzes wird im nächsten Abschnitt zum Kommunismus fortgeführt, indem ein längeres Zitat aus dem ersten Band des „Kapital“ zum allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, das Überflüssigmachen von Arbeit und die daraus resultierende Verelendung betreffend, nachgereicht wird. Hieran haben Marx und Engels in der Tat ihre Hoffnung geknüpft, dass diese Produktionsweise, nach den Worten des Manifests, „ihre eigenen Totengräber“ (MEW 4, 447) produziert, die die Akkumulation des Elends nicht länger hinzunehmen bereit sind. Dass der Marxismus für dieses Vorhaben Partei ergreift – eine Tatsache, die schon mehrfach benannt wurde –, wird nun wiederum als besondere Erkenntnis festgehalten…

Die Nachlässigkeit bei der Wiedergabe und Kritik der Marxschen Theorie hat natürlich System. Pfahl-Traughber fährt im nächsten Abschnitt, der zum Resümee hinführt, mit der Feststellung fort, dass es ihm gar nicht darum gehe, „danach zu fragen, ob der Marxismus eine angemessene oder zutreffende Einschätzung politischer und sozialer Entwicklungen vornimmt“ (PT 35). Die Richtigkeit der Theorie interessiert ihn also nicht. Ob nun die Erklärung dazu, wie es „kontinuierlich zu Wirtschaftskrisen“ kommt, stimmt oder nicht, wird nicht weiter verfolgt. Statt dessen stehen „allein jene Aspekte der Theorie des Marxismus im Fokus, die als Bestandteile einer extremistischen Auffassung und Zielsetzung deutbar sind.“ (PT 34f)

Den ganzen Aufwand einer Referierung hätte man sich folglich schenken können, denn der Modus der Rezeption soll letztlich darüber entscheiden, ob der Marxismus aus dem wissenschaftlichen Diskurs auszugrenzen ist oder darin seinen Platz hat. Das Fazit lautet: „Eine demokratische und wissenschaftliche Rezeption von Marx und Engels nimmt einzelne Bestandteile von deren Lehren in den Blick, um in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihnen eine eigene Deutung sozialer Entwicklungen vorzunehmen. Eine extremistische und ideologische Rezeption von Marx und Engels sieht in deren Lehre eine allein richtige und inhaltlich umfassende Theorie, wobei von deren besonderer Bedeutung nicht abgewichen werden darf.“ (PT 36)

Extremismus, weil theoretisch unbescheiden

Das Ganze löst sich also wiederum in den Formalismus der Extremismustheorie auf: Diese konstatiert nur, dass Theoretiker von ihrer Position überzeugt sind und an deren Richtigkeit (bzw. „besonderer Bedeutung“ – eine erstaunliche Erweiterung!) festhalten, also im demokratischen Pluralismus einen Fremdkörper bilden.

File:P1010027.JPG

Das Verdikt trifft natürlich keinen Psychoanalytiker, Hirnforscher oder Evolutionstheoretiker, die auch ziemlich umfassende Erklärungen (sogar unter Einschluss der Natur) anzubieten haben, sondern nur diejenigen, die eine Kritik an Staat und Ökonomie vortragen. Und es trifft natürlich auch nicht die Extremismusforschung, die im demokratischen Verfassungsstaat – aufgeschlüsselt nach einem Dutzend Kriterien – das Nonplusultra der menschlichen Entwicklung seit den Anfängen in der antiken Demokratie sieht und von der Richtigkeit dieser Auffassung felsenfest überzeugt ist.

Das Fazit der Linksextremismus-Analyse ist also ganz einfach: Wer Marxens Ausführungen für richtig hält, ist ein Extremist; wer sich aus einer Distanz heraus auf sie bezieht und sie weiterentwickelt, revidiert, kritisiert etc., darf das im demokratischen Rahmen ungehindert tun. Das Ganze kommt ohne die Beanstandung der theoretischen Leistung aus, die Inhalte werden nicht als falsch nachgewiesen. Es wird nur dem Theoretiker Marx ein Absolutheitsanspruch zugeordnet, den dieser, auch nachweislich der beigebrachten Zitate, gar nicht hat. So macht sich die abschliessende negative Bewertung der Marxschen Theorie auch frei von der Beurteilung der Theoriefragmente, die vorher mehr schlecht als recht geliefert wurden.

Abschliessend tritt Pfahl-Traughber – nochmals bekräftigend – mit der durch nichts gedeckten Behauptung auf, Marx habe den Standpunkt des „absoluten Wissens“ eingenommen (PT 37). Dafür wird jetzt bezeichnender Weise nicht das vorausgegangene Referat bemüht, sondern ein neues Zitat aus dem Briefwechsel mit Engels beigebracht. Marx schreibt 1857 anlässlich eines Artikels, den er zur britischen Kolonie Indien verfassen soll, dass er nur ungesicherte Nachrichten über die Entwicklung des dortigen Aufstands besitze, sich dazu aber kurzfristig in der Presse äussern müsse.

Wegen der Unsicherheit der Informationslage sei es schwierig, die militärischen Massnahmen der Kolonialherren zu bewerten. Er habe daher seine Einschätzung vorsichtig formuliert – „augenblicklich ist es äusserst schwierig, die Kräfte beider Seiten abzuschätzen“, heisst es in dem Artikel über den „Stand der indischen Insurrektion“ (abgedruckt in: MEW 12, 252) –, also, wie er Engels schreibt, seine „Aufstellungen so gehalten, dass ich im umgekehrten Fall auch recht habe“ (MEW 29, 161). Soll heissen: dass seine Beurteilung des Kampfes zwischen Aufständischen und britischer Armee korrekt ist, unabhängig davon, wie sich die konkrete Situation in der Stadt Delhi entwickelt. Marx verweist dazu auf die indische Presse, die er studiert hat, die ihm aber nur Hinweise, keine Sicherheit gibt; im Artikel sind dann zahlreiche Quellen angegeben, auf die sich der zusammenfassende Bericht stützt.

Das Ganze hat also mit absolutem Wissen nicht das Geringste zu tun. Marx bekennt sich – ganz relativ – mit seiner Expertise dazu, dass er von der Nachrichtenlage abhängig ist. Unter dem Druck des Redaktionsschlusses will er so agieren – eine Notlage, die jeder Journalist kennt –, dass er sich mit seinem Artikel nicht blamiert. Pfahl-Traughbers Kommentar ist ein groteskes Missverständnis: „Hier geht es nicht mehr um die genaue Einschätzung von Entwicklungen, sondern die Rechtfertigung gegensätzlicher Bewertungen. Daraus konnten spätere kommunistische Diktaturen ein methodisches Instrument zur Legitimation ihrer Herrschaft entwickeln.“ (PT 37)

Kurzum: Marx, so Pfahl-Traughber, „beanspruchte eine Art exklusives Deutungsmonopol auf dieses Wissen [über das ‚wahre Wesen‘ des Menschen, d.A.], das sich aber einer genauen Begründung und kritischen Prüfung verweigerte.“ (PT 37) Der durch nichts bewiesene, nur beständig wiederholte Vorwurf eines Absolutheitsanspruchs reicht für die Verurteilung des Marxismus.

Fazit: Wer kritisiert, muss seine Kritik an den Gegebenheiten von Demokratie und Marktwirtschaft relativieren, dann darf er auch, so die letzte Klarstellung des Bundesinnenministers (vgl. JW, 16.6.21), Bestandteile der Marxschen Theorie verwenden!

Literatur

Armin Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland – Eine kritische Bestandsaufnahme. 1. Aufl., Wiesbaden 2014 (zitiert als PT).

Marx Engels Werke, Berlin 1956ff (zit. als MEW).

Johannes Schillo (Hg.), Zurück zum Original – Zur Aktualität der Marxschen Theorie. Hamburg 2015.

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Grafikquelle      :

Oben      —         Karl Marx Monument in Chemnitz

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3.) Oben      —     The “Marx-Engels-Monument” created by German sculptor Ludwig Erhardt (1924 — 2001) and placed in 1986 as a central part of Marx-Engels-Forum in Berlin-Mitte and the borough of the same name (but then East Berlin, capital of the G.D.R.). It depicts Karl Marx (sitting) and Friedrich Engels (standing).

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Unten     —      Karl-Marx-Allee in Berlin-Friedrichshain, photo made by de:Benutzer:Achim Raschka;

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Geht es Rinks oder Lechts?

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Juli 2021

Der Verfassungsschutz als Spätwarnsystem

File:Thomas Haldenwang und Horst Seehofer in der Bundespressekonferent am 6. Oktober 2020.jpg

Wenn erst die Spitze als Wurm im Holz das sabbern beginnt – braucht es schon eine längere Zeit zur Reinigung.

Als Bundesinnenminister Horst Seehofer jüngst den Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) für 2020 vorstellte, nannte er als größte Bedrohungen Rechtsextremismus und Antisemitismus.[1] „Wir haben einen Alarmzustand“, urteilte er auf der Pressekonferenz. Hat der CSU-Politiker, dessen Amtszeit demnächst mit der Bundestagswahl endet, also doch verstanden? Nein. Davon kann keine Rede sein.

Der neue Verfassungsschutzbericht beinhalte „Neuigkeiten von vorvorgestern“, kritisierte etwa Ronen Steinke die 420 Seiten starke Publikation in der „Süddeutschen Zeitung“ scharf.[2] „Nur nichts überstürzen. Nur nicht zu früh Alarm schlagen! Das ist das Prinzip des Berichts.“ Steinke weiter: „Wenn der Verfassungsschutz für die Bewertung von Viren zuständig wäre, dann würde er wahrscheinlich irgendwann im Jahr 2024 bekanntgeben, dass das Coronavirus nach vorläufiger erster Einschätzung als Verdachtsfall auf Krankheitserregung eingestuft wird.“

Und die Linken-Politikerin Martina Renner twitterte: „Mehr als 20 Jahre nach Gründung des Instituts für Staatspolitik (IfS) hat auch das BfV dessen Rolle für extreme Rechte erkannt.“ Sie kritisierte: „Wenn so die von Haldenwang betonte ,Wellenbrecherfunktion‘ des BfV aussieht, dann wundere ich mich nicht über den anhaltenden Aufschwung von Rechtsaußen.“ Anders gesagt: Dafür, dass die Behörde ein „Frühwarnsystem“ der Demokratie sein möchte, ist der Verfassungsschutz oft erstaunlich spät dran. Mehr noch: Viele brisante und für die Demokratie äußerst bedrohliche Erkenntnisse werden der Öffentlichkeit vom Geheimdienst nur in Mini-Portionen verabreicht. Oder ganz unterschlagen.

Immerhin hat die „Neue Rechte“ im neuen Verfassungsschutzbericht erstmals ein eigenes Unterkapitel bekommen. BfV-Präsident Thomas Haldenwang spricht von „geistigen Brandstiftern“ in dieser Szene, erwähnt Götz Kubitscheks Institut für Staatspolitik, den Verein „Ein Prozent“, die Identitäre Bewegung, das „Compact“-Magazin des einstigen linken Revolutionärs Jürgen Elsässer. Der Präsident des Inlandsgeheimdienstes sieht ein informelles Netzwerk am Werk, in dem nach seinen Worten „rechtsextremistische bis rechtskonservative Kräfte“ zusammenwirken. Auch der Antaios-Verlag wurde unter Beobachtung gestellt. Haldenwang bestätigte damit Informationen von „Zeit Online“. Im Bericht selbst wird der Verlag nicht explizit genannt.

Detailliert skizziert hingegen der Autor Andreas Speit in seinem jüngst erschienenen Buch die sich seit Jahren entwickelnden Vernetzungen zwischen den Akteuren – und wie sie sich mit der Querdenken-Szene und der Corona-Leugnungsbewegung vereint haben.[3] Das aber haben das Bundesamt und auch die Landesämter für Verfassungsschutz nicht ausreichend im Blick, wie auch das von der Amadeu-Antonio-Stiftung verantwortete Portal „Belltower News“ am Beispiel der Coronaleugner*innen-Szene belegt.[4]

003 Protest gegen Acta in Munich.JPG

Fahnen hinterließen immer lange Schatten, selbst wenn HGM sie im Rücken hatte!

Zwar beobachtet der Verfassungsschutz, dass die Reichsbürger-Szene im Vergleich zum Vorjahr etwas Zulauf bekommen hat. Die Behörde führt diesen Anstieg vor allem auf die Proteste gegen die staatlichen Coronamaßnahmen zurück. „Die getroffenen Maßnahmen haben zu einer erhöhten Dynamik und Aktivität in Teilen der ,Reichsbürger‘- und ,Selbstverwalter‘-Szene geführt“, heißt es in Haldenwangs Bericht. „Die Ideologie der meisten Szeneangehörigen ist an die verschiedensten Verschwörungsideologien anschlussfähig.“

Neu und motivierend für die Szene sei, „dass andere Kritiker der Coronamaßnahmen die ,Reichsbürger‘ und ,Selbstverwalter‘ bei öffentlichkeitswirksamen Aktionen nicht ausgrenzen, sondern gemeinsam mit ihnen protestieren.“

„Weit überwiegend“ aber sieht der Verfassungsschutz in den Demonstrationen gegen die Coronapolitik der Bundesregierung „demokratische Proteste“. „Querdenken“, obwohl doch angeblich im Visier des Verfassungsschutzes, wird im gesamten Bericht nur einmal erwähnt – im Zusammenhang mit dem Aufruf von Jürgen Elsässer zur Demonstration der Bewegung am 29. August 2020 in Berlin: „Jetzt gilt es! Jetzt ist die Chance da, das Merkel-Regime tatsächlich zu stürzen“, wird der Rechtsextremist zitiert. „Der Wind der Veränderung bläst gewaltig – so wie im Herbst 1989. Eine friedliche Revolution liegt in der Luft.“ Dass die Coronaleugner*innen-Szene generell versucht, die Revolution von 1989 zu vereinnahmen – beispielsweise finden viele Demonstrationen montags statt –, wird nicht weiter kontextualisiert.

Generell fehlt, so Nicholas Potter, „eine detaillierte Erfassung von den demokratiefeindlichen und zutiefst antisemitischen Protesten aus dem ,Querdenken‘-Spektrum und die genaue Rolle der extremen Rechten“. Bitter nötig wäre laut Amadeu-Antonio-Stiftung zudem eine statistische Analyse des Rechtsterrorismus im Online-Bereich. „Denn immer mehr Rechtsextreme organisieren sich international und weitgehend anonym in informellen Chatgruppen und Online-Foren – und stellen eine ernstzunehmende Gefahr dar, wie die Anschläge von Halle über Christchurch bis Utøya schmerzhaft zeigen.“[5]

Noch immer verharmlost: Rechtsextreme in Sicherheitsbehörden

Immerhin zu einem eineinhalb Seiten langen Unterkapitel haben es die „Rechtsextremisten in den Sicherheitsbehörden“ gebracht. Im Sommer 2019 war der Autor dieses Textes Mitherausgeber des Sammelbandes „Extreme Sicherheit. Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz“ – im damals kurz zuvor erschienenen Verfassungsschutzbericht für 2018 wurde das Problem noch mit keiner Zeile erwähnt. Inzwischen sind eine ganze Reihe weiterer Bücher zu diesem Komplex erschienen, etwa von Dirk Laabs oder Aiko Kempen.[6]

Nun ist im Verfassungsschutzbericht für 2020 die Rede von „mehreren Fällen“ aus den vergangenen Jahren, „bei denen Anhaltspunkte für eine rechtsextremistische Einstellung von Mitarbeitern aus Sicherheitsbehörden vorlagen“. Von der „Vorbereitung auf den sogenannten Tag X“ ist die Rede, von „Drohnachrichten, unterschrieben mit ,NSU 2.0‘“ sowie „Chatgruppen unter Beteiligung von Polizisten“ – nichts, was nicht bereits in Buchform oder Zeitungsartikeln zu lesen war.

Immerhin warnt der Geheimdienst: „Ausgestattet mit teilweise speziellen Fähigkeiten, Zugang zu Waffen und mitunter sensiblen Informationen, können solche Personen eine erhebliche Gefahr für den Staat und die Gesellschaft darstellen.“ Zudem würden sie das Vertrauen der Bürger in staatliche Institutionen untergraben.

Quelle         :           Blätter-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Thomas Haldenwang (Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz) und Horst Seehofer (Bundesinnenminister) in der Bundespressekonferent am 6. Oktober 2020 bei der Vorstellung des Lageberichts zum Rechtsextremismus in Sicherheitsbehörden

Author Klaus Oberhausen       /    Source     –    https://www.flickr.com/photos/191025070@N03/50596560768/
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Unten          —         February 11th, 2012 Protest anti ACTA in Munich, „banana republic“ flag

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Angriff im Berliner Exil

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Juli 2021

Attacke auf türkischen Journalisten

Hermannplatz3 Berlin Neukoelln.JPG

Von Gareth Joswig

Der türkische Journalist Erk Acarer wurde in Berlin von drei Männern überfallen. Der Erdoğan-Kritiker vermutet ein politisches Tatmotiv.

Der im Berliner Exil lebende türkische Journalist Erk Acarer ist am Mittwochabend vor seinem Wohnhaus in Berlin-Neukölln angegriffen worden. Er musste mit Kopfverletzungen ambulant im Krankenhaus behandelt werden, wie Acarer mit angeschwollenem Gesicht in einem Videostatement auf Türkisch am frühen Donnerstagmorgen erzählte. Mittlerweile gehe es ihm den Umständen entsprechend gut, heißt es in einem weiteren Statement nach dem Angriff.

Laut den Schilderungen von Acarer haben drei Männer ihn im Vorgarten seines Hauses in Neukölln überfallen und ihm vor den Augen seiner Frau direkt ins Gesicht geschlagen. Acarer sei hingefallen. Zwei Angreifer hätten weiter auf ihn eingeprügelt, während ein Dritter Schmiere gestanden habe. Einer der Männer habe geschrien: „Du schreibst nicht mehr!“

Der Erdoğan-kritische Journalist lebt aufgrund von Repressionen und Bedrohungen in der Türkei seit 2017 in Deutschland und geht beim Angriff von einem politischen Hintergrund aus. Noch am Mittwochabend hatte Acarer ein Bild seines blutenden Gesichts zusammen mit den Worten „Ich werde mich dem Faschismus nie ergeben“ getwittert. Er kenne die Täter.

Turk-Islamo-Faschism.jpg

Acarer berichtete immer wieder kritisch über die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan, zuletzt für die linke türkische Zeitung BirGün und den in Köln gegründeten Exilsender Arti TV. In der Türkei berichtete er unter anderem für Cumhuriyet, Sabah, Habertürk und Milliyet. Von September 2017 bis Juli 2020 war Acarer auch für die taz.gazete tätig, das mittlerweile abgeschlossenen Projekt der taz für politisch verfolgte türkischen Jour­nalist*innen.

Strafverfahren in der Türkei

Im Video sagte Acarer: „Das zeigt, dass alles, was ich über die islamistisch-faschistische AKP-MHP Regierung geschrieben habe, stimmt.“ Er habe zur ­Identität der Täter Vermutungen und Informationen. Allerdings habe die Polizei ihn gebeten, zunächst keine Namen oder Gruppierungen zu nennen, da dies die Ermittlungen erschweren könne.

Acarers Schwerpunktthemen sind islamistischer Terror und Fundamentalismus sowie der Krieg in Syrien. Er hat zudem ein Sachbuch über das Verhältnis zwischen der Türkei und dem IS veröffentlicht. In der Türkei laufen Strafverfahren gegen ihn, zudem sind offenbar Haftbefehle anhängig.

Im April wurde Acarer von Innenminister Süleyman Soylu auf Twitter beleidigt, nachdem er über die mutmaßliche Verwicklung von dessen Neffen in einen Millionen-Betrugsfall getwittert hatte. Ein anderer ranghoher AKPler, Kemalettin Aydın, empfahl daraufhin, den Journalisten „mit Strychnin einzu­schläfern“. Dazu twitterte Aydın ein Bild mit der chemischen Formel des Giftstoffs.

Der Angriff am Mittwochabend hätte auch schlimmer ausgehen können, vermutet Acarer in seinem Videostatement. Weil sich schnell Zeu­g*innen per Zuruf eingemischt hätten, seien die Täter geflohen. Der Welt schilderte Acarer, er gehe davon aus, dass die Angreifer Waffen gehabt und diese auch gezückt hätten, wenn die Nach­ba­r*in­nen sich nicht eingeschaltet hätten.

Quelle        —            TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

Cem Özdemir über Angriff auf Erk Acarer:

„Rote Linie längst überschritten“

Interview Sabine am Orde

Türkische Faschos fühlten sich hierzulande pudelwohl, sagt Cem Özdemir. Für den regimekritischen Journalisten Erk Acarer hätte es noch schlimmer kommen können.

taz: Herr Özdemir, der regierungskritische türkische Journalist Erk Acarer, der hier im Exil lebt, ist in Berlin angegriffen worden. Was wissen Sie über den Fall?

Cem Özdemir: Ich habe mit ihm, aber auch mit seinem Kollegen Can Dündar gesprochen, der ebenfalls am Fall des „Aussteigers“ und Ex-Mafia-Paten Sedat Peker arbeitet. Der lässt gegenwärtig eine Bombe nach der anderen platzen, die die Verwicklungen Ankaras in Drogen- und Waffenhandel, Auftragsmorde und Zusammenarbeit mit Islamisten dokumentieren. Darin dürfte wohl die Ursache für den Angriff liegen.

Acarer selbst geht von einem Angriff von Anhängern des türkischen Präsidenten Erdogan aus, das LKA ermittelt. Wie schätzen Sie das ein?

Erstmal hat Erk Acarer großes Glück gehabt, dass die Täter von ihren Waffen keinen Gebrauch machen konnten. Es hätte noch schlimmer kommen können. Es ist ein Zeichen, dass der Terror des Erdogan-Regimes auch nicht vor Deutschland halt macht.

Was heißt das für den Einfluss von Erdogan in Deutschland?

Quelle       :           TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

Angriff auf türkischen Journalisten:

Verfolgt in Berlin

1. Mai 2011 Hannover Klagesmarktkreisel Transparent Alevitische Gemeinde in Hannover und Umgebung e.V. AABF alevi-hannover.de.jpg

Kommentar von Heso Ginzizr

Der türkische Journalist Erk Acarer ist tätlich angegriffen worden. Es zeigt: Wer Erdogans AKP kritisiert, kann sich nicht sicher fühlen.

Es gebe Momente, in denen sie mit Grauen auf die Türkei blicke und nicht glauben könne, was passiere, erzählte die Schriftstellerin Aslı Erdoğan im Interview mit der taz. Es war Erk Acarer, der das Gespräch mit der gefeierten türkischen Autorin führte. Zwei Menschen saßen sich im deutschen Exil gegenüber, nachdem sie beide wegen ihrer entschlossenen Haltung und ihrer Arbeit in der Türkei nicht mehr sicher waren.

Jetzt ist Erk Acarer in Berlin zur Zielscheibe geworden: Drei Männer kreuzten vor seiner Haustür auf, schlugen ihn nieder, verletzten ihn am Kopf. Es ist ein böser Traum für alle Jour­na­list*in­nen, die sich kritisch mit der türkischen Regierung, mit dem re­li­giö­sen Fundamentalismus in dem Land und dem Umgang mit Ale­vit*in­nen, Kurd*in­nen, Zazas und allen anderen zu Minderheiten erklärten Gruppen auseinandersetzen. Es ist bittere Realität für viele, bei jeder öffentlichen Äußerung, bei jedem Tweet, jedem Like auf Facebook zu zögern. Begebe ich mich damit in Gefahr? Bringe ich andere Menschen dadurch in Gefahr?

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Hermannplatz3 Berlin Neukoelln

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