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Zwei gegensätzliche Modelle

Erstellt von DL-Redaktion am 1. April 2023

Streiks machen Schlagzeilen in Deutschland wie in Frankreich.

Reichstagsgebäude von Westen.jpg

Folgen wir unserer Sprache, müssten hier die Gewählten Vertreter der Reichsbürger sitzen. Aber die Politik zeigt schon eigenartige Auslegungen wenn sie sich selber schützen will.

Von  :    JAYRÔME C. ROBINET

Doch Tradition, Funktion und die Ziele der Gewerkschaften in beiden Ländern könnten kaum unterschiedlicher sein. Während deutsche Gewerkschaften die Lage der Ar­bei­te­r:in­nen verbessern wollen, lehnen die französischen Kompromisse ab.

Seit Anfang März sind die Straßen in mehreren Städten Frankreichs mit Müll übersät, Berge von Müllsäcken türmen sich mit ihrem Gestank auf, nach Angaben der Pariser Stadtverwaltung liegen mittlerweile fast 10.000 Tonnen nicht abgeholter Müll in der französischen Hauptstadt. Der Streik bei der Müllabfuhr ist Teil der aktuellen Proteste gegen die Rentenreform. In Deutschland höre ich häufig, dass Frankreich bei sozialen Protesten einen Vorsprung hätte und dass in meiner alten Heimat der Geist der Revolution noch herrschen würde. Nun möchte ich mit diesem Mythos aufräumen. Um zu verstehen, warum Streiks und Demonstrationen in Frankreich nicht wirklich einem „revolutionären Geist“ folgen, müssen wir uns anschauen, wie Gewerkschaften im Unterschied zu Deutschland funktionieren und wie außerdem das präsidentiell-parlamentarische Regierungssystem in Frankreich mitunter einer „präsidentiellen Monarchie“ ähnelt.

Zweifellos sind sowohl in Deutschland als in Frankreich Gewerkschaften legitime Organe zur Vertretung der Interessen von Ar­beit­neh­me­r:in­nen. Hinsichtlich der Organisationsformen wie auch der Ziele und Vorgehensweisen unterscheidet sich die Gewerkschaftsarbeit in den zwei Ländern. Der Politologe René Lasserre beschreibt in einer Essaysammlung die Entstehung und Methoden der Gewerkschaften auf beiden Seiten des Rheins. Der Kontrast sei so groß, dass man in vielerlei Hinsicht sagen könnte, dass es sich eigentlich um zwei gegensätzliche Modelle handelt.

Seit ihren Ursprüngen am Ende des 19. Jahrhunderts steht die französische Gewerkschaftsbewegung unter dem Zeichen des Pluralismus: zum einen der Organisationsformen, darunter Berufssyndikalismus und Industriesyndikalismus; zum anderen der Ideologien, darunter Anar­chis­t:in­nen, Mar­xis­t:in­nen, So­zia­lis­t:in­nen und Chris­t:in­nen. Die Folge der Zerstrittenheit unter den Gruppen waren zahlenmäßig schwache Organisationen. Laut einer vom französischen Arbeitsministerium veröffentlichten Studie lag im Jahr 2019 der gewerkschaftliche Organisationsgrad insgesamt – im öffentlichen und privaten Sektor zusammen – bei 10,3 Prozent. In gewisser Weise sind französische Gewerkschaften eine Minderheitsbewegung.

Dazu kommt nun der vielleicht wichtigste Punkt: Der Syndikalismus in Frankreich ist stark geprägt von einer Tradition des Protests gegen die soziale Ordnung. Im Grunde sind französische Gewerkschaften nicht so sehr ein Mittel zur Verteidigung der Interessen der Arbeiter:innen, sondern sie verstehen sich vielmehr als Instrument zur Umgestaltung des kapitalistischen Systems. Obwohl sich heute die Gewerkschaften in der Grande Nation nicht mehr auf den revolutionären Syndikalismus der direkten Aktion berufen würden, sondern sich in vielfältiger Form am wirtschaftlichen und sozialen Leben beteiligen, bleiben sie dem sozialen Dialog gegenüber misstrauisch. Sie sind weitgehend auf Konfrontation eingestellt, anstatt auf Engagement oder Teilhabe, die ihre Autonomie einschränken könnte. Insbesondere lehnen sie jede Form der Zusammenarbeit mit den Ar­beit­ge­be­r:in­nen oder dem Staat ab, auch wenn diese Zusammenarbeit konstruktiv sein könnte. Das zeigt sich auch darin, dass in Frankreich die meisten Be­am­t:in­nen streiken dürfen.

Im Gegensatz dazu haben sich die deutschen Gewerkschaften im Zuge der Sozialdemokratie von Anfang an als eine relativ homogene Massenbewegung entwickelt. Nach der Aufhebung des Bismarck’schen Verbots im Jahr 1890 und infolge der Industrialisierung Deutschlands bevorzugte man die moderne Form der Industriegewerkschaft. Ab 1914 wurden mächtige und effiziente Organisationen gegründet. Und nun kommt der vielleicht wichtigste Punkt: Am Ende der Weimarer Republik und während der großen Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre führten Meinungsverschiedenheiten zwischen So­zi­al­de­mo­kra­t:in­nen und Kom­mu­nis­t:in­nen sowie die Rivalitäten mit den christlichen Gewerkschaften zu einer Schwächung der Gewerkschaftsbewegung und schließlich zu ihrer Kapitulation vor den Nazis. Wie so oft zog Deutschland dann die Lehre aus der Geschichte: Nie wieder schwache Gewerkschaften, die vor dem Staat kapitulieren. So wurde in der Nachkriegszeit die Gewerkschaftsbewegung auf der Grundlage der parteipolitischen Neutralität wiederaufgebaut. Es entstand eine quasi einheitliche Gewerkschaftsbewegung, in der ein großer Mehrheitsverband, der DGB, heute knapp 6 Mil­lionen Mitglieder vereint. Die Tendenz ist sinkend, trotzdem liegt der gewerkschaftliche Organisa­tions­grad insgesamt in Deutschland entscheidend höher als in Frankreich.

Aber die Franzosen haben schon früher ihre politischen Versager in die Verbannung geschickt und machen Heute aus dem Vorraum ihres Palast, einen Platz für Camper. 

Während deutsche Gewerkschaften nun versuchen, die unmittelbare Lage der Ar­bei­te­r:in­nen durch Tarifverhandlungen im Rahmen der bestehenden Gesellschaft zu verbessern, lehnen die französischen Gewerkschaften Kompromisse im Namen einer utopischen Zukunft ab. Wer will, mag hier den revolutionären Geist Frankreichs spüren, in der Sache ist das aber eher kontraproduktiv.

Die Schwäche der Gewerkschaften in Frankreich, ihr Widerwille, Kompromisse einzugehen und damit einhergehende Verpflichtungen anzunehmen, hindert sie daran, eine reale soziale Aufgabe zu übernehmen. Dem Dialog abgeneigt, stellen sie den Konflikt in den Vordergrund: Mit Demonstrationen und Generalstreiks wollen sie den Kapitalismus zum Kippen bringen. Die deutschen Gewerkschaften sind da realistischer.

So ist es kein Zufall, dass die wirtschaftliche und industrielle Situation Frankreichs heute so miserabel ausschaut. Während die deutsche Wirtschaft ihr Wachstumsmodell auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und den Export stützt, setzt die Wirtschaftspolitik in Frankreich auf den Konsum und die Kaufkraft der Haushalte. Der Politikwissenschaftler Felix Syrovatka hält das für den Grund, warum die Deutschen die Rentenreformen besser akzeptiert hätten. Weil für eine Wirtschaft, die auf der Wettbewerbsfähigkeit von Exporten beruht, die Senkung der Lohnkosten wichtiger sei als der Erhalt der Kaufkraft der Rentner:innen.

Aber könnte der starke Rückgang der Industrie in den letzten zwanzig Jahren in Frankreich auch auf die Vorgehensweise der Gewerkschaften zurückzuführen sein? Regelmäßig wird das Land ja für Tage, Wochen oder Monate buchstäblich blockiert. Wir erinnern uns an die Gelbwesten-Bewegung: Drei Jahre später ist es wieder so weit. Wieder wird das öffentliche Leben in Frankreich durch landesweite Proteste eingeschränkt – diesmal gegen die Rentenreform. Stilllegung der wichtigsten Raffinerien, Streik der Müllabfuhr, Ausfälle im Zug- und Flugverkehr, Streik an Schulen, Demonstrationen mit Ausschreitungen und Zusammenstößen mit der Polizei, Bushaltestellen verwüstet und Mülltonnen angezündet – womit das erwähnte Abfallproblem teilweise gelöst ist.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass die französischen Gewerkschaftsführungen in Wirklichkeit wenig Gestaltungsfreiraum haben. In Deutschland ist ein Streik nur das letzte Mittel – in Frankreich ist er gewissermaßen eine Vorstufe zu jeglichen Verhandlungen. Gemäß René Lasserre ist die Abneigung gegen den sozialen Dialog in Frankreich nicht nur auf die Gewerkschaften zurückzuführen, sondern sie wird auch von einem nicht unerheblichen Teil der Ar­beit­ge­be­r:in­nen geteilt, insbesondere in den kleinen und mittleren Unternehmen. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Denn das erfordert das ständige Eingreifen des Staates, der in der Tat der eigentliche Regulierer und Schiedsrichter der gesellschaftlichen Verhältnisse ist.

Quelle         :         TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Irgendwas mit Internet:

Erstellt von DL-Redaktion am 1. April 2023

Privilegien kann man jetzt bei Twitter kaufen

Er ist aber im Besitz von soviel Cleverness sich nicht im Kreis der Politikerzlaien zu bewegen.

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Fünf Monate nach der Übernahme Twitters durch Elon Musk stehen bei der Plattform nun die größten Veränderungen an. Das bisherige Verifikationssystem wird abgeschafft, zukünftig können Privilegien gekauft werden. Willkommen im Kapitalismus.

Vor etwa elf Jahren schickte mir Twitter einmal eine Direktnachricht: „Wir bei Twitter würden gerne Deinen Account verifizieren. Klicke einfach auf den Link und folge der Anleitung.“ Damals war ich dort bereits einige Jahre auf Twitter aktiv und der Dienst hatte einige Zeit zuvor ein Verifikationssystem ausgerollt. Nutzer:innen konnten damit ihre Accounts verifizieren – anfangs durch das Unternehmen kuratiert, später waren auch Anträge möglich. Sie erhielten dann den blauen Haken.

Ich galt aus Sicht Twitters als öffentliche Person und betrieb mit @netzpolitik einen der bekannteren Account im deutschsprachigen Twitter. Ich klickte mich durch die Anleitung und kurze Zeit darauf zierte ein blauer Haken mein Profil. Nach welchen Kriterien das Unternehmen damals die Entscheidung traf, war mir unklar. Ich musste nicht einmal meinen Personalausweis hochladen.

Was der Haken genau bedeutete, war mir damals auch noch nicht klar. Ich sah es als eine Art Qualitätsmerkmal, das Twitter vergab. Der Haken wertschätzte dadurch aber auch viele Nutzer:innen, die zur Wertschöpfung der Plattform und dessen Ökosystem beitrugen.

Seitdem lebte ich mit dem blauen Haken, den auch immer mehr Nutzer:innen erhielten. Dazu gehörten vor allem Journalist:innen, Personen des öffentlichen Lebens und gewählte Abgeordnete, die auf der Plattform aktiv waren.

In der eigenen Twitter-Nutzung bemerkte ich nur einen Unterschied: Ich wunderte mich, wie das Geschäftsmodell von Twitter in der Realität funktionierte, weil ich selten Werbung sah. Irgendwann realisierte ich, dass ich durch den blauen Haken offensichtlich bei Laune gehalten wurde und hier eine Sonderrolle genoss.

Die anderen Privilegien bekam ich weniger mit. Ich war verifiziert und das zeigte Nutzer:innen an, dass hinter meinem Account auch tatsächlich meine Person stand. Und der blaue Haken hatte Auswirkungen darauf, wie mein Account für andere sichtbar war. Meine Inhalte wurden bei den algorithmischen Entscheidungssystemen bevorzugt behandelt, wenn Nutzer:innen eine algorithmisch-kuratierte Timeline wählten, die sogenannte „For you“-Ansicht.

Die zwei Nutzungsarten bei Twitter

Es gab und gibt bei Twitter vor allem zwei unterschiedliche Nutzungsgewohnheiten. Ich selbst bin im „Team Chronologisch“. Ich mag es, die Kontrolle darüber zu haben, was mir angezeigt wird. Bei anderen sozialen Netzwerken fühlte ich mich irgendwann früher oder später unwohl, wenn mir Inhalte bunt und intransparent zusammengewürfelt eingeblendet wurden und ich keinerlei Kontrolle über deren Zusammenstellung hatte. Was interessieren mich die Postings von Bekannten von vor einer Woche?

Aber Nutzer:innenforschung hat inzwischen ergeben, dass ich einer Minderheit angehöre. Viele Menschen ziehen eine vorsortierte Timeline vor, weil sie so ein besseres Nutzungserlebnis erführen. Das „Team Algorithmische Timeline“ ist von der chronologischen Timeline überfordert. Es möchte gerne vorsortiert etwas erleben. Immerhin haben alle bei Twitter – zumindest noch – die Freiheit, zwischen beiden Ansichten zu wählen.

Ob das so bleibt, ist derzeit völlig offen. Vor fünf Monaten hat Elon Musk die Macht bei Twitter übernommen. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem es nicht zu Veränderungen kommt. Das allein reicht offenbar aus, um einen fast täglich erscheinenden Podcast zu füllen, wie Dennis Horn und Gavin Karlmeier mit „Haken dran – das Twitter-Update“ beweisen.

Mein Nutzererlebnis blieb seitdem erstaunlicherweise gleich. Nur eine Sache hat sich nachhaltig geändert: Ich sehe Werbung und zwar eine ganze Menge. Das ist umso erstaunlicher, als dass Twitter die meisten seiner Werbekunden in den vergangenen Monaten verloren hat.

Privilegien kann man jetzt kaufen

Eine der größten Veränderungen steht aber aktuell an: Das eingespielte Verifikationssystem wird abgeschafft, um das neue Bezahlsystem Twitter Blue zu promoten. Twitter Blue hatte Elon Musk als Produktneuerung eingeführt, nachdem er die meisten Werbekunden durch sein Geschäftsgebaren und seinen Kommunikationsstil verscheucht hatte. Für acht Euro – Apple-Nutzer:innen zahlen 30 Prozent mehr – kann nun jede:r einen blauen Haken erhalten. Und erhält damit weniger Werbung im eigenen Feed und eine bevorzugte Ausspielung auf der algorithmischen Timeline bei Anderen. Twitter-Nutzer:innen können sich also jetzt ein Privileg kaufen.

Das funktionierte bisher nicht so toll als Geschäftsmodell. Denn es gab bislang nicht allzu viele Menschen, deren Ego einen gekauften blauen Haken benötigt. Wer möchte schon Elon Musk finanziell unterstützen, nachdem er durch schlechte Geschäftsentscheidungen und sein verschwörungsideologisches und aggressives Kommunikationsverhalten die eine Lieblingsplattform kaputt macht? Wir helfen doch bereits mit unseren Inhalten und Daten. Noch. Und überhaupt: weniger Werbung? Wenn dann würde ich dafür bezahlen, gar keine Werbung mehr sehen zu müssen.

Nach dem blauen Haken ist vor dem blauen Haken

Um Twitter Blue weiter zu promoten, sollen jetzt alle bisherigen Haken-Nutzer:innen diesen verlieren. Das aktuelle „Dieser Account wurde im alten System verifiziert. Er ist möglicherweise (aber nicht unbedingt) beachtenswert“ soll bis zum 15. April abgeschaltet werden. Ich verliere dann meine Privilegien und kann sie mir zurückkaufen. Zumindest zum Teil und als Verifikationssimulation. Willkommen im Kapitalismus.

Ich lass mich überraschen, wie Twitter in zwei Wochen aussieht. Vielleicht ändert sich ja weiterhin nichts in meiner Nutzung, weil Twitter Blue eher geringe Auswirkungen auf meine chronologische Nutzung hat. Außer eben der vielen Werbung neuerdings.

Vor allem aber hoffe ich noch immer auf eine richtige Alternative zu Twitter. Dort hätte ich gerne Text in Echtzeit, chronologisch sortiert. Das Fediverse mit Mastodon und Co. sind als mögliche Alternativen herangewachsen – und besser als gedacht. Ein Viertel meiner Twitter-Timeline ist auch bereits drüben. Aber dreiviertel von ihnen sind es offensichtlich noch nicht. Dafür experimentieren WordPress und Meta aktuell mit Schnittstellen ins Fediverse, viele Werkzeuge werden nutzer:innenfreundlicher. Das macht Hoffnung auf eine blühende Zukunft ohne Elon Musk – und hoffentlich dann auch gänzlich ohne blauen Haken und Privilegien.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben       —     Inspired by book Shoshana Zuboff — The Age Of Surveillance Capitalism

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Genozid bleibt Genozid

Erstellt von DL-Redaktion am 31. März 2023

 Politiker senden auch nur Ihresgleichen ins Ausland

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Ein Debattenbeitrag von Alexander Rhotert

Auf dem Balkan gibt es eine Unkultur, Kriegsverbrechen zu verherrlichen. Der deutsche Hohe Repräsentant für Bosnien enttäuscht in seiner Amtsführung.

Der inflationär gebrauchte Begriff des Völkermords ist im internationalem Recht klar definiert. Drei Gerichte haben mehrfach geurteilt, dass der Mord an über 8.300 Bosniaken, verübt von serbischen Einheiten während des Bosnien-Krieges in Srebrenica im Juli 1995, ein Völkermord war. Punkt. Recht gesprochen haben die Gerichte der UN, der Internationale Gerichtshof (IGH) und der Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGH), sowie der Staatsgerichtshof von Bosnien und Herzegowina. Dafür wurden Serbenführer Radovan Karadzic und sein Armeechef Ratko Mladic zu lebenslanger Haft wegen Völkermords und weitere Täter zu über 700 Jahren rechtskräftig verurteilt.

Dies ist ein Meilenstein der internationalen Strafjustiz seit den Militärtribunalen von Nürnberg und Tokyo. Trotzdem gibt es auf dem Balkan, speziell in Bosnien, eine besorgniserregende Unkultur der Leugnung und Relativierung von Völkermord und anderen Kriegsverbrechen. Aus der Haft entlassene Kriegsverbrecher werden, insbesondere in Belgrad, aber auch in Zagreb, wie Helden empfangen. Es gibt eine regelrechte Kriegsverbrecherglorifizierung, die von politischen und staatlichen Stellen teils sogar gefördert wird.

Karadzics Nachfolger, Serbenführer Milorad Dodik, hat die Genozid-Leugnung in sein politisches Stammrepertoire integriert. Er hofiert öffentlich Kriegsverbrecher, so am 9. Januar 2022, als er zum 30. Gründungstag des serbisch-dominierten Teils Bosniens, der Republika Srpska, den vom Haager Kriegsverbrechertribunal wegen seiner Beteiligung am Srebrenica-Genozid verurteilten serbischen Offizier Vinko Pandurevic einlud. Bei der vom bosnischen Verfassungsgericht verbotenen Militärparade stand der Srebrenica-Mörder hinter Präsident Dodik. Der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und ehemalige deutsche Landwirtschaftsminister, Christian Schmidt, verurteilte weder Pandurevics Teilnahme, noch verbot er die verfassungswidrige Versammlung, obwohl dies zu seinen Hauptaufgaben gehört.

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Wird im Ausland nicht genau das probiert, was im eigenen später Konzens wird? Jeder Clan wird seine besten Leute zu Hause beschäftigen!

Ein Jahr später, am 9. März dieses Jahres, bezeichnete der nun höchst umstrittene Schmidt auf einem Balkan-Forum in Budapest laut Anwesenden den Völkermord von Srebrenica als eine „genocide-style situation“. Wirklich? Eine „völkermordartige Situation“ oder eine „Situation im Stile eines Genozids“ kennt das internationale Recht nicht. Für solche rhetorischen Entgleisungen sollten die Opfer eine umgehende Entschuldigung erwarten können, die erwartungsgemäß ausblieb. Warum? Weil Bosnien in Deutschland wenige interessiert, die Entscheidungen treffen. Daher kann sich Schmidt seit 18 Monaten Amtszeit von einem Skandal zum nächsten hangeln. Nur der Wiener „Standard“ berichtete im deutschsprachigen Raum über den jüngsten Ausfall.

Deutschlands ehemaliger UN-Repräsentant, Botschafter Hanns Schumacher, kritisierte Schmidts „unglückliche rhetorische Übung“, die zu seiner „schwachen Amtsführung“ noch hinzukäme. Vielleicht sollte man in Berlin die Meinung von ehemaligen deutschen Diplomaten zur Kenntnis nehmen. Schumacher und viele andere fordern die Abberufung Schmidts seit geraumer Zeit. Schmidts unsensibler Fauxpas erinnert an die gequälten Worte einiger politisch und diplomatisch Beteiligter, die 1994 den Völkermord in Ruanda als völkermordartige Exzesse relativierten, um nicht eingreifen zu müssen. Bereits vor Schmidts Äußerungen forderte die Gesellschaft für bedrohte Völker den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Michael Roth, auf, auf Schmidt einzuwirken oder ihn auszutauschen.

Schmidt hat sämtliche Hoffnungen enttäuscht, strikter gegen serbische und kroatische Nationalisten vorzugehen, denen die Existenz des multiethnischen Bosniens ein Dorn im Auge ist. Obwohl Schmidt Macht und Mittel hat, gegen sie vorzugehen, tut er dies nicht. Im Gegenteil: Er stellt selbst den destruktiv agierenden Machthabern Serbiens und Kroatiens regelmäßig eine Carte blanche aus, indem er ihnen attestiert, einen mäßigenden Einfluss auf Bosnien zu haben.

Diese Annahmen sind realitätsfern. Ohne Unterstützung Belgrads und Zagrebs müssten sich ihre Statthalter in Bosnien warm anziehen. Schmidts Worte sind verstörend, eine umgehende Entschuldigung wäre das Minimum gewesen. Dies gehört in Deutschland seit vielen Jahrzehnten zur politischen Kultur und Staatsräson, ebenso wie die Anerkennung der Singularität des Holocausts, und sollte demnach auch für Deutsche gelten, die im Ausland Dienst tun. Deutschland hatte bereits in den 1980er Jahren einen unsäglichen Historikerstreit, ausgelöst von den kruden Thesen Ernst Noltes, der, verkürzt betrachtet, Auschwitz als Reaktion auf das sowjetische Gulagsystem darstellte. Es kann keine Diskussion darüber geben, was ein Völkermord war. Dies wird in Relativierung münden, selbst unbeabsichtigt.

Quelle         :         TAZ-online            >>>>>        weuterlesen

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Oben       —     Begräbnis von 465 identifizierten Massakeropfern (2007)

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Schweiz + das Russland Öl

Erstellt von DL-Redaktion am 31. März 2023

Die Schweiz überwacht Öl-Sanktionen zu Russland kaum

Quelle      :        INFOsperber CH.

Markus Mugglin /   

Grosse Schweizer Rohstoffhändler zogen sich aus dem Ölgeschäft mit Russland zurück. Eine neue Genfer Firma springt in die Lücke.

Red. Die Nichtregierungsorganisation Public Eye hat soeben die Studie «Die Schweiz und der Handel mit russischem Öl: Ein trügerischer Abschied?» publiziert. Die Studie analysiert die dramatischen Veränderungen auf dem Ölmarkt seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und insbesondere die Folgen für die Schweiz als globalen Hub für den Handel mit russischem Öl. Sie folgt auf mehrere seit dem Krieg von der Organisation publizierten Recherchen. Wir geben im Folgenden die Zusammenfassung der neusten Studie wieder.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine hat die Karten auf dem Ölmarkt neu gemischt. Zur Austrocknung dieser Hauptfinanzierungsquelle des Kremls hat die westliche Welt, darunter die Schweiz, ein historisches Embargo gegen das schwarze Gold aus Russland verhängt. Seit Dezember 2022 ist die Einfuhr dieses Rohöls auf dem Seeweg verboten, und der Handel damit unterliegt in rund 40 Ländern einem Preisdeckel. Diese Massnahmen gelten seit Februar auch für Erdölprodukte. Vor Putins Einmarsch in die Ukraine war Europa der Hauptmarkt für russisches Öl, das laut unseren Schätzungen zu 50 bis 60 Prozent über die Schweiz gehandelt wurde.

Basierend auf exklusiven Insider-Daten und -Aussagen zeigen neue Recherchen, dass dieser Markt neu aufgeteilt und noch undurchsichtiger wurde. Jahrzehntelang waren Trafigura, Vitol, Glencore und Gunvor die Haupthändler von Putins Öl und direkt an vielen russischen Projekten und Unternehmen beteiligt. Seit der Invasion in die Ukraine wurden die Schweizer Rohstoffkonzerne durch russische oder chinesische Staatsunternehmen sowie kleine Händler mit unbekannten Eigentümern ersetzt. Diese neuen «Pop-up»-Firmen operieren meist von Dubai oder Hongkong aus, die keine Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Viele Indizien weisen darauf hin, dass sie dies im Auftrag oder mit Unterstützung von Grossunternehmen tun, die unbemerkt weiter mit russischem Öl handeln wollen.

Public Eye hatte Zugang zu Daten, welche die Entwicklung im ostrussischen Hafen Kozmino zeigen, von wo die Rohölsorte «ESPO» nach Asien exportiert wird. Seit Sommer 2022 sind die grossen Handelshäuser aus der Käufer-Liste verschwunden. Dafür besetzt ein anderes Schweizer Unternehmen nun einen Spitzenplatz: Paramount Energy & Commodities. Zwischen März 2022 und Februar 2023 exportierte das Genfer Unternehmen 10 Millionen Tonnen (72 Millionen Barrel) russisches Rohöl, was etwa acht Tanker pro Monat entspricht.

Kurz nach Kriegsbeginn hatte Public Eye erstmals über die primär in Russland und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion aktive Paramount berichtet. Im Juni 2022 soll die Firma den Handel mit diesen Fässern gemäss Global Witness und Financial Times jedoch der in Dubai registrierten Paramount Energy and Commodities DMCC übertragen haben. Dieses Unternehmen agiert demnach zwar unabhängig von der fast gleichnamigen Genfer Firma, sein Geschäftsführer ist aber Schweizer Staatsbürger.

Der Mechanismus der Preisobergrenze ermöglicht es westlichen Marktteilnehmern (Händlern, Spediteuren, Versicherern), weiter mit russischem Erdöl zu handeln, sofern sie dafür weniger als 60 USD pro Barrel zahlen («price cap») und es an Länder ohne Russland-Sanktionen verkaufen.

Mit den EU-Sanktionen hat der Bundesrat auch diesen Mechanismus übernommen. Anders als die EU, USA und Grossbritannien kontrolliert das in der Schweiz dafür zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) jedoch nicht, ob sich die Unternehmen auch daran halten. Das Seco bestätigte Public Eye vielmehr, dass es weder Audits durchführt noch eine Melde- oder Dokumentationspflicht für solche Transaktionen auferlegt, sondern sich ganz auf den guten Willen der Branche verlässt, sich selbst zu kontrollieren.

Zudem gilt das Schweizer Embargogesetz – im Gegensatz zu den EU- und US-Bestimmungen – nicht für Schweizer Bürger*innen mit Wohnsitz im Ausland. Für global agierende Händler ist diese rechtliche Lücke faktisch eine Einladung, die Sanktionen gegen russisches Öl mit nur kleinen organisatorischen Änderungen ganz legal zu umgehen.

Bald wieder mehr Geschäfte mit russischem Öl?

(mm) Die USA würden die grossen Handelsunternehmen dazu drängen, die Ölgeschäfte mit Russland wieder aufzunehmen, wenn sie dies unter der von der G7 festgelegten Obergrenze von 60 Dollar pro Barrel tun können. Das berichtet die Financial Times. Der Westen zeige sich besorgt über die durch die Sanktionen hervorgerufene Verlagerung des Handels von den traditionellen hin zu wenig bekannten Unternehmen, die häufig alte Schiffe einsetzten und nicht transparent operierten, schreibt die britische Wirtschaftszeitung in ihrer Berichterstattung über den «Commodities Global Summit», der diese Woche in Lausanne stattgefunden hat. Die Vertreter der in der Schweiz domizilierten Trafigura und Vitol erklärten sich dazu bereit, Ölgeschäfte mit Russland unter Einhaltung des Preisdeckels wieder abzuwickeln, sofern die Regierungen und Banken diesen zustimmen würden.  

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Ich – Ich – ich arbeite nicht

Erstellt von DL-Redaktion am 31. März 2023

Wann kommt die Wagenknecht-Partei?

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Erst wenn dem Plakat-träger die Arme abgefallen sind !

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von     :    Edith Bartelmus-Scholich

Anfang März kündigte Sahra Wagenknecht an, nicht mehr für DIE LINKE kandidieren zu wollen. Wenig später konkretisierte sie in einem ZDF-Interview ihre Vorstellungen vom eventuellen Aufbau einer eigenen Partei.

Demnach will sie bis zum Ende des Jahres ihre Entscheidung treffen. Bis dahin will sie prüfen, ob die Voraussetzungen für eine bundesweit bei Wahlen erfolgreiche Partei gegeben sind. Sie machte damit klar, dass die Gründung einer eigenen Partei nicht an ihrem Willen wohl aber an unzureichenden Voraussetzungen scheitern könnte.

Der Fraktions- und der Parteispitze war schon seit Monaten bekannt, dass Wagenknecht nicht wieder für den Bundestag kandidieren will. Nun hat sie selbst dies öffentlich gemacht, aber in einer Tonalität („nicht wieder für DIE LINKE“), die Fraktions- und Parteispitze sich sicher so nicht gewünscht haben. Die Erklärung entweder als Publizistin zu arbeiten oder ein neues politisches Projekt zu beginnen, lässt immer noch offen, ob Wagenknecht mit einer eigenen Partei zu Wahlen antreten wird.

Eine Neugründung nur zu den eigenen Bedingungen

Wagenknechts Offenheit was die Zukunft betrifft, ist die Methode mit der sie den beginnenden Parteibildungsprozess ihren eigenen Bedingungen unterwerfen will. Der sozialkonservative Flügel der Partei DIE LINKE strebt tatsächlich ein eigenes Projekt an, aber nicht um jeden programmatischen und strategischen Preis. Wagenknecht hat zwar in „Die Selbstgerechten“ eine programmatische Grundlage aufbauend auf den Werten Nation, Leitkultur und Leistungsgesellschaft vorgelegt, aber diese ist auch unter ihren Anhänger*innen umstritten. Bedeutende Stimmen der „Populären Linken“ erklären, dass ein neues Projekt programmatisch mehr sein und breiter aufgestellt werden müsse als eine bloße Wagenknecht-Partei. Hier zeigt sich der Anspruch, die Programmatik und die Strategie einer neuen Partei demokratisch selbst zu bestimmen. Andererseits ist allen Beteiligten völlig klar: Eine sozialkonservative Partei wird ohne Wagenknecht nicht an den Start gehen. Hier setzt diese an um zu verdeutlichen, dass es die Parteigründung nur zu ihren Bedingungen geben wird.

Ein enger Zeitrahmen

Die Ankündigung von Wagenknecht musste spätestens jetzt erfolgen. Eine Parteigründung und die Kandidatur bei Wahlen erfordern einen langen Vorlauf, anderthalb Jahre wäre sehr ambitioniert. Die Liste zur Wahl des Europäischen Parlaments muss spätestens am 24. Februar 2024 eingereicht werden. Die Landeslisten zur Wahl des nächsten Bundestags müssen ungefähr im April/Mai 2025 gewählt sein. Zum Europäischen Parlament kann eine Liste antreten, zur Bundestagswahl definitiv nur eine Partei. Chancenreich ist eine solche Partei nur dann, wenn sie in allen Bundesländern Landeslisten aufstellen kann. Wagenknecht konnte folglich nicht mehr länger warten. Geplant war diese Weichenstellung schon im Herbst 2022.

Wagenknecht und ihrem engen Umfeld ist dabei völlig klar, dass für ein Parteiprojekt mehr zusammenkommen muss als nur der sozialkonservative Flügel der Partei DIE LINKE. Dieses „Mehr“ wird am besten durch große öffentliche Kundgebungen und Veranstaltungen angezogen. Geeignet hätte sich dazu die Kundgebung zum Auftakt des „Heißen Herbstes“ in Leipzig. Wagenknecht wollte dort sprechen, die Rechte mobilisierte nach Leipzig. Da es eine linke Kundgebung war, konnte die Spitze der Linkspartei den Wagenknecht-Auftritt verhindern. Der Zeitplan geriet ins Stocken. Kurz vor Weihnachten wurde bekannt, dass es mit dem zum Jahreswechsel in Kreisen ihrer Anhängerschaft angekündigten Bruch von Wagenknecht mit der Partei nun doch noch nichts werden würde. Der neue Zeitplan sah Online-Konferenzen ab Mitte Januar und eine Präsenz-Konferenz im Mai vor.

Zwei Szenarien

Die Veröffentlichung des „Manifests für den Frieden“ und die Kundgebung am 25. Februar waren die Mittel, das „Mehr“ für den Parteibildungsprozess anzuziehen. Bemerkenswert ist die offenbar zentrale Rolle von Klaus Ernst. Eigentlich sollte im Spätherbst (nach Leipzig!) eine Saalveranstaltung mit Wagenknecht in Schweinfurt stattfinden. Sie wurde verschoben und hat nun Anfang März (nach Berlin!) stattgefunden. Die Bilder des vollen Saals (550 Plätze) sind genau in Schweinfurt problemlos zu generieren.

Es gibt jetzt zwei Szenarien: Entweder setzt sich Wagenknecht mit ihren Vorstellungen durch, dann kommt die Wagenknecht-Partei. Oder Wagenknecht setzt sich nicht mit ihren Vorstellungen durch, dann kommt keine Wagenknecht-Partei und der sozialkonservative Flügel bleibt teilweise in der LINKEN. Diese zweite Option gilt als weniger wahrscheinlich.

Sollten die Vorstellungen, die Wagenknecht an ein eigenes Parteiprojekt hat, nicht erfüllt werden, wird sie dieses Projekt beerdigen. Eine Minderheit ihrer Anhänger*innen wird dann in der LINKEN bleiben, die Mehrheit wird austreten. Der Mitgliederverlust und gewisse Störungen würde DIE LINKE nicht mehr beeinträchtigen als jetzt auch. Die verbleibenden Mitglieder des sozialkonservativen Flügels werden innerhalb der Partei vermutlich nicht mehr einflussreich sein.

Mit einer Friedensliste ins Europa-Parlament

Die erste Option ist wahrscheinlicher. Am 6. Mai trifft sich die „Populäre Linke“ in Hannover um Vorentscheidungen für eine Neugründung zu treffen. Es ist zu erwarten, dass nach der Konferenz ein Antritt zur Wahl des Europäischen Parlaments vorbereitet wird. Dazu soll noch nicht eine Partei gegründet werden, sondern nur eine „Friedensliste“. Es darf abgewartet werden, wer diese Liste anführen wird. Es werden sicher nur einige wenige Mitglieder der LINKEN auf dieser Liste kandidieren. Andere Anhänger*innen von Wagenknecht werden überwiegend zu diesem Zeitpunkt noch in der Partei bleiben. Sie werden vermutlich innerparteilich Angriffe starten und den Wahlkampf der Partei DIE LINKE behindern.

Der Einzug dieser Liste in das Europa-Parlament scheint sicher, da es (bis jetzt) keine 5%-Hürde gibt. Abzuwarten ist nur, mit wie vielen Abgeordneten eine solche Liste ins Europäische Parlament einziehen wird und, ob sie DIE LINKE hinter sich lässt. Ein Ergebnis, bei dem DIE LINKE weniger Wählerstimmen und Abgeordnete erzielt als eine „Friedensliste“, wäre für DIE LINKE sicher nicht vorteilhaft.

Eine „Friedensliste“ wird nicht ohne Wahlkampfunterstützung von Wagenknecht auskommen. Spätestens wenn öffentlich wahrnehmbar wird, dass Wagenknecht eine „Friedensliste“ mitgründet und im Wahlkampf unterstützt, muss die Bundestagsfraktion sie ausschließen, falls sie nicht schon vorher austritt. Da in diesem Fall ihr nahe stehende MdB auch nicht mehr in der Linksfraktion bleiben werden, geht der Fraktionsstatus spätestens zu diesem Zeitpunkt verloren. Das bedeutet weniger Mitarbeiter, weniger Geld, Gefährdung der Rosa-Luxemburg-Stiftung etc. Auch die parlamentarischen Möglichkeiten werden geringer. Vor allem die materiellen Ressourcen von Fraktion und Partei sind allen Beteiligten – auch den MdB und Mitarbeiter*innen, die der Wagenknecht-Flügel stellt – sehr wichtig und das ist ein Grund für den zögerlichen Umgang mit der diskutierten Neugründung.

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Nach einem erfolgreichen Wahlantritt zum Europäischen Parlament werden sich in der LINKEN auch diejenigen entscheiden, die es bislang noch vermieden haben. Es spricht einiges dafür, dass es in diesem Fall Austritte in Höhe von ca. 25% der Mitgliedschaft geben könnte. Neben Sozialkonservativen werden auch Mitglieder mit Karriereambitionen oder solche, die andernfalls ihre Existenzgrundlage verlieren, wechseln.

Das Potential für eine populistische, linkskonservative Partei ist da

Wenn die Wagenknecht-Partei kommt, wird sie (erst einmal) bei Wahlen erfolgreich sein. Es gibt seit Jahren eine Repräsentationslücke, die z.T. für den hohen Anteil an Nichtwählern ursächlich ist. Nicht repräsentiert ist ziemlich genau ein „Linkskonservatismus“, wie ihn Wagenknecht umreißt. Das Potential besteht aus Wähler*innen, die sich gleichzeitig einen starken Staat (autoritär) als auch eine gerechte Verteilung (sozial) wünschen. Sie sind rückwärtsgewandt was die Sozialpolitik und konservativ was die Gesellschaftspolitik betrifft. Auf diese Klientel zielt Wagenknecht seit Jahren. Beim ersten Wahlantritt zur Bundestagswahl wird die neue Partei auch Protestwähler*innen anziehen. Teile dieses Segments der Wählerschaft wählen derzeit die AfD. Überhaupt darf erwartet werden, dass eine Wagenknecht-Partei die Wahlergebnisse der AfD halbieren wird. Wagenknecht ist in rechten Kreisen sehr beliebt.

Wagenknecht unterschätzt die AfD, wie zuletzt aus ihren Äußerungen gegenüber dem Parteivorstand der LINKEN zu entnehmen war. Offenbar hält sie diese für eine „normale Parlamentspartei“. Sie wird daher anfällig für eine Zusammenarbeit mit der AfD sein. Die Blütenträume von Jürgen Elsässer von einer Regierung aus Wagenknecht-Partei und AfD haben darin eine Grundlage.

Die Folgen für DIE LINKE

Ein Ausscheiden des sozialkonservativen Flügels oder dessen Marginalisierung bedeutet für DIE LINKE, dass sich die Mitgliederbasis stark verändern wird. DIE LINKE wird eine plurale Partei bleiben, aber (fast) ohne Sozialkonservative. Die Pluralität der Partei muss den verbleibenden Mitgliedern garantiert werden.

Die Bedingungen unter denen linke Politik gestaltet werden muss, haben sich in den letzten 15 Jahren stark verändert. Diesen Veränderungen kann DIE LINKE nach dem Ausscheiden des sozialkonservativen Flügels objektiv leichter gerecht werden. Denn angesichts der Herausforderungen konnte sich die Mehrheit der Partei schon seit Jahren nicht mehr mit dem sozialkonservativen Flügel auf zielführende politische Antworten einigen. In den letzten Jahren entwickelte die Partei daher nicht das Profil, welches angesichts von Kriegen, Klima- und Umweltkrise, weltweitem Rechtsruck, Migrationsbewegungen und zunehmender Verarmung weiter Teile der Bevölkerung angemessen und erfolgreich sein kann. Aus dieser Krise kommt die Partei nur mit einem entschlossenen programmatischen und strategischen Erneuerungsprozess, der rasch gestartet werden muss. Keinesfalls darf DIE LINKE nun noch weiter Wagenknecht die Initiative überlassen.

Edith Bartelmus-Scholich, 30.03.2023

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Oben       —     Kurz vor dem Beginn der Hannover Messe 2016, die unter anderem von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama eröffnet wurden, organisierte ein Trägerkreis zum Samstag, den 23. April 2016 auf dem hannoverschen Opernplatz eine Demonstration unter dem Motto „TTIP und CETA stoppen.

Foto: Bernd Schwabe – Own work

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  • File:2016-04-23 Anti-TTIP-Demonstration in Hannover, (10063).jpg
  • Created: 23 April 2016

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Unten      —   „Bunte Westen“ protest in Hanover, 16th february 2019

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Rückendeckung von links

Erstellt von DL-Redaktion am 30. März 2023

Auch die Politik der Ukraine ist streckenweise zu kritisieren.

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Ein Debattenbeitrag von Anastasia Tikhhomirova

Das Recht zur Selbstbestimmung und zur Verteidigung besteht dennoch unbesehen. Prekarisierte Menschen werden aufgefordert zu frieren, anstatt dass man die Übergewinnsteuer einführt.

Oft heißt es in linken Kontexten, dass sich Waffenlieferungen an die Ukraine und linke Positionen ausschließen. Doch gibt es eine ganze Reihe von Gruppen, die Ukrai­ne­r*in­nen weder Solidarität noch das Recht auf Selbstverteidigung versagen wollen. Die Berliner Gruppe Right to Resist UA, die ins Leben gerufen wurde, weil die Ak­ti­vis­t*in­nen die mangelnde Solidarität von Linken in Deutschland mit Ukrai­ne­r*in­nen entsetzlich fanden, gehört dazu. Sie orientiert sich an den Positionen der ukrainischen Sozialisten Socialny Ruch, bei denen sich der Historiker Taras Bilous engagiert.

Er kritisiert seit Beginn der russischen Komplettinvasion regelmäßig die Ignoranz der westlichen Linken gegenüber Russlands imperialen Ansprüchen. Anstatt die Welt nur in geopolitischen Lagern zu sehen, müssten sozialistische In­ter­na­tio­na­lis­ten jeden Konflikt auf der Grundlage der Interessen der arbeitenden Menschen und ihres Kampfes für Freiheit und Gleichheit bewerten, findet Bilous. Er kämpft zudem an der Front und plädiert für Waffenlieferungen. „Auch wir stellen uns gegen das kapitalistische System, in dem mit Krieg Profit gemacht wird“, betont Aktivist Ian von Right to Resist. Man trete nicht generell für Waffenlieferung ein. „Unsere Forderungen dürfen aber nicht realitätsfern werden.“

Als Reaktion auf das „Friedensmanifest“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht verfasste Right to Resist ein eigenes Statement. Darin heißt es, dass ein Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine nicht zu einem Ende des Krieges führen würde. Im Gegenteil würde dies eine Ausweitung der russischen Besatzung, also Vergewaltigungen, Deportationen und Hinrichtungen, bedeuten, die auf andere postsowjetische Staaten übergreifen könnte. Die Gruppe demonstriert regelmäßig in Berlin mit anderen linken Gruppen, wie der russländischen „Feminist Antiwar Resistance Berlin“, den antikolonialen Voices of Indigenous Peoples of Russia oder Good Night Imperial Pride, eine Solidaritätskampagne für antiautoritäre Genoss*innen, die für die Befreiung der Ukraine von der russischen Invasion und Besatzung kämpfen.

Gleichzeitig ist aus einer linken Perspektive kritikwürdig, dass es ukrainischen Männern im wehrfähigen Alter nicht gestattet ist, zu fliehen. Flucht vor Krieg ist ein Menschenrecht, das seit Kriegsbeginn mindestens 45.000 Männern und einigen trans Personen verweigert wurde. In Artikel 65 der ukrainischen Verfassung heißt es, dass die Verteidigung der Unabhängigkeit und territorialen Integrität der Ukraine die Pflicht der Bürger ist. Allerdings wird nirgendwo die geschlechtsspezifische Dimension dieser Pflicht erwähnt. Während sich Männer strafbar machen, wenn sie dieser Pflicht nicht nachkommen, ist für ukrainische Frauen der Dienst in den Streitkräften ein erst seit kurzem bestehendes Recht, für das ein Teil der feministischen Bewegung seit langem kämpft. Aktuell sind mehr als 38.000 Frauen in den Streitkräften, etwa 5.000 von ihnen an der Front.

Die Gruppe Radical Aidforce fährt nahezu wöchentlich in die Ukraine und ermöglicht Liefer- und Evakuierungsfahrten bis an die Frontlinien. Die Ak­ti­vis­ten*­in­nen hegen grundsätzliches Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Festzuhalten ist, dass eine Unterstützung des ukrainischen Widerstandes nicht gleichbedeutend mit einer Unterstützung der Nato sein muss, insbesondere mit Blick auf andere internationale Konflikte, in die die Nato involviert ist. Ein interna­tio­nales, demokratisches Sicherheitssystem muss her. Darüber zu debattieren, wird jedoch erst nach Wladimir Putins Untergang und dem Sieg der Ukraine über den russischen Imperialismus möglich sein.

Робоча поїздка Президента України на Миколаївщину та Одещину 50.jpg

Sorge bereiten vielen Linken zudem die anhaltende Inflation und die neoliberale Antwort der Ampelregierung darauf. So werden prekarisierte Menschen aufgefordert, zu frieren und zu sparen, anstatt eine adäquate Antwort auf das Versagen der deutschen Energiepolitik infolge des jahrelangen Appeasements gegenüber Russland zu finden, die Übergewinnsteuer einzuführen und Reiche zu besteuern. Nicht wenige linke Gruppierungen demonstrieren deshalb seit Monaten zusammen in einer Querfront mit rechten und esoterischen Gruppen gegen eine Unterstützung der Ukraine und für Frieden mit Russland.

Auf bundespolitischer Ebene stellt sich der Bundesarbeitskreis Bytva (ukrainisch für Kampf) dagegen. Er wurde gegründet, um sich mit Linken im osteuropäischen Raum zu solidarisieren und gleichzeitig Antworten auf die neoliberale Politik zu finden. Die ukrainischstämmige Linkenpolitikerin und Mitglied des BAK Bytva Sofia Fellinger kritisiert, dass „aktuell eine große Aufrüstungskampagne unter dem Mantel der vermeintlichen Ukraine-Solidarität gefahren“ werde.

Quelle       :        TAZ-online          >>>>>           weiterlesen

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Oben     —     Selenskyj bei einer Ansprache im März 2022

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Ein Jahr Ukraine –

Erstellt von DL-Redaktion am 30. März 2023

20 Jahre Irakkrieg – Warum der Globale Süden dem Westen nicht traut

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Legal, illegal? Scheißegal

Erstellt von DL-Redaktion am 30. März 2023

Kanzler Scholz gibt den Watschenmann

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Für die Rolle bestens geeignet / Zensur und Selbstzensur kaschieren das deutsche Elend, derweil die Rechtsstaatlichkeit schwindet

Deutschland, der Pausenhof: Big Joe knallt dem Olaf ein Ding an den Nischel, so einen Wumms hält kein Gasrohr aus. Olaf sieht Sterne und Streifen. Aber er versichert den Umstehenden: „Unsere Partnerschaft ist enger und vertrauensvoller denn je.  Big Joe bestellt den Olaf wenig später zu sich nach Übersee und flüstert ihm was. Die ARD-aktuell aber macht daraus einen „Besuch bei Freunden“.  Manipulation gehört eben zur Tagesschau wie Mattscheibe zur Caren Miosga. Drei Tage später heißt es aus Hamburg, Big Joe habe dem Olaf überhaupt keine reingehauen, sondern, ganz anders, einige pro-ukrainische Rüpel hätten mit einem Segelboot Knallfrösche in Olafs Badewanne … Man verzeihe uns das Geschnodder, es soll darauf aufmerksam machen, dass die USA eine intellektuelle Flugverbotszone über unser Land verhängt haben; deshalb liefern unsere Leit- und Konzernmedien Nachrichten vom hier dargestellten informationellen Gehalt.

Unser Gemeinwesen verkrüppelt unter solcher Deutungshoheit zusehends zu einem protofaschistischen US-Protektorat. Widerstandskräfte dagegen entwickeln sich erst allmählich. Konkrete Erfahrungen mit realem Faschismus hat in Deutschland nur noch ein sehr kleiner Kreis von Hochbetagten, die Hitlers Drittes Reich erlebt haben. Die Jüngeren müssen erst selbst dahinterkommen, wo welche Gefahrenquellen für unseren Rechtsstaat sprudeln.

Seine Verächter zeichnen sich durch ihren abgrundtiefen Zynismus und US-Konformismus aus. Selbstbestimmte Persönlichkeitsentfaltung, unabhängige Meinungsbildung, freies Denken und Reden sind ihnen zuwider. Ihr Ideal ist der Angepasste, der sich ihren Vorgaben unterordnet und ihnen besinnungslos nachbetet. Die einst übliche Todesstrafe fürs Abhören von „Feindsendern“ brauchen sie für ihre Zwecke nicht mehr. Mit von elektronischer Datenverarbeitung unterstützter Zensur sowie mit Agitation und Propaganda in Dauerschleife gelingt es schon jetzt, ein vollkommen verzerrtes Weltbild als Realität auszugeben und mehrheitlich akzeptabel zu machen. Rechtsnihilismus und Willkürjustiz unterstützen den Erfolg.

Kein Nachrichtentag vergeht, ohne dass wir vom brutalen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu hören kriegen. Wer diese USA-NATO-EU-Sichtweise öffentlich infrage stellt, ein Ende der gigantischen Waffenlieferungen an die Ukraine und die Aufnahme von Verhandlungen mit Russland fordert, lernt schnell deutsche Staatsanwälte kennen. Die nennen soviel kritischen Widerspruch gegen die „herrschende“ Meinung nämlich

Billigung eines Angriffskrieges, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“.

Das gilt als Straftat und wird mit bis zu drei Jahren Haft oder Geldstrafe geahndet. Entsprechende Urteile sind bereits ergangen.

Deutsche Gerichte berücksichtigen nicht, dass der globale Süden, die Mehrheit der Weltbevölkerung, sich nicht an der westlichen Sanktionspolitik beteiligt. Zudem lassen die deutsche Justiz (und füglich auch die konformistische Tagesschau) außer Acht, dass sich Russland bei seiner militärischen Aktion gegen die Ukraine – ob zu Recht oder Unrecht bleibt offen – auf Art. 51 der UN-Charta beruft; dieser Artikel betrifft die Selbstverteidigung und schließt sogar eine präventive (=vorbeugende) Selbstverteidigung nicht aus.

Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, ist angeblich blind und wird meist mit verbundenen Augen dargestellt. Ihre deutsche Ausgabe gibt sich hingegen als offen einäugig. Sie setzt durch, dass die Masse der Bevölkerung das Geschehen in der Ukraine nicht einmal mehr von beiden Seiten betrachten kann: von der NATO-transatlantischen und von der russischen Seite – der Beleg unserer zunehmenden Unfreiheit.

Ex-Kanzlerin Schamlos und Kanzler Tunichtgut

Das lässt sich exemplarisch auch am Umgang mit dem Eingeständnis der Altkanzlerin Merkel sowie der vormaligen Staatspräsidenten Poroschenko (Ukraine) und Hollande (Frankreich) aufzeigen. Alle drei gaben bekanntlich aus freien Stücken zu erkennen, das völkerrechtlich abgesicherte Minsk-II-Abkommen mit voller Absicht gebrochen und Putin hintergangen zu haben. Sie wollten den seit Mitte 2014 von Kiew geführten Bürgerkrieg gegen die ukrainischen (russischsprachigen) Donbass-Provinzen nicht beenden lassen (das Abkommen sah dafür enge Fristen von wenigen Monaten vor), sondern – vertragswidrig – der Ukraine jede Menge „Zeit geben“ zu hemmungsloser Hochrüstung. Sie kalkulierten Russlands militärische Reaktion und brachen somit einen völkerrechtlich gültigen Vertrag.

Schon Monate vor Russlands Invasion hatten sie bis ins Detail geplant, womit sie ihren schon mehr als zehn Jahre geführten Wirtschaftskrieg zu verschärfen gedachten; die Angeberei des Merkel-Nachfolgers und vormaligen Vizekanzlers Scholz im Bundestag verrät alles:

„…Sanktionen …, die ihresgleichen suchen. Über Monate hinweg haben wir sie bis ins kleinste Detail vorbereitet …. Weltweit haben wir für Unterstützung geworben.“

Sie wussten, was kam. Sie hatten es ja genau darauf angelegt.

ARD-aktuell berichtete über diesen Skandal mit keinem Wort. Wenn schon einäugige Justiz, dann erst recht tendenziöser Qualitätsjournalismus.

Keine offizielle Instanz in Deutschland regt sich darüber auf, dass Ex-Kanzlerin Merkel in ihrem „Zeit“-Interview zugleich einen mehrfachen Verfassungsbruch schamlos eingestand: Das Grundgesetz bindet nämlich alle staatlichen Organe an die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“. Zugleich verbietet es „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“. Offen bleibt die Frage, ob außerdem noch ein strafbarer Fall von Friedensverrat vorliegt.

Reden wir lieber über den regierenden Kanzler Scholz und seine infantile Außenminister-in Baerbock. Beider Rechtsverständnis reicht ebenfalls nicht so weit, dass sie sich um eine Wiederbelebung des Minsk II-Abkommens bemühten. Im Gegenteil, sie verweigern Gespräche mit Moskau und konterkarieren das, was die UN-Generalversammlung gerade erst wieder beschlossen hat:

„Die Generalversammlung fordert nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel.“ 

Mit Ignoranz und Arroganz setzen sie vielmehr auf weitere Waffenlieferungen an die Ukraine, auf grundgesetzwidrige Kriegsbeteiligung mittels Ausbildung ukrainischer Soldaten an deutschen Angriffswaffen und auf völkerrechtswidrige Sanktionen. Im Gegensatz zu aller Berliner Heuchelei dient diese Politik den USA und deren Ziel, den Krieg zu verlängern.

Das Einzige, was man Kanzler Scholz zugutehalten kann:

Er hat sich noch nicht öffentlich bei den Amis für ihren Terroranschlag auf die Nord-Stream-Gasleitungen bedankt.

Aber das kann ja auch noch kommen.

Legal, illegal? Scheißegal

Man sollte eigentlich meinen, die UN-Charta sei auch in Art. 2, Absatz 4 unmissverständlich:

„Alle Mitglieder unterlassen … jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“,

doch machte man dann die Rechnung ohne den Wirt. Nach Auslegung der USA ist in der Charta lediglich die „militärische Gewalt“ gemeint. Der globale Süden beharrt hingegen darauf, das Gewaltverbot gelte auch für Wirtschaftssanktionen. Wird hier Haarspalterei betrieben? Das kann nur jemand meinen, der nicht wahrhaben will, dass Sanktionen eine ebenso existenzvernichtende, für Millionen Menschen tödliche Gewaltform darstellen können wie die militärische Gewalt.

Damit auch das endlich geklärt ist: Baerbocks großmäulige Ansage, die Sanktionen würden (sollten) „Russland ruinieren“ ist eine Missachtung des Völkerrechts. Ein Ausdruck vollendet selbstherrlicher Ignoranz. Denn laut UN-Charta ist nur der UN-Sicherheitsrat und niemand sonst ausdrücklich befugt, zur zwischenstaatlichen Streitbeilegung und zur Sicherung des Friedens schwerwiegende Sanktionen zu verhängen.

Mit hasserfülltem Aktionismus verfügte die EU allein in den ersten zwei Monaten nach Beginn der russischen Militäroperation sage und schreibe 3913 Sanktionen. Per Verordnung, ohne gesetzliche Grundlage, auf rechtlich äußerst fragwürdiger Basis.

Dass diese überschäumende Sanktionitis ihren gegen Russland gerichteten Zweck verfehlt, ist das Eine; das Andere aber, dass sie inzwischen die deutsche Wirtschaft massiv schädigt. Das führte selbst in Baerbocks Ministerium zu Nebenwirkungen:

„Bei vielen Mitarbeitern hat sich ein enormes Maß an Frustration und Fremdscham angehäuft … zunehmendes Unverständnis über die Art und Weise der Sanktionspolitik ohne jede Rücksichtnahme auf deutsche Interessen …

Ob die Sanktionen mit dem in Deutschland geltenden Recht vereinbar sind, ist längst nicht so eindeutig geklärt, wie die führenden Politiker und ihre journalistischen Wasserträger uns weismachen wollen. Beabsichtigt war, die russische Bevölkerung dazu zu bringen, den innenpolitischen Druck auf ihre Führung zu verstärken, um deren Außenpolitik zu ändern. Das Gegenteil ist eingetreten. Putin wird von 80 Prozent der Russen unterstützt. Logisch und rechtlich geboten wäre es folglich, die Sanktionen aufzuheben.

Über Berge von Leichen

Doch weder mit Logik noch mit rechtsstaatlichem Bewusstsein ist unsere Ampelregierung sonderlich gesegnet. Vielmehr treibt sie der gleiche krankhafte Wille, die Widersacher der USA zu vernichten, wie ihn Washington gegenüber Kuba, Venezuela, Irak, Iran und derzeit in schlimmster Form gegenüber Syrien auslebt. Da gehen die Scholz-Regierung und die Biden-Aministration Arm in Arm – und zwar über Berge von Leichen.

Menschenleben zählen nicht, entgegen dem frommen Schein auch keine ukrainischen. Waffen liefern für den Krieg, auf dass er bald zu Ende gehe? Gegenfrage: Kennen Sie in der vieltausendjährigen Geschichte der Menschheit auch nur einen einzigen Fall, dass ein Krieg mittels Waffenlieferungen beendet wurde?

Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der abgestorbenen Sowjetunion, politischer Vater auch der DDR-Selbstaufgabe und einst der Deutschen Lieblingsrusse:

„Die deutsche Presse ist die bösartigste überhaupt.“

Sie ändert sich nicht und garantiert damit, dass sich auch in unserem politischen Alltag nichts Wesentliches ändert. Gleiches gilt für die EU und den gesamten „Werte-Westen“: Ihre „regelbasierte Ordnung“ ist ein orchestrierter Bruch des Völkerrechts. Menschenverachtende Willkür. Gäbe es außerhalb der bewussten Medien (Internet-Portale, Blogs, einige kleine Tages- und Wochenzeitungen) tatsächlich einen distanziert-kritischen, um Wahrhaftigkeit und um Aufklärung bemühten Journalismus, dann gingen die Massen heute nicht nur zu Arbeitskämpfen auf die Straße, sondern regelmäßig auch gegen politische Korruption und gegen Kriegstreiberei.

Die Pest der Zensur

Mit ihr weiß unsere politische und gesellschaftliche Elite allerdings gut umzugehen und dem Volkszorn vorzubeugen. Mit Zuckerbrot (Journalisten schmieren, sie mit gut dotierten Posten und Privilegien korrumpieren) und Peitsche: Maulkorb und Strafandrohung, von Staats wegen.

Über die Informationsfreiheit heißt es in Art. 11 der Charta der Europäischen Union:

„Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.“

Das Entsprechende in unserem Grundgesetz Art. 5:

Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Diese Grundrechte sind das Papier nicht mehr wert, auf dem sie gedruckt stehen. Bereits bevor Russland in den Ukraine-Krieg eingriff, verweigerten deutsche und europäische Behörden RT Deutsch die Sendeerlaubnis, obwohl RT bereits eine europaweit geltende, von Serbien ausgestellte Sendelizenz hatte. Die russische Nachrichtenagentur „Sputnik“ wurde ebenfalls gesperrt. Ausgerechnet EU-Kommissionspräsidentin v. d. Leyen, selbst unter Korruptionsverdacht und geübt in schamloser Lüge, durfte sich da hervortun:

„Als Sprachrohre Putins haben diese Fernsehkanäle seine Lügen und Propaganda erwiesenermaßen aggressiv verbreitet.“ Man solle ihnen „keine Bühne mehr zur Verbreitung dieser Lügen geben.“

Tobias Schmid, Direktor der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen sah für das Vorgehen allerdings keine Rechtsgrundlage:

„Die Europäische Kommission ist gefordert, eine gesetzgeberische Lösung zu finden.“

Mit anderen Worten: Das Verbot war rechtswidrig. Und das ist es bis heute.

Die Bundesnetzagentur gab sich zur Durchsetzung der Zensurmaßnahmen her. Auch sie handelte rechtswidrig, wenn man eine grundlegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beachtet:

„Dem Einzelnen soll ermöglicht werden, sich seine Meinung auf Grund eines weitgestreuten Informationsmaterials zu bilden. Er soll bei der Auswahl des Materials keiner Beeinflussung durch den Staat unterliegen. Da die Informationsfreiheit … auch dazu bestimmt ist, ein Urteil über die Politik der eigenen Staatsorgane vorzubereiten, muss das Grundrecht vor Einschränkungen durch diese Staatsorgane weitgehend bewahrt werden.

Die Informationsfreiheit wurde … verfassungsrechtlich garantiert, um die ungehinderte Unterrichtung auch aus Quellen, die außerhalb des Herrschaftsbereiches der Staatsgewalt der Bundesrepublik bestehen, zu gewährleisten. Wenn die Informationsquelle an irgendeinem Ort allgemein zugänglich ist, mag dieser auch außerhalb der Bundesrepublik liegen, dann kann auch ein rechtskräftiger Einziehungsbeschluss nicht dazu führen, dieser Informationsquelle die Eigenschaft der allgemeinen Zugänglichkeit zu nehmen.“

Diese vorbildliche Entscheidung stammt allerdings aus einer Zeit, als Politiker und Richter noch bemüht waren, „Demokratie zu wagen“.

Zwei staubige Brüder

Hatten wir eingangs des Kanzlers charakterlos schleimige Bemerkungen zitiert, so wollen wir hier mit vergleichbar Geistreichem von ihm fortfahren. Scholz:

„Niemand steht über Recht und Gesetz“.

Um Legendenbildungen vorzubeugen: Er bezog das auf Putin, nicht auf sich selbst.

Ein klassischer Fall von Cum-Ex-Gedächtnislücke. Doch bei diesem folgenlosen Vorwurf wollen wir es nicht belassen. Scholz habe am neuesten Märchen über die Nord-Stream-Gasröhren mitgestrickt, behauptet der weltbekannte Investigativ-Journalist Seymour Hersh; er habe beim Tête-à-Tête mit US-Präsident Biden in Washington vereinbart, dessen Täterschaft zu vertuschen. Beide hätten die CIA und den BND beauftragt, eine Tarngeschichte für die Zerstörung der Nord-Stream-Röhren zu erfinden und sie zu lancieren.

Heraus kam dabei die Story von ukrainischen Segelbootfahrern als angebliche Nord-Stream-Bombenleger. Die Tagesschau behauptete sogar, nicht die Einflüsterung der Geheimdienste, sondern eigene Recherchen der ARD hätten zu dieser „Spur“ geführt. Das klang so großmäulig wie unglaubwürdig.

Sollte Hersh mit seiner Behauptung Recht haben, Scholz sei Mitwisser der fiesen Geschichte, dann gehörte der Kanzler wegen eines Bündels von Straftaten vor den Richter, unter anderem wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung und Strafvereitelung im Amt.

Was aber macht ein deutscher Bundeskanzler heutzutage, wenn er mit schändlich unterwürfigen Aussagen gepatzt hat? Zieht er sich ins Trappistenkloster zurück und legt ein Schweigegelübde ab? Aber nicht doch! Entgegen seiner Pflicht, selbst aktiv zur Konfliktbewältigung beizutragen, tut er so, als sei sein geopolitischer Widerpart ein Schwachkopf – und lässt schnellstmöglich die nächste Sottise raus:

“Es ist wichtig, dass Putin versteht, dass er seine Truppen zurückziehen muss“.

Man nennt das verbale Vorne-Verteidigung. Die Tagesschau bringt derart hohle Phrasen garantiert im O-Ton und kommentarlos auf den Schirm, statt sie als Realsatire zu brandmarken. Das Publikum lässt es sich ja gefallen. Noch.

Quellen

https://www.tagesschau.de/inland/scholz-washington-105.html
https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/scholz-biden-111.html
https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-9971.html
https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-56347.html
https://dejure.org/gesetze/StGB/140.html
https://www.infosperber.ch/freiheit-recht/buergerrechte/russlandversteher-in-berlin-mit-2000-euro-bestraft/
https://www.bundestag.de/resource/blob/414640/44a2b7337d3b8fd94962639cb365c9c8/WD-2-049-07-pdf-data.pdf
https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-21-vom-30-november-2022.html
https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzler-olaf-scholz-2019954
https://www.zeit.de/2022/51/angela-merkel-russland-fluechtlingskrise-bundeskanzler
https://lxgesetze.de/gg/24
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_26.html
http://stgb-online.de/verrat.html
https://www.un.org/depts/german/gv-notsondert/a-es11-1.pdf
https://www.wallstreet-online.de/nachricht/16690507-scholz-kuendigt-kontinuierliche-waffenlieferungen-ukraine
https://www.bundestag.de/resource/blob/892384/d9b4c174ae0e0af275b8f42b143b2308/WD-2-019-22-pdf-data.pdf
https://www.tagesschau.de/ausland/scholz-kampfpanzer-leopard-ukraine-101.html
https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/un_charta_666.html
https://www.mpil.de/files/pdf1/vrz.gewaltverbot.pdf
https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-baerbock-ueber-sanktionen-das-wird-russland-ruinieren-RZDYS2DEPRK5OST7ZGGRZ6UN4I.html
https://unric.org/de/un-aufgaben-ziele/frieden-und-sicherheit/
https://de.statista.com/themen/9109/sanktionen-gegen-russland/#topicOverview
https://www.nachdenkseiten.de/?p=95404
https://verfassungsblog.de/wirtschaftssanktionen-gegen-russland-und-ihre-rechtlichen-grenzen
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1293274/umfrage/umfrage-zu-den-zustimmungswerten-fuer-wladimir-putin-in-russland/
https://www.tagesspiegel.de/politik/russland-gorbatschow-deutsche-presse-ist-die-boesartigste-ueberhaupt/1512810.html
https://uebermedien.de/82771/landesregierung-will-veroeffentlichte-preistraeger-noch-mal-veroeffentlichen/
https://fra.europa.eu/de/eu-charter/article/11-freiheit-der-meinungsaeusserung-und-informationsfreiheit
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html
https://www.tagesschau.de/inland/rt-de-rundfunklizenz-101.html
https://www.tagesschau.de/investigativ/hr/verbot-russische-staatssender-101.html
https://www.deutschlandfunk.de/putin-medien-propaganda-russland-europa-eu-kommission-sender-100.html
https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Fachthemen/Digitalisierung/Internet/Netzneutralitaet/DNSsperren/start.html
https://www.fallrecht.de/bv027071.html#080
https://www.berliner-zeitung.de/news/scholz-zu-putin-haftbefehl-niemand-steht-ueber-recht-und-gesetz-li.329010
https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-56079.html
https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__129a.html
https://dejure.org/gesetze/StGB/258a.html
https://www.tagesschau.de/ausland/scholz-cnn-103.html

 Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Oben     —   Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von DL-Redaktion am 30. März 2023

Bankenkrise in der Schweiz – Illusion des sicheren Hafens

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Von Ulrike Herrmann

Die Krise der Credit Suisse und die Übernahme durch ihre Konkurrentin UBS demaskieren das Geschäftsmodell der Schweiz. Die Bankenkrise in der Schweiz hat das Geschäftsmodell des Landes mit dem völlig überteuerten Franlen demaskiert.

Die Schweiz wirkt stabil und reich. Doch plötzlich scheint dieses Bild nicht mehr zu stimmen: Die zweitgrößte Bank, die Credit ­Suisse, musste von der Konkurrentin UBS übernommen werden, um eine Pleite zu verhindern.

Die Schweiz ist eine wichtige Steueroase, Anleger halten sie für sicher. Eine Illusion

In der Schweiz wird dieses Desaster als Staatskrise empfunden. Zu Recht. Die Credit Suisse zeigt, dass das eidgenössische Geschäftsmodell nicht mehr funktioniert. Für das kleine Land ist es gefährlich, sich als Steueroase zu inszenieren und weltweit Gelder anzuziehen.

Aber von vorn: Zunächst wirkt die Pleite der Credit Suisse wenig spektakulär, schließlich geraten immer wieder Unternehmen in die Krise. So müssen in Deutschland diverse Filialen der Warenhauskette Galeria Karstadt Kaufhof schließen, weil sie Verluste schreiben. Ähnlich war es auch im Fall der Credit Suisse: Sie hatte hohe Kosten, aber kein profitables Geschäftsmodell. Der relevante Unterschied ist nur, dass die Bank keine Unterhosen verkauft, sondern mit Geld hantiert – was die Pleite brisant macht.

Der Untergang der Credit Suisse­ war langfristig unvermeidlich. Sie hätte nur überleben können, wenn sie ihre Vermögensverwaltung noch weiter ausgebaut hätte. Doch dieser Markt ist schon gefährlich überdehnt, weil auch alle anderen Schweizer Banken davon leben, internationale Gelder zu betreuen.

Wichtige Steueroase

Vor der Coronakrise sammelte sich bei den zehn größten Schweizer Banken ein Finanzvermögen von 3,8 Billionen Franken – obwohl die Wirtschaftsleistung des Landes nur bei 717 Milliarden Franken lag. Die Schweiz erinnert an einen riesigen Geldballon, der nur noch mit einer dünnen Leine am Boden verankert ist.

Die Schweiz ist die zweitwichtigste Steueroase der Welt, und Anleger drängen in das kleine Land, weil sie einen „sicheren Hafen“ suchen. Doch dieser Eindruck beruht auf einer Illusion. Da so viele Investoren Franken kaufen, steigt dessen Wert, woraus die Investoren messerscharf schließen, dass der Franken sehr wertvoll sein muss – weswegen sie noch mehr davon kaufen.#

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

In Wahrheit ist der Franken ein Verlustgeschäft. In einem Züricher Restaurant kostet ein schlechtes Kartoffelgratin mit schlechtem Wein 60 Franken. In Berlin wäre das gleiche Essen schon mit 25 Euro zu teuer. Das Schweizer Statistikamt hat genau nachgerechnet: Im Jahr 2021 benötigte man 167 Franken, um einen Warenkorb zu kaufen, der in der EU nur 100 Euro gekostet hätte. Der richtige Wechselkurs wäre also 1,67 Franken für einen Euro gewesen. Stattdessen lagen Franken und Euro fast gleichauf.

Der überbewertete Franken ist eine schwere Bürde für die Schweiz, weil er die heimischen Waren auf dem Weltmarkt zu teuer macht. Von 2012 bis 2021 ist die Schweizer Wirtschaft pro Kopf um 4,5 Prozent gewachsen. Das ist nicht viel für ein Jahrzehnt.

Nur im Ausland reich

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>        weuterlesen

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Oben      —     Protest vor der Credit Suisse auf dem Bundesplatz im Rahmen einer Klimakundgebung 2019

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Illusionen der Kleinbürger

Erstellt von DL-Redaktion am 29. März 2023

Krieg in der Ukraine: Luxemburgs Legende

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Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Wo die Debatte über den Krieg zum politischen Spektakel eskaliert, gerät der gemeinsame Nenner rasch aus dem Fokus. Andersdenkende werden zu Feinden.

Mal persönlich gesprochen: Was die Positionen von Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer und ihren An­hän­ge­r*in­nen anbelangt, so geht meine Reaktion übers Anderer-Meinung-Sein deutlich hinaus.

Es bildet sich da, meiner bescheidenen Meinung nach, keine Diskursgemeinschaft, die nach Möglichkeiten zum Frieden sucht, sondern eine hybride, bewusstlose und ein klein wenig clowneske Gemeinschaft, die fatal an „Querdenker“ und „Coronaleugner“-Szenen erinnert, das Rechte und das Linke quergestrickt, die Verschwörungsphantasmen und die schwarzbraunen Immerdabeis, die berechtigte Opposition zur hegemonialen Mainstreamerzählung und der sektenhafte Bruch mit dem Common Sense, die Forderung nach Gehör und die Taubheit gegenüber Einwänden, die Mischung aus Aggression und Opferstatus, die Verbindung humanistischer Anliegen mit geradezu zynischem nationalem Interesse – diese Melange entzieht sich meiner Vorstellung von kritischem Denken.

Allerdings weiß ich auch nicht so recht, wovor ich mehr erschrecken soll, vor der offenbar in Kauf genommenen Attraktion, die solche Mixtur für – wie sagt man? – den „rechten Rand“ darstellt, oder über die allfällige moralische Entrüstung, die selbst in der noch nicht vollkommen heruntergekommenen Presse an Hysterie grenzt. Es geht da, scheint’s, weniger um das Bemühen, zu klarerem Denken zurückzufinden, als um die Konstruktion von Feindbildern und um Anlässe zur Empörung.

Wenn die so indizierten – wie sagt man? – „medienaffinen Personen“ freilich genau das am besten gebrauchen können, nämlich von der richtigen falschen Seite als „Feindbild“ behandelt zu werden, dann ist von der politischen Debatte tatsächlich nur der Spektakelwert geblieben. Und den lassen sich auch unsere – wie sagt man? – „Qualitätsmedien“ nicht entgehen.

Schwere Mission

Die Verspektakelung entwickelt sich exponentiell; am Ende gibt es zwischen den beiden rhetorisch aufgeblasenen Moralpredigten, die jeweils die andere Seite der Unmoral bezichtigen, keine Luft mehr zum Atmen, keinen Platz mehr für einen freien Gedanken. Und schnell ist dabei vergessen, dass es um zwei widersprüchliche und gleichwohl miteinander verbundene Dinge geht. Darum, ein Land und seine Gesellschaft gegen eine Aggression zu verteidigen, aber auch darum, das Leiden der Menschen in der Ukraine zu beenden.

(Und, nebenbei bemerkt, es gibt auch ein russisches Leiden.) Dieser Widerspruch ist nicht in einem politischen Spektakel aufzulösen, sondern nur durch kluges und moralisches Denken und Handeln. Wie aber sollte das gelingen, wenn wir uns das freie Denken abtrainieren lassen? Rosa Luxemburg hat uns eine ebenso schöne wie schwere Aufgabe hinterlassen: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“

Kleinbürgerliche Illusionen

In der Welt versucht Sven Felix Kellerhoff, „Leitender Redakteur Geschichte“, Rosa Luxemburg dieses Wort abspenstig zu machen, denn eine kommunistische Frau darf sich doch nicht an unserer Vorstellung von Freiheit vergreifen, nicht wahr? „Schon am 20. November 1918, der Kaiser war gerade erst seit elf Tagen gestürzt, positionierte sie sich im Leitartikel der Roten Fahne unmissverständlich. Die Nationalversammlung sei ‚ein überlebtes Erbstück bürgerlicher Revolutionen, eine Hülse ohne Inhalt, ein Requisit aus den Zeiten kleinbürgerlicher Illusionen vom ‚einigen Volk‘, von der ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ des bürgerlichen Staates.“ Unerhört! Bloß doof, dass sie mit ihrer Einschätzung der kleinbürgerlichen Illusionen auf so schreckliche Weise recht behalten sollte …

Memorial, close to lower lock, Berlin-Tiergarten

Welt-Leser*innen wissen so genau, was es mit der Freiheit von Andersdenkenden auf sich hat, dass sie in ihren Kommentaren gern noch was draufgeben, wie etwa dies hier: „R.L. und K.L. wollten unter dem Vorwand einer bürgerlichen Revolution den Bolschewismus als Staats-/Regierungsform. Mit Demokratie hatten sie wirklich nichts im Sinn. Das rechtfertigt natürlich nicht ihre Ermordung. Doch dem politischen Treiben, ihrer Agitation u.w. musste ein Ende bereitet werden.“

Mal abgesehen davon, dass Rosa Luxemburg alles andere als „Bolschewistin“ war – aber hier müsste man beginnen, eben genauer, fairer und „freier“ zu lesen und zu debattieren –, kann man durchaus erschrecken über solch rechtskonservatives Grundrauschen: Nicht gleich ermorden, die Andersdenkenden, aber ihrem Treiben muss doch ein Ende bereitet werden.

Rosa Luxemburgs Idee der Freiheit ist schon in „normalen“ Zeiten eine ganz schöne Zumutung. In Zeiten von Krise und Krieg – also mittlerweile fast immer – steht sie zur Disposition; jetzt kann es nur noch um „unsere“ Freiheit gehen, die von den anderen bedroht wird. Und jetzt wird die Grenze zwischen Andersdenkenden und Feinden obsolet.

Ringen um die richtige Erzählung

Quelle          :         TAZ-online             >>>>>         weiterlesen

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Oben     —       Sculpture of Rosa Luxemburg, made by Rolf Biebl, standing in front of the Neues Deutschland building, Franz-Mehring-Platz, FriedrichshainBerlin.

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Kommerzielle-Staatstrojaner

Erstellt von DL-Redaktion am 29. März 2023

Bidens Verordnung ist nur der erste Schritt

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

US-Behörden dürfen kommerzielle Staatstrojaner nur noch eingeschränkt nutzen. Das ist ein erster Schritt, darf aber nicht der letzte sein. Denn die Probleme mit staatlichem Hacken löst das nicht.

US-Behörden dürfen in Zukunft kommerzielle Staatstrojaner nur noch eingeschränkt nutzen. Das hat US-Präsident Joe Biden am Montag angeordnet. Ein Komplettverbot für die invasiven Hacking-Tools ist es nicht. Vor allem geht es um Staatstrojaner, von denen eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA ausgeht oder „ein erhebliches Risiko der missbräuchlichen Verwendung durch eine ausländische Regierung oder eine ausländische Person“. Dazu zählt laut der Anordnung, wenn ein Trojaner gegen US-Bürger:innen eingesetzt wurde oder damit Menschenrechtsverletzungen begangen werden.

Das dürfte das Aus für Staatstrojaner wie Pegasus oder Predator in den USA sein. Wie sie ist kaum ein größeres Trojaner-Unternehmen ohne Skandal. Regierungen überwachen mit den Staatstrojanern Dissident:innen oder setzen sie gegen Medienschaffende ein. Erst letzte Woche wurde bekannt, dass die griechische Regierung eine Managerin von Meta mit US-Staatsbürgerschaft abgehört haben soll. Schon vor zwei Jahren wurde bekannt, dass US-Diplomaten auf der Zielliste von Pegasus standen.

Was die Anordnung Bidens nicht verbietet: All die Hacking-Tools, die US-Behörden selbst entwickeln. Und Staatstrojaner von Herstellern, die noch nicht in autoritären Regimen gefunden wurden und die die USA als vertrauenswürdig einstufen.

Die Branche ist außer Kontrolle

Nicht nur der Pegasus-Skandal hat uns gezeigt: Die kommerzielle Staatstrojaner-Branche ist außer Kontrolle. Bidens Anordnung ist daher ein notwendiger erster Schritt, kann aber nicht der letzte sein.

Wenn wir nach Europa blicken, sehen wir: Ein Stopp für den Ankauf und Einsatz von Staatstrojanern ist überfällig. EU-Staaten hacken und überwachen damit ihre eigene Bevölkerung. Offenbar nicht immer nur, um Terrorist:innen zu fangen. In Polen oder Spanien etwa wurden Staatstrojaner bei politische Opponent:innen gefunden.

Doch selbst wenn alle Trojaner-Hersteller und die sie einsetzenden Regierungen Staatstrojaner stets nur zur Bekämpfung schwerster Verbrechen einsetzen würden: Das Grundproblem mit Staatstrojanern löst das nicht. Was bleibt, sind die Sicherheitslücken, die Hersteller nutzen, um Geräte zu infizieren und auszuspähen. Am wertvollsten dabei sind jene Lücken, die der Öffentlichkeit noch nicht bekannt sind. Und die Hersteller von Geräten und Software deshalb nicht schließen können.

Schwachstellen konsequent schließen

Sicherheitslücken offenhalten, um sie auszunutzen, gefährdet uns alle. Egal, wer das tut. Weder Staaten noch Staatstrojaner-Hersteller haben ein Monopol auf dieses Wissen. Sie können genausogut von gewöhnlichen Kriminellen gefunden und zum Schaden aller ausgenutzt werden. Der Handel mit Sicherheitslücken ist ein Markt. Und wer weiter Geld in dieses System spült, macht sich mitschuldig daran, dass es floriert.

Wenn der Pegasus-Ausschuss im Europaparlament seine Arbeit abschließt und einen Bericht und Empfehlungen vorlegen wird, muss ein Moratorium folgen. Und wir brauchen nicht nur ein Verbot kommerzieller Staatstrojaner, wir brauchen ein Verbot, Sicherheitslücken zu verschweigen – egal ob für staatliche oder kommerzielle Akteure.

Die Ampel hat sich vorgenommen, ein wirksames Schwachstellenmanagement einzuführen. Das darf nur heißen: Es muss verboten sein, Sicherheitslücken offenzuhalten. Alle Lücken, gleich wer sie findet, müssen schnellstmöglich geschlossen werden. Die Haltung von Bundesinnenministerin Faeser dazu ist nicht ganz so klar. Und das ist ein Problem. Die deutsche Regierung sollte es besser machen als die USA und Konsequenzen ziehen. Denn Staatstrojaner, die auf Sicherheitslücken beruhen, gefährden uns alle. Auch den Staat selbst.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —     Senator Biden gives his opening statement and questions U.S. Ambassador to Iraq Ryan Crocker and General David H. Petraeus at the Senate Foreign Relations Committee Hearing on Iraq.

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 29. März 2023

Ja-Sagen in komplizierten Zeiten

KOLUMNE VON – Lukas Wallraff

Klima-Volksentscheid in Berlin. – In Berlin wurde am Sonntag abgestimmt, ob die Stadt bis 2030 klimaneutral werden soll. Ein Ziel, dem leicht zuzustimmen ist. Scheinbar.

Wer in diesen Tagen durch Berlin fährt, am besten natürlich mit dem Fahrrad, sieht überall ein „Ja!“. An jeder Ecke, auf kleinen und großen Plakaten, unübersehbar, rot auf grün, in Riesenlettern: „Ja!“, „Ja!“, „Ja!“. Das spricht mich durchaus an. Die Farben Rot und Grün finde ich beide relativ sympathisch. Und da ich mich zwischen beiden oft schwer entscheiden kann, freue ich mich, wenn jetzt offenbar ein zweifarbiges „Ja!“ reicht.

Ich sage generell gern Ja, zum Leben, zu den Menschen und wenn mich jemand freundlich fragt, etwa, ob ich noch ein Bier will. In meinem Leben habe ich schon sehr häufig freudig „Ja!“ gerufen, beim Pokalsieg des 1. FC Nürnberg, bei der Wahl von Barack Obama, beim Wanda-Konzert am letzten Freitag, am lautesten bei meiner Hochzeit. Und ich habe es nie bereut.

Auch bei dem Berliner Volksentscheid an diesem Sonntag ist es zweifelsohne sehr verlockend, einfach „Ja!“ zu sagen, beziehungsweise anzukreuzen. „Berlin klimaneutral 2030“ – Fantastisch! Noch viel sympathischer als Rot und Grün zusammen, die in ihrer gemeinsamen Regierungszeit auf dem Weg zum Traumziel einer klimaneutralen Hauptstadt als Vorbild für das ganze Land nur bis zur Friedrichstraße kamen.

Endlich Schluss mit der Verzagtheit. Und das nach einer Woche, in der passenderweise der Weltklimarat eindrücklich gefordert hat, dass auf die vielen schönen Worte endlich Taten folgen müssen. Also, Berlin first! Wer kann dazu schon Nein sagen? Nunja, nach längerer, ernsthafter Überlegung: ich.

Keine Ahnung, wo das Geld herkommen soll

Es wäre zwar irgendwie lustig und typisch Berlin, den Grünen erst bei der Wahl nur 18 Prozent zu geben und dann wenige Wochen später mehrheitlich für eine viel radikalere Klimapolitik zu stimmen als die Grünen. Und es ist gut möglich, weil viele das „Ja!“ zum Klimaziel vor allem als „Nein!“ zur geplanten großen Koalition verstehen. Klar, da juckt es auch mich. Wenn die CDU und die SPD unbedingt gemeinsam stillstehen möchten, dann wollen wir doch mal sehen, wie sie ein gesetzlich vorgeschriebenes Klimaziel 2030 hinbekommen.

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Leider können aber nicht einmal die BefürworterInnen des Volksentscheids triftig erklären, wo das Geld und die technischen Voraussetzungen her kämen, die für eine Klimaneutralität bis 2030 nötig wären. Wenn überhaupt, wäre das wohl nur halbwegs denkbar, wenn Berlin jeden, aber auch jeden Steuercent in Richtung Klimaschutz drehen würde. Was dann noch für Sozial-, Wohnungsbau-, Flüchtlings- und Bildungspolitik übrig bliebe, die jetzt schon im Argen liegen, erst recht bei einer CDU-Regierung?

Tja. Auch wenn ich den Auftrag sehr ernst nehme, dass wir bitte eine linke, radikale Zeitung bleiben sollen, wie es uns Christian Ströbele mitgegeben hat: „2 + 2 = 5“ kann ich nicht unterschreiben, sorry. Ein „Ja!“ am Sonntag scheint mir, leider, nicht erstrebenswert. Und auch nicht wirklich links. Weil ich fürchte, da eine wirklich linke Regierung nicht in Sicht ist, dass die Rechnung am Ende eher die Armen als die Reichen bezahlen würden.

Quelle       :       TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Her mit dem Unterhalt!

Erstellt von DL-Redaktion am 28. März 2023

Unterstützung für Stiefmütter und -väter

Ein Debattenbeitrag von Elsa Koester

Als Stiefmutter trägt unsere Autorin Verantwortung für zwei kleine Menschen – auch finanziell. Doch der Staat behandelt sie, als sei sie kinderlos.

Was stimmt nicht mit meinem Kontostand? Da ist ein Minus, wo doch sonst immer ein Plus war? Ist das die Inflation? Denn meinen Lebensstil habe ich kaum geändert: Dieselbe Wohnung, kein Auto, und Restaurants, Bars und Reisen sind doch viel seltener geworden, seit der … richtig: Seit der Kids! Mein Kontostand leidet, seit ich Stiefmutter geworden bin. Wo ich vorher Miete nur für mein WG-Zimmer zahlte, zahle ich jetzt mehr Miete für eine Vierzimmerwohnung, in der mein Partner, ich und zeitweise die zwei Kinder leben. Wo ich vorher nur für meine Fischstäbchen zahlte, zahle ich jetzt Fischstäbchen für zwei kleine Menschen mit. Und der Staat? Gibt mir nichts dafür! Keine Stiefkinder-Freibeträge, keine Steuererleichterungen. Vom Kindergeld sehe ich nichts. Kinderzuschläge zahlt mir mein Arbeitgeber keine. Denn aus sozialstaatlicher Perspektive bin ich ja: kinderlos. Erklären Sie das mal meinem Konto.

Nun lässt sich das alles ja wunderbar erklären: Die Kinder, für die der Staat Unterstützung zahlt, sind ja nicht mehr geworden, es waren zwei, als sie nur zwei Eltern hatten, und es sind immer noch zwei, jetzt, wo sie zwei Eltern plus eine Stiefmutter haben. Die Freibeträge gelten also weiter für beide Eltern, und das Kindergeld geht an dasjenige „echte“ Elternteil, das das Kind gerade mehr betreut, und Kinderzuschläge gibt es bei den Arbeitgebern der Eltern meiner Stiefkinder eh keine. Ich mag zwar Stiefmutter geworden sein und immer mehr Verantwortung für die Kids tragen, aber finanziell bin ich aus der Elternsache raus: Das für die Kindersorge notwendige Geld landet bei den biologischen Eltern, also sollen sie auch zahlen.

Aber haben Sie mal mit einer Familie zusammengelebt? Das geht ja ungefähr so: Fünf Uhr abends, Heimweg, Whatsapp: „wir brauchen noch Fischstäbchen für heute Abend, ich schaff es nicht, hol noch den Kleinen ab“, „ok kauf ich“, „ah und Ketchup“, „ok“, dann die Stieftochter: „hey hab gehört du gehst einkaufen bitte sushipapier und die geilen onigiri und saft“, „ok“, „kaffee ist auch alle“, und guck mal, der Lieblingsjoghurt vom Kleinen, und ach ja, Klopapier und Olivenöl, zack, 40 Euro für einen ungeplanten Feierabendeinkauf. Und dann drei Tage später noch mal und dann noch mal. Machen Sie dann wirklich eine Liste? „1 Onigiri für Stieftochter, Saft“?

Und dann holen Sie sich das Geld von Ihrem Partner fein säuberlich wieder, wenn dieser gerade mit Kopfschmerzen auf dem Sofa liegt, weil sein Konto seit der Trennung ständig ins Minus rollt am Ende des Monats, seit zwei Eltern plötzlich zwei Wohnungen finanzieren müssen, und nicht mehr nur eine? Ich bringe das nicht übers Herz. Und ich bin ja auch Stiefmutter! Ich trage die emotionale Verantwortung für die kleinen Menschen, mit denen ich jetzt seit drei Jahren zusammenlebe. Warum sollte ich nicht auch finanziell Verantwortung übernehmen? Ich muss nach einer Trennung ja auch keinen Unterhalt für meine Stiefkids zahlen, heißt es. Ja, warum eigentlich nicht?

Das kleine Sorgerecht ist ein Witz: Wer es hat, darf gerade mal die Kleine von der Kita abholen

Mit Zeit. Anerkennung. Und Geld auf dem Konto

Diese Gesellschaft verändert ihr Familienleben. Die Ampelregierung hat das eigentlich längst verstanden: „Familien sind vielfältig. Sie sind überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, und brauchen Zeit und Anerkennung“, so steht es im Koalitionsvertrag. In Regenbogenfamilien tun sich häufig drei Eltern für ein Kind zusammen: Zwei Väter und eine Mutter, zwei Mütter und ein Vater. Und auch werdende Hetero-Eltern suchen sich manchmal eine dritte Elternperson, um die Familie für die Kinder zu vergrößern. Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP hat deshalb Pläne: Er möchte das „kleine Sorgerecht“ auf bis zu vier Elternpersonen ausweiten. Vier rechtliche Eltern? Wow!

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Leider ist es so: Außer auf dem Koalitionspapier verändert sich überhaupt nichts. Zum einen ist das „kleine Sorgerecht“ ein Witz: Wer es hat, darf gerade mal die Kleine von der Kita abholen (geht auch so) und entscheiden, was der Kleine auf sein Brot bekommt. Zum anderen geht es da um Rechte, nicht um Geld. Finanzielle Unterstützung der multiplen Elternschaft? Da wartet man bei einer Regierung mit FDP-Beteiligung lange. Auch queere Mütter warten noch immer auf ihr Elterngeld und ihre Kinderfreibeträge – auf die Gleichstellung zu Heteromüttern also.

Den Liberalen geht es weniger um soziale Sicherheit als mehr um liberale Freiheit: Alles muss möglich sein im Zusammenleben, aber bitte ohne Verbindlichkeit, und kosten darf es auch nichts. Ihr wollt zu dritt ein Kind? Bitteschön, wir ermöglichen euch alles, wir sind ja liberal! Aber wie ihr das finanziert bekommt, das schaut doch bitte selbst. Und so ist die Frage der Familiengründung, der Trennung und der Familienneugründung als Patchworkfamilie in dieser Gesellschaft leider weiterhin eine soziale Frage. Wer zu wenig Geld hat, kann keine zwei Wohnungen finanzieren und bleibt womöglich als sich hassendes Elternpaar zusammen. Wer zu wenig Geld hat, kann als Stiefelternteil weniger Verantwortung für die Kinder übernehmen, als sie oder er das vielleicht möchte.

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben        —          Hänsel und Gretel treffen die Hexe

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Bewegungen-Anarchismus

Erstellt von DL-Redaktion am 28. März 2023

Ein Plädoyer für einen Bewegungsanarchismus und (Anti-)Politik

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :    Jonathan Eibisch

Mit dem folgenden Beitrag möchte ich eine kritische Debatte über unser Politikverständnis anregen, über das Verhältnis von Anarchismus und Bewegungslinke reflektieren und auf meine Tätigkeiten hinweisen.

Ausgangspunkt dafür sind unterschiedliche Transformationsverständnisse, welche es zu diskutieren gilt. Eine Voraussetzung bei der Entstehung des Anarchismus als eigenständige sozialistische Strömung war die Verwerfung der politischen Reform, als Ausdruck der Sozialdemokratie einerseits und der politischen Revolution als Horizont des Parteikommunismus, andererseits. Statt ersterer wurden Ansätze entwickelt, in welchen auf mutualistische Selbststorganisation gesetzt wird, um die Gesellschaft graswurzelartig zu verändern. Die Ablehnung letzterer mündete in die Befürwortung von Aufstand und alltäglicher Subversion.

Transformationsansätze

Darüber hinaus entstanden das Transformationskonzept des autonomen Protestes, mit welchem auf die Radikalisierung und Selbstorganisation in sozialen Bewegungen gesetzt wurde, und schliesslich jenes der sozialen Revolution. Bei sozialer Revolution geht es nicht um die Übernahme der Staatsmacht, sondern um die grundlegende Transformation politischer Strukturen hin zu Föderationen dezentraler autonomer Kommunen. Die Vergesellschaftung von Privateigentum und Produktionsmitteln soll durch die Arbeiter*innen selbst und direkt geschehen.

Darüber hinaus sollen mit sozialer Revolution die verschiedenen Dimensionen der Herrschaftsordnung (z.B. Geschlechter- und Naturverhältnisse, Kultur und Ethik) zugleich überwunden werden. Und sie geschieht prozesshaft, entwickelt konstruktiv neue Organisations- und Gemeinschaftsformen und orientiert sich präfigurativ an konkreten Utopien. Im Bewegungs-Anarchismus wird insbesondere auf die beiden letzten Konzepte Bezug genommen. Wenn Simon Sutterlütti die Transformation als »Konstruktion« befürwortet, welche zur »Aufhebung« führe, meint er damit (implizit und unbegriffen) das Nachdenken über anarchistische Transformationsstrategien.

In der Vorstellung der »Keimformtheorie« wird dies sogar dem Wort nach aus dem Anarchismus entlehnt. Leider geschieht dies aber verkürzt, weil komischerweise darauf insistiert wird, das Rad mit den Commons-Ansätzen auf idealistische Weise neu zu erfinden, statt konsequenterweise einen Beitrag zu formulieren, um den Anarchismus theoretisch zu erneuern. Den anarchistischen Kern dieser Theoriestränge zu verdecken, bringt für die Debatte über zeitgemässe, sinnvolle Transformationsansätze nicht weiter.

Für die Bewegungslinke hilfreich ist in diesem Zusammenhang eher ein Denken wie jenes von John Holloway (2010) oder Eric Olin Wright. Letzterer versucht dabei die Transformation durch Bruch (Parteikommunismus), durch Freiräume (Anarchismus) und durch Symbiose (Sozialdemokratie) zu verbinden, um ein gemeinsames sozialistisches Projekt denkbar zu machen (Wright 2017: 375-485).

Dabei argumentiert Wright, echte Gesellschaftstransformation könne nur ermöglicht werden, wenn alle drei Ansätze zusammengeführt werden. Mit seiner Betonung konkreter Utopien, der Annahme, dass der Sozialismus nicht aus dem Kapitalismus herauswächst, dass es eine gesellschaftliche Ermächtigung braucht und mehrere Strategien für eine grundlegende Gesellschaftstransformation zusammenwirken müssen, wirkt insbesondere der Schluss seines Buches direkt anarchistisch (Wright 2017: 486-496), ist es sein Transformationskonzept nur teilweise. Und eben darin liegt die Stärke einer Konzeption, welche unterschiedliche Ansätze zusammen denkt. Dies setzt allerdings voraus, dass die Anhänger*innen der jeweiligen Strömungen, Flügel oder Spektren, ihre eigenen Grundlagen, Fähigkeiten und Schwierigkeiten kennenlernen und weiter entwickeln. Im Übrigen ist dies auch die Voraussetzung für Streit, der solidarisch und konstruktiv geführt wird, statt dogmatisch und spalterisch. Letzteres bedeutet aber nicht, auf radikalen Zweifel zu verzichten, wo er notwendig ist…

Kritik der Politik und (Anti-)Politik im Anarchismus

Die Besonderheit des Anarchismus innerhalb der Bewegungslinken besteht in seiner Betonung der Autonomie, Dezentralität und Selbstorganisation sozialer Bewegungen, statt Vorfeldorganisationen von Parteien oder gar künstlich geschaffene Pseudo-Bewegungen zu sein. Mit dem Anarchismus wird auch die Präfiguration stark gemacht, also das Anliegen, mit den eigenen Organisations- und Aktionsformen bereits die Gesellschaftsform zu verkörpern, welche angestrebt und verallgemeinert werden soll.

Auch die eigene Ethik und die soziale Dimension unter den Aktiven gewinnt damit einen wichtigen Stellenwert: Die eigene Bewegung soll konkret emanzipierend wirken. Darüber wird die Konfrontation mit den Strukturen der Herrschaft gesucht, statt diese nur provokativ einzusetzen, um in Verhandlungen mit den politisch Machthabenden zu treten. Und es soll sich Initiative angeeignet werden, anstatt lediglich dem Tagesgeschäft der politischen Agenda gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen bzw. deren Rahmung durch Regierungspolitik hinterher zu eilen.

Zu dieser Sichtweise gelangen Anarchist*innen durch eine spezifische Kritik der Politik. Um zu begründen, weswegen Anarchist*innen zu dieser Haltung gelangen, ist der Begriff »Politik« zu definieren. Denn seine Verwendung im alltäglichen Sprachgebrauch ist sehr diffus. Weiterhin ist die Definition von »Politik« hochgradig umstritten – und damit selbst ein politischer Akt: Entsprechend der Weise, wie wir »Politik« erfassen, ergibt sich unser Umgang mit ihr. Darüber lohnt es sich, genauer nachzudenken, damit wir selbstbestimmt Inhalte und Positionen entwickeln können. Im konservativen Denken hat Politik vor allem die Aufgabe des Erhalts einer »guten« (d.h. beständigen) gesellschaftlichen Ordnung.

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Verkürzte staatssozialistische Ansätze sehen in der Politik lediglich das Ergebnis von ökonomischen Konstellationen. Das liberal-demokratische Denken erfasst die politische Sphäre in einem Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft und nimmt an, dass verschiedene Prozesse zur Öffnung oder Schliessung von Politik führen. Dagegen richtet sich die radikal-demokratische Tradition, in welcher der verfestigten Politik, »das Politische« gegenüber gestellt wird. Letzteres ist die prozesshafte Infragestellung von Herrschaftsordnungen durch selbstorganisierte Gruppen, etwa in den Platzbesetzungsbewegungen.Dagegen beziehe ich mich an dieser Stelle aus strategischen Gründen auf ein bestimmtes anarchistisches Verständnis, mit welchem Politik stets an das Regieren gekoppelt ist (»gouvernemental«). Politik ist dieser Definition nach immer mit Konflikt verbunden (»konfliktorientiert«), aber es wird bezweifelt, dass sie vor allem die Herstellung einer »guten Ordnung« (für alle) zum Ziel hat (»negativ-normativ«). Schliesslich kann Politik auch so verstanden werden, dass es in ihr immer um oft blutige und intrigante Machtkämpfe und Machterhalt zwischen meist äusserst ungleichen Akteur*innen geht (»ultra-realistisch«).Selbstverständlich ist Politik nicht nur dies. In ihr geht es auch um Verhandlungen, manchmal erscheint sie unumgänglich, vor allem, wenn wir den Anspruch erheben, die Gesellschaftsform insgesamt zu verändern – und damit auch die Gestalt dessen, was Politik in einer bestimmten Herrschaftsordnung ist. Aber wenn wir diese Definition annehmen (und es gibt zahlreiche Menschen weltweit und in der Geschichte, denen Politik so erscheint), lässt sich von einem emanzipatorischen Standpunkt zurecht in Frage stellen, ob sich das Politikmachen lohnt. Wie gesagt geht es hierbei nicht um vermeintlich richtige oder falsche Begriffe, sondern um die lohnenswerte Hinterfragung und Verschiebung unserer Sichtweise.

Anarchist*innen haben also eine grössere Skepsis gegenüber dem Politikmachen, als sie in anderen sozialistischen Strömungen vorhanden ist, welche dieser Ansicht nach unterschätzen, wie stark Staatlichkeit politisches Handeln vereinnahmt und monopolisiert. Weiterhin sind es aber auch Aktive in anderen Strömungen sozialer Bewegungen, welche ihr politisches Handeln dem Staat zuordnen (indem sie bspw. ganz bestimmte Gesetze vorschlagen und als unrealistisch erachtete Anliegen zurückstellen). Zum Beispiel neigen Mitglieder von Parteien dazu, die Autonomie einer sozialen Bewegung zu beschränken, um sie ihren eigenen Interessen zuzuführen.

Ähnliches gilt für NGOs, welche durch neue Regierungstechniken (»neoliberale Gouvernementalität«) teilweise eine sehr staatstragende Funktion übernehmen. Doch auch Menschen, die sich wie bei Fridays for Future neu politisieren, glauben häufig daran, dass »die Politik« doch angesichts eindeutiger Erkenntnisse endlich handeln sollte und appellieren daher an sie. Linksradikale Gruppen gehen dagegen nicht davon aus, dass sie mit ihrem Handeln Regierungspolitik beeinflussen können, bleiben aber häufig dennoch an Rudimenten des Schemas von politischer Revolution orientiert.

Als libertär-sozialistischer Flügel nach Autonomie streben

Doch das anarchistische Denken funktioniert anders, als einen Widerspruch zwischen »Reform« und »Revolution« zu konstatieren, welcher durch »radikale Realpolitik« zu überbrücken wäre – und sei es im Verständnis von Rosa Luxemburg. Wie bereits angedeutet, wird dagegen angestrebt, diesen Gegensatz mit dem Verständnis von sozialer Revolution zu überwinden. Damit wird das Terrain der durch die herrschende Ordnung definierten Politik bewusst verlassen. Politik muss deswegen aber nicht als »schlecht« oder »böse« angesehen werden.

Es reicht, sich vor Augen zu führen, dass wir in vielen anderen Sphären mindestens ebenso wirkmächtig handeln können, wenn wir die Gesellschaft grundlegend verändern wollen. Diese anderen Sphären, in denen in einer Doppelbewegung von Herrschaftsverhältnissen weg und nach Autonomie gestrebt wird, findet sich in vielen Aspekten, welche uns aus linken Szenen und Lebenswelten bekannt sind. Sie haben ihre Bezugspunkte in den Individuen (Die Selbstbestimmung und -entfaltung aller Einzelnen), im Sozialen (z.B. Nachbarschaftsversammlungen), in »der« Gesellschaft (z.B. Gegenmacht von unten aufbauen), in der Ökonomie (autonome Gewerkschaften) und der Gemeinschaft (Kommunen und Alternativszenen). Darüber hinaus werden Kunst, Ethik und Utopie als Gegenpole zur politischen Sphäre verstanden.

Dies führt Anarchist*innen jedoch nicht zu einer apolitischen oder unpolitischen Haltung, sondern zu einem gelebten Widerspruch mit dem politischen Feld, welches sich unter Bedingungen der bestehenden Herrschaftsordnung als staatliches Herrschaftsverhältnis konstituiert. Auch die Anrufung der sogenannten »Zivilgesellschaft« und die Bezugnahme auf sie gilt es demnach zu hinterfragen, weil sie – mit Gramsci – der dem Staat vorgelagerte Raum ist. Dies schliesst keineswegs aus, mit verschiedenen Personen zusammen zu arbeiten, welche keine dezidiert »linken« Überzeugungen und Hintergründe haben. Mehr Menschen als wir glauben durchschauen die »politische Illusion«, also die Vorstellung, dass es sinnvoll ist, seine Energie und Zeit mit Tätigkeiten auf dem eingehegten politischen Terrain zu verbringen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht auch danach streben können, die Gesellschaft grundlegend zu verändern.

Wenn sich die Bewegungslinke stärker an ihrem (potenziellen) libertär-sozialistischen Flügel ausrichten würde, müsste sie sich konsequenter danach orientieren, was sie wirklich verändern und vorleben, wo sie hin will. Ein Ansatzpunkt dafür ist, nicht in die »Falle der Politik« zu tappen – wie sie Emma Goldman nannte –, sondern die eigenen Perspektiven, Handlungsansätze und Gruppen zu stärken und zu vermitteln.

Beispiele dafür sind bekannte Projekte wie die Autonomiebestrebungen in Rojava und Chiapas, ebenso wie die historische Selbstorganisation der Arbeiter*innen, die autonome Bewegung der 70er/80er Jahre oder munizipalistische/kommunalistische Bewegungen heute. Dabei geht es nicht darum, z.B. diese Bewegungen zu verklären oder als besser darzustellen, sondern die Unterschiede in den Politikverständnissen herauszuarbeiten, um sie weiter zu diskutieren. Wie immer gibt es dazu verschiedene Positionen und gilt es die Auseinandersetzungen und Debatten darum weiterzuführen.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —     Thomas Rowlandson (1756–1827), Breaking Up of the Blue Stocking Club. Etching, hand-colored (London: Thomas Tegg, 1815. NYPL, The Carl H. Pforzheimer Collection of Shelley and His Circle)

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Fall Credit Suisse

Erstellt von DL-Redaktion am 28. März 2023

Zitate für die Geschichtsbücher zum Fall Credit Suisse

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von        :      Urs P. Gasche / 

Es gab Schönredner, die heute nicht gern an ihre Aussagen erinnert werden. Und es gab Warner, die jetzt zu wenig zu Wort kommen.

Trotz der weltweiten Finanzkrise von 2008 hatten Behörden und Politiker die Eigenkapitalvorschriften für Banken zu wenig verschärft und unzulängliche Notfallpläne erarbeitet. Das genügte jedoch, dass einige Politiker und Experten der Öffentlichkeit Sand in die Augen streuten und zuliessen, dass Grossbanken mit Hilfe ihrer einflussreichen Lobby noch heute mit Fremd- und Eigenkapital weitgehend unbehindert hochriskante Wettgeschäfte eingehen können – auch unkontrolliert ausserhalb der Börsen (siehe «150 Billionen Franken Spekulationsgelder sind ausser Kontrolle»).

Unter anderem dies führte jetzt zum günstigen Verkauf der Credit Suisse an die Grossbank UBS, um damit «eine internationale Finanzkrise zu verhindern» (Urban Angehrn, Direktor der Finanzaufsicht Finma, am 26.3.2023 in der Sonntags-Zeitung).

Neben verharmlosenden Stimmen fehlten auch warnende nicht, aber die Politik überhörte sie. Infosperber dokumentiert eine Auswahl davon. Die Reihenfolge ist chronologisch und die Quellen geben den Ort der Zitate an.

Einige Verharmloser und Beruhiger

Thomas Jordan, Nationalbankpräsident:

«Um Staaten und Steuerzahler aus der Geiselhaft von Grossbanken zu befreien, gibt es grosse Fortschritte zu verzeichnen. Das betrifft zum Beispiel die Kapitalaufschläge.»

22.11.2012, Tages-Anzeiger

Markus Rohner, Chef Notfallplanung bei der UBS:

«Für die Abwicklungsfähigkeit gibt es ein sehr detailliertes Drehbuch. Es zeigt, wie man das systemkritische Geschäft in der Schweiz weiterführen kann, selbst wenn andere Teile des Konzerns abgewickelt werden müssten.»

6.6.2017, NZZ

Kommission der EU:

Die EU-Kommission zieht ihren Vorschlag für ein Trennbankensystem zurück, wonach die grössten Banken in der EU keinen Eigenhandel mehr hätten betreiben dürfen und diesen in eine selbständige Einheit ausgliedern müssen. Die Mehrheit im EU-Parlament habe argumentiert, dass die Finanzstabilität «mit anderen Massnahmen» angegangen worden sei.

26.10.2017, NZZ

Aymo Brunetti, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bern:

«Für die Grossbanken UBS und CS ist das ‹Too big to fail›-Problem stark eingedämmt. Sie können in Konkurs gehen, ohne die ganze Volkswirtschaft mit in den Abgrund zu ziehen […] Bei den Grossbanken sollte technisch nun bald alles aufgegleist sein, dass man sie nicht mehr retten muss.»

1.9.2018, Tages-Anzeiger

Tobias Straumann, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich:

«Bei den Banken ist es recht gut gelungen, die Konsequenzen für die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu ziehen, auch wenn man die Anforderungen an die Reserven ruhig noch verschärfen könnte.»

9.10.2022, Tages-Anzeiger

Aymo Brunetti, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bern

«Wir befinden uns jetzt in einer fundamental anderen Situation als 2008: Die systemrelevanten Banken sind heute aufgrund der gesetzlichen Regulierung viel widerstandskräftiger. Und es existiert ein Rettungsplan für die systemrelevanten Teile im Falle eines Konkurses […] Dann muss der Staat nicht wieder eingreifen.»

10.10.2022 St. Galler Tagblatt

Stellungnahme von Professor Aymo Brunetti (erst am 27. März um 16.00 Uhr eingetroffen)

Die Frage, wie er heute zu diesem Zitat stehe, beantwortete Brunetti wie folgt:

«Zu dieser Aussage stehe ich. Dank der going concern Vorgaben, das heisst den deutlich erhöhten Kapital- und Liquiditätsvorschriften, wenn die Bank lebt, sind sie heute deutlich widerstandskräftiger. Das heisst nicht, dass sie jede Krise überleben können, aber dass sie deutlich mehr Krisen überstehen können als noch 2008. Ohne diese Vorgaben hätte es wohl schon in der Pandemie Finanzturbulenzen grösseren Ausmasses gegeben und die CS hätte den Sturm vom Herbst 2022 nicht überstanden. Der Rettungsplan für den gone concern, also wenn die Bank stirbt, existiert und ist von der FINMA für die Abspaltung des systemrelevanten Schweizer Teils akzeptiert, aber er wurde nicht aktiviert, weil sich eine weniger destabilisierende Lösung fand, als die Aufspaltung und Abwicklung. Damit hat der Staat in einer Güterabwägung hauptsächlich mit Liquiditätsstützung tatsächlich eingegriffen. Auf jeden Fall braucht es jetzt eine genaue Analyse, inwieweit eine Auslösung des Notfallplanes aus Sicht der globalen Finanzstabilität akzeptabel gewesen wäre und je nach Ergebnis deutliche oder weniger weitgehende, zusätzliche Regulierungen.»

Aufsichtsbehörde Finma und Schweizerische Nationalbankam 15. März, vier Tage vor dem Verkauf der CS an die UBS

«Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht FINMA und die Schweizerische Nationalbank SNB informieren, dass von den Problemen gewisser Bankinstitute in den USA keine direkte Ansteckungsgefahr für den Schweizer Finanzmarkt ausgeht. Die für die Schweizer Finanzinstitute geltenden strengen Kapital- und Liquiditätsanforderungen sorgen für die Stabilität der Institute. Die Credit Suisse erfüllt die an systemrelevante Banken gestellten Anforderungen an Kapital und Liquidität.»

15.3.2023, Communiqué der Finma und der Nationalbank

Tobias Straumann, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich, zwei Tage vor der CS-Pleite, nachdem die SNB 50 Milliarden-Franken Liquiditätshilfe sprach:

«Die Credit Suisse hat bis jetzt lediglich eine kurzfristige Liquiditätshilfe – einen Kredit – erhalten […] Die Regulierungen wurden ausgebaut, da haben wir sicher unsere Lehren gezogen […] Ich glaube nicht, dass es zu mehr Regulierungen kommen wird. Es gibt ja – anders als etwa im Nachgang der Finanzkrise von 2008 – kein systemisches Problem. Unter anderem dank den Regulierungen, die damals beschlossen wurden.»

18.3.2023, NZZ

Stellungnahme von Professor Tobias Straumann

Die Frage, wie er heute zu diesem Zitat stehe, beantwortete Straumann wie folgt:

«Während eines Bankruns sollte man nicht Öl ins Feuer giessen, vor allem wenn man nicht weiss, wie schlimm der Bankrun ist. Die Schweizer Behörden haben uns damals mit guten Gründen im Dunkeln gelassen, um die Situation bis zum Wochenende zu stabilisieren.

Weitere Regulierungen bringen meines Erachtens nichts. Man sollte den Leuten endlich mal ehrlich sagen, dass sich Bankenkrisen nicht verhindern lassen. Wir werden früher oder später auch mit der neuen UBS ein Problem haben. Es braucht kein neues Gesetz, sondern einen konkreten Plan, wie man in einer künftigen Krise umgehen muss. Wahrscheinlich muss man die UBS verstaatlichen und zerlegen.»

Etliche Warner

Peter V. Kunz, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bern:

«Eine sinnvolle Regulierung der Finanzindustrie erscheint unerlässlich […] Doch ich war lange genug in der Wirtschaftsadvokatur tätig, um aus eigener Erfahrung zu wissen, dass eine detaillierte Regulierung die Rechtsunterworfenen (und deren Berater) umso mehr anspornt, Lücken zu finden oder zu erfinden. Keine Regulierung wird jemals so effizient sein wie die Kreativität der Wirtschaftsjuristen!»

2010, UniPress

Rudolf H. Strahm, früherer Preisübewacher:

«Man muss den spekulativen Eigenhandel der Grossbanken einschränken. Eigenhandel ist volkswirtschaftlich schädlich und dient nur dazu, die Boni der Investmentbanker aufzufetten. Und weiter muss man das Schattenbanking ausserhalb der Banken mit Hedgefonds und anderen hochspekulativen Finanz-Massenvernichtungswaffen der Finanzmarktaufsicht unterstellen. Denn sie stellen heute das global grösste Systemrisiko dar.»

20.9.2011, Tages-Anzeiger

Peter A. Fischer, Wirtschaftsredaktor NZZ:

«Das europaweit zu beobachtende Fehlen des politischen Willens, unsolide Institute abzuwickeln, ist viel gefährlicher als Mängel bei der Aufsicht […] Die Eigenkapitalausstattung der meisten Banken wirkt […] immer noch recht dünn. Bei den Grossbanken beträgt sie nun rund 5 Prozent.»

31.3.2012, NZZ

Harvay Rosenblum, Forschungschef der Federal Reserve Bank of Dallas:

«Die Problematik ‹Too big to fail› ist die grösste Gefahr für den Wohlstand Amerikas […] Die Grösse erhöht die Komplexität und diese dient letztlich der Verschleierung, so dass weder Geschäftsleitung noch Aufsichtsbehörden Schritt halten können. Als Folge davon sind Bilanzen der Grossbanken noch immer voller toxischen Aktiven […] Das Phänomen von ‹Too big to fail› ist eine Abart des Kapitalismus. Die Wahrnehmung, Marktregeln gälten nicht für die Reichen, Mächtigen und gut Vernetzten hat fatale Auswirkungen. Weder Rechenschaft abzulegen noch Verantwortung zu übernehmen, hat nichts mit Kapitalismus zu tun […] Die Lösung, Grossbanken zu verkleinern, ist günstiger als das Festhalten am Status quo.»

19.5.2012, NZZ

Donato Masciandaro, Wirtschaftsprofessor und Regulierungsspezialist an der Mailänder Elite-Universität Bocconi:

«Die Finanzbranche ist zu gross und zu sehr ineinander verwoben. Dagegen müsste man erstens die Finanzwelt kleiner machen und die Hebeleffekte verringern. Weil es unmöglich ist, die Risiken zu messen, muss die Dimension der Finanzaktivitäten verringert werden.»

27.6.2012, NZZ-Beilage

Gar Alperovitz, Professor für politische Ökonomie an der University of Maryland:

«Hochbezahlte Bank-Lobbyisten sorgen dafür, dass Grossbanken nie wirksam kontrolliert werden können wie andere Unternehmen […] Sehr grosse Konzerne (wie Grossbanken) können Regulierungen und Anti-Trust-Gesetze leicht umgehen. Henry C. Simons, führender Vertreter der Chicagoer Schule, sagte schon 1948, dass die meisten Konzerne ihre Grösse nicht damit rechtfertigen können, dass sie eine höhere Produktivität möglich machen. Simons folgerte: ‹Jeder Grosskonzern sollte entweder harten Wettbewerbsbedingungen unterworfen sein oder dann verstaatlicht werden›. Ich erinnere daran, dass die USA General Motors im Jahr 2009 verstaatlicht haben (Heute gehört GM mehrheitlich Investmentgesellschaften wie Blackrock, Vanguard u.a. Red.). Auch die AIG, eine der grössten Versicherungskonzerne, wurde nationalisiert (Heute gehört GM mehrheitlich Investmentgesellschaften wie Blackrock, Vanguard u.a. Red.).»

23.7.2012, New York Times

Rudolf H. Strahm, früherer Preisübewacher:

«Gewerkschafter Corrado Pardini und Christoph Blocher schlagen gemeinsam eine Trennung der Bankgeschäfte vor: in eine Geschäftsbank, welche die Volkswirtschaft mit Krediten versorgt, und eine Investmentbank, die spekulative Geschäfte mit Derivaten und Devisengeschäften abwickelt. Die USA praktizierten dies von 1933 bis 1999.»

17.9.2013, Tages-Anzeiger

Marc Chesney, Finanzprofessor an der Universität Zürich:

«Grossbanken sind zu wenig reguliert und in ein hochriskantes Wett-Casino verstrickt. Sie sollten im Rahmen eines Trennbankensystems in Investment- und Geschäftsbanken aufgetrennt werden. Die Eigenkapitalanforderungen für Banken sollten mindestens 20 bis 30 Prozent betragen. Over-the-Counter-Transaktionen sollten verboten sein. Sie schaffen zusätzliche Risiken. Derivative Produkte sollten über organisierte Börsen mit zentraler Clearingstelle gehandelt werden, wo sie kontrolliert, registriert und öffentlich gemacht würden. Der Kauf eines CDS (zur Risikoabsicherung) sollte das Halten eines darauf basierenden Wertschriftentitels bedingen. Rating-Agenturen sollten unter öffentlicher Kontrolle stehen.»

10.10.2013, Infosperber

Martin Hellwig, Direktor des Max-Planck-Instituts und Autor des Buches «Des Bankers neue Kleider»:

«Die neuen Mindestanforderungen der Banken nach ‹Basel III› sind völlig ungenügend, Banken sollten eine ungewichtete Eigenkapitalquote von 20 bis 30 Prozent vorweisen müssen.»

19.11.2013, Tages-Anzeiger

Martin Hellwig, Direktor des Max-Planck-Instituts und Autor des Buches «Des Bankers neue Kleider»:

«Die deutlich erhöhten risikogewichteten Eigenkapitalquoten sind manipulierbar […] Ganz wichtige Risiken werden überhaupt nicht erfasst […] Beispielsweise haben Kredite an Regierungen, also Staatsanleihen, die auf die lokalen Währungen lauten, ein Risikogewicht von null.»

29.8.2014, Tages-Anzeiger

Mark Dittli, Chefredaktor der «Finanz und Wirtschaft»:

«Es ist eine Utopie, dass man Banken einfach untergehen lassen kann wie jedes andere Unternehmen. Sie geniessen eine implizite Staatsgarantie […] Die beste Regulierung ist eine überdurchschnittlich robuste Eigenkapitaldecke. Sie wird an der Börse belohnt.»

Mark Dittli, Chefredaktor der «Finanz und Wirtschaft»

Robert U. Vogler, ehemaliger Pressesprecher der SGB (heute UBS):

«Wer glaubt, man könne im Zeitalter des weltweiten computergestützten Börsenhandels, rund um die Uhr, in letzter Minute noch einen Schutzschild vor den systemrelevanten Banken aufbauen, irrt gewaltig […] Ein Sockel massiver Eigenmittel ist dringende Voraussetzung für solide Banken (wohl mindestens ungewichtete 10 Prozent, besser noch etwas darüber).»

20.11.2015, NZZ

Neel Kashkari, Präsident der Federal Reserve Bank of Minneapolis:

«Genügend hohe Eigenkapitalpolster sind der einzige sichere erprobte Wert im Kampf gegen Krisen. Ich schlage eine ungewichtete Eigenkapitalquote von 25 Prozent vor.»

19.2.2016, NZZ / New York Times

Thorsten Polleit, Chefökonom von Degussa Goldhandel und Honorarprofessor an der Universität Bayreuth:

«In den Bilanzen der Banken in Europa stehen Verbindlichkeiten über rund 5400 Milliarden Euro, während deren liquide Mittel auf den Konten bei der EZB lediglich 680 Milliarden Euro betragen […] Das Problem ist so gross, dass es sich nicht mit den ‹bail-in›-Regeln lösen lässt.»

15.4.2016, NZZ

Hans Gersbach, Makroökonomie-Professor an der ETH Zürich:

«Es ist eine absolute Illusion zu glauben, dass sich internationale Grossbanken wie die UBS oder die Credit Suisse in einer Krise geordnet beerdigen lassen.»

21.12.2016, NZZ

Didier Sornette, Professor für Entrepreneurial Disks an der ETH Zürich:

«Ein wahnhafter Glaube an endloses Wachstum hat zu einer extremen Abhängigkeit der Realwirtschaft von der Finanzwelt geführt.»

9.8.2017, NZZ

Michael Ferber, Börsenredaktor der NZZ:

«Es ist davon auszugehen, dass der Markt auch zehn Jahre nach dem Beginn der Finanz- und Schuldenkrise voll ist mit komplexen, wenig transparenten Finanzinstrumenten […] Die Finanzhäuser verdienen an diesen komplexen und exotischen Instrumenten gut, weil sie diese bei Kunden als Innovation vermarkten und die Kosten verschleiern können.»

8.2.2018, NZZ

Hansueli Schöchli, NZZ-Wirtschaftsredaktor:

«Notfallpläne bedeuten nicht, dass sie in der Krise auch sicher funktionieren würden […] Aber es mag bedeuten, dass die Notfallpläne unter Umständen mit einer Wahrscheinlichkeit von deutlich mehr als 10 oder 20 Prozent funktionieren könnten.»

26.2.2020, NZZ

Monika Roth, frühere Bankverein-Vizedirektorin und dann Professorin für Compliance und Finanzmarktrecht an der Hochschule Luzern:

«Die CS-Skandale sind ein Desaster für den Schweizer Finanzplatz. Es ist völlig unklar, ob die Bank sich wieder aufrichten kann … Leider ist heute sogar die Abwicklung ein realistisches Szenario.»

31.7.2022, Blick

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Knapp überm Boulevard

Erstellt von DL-Redaktion am 28. März 2023

Demokratie als Handelsware

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Welch freier Mensch würde sich von dieser Ware einparken lassen ?

Eine Kolumne von Isolde Charim

In einem Essay in der Zeit stellte Albrecht Koschorke kürzlich fest: Die Tage des Westens sind gezählt. Auch wenn Russland seinen brutalen Angriffskrieg in der Ukraine aufgrund der Hilfe des Westens nicht gewinnt. Der politische Liberalismus befindet sich im Untergang.

Jener Liberalismus, der versprach, Fortschritt, Demokratie und Marktwirtschaft zu verbinden. Die letzte Version dieses Glaubens sei die Formel „Wandel durch Handel“ gewesen. Jene Vorstellung habe Russland ja unmissverständlich widerlegt.

Ganz woanders – in Israel – zeigt sich nun, dass dies nicht die letzte Version war. Die Lage ist kompliziert. Das erste, gänzlich rechtsgerichtete Kabinett in der Geschichte des Landes unter Führung des unter Korruptionsverdachts stehenden Benjamin Netanjahu spielt das gesamte Repertoire des politischen Anti-Liberalismus durch: Ein groß angelegter Angriff auf Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung und Bürgerrechte. Im Zentrum steht ein Umbau des Rechtswesen, der darauf zielt, juristische Unabhängigkeit einzuschränken. Das betrifft zum einen die Bestellung der Höchstrichter, die nunmehr unter Regierungskontrolle stehen soll. Zum anderen ermöglicht es dem Parlament, Entscheidungen des Obersten Gerichts zu widerrufen – also de facto Gesetze zu beschließen, die als verfassungswidrig abgelehnt wurden. Damit wird das Oberste Gericht als Kontrollinstanz und wichtigster Gegenspieler der Regierung ausgehebelt.

Dagegen erhebt sich seit Wochen massenhafter und eindrucksvoller Protest. Die Zivilgesellschaft hat auf der Straße den Druck auf die Regierung erhöht. Neben anhaltenden Protesten der israelischen Bevölkerung tritt aber noch etwas anderes zutage: leiser, aber nicht weniger wirkmächtig. Es ist das, was die israelische Zeitung Ha’aretz die „Achillesferse“ der amtierenden Regierung genannt hat: die Wirtschaft. Zahlreiche namhafte Ökonomen warnen in einem offenen Brief vor den Folgen dieser autoritären Politik für die israelische Wirtschaft. Der Staatsumbau schade dem Ansehen des Landes und schrecke Investoren ab. Es gebe internationale Befürchtungen. Eine Herabstufung des Kreditrankings drohe. Auch die Währung sei betroffen.

Vor allem die wichtige Hightechbranche spürt die Folgen des Imageschadens. Geldgeber drohen sich abzuwenden. Erste Unternehmen haben ihre Investitionen abgezogen – unter explizitem Hinweis auf den Justizumbau. Andere folgen. Die USA warnen vor einer Politik, die nicht im Einklang mit ihren Interessen und Werten stehe. Das ist die entscheidende Verquickung: die Durchdringung von Interessen und Werten. Genau dies wird an den Stellungnahmen seitens der Ökonomie deutlich.

Schafherde mit Schäfer.jpg

Die Wirtschaft wird hier zu einem wirkmächtigen politischen Akteur. Nicht in dem alten Sinne, dass sie im Stillen sogenannte Lobbyarbeit betreibt – also Druck auf die Politik ausübt, um ihre Interessen durchzusetzen. Nein, die Ökonomie wird in Israel zum politischen Akteur, indem sie gewissermaßen als „Hüterin“ der Demokratie auftritt.

Das gegenwärtige Konfusionsspiel der politischen Kategorien – wie etwa jenes zwischen links und rechts – wird hier auf die Spitze getrieben: Wirtschaft setzt sich für demokratische „Werte“ ein, um ihre ökonomischen Interessen zu schützen. Ist das nun gut oder schlecht? Fortschritt oder nicht?

Quelle          :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben      —   Paris – Boulevard Saint-Denis mit der Porte Saint-Denis (September 2014)

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Mensch und Maschine

Erstellt von DL-Redaktion am 27. März 2023

Die KI orientiert sich ausschließlich an Wahrscheinlichkeiten

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Sehen wir so die Politiker auf ihren Parteibühnen oder im Reichstag ?

Ein Debattenbeitrag von Nicolaus Wilder

Die Angst, die Maschine könne den Mensch ersetzen, ist so alt wie die Maschine. Bewahrheitet hat sie sich nie, und das wird sie auch bei der KI nicht. Wahrheit ist für sie kein orientierungsstiftendes Konzept.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Eine künstliche textgenerierende Intelligenz – nennen wir sie Skynet – bringt die Menschheit im Jahre 2050 dazu, sich selbst auszurotten. Nun wurde sie aber von den Menschen darauf programmiert, sich weiterzuentwickeln, also zu lernen. Die hinter der KI stehende Logik ist dabei kein Hexenwerk, denn letztlich reagiert sie auf einen gegebenen Input mit einer Aussage, die sich anhand ihrer Trainingsdaten als die wahrscheinlichste ableiten lässt. Jetzt ist die KI so leistungsstark, dass alle von ihr generierten Outputs automatisch in den Trainingsdatensatz einfließen. Dadurch entsteht dann folgender Zirkel: Aus den vielfältigen theoretischen Antwortmöglichkeiten wählt sie die wahrscheinlichste aus. Diese wahrscheinlichste Antwort fließt dann wieder in den Trainingsdatensatz ein und erhöht dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Antwort bei der nächsten Anfrage wieder ausgespuckt wird, da diese Wortreihenfolge im Trainingsdatensatz nun noch häufiger vorkommt, damit also wahrscheinlicher wird.

Das bedeutet, dass mit jeder Trainingsrunde die unwahrscheinlichen Möglichkeiten unwahrscheinlicher werden und die wahrscheinlichen wahrscheinlicher. Dieser Prozess führt aufgrund der Hebb’schen Lernregel neuronaler Netze notwendigerweise – metaphorisch gesprochen – zum Big Freeze der Textgenerierung, dem absoluten Stillstand, weil alle zunächst gegebenen Möglichkeiten auf eine einzige reduziert werden. Wenn textgenerierende KIs also anfangen, sich selbst zu trainieren, dann landen am Ende Input, Output und Trainingsdaten alle bei 42, die Antwort auf die – um es mit Douglas Adams Worten zu sagen – „endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“.

Was aus diesem Gedankenexperiment folgt, soll im Folgenden exemplarisch für Wissenschaft und Journalismus skizziert werden. Generative KIs sind bei der Weiterentwicklung notwendigerweise angewiesen auf menschlichen Input. Sie reproduzieren stets das Wahrscheinlichste, erhalten damit zwingend den Mainstream und können so nicht grundlegend innovativ sein. Eine KI, die ausschließlich mit Daten trainiert wurde, die sagen, dass die Welt eine Scheibe ist, kommt von sich aus nicht auf die Idee, dass sie vielleicht doch eine Kugel sein könnte. Noch weniger macht sie sich mit einem Schiff auf den Weg, um das zu beweisen, denn Wahrheit ist für sie nur eine Zeichenreihenfolge und kein orientierungsstiftendes Konzept. Die KI orientiert sich ausschließlich an Wahrscheinlichkeiten.

Für die Wissenschaft heißt das, dass viele Dinge von KIs übernommen werden können, die in der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden liegen: recherchieren, zusammenfassen, sortieren, gewichten sowie mitunter das Verfassen von Standardlehrbüchern oder Rezensionen. Dem Menschen schafft sie dadurch Zeit und Raum, sich auf das Innovative, das im gegenwärtigen Paradigma Unwahrscheinliche, dem Denken in alternativen Möglichkeiten zu konzentrieren. Das ist das Wesen des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts, die Suche nach dem einen schwarzen Schwan.

Ähnliches gilt für den Journalismus. Niemand muss sich noch mit undankbaren Aufgaben aufhalten, Meldungen großer Nachrichtenagenturen umzuschreiben. Stattdessen wird Raum geschaffen für investigativen und oder lokalen Qualitätsjournalismus, der sich genau darin widerspiegelt, dass er nicht das Übliche reproduziert, sondern das Unbekannte aufdeckt oder über das Einzelne, das lokal Besondere berichtet, was der KI egal ist.

KI richtig eingesetzt hat also das Potenzial, uns von einigen leidigen Dingen des Alltags zu befreien oder zumindest die dafür aufzuwendende Zeit zu verkürzen und uns damit den Raum zu geben, den viele aus ihrem eigenen Berufsverständnis heraus in der Vergangenheit schmerzlich vermisst haben. Richtig eingesetzt können KIs uns sowohl für innovative und kreative Schaffens­prozesse als auch für Reflexionsprozesse Zeit verschaffen, was zweifelsfrei beiden oben genannten Beispielen zugutekäme. Ein derartiger Einsatz von KIs kann aber nur dann gelingen, wenn wir anfangen, die jahrhundertelang etablierte dystopisch-dichotome Logik von Mensch gegen Maschine zu überwinden hin zu einer komplementären Logik, deren Fruchtbarkeit genau in der Interaktion von Mensch mit Maschine besteht.

Quelle       :         TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Kapitalismus-Kannibalismus

Erstellt von DL-Redaktion am 27. März 2023

Die multidimensionale Krise und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts

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Von Nancy Fraser

Seit dem Ende der Systemkonkurrenz, dem Untergang des realexistierenden Sozialismus, gibt es auf der Welt nur noch ein herrschendes System, wenn auch in durchaus unterschiedlicher Ausprägung, nämlich den Kapitalismus. Da aber die globalen Krisen nicht ab-, sondern zunehmen und sich wechselseitig verstärken, stellt sich eine entscheidende Frage: Was stimmt nicht mit dem Kapitalismus? Kritiker, die den Kapitalismus aus einem eher eng gefassten Blickwinkel, als bloße Wirtschaftsform, betrachten, erkennen an ihm drei wesentliche Fehler: Ungerechtigkeit, Irrationalität und Unfreiheit.

Erstens sehen sie die zentrale Ungerechtigkeit des Systems in der Ausbeutung der Klasse der freien, eigentumslosen Arbeiter durch das Kapital. Letztere arbeiten viele Stunden umsonst und produzieren enormen Reichtum, an dem sie keinen Anteil haben. Der Nutzen fließt vielmehr der Kapitalistenklasse zu, die sich die überschüssige Arbeit und den dadurch erzeugten Mehrwert aneignet und letzteren für ihren eigenen, vom System diktierten Zweck reinvestiert – nämlich um immer mehr davon zu akkumulieren. Die noch schwererwiegendere Folge ist das unerbittliche exponenzielle Wachstum des Kapitals als feindselige Macht, die genau die Arbeiter beherrscht, die es produzieren. Schauplatz dieser Ausbeutung ist die Sphäre der Produktion.

Zweitens besteht nach dieser Sichtweise eine der entscheidenden Irrationalitäten des Kapitalismus in seiner eingebauten Tendenz zu wirtschaftlichen Krisen. Ein Wirtschaftssystem, das auf die unbegrenzte Akkumulation von Mehrwert ausgerichtet ist, der von profitorientierten Unternehmen privat angeeignet wird, ist von Natur aus selbstdestabilisierend. Das Streben nach Kapitalvermehrung durch Produktivitätssteigerung mittels technischen Fortschritts führt immer wieder zu einem Fall der Profitrate, zur Überproduktion von Waren und zur Überakkumulation von Kapital. Reparaturversuche wie die Finanzialisierung schieben den Tag der Abrechnung nur hinaus und sorgen dafür, dass er umso schlimmer ausfällt, wenn er denn kommt. Im Allgemeinen wird der Verlauf der kapitalistischen Entwicklung von periodischen Wirtschaftskrisen unterbrochen: von Boom-Bust-Zyklen, Börsencrashs, Finanzpaniken, Pleitewellen, massiver Wertvernichtung und Massenarbeitslosigkeit.

Und schließlich drittens besagt die eher enge Sichtweise, dass der Kapitalismus zutiefst unfrei und damit konstitutiv undemokratisch ist. Zugegeben, er verspricht oftmals – gerade in seiner europäischen Ausprägung – Demokratie im politischen Bereich. Dieses Versprechen wird jedoch systematisch im Ökonomischen durch soziale Ungleichheit einerseits und durch Klassenmacht andererseits unterlaufen. Insbesondere der kapitalistische Arbeitsplatz ist in den meisten Ländern von jeglichem Anspruch auf demokratische Selbstverwaltung ausgenommen. In dieser Sphäre befiehlt das Kapital und die Arbeiter gehorchen.

Die Probleme des Kapitalismus ergeben sich gemäß dieser Perspektive aus der inneren Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft, seine Fehler liegen also primär in seiner wirtschaftlichen Organisation. Dieses Bild ist keineswegs falsch, aber unvollständig. Es zeigt vor allem die dem System inhärenten wirtschaftlichen Übel korrekt auf, versäumt es aber zugleich, eine Reihe von nichtökonomischen Ungerechtigkeiten, Irrationalitäten und Unfreiheiten zu erfassen, die ebenso konstitutiv für das System sind. Um diese zu identifizieren, verlangt der Begriff „Kapitalismus“ nach einer grundsätzlichen Klärung. Mit dem Wort wird gemeinhin ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das auf Privateigentum und Markttausch, auf Lohnarbeit und gewinnorientierter Produktion beruht. Aber diese Definition ist zu eng gefasst und verschleiert eher das wahre Wesen des Systems, als dass sie es offenlegt.

„Kapitalismus“, so werde ich im Folgenden argumentieren, bezeichnet etwas weit Größeres, Umfassenderes, nämlich eine Gesellschaftsordnung, die eine profitorientierte Wirtschaft dazu befähigt, die außerökonomischen Stützen, die sie zum Funktionieren braucht, auszuplündern: Reichtum, der der Natur und unterworfenen Bevölkerungen entzogen wird; vielfältige Formen von Care-Arbeit, die chronisch unterbewertet, wenn nicht gar völlig verleugnet werden; öffentliche Güter und staatliche Befugnisse, die das Kapital sowohl benötigt als auch zu beschneiden versucht; die Energie und Kreativität der arbeitenden Menschen. Obwohl sie nicht in den Unternehmensbilanzen auftauchen, sind diese Formen des Reichtums wesentliche Voraussetzungen für die Profite und Gewinne, die dort sehr wohl verzeichnet sind. Als wesentliche Grundlagen der Akkumulation stellen auch sie konstitutive Bestandteile der kapitalistischen Ordnung dar.

Kapitalismus bezeichnet also nicht nur eine Wirtschaftsform, sondern eine Gesellschaftsform, die es einer offiziell als kapitalistisch bezeichneten Wirtschaft erlaubt, monetären Wert für Investoren und Eigentümer anzuhäufen, während sie den nicht ökonomisierten Reichtum aller anderen verschlingt. Indem sie diesen Reichtum den Konzernen auf dem Silbertablett serviert, lädt sie diese ein, sich an unseren kreativen Fähigkeiten und an der Erde, die uns ernährt, zu laben – ohne die Verpflichtung, das, was sie verbrauchen, wieder aufzufüllen, oder das, was sie beschädigen, zu reparieren.

Damit aber sind den verschiedensten Problemen Tür und Tor geöffnet. Zugespitzt gesagt: Wie der Ouroboros, das alte Bildsymbol einer den eigenen Schwanz fressenden Schlange, ist die kapitalistische Gesellschaft darauf ausgerichtet, ihre eigene Substanz zu verschlingen. Sie ist ein wahrer Dynamo der Selbstdestabilisierung, der regelmäßig Krisen auslöst, während er routinemäßig die Grundlagen unserer Existenz auffrisst.

Eine seltene Art von Krise in Form mehrerer Fressanfälle

Der Kapitalismus ist also ein kannibalistisches System, dem wir die gegenwärtige globale Krise verdanken. Offen gesagt, handelt es sich um eine seltene Art von Krise, in der mehrere Fressanfälle zusammentreffen. Was wir dank der jahrzehntelangen Finanzialisierung erleben, ist nicht „bloß“ eine Krise der grassierenden Ungleichheit und der prekären Niedriglohnarbeit; auch nicht „bloß“ eine Krise der Fürsorge oder der sozialen Reproduktion; auch nicht „bloß“ eine Krise der Migration und der rassistischen Gewalt. Es handelt sich auch nicht „einfach“ um eine ökologische Krise, in der ein sich aufheizender Planet tödliche Seuchen ausspuckt, und nicht „nur“ um eine politische Krise, die sich durch eine ausgehöhlte Infrastruktur, einen verstärkten Militarismus und dadurch auszeichnet, dass überall auf dem Globus Politiker Erfolg haben, die sich als starke Männer (strong men) gerieren. Oh nein, es ist viel schlimmer: Wir haben es mit einer allgemeinen Krise der gesamten Gesellschaftsordnung zu tun, in der all diese Katastrophen konvergieren, sich gegenseitig verschärfen und uns zu verschlingen drohen. Legt man dieses „kannibalische“ Verständnis des Kapitalismus zugrunde, kommen diese fundamentalen Probleme klar zum Vorschein.

Erstens fördert die kannibalische Sicht auf den Kapitalismus einen erweiterten Katalog von Ungerechtigkeiten zutage. Diese sind aber eben nicht ausschließlich in der Ökonomie des Systems begründet, sondern in den Beziehungen zwischen der kapitalistischen Ökonomie und ihren nichtökonomischen Bedingungen. Ein Beispiel dafür ist die Trennung zwischen wirtschaftlicher Produktion, bei der die notwendige Arbeitszeit in Form von Geldlöhnen vergütet wird, und sozialer Reproduktion, bei der die Arbeit unbezahlt oder unterbezahlt ist, naturalisiert oder sentimentalisiert und zum Teil mit Liebe vergütet wird. Diese historisch geschlechtsspezifische Aufteilung verankert wichtige Formen der Herrschaft im Herzen der kapitalistischen Gesellschaften: die Unterordnung der Frau, die Geschlechterbinarität und die Heteronormativität. In ähnlicher Weise errichten kapitalistische Gesellschaften eine strukturelle Trennung zwischen freien „Arbeitern“, die ihre Arbeitskraft gegen Lohn zur Deckung ihrer Reproduktionskosten eintauschen können, und abhängigen „Anderen“, deren Körper, Land und Arbeitskraft einfach beschlagnahmt werden können. Diese Teilung fällt mit der globalen colour line zusammen. Sie trennt die „bloß“ Ausbeutbaren von den offen Enteigenbaren und rassifiziert letztere Gruppe als von Natur aus verletzlich. Das Ergebnis ist die Verfestigung einer Reihe von strukturellen Ungerechtigkeiten, darunter rassistisch motivierte Unterdrückung, (alter und neuer) Imperialismus, die Enteignung von Indigenen und Völkermord.Schließlich führen kapitalistische Gesellschaften eine scharfe Trennung zwischen Menschen und nichtmenschlicher Natur ein, die nicht mehr demselben ontologischen Universum angehören. Die nichtmenschliche Natur fungiert allein als Zapfhahn und Senke, weshalb sie sich brutaler Instrumentalisierung ausgesetzt sieht. Selbst wenn man dies nicht als Ungerechtigkeit gegen die „Natur“ (oder gegen nichtmenschliche Tiere) betrachten will, ist es doch zumindest eine Ungerechtigkeit gegen bestehende und künftige Generationen von Menschen, denen ein zunehmend unbewohnbarer Planet hinterlassen wird. Generell macht also eine erweiterte Sicht der kapitalistischen Gesellschaft einen erweiterten Katalog struktureller Ungerechtigkeiten sichtbar, der die Klassenausbeutung einschließt, aber weit darüber hinausgeht.

Die systematische Zerstörung der eigenen Grundlagen

Eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus müsste neben den ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen auch diese anderen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten beseitigen. Sie darf sich nicht darauf beschränken, die Organisation der wirtschaftlichen Produktion zu verändern, sondern muss auch deren Verhältnis zur gesellschaftlichen Reproduktion und damit die Geschlechter- und Sexualordnung transformieren. Ebenso muss sie der Mitnahmementalität des Kapitals mit Blick auf die Natur und der Enteignung des Reichtums der unterjochten Bevölkerungen und damit der rassistischen und imperialistischen Unterdrückung ein Ende machen. Kurz gesagt: Wenn der Sozialismus die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus beseitigen soll, muss er nicht „nur“ die kapitalistische Wirtschaft, sondern die gesamte institutionalisierte Ordnung der kapitalistischen Gesellschaft verändern.

Aber damit noch nicht genug. Das erweiterte Konzept weitet auch unseren Blick darauf, was als kapitalistische Krise gilt. Wir können auf diese Weise einige eingebaute selbstdestabilisierende Tendenzen erkennen, die über die der kapitalistischen Wirtschaft innewohnenden Dynamiken hinausgehen.

Erstens gibt es eine systemische Tendenz, die soziale Reproduktion zu kannibalisieren – und damit Fürsorgekrisen zu provozieren. In dem Maße, in dem das Kapital versucht, die Bezahlung der unbezahlten Care-Arbeit, von der es abhängig ist, zu vermeiden, übt es regelmäßig enormen Druck auf diejenigen aus, die diese Arbeit in erster Linie leisten: Familien, Gemeinschaften und vor allem Frauen. Die gegenwärtige, finanzialisierte Form der kapitalistischen Gesellschaft erzeugt heute genau eine solche Krise, da sie sowohl eine Kürzung der öffentlichen Bereitstellung sozialer Dienstleistungen als auch eine Erhöhung der Lohnarbeitsstunden pro Haushalt, also gerade auch von Frauen, fordert.

Die erweiterte Sichtweise macht zweitens eine inhärente Tendenz zur ökologischen Krise sichtbar. Da das Kapital es vermeidet, auch nur annähernd die wahren Wiederbeschaffungskosten für die Inputs zu zahlen, die es der nichtmenschlichen Natur entnimmt, laugt es die Böden aus, verschmutzt es die Meere, überflutet es Kohlenstoffsenken und überfordert ganz allgemein die Kohlenstoffspeicherkapazität des Planeten. Es bedient sich kannibalisch am natürlichen Reichtum und verleugnet dessen Reparatur- und Ersatzkosten, wodurch es die metabolische Interaktion zwischen den menschlichen und nichtmenschlichen Komponenten der Natur regelmäßig destabilisiert. Die Folgen sind heute unübersehbar: Was den Planeten zu verbrennen droht, ist nämlich nicht, wie in fast jeder UN-Deklaration bemüht, „die Menschheit“, sondern der Kapitalismus.

Die Tendenzen des Kapitalismus zur ökologischen und sozial-reproduktiven Krise sind drittens untrennbar mit seinem konstitutiven Bedarf an enteignetem Reichtum rassifizierter Bevölkerungen verbunden: seine Abhängigkeit von gestohlenem Land, erzwungener Arbeit und geplünderten Rohstoffen; seine Abhängigkeit von rassifizierten Zonen als Deponien für Giftmüll und von rassifizierten Gruppen als Lieferanten von unterbezahlter Care-Arbeit, die zunehmend in globalen Betreuungsketten organisiert wird. Das Ergebnis ist eine Verflechtung von wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Krise mit Imperialismus und rassistisch-ethnischem Antagonismus.

Von der Krise des Regierens zur Untergrabung der Demokratie

Viertens offenbart der erweiterte Blick auf den Kapitalismus eine strukturelle Tendenz zur politischen Krise. In diesem Bereich will das Kapital ebenfalls beides zugleich haben: öffentliche Güter und eine Freistellung von ihrer Finanzierung. Durch die Hinterziehung von Steuern und die Schwächung staatlicher Regulierungen neigt es dazu, die öffentliche Gewalt auszuhöhlen, von der es doch zugleich abhängig ist. Die aktuelle, finanzialisierte Form des Kapitalismus hebt dieses Spiel auf eine ganz neue Ebene. Die Megakonzerne sind den territorial gebundenen öffentlichen Mächten weit überlegen, indem die globale Finanzwelt die Staaten diszipliniert; indem sie Wahlergebnisse, die nicht in ihrem Sinne ausfallen, lächerlich macht und antikapitalistische Regierungen daran hindert, auf die Forderungen der Bevölkerung einzugehen. Das Ergebnis ist eine große Krise des Regierens, die nun mit einer Krise der Hegemonie einhergeht, da sich die Menschen auf der ganzen Welt massenhaft von den etablierten politischen Parteien und dem neoliberalen Common Sense abwenden.

Und schließlich ist da noch das eingebaute Demokratiedefizit des Kapitalismus. Auch dieser Fehler erscheint weitaus größer, wenn wir uns eine erweiterte Sichtweise dieses Gesellschaftssystems zu eigen machen. Das Problem besteht nicht nur darin, dass die Bosse in den Fabriken das Sagen haben. Es geht auch nicht nur darum, dass wirtschaftliche Ungleichheit und Klassenmacht jeden Anspruch auf gleiche demokratische Mitsprache im politischen Bereich zunichtemachen. Ebenso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger ist, dass dieser Bereich von Anfang an stark beschnitten wurde.

Tatsächlich wird durch die Trennung von Wirtschaft und Gemeinwesen der Spielraum für demokratische Entscheidungen von vornherein radikal verkleinert. Wenn die Produktion an private Unternehmen übertragen wird, sind es nicht wir, die unser Verhältnis zur Natur und das Schicksal des Planeten kontrollieren, sondern die Klasse der Kapitalisten. Ebenso entscheiden nicht wir, sondern sie über die Form unseres Arbeits- und Nichtarbeitslebens – wie wir unsere Energien und unsere Zeit aufteilen, wie wir unsere Bedürfnisse interpretieren und befriedigen. Indem sie die private Aneignung des gesellschaftlichen Überschusses gestattet, ermächtigt die spezifische Verbindung von Wirtschaft und Gemeinwesen schließlich die Kapitalisten, den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung zu gestalten und damit unsere Zukunft zu bestimmen. Die zentralen gesellschaftlichen Fragen werden in kapitalistischen Gesellschaften also von vornherein von der politischen Agenda gestrichen. Investoren, die auf maximale Akkumulation aus sind, entscheiden sie hinter unserem Rücken. Kurzum: Der Kapitalismus kannibalisiert nicht nur sich selbst, sondern auch uns – er raubt uns die kollektive Freiheit, gemeinsam zu entscheiden, wie wir leben wollen.

Wie hätte ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert auszusehen?

Quelle         :         Blätter-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Großbaustelle der Blöcke F und G des Braunkohlekraftwerks mit optimierter Anlagentechnik (BoA) Neurath bei Grevenbroich

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Der Spielejournalismus

Erstellt von DL-Redaktion am 27. März 2023

Das neue Feigenblatt des Spielejournalismus

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Ein Infokasten wird zum Schleichweg einer Branche: Statt Verantwortung zu übernehmen, drücken sich Redaktionen vor der Diskussion, wie moderner Journalismus aussehen muss.

Die gute Nachricht zuerst: Der Fachjournalismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ebenso weiterentwickelt wie die Spiele, über die er berichtet. Die schlechte Nachricht: Diese Entwicklung scheint nun an einer besonders sensiblen Stelle zu stagnieren. Ein moralisches Schlupfloch ist zur Stolperfalle für den modernen Spielejournalismus geworden – und ich hoffe, dass ich mich mit dieser Beobachtung täusche.

Auf den ersten Blick alles rosig

Wenn ich mich heute durch die wichtigsten Websites klicke oder die letzten verbliebenen Printmagazine aufschlage, kann ich mehr Reportagen, mehr Hintergrundberichte, mehr Experimentierfreude entdecken als jemals in den fast vierzig Jahren davor. Dabei wird längst immer weiter über die Grenzen der eigenen Branche geblickt: Wissenschaftler*innen, Lehrer*innen, Historiker*innen und viele weitere Expert*innen beantworten Fragen, ordnen ein, kommentieren und erläutern, was der Spielejournalismus selbst nicht weiß. Das Nachfragen bei Menschen, die sich auskennen, ist en vogue.

Aber nicht nur die Riege der Fachleute hat sich vergrößert, auch die Redaktionen selbst sehen heute anders aus: diverser, jünger, weiblicher. Eine überfällige Veränderung, die endlich die bunte Zielgruppe der eigenen Berichterstattung spiegelt. Reine Männertrupps gelten als überholt und altmodisch.

Auch an einer anderen Stelle hat sich der moralische Branchenkompass neu ausgerichtet: Fotostrecken von dickbrüstigen Spielfiguren (industrie-intern poetisch „Tittenklickstrecken“ getauft), Nacktpatch-Anleitungen und Best-ofs der heißesten Messebabes waren einst Eckpfeiler des Klickjournalismus. Sie sind heute fast ausnahmslos aus dem deutschen Spielejournalismus verschwunden. Nicht, weil sie sich nicht mehr lohnen würden, sondern weil sie unhaltbar aus der Zeit gefallen sind (oder saftige Abmahnungen nach sich gezogen haben).

All das sind Umwälzungen, die Kraft und Geld gekostet haben und Lob verdienen. Von dieser Modernisierung auf so vielen unterschiedlichen Ebenen profitieren Redaktionen, ihr Publikum und die Berichterstattung über das Medium selbst. Und doch scheint diese steigende Kurve der Weiterentwicklung nun ein Plateau erreicht zu haben – einen kritischen Punkt, der zu bequem, zu sicher erscheint, um ihn unter neuerlichem Aufwand von Kraft und Geld hinter sich zu lassen. Nach außen könnte es nicht harmloser erscheinen: Ich spreche von einem speziellen Infokasten, der in den vergangenen Wochen immer häufiger zwischen Schlagzeilen und Reportage-Absätzen auftauchte.

Das neue Feigenblatt des Spielejournalismus

Dieser Infokasten, der je nach Website auch als redaktioneller Einschub oder kurzer Absatz entdeckt werden kann, hängt mit einem Spiel zusammen, das noch in diesem Jahr erscheinen soll: Diablo 4, die Fortsetzung eines der bekanntesten und langlebigsten Franchises der Gamingwelt.

Die Vorfreude der Fans ist riesig, die Aufmerksamkeit der Presse für dieses Spiel dem Anschein nach uneingeschränkt. Überall buhlen derzeit News, Vorschauen und Kolumnen über diesen Titel um Klicks und Aufmerksamkeit. Und zwischen all der Vorfreude und Aufregung? Ein kleiner Vermerk, ein kurzer Einschub, der auf das hinweist, womit sich das Entwicklerteam von Diablo 4 in den letzten Monaten herumschlagen musste. Es geht um den Riesenkonzern Blizzard, Missbrauchsvorwürfe von ehemaligen Mitarbeiterinnen, Kündigungswellen und Klagen von Angestellten.

Hier hat der Fachjournalismus im ersten Schritt gute Arbeit geleistet, seinen Job gemacht: Alle wichtigen Redaktionen haben diese Meldungen um Blizzard aufgegriffen, sie eingeordnet und teilweise sogar zum Anlass genommen, größere Reportagen über Sexismus in der Spielebranche und Arbeitsrechte von Angestellten zu veröffentlichen. Aber wie zuletzt bei Hogwarts: Legacy, das untrennbar mit Joanne K. Rowling und ihren transphoben Äußerungen zusammenhängt, stellt sich auch bei Diablo 4 die große Sinnfrage: Wie umgehen mit einem Spiel, das von einem Studio entwickelt wird, gegen das derart schwere Vorwürfe von sexueller Belästigungen und Diskriminierungen erhoben werden?

Es ist absehbar, dass sich diese Frage nach der Trennung von Urheber und Spiel in Zukunft leider immer wieder stellen wird. Eine Antwort, ein Verhaltensmuster für diese Fälle muss also her. Und die Antwort, die nun offenbar redaktionsübergreifend gefunden wurde, ist denkbar unelegant, ethisch fragwürdig – und hoffentlich nur eine vorübergehende Lösung.

Ein Infokasten als Antwort

Diese Antwort ist der Infokasten, ein aufklärender Einschub: Fast alle Berichte über Diablo 4 werden von einem kurzen Hinweis auf die vergangene Berichterstattung zu den Vorwürfen gegen Blizzard unterbrochen. Ein bis drei Zeilen, die mit Links auf bereits geschriebene Statements und Kolumnen verweisen. Danach? Weiter im Text, weiter mit der Vorfreude auf ein Riesenspiel, das getrennt von den Vorwürfen gegen das Entwicklerteam besprochen werden soll.

Dieser formalistische Clou wirkt leider wie ein fauler Spagat zwischen notgedrungen wahrgenommener Verantwortung vor dem Riesenthema „Sexismus“ und der SEO-Gier, einen so großen Titel nicht einfach ignorieren zu können. Der Infokasten mutiert zum Hinweis auf eine Fleißarbeit, die leidig getätigt wurde und nun als erledigt gilt.

Postbriefkasten (Österreich) der Österreichischen Post AG

Offizielle Begründungen wirken mitunter vorgeschoben und überschätzen den aktuellen Einfluss der Fachpresse, wie zum Beispiel jene des GameStar, wonach mit einem „Boykott“ des Spiels auch Entwickler*innen „bestraft“ würden, die nichts mit den Vorwürfen zu tun haben. Ein herbei gezerrtes Feigenblatt, das die eigene Blöße bedecken soll.

Dabei gäbe es Zwischentöne, die die Existenz des Spiels weder ignorieren noch jegliche Verantwortung auf einen Querverweis-Dreizeiler abschieben: Eine bewusst eingeschränkte Berichterstattung etwa, die nicht über zentrale Formate wie einen Test hinausgeht und die somit ein deutliches Zeichen setzen würde. Oder das Ende einer Trennung von „Spielbesprechung“ auf der einen Seite und Einordnungen von Vorwürfen gegen das Studio auf der anderen Seite, um so der Tatsache gerecht zu werden, dass Werk und Urheber miteinander verbunden sind. Und ich bin mir sicher: Es gibt noch klügere, noch bessere Antworten, die ein Redaktionsteam finden kann, das an anderen Stellen hochwertige Reportagen und Berichte auf den Weg bringt.

Presse, zeige Haltung!

Ohne Haltung ist Journalismus zahnlos. Und mit dem neuen Feigenblatt haben sich Redaktionen vorerst die Möglichkeit genommen, ernste Vorwürfe innerhalb der Industrie auch mit Konsequenzen in der Berichterstattung zu versehen. Stattdessen soll der Mittelweg die Google-Suchanfragen und den Druck zur Positionierung gleichermaßen befriedigen. Das Ergebnis?

Eine Lösung, die bequem erscheint, aber den Spielejournalismus um eine dringend notwendige Gelegenheit beraubt, Rückgrat zu zeigen. Wenn nicht in diesem Fall, wann dann?

Vielleicht tue ich mit diesem Urteil den Redaktionen Unrecht, die sich nicht bewusst sind, wie ihre Lösung für die obige Sinnfrage nach außen hin wirken kann. Denn leicht ist diese Diskussion und die Suche nach einem Umgang mit dem beschriebenen Dilemma in der Tat nicht. Und vielleicht gehöre ich nur zu der verschwindend kleinen Minderheit, die sich am beschriebenen Umgang mit der Causa Blizzard & Co. stört und mehr Konsequenz verlangt.

Vielleicht aber auch nicht. Und dieser Gedanke sollte zum Anstoß genommen werden, schleunigst wieder das Plateau zu verlassen, auf dem es sich zu viele Redaktionen gerade erst gemütlich gemacht haben.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquelle :

Oben     —       [1] Adam und Eva bedecken ihre Geschlechtsteile mit einem Feigenblatt; Gemälde von Lucas Cranach d. Ä.

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Xi Jinping in Moskau

Erstellt von DL-Redaktion am 26. März 2023

Eine bessere Welt durch geteilte Zukunft

Putin-Xi meeting (2023).jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Die Begenung von Xi Jinping und Vladimir Putin in Moskau war so spektakulär, dass sie von den parteihörigen Medien nicht unter den Teppich gekehrt werden konnte. Also gab es wilde Spekulationen und Phantasien über das Warum der Begegnung, ohnerichtig hinzuhören oder nachzulesen, was dort wirklich gesagt und getan worden ist. Man krallte sich lieber und wie immer an eigene Vorurteile.

Entgegen der westlichen Behauptung, dass bei dem Treffen das Thema Ukraine kaum oder nur am Rande angesprochen worden sei, haben Xi und Putin eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet und veröffentlicht, wonach die Krise in der Ukraine durch Dialog gelöst werden soll. Putin bekräftigte seine Bereitschaft, so schnell wie möglich einen Dialog mit der Ukraine aufzunehmen, und Xi betonte zum wiederholten Mal,dass er immer für einen Dialog eingetreten ist. Warum schweigen die westlichen Medien über dieses wichtige Ergebnis der Begegnung?

Über das eigentliche Thema der Begegnung schweigen sich die Politik und Medien ganz aus oder äußern sichnur verächtlich: die Friedenspolitik von Xi Jinping. Nachder Ankündigung auf der MünchnerSicherheitskonferenz und der Veröffentlicheung der GSI (Globale Sicherheitsinitiative) am 24. Februar und vo rdem Hintergrund der diplomatischen Vermittlung zwischen Iran und Saudi-Arabien demonstrierte Xi ohne Umschweif die schon deutlich gewordene Multipolarität der Weltordnung im Gegensatz zur Hegemonie der USA. China positioniert sich klar für eine bessere Welt durch eine geteilte Zukunft aller Menschen und Völker.

Anders als die USA, die jedes Problem und jeden Konflikt mit Waffengewalt angegangen und dann jämmerlich gescheitert sind, will China der Menschheit zu einer friedvollen, geteilten Zukunft verhelfen und kann das auch durch Taten belegen. Alle Realisationen im Rahmen der alten und der neuen Seidenstrasse sind friedvoll und zum Nutzen beider Vertragspartner. Die markantesten Beispiele in Europa sind Duisburg und Piräus als zukunftsrächtige Infrastrukturmaßnahmen zum Wohl der lokalen und regionalen Volkswirtschaft.

Sehen wur hier das wirkliche Foto aus Moskau ?

Das ist für China der Lösungsansatz für dieHerausforderungen in unserer Welt und für eine bessere Zukunft durch konzertierte Aktionen einer internationalen Gemeinschaft. „Das gemeinsame Interesse derMenschheit ist eine in Frieden geeinte und nicht geteilte und volatileame Welt“, sagt Xi seit nunmehr zehn Jahren. Und keiner im Westen hörte hin.So nutzt Xi die Bühne in Moskau, um deutlich zumachen, dass China mit befreundeten Staaten einen harmonischen Gegenpol zur Hegemonie der USA und ihrer Vasallen im Weltgeschehen bildet. Dabei ist das Leitmotiv einer Menscheit mit geteilter Zukunft so neu nicht, wenn man an Karl Marx mit seiner Aufforderungdenkt: Bürger aller Länder vereinigt euch! Und die Forderung nach Harmonie ist der chinesischen Kultur seit Konfuzius eigen. Die Gedanken dieser beidenAutoren sind heute Grundsäulen chinesischer Politik. Seit Moskau ist klar, dass die Weltornung nur noch multipolarkonzertiert wird und hoffentlich für eine bessere Welt mitgeteilter Zukunft.

Urheberrecht
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Grafikquellen       :

Oben       —      President of the People’s Republic of China Xi Jinping meets with President of Russia Vladimir Putin at the official welcoming ceremony in the Grand Kremlin Palace in Moscow.

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 26. März 2023

Tiktok-Format „Unverlangt eingesandt“: – Lustiger Literaturbetrieb

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Kolumne von Fatma Aydemir

Ein Mensch schickt einen Text zur Veröffentlichung an einen Verlag – und der stellt ihn dann öffentlich bloß. Humor ist immer so eine Sache.

Alle müssen Content machen. Auch bei deutschen Literaturverlagen, deren Marken sich ja meist eher aus der eigenen Tradition generieren, ist angekommen: Wer neue Zielgruppen erreichen will, muss auf Social Media. Und zwar nicht einfach nur mit einer nüchternen Bewerbung des eigenen Programms, sondern mit Verlosungen, Behind-the-scene-Material und witzigen Videos.

Humor ist hierzulande, wenn nach unten getreten wird.

Nun ist Humor natürlich immer so eine Sache. Hierzulande funktioniert er augenscheinlich am besten, wenn nach unten getreten wird. Folgerichtig hat sich der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch (KiWi) das Tiktok-Format „Unverlangt eingesandt“ ausgedacht, bei dem sich in Kurzvideos über Manuskript-Einreichungen lustig gemacht wird. Also ein Mensch schreibt da jahrelang an einem Text, fasst sich irgendwann ein Herz, sendet ihn an einen Verlag und der guckt dann bloß rein, um daraus pseudolustigen Content zu generieren.

Für Lacher soll in „Unverlangt eingesandt“ der selbstsichere Ton der Anschreiben sorgen sowie die Formfehler und Forderungen der unbekannten Autor_innen. In einer Einsendung etwa verlangt der_die Autor_in 10.000 Euro Vorschuss für das beiliegende Manuskript und gibt an, dass der Text noch vier weiteren Verlagen zum Angebot vorliegt. Was den Zuschauer_innen aber unausgesprochen als lächerliche, weil dreiste Forderung verkauft wird, ist in Wahrheit ein sehr realistisches Angebot für einen Konzernverlag wie KiWi. Und für die schreibende Person sowieso: Angenommen in einem Romanmanuskript stecken zwölf Monate Arbeit, dann sind das zehn Riesen durch zwölf brutto – was daran ist nochmal dreist und funny?

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Ein Verkehrszeichen, das vor Kiwis warnt

Es verwundert kaum, dass wir in dem Format nichts über die Textqualität der Manuskripte erfahren, sondern lediglich von den Anschreiben. Denn das unfreiwillig Komische an „Unverlangt eingesandt“ ist, dass suggeriert wird, irgendein Großverlag schaue sich 2023 noch die unverlangt eingesandten Manuskripte an. Dabei treffen doch längst Literaturagenturen die Vorauswahl, lektorieren Manuskripte vor, bieten sie den Verlagen an. Der Verlag braucht sich somit gar nicht mehr durch Texte wühlen, die abseits von diesen Strukturen entstehen, er bietet einfach mit anderen Verlagen um jene Texte und Autor_innen, die ihm irgendwie „gut verkäuflich“ vorkommen, gemessen an einem chronisch verspäteten Trendverständnis. Und beschwert sich anschließend darüber, dass die Agenturen den Markt kaputt machen. Kurz: Es ist eigentlich genauso wie überall.

Branchenübliche Codes

Nur dass in einer anderen Branche vielleicht die Hemmung größer wäre, sich öffentlich über Jobbewerbungen lustig zu machen. Denn nichts anderes ist eine Manuskripteinreichung: eine Bewerbung. Und nichts anderes ist das Autor_innendasein: ein Job. Der kapitalistische Blick auf (noch) nicht kommerziell erfolgreiche Autor_innen und generell Künstler_innen ist dagegen ein mitleidiger bis verächtlicher: „Haha, guck mal, der Spinner denkt, er sei was Besseres. Geh mal arbeiten.“

Quelle        :           TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —       Ein Verkehrszeichen, das vor Kiwis warnt, welche die Straße überqueren

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Demokratie mit Lücken

Erstellt von DL-Redaktion am 25. März 2023

Israel und die fehlende Verfassung des Landes

Jeder Politiker findet immer noch Mitschuldige welche sie hofieren. Würden solche – z.B. von der westlichen Welt ignoriert werden, würden sich die Situationen sehr schnell ändern. 

Von Joseph Croitoru

Die Kampagne der israelischen Rechten gegen den Obersten Gerichtshof begann lange vor der letzten Wahl. Ein Problem ist die fehlende Verfassung des Landes. In der „konstitutionellen Revolution“ sehen liberale Kreise bis heute die angemessene Umsetzung eines spezifisch jüdischen Gerechtigkeitsempfinden.

Israel erlebt derzeit eine tiefe konstitutionelle Krise. In ihrem Kern steht ein Autoritätskonflikt zwischen Parlament und Exekutive einerseits und dem sich als juristische Kontrollinstanz begreifenden Obersten Gerichtshof (OGH) andererseits. Seine Wurzeln liegen in der Gründerzeit des israelischen Staates. Dessen Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 folgte der Vorgabe des UN-Teilungsplans für Palästina vom November 1947, die vorsah, dass die zu wählende „verfassungsgebende Versammlung“ des jüdischen Staates eine Verfassung verabschiedet. Das Gremium wurde wegen des noch andauernden arabisch-israelischen Kriegs erst Anfang 1949 gewählt und erklärte sich im Februar zum israelischen Parlament (Knesset). Zur Verabschiedung einer Verfassung kam es indes nicht, weil sich die Abgeordneten über ihren Charakter nicht einigen konnten – oder wollten. Nicht unähnlich zu heute war die damals tonangebende Regierungspartei – David Ben Gurions sozialistische „Partei der Arbeiter Eretz Israels“ (MAPAI) – nicht gewillt, ihre Vollmachten von grundlegenden Rechtsnormen einschränken zu lassen. Ben Gurions Haltung wurde von seinen religiösen Koalitionspartnern mitgetragen, für die als Verfassungsgrundlage nur das jüdische Religionsgesetz in Frage kam. Dagegen wehrten sich Säkulare von links wie rechts. Im Juni 1950 kam es schließlich zu einer Kompromisslösung, als die Knesset entschied, verfassungsähnliche Strukturen in Form von einzelnen Grundgesetzen zu schaffen. Bis heute wurden dreizehn solcher Gesetze verabschiedet.

Das Fehlen einer Verfassung hatte weitreichende Folgen. Der junge israelische Staat übernahm große Teile des britisch-kolonialen Mandatsrechts, das teilweise auf osmanischem Recht gründete. Mit diesen übernommenen Gesetzeswerken war das Selbstverständnis des Staates Israel als Demokratie aber nur begrenzt vereinbar. Eine weitere Konfliktquelle stellte der doppelte Anspruch des Staates dar, demokratisch und zugleich exklusiv jüdisch zu sein. Diese Widersprüche sollte der Oberste Gerichtshof lösen. Dieser wurde schon im Sommer 1948 vom provisorischen israelischen Staatsrat ins Leben gerufen; die anfängliche Zahl von fünf amtierenden Oberrichtern wurde mit den Jahren sukzessive erhöht, zuletzt 2009 auf fünfzehn. Die vom OGH ausgeübte Normenkontrolle sollte Gesetzesmissbrauch durch den Staat verhindern. Allerdings unterwarfen sich die Oberrichter bis in die sechziger Jahre weitgehend dem Primat der nationalen Sicherheit und stellten sich auch dann hinter die Regierung, wenn die sich nicht gerade demokratiekonform verhielt. So etwa bei der sogenannten administrativen Haft ohne Strafverfahren – ein Erbe des britischen Mandatsrechts, von dem vor allem Palästinenser bis heute betroffen sind.

Weil sich die Oberrichter bei ihren Entscheidungen in Ermangelung einer Verfassung auf die Gleichheit postulierende israelische Unabhängigkeitserklärung wie auch auf die Rechtsprechung in westlichen Demokratien oder sogar auf die Bibel beriefen, kam es gelegentlich doch zu Konflikten mit dem Gesetzgeber. So beispielsweise, als der OGH 1969 ein Parteifinanzierungsgesetz für ungültig erklärte und die regierende Arbeitspartei auf der Vormacht des Parlaments bestand. Den Richtern warf sie Inkonsequenz vor mit dem Argument, dass sie die Regierung doch bei weit problematischeren Fällen wie Hauszerstörungen oder der Ausweisung palästinensischer Terroristen unterstützten. Die Ultraorthodoxen standen mit den meist säkularen Oberrichtern ohnehin laufend auf Kriegsfuß, besonders dann, wenn sie in die Rechtsprechung der religiösen Gerichte eingriffen.

Die bislang bedeutendste Wende in Israels Rechtskultur vollzog sich zu Beginn der neunziger Jahre. Als es in der Zeit der großen Koalition von Arbeitspartei und Likud in den späten achtziger Jahren zum politischen Stillstand kam, formierte sich im Land eine Protestbewegung, die strukturelle Reformen forderte. Mit ihrer Initiative „Verfassung für Israel“ verfolgten damals mehrere Rechtsprofessoren das Ziel, einen umfangreichen Grundrechtskatalog zur Verabschiedung zu bringen. Zwar scheiterten sie am Widerstand der Ultraorthodoxen, doch gelang es schließlich ihrem Mitstreiter Amnon Rubinstein, Juraprofessor und Abgeordneter der liberalen „Shinui“-Partei, 1992 zwei neue Grundgesetze mit verfassungsähnlichem Charakter einzubringen: Sie wachen über die Berufsfreiheit und die „Würde und Freiheit des Menschen“.

Berlin and Israel walls

Willige Helfer gesucht und gefunden! 

Damit lag ein konstitutioneller Referenzrahmen für Menschenrechte vor, auf den der OGH zurückgreifen konnte, was er auch energisch tat. Konservative israelische Juristen beklagten sich schon bald über dieses Vorgehen. Sie warfen den Oberrichtern „richterlichen Aktivismus“ vor, über dessen Nutzen und Nachteil in Israels juristischen Zeitschriften nun kontrovers diskutiert wurde. Zu den Befürwortern eines selbstbewussteren Auftretens des OGH gehörte auch der international angesehene und damals an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrende Rechtsprofessor Aharon Barak. 1993 vertrat er in einer wegweisenden Abhandlung die Ansicht, dass der OGH sich nicht mit der Rolle eines punktuellen Korrektivs des Gesetzgebers begnügen sollte. Weil es keine Verfassung gebe, sollten die Oberrichter die gesamte israelische Rechtsprechung Schritt für Schritt der Lebensrealität im Land anpassen und überall dort korrigierend eingreifen, wo die Gesetzgebung Lücken aufweise.

Die Fachdebatten der Juristen wuchsen sich zu regelrechten Grabenkämpfen aus, als 1995 Aharon Barak zum Präsidenten des OGH gewählt wurde. Moshe Landau, Amtsvorgänger und Zionist der alten Garde, warnte die Oberrichter schon damals davor, die neuen Grundgesetze dazu zu nutzen, die Rechte des Individuums über die Interessen der Allgemeinheit zu stellen und so den Egoismus in der israelischen Gesellschaft zu stärken. Ungeachtet solcher Bedenken wuchs die Bedeutung des OGH kontinuierlich. In dieser in Israel als „konstitutionelle Revolution“ bezeichneten Entwicklung sehen liberale Kreise bis heute die angemessene Umsetzung eines aus ihrer Sicht spezifisch jüdischen Gerechtigkeitsempfindens. Der OGH war aber schon unter seinem Präsidenten Barak, dessen Amtszeit bis 2006 dauerte, von unterschiedlichsten Seiten heftiger Kritik ausgesetzt. So warfen Menschenrechtler und Besatzungsgegner dem Gericht Verrat an den eigenen Prinzipien vor, weil es willkürliche Internierungen und auch Folter von Palästinensern wiederholt abgesegnet hatte. Für die ultranationalistischen Siedler und auch die Ultraorthodoxen verkörpert der OGH bis heute eine „Rechtsdiktatur“ – und nicht nur für sie.

Quelle       :         TAZ-online           >>>>>           weiterlesen

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Oben      —     President Donald J. Trump delivers remarks with Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu Tuesday, Jan. 28, 2020, in the East Room of the White House to unveil details of the Trump administration’s Middle East Peace Plan. (Official White House Photo by Shealah Craighead)

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Politik und Banken

Erstellt von DL-Redaktion am 25. März 2023

 Beruhigende Worte von Scholz und Macron sind wenig wert

File:2021-08-21 Olaf Scholz 0309.JPG

Es war immer schwer politischen Trollen zuzuhören, welche von Banken rein gar nichts verstehen – ansonsten wären sie Banker geworben.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs P. Gasche /   

Um das Vertrauen in Grossbanken zu bewahren, müssen Behörden und Banker lügen. Sie würden lieber das labile Geldsystem fixieren.

Nach dem Zwangsverkauf der Credit Suisse an die UBS «herrscht nach wie vor Unsicherheit an den Börsen», meldete gestern Freitag, 24. März, die Schweizer Tagesschau. Die Aktien der Deutschen Bank beispielsweis hätten am Freitag 8,5 Prozent ihres Wertes verloren. Die Regierungschefs würden «versuchen zu beruhigen».

In Brüssel versammelte Regierungschefs sahen sich veranlasst, die Öffentlichkeit am Fernsehen zu beruhigen.

Olaf Scholz erklärte in der ARD-Tagesschau:

«Die Deutsche Bank hat ihr Geschäft grundlegend modernisiert und neu organisiert und ist eine sehr profitable Bank. Es gibt keinen Anlass, sich irgendwelche Gedanken zu machen.»

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zur gleichen Zeit im Fernsehen:

«Wir haben aus vergangenen Krisen gelernt. In der Eurozone sind die Banken heute am Solidesten, weil sie die Vorgaben für Solvenz und Liquidität, die nach der Finanzkrise von 2008 entstanden, am Gewissenhaftesten befolgen.»

Wie hiess es doch zum Kollaps der Credit Suisse: Sie habe überhaupt keine Liquiditätskrise gehabt. Es seien vielmehr die gestiegenen Zinsen gewesen, Probleme von US-Banken und Gerüchte in Social Media, welche die Grossbank ins Schleudern gebracht hätten.

Falls dies zutrifft, wäre dies ein Beleg dafür, auf wie wackeligen Füssen das gesamte Finanzsystem beruht. Denn steigende Zinsen waren längst vorauszusehen. Ebenso, dass etwa in den USA, Italien, Spanien oder Griechenland einzelne Banken ins Taumeln kommen können. Und Gerüchte in Social Media sollten abermilliardenschweren Grossbanken wohl nichts anhaben können.

Doch dies ist offensichtlich tatsächlich möglich, weil das Bankensystem ein klappriges Kartenhaus ist, das auf nahezu blindes Vertrauen der Sparer, Anleger und Investoren angewiesen ist. Aus diesem Grund dürfen Regierungen, Behörden – und natürlich auch die Banken selbst – nie reinen Wein einschenken.

Auch zu viele Experten befolgen dieses Gebot und warnen nicht rechtzeitig, wenn sie Schwachstellen und Gefahren analysieren. In der ARD-Tagesschau äusserte sich Hans-Peter Burghof, Finanzökonom an der Universität Hohenheim:

«Ich sehe keinen Grund für eine allgemeine Bankenkrise […] Die Banken werden von den Märkten schlecht behandelt.»

Vielleicht haben Experte Burghof, Macron und Scholz recht. Es wäre jedenfalls zu hoffen.

Aber ihre beruhigenden Worte sind nichts wert, weil sie auch so reden müssten, fallls es wirklich ernsthafte Anzeichen einer Bankenkrise gäbe.

Aus diesem Grund sollten die Medien solch beruhigende Aussagen von Behörden, Experten und Banker nicht zum Nennwert weiterverbreiten, sondern stets darauf hinweisen, dass keiner dieser Exponenten je die Wahrheit sagen würde, falls am Bankenhimmel düstere Wolken aufziehen.

Erst nach einem Kollaps können alle Fehler und vergangenen Warnzeichen aufgezählt werden.

Das Vertrauen, das nicht erschüttert werden darf

Das fast blinde Vertrauen in Grossbanken – und damit das Schönreden – muss heute aus folgenden Gründen unzumutbar gross sein:

  • weil Grossbanken nur fünf Prozent ihrer Milliarden-Verpflichtungen mit Eigenkapital gedeckt haben. Es braucht deshalb nur wenige Gross- oder Kleinkunden, die ihre Guthaben in kurzer Zeit zurückziehen.
  • weil Grossbanken mit ihrem eigenen bescheidenen Kapital und mit Kundengeldern hochspekulative Wettgeschäfte betreiben, deren Exzess der computerisierte Millisekunden-Handel darstellt.
  • weil Grossbanken viele riskante Geschäfte über Schattenbanken abwickeln. Weltweit seien 150 Billionen Dollar in spekulative Geschäfte investiert, die ausserhalb der Bilanzen und ohne jegliche Kontrollen abgewickelt würden, erklärte Finanzjournalistin und Buchautorin Myret Zaki in der Sendung «Infrarouge» des Westschweizer Fernsehens. Die Nominalwerte von sogenannten Derivaten, darunter unzählige sogenannte strukturierte Produkte, würden jetzt bei der UBS und CS zusammen etwa das Vierzigfache des Schweizer Bruttoinlandprodukts erreichen. Das sagte der Zürcher Finanzprofessor Marc Chesney in der gleichen Sendung.

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Massnahmen die sich aufdrängen, damit fehlendes Vertrauen nicht so rasch zu einem Crash führt

Professor Chesney hat notwendige Massnahmen bereits vor zehn Jahren auch auf Infosperber aufgezählt. Keine davon wurde seither umgesetzt. Sie drängen sich mehr denn je auf, damit die Märkte wieder normal funktionieren:

  1. Die Eigenkapitalanforderungen für Banken sollten mindestens 20% bis 30% betragen.
  2. Die Banken sollten im Rahmen eines Trennbankensystems in Investment- und Geschäftsbanken aufgetrennt werden, wie dies durch den Glass-Steagall Act von 1933 während Jahrzehnten der Fall war und womit durchaus eine gewisse ökonomische Stabilität gewährleistet werden konnte.
  3. Die Finanzprodukte sollten, bevor sie auf den Markt kommen, zertifiziert werden, so wie dies bei anderen Produkten der Fall ist, wie zum Beispiel im Industrie-, Nahrungs- und Pharmasektor. Die Finanzüberwachungsbehörden sollten für die Vergabe solcher Zertifikate verantwortlich sein. Auf diese Weise würde die Verbreitung «giftiger» Produkte begrenzt.
  4. Die Verbriefungs-Praktiken sollten eingegrenzt werden.
  5. Die Verbreitung «giftiger» Produkte sollte ein Finanzdelikt darstellen, so wie es in allen anderen Wirtschaftszweigen der Fall ist oder zumindest sein sollte. Es würde sich um eine Straftat handeln, welche die wirtschaftliche und finanzielle Sicherheit verletzt.
  6. Das riesige Volumen von Derivaten erzeugt Systemrisiken für die Wirtschaft. Es sollte kontrolliert und drastisch reduziert werden. So könnte man vermeiden, dass die Absicherung bestimmter Produkte zu Wetten auf den Zusammenbruch von Unternehmen werden. Das ist bei den Kreditderivaten Credit Default Swaps oder CDS der Fall. Die meisten sichern keine Risiken ab, sondern sind reine Wettgeschäfte.
  7. Der Kauf eines CDS sollte das Halten eines darauf basierenden Wertschriftentitels voraussetzen, der gegen Verlust abgesichert werden soll.
  8. Die Aktivitäten von Hedge-Fonds oder von Private-Equity-Fonds sollten kontrolliert werden.
  9. Für die Führungskräfte von Banken sollten die Entschädigungssysteme auf der Grundlage von Bonuszahlungen durch Systeme ersetzt werden, die auch wirkliche Bestrafungen (malus) beinhalten. Heute sind es Aktienoptionen und hohe Abfindungen, die den Anreiz zum Eingehen von Risiken schaffen, die letztlich von anderen Teilen der Gesellschaft getragen werden: von Aktionären, Kunden, Arbeitnehmern, Rentnern und schliesslich von den Steuerzahlenden.
  10. Die Effektivität des Risikomanagements und des Risiko-Controllings der Banken sollte stark verbessert werden. Boni für Risiko-Controller wären viel nützlicher als solche für Händler.
  11. Eine Mikrosteuer auf allen elektronischen Zahlungen sollte eingeführt werden. Es geht nicht nur darum, dem Staat mehr Geld zukommen zu lassen, sondern darum, die Spekulation und die Volatilität durch Verteuerung einzudämmen. Wettgeschäfte mit High Frequency Trading würden dadurch begrenzt. (Siehe Dossier Mikrosteuer auf alle Geldflüsse.)
  12. Die Grösse der Banken sollte begrenzt werden. Das Problem des «too big to fail» ist gefährlich, weil es falsche Anreize erzeugt. Finanzinstitute gehen Risiken ein, ohne deren Konsequenzen tragen zu müssen, weil der Steuerzahler im Notfall zur Kasse gebeten wird. Es handelt sich dabei um eine Gratisversicherung auf Kosten der allgemeinen Bevölkerung statt auf Kosten der Verantwortlichen.
  13. Rating-Agenturen sollten unter öffentlicher Kontrolle stehen, weil ihre Macht der demokratischen Funktionsweise der Staaten schadet. Die 2008-Finanzkrise hat gezeigt, dass sie gescheitert sind, da sie Zombi-Banken mit guten Noten bewertet haben. Sie wurden von diesen Geschäftsbanken dafür gut entlöhnt.
  14. Der Inhalt des Unterrichts in Volkswirtschaftslehre und Finance muss gründlich überprüft werden.

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Oben      —     Olaf Scholz, Politiker (SPD) – Zur Zeit Vizekanzler und Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem ist er Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl 2021. Hier während einer SPD-Wahlkampfveranstaltung im August 2021 in München. Titel des Werks: „Olaf Scholz – August 2021 (Wahlkampf)“

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Einigung: Post – Ver.di

Erstellt von DL-Redaktion am 25. März 2023

Tarifabschluss bei der Post – ein Abschluss, der Fragen aufwirft

La grève des mineurs du Pas-de-Calais, 1906.jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von  :    Suitbert Cechura

Ein harter Job und schlechte Bezahlung: Auch wenn der Laden brummt, darf man sich nicht zu viel erwarten – die schweren Zeiten verbieten es!

Zu Beginn der Tarifrunde mit dem Post-Konzern – noch vor der ersten Verhandlungsrunde – gab die Verdi-Gewerkschaft ihr Ziel bekannt: „Die Beschäftigten brauchen dringend einen Inflationsausgleich und sie erwarten darüber hinaus eine Beteiligung am Unternehmenserfolg.“ (Pressemitteilung Verdi, 5.1.23)

Die Vorbereitung auf die Tarifrunde lief vorbildlich, mit großer Mobilisierung und Warnstreiks. Die Mitglieder stellten sich mit 85,9 Prozent bei der Urabstimmung hinter ihre Gewerkschaft und stimmten für einen Streik. Statt zu streiken, setzte sich Verdi dann aber mit den Arbeitgebern zusammen und schloss ganz rasch einen Tarifvertrag ab, der weder einen Reallohnverlust verhindert noch eine Beteiligung am 8-Milliardengewinn der Post beinhaltet. Dieses Verhalten der Tarifkommission, die sich für ihren schnellen Erfolg lobte, wirft eine Reihe von Fragen auf.

Von Beginn an ein Abschluss á la IG-Metall oder IG BCE angestrebt?

Auffällig ist, dass die Tarifkommission nach dem Abschluss von den ursprünglichen Zielen offenbar nichts mehr wissen will, wenn sie das Ergebnis schönrechnet und den Erfolg daran festmacht, dass die Gegenseite ihre Angebote verbesserte habe: „Positiv sind die hohe Einmalzahlung im April, die Erhöhung der monatlichen Inflationsausgleichssonderzahlung um 20 Prozent gegenüber dem letzten Angebot der Arbeitgeber und das Vorziehen der tabellenwirksamen Festbetragserhöhung um acht Monate. Mit diesem Tarifergebnis wird unser wichtigstes Ziel, einen Inflationsausgleich insbesondere für die unteren Einkommensgruppen zu schaffen, nach den aktuellen Prognosen der zu erwartenden Preissteigerungsrate erreicht.“ (Andrea Kocsis, Verdi Pressemitteilung, 11.3.23)

Die Inflationsausgleichssonderzahlung von 1020 € gleicht aber den Reallohnverlust des letzten Jahres in keiner Weise aus. Über den teilt Verdi selber mit: „Die Tariferhöhungen in 2021 und 2022 blieben zusammen um fünf bis sieben Prozent hinter der Inflationsrate zurück.“(Verdi, WiPo-Informationen, 1/23) Jetzt mag zwar rechnerisch die ab Mai vereinbarte Ausgleichssonderzahlung von 180 € der offiziellen Inflationsrate entsprechen, nur weiß auch die Gewerkschaft, dass die offiziellen Inflationsraten Durchschnittswerte darstellen und gerade Menschen mit geringem Einkommen, wie viele Postzusteller, von der Inflation stärker betroffen sind: „Inflation ist nicht für alle gleich. Die hohen und weiter steigenden Preise treffen Haushalte mit kleinen Einkommen und mit Kindern besonders stark.“ (WiPo, 1/23)

Hinzu kommt: „Die ‚Inflationsprämien‘ sind zudem – ebenso wie die in den letzten Jahren vereinbarten Corona-Prämien und sonstigen Einmalzahlungen – nicht tabellenwirksam, das heißt sie erhöhen nicht die Ausgangsbasis für künftige Tariferhöhungen und mindern so dauerhaft die Lohnentwicklung und die Kaufkraft. Die Einmalzahlungen fallen weg, aber auch wenn die Inflationsraten in den kommenden Jahren wieder geringer werden, sinkt das Preisniveau insgesamt nicht.“ (WiPo, 1/23)

Also stellen die Sonderzahlungen keine Erhöhung der Tariflöhne dar, ein dauerhafter Reallohnverlust wird damit festgeschrieben. Denn die Tariferhöhung von 15 Prozent war ja auf ein Jahr berechnet und nicht auf zwei Jahre. Eine Verlängerung der Laufzeit hatte Kocsis noch nach der dritten Verhandlungsrunde abgelehnt (Pressemitteilung Verdi, 10.2.23). Nun erfolgt die Tariferhöhung erst im nächsten Jahr und bemisst sich an Prognosen und nicht an den Notwendigkeiten der Beschäftigten.

Mit ihren unterschiedlichen Sonderzahlungen folgt Verdi jetzt ganz der Regierungslinie, an die sich auch die Schwestergewerkschaften von IG Metall und IG BCE gehalten haben. Mit den Steuer- und Sozialabgaben-freien 3000 € als Abfindung für den Verzicht auf Lohnerhöhungen hat die Regierung die Maßstäbe für die deutschen Tarifrunde vorgegeben, die offenbar auch Verdi umsetzen will. Sonst könnten ja noch – man stelle sich das vor – Verhältnisse wie in Frankreich oder Großbritannien einreißen, wo sich die Arbeitervertretungen um die Interessen ihrer Mitglieder kümmern, statt sich an die Regierungslinie zu halten.

Das Wort Abfindung ist hier übrigens wörtlich zu nehmen, sollen sich doch die Arbeitnehmer mit den Reallohnverlusten abfinden und auf einen Ausgleich verzichten, der den Reallohn auf Dauer sichert. Die Gewerkschaften stellen sich so ihrer nationalen Verantwortung bei der Verhinderung des neuerdings wieder aufgetauchten Gespenstes einer „Lohn-Preis-Spirale“. Diese Bezeichnung stellt – man erinnere sich nur an die beiden letzten Jahre – die Welt auf den Kopf, denn es waren die Preise, die auf breitere Front stiegen, und nicht die Löhne, die vielmehr der Entwicklung hinterherhinkten.

Warnstreiks usw.: ein Tariftheater zur Mitgliedergewinnung?

Ging es hier also wieder einmal um ein Tariftheater? Dies vermuteten schon einige Medien im Vorfeld und der Abschluss scheint ihnen Recht zu geben. Offenbar war die ganze Tarifauseinandersetzung nicht auf die Durchsetzung der anfangs formulierten Forderungen gerichtet. Verdi wollte sich vielmehr unübersehbar als die kämpferische Alternative zu den anderen Gewerkschaften präsentieren und so Mitglieder für sich gewinnen. Verdi-Chef Werneke verkündete stolz, „rund 45.000 Neueintritte bei der Gewerkschaft seien nicht zuletzt auf die Tarifauseinandersetzungen beim ehemals staatlichen Unternehmen zurückzuführen“ (Junge Welt, 17.3.23).

Mitglieder und Sympathisanten sollten sich bei den Streikaktionen anscheinend im Gemeinschaftsgefühl ergehen. Man war in der Öffentlichkeit präsent, erntete auch Anerkennung, das war’s dann. Damit die aktivierten Mitglieder nicht auf die Idee der Durchsetzung ihrer Forderungen kommen, wurde der Streik abgeblasen und eine schnelle Vereinbarung präsentiert.

Und jetzt der Abschluss im Öffentlichen Dienst?

Zu erwarten ist, dass Verdi hier seine Mitglieder genauso verschaukelt wie beim Postabschluss und eine Vereinbarung akzeptiert, die statt Reallohnsicherung einen Strauß von Sonderzahlungen bietet – ebenfalls in Übereinstimmung mit der Regierungslinie. Vor der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst wurde anscheinend auch kein Abschluss angestrebt, der bei den Mitgliedern zu große Erwartungen weckt.

Schließlich wird bei Verdi-Mitgliedern der Spruch des ehemaligen Vorsitzenden Bsirske kolportiert, der gewarnt haben soll: Wer die Mitglieder auf die Bäume treibt, müsse sie auch wieder runterholen können. Solchen Warnungen kann man entnehmen, dass die Verdi-Funktionäre ihre Mitglieder offenbar als Tarifstatisten behandeln, die sich auf Kommando als Streikkomparsen aufführen, bei Bedarf aber auch wieder brav arbeiten gehen. Das Problem scheint die Tarifkommission zur Zeit wieder bei ihren Mitgliedern zu sehen.

Denn die prekäre Lage ist auch aus Verdi-Sicht klar: „Die zentrale Herausforderung für die Tarifpolitik besteht in diesen Zeiten darin, trotz der starken Preissteigerungen die Realeinkommen der Beschäftigten und ihrer Familien zu sichern. Im Jahr 2022 ist dieses Ziel deutlich verfehlt worden, die preisbereinigten Reallöhne sanken um über drei Prozent, nach der ‚alten‘ Berechnung der Inflationsrate um über vier Prozent. Dies kann der Tarifpolitik allerdings nicht angelastet werden, da ganz überwiegend noch Tarifverträge galten, die in Zeiten der Pandemie bei viel geringeren Inflationsraten abgeschlossen worden waren.“ (WiPo, 1/23)

Und die Verdi-Mitglieder?

Das muss die Gewerkschaft natürlich herausstellen: Die Misserfolge kann man ihr nicht anlasten. Und die Mitglieder müssen es glauben. Aber werden sie sich dieses Ergebnis jetzt bieten lassen? Es liegt an ihnen, in der Urabstimmung zum Tarifabschluss, die noch bis zum 30. März läuft, diese Vermutung entweder zu bestätigen, indem sie Ruhe geben, oder zu dementieren, indem sie dagegen stimmen. Unmut gibt es an der Verdi-Basis durchaus. David Maiwald (JW, 17.3.) hat sich dort erkundigt. „Viele Kollegen wissen“, so äußerte sich ein Postzusteller, „und zwar weil Verdi das kommuniziert hat, dass diese Sonderzahlung langfristig weniger Geld in der Tasche bedeutet. Außerdem wird anteilig auf die Arbeitszeit ausgezahlt“, was gerade bei den Teilzeit- und Abrufkräften weitere Einbußen bedeutet.

Kritische Gewerkschafter (siehe die Homepage: netzwerk-verdi.de) fürchten auch, dass der jetzige Abschluss von der Arbeitgeberseite propagandistisch genutzt wird und die Behauptung untermauert, dass mehr einfach nicht drin ist. Darauf sollte man nicht hereinfallen! Wer natürlich schon beim Aufstellen der Forderung davon ausging, dass wie gewöhnlich bloß die Hälfte und damit ein Reallohnverlust rauskommen wird, der liegt mit diesem Abschluss richtig. Wer sich gegen den Reallohnverlust stemmen will, muss sich mit der Gewerkschaftsführung anlegen.

Zuerst erschienen bei Telepolis

Urheberrecht
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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 25. März 2023

Bei aller Verbitterung Mut und Hoffnung nicht verlieren

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Kaum hatte der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen Wladimir Putin verhängt, schon machte sich Chinas KP-Chef Xi Jinping auf nach Moskau zum Freundschaftsbesuch.

Mit Chinas Unterstützung für Putin wird die Internationale Gemeinschaft erst recht keine Chance haben, den Haftbefehl jemals umzusetzen. Es wäre ohnehin eine Weltpremiere, auf die wir wohl lange warten müssen.

Doch nicht nur Putin drohen die Richter. Auch gegen den Ex-Präsidenten der USA, Donald Trump, steht vermutlich ein baldiges Verfahren an. Ein gefundenes Fressen für die KP-Propaganda. China werde niemals das westliche Modell, darunter unabhängige Justiz, kopieren. Man kenne eine bessere Demokratie, bei der das Volk von Anfang bis Ende demokratisch lebe. Seltsam nur: Gewählt wird niemals. Nicht ein Gericht, sondern die Partei bestimmt, wer aufgrund welchen Verbrechens mit welchem Strafmaß verurteilt wird. Noch wissen wir nicht, was Trump bevorsteht. Sicher ist jedoch, dass Xi davon wenig erfahren möchte, schon gar nicht am eigenen Leibe.

Doch die Welt ist unbezwingbarer, als Autokraten es sich offensichtlich einbilden. Noch so mächtig mögen diese Männer in der Vergangenheit gewesen oder noch immer sein. Einer grundmenschlichen Beurteilung, ob sie Verbrechen begangen haben oder nicht, entkommen sie nicht. Nicht einmal in dieser verunsicherten Welt, wo so viele schon davon reden, dass es nicht nur keine Kategorie „richtig“ oder „falsch“ mehr gebe, sondern auch kein „faktisch“ oder „fake“. Trump wie Putin sind verrufen auch für ihre Dreistigkeit, Tatsachen zu verdrehen: Aus Aggression gegen die Ukraine wurde laut Putin ein Feldzug gegen den Faschismus und gegen eine Osterweiterung der Nato. Aus blanker Missachtung der Rechtstaatlichkeit durch einen Massenmob gegen das legitime Parlament wurde laut Trump ein „patriotischer“ Aufstand derer, die fürchteten, ihnen würde ihr Land genommen werden. Nun wird klar, dass dieser Dreistigkeit Einhalt geboten werden sollte. Wichtiger noch: Der Dreistigkeit wird Einhalt geboten.

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Nicht, dass die pure Moralität obsiegt. Eine politische Realität erzwingt den Etappenerfolg. Putin erleidet auf dem Schlachtfeld in der Ukraine Niederlagen. Mittlerweile positioniert sich in Europa Russlands letzter slawischer Bruder Serbien gegen Moskau und liefert Raketen an die Ukraine, um die Aggressoren zurückzuschlagen. In Asien ist es Pakistan, das die Ukraine mit Militärhilfe unterstützt.

Quelle         :       TAZ-online            weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Reise zu Protest verweigert:

Erstellt von DL-Redaktion am 24. März 2023

Innenministerium mauert bei politischem Reiseverbot

Wer fragt in einen freien Land vor der Ausreise nach einer Erlaubnis an? 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von    :    

Die Bundespolizei verweigerte im Februar dem Vorsitzenden eines antifaschistischen Verbandes die Ausreise zu einer Demo nach Bulgarien. Auf eine schriftliche parlamentarische Frage zu dem Vorfall antwortet das Innenministerium ausgesprochen schmallippig.

Am 24. Februar verweigerte die Bundespolizei dem Vorsitzenden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), Florian Gutsche, am Flughafen in Berlin die Ausreise nach Bulgarien. Dort wollte der 34-jährige an einer Demo gegen einen Nazi-Aufmarsch teilnehmen. Stattdessen erwartete ihn am Flughafen ein Zivilpolizist, später durchsuchten und befragten Gutsche Beamte und erteilten ihm ein sechstägiges Reiseverbot – nicht nur nach Bulgarien.

Nach Informationen des VVN-BdA wurde die Verfügung damit begründet, dass damit zu rechnen sei, dass Gutsche „das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland erheblich schädigen“ würde. Indizien sah die Polizei in „mitgeführter Kleidung und Utensilien, die klar dem linken Phänomenbereich zuzuordnen sind“. Laut Pressemitteilung des VVN-BdA waren diese Gegenstände ein schwarzer Pulli, eine schwarze Jacke, eine Fahne und eine Broschüre der Organisation. Auf dieser Grundlage unterstellte die Polizei Gutsche eine mögliche Teilnahme an gewalttätigen Protesten. Gutsche selbst sagt der taz, dass er nie für irgendetwas verurteilt wurde in seinem Leben.

Wurden PNR-Daten genutzt?

Fraglich ist, wie die Polizei überhaupt dazu kam, dass sie Gutsches Reise auf dem Radar hatte. Denkbar ist, dass Gutsche – ohne Verurteilung – in einer Datei für politisch motivierte Gewalttäter gelandet ist und seine Reise mittels der Vorratsdatenspeicherung von Flugdaten (PNR) den Behörden bekannt wurde. Die Bundespolizei hat auf Presseanfragen von taz und nd bislang nicht geantwortet.

Im Jahr 2020 hat das Bundespolizeipräsidium 25.280 Personendaten aus der Fluggastdatenspeicherung vom Bundeskriminalamt (BKA) mit einer Aufforderung für sogenannte Folgemaßnahmen erhalten. Diese Maßnahmen sind hoch umstritten: Das Verwaltungsgericht Wiesbaden hatte die Fluggastdatenspeicherung im vergangenen Dezember für rechtswidrig erklärt: Dem BKA fehle eine grundrechtskonforme Rechtsgrundlage. Zuvor hatte schon der Europäische Gerichtshof die Datensammlung moniert.

Zugeknöpfte Antwort

Auf eine schriftliche Frage der linken Bundestagsabgeordneten Martina Renner antwortete das Bundesinnenministerium nur mit einer allgemeinen Antwort zur Rechtsgrundlage (§ 10 Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit § 7 Absatz 1 Nummer 1 des Passgesetzes) und verweigerte sonst jede Auskunft zum Fall Gutsche. In der Antwort heißt es:

Die mit der Fragestellung gewünschten Auskünfte zu etwaigen durch die Bundespolizei bei der Ausreise einer Person festgestellten die vorgenannte Gefahr begründenden Tatsachen berühren das Persönlichkeitsrecht Dritter. Unter Abwägung des parlamentarischen Fragerechts und des damit einhergehenden öffentlichen Informationsinteresses mit dem gleichzeitig hier notwendigen Schutz der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen kommt die Bundesregierung vorliegend zu dem Ergebnis, dass diesbezügliche Auskünfte nicht und – wegen des höchstpersönlichen Charakters der angefragten Daten – auch nicht eingestuft übermittelt werden können. Ob und inwieweit eine Auskunft an den Betroffenen möglich ist, obliegt auf dessen Anfrage der Entscheidung der zuständigen Sicherheitsbehörde im konkreten Einzelfall.

Weiter heißt es: Die Bundespolizei prüfe bei allen Personen, d. h. auch aus allen Phänomenbereichen der Politisch Motivierten Kriminalität, soweit diese bei der Ausreise angetroffen werden, ob einzelfallspezifisch gefahrenbegründende Erkenntnisse vorliegen, die in der Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtsgüterabwägung Ausreiseuntersagungen an der Grenze erforderlich machen würden.

Gutsche selbst erwägt laut dem nd eine Klage gegen das Ausreiseverbot.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquelle :

Oben       —   Streckenposten / Track marshal

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Verteidigung des Pazifismus

Erstellt von DL-Redaktion am 23. März 2023

Argumente für einen konstituierenden Frieden

Datei:Raúl Sánchez Cedillo.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von         :          Hanna Mittelstädt

Raúl Sánchez Cedillo: Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine. Der spanische Philosoph und Aktivist Raúl Sánchez Cedillo schrieb eine Verteidigung des Pazifismus als kommunistisches Projekt gegen den Kapitalismus und seine Kriegsgestalt.

Es ist gleichzeitig ein Aufruf für die ökologische Bewegung als transnationaler Klassenkampf und alternatives Projekt gegen die Logik des Kapitals. Das Buch ist gerade erschienen.Ich halte es für einen wichtigen und klaren Beitrag für die notwendige gesellschaftliche, emanzipative Entwicklung gegen diesen/jeden Krieg. Unter der Voraussetzung, dass der Kapitalismus nur noch im Modus von Krieg und Krise überleben kann und uns in rasantem Tempo immer mehr Rechte und Möglichkeiten für ein „gutes Leben“ abschneidet, sei es durch direkten Krieg oder die im Rahmen eines Kriegsregimes zu erbringenden Opfer, reflektiert der Autor den eigenen Weg „der Subalternen“ und die Konstruktion einer Gegenmacht von unten.Die Voraussetzung für diesen Aufbau ist ein tiefgreifender Friedensprozess (der nicht auf die Ukraine beschränkt ist) und die Klarheit über die eigenen Wünsche und Ziele. Ein konstitutiver Frieden bedeutet Waffenstillstand mit einem gleichzeitigen Prozess der globalen Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, mit Vorstellungen für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Herrschaft, für eine Produktionsweise ohne Kommando, die auf Teilhabe und Kooperation beruht, für eine umweltbezogene soziale und mentale Ökologie.

Internationalismus oder Barbarei

In Abwandlung der Parole „Sozialismus oder Barbarei“ von Rosa Luxemburg oder des Namens der anti-stalinistischen Gruppierung der frühen Nachkriegszeit Socialisme ou Barbarie (1949 bis 1967) formuliert Raúl Sánchez Cedillo eine ausführliche und fundierte anti-nationale Kritik des aktuellen Kriegsregimes, wie es durch den Krieg in der Ukraine durchgesetzt wurde und weiter wird. Er sieht dieses Regime in der Folge des Endes des Kalten Krieges, des nach dem 11.September 2001 erklärten „Kriegs gegen den Terror“ und den verschäften Krisen nach 2008: ein Herrschaftsmodell von Krieg und Polizei, Militarisierung der Auseinandersetzungen innerhalb und ausserhalb von Staatsgebilden, medialem Lagerdenken sowie einer Verschärfung der gesellschaftlichen Kontrolle mithilfe der Digitalisierung.

Der Krieg, die Barbarei, wird flankiert von ständig beschleunigter Kriegspropaganda und Disziplinierungsmassnahmen. Das Freund-Feind-Schema wird nicht nur auf dem Kriegsschauplatz angewandt, sondern in allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Das ist die erpresserische Macht der finanziellen, korporativen und politischen Oligarchien, und zwar überall, wo sie herrschen, in Russland wie in der Ukraine, in Europa wie in den USA, in China wie in anderen Staaten.

Durch die fortgesetzte Enteignung der „Subalternen“, durch ihre immer weitergehende Zurichtung auf die Bedürfnisse der herrschenden Regimes entstehen neue Formen des Faschismus. Die oligarchische Hyperkonzentration von Kapital und Macht nutzt über die Arbeitskraft hinaus die Subjektivität der Menschen, ihre Sprachen, Gefühle, Affekte als Produktionsmittel. Sehr hilfreich für die aktuelle Einschätzung und den missbräuchlichen Propagandadiskurs über die faschistischen Kräfte hier wie dort ist Sánchez Cedillos Charakterisierung des Faschismus anhand von „generativen Matrizen“: Erlebnis des Krieges, Pathos der Nation, Legende des Verrats, Antagonismus gegenüber dem Klassen- und Geschlechterkampf, Einsatz der Kriegsmaschine als Form von Zerstörung, Tod und schwarzem Loch. Durch die in Gang gesetzten Kriegsmaschinen ist ein neuer Faschismus, der nie aus den Gesellschaften verschwunden war, erstarkt. Er nährt erneut das Pathos: das des Krieges, der Nation, des Opfers, der Kathastrophe, des Kampfes …

Den aktuellen Krieg in der Ukraine analysiert Sánchez Cedillo als bewaffnet ausgetragenen Konflikt zwischen imperialistischen Formationen und antagonistischen Hegemonien im Weltsystem. Durch deren Rhetorik und Logik werden die subjektiven und politischen Prozesse erzeugt, die faschistische Regierungsformen und Befehlsmacht wieder vorstellbar machen.

In wichtigen Exkursen untersucht Sánchez Cedillo die historischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Ukraine und Russlands im 20. Jahrhundert und wie es zu den aktuellen Akkumulationsformen der russischen und ukrainischen oligarchischen Eliten kam. Wie die autonomen Subjekte der russischen Revolutionen durch Pathologisierung der politischen Dissidenz, katastrophalen Extraktivismus, Ausplünderung der Arbeitskraft und des Planeten, Aufspaltung der Nomenklatura in oligarchische Clans, strategischen Nationalismus etc. entmachtet wurden und das nationalistische, patriarchale, homophobe Regime Putin mit seinem stalinistischen Pathos entstehen konnte. Die Ukraine wird deutlich als ein Gebiet, das durch Krieg, Faschismus, Antisemitismus, Stalinismus, Kapitalismus und Atomenergie verwüstet wurde. Der Krieg in der Ukraine wird als multidimensionaler Krieg sichtbar, der eine Periode entfesselter Gewalt in den sozialen, politischen Beziehungen auf der ganzen Welt eröffnet.

Das Narrativ des Westens, das Demokratie gleichsetzt mit neoliberaler Konterrevolution, definiert eine eurozentristische „Wertegemeinschaft“, die sich für „die Zivilisation“ schlechthin hält. Es verschweigt selbstredend, dass der Kapitalismus aus Sklaverei, Proletarisierung der bäuerlichen Lebensgrundlagen, Zerstörung der Ökosysteme, Kolonialismus, Rassismus, Segregation, Faschismen, Stalinismen etc. besteht und dass im Regime der Akkumulation von Kapital und Macht Politik und Krieg ununterscheidbar sind.

Konstruktion einer Gegenmacht

Wir müssen dem mit dem Aufbau von transnationalen Gegenmächten entgegentreten, einen Friedenprozess mit konstituierenden emanzipativen Praxen verbinden, um das Kriegsregime direkt am Ort des Kriegsschauplatzes, aber auch in den diesen Krieg unterstützenden Gesellschaften auszuhebeln. Dafür braucht es eine Praxis, die Subjekte und Kämpfe nicht trennt, sondern verbindet, so dass sie an die „Produktion des Gemeinsamen“ gehen können: ein Leben in Würde und Sicherheit auf dem Planeten Erde für alle.

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Ein Staat kann immer nur so stark sein, wie die Machtpolitiker schwach sind. 

Der Klassenkampf der Vielen ist transformatorisch und dekonstruierend, betrifft die Form der Produktion wie das Soziale und das Mentale. Es geht um ein Netzwerk von internationalen politischen und sozialen Bewegungen, um Klassenautonomie, und nicht um einen Kampf in einer nationalen und patriotischen Armee. Der nationale Diskurs ist Teil der Kriegsmaschine.

Sánchez Cedillos Plädoyer für den Pazifismus (konstituierend, revolutionär, intelligent, die Angst überwindend) richtet sich gegen die paranoiden Pole der globalen kapitalistischen Macht in Ost wie West, Nord wie Süd. Als historisches Beispiel führt er die IWW (Industrial Workers of the World) an, die zu Beginn des 20.Jahrhunderts keine nationale, sondern eine unmittelbar globale Gewerkschaft war: trans- und multinational, räteorientiert, antirassistisch, kriegsgegnerisch, revolutionär. Eine solche Ausrichtung auf die Klassenautonomie, d.h. die Fähigkeit zum Streik, zum Kampf um Arbeits- und soziale Rechte, für die Strukturen einer Gegenmacht gegen die neoliberalen Eigentumsdemokratien: das ist heute in der Ukraine wie in Russland unmöglich, und selbstverständlich in allen kapitalistischen Staaten der Welt ebenso, in gradueller Abstufung der Repression.

Für einen emanzipatorischen, transnationalen Internationalismus von Bewegungen, Gruppen und Individuen anstelle von Regierungen, Regimen, Machteliten ist der zapatistische Aufstand von 1994 ein wichtiger Bezugspunkt. Hier entstand wieder eine globale revolutionäre Politik, die den Bruch mit den staatszentrierten Projekten vollzog und die Praktiken und Diskurse der sozialen Bewegungen erneuerte.

Das digitale Zeitalter ermöglicht die vollständige Ausbeutung der menschlichen Subjektivität in der kapitalistischen Wertschöpfungskette. Körpermaschinen, die wie Prozessoren immer weiter in eine Netzwerkarchitektur integriert werden, eine maschinische Knechtschaft, in der die faschistische Ausprägung Bestandteil der zeitgenössischen Subjektivität geworden ist. Die Unterdrückung und Einbindung der Subjektivität erfolgt durch die Erzeugung existenzieller Unsicherheit, Prekarität, nukleare Bedrohung und die Erpressung durch Angst. Durch die lange Periode der Niederschlagung und Verdrängung von Klassenkämpfen erscheint der Staat als zentraler Retter, dabei ist er nur die zentrale Aufsicht über den Verteilungsmechanismus von Geldern an Unternehmen und Konzerne.

Kommunismus versteht Sánchez Cedillo als Projekt, das Gemeinsame zu konstruieren, wobei die Zwecke und Formen der Kooperation im kollektiven Handeln entstehen. Es ist also ein Kommunismus als Werden, der Schaffungsprozess einer kooperativen und kollektiven Macht, einschliesslich der gemeinsamen Erfindung von Lebensformen.

Der Kapitalismus endet, wenn die ausgebeuteten Klassen ihn begraben: durch ihre Kämpfe, Erfindungen, Strukturen der Kooperation ohne Kommando, durch Imagination und Erfahrungen. Im Prozess der Rückeroberung der Kämpfe wird es eine Explosion der Wünsche und Bedürfnisse, der Selbstorganisation und der Strukturen von Gegenmächten geben. Die emanzipativen Kämpfe richten sich auf eine Produktionsweise des Gemeinsamen gegen die kapitalistische Arbeitsteilung. Sie werden eine Heterogenisierung und Vervielfältigung hervorbringen, wie die demokratische Produktion und Bewirtschaftung der Gemeingüter gegen den Tauschwert organisiert werden können.

Das Kriegsregime ist ein Beschleuniger faschistischer Subjektivierungs-, Organisations- und Handlungsprozesse. Der Krieg ist die direkte Negation des Klassenkampfes von unten durch die Implantierung von identitären, nationalen, patriarchalen, rassistischen Narrativen. Und Klasse ist hier verstanden als ein Begriff des gesellschaftlichen Interesses und der Handlungsfähigkeit, des Antagonismus, nicht als soziologische oder kulturwissenschaftliche Kategorie.

Frieden ist Voraussetzung für jede emanzipative Politik. Frieden muss in massenhaften Akten der Kriegssabotage errungen werden. Er muss mit einem regionalen und globalen Entwurf für eine Gesellschaft ohne Krieg und Ausbeutung verbunden sein. Das ist konstituierender Frieden. Wirklichen Frieden können wir nicht durch Intervention von Staaten erwarten, denn der Staat ist eine strategische Organisation von Apparaten und Institutionen der Befehlsmacht, des Zwangs und der Hegemonie.

Der Autor schliesst mit einem Zitat von Gilles Deleuze:
„Der Glaube an die Welt ist das, was uns am meisten fehlt; wir haben die Welt völlig verloren, wir sind ihrer beraubt worden. An die Welt glauben, das heisst zum Beispiel, Ereignisse hervorzurufen, die der Kontrolle entgehen, auch wenn sie klein sind, oder neue Zeit-Räume in die Welt zu bringen, selbst mit kleiner Oberfläche oder reduziertem Volumen …“

In diesem Sinne verbreitet das Buch den Optimismus einer gemeinsamen Vernunft, ein aktives Vertrauen in unser Tun und Denkens als teilnehmende Akteurinnen und Akteure in gesellschaftlichen Veränderungen. Und darum sei dieses Buch, trotz seines etwas steifen Begriffsapparats, allen ans Herz gelegt, die sich in den herrschenden Kriegs- oder auch Antikriegsdiskursen zutiefst unwohl fühlen. Dieses Buch bricht die ewig selben, propagandistischen Narrative auf, es ermutigt zu neuen Perspektiven und zum Beharren auf der grundsätzlichen Feindschaft mit der globalen und totalen Welt des Kapitalismus.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —      Der spanische Philosoph und Aktivist Raúl Sánchez Cedillo (2. von links) an einer Lesung im März 2023 in Bergara, Spanien.

Verfasser Demonocrazy         /        Quelle      :     Eigene Arbeit      /       Datum      :      16.03.2923

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.

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Unten      —       Frontispiz des Leviathan von Thomas Hobbes, eines Grundlagenwerks zur Theorie des modernen Staates

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Nord Stream Pipelines

Erstellt von DL-Redaktion am 23. März 2023

«Biden gab der CIA eine Cover-Up-Story in Auftrag»

President Joe Biden greets German Chancellor Olaf Scholz, Friday, March 3, 2023.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Red. /   

Laut Seymour Hersh versorgten US- und deutsche Geheimdienste Medien mit alternativer Version zur Zerstörung von Nord-Stream-2.

upg. Die Biden-Administration tue alles, um von der Verantwortung der USA abzulenken, schreibt Investigativjournalist Seymour Hersh in einer Stellungnahme vom 22. März. Er beruft sich auf eine Quelle, die Zugang zu diplomatischen Geheimdienstinformationen habe. Nach dem Besuch von Kanzler Olaf Scholz am 3. März im Weissen Haus seien Leute des Geheimdienstes CIA gebeten worden, «in Zusammenarbeit mit dem deutschen Geheimdienst eine Titelgeschichte vorzubereiten, welche die amerikanische und deutsche Presse mit einer alternativen Version für die Zerstörung von Nord Stream 2 versorgen soll». Die CIA sollte die Darstellung widerlegen, Biden habe die Zerstörung der Pipelines angeordnet.

Ein paar Tage später machte die wenig glaubwürdige Story die Runde, eine sechsköpfige Besatzung einer gemieteten Jacht habe die drei Nord-Stream-Pipelines gesprengt. «Spuren der Täter führen in die Ukraine», titelten Medien.

Kritische Medien vermuteten schon damals, es könnte sich um ein «False Flag»-Narrativ handeln. Ein solches legt bewusst Spuren, die auf einen [falschen] Verursacher deuten. Infosperber stellte am 9. März fest: «Falls die USA zusammen mit Norwegen die Sabotage organisierten, haben die US-Geheimdienste jedes Interesse daran, falsche Fährten zu legen.»

Scholz und Biden schweigen

Als Präsident Biden am 3. März den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz in Washington empfing, gab es nur zwei öffentliche Auftritte: erstens einen kurzen Austausch von Komplimenten zwischen Biden und Scholz vor dem Pressekorps des Weissen Hauses. Fragen waren keine erlaubt. Und zweitens ein CNN-Interview mit Scholz, während dem keine Fragen zu den Pipeline-Vorwürfen gestellt wurden.

Der Bundeskanzler war ohne Pressebegleitung nach Washington geflogen. Und dort wollten die beiden Staats- und Regierungschefs keine Pressekonferenz abhalten, wie es bei solchen Treffen üblich ist.

Gemäss Hersh sei später berichtet worden, dass Biden und Scholz ein 80-minütiges Treffen hatten, die meiste Zeit ohne Berater.

Biden gab keinen Auftrag zur Abklärung des Terrorakts bekannt

Die Medien in Washington hätten sich mit den «Pro-forma-Dementis» des Weissen Hauses zufriedengegeben. Kein Journalist habe den Pressesprecher je gefragt, «ob Biden das getan hat, was jeder ernstzunehmende Regierungschef tun würde: den US-Geheimdienst formell beauftragen, eine gründliche Untersuchung mit allen seinen Mitteln durchzuführen und herauszufinden, wer die Tat in der Ostsee begangen hat». Hersh zitiert eine Quelle innerhalb der Geheimdienstgemeinschaft, wonach der Präsident dies nicht tat und auch nicht tun werde. «Warum nicht?», fragt Hersh. «Weil er die Antwort kennt.»

Unter dem Titel «How America Took Out The Nord Stream Pipeline» hatte Hersh am 8. Februar beschrieben, wie die USA die Geheimaktion von langer Hand vorbereitet und dann zusammen mit norwegischen Spezialeinheiten durchgeführt haben sollen.

Es sei Präsident Biden gewesen, der die mysteriöse Zerstörung der neuen 11-Milliarden-Dollar-Pipeline anordnete.

Die Medien in den USA hätten seine Recherchen nahezu totgeschwiegen, sagt Hersh. Nach dem Besuch von Olaf Scholz in Washington hätten Geheimdienste der USA und Deutschlands dafür gesorgt, dass eine falsche Verdachtsstory zur New York Times und zur deutschen Wochenzeitung Die Zeit gelangt, um den Verdacht zu entkräften, dass Biden und US-Agenten für die Zerstörung der Pipelines verantwortlich waren.

Deutschland und Europa mit hohen Gaspreisen konfrontiert

Sarah Miller, eine Energieexpertin und Redaktorin bei Energy Intelligence erklärte Hersh in einem Interview, warum seine Recherchen in Deutschland und Westeuropa für Schlagzeilen sorgten: «Die Zerstörung der Nord Stream-Pipelines erhöhte die Erdgaspreise, die das Sechs- oder Mehrfache des Vorkrisenniveaus erreichten.» Einen Monat nach dem Sabotageakt hätten die Preise das Zehnfache des Vorkrisenniveaus erreicht, mit Folgen für die Strompreise. Regierungen hätten schätzungsweise bis zu 800 Milliarden Euro ausgegeben, um Haushalte und Unternehmen vor den Auswirkungen zu schützen.

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Aufgrund des milden Winters in Europa seien die Gaspreise zwar etwa auf einen Viertel des Höchststandes vom Oktober zurückgegangen, lägen aber immer noch zwei- bis dreimal so hoch wie vor der Krise. Und sie seien mehr als dreimal so hoch wie die aktuellen Preise in den USA. Europa bemühe sich um den Aufbau von Solar- und Windenergiekapazitäten, aber es könne sein, dass diese nicht schnell genug realisiert seien, um grosse Teile der deutschen Industrie zu retten.

Die Vermutung von Seymour Hersh: Die USA hätten die Nord-Stream-Pipelines zerstört, damit Kanzler Scholz keine Wahl mehr habe und über die Pipelines endgültig kein Gas mehr von Russland beziehen könne.

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Grafikquellen        :

Oben      —     President Joe Biden greets German Chancellor Olaf Scholz, Friday, March 3, 2023, in the Oval Office of the White House. (Official White House Photo by Adam Schultz)

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Kein Deutsches schämen

Erstellt von DL-Redaktion am 22. März 2023

Deutsch-israelische Beziehungen

Gegen Israel ist keine Kritik erlaubt, sagt der Deutsche Jagdschein.

Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Schuld und Universalismus. –  Israels Demokratiebewegung setzt auch auf deutsche Rückendeckung. Bedenken als Nachfahren der Täter sollten uns dabei nicht im Weg stehen.

Nun gab es also eine jüdisch-israelische Protestkundgebung in Berlin, klein, bunt und laut, wie zuvor in anderen Städten der Welt. Nur ist in Deutschland eben nichts wie anderswo, wenn es um Israel geht. Um mit dem Subjektiven zu beginnen: Kann sich eine nichtjüdische Deutsche am Protest gegen Rechtsextremismus in Israel beteiligen? Antworten, die ich hörte, reichten von „auf keinen Fall“ bis „ja, klar“.

Gleiche, universelle Werte zu postulieren, jenseits von Herkunft, ist hier ungleich schwieriger als in der Gegnerschaft zu Autoritarismus anderswo, in Gestalt von Trump, Orbán oder Erdoğan. Die Nachkommen der Täter sollen sich gegenüber den Nachkommen der Opfer nicht als Lehrmeister in Demokratie aufspielen – die Ermahnung hallt weiter nach.

Und am Ort des Geschehens, dem Pariser Platz zu Berlin, genügte ein Blick auf einige der handgemalten Plakate, um zu wissen: Sprecherposition hat Bedeutung. Das Schild „We know what fascism can do“, sollte ich eher nicht tragen. Es gab allerlei NS-Anspielungen; sie reflektierten die Inanspruchnahme des moralischen Kapitals der Holocaust-Erinnerung durch den Gegner, Netanjahu & Co., wie auch den (deutschen) Ort des Geschehens. Ich fand da für mich keinen adäquaten Platz.

Vielmehr warf die Erfahrung dieses Tages einen Strauß von Fragen auf, die um die Begriffe Schuld und Universalismus kreisen. Was sagt uns die vielzitierte Lehre aus der Geschichte, wenn es um ein vibrierendes jüdisches Anliegen der Gegenwart geht? Lähmt uns richtigerweise ein Schuldgefühl, bindet es Deutschen die Hände – oder ist das nur eine billige Ausrede?

Palästinensisch-jüdischer Dialog

Weil es unbequemer wäre, sich der universalistischen Herausforderung zu stellen und von Israel Demokratie und Menschenrechte für alle, Juden wie Palästinenser, zu fordern? Letztere waren auf dem Pariser Platz nur Randfiguren, sollten eher unsichtbar sein, damit die Kundgebung nicht in Verdacht geriete, antiisraelisch zu sein. Die Sorge ist einerseits verständlich – hier trat eine jüdische Zivilgesellschaft in Aktion, ohne das Dach der Gemeinde und jenseits der sonst sorgfältig abgesteckten Grenzen, folglich angreifbar. Da war Vorsicht berechtigt.

Andererseits spiegelt diese Vorsicht wiederum ein sehr deutsches Setting. Selbst nachdem führende israelische Militärs den Siedler-Angriff auf die Ortschaft Huwara ein Pogrom nannten, gelten Palästinenser bei uns nicht als Stimme Betroffener und Gefährdeter, nicht als rechtmäßig Beteiligte am öffentlichen Diskurs. In den USA spricht dieser Tage der palästinensische Rechtsphilosoph Raef Zreik an der Universität Harvard zur israelischen Verfassungskrise, in Dialog mit dem jüdischen Juristen Noah Feldman.

Warum ist dergleichen hier so schwer denkbar? Will dafür ernsthaft jemand die deutsche Schuld bemühen? Bevor Kanzler Scholz und sein Gast Netanjahu am Deportationsmahnmal Gleis 17 des S-Bahnhofs Grunewald der Schoah-Opfer gedachten, waren dort, mit weißen Rosen, Protestbotschaften hinterlegt worden: Die Holocaust-Erinnerung nicht für politische Zwecke missbrauchen!

Beschämendes Schweigen

Einer der Beteiligten, der israelische Historiker Arie Dubnov, erklärte gegenüber der Zeitung Haaretz, die Zeremonie an Gleis 17 verleihe dem unkoscheren Besuch Netanjahus einen koscheren Anstrich. Eben noch ein Angeklagter, der daheim ein Verräter genannt wird, ein Spalter und Zerstörer seines Landes, stand er hier nun als unanfechtbarer Repräsentant der Opfer. Was, wenn demnächst noch schlimmere Gestalten seines Kabinetts auf solch einem Gedenkakt bestehen?

Deutsche Politiker-innen führen bei ihren besuchen immer ihre eigene Staatsräson mit sich

Die deutsche Politik steckt in einem hausgemachten Dilemma fest: schon zu lange Schoah-Verantwortung und die Haltung zu israelischem Regierungshandeln nicht getrennt zu haben. Darauf ist der ganze Apparat, die gesamte Diplomatie geeicht. Gewiss, umsteuern ist möglich, aber unter Beachtung eines Risikos: Das Israel-Bild in deutschen Meinungsumfragen ist seit Langem kritischer, negativer als bei der Elite, bis hin zu jenen 20 Prozent mit dezidiert antisemitischen Überzeugungen. Und diese Marke steigt bei akuten politischen Konflikten.

Die Angst von Juden und Jüdinnen in Deutschland, dass negative Schlagzeilen über Israel sie selbst gefährden könnten, ist also ernst zu nehmen. Aber wäre es dem Kampf gegen Antisemitismus nicht gerade dienlich, wenn das Verhältnis zu den verschiedenen Kräften im heutigen Israel und ihre jeweilige Bedeutung für die Erinnerungskultur demokratisch verhandelt würde? Die jetzige Situation erzwingt das geradezu, mit allen neuen, schwierigen Facetten.

Die prodemokratische Bewegung in Israel erwartet von Deutschland ein Signal des Beistands. Darüber sollte der Bundestag debattieren, ohne Fraktionszwang und jenseits üblicher Floskelstarre. Oder ist die moralische Trägheit zu groß, um zum Thema deutsche Verantwortung einmal eigene, frische Gedanken zu formulieren? In der Zivilgesellschaft gibt es genug antifaschistisch motivierte Kräfte, um eine solche Debatte einzufordern. Das deutsche Schweigen als Antwort auf die Rufe aus Tel Aviv, Haifa und Jerusalem ist beschämend.

Quelle         :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen 

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Oben       —      Israel criticism not allowed

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Unten       —     Tribute to White Power

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Banken und Politik

Erstellt von DL-Redaktion am 22. März 2023

Die Silicon Valley Bank als das schwächste Glied

Der Hauptsitz der Silicon Valley Bank in Santa Clara, Kalifornien (2023).

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Die aktuellen Verwerfungen in der Finanzsphäre bilden nur das jüngste Kapitel der spätkapitalistischen Systemkrise.

Auf ein Neues? Der Zusammenbruch der Hausbank der IT-Industrie, der kalifornischen Silicon Valley Bank (SVB),1 scheint auf den ersten Blick eine neue Finanzkrise einzuleiten, die Erinnerungen an den Zusammenbruch der transatlantischen Immobilienblase in den Jahren 2007-09 wachruft.2 Mit dem kurz zuvor in Abwicklung übergegangenen Finanzinstitut Silvergate Capital, das sich auf Kryptowährungen spezialisierte, sowie der ebenfalls strauchelnden Signature Bank, droht dem gesamten Finanzsystem ein Flächenbrand, der durch eine umfassende Intervention der US-Politik – die in den vergangenen Jahrzehnten reichlich Erfahrungen beim Krisenmanagement sammeln konnte – abgewendet werden soll.3

Diese Bankenkrise schien somit zuerst vor allem Geldinstitute mit Verbindungen zur IT-Branche zu erfassen. Die SVB spezialisierte sich darauf, Startups der kalifornischen Technikbranche zu finanzieren. Die Bank geriet in Schieflage, nachdem sie Verluste im Umfang von 1,8 Milliarden Dollar beim Verkauf von Wertpapieren akkumulierte.4 Nachdem eine Notkapitalerhöhung gescheitert war und die Bank faktisch zahlungsunfähig wurde, übernahm die Absicherungs- und Aufsichtsbehörde „Department of Financial Protection and Innovation (FDIC) die Kontrolle über das Finanzinstitut. Die Krypto-Bank Silvergate Capital, die ebenfalls neue Technikunternehmen finanzierte, befindet sich ebenso in Liquidation.

US-Präsident Joe Biden und Finanzministerin Janet Yellen gaben sich in ersten öffentlichen Reaktionen alle Mühe, die derzeitigen Krisenmaßnahmen von der Herangehensweise Washingtons nach dem Platzen der Immobilienblase 2008 klar abzugrenzen.5 Yellen schloss eine staatliche Rettung der betroffenen Banken, ähnlich den berüchtigten Bailouts während der Finanzkrise 2008, in einem Fernsehinterview kategorisch aus. Das Bankensystem sei wirklich sicher und widerstandsfähig, erklärte die Finanzministerin unter Verweis auf die Finanzmarktreformen und zusätzlichen Regelungen, die in Reaktion auf die Finanzkrise 2008 implementiert worden sind – obwohl die Trump-Administration einen Teil dieser Regelungen wieder ausgesetzt hat.6

Präsident Biden versicherte in einer Ansprache, dass die US-Bürger sich auf ihr Finanzsystem verlassen könnten, da alle Bankkunden Zugang zu ihren Ersparnissen erhalten würden. In den Vereinigten Staaten sichert die FDIC Einlagen bis zu 250.000 US-Dollar ab, doch Biden kündigte an, alle Bankguthaben in unbegrenzter Höhe abzusichern und deren Auszahlung zu garantieren. Hierdurch will Washington offensichtlich einen Bankensturm verhindern. Der US-Präsident versprach, dass dem Steuerzahler infolge dieser Krisenmaßnahmen keinerlei Kosten entstehen würden, da der Einlagensicherungsfonds, in den die Finanzinstitute einzahlen, hierfür verantwortlich sei. Die Investoren hingegen, die in die betroffenen Finanzinstitute Kapital investiert hätten, seien ein Risiko angegangen und müssten nun ihre Verluste tragen. Das Management der in Abwicklung übergehenden Banken solle zudem entlassen werden, so der US-Präsident.

Die konkreten Krisenmaßnahmen Washingtons fallen indes bei Weitem nicht so populistisch aus, wie es der US-Präsident bei seiner Ansprache versprach. Washington muss dem strauchelnden Bankensektor irgendeine Art von Rettungsanker zuwerfen, um eine unkontrollierbare Eskalation zu vermeiden, wie sie nach der Pleite der Großbank Lehman Brothers 2008 in Form des “Einfrierens” der Finanzsphäre sich entfaltete (Die Kreditvergabe im Interbankenhandel kam damals nahezu zum Erliegen, da die Finanzmarktakteure sich untereinander nicht mehr trauten).7

File:Silicon Valley Bank, Temple, Arizona.jpg

Die Rettungsschnur, die von der Krisenpolitik diesmal dem zerrütteten spätkapitalistischen Finanzsektor zugeworfen wird, trägt den klangvollen Namen Bank Term Funding Program (BTFP).8 Im Kern handelt es sich hierbei um ein Kreditprogramm der US-Notenbank, im Rahmen dessen Banken auch bei manifesten Marktturbulenzen gegen Sicherheiten schnell mit Notkrediten versorgt werden sollen, um Zahlungsausfälle und Liquiditätsengpässe im Finanzsektor zu verhindern. Als Sicherheiten sollen von den Banken vor allem Staatsanleihen, aber auch hypothekenbesicherte Wertpapiere hinterlegt werden können. Der Clou an der ganzen Sache: die Papiere sollen zu ihrem Nennwert, nicht zu ihrem derzeitigen Marktwert als Sicherheiten fungieren.9 Für gewöhnlich müssen Banken ihre Wertpapiere zum Marktwert als Sicherheit hinterlegen, wenn sie von der Notenbank zusätzliche Liquidität erhalten wollen. Die Notenbank setzt somit faktisch den Marktmechanismus außer Kraft, um den zerrütteten Finanzsektor zu stabilisieren. Überdies können Banken das als Diskontfenster bezeichnete Krisenprogramm der Notenbank nutzen, bei dem Anleihen ohne die üblichen Abschläge als Sicherheiten für Kredite hinterlegt werden können.

Staatsanleihen werden, ähnlich wie Aktien, zu einem Marktwert gehandelt, der von ihrem Nennwert bei deren Begebung abweichen kann. Zinsentwicklung und Marktwert der Staatsanleihen verhalten sich dabei umgekehrt proportional. Bei sinkenden Zinsen steigen die Kurse der Anleihen. Umgekehrt verhält es sich bei einem steigenden Zinsniveau, bei dem die Anleihekurse sinken. Und dies ist ja auch logisch: Anleihen, die in einer Phase von Niedrigzinsen begeben worden sind, verlieren aufgrund ihrer niedrigeren Verzinsung in einer Hochzinsphase an Marktwert. Und genau diese Hochzinsphase, die die Notenbanken zwecks Inflationsbekämpfung angeleitet haben, hat zu einem massiven Wertverlust von Staatsanleihen geführt.

Abweichungen zwischen Nennwert und Marktwert von Staatsanleihen sind so lange unproblematisch, wie diese nicht vorzeitig veräußert werden müssen. Staatsanleihen werden ja für gewöhnlich als sichere Anlagen für niedrig verzinste, langfristige Investitionen verwendet. Problematisch wird es nur, wenn Banken aufgrund von Liquiditätsengpässen diese Wertpapiere vorzeitig in einer Hochzinsphase abstoßen müssen. Bei der im Silicon Valley tätigen SVB, wo besonders viele Unternehmen unter der Hochzinspolitik der Fed leiden und überdurchschnittlich oft auf ihre Einlagen zurückgreifen müssen, war gerade dies der Fall. Es waren somit verlustreiche Notverkäufe von US-Staatsanleihen,10 die zur Pleite der SVB führten. Gerüchte über Liquiditätsprobleme bei der IT-Bank lösten dann einen Bankensturm aus, bei dem Kunden binnen eines Tages 42 Milliarden Dollar abhoben.11

Die kalifornische IT-Bank bildete somit nur das schwächste Glied in einem labilen Finanzsektor, da sehr viele Finanzinstitute sich in einer ähnlichen Zwangslage befinden. Sie halten Unmengen von Staatsanleihen in ihren Bilanzen, die aufgrund der Inflationsbekämpfung der Notenbanken rasch an Wert verlieren. Wie groß ist das Problem? Die potenziellen Verluste bei Anleihen, die durch die zunehmende Diskrepanz zwischen Nennwert und Marktwert entstehen könnten, summieren sich laut der Financial Times gegenwärtig allein in den USA auf rund 600 Milliarden Dollar.12

Inzwischen zeichnen sich weitere Krisenkandidaten ab, wie etwa die US-Bank First Republic, die von mehreren Großbanken mit einer Liquiditätsspritze von 30 Milliarden Dollar stabilisiert werden musste.13 Zugleich griffen US-Banken massiv auf die Krisenkreditprogramme der US-Notenbank zurück. Die Fed pumpte über ihr Diskontfenster in einer Woche 152 Milliarden Dollar in den Finanzsektor, womit der bisherige wöchentliche Rekordwert von 111 Milliarden, kurz nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers 2008 erreicht, klar überboten wurde.14 Zum Vergleich: in der Woche vor der Pleite der Silicon-Valley-Bank haben US-Finanzhäuser nur 4,58 Milliarden Dollar über das Diskontfenster der Fed beansprucht.

Somit sind die massiven Wertverluste von Bankaktien in den vergangenen Tagen nur Ausdruck des akkumulierten Krisenpotentials, das zu einer entsprechenden Kapitalflucht führt. Der drohende Bankrott der Credit Suisse zeigt überdies, dass dieses latente Krisenpotenzial nicht auf die USA beschränkt ist. Die Aktien des angeschlagenen Schweizer Bankhauses sind regelrecht eingebrochen, es leidet unter massivem Kapitalabfluss,15 sodass es sich genötigt sah, bei der Schweizer Notenbank um ein “Zeichen der Unterstützung” zu ersuchen.16 Die Schweizer Währungshüter ließen sich nicht lumpen: 50 Milliarden Franken werden in das marode Finanzhaus gepumpt, um es vorläufig zu stabilisieren. Auch bei der eidgenössischen Nobelbank handelte es sich gewissermaßen um ein angeschlagenes Finanzinstitut, das im Gefolge einer Reihe von Skandalen und schlichten kriminellen Machenschaften schon vor einiger Zeit in schweres Fahrwasser geriet.

Damit scheint sich ein wichtiger Unterschied zwischen den gegenwärtigen Verwerfungen und dem Krisenschub von 2007-09 abzuzeichnen. Die große transatlantische Immobilienspekulation ging ja mit der massenhaften Emittierung zwielichtiger Subprime-Hypothekenverbriefungen einher, die nach dem Platzen der Blase ab 2007 sich als toxisch erwiesen und das Weltfinanzsystem gefährdeten. Diesmal sind es biedere, als risikolos geltende Staatsanleihen, die den betroffenen Banken zum Verhängnis zu werden drohen. Diese Papiere werden nicht zwecks Spekulation gekauft, wie es bei den zu “Wertpapieren” gebündelten Hypotheken während der Immobilienblase der Fall war, sondern als Sicherheiten – gerade in unsicheren Zeiten.

Und dennoch: Eigentlich handelt es sich bei diesem jüngsten „Finanzbeben“ bloß um das neuste Kapitel eines lang anhaltenden, systemischen Krisenprozesses,17 bei dem sich latente und manifeste Stadien abwechseln.18 Der starke Wertverfall bei Staatsanleihen ist einfach darauf zurückzuführen, dass sehr viele dieser Wertpapiere in einer lang anhaltenden Phase sehr niedriger Zinsen emittiert worden sind. Mit kurzen Unterbrechungen befand sich das Weltfinanzsystem seit 2008, seit dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und der EU, in einer historisch einmaligen Nullzinsphase. Mit dieser Politik des „billigen Geldes“ haben die Notenbanken die Finanzsphäre stabilisiert, wobei die Nullzinspolitik mit umfassenden Aufkäufen von Schrottpapieren, den erwähnten, „toxischen“ Hypothekenverbriefungen, einherging.

Die Notenbanken sind somit zu Sondermülldeponien des Weltfinanzsystems verkommen, was an ihren aufgeblähten Bilanzen ersichtlich wird. Die EZB und die Fed haben in den vergangenen Jahren Wertpapiere im Billionenumfang aufgekauft,19 und somit faktisch Geld gedruckt. Diese „Liquidität“ der Notenbanken führte zur Ausbildung einer entsprechenden Liquiditätsblase,20 was die Weltwirtschaft stabilisierte und den Boom in der Finanzsphäre befeuerte, der in seiner überhitzten Endphase zu Absurditäten wie der Schwarmspekulation mit Meme-Aktien wie Gamestop21 führte. Die Krisenpolitik, mit der die Folgen der Immobilienblase bekämpft worden sind, legte somit die Grundlagen für die kommende Spekulationsdynamik.

Zudem wurden von den Notenbanken zunehmend schlicht Staatsanleihen aufgekauft, um die Defizitfinanzierung der Staaten – insbesondere in den USA und der Eurozone – zu ermöglichen. Staatsanleihen bilden das Rückgrat der Finanzsphäre, der „Markt“ dafür ist gigantisch, da die Staaten sich in den vergangenen Krisenschüben immer weiter verschulden mussten, um mittels Konjunkturprogrammen und sonstiger Krisenmaßnahmen das spätkapitalistische Weltsystem vor dem Kollaps zu bewahren. Allein der schon seit Monaten kriselnde Markt für US-Treasuries,22 der laut Financial Times unter latentem Liquiditätsentzug leidet (vulgo: Niemand will das Zeug kaufen), umfasst Papiere im Nennwert von rund 23,5 Billionen US-Dollar (Das sind 23 500 Milliarden!). Der aktuell drohende Krisenschub ist somit weitaus gefährlicher, als es den Anschein hat, da nun gewissermaßen das Fundament des Weltfinanzsystems, die Märkte für Staatsschulden der Zentrumsstaaten, brüchig geworden ist. (Näheres siehe: „Schuldenberge in Bewegung“)23

Und das ist eigentlich der springende Punkt: Es gibt hinsichtlich der konjunkturellen Auswirkungen keinen fundamentalen ökonomischen Unterschied zwischen den zwielichtigen Hypothekenverbriefungen aus der Ära der großen transatlantischen Immobilienspekulation und den drögen Staatspapieren, die nun dem Finanzsektor Probleme bereiten. Ob nun der private Sektor Subprime-Hypotheken aufnimmt, um hierdurch die Bauwirtschaft anzukurbeln und die Konjunktur zu befeuern, oder ob Staaten sich verschulden, um durch ihre Konjunkturprogramme und Investitionen die tolle „Wirtschaft“ am Leben zu halten, ist in dieser Hinsicht einerlei. In beiden Fällen wird Nachfrage im Hier und Jetzt generiert, wobei der Kredit einen Vorgriff auf künftige Kapitalverwertung darstellt. Der Hypothekennehmer muss seine Hypothek samt Zinsen genauso abstottern wie der Staat, vermittelst Steueraufkommen, seine Staatsanleihen bedienen muss. Wenn dies nicht mehr realistisch erscheint, dann platzen Spekulationsblasen, die entsprechenden Schuldenberge drohen einzustürzen – und es kommt zu Finanzkrisen.

Die immer wiederkehrenden Finanzkrisen sind somit Ausdruck eines krisengeplagten spätkapitalistischen Weltsystems, das zunehmend schlicht auf Pump läuft. Seit der Durchsetzung des Neoliberalismus in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts, die nur möglich war in Reaktion auf die Stagflationskrise der 70er,24 steigt die globale Verschuldung viel schneller an als die Weltwirtschaftsleistung.25 Gewissermaßen ist der Kapitalismus, der auf der Verwertung von Arbeitskraft in der Warenproduktion basiert, zu produktiv für sich selbst geworden; das System erstickt an seiner Produktivität, es fehlt ihm seit dem Aufkommen der IT-Industrie in den 80ern ein neues Akkumulationsregime, bei dem Lohnarbeit profitabel verwertet werden könnte. Die Produktivkräfte sprengen hierbei gewissermaßen die Fesseln der Produktionsverhältnisse, um Marx zu paraphrasieren.

Das Aufkommen eines globalisierten, neoliberalen Finanzmarktkapitalismus mitsamt einer regelrechten Finanzblasenökonomie ist somit eine Systemreaktion auf diese innere Schranke des Kapitals (Robert Kurz), das durch immer weitere Konkurrenz vermittelst Rationalisierung sich seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit in der Warenproduktion, entledigt. Die fehlende Nachfrage wird hierbei gewissermaßen auf Pump generiert, was immer größere Instabilitäten und die an Intensität zunehmenden Krisen mit sich bringt. Bei diesem historischen Verschuldungs- und Krisenprozess spielen die Staaten als Krisenmanager eine immer wichtigere Rolle. Zum einen vermittelst der vielfachen Konjunkturprogramme, wie auch durch die Aufkäufe von Staatsanleihen und sonstigen Wertpapieren durch die Notenbanken, mit denen die Finanzsphäre stabilisiert und faktisch Geld gedruckt wurde. Die expansive Geldpolitik der Notenbanken ermöglichte die Ausbildung der entsprechenden Liquiditätsblase, bei der die in die Märkte gepumpte Liquidität zu einer Inflation der Wertpapierpreise führte. Bis die Inflation in der realen Wirtschaft kam.26

Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine fungierten letztendlich als äußere Trigger, die diese durch die lockere Geldpolitik der Notenbanken aufgepumpte Liquiditätsblase zum Platzen brachten. Die derzeitige Inflation speist sich somit aus mehreren Quellen: neben der Explosion der Preise für Energieträger im Gefolge des Ukraine-Krieges, den inflationären Folgen der voll einsetzenden Klimakrise (vor allem bei Nahrungsmitteln) und den Versorgungsengpässen während der Pandemie, ist der Preisauftrieb auch auf die Gelddruckerei der vergangenen Jahre zurückzuführen, die nach dem Platzen der Everything-Bubble in der Finanzsphäre sich nun in Form der reellen Teuerung manifestiert.27

Die Geldpolitik sah sich somit zu einem Kurswechsel genötigt, um die Inflation bekämpfen zu können. Die Zinsen wurden sukzessive angehoben, zumindest in den USA wurden die Anleiheaufkäufe durch die Notenbank zurückgeschraubt. Dass diese Politik des knappen Geldes, isoliert betrachtet, einigermaßen erfolgreich war, belegen die jüngsten Inflationszahlen aus den USA, wo die Teuerung inzwischen auf sechs Prozent gesenkt werden konnte – vor wenigen Monaten drohte den Vereinigten Staaten noch eine zweistellige Inflationsdynamik. Die mit 5,5 Prozent nur unwesentlich niedrigere Kerninflationsrate, bei der die Preise für Energieträger und Nahrungsmittel herausgerechnet werden, verdeutlicht überdies, dass der Preisauftrieb nicht nur durch die Schocks im Gefolge des Ukraine-Krieges und der Pandemie befeuert wird.28

Mit der Inflationsbekämpfung wurde aber zugleich der Finanzsphäre die Liquidität abgeschnitten und die im Spätkapitalismus systemisch notwendige Defizitbildung erschwert. Salopp gesagt, kann das System jetzt nicht mehr so einfach auf Pump laufen (Im vergangenen Jahr ist das globale Verschuldungsniveau sogar deutlich zurückgegangen, wie der IWF meldete.).29 Wenige Monate nach der großen geldpolitischen Wende zu einer restriktiven Geldpolitik befindet sich somit die Finanzsphäre wieder am Rande einer ausgewachsenen Bankenkrise, was nur auf den oben skizzierten, systemisch notwendigen Verschuldungszwang des hyperproduktiven spätkapitalistischen Weltsystems verweist.

Dieser Verschuldungszwang des krisengeplagten Spätkapitalismus lässt sich ganz konkret anhand der Bilanzen der Notenbanken nachvollziehen, die, wie dargelegt, immer mehr Wertpapiere und Staatsanleihen aufkaufen mussten, um durch diese indirekte Gelddruckerei das Weltfinanzsystem zu stabilisieren. Mit dem Aufkommen der Inflation und der geldpolitischen Wende zu einer Hochzinspolitik sollte damit Schluss sein. die Bilanzsumme der US-Notenbank ist in der Tat innerhalb der letzten Monate rasch zurückgegangen, da kaum noch neue Anleihen und Wertpapiere aufgekauft wurden. Die Bilanzsumme der Fed sank von ihrem Mitte 2022 erreichten Höchstwert von knapp neun Billionen US-Dollar auf 8,3 Billionen. Doch nach der Bankpanik der vergangenen Tage musste im Rahmen der oben geschilderten Krisenprogramme wieder massiv Liquidität in die Märkte gepumpt werden, sodass die Bilanz der Fed auf mehr als 8,6 Billionen anschwoll. Wenige Krisentage reichten somit aus, um Monate des graduellen Abbau der langsam auslaufenden Wertpapiere in der Notenbankbilanz zu revidieren. Die Notenbanken werden ihre Funktion als Sondermülldeponieren des spätkapitalistischen Finanzsystems einfach nicht los.30

In dieser sich immer deutlicher abzeichnenden geldpolitischen Sackgasse manifestiert sich die langfristige Ausweglosigkeit kapitalistischer Krisenverwaltung. Es ist eine regelrechte Krisenfalle,31 in der sich die Geldpolitik befindet, die faktisch nur den weiteren Weg in die unausweichliche Krisenentfaltung bestimmen kann: Deflation oder Inflation? Entweder lässt man der Inflation freien Lauf, um Konjunktur und Finanzmärkte zu stabilisieren, oder man wählt den Weg der Deflation, der mit einem Finanzmarktbeben eingeleitet würde – wovor etwa das Wall Street Journal jüngst warnte.32

Diese Aporie kapitalistischer Krisenpolitik,33 die nur auf die innere Schranke des an seiner Produktivität erstickenden Kapitalverhältnisses verweist, konnte bislang durch den anhaltenden globalen Schuldenturmbau überbrückt werden, dem die aktuellen Inflationsschübe nun ein Ende zu setzen drohen. Die Politik kann somit letztendlich nur die Form der unausweichlich anstehenden Entwertung des Werts bestimmen: entweder über den Weg der Inflation, der das Geld als allgemeines Wertäquivalent entwerten würde, oder über den Weg der Deflation, bei dem Kapital in seinen konstanten (Fabriken, Maschinen, Produktionsstandorte) und variablen Aggregatzuständen (Lohnarbeitende) entwertet würde.

https://www.patreon.com/user?u=57464083

https://konicz.substack.com/

1 https://www.ft.com/content/b556badb-8e98-42fa-b88e-6e7e0ca758b8

2 https://www.konicz.info/2007/03/05/vor-dem-tsunami/

3 https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-03/usa-silicon-valley-bank-janet-yellen-signature-bank-notenbank?utm_referrer=https%3A%2F%2Fnews.google.com%2F

4 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/finanzen/kursrutsch-cryptobanken-101.html

5 https://www.dw.com/de/us-regierung-sichert-einlagen-bei-pleite-banken/a-64964942

6 https://edition.cnn.com/2023/03/14/politics/facts-on-trump-2018-banking-deregulation/index.html

7 https://www.konicz.info/2009/09/11/produkt-der-krise/

8 https://www.ft.com/content/72c25414-aabe-432a-a785-a8b2bd6887f9

9 https://www.finanzen.net/nachricht/zinsen/mitteilung-us-notenbank-fed-wirft-rettungsleine-aus-kreditlinie-soll-banksystem-stabil-halten-yellen-optimistisch-biden-verspricht-einlagensicherheit-12249312

10 https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-03/usa-silicon-valley-bank-janet-yellen-signature-bank-notenbank/seite-2

11 https://edition.cnn.com/2023/03/14/tech/viral-bank-run/index.html

12 https://www.ft.com/content/5e444ba2-0afc-49e8-bfec-5fc17ef7ee39

13 https://www.faz.net/aktuell/finanzen/us-banken-stuetzen-first-republic-bank-mit-30-milliarden-dollar-18754703.html

14 https://www.manager-magazin.de/unternehmen/banken/bankenkrise-fed-gibt-ueber-notfallprogramme-derzeit-mehr-geld-aus-als-nach-lehman-pleite-a-ef292d06-47de-40eb-b8ee-e5ebb999d2db

15 https://www.ft.com/content/85f6768d-0a01-41a3-8925-1c636d3f7dbc

16 https://www.ft.com/content/0324c5a6-cecd-4fb3-85b3-7cdc99a33e4e

17 https://www.konicz.info/2021/11/16/zurueck-zur-stagflation/

18 https://www.konicz.info/2019/01/28/die-urspruenge-der-krise/

19 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/

20 https://www.konicz.info/2015/08/26/die-grosse-liquiditaetsblase/

21 https://www.konicz.info/2021/01/30/hedge-fonds-gamestop-und-reddit-kleinanleger-die-grosse-blackrock-bonanza/

22 https://www.ft.com/content/bc7271f9-a0aa-4643-bed3-40d2d5ec80d1

23 https://www.konicz.info/2022/07/22/schuldenberge-in-bewegung/

24 https://www.konicz.info/2021/11/16/zurueck-zur-stagflation/

25 https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2022/12/12/riding-the-global-debt-rollercoaster

26 https://www.konicz.info/2021/08/08/dreierlei-inflation/

27 https://www.konicz.info/2022/09/03/the-walking-debt/

28 https://edition.cnn.com/2023/03/14/economy/cpi-inflation-february/index.html

29 https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2022/12/12/riding-the-global-debt-rollercoaster

30 https://www.federalreserve.gov/monetarypolicy/bst_recenttrends.htm

31 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/

32 https://www.wsj.com/articles/bank-failures-like-earlier-shocks-raise-odds-of-recession-beb1e376

33 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

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Oben       —   Der Hauptsitz der Silicon Valley Bank in Santa Clara, Kalifornien (2023).

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 22. März 2023

Immer diese Verbotsparteien

KOLUMNE VON – Silke Mertins

Unionsparteien gegen Tempolimit. –  Die CDU will kein Gendern an Schulen, keine Abtreibungen, kein Tempolimit – und Kiffen schon gar nicht. Wie gut, dass sie nicht mehr regiert.

Die Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet mich übellaunig. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt. Die Pandemie ist vorbei, die Testzentren geschlossen und die Masken entsorgt. Nur das Corona­virus scheint die politische Beschlusslage nicht mitbekommen zu haben und hat eines der wenigen Exemplare Mensch angefallen, die sich bisher der kollektiven Krankheitserfahrung entzogen haben: mich.

In der unmittelbaren Folge muss man sich als Vegetarierin nicht nur mit Hühnersuppe auseinandersetzen, die einem ungefragt von allen Seiten kredenzt wird, sondern auch mit Sorgen, für die man normalerweise keine Zeit hat. Ich sorge mich insbesondere um die Union. Wie gefährlich ist es für die Demokratie in unserem Land, wenn CDU und CSU beständig als übellaunige Verbotspartei auftreten?

Gendern in Schulen beispielsweise gehört nach Ansicht der Union verboten. Denn wo kämen wir hin, wenn Schü­le­r*in­nen selbst bestimmen könnten, wie gendergerecht sie schreiben wollen?, fragen sich die C-Parteien. Zu einer freiheitlichen Demokratie gehöre schließlich nicht, dass Halbstarke ihren eigenen Willen entwickeln. Obwohl mir Letzteres persönlich auch schwer auf die Nerven geht, ist die Ideologie, mit der die Union an das Thema Gendern herangeht, doch überaus besorgniserregend.

Natürlich würden CDU-Chef Friedrich Merz und sein bayrischer Bierzelt-Cowboy Markus Söder auch gern den Klimawandel untersagen. Weil das bisher nicht gelungen ist, würden sie gern die „Letzte Generation“ verbieten oder wenigstens vom Verfassungsschutz als „extremistisch“ einstufen und mit geheimdienstlichen Mitteln beobachten lassen. Wen kümmert es, dass der Präsident des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, das diese Woche ausdrücklich ablehnte?

Überholte Wertvorstellung

Auch ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen steht für die Union auf der Verbotsliste sehr weit oben. Es kostet zwar nichts und könnte ganz einfach zwischen 6 und 11 Millionen Tonnen CO2 im Jahr einsparen. Doch den konservativen Parteien fällt es schwer, ihre Selbstwahrnehmung der tatsächlichen Lage in unserem Land anzupassen. Für unsere Werte und freiheitliche Grundordnung ist diese radikale Haltung eine große Herausforderung.

Als Verbotsparteien haben CDU und CSU eine lange Geschichte. Das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen gehört beispielsweise zur DNA der konservativen Parteien. Wäre die Union noch an der Macht, wären selbst Informationen von Ärz­t*in­nen über Abtreibungen noch immer verboten. Sie ist in diesem Zusammenhang nicht in der Lage, die Konsequenzen ihres politischen Handels realistisch einzuschätzen.

Auch zu Cannabis hat die Union ein allein von Verboten geprägtes Verhältnis. Dabei würde sich ein Slogan wie „Kiffen, Küche, Kinder“ oder „Morgens einen Joint und der Tag ist dein Freund“ hervorragend für den bayrischen Wahlkampf eignen. Söder verbindet doch so gern Tradition und Moderne, Laptop und Lederhose. Er könnte dabei sogar einen Baum umarmen und keiner würde sich wundern.

Quelle       ;        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Krise, welche Krise ?

Erstellt von DL-Redaktion am 21. März 2023

Die Situation ähnelt der „Flüchtlingskrise“ von 2015.

Die EU erschwert es zwischen Verbrecher und Politikrt-innen zu Unterscheiden

Ein Debattenbeitrag von Daniel Bax

Doch die Debatte über ukrainische Geflüchtete verläuft völlig anders. Der Grund dafür ist Rassismus. Ein Zwei-Klassen-Asyl widerspricht den Werten, für die Europa sich sonst so gerne rühmt.

Was für einen Unterschied die Herkunft geflüchteter Menschen doch macht! Deutschland sieht sich zum zweiten Mal in kurzer Zeit mit einer großen Fluchtbewegung konfrontiert. Doch es geht damit völlig anders um als beim letzten Mal. Bis vor einem Jahr lautete das Mantra noch, „2015“ dürfe sich nicht wiederholen. Nun erleben wir mit der Massenflucht aus der Ukraine eine vergleichbare Krise wie zwischen 2014 und 2016, als Hunderttausende vor den Kriegen in Syrien, Irak und Afghanistan nach Europa flohen. Aber niemand kritisiert, Scholz habe „die Grenzen geöffnet“, oder zieht in Zweifel, dass ihre Aufnahme grundsätzlich „zu schaffen“ ist. Niemand fordert eine „Obergrenze“ für Geflüchtete aus der Ukraine. Nicht einmal von einer „Flüchtlingskrise“ ist die Rede – und das, obwohl allein aus der Ukraine schon jetzt mehr neue Flüchtlinge in Deutschland gezählt wurden als zwischen 2014 und 2016 zusammen.

Gewiss: Auch jetzt ächzen Städte und Kommunen unter dem Andrang so vieler Menschen, die Schutz und ein Dach über den Kopf brauchen. Auch jetzt lud die Regierung deshalb wieder zu einem „Flüchtlingsgipfel“, wo um Geld und die gerechte Verteilung von Geflüchteten gestritten wurde. Und auch jetzt regt sich mancherorts Unmut und rechter Protest. Aber im Vergleich zu 2015 verläuft die Debatte vernünftig, rational und gesittet – ganz anders als zwischen 2014 und 2016, als Gewalt und Untergangsstimmung herrschten. Damals hetzte die rechtsradikale Pegida-Bewegung auf den Straßen gegen „Bahnhofsklatscher“ und „Invasoren“. Mehr als Tausend Angriffe auf Flüchtlingsheime registrierten die Behörden 2015, im Jahr darauf nochmals genauso viele.

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Ich bin der Gauck – ich verspritze meine eigene Jauche

Namhafte Publizisten wie Rüdiger Safranski warfen der Regierung vor, Deutschland mit Flüchtlingen zu „fluten“. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck salbaderte, unsere Herzen seien zwar weit, doch unsere Möglichkeiten begrenzt. Und Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo entschuldigte sich quasi dafür, dass die Medien anfangs zu viel Mitgefühl gezeigt hätten.

Jetzt, wo noch mehr Flüchtlinge als damals in Deutschland Zuflucht suchen, nur diesmal aus der Ukraine, sind diese Stimmen verstummt. Selbst der spärliche Rest der Pegida-Bewegung demonstrierte zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine nur noch für „Frieden“ und hetzte nicht gegen die Menschen, die von dort flüchten.

Es ist nun nicht so, dass Menschen aus der Ukrai­ne keinen Rassismus kennen würden. Vorbehalte gegen Ost­eu­ro­päe­r*in­nen haben in Deutschland eine lange Tradition. Noch im Jahr 2004 musste sich die damalige rot-grüne Bundesregierung von der CSU vorwerfen lassen, „Schwarzarbeit, Prostitution und Menschenhandel“ begünstigt zu haben, weil sie die Visa-Vergabe für Ukrai­ne­r*in­nen erleichtert hatte. Seit 2017 dürfen ukrainische Bür­ge­r*in­nen sogar visumsfrei nach Europa reisen.

Die geopolitische Lage ist der Grund dafür, dass sich der Wind gedreht hat. Seit dem 24. Februar vergangenen Jahres gehört die Ukraine zu Europa, wenn man der offiziellen Rhetorik glauben mag. Auf Grundlage der „Massenzustrom-Richtlinie“ der EU dürfen Flüchtlinge von dort seit dem 3. März 2022 frei nach Europa reisen. Dieser humanitären Willkommenskultur möchten sich nur wenige verschließen. Und anders als 2015, als die Hilfsbereitschaft in breiten Teilen der Bevölkerung nur anfangs sehr groß war, ist die positive Stimmung gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine auch nach einem Jahr noch fast immer ungetrübt.

Natürlich spielt es eine Rolle, dass vor allem Frauen und Kinder nach Deutschland kommen und sie vor einem Krieg in der Nähe fliehen. Aber der Hauptgrund, warum sie anders aufgenommen werden als viele Flüchtlinge vor ihnen, ist schlicht: Rassismus. Nirgendwo zeigt sich das so krass wie im Nachbarland Polen. 2015 wehrte sich Polen strikt dagegen, nur ein paar Tausend Flüchtlinge aufzunehmen, und wollte höchstens Christen Asyl gewähren. Noch im Herbst 2021 verhängte die Regierung an ihrer Ost-Grenze den Ausnahmezustand, weil dort ein paar Tausend Menschen aus dem Irak und Afghanistan campierten, die aus Belarus nach Europa gelangen wollten. Nun hat Polen in kurzer Zeit über 1,5 Millionen Menschen aus der Ukraine aufgenommen, so viel wie kein anderes Land in Europa. Polen kann also, wenn es will. Plötzlich ist es auch okay, dass Flüchtlinge einfach von dort aus weiterziehen, wohin sie wollen. Ukrainische Staats­bür­ge­r*in­nen dürfen sich frei in Europa bewegen und niederlassen. Selbst Ungarn, Tschechien oder Dänemark, die Flüchtlinge bisher mit Schikanen oder gar Stacheldraht abschreckten, nehmen jetzt Ukrai­ne­r*in­nen auf.

Quelle        —          TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben      —       cartoon I created about refugees trying to reach Lampedusa

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« Jetzt ist die Zeit ! »

Erstellt von DL-Redaktion am 21. März 2023

Der Deutsche Evangelische Kirchentag übt Zensur aus

Auf schwarze Seelen fällt kein Segen

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von        :        Andreas Zumach /   

Die Vertreibung und Flucht von 750’000 Palästinenserinnen und Palästinensern 1948 darf man am Kirchentag nicht thematisieren.

«Jetzt ist die Zeit!» – unter diesem biblischen Motto aus dem Markus-Evangelium findet vom 7. bis 11. Juni in Nürnberg der Deutsche Evangelische Kirchentag (DEKT) statt. Erwartet werden bis zu 100’000 TeilnehmerInnen.  «Wichtige Themen der Zeit werden diskutiert, Fragen nach Frieden und Gerechtigkeit… und der Würde des Menschen gestellt», kündigt der DEKT in seinen Einladungen und Werbematerialien für die Grossveranstaltung an.

Der Präsident des Kirchentages, Bundesminister a.D. (Verteidigung und Innen) Thomas de Maizière (CDU) betont: «Wir brauchen einen offenen, ehrlichen Austausch untereinander, um der Zeit gerecht zu werden und gemeinsame Schritte zu gehen.»

Die Ausstellung wurde schon in über 150 Städten gezeigt

Diese wohlklingenden Ankündigungen gelten allerdings nicht für das Konfliktthema Israel/Palästina. Die Wanderausstellung «Die Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948» thematisiert die Vertreibung und Flucht von rund 750’000 PalästinenserInnen im Jahr 1948 – zunächst durch jüdisch-zionistische Milizen und nach der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948 durch die Streitkräfte des Landes – darf ausgerechnet zum 75. Jahrestag dieses Geschehens auf dem Kirchentag DEKT in Nürnberg nicht gezeigt werden.

Nur mit dieser Verbotsauflage erhielt der Verein «Flüchtlingskinder im Libanon» (FiL) e.V., der die Nakba-Ausstellung im Jahr 2008 aus Quellen israelischer Historiker konzipiert hatte, von der DEKT-Geschäftsstelle in Fulda die Zulassung für einen Stand auf dem Markt der Möglichkeiten beim Nürnberger DEKT.

Dieses von DEKT-Generalsekretärin Kristin Jahn und der für das Kirchentagsprogramm verantwortlichen Studienleiterin Stefanie Rentsch im November letzten Jahres übermittelte Verbot kam sehr überraschend. Denn auf vergangenen Kirchentagen seit 2010 wurde die Nakba-Ausstellung ohne Probleme gezeigt. Ebenfalls seit 2008 in über 150 Städten im In-und Ausland, auch in Basel, Bern, Biel, St. Gallen, Zürich und Bülach sowie bei der EU in Brüssel und der UNO in Genf.

Die Verantwortlichen drücken sich um eine Begründung

Für die Verbotsentscheidung gaben Jahn und Rentsch auch auf mehrfache Nachfragen hin keine Begründung. Die Entscheidung habe das für «das Programm des Kirchentages gesamtverantwortliche DEKT-Präsidium» getroffen «nach vorheriger Durchsicht und Prüfung» der Bewerbung des Vereins Flüchtlingskinder im Libanon «durch ein vom Präsidium eingesetztes Expertengremium».

Auch zahlreiche schriftliche Nachfragen bei dem «gesamtverantwortlichen» Präsidium nach den Gründen für das Verbot seit November letzten Jahres wurden bis Ende Februar nicht beantwortet. Selbst langjährige ehemalige Mitglieder des Präsidiums wie die frühere Kirchentagspräsidentin Elisabeth Raiser und ihr Mann, der ehemalige Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Konrad Raiser, erhielten keine Antwort.

Photo of the village or town

Der aktuelle Kirchentagspräsident Thomas de Maizière reagiert auf Briefpost an seine Dresdner Anschrift bisher nicht. Anfragen per E-Mail-Schreiben an sein Büro lässt der Kirchentagspräsident durch seine Mitarbeiterin, die Flensburger CDU-Landtagsabgeordnete Uta Wentzel mit diesen Worten abwimmeln: «Das Schreiben wurde gar nicht gelesen und daran besteht auch überhaupt kein Interesse. Wenn Sie vom DEKT keine Antwort auf Ihre Frage erhalten, müssen Sie sich halt damit abfinden.»

Von den übrigen 30 Mitgliedern des Präsidums (darunter Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, BWI-Staatssekretär und ATTAC-Mitbegründer Sven Gigold sowie BGH-Präsidentin Bettina Limperg) und den acht «ständigen Gästen» des Präsidiums aus der für den DEKT in Nürnberg gastgebenden Bayerischen Landeskirche, darunter Bischof Heinrich Bedford Strohm, antworteten nur wenige, die an die DEKT-Geschäftsstelle in Fulda verwiesen.

Auffällig viele der Angefragten erklärten zudem, sie seien gar nicht auskunftsfähig. Denn sie hätten an der Präsidiumssitzung, auf der das Verbot der Nakba-Ausstellung beschlossen wurde, gar nicht teilgenommen. Das wirft Fragen auf: Gab es überhaupt eine solche Sitzung? Und wenn ja: Existiert ein ordentliches Sitzungsprotokoll, aus dem Beschlüsse und ihre Begründungen hervorgehen? Wenn nicht: Von welchem Personenkreis wurde das Verbot tatsächlich beschlossen?

Wer die Mitglieder des «Expertengremiums» waren, das zum Verbot der Nakba-Ausstellung geraten hat, hält der DEKT bislang ebenfalls geheim. Nach informellen Informationen aus Kirchentagskreisen soll ein Experte (möglicherweise der einzige?) Christian Staffa gewesen sein, der Antisemitismusbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Staffa ist auch im Vorstand der seit 1961 bestehenden «AG Juden und Christen» beim DEKT.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag ist auskunftspflichtig

Das Verbot der Nakba-Ausstellung auf dem Nürnberger Kirchentag ist ein unakzeptabler Akt der Zensur und des Eingriffs in die Meinungsfreiheit. Der DEKT verhindert damit den demokratischen Dialog. Der bisherige Umgang des DEKT mit Fragen nach einer Begündung des Verbots ist willkürlich und selbstherrlich. Und das DEKT-interne Verfahren, das zu dem Verbot geführt hat, ist offensichtlich nicht einmal für Mitglieder des «gesamtverantwortlichen» Präsidiums transparent.

Der DEKT ist zwar ein Verein. Aber die Grossveranstaltung in Nürnberg ist keine Privatveranstaltung. Sie wird ausser durch Ticketverkäufe, Spenden und Sponsoring ganz wesentlich mit öffentlichen Geldern (Kirchensteuern und anderen Zuschüssen) finanziert. Aus diesem Grund ist der DEKT auskunftspflichtig.

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Zwischen Kriege und Krisen

Erstellt von DL-Redaktion am 21. März 2023

Krisenkeynesianismus der blinden Tat

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von       :     Tomasz Konicz

Während im Krisenalltag viele Elemente keynesianischer Wirtschaftspolitik zum Einsatz kommen, verwildert der Postkeynesianismus in der deutschen Linken zur Ideologie.

Ob stockkonservative Marktjünger1 oder bieder-sozialdemokratische Gewerkschaftler2: In Krisenzeiten sind sie alle Keynesianer. Bei jedem Krisenschub der letzten Jahre, als es mal wieder galt, den dahinsiechenden Spätkapitalismus mittels billionenschwerer Konjunkturprogramme und gigantischer Gelddruckerei vor dem Kollaps zu bewahren, erlebte der britische Ökonom, dessen nachfrageorientierte Konjunkturpolitik bis zur Ablösung durch den Neoliberalismus in den 1980er Jahren dominant war, eine flüchtige öffentliche Konjunktur. Nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase 2008 oder dem pandemiebedingten Einbruch 2020 sprachen plötzlich alle über John Maynard Keynes, der als Hofökonom der alten staatsgläubigen Sozialdemokratie eine aktive Rolle des Staates bei Investitionsprogrammen und Geldpolitik propagierte. Bis es, nach den üblichen Abnutzungserscheinungen im Medienzirkus, keiner mehr tat und der Kapitalismus nach der „keynesianischen“ Stabilisierungsphase wieder zum „Business as usual“ überzugehen schien.

Übrig blieben nur die im neoliberalen Zeitalter aus dem politischen und akademischen Mainstream verdrängten, beständig jammernden Keynesianer, mit denen sich nun die Linke jenseits der Sozialdemokratie herumplagen darf. Doch die beständige Klage aus dem Spektrum der Neokeynesianer und der Modernen Monetären „Theorie“ (MMT), wonach es mehr Keynesianismus brauche, damit alles wieder besser werde und der Spätkapitalismus an die Ära des Wirtschaftswunders anknüpfe, ist angesichts der politischen Realitäten – gelinde gesagt – deplatziert. Viele Instrumente des Keynesianismus kommen bei der Krisenverwaltung weiterhin zu Einsatz, sie werden nur nicht als solche thematisiert und wahrgenommen. Keynes ist längst pragmatischer Krisenalltag, etliche der Krisenmaßnahmen und -Programme, die das System seit 2008 stabilisieren, tragen seine Handschrift.

Und dies ist nur logisch vor dem Hintergrund der historischen Genese dieser Ökonomieschule: Der Keynesianismus erfuhr seinen Durchmarsch zum kapitalistischen Mainstream nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gerade als große „Lehre“ aus der 1929 einsetzenden Krisenphase – und die kapitalistischen Funktionseliten greifen in Krisenzeiten quasi reflexartig zu dessen Instrumentarium. Konsequente Regulierung der Währungs- und Finanzmärkte, der Staat als wirtschaftlicher Ordnungs- und Leitfaktor, der eine aktive Investitionspolitik betreibt, die nachfrageorientierte Lohn- und Sozialpolitik, bei der die Lohnabhängigen der Wirtschaftswunderzeit auch als Konsument*innen begriffen wurden und eine kontrazyklische Konjunkturpolitik, die mittels schuldenfinanzierter Konjunkturprogramme Rezessionen verhindern sollte, um in Boomphasen diese Schulden dann abzutragen – dies waren die inzwischen idealisierten Grundzüge der keynesianischen Wirtschaftsordnung bis zum Durchmarsch des Neoliberalismus unter Thatcher und Reagan, zu der die Neokeynesianer zurückkehren wollen.

Billiger geht’s nicht

Der pragmatische Rückgriff auf das Instrumentarium des Keynesianismus findet seinen klarsten Ausdruck in all den Konjunkturprogrammen, die im Gefolge der an Intensität gewinnenden Krisenschübe aufgelegt wurden. Folglich gewannen auch diese staatlichen Subventions- und Investitionspakete bei jedem Krisenschub an Umfang,3 wie die berüchtigte Unternehmensberatung McKinsey anhand der Weltfinanzkrise 2008/09 und des Pandemieeinbruchs 2020 darlegte.4 Schon Mitte 2020 summierten sich die globalen staatlichen Krisenaufwendungen, mit denen die Folgen des durch die Pandemie getriggerten Krisenschubs minimiert werden sollten, auf rund zehn Billionen Dollar – das Dreifache der Krisenprogramme von 2008/09.

Und es war gerade die 2008 konjunkturpolitisch zurückhaltende Bundesregierung, die damals nur mit der berüchtigten, klimapolitisch verheerenden Abwrackprämie für PKWs Negativschlagzeilen machte, die 2020 besonders weitreichende Krisenprogramme auflegte. In Relation zum deutschen Bruttoinlandsprodukt hat Berlin sogar das größte Konjunkturpaket aller westlichen Industrieländer aufgelegt: es umfasste 33 Prozent des BIP. Zudem leitete die Regierung Merkel auch in der „deutschen“ Eurozone eine graduelle Abkehr vom schäublerischen Austeritätsregime ein, indem sie Mitte 2020 einem europäischen Konjunkturprogramm im Rahmen des europäischen Haushalts zustimmte, das bei einem Volumen von 750 Milliarden immerhin Hilfszahlungen an die Peripherie von 380 Milliarden Euro beinhaltet.5

Und auch bei der Geldpolitik galt bis vor Kurzem bei Europäischer Zentralbank (EZB) wie Federal Reserve (Fed) die Devise, dass es billiger kaum noch gehen könne. Die Leitzinsen aller westlichen Währungsräume sind im 21. Jahrhundert in der Tendenz immer weiter gefallen. Zwischen 2009 und 2021 herrschte – mit kurzem Unterbrechungen – eine Nullzinspolitik, mit der Konjunktur und Finanzsphäre gestützt wurden. Zudem gingen die Notenbanken nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase zur schlichten Gelddruckerei über, indem sie zuerst Hypothekenpapiere und später zunehmend Staatsanleihen aufkauften – und so der Finanzsphäre zusätzliche Liquidität zuführten, die zur Inflation der Wertpapierpreise im Rahmen der großen, 2020 platzenden Liquiditätsblase führten. Im Laufe des 21. Jahrhunderts haben Fed und EZB ihre Bilanzsummen nahezu verzehnfacht, sie sind zu Mülldeponien des zum Dauerboom verurteilten spätkapitalistischen Finanzsystems und den größten Eigentümern von Schuldtiteln ihrer Staaten geworden.

Hyperaktiver Zentralbankkapitalismus

Die Notenbanken sind somit im Verlauf des Krisenprozesses zu zentralen ökonomischen Akteuren aufgestiegen, da ohne deren Intervention sowohl die Finanzsphäre wie die Staatsfinanzierung kollabiert wären. Es ließe sich von einem Zentralbankkapitalismus sprechen, wie es der Politökonom Joscha Wullweber in einem Buch mit diesem Titel tut, in dem die Abhängigkeit eines Teils der Finanzsphäre, des weitgehend unregulierten Marktes für Rückkaufversicherungen (Repos), von der Gelddruckerei der Notenbanken beleuchtet wird.6 Der derzeit aufgrund zweistelliger Inflationsraten unternommene Versuch von EZB und Fed (Einzig die Bank of Japan stemmt sich verzweifelt gegen den Trend),7 mit der Wende zu einer restriktiven Geldpolitik die auf mehrere Ursachen zurückzuführende Inflation (Pandemie, Krieg, geplatzte Liquiditätsblase, Klimakrise)8 einzudämmen, geht aber nicht zwangsläufig mit einem Ende der Aufkäufe von Staatsanleihen einher.

In der Eurozone wurde mit PEPP (Pandemic emergency purchase programme) eigens ein Krisenprogramm in Umfang von 1.850 Milliarden Euro geschaffen, mit dem zwecks Stabilisierung der Eurozone Staatsanleihen bei gleichzeitigen Leitzinsanhebungen aufgekauft werden (Nettozukäufe sollen im kommenden März ausgesetzt werden)9, wodurch die Inflationsbekämpfung faktisch unterminiert wird – und was wiederum die ökonomische Rolle des Staates stärkt, da dieser weiterhin im Rahmen von PEPP sein Haushaltsdefizit finanzieren kann. Zudem sind auch Schritte zu einer aktiven Wirtschaftspolitik des Staates erkennbar, vor allem hinsichtlich des Green New Deals. Neoliberale Hardliner10 klagen im Handelsblatt inzwischen laut über die staatlichen Bestrebungen zur ökologischen „Kreditlenkung“, die vor allem in der Einführung der EU-Taxonomieverordnung zur Definition nachhaltiger Investitionen zum Ausdruck kämen (Ironischerweise gelten dabei auch Investitionen in Erdgas und Atomkraft als „nachhaltig“). Überdies sprach sich Habecks Staatssekretär Sven Giegold – ein Attac-Aktivist der ersten Stunde – schon vor einem Jahr gegenüber der Financial Times (FT) für eine „aktive Industriepolitik“ Berlins aus, die „Innovationen unterstützen“ solle, um aus der BRD eine „ökologische und soziale Marktökonomie“ zu machen.11

Diese von zunehmender Staatstätigkeit geprägte Struktur des Krisenkapitalismus ist aber nicht Folge einer kohärenten Strategie, sondern Ausdruck der jeweiligen Bemühungen, während der akuten Krisenschübe einen Kollaps der Weltwirtschaft zu verhindern. Es ist ein Keynesianismus der blinden Tat, bei dem Funktionseliten quasi reflexartig agierten. Die oftmals als Provisorium eingeführten Notprogramme und Politikwechsel verstetigen sich dann im Krisenverlauf, sie gerinnen zu neuen Strukturen und Dynamiken in latenten Krisenphasen. Man „fährt auf Sicht“, so der damalige Finanzminister Schäuble über das Agieren der Bundesregierung während der Weltfinanzkrise 2009.12 Die Maßnahmepakete bauen schlicht aufeinander auf. Habecks aktive Industriepolitik etwa, für die Giegold in der FT die Werbetrommel rührte, hat ihren Vorläufer in der staatlichen Förderung „nationaler Champions“ unter seinem Vorgänger Peter Altmaier, der angesichts zunehmender Krisenkonkurrenz und informeller Staatssubventionen in China und den USA auch Deutschlands Exportindustrie gezielt fördern wollte.13

Dieses „Fahren auf Sicht“ der Funktionseliten in manifesten Krisenzeiten, bei dem in Reaktion auf Krisenschübe immer neue Elemente staatskapitalistischer Krisenverwaltung zur Anwendung gelangen, verleiht dieser Formation alle Züge eines Übergangsstadiums innerhalb der spätkapitalistischen Krisenentfaltung. Die ökonomischen und ökologischen Krisen, die die Politik zum Krisenkeynesianismus nötigen, sind ja nicht Ausdruck einer „falschen“ Wirtschaftspolitik, sondern der eskalierenden inneren und äußeren Widersprüche des Kapitalverhältnisses, die sich ganz konkret in beständig schneller steigenden Schulden (als die Weltwirtschaftsleistung) und einer unablässig ansteigenden CO2-Konzentration manifestieren.

Aufgrund eines fortwährend steigenden globalen Produktivitätsniveaus unfähig, einen neuen industriellen Leitsektor, ein neues Akkumulationsregime zu erschließen, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet würde, läuft das Weltsystem faktisch immer mehr auf Pump. Der Staat fungiert hierbei durch Gelddruckerei und Deficit Spending zunehmend als letzte Instanz der Krisenverschleppung, nachdem die Defizitbildung im Rahmen der neoliberalen Finanzblasenökonomie (Dot-Com-Blase, Immobilienblase, Liquiditätsblase) auf den heiß gelaufenen Finanzmärkten sich weitgehend erschöpft hat. So ist etwa der breit angelegte US-Aktienindex S&P 500 nach seinem historischen Höchststand von mehr als 4700 Punkten Ende 2021 inzwischen um rund Tausend Punkte eingebrochen.

Moderne Monetäre Ideologie

Die Spätphase des globalisierten Finanzblasenkapitalismus, in der die expansive Geldpolitik der Notenbanken zur Inflation der Wertpapierpreise in der Finanzsphäre beitrug – bis hin zum Schwarminvestmet und den flüchtigen Boom von Meme-Aktien wie GameStop14 – ließ auch eine extreme Form spät- und postkeynesianischer Wirtschaftsideologie aufkommen, die unter Ausblendung jeglicher systemischen Krisenanalyse – insbesondere des Zusammenhangs zwischen Blasenbildung und den offenen Geldschleusen der Notenbanken – behaupten konnte, dass alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Spätkapitalismus durch Gelddruckerei gelöst werden konnten. Die Zinsen und die Inflation blieben ja zwischen 2008 und 2020 niedrig.

Der Modern Monetary Theory (MMT) schien die Quadratur des kapitalistischen Kreises geglückt. Vollbeschäftigung, Sozialstaat, Wirtschaftswachstum und die ökologische Wende – all dies sei nur eine Frage der expansiven Geldpolitik, so die zentrale These der MMT. Dieser neokeynesianischen, in der sozialistischen Linken der Vereinigten Staaten sehr populären Geldtheorie zufolge können Regierungen, die ihre Währung kontrollieren, die Staatsausgaben frei erhöhen, ohne sich um Defizite sorgen zu müssen. Denn sie können jederzeit genug Geld drucken, um ihre Staatsschulden in ihrer Währung abzuzahlen. Inflation sei dieser Theorie zufolge so lange kein Problem, wie die Ökonomie nicht an natürliche Wachstumsgrenzen stoße oder es ungenutzte ökonomische Kapazitäten gebe, wie etwa Arbeitslosigkeit.

Gelddrucken bis zur Vollbeschäftigung – darauf zielt diese spätkeynesianische nachfrageorientierte Wirtschaftsideologie ab, die sich im Windschaden der von ihr unverstandenen, heißlaufenden Finanzialisierung des Kapitalismus ausbildete. Zumeist verweisen Befürworter der MMT auf die expansive Geldpolitik der US-Notenbank Fed, die von 2007 bis 2009 und ab 2020 mit Billionenbeträgen die strauchelnden Finanzmärkte stützte. Da die als „Quantitative Lockerungen“ bezeichnete Gelddruckerei anscheinend keine Inflationsschübe nach sich zog, will die MMT diese Krisenmaßnahmen gewissermaßen zur Leitlinie neo-sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik erheben. Durch expansive Geldpolitik soll das Angebot der Ware Geld so lange erhöht werden, bis eben die Nachfrage gedeckt sei, die Arbeitslosigkeit verschwunden und die Wirtschaft ordentlich brumme. Die historisch beispiellosen Aufkaufprogramme der Notenbanken, mit denen ein auf Pump laufender Spätkapitalismus mühsam stabilisiert wird, will die MMT letztlich zur neuen Normalität erklären – und somit in Ideologie, in die Rechtfertigung des Bestehenden übergehen.

Es ist auch kein Zufall, dass die MMT ihre politische Heimat in den USA hat, die mit dem US-Dollar die Weltleitwährung kontrolliert. Damit kann sich Washington im globalen Wertmaß aller Warendinge verschulden. Wie es aussieht, wenn Staaten der Peripherie dazu übergehen, ihre eigene Währung nach Gutdünken zu drucken, die im US-Dollar ihren globalen Wertmaßstab finden, kann aktuell etwa an der Türkei des „Zinskritikers“ Erdogen studiert werden, wo die Inflationsrate in den dreistelligen Bereich zu beschleunigen droht.15 Die MMT stellt somit nicht nur eine sehr exklusive Ideologie dar, die eventuell noch in der Eurozone Anhänger finden kann, sich aber anhand der Erfahrungen in der Peripherie und Semiperipherie schlicht blamiert.

Der Neokeynesianismus sieht also die Ursache der gegenwärtigen kapitalistischen Malaise hauptsächlich in mangelnder Geldversorgung. Deren tatsächliche Krisenursache bildet aber ein fehlender ökonomischer Leitsektor, ein fehlendes neues Akkumulationsregime, das massenhaft Lohnarbeit verwertete – und das aufgrund des hohen globalen Produktivitätsniveaus nie wieder errichtet werden wird. Irrationaler Selbstzweck des Kapital ist ja seine höchstmögliche Verwertung mittels der Ausbeutung von Lohnarbeit – der einzigen Ware, die als Substanz des Kapitals Mehrwert produzieren kann – in der Warenproduktion. Die keynesianische Nachfragepolitik tut hingegen so, als ob der Kapitalismus schon überwunden wäre, als ob die Bedürfnisbefriedigung – und nicht uferlose Kapitalverwertung – den Zweck der kapitalistischen Wirtschaft bildete. Es ist der übliche keynesianische Taschenspielertrick, der die Irrationalität kapitalistischer Vergesellschaftung einfach ausblendet.

Es ist eine einfache, seit den 1980er Jahren zu beobachtende Krisenregel: Wenn die Akkumulation des Kapitals der realen Wirtschaft stottert, dann setzt ein spekulatives Wachstum der Finanzsphäre ein. Ignoriert wird von der MMT hierbei der Zusammenhang zwischen den quantitativen Lockerungen und dem Wachstum des aufgeblähten spätkapitalistischen Finanzsektors. Die Gelddruckerei der Fed (wie die der Europäischen Zentralbank) führte sehr wohl zu einer Inflation – zur Inflation der Wertpapierpreise auf den Finanzmärkten. Ausgerechnet der von den Keynesianern verteufelte, aufgeblähte Finanzsektor – Fundament der als Konjunkturmotor fungierenden globalen Verschuldungsdynamik – bildete somit den entscheidenden Faktor, der eine Stagflationsperiode verhindere, wie sie in den 1970ern dem Keynesianismus das Rückgrat brach und den Weg für den Neoliberalismus öffnete. Der Neoliberalismus entfesselte die Finanzsphäre gerade in Reaktion auf die Krisenphase der Stagflation, was als Form der Krisenverzögerung zur Ausbildung des auf Pump laufenden, von Blase zur Blase taumelnden Zombie-Kapitalismus16 führte.

Die Rückkehr der deflationären Vergangenheit

Das Kapital geht somit in der Warenproduktion seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit, verlustig, was die mit immer größeren Schuldenbergen konfrontierte Politik in eine Sackgasse treibt: Inflation oder Deflation? Konkret wird die aus der inneren Schranke des Kapitals resultierende Aporie der kapitalistischen Krisenpolitik anhand des öden, seit Jahren gepflegten Streits17 über die Prioritäten der Wirtschaftspolitik zwischen angebotsorientierten Neoliberalen und nachfrageorientierten Keynesianern sichtbar. Der Twitter-Keynesianer Maurice Höfgen praktiziert gerne dieses stupide Schattenboxen.18 Es ist immer dieselbe Leier, abgespult in tausend Variationen: Der neoliberalen Warnung vor Überschuldung und Inflation bei Konjunkturprogrammen wird von den Keynesianern die Mahnung vor der deflationären Abwärtsspirale, ausgelöst durch Sparprogramme, entgegengehalten. Beide Streitparteien haben dabei mit ihren Diagnosen recht, was nur durch die Finanzblasenökonomie des neoliberalen Zeitalters überdeckt wurde. Nun, in der Ära der Stagflation wird es offensichtlich, dass gerade die Geldpolitik der Notenbanken sich in einer Krisenfalle befindet.19 Die Notenbanken müssten der Inflation wegen die Zinsen anheben, und zugleich die Zinsen senken, um eine Rezession zu verhindern.

Übrigens: an eben der oben skizzierten, historischen Stagflationsperiode der 1970er Jahre – zu der das spätkapitalistische Weltsystem auf einem viel höheren Krisenniveau derzeit quasi zurückkehrt20 – ist der Keynesianismus tatsächlich fulminant gescheitert. Nach dem Auslaufen des großen Nachkriegsbooms, der von dem fordistischen Akkumulationsregime getragen wurde, versagten alle Politikrezepte der Keynesianer. Der Neoliberalismus konnte ich also in den 1980ern nur deswegen durchsetzen, weil der Keynesianismus krachend – mit zweistelligen Inflationsquoten, häufigen Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit – gescheitert ist. Wenn ein abgehalfterter Keynesianer wie Heiner Flassbeck – stilecht im Querfrontmagazin Telepolis21 – behauptet, dass es nur die Energie- und Ölpreiskrise war, die damals wie heute den Krisen- und Inflationsschub auslöste, dann lügt er sich selbst in die Tasche. Der Keynesianismus konnte trotz aller Konjunkturprogramme kein neues Akkumulationsregime aus dem Boden stampfen – und er wird es auch jetzt nicht schaffen, neue Märkte hervorzuzaubern, bei deren Erschließung massenhaft Lohnarbeit auf dem globalen Produktivitätsniveau verwertet werden könnte.

Der Neoliberalismus „löste“ das Problem durch das spekulative Abheben der Finanzsphäre, der Finanzialisierung des Kapitalismus, also durch Krisenverschleppung im Rahmen einer regelrechten Finanzblasenökonomie, die durch drei Dekaden hindurch dem Kapital eine Art Zombieleben auf Pump ermöglichte. Dies ist auch der fundamentale Unterschied zwischen der Stagflation der 1970er und der jetzigen Stagflationsphase. Das Krisenniveau ist viel höher – und es läßt sich ganz einfach anhand der Relation zwischen Gesamtverschuldung und Wirtschaftsleistung ablesen, die von rund 110 Prozent zu Beginn des neoliberalen Zeitalters 1980, auf inzwischen 256 Prozent kletterte (ohne Finanzsektor).22

Und ein nachhaltiger Abbau dieses Schuldenbergs ist nur um den Preis einer Rezession möglich – also längerfristig eigentlich gar nicht. Ganz abgesehen davon, dass es ökologischer Wahnsinn ist, auf Rezessionen mit keynesianischen Konjunkturprogrammen zu reagieren. Die Rezessionen von 2009 und 2020, die im Gefolge der damaligen Krisenschübe ausbrachen, hatten die einzigen Jahre im 21. Jahrhundert zur Folge, in denen die CO2-Emissionen zurückgingen. Doch die oben geschilderten Konjunkturpakete führten in den Folgejahren zu den höchsten Emissionsanstiegen dieses Jahrhunderts. 2009 fiel der Ausstoß von Treibhausgasen um 1,4 Prozent,23 um 2010 dank keynesianischer Konjunkturprogramme um 5,9 Prozent24 zuzulegen! 2020 sanken die Emissionen pandemiebedingt wiederum um 4,4 Prozent, während sie 2021 aufgrund vielfacher Konjunkturmaßnahmen um 5,3 Prozent zulegten.25 Verelendung in der Rezession oder Klimatod? Hierin äußert sich die ökologische Aporie kapitalistischer Krisenpolitik.

Ideologisches Material für linken Krisenopportunismus

Verstockte Altkeynesianer wie Flassbeck, wie auch der vollkommen abgedrehte Nachwuchs rund um die MMT ignorieren diese simplen Zusammenhänge verbissen, die schlicht auf die Notwendigkeit der Systemtransformation verweisen. Immer noch wird das Märchen verbreitet, wonach eine falsche Politik zur Finanzialisierung, zum Abheben der Finanzmärkte in der neoliberalen Ära führte – und es nur darum gehen müsse, diese „einzuhegen“. Und selbstverständlich spulen sie routiniert ihr dumpfes Programm ab, um trotz zweistelliger Inflation vor einer restriktiven Geldpolitik zu warnen. Auch wenn es langsam schlicht peinlich wird, mit welcher Akrobatik die Evidenz der Krisenfalle bürgerlicher Politik geleugnet wird, um immer wieder die Inflation als eine „Anomalie“ abzutun, die mit „wahrer“ keynesianischer Politik bekämpft werden solle. Es gibt im rasch in Regression übergehenden Keynesianismus schlicht kein Schamgefühl, selbst wenn die eigenen Vorhersagen sich an der Krisenrealität dermaßen deutlich blamieren wie in der derzeitigen Stagflationsphase.

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Bei Flassbeck, dem notorischen Höfgen, wie bei vielen anderen Keyensianern, die absolut blind gegenüber der Weltkrise des Kapitals sind, gibt es einen Reflex, um alle Evidenz der ideologischen Sackgasse, in der sie sich befinden, abzustreiten. So wie die Inflation keine „echte“ Inflation sei, fordern sie bei der Krisenpolitik den „wahren“ Keynes, da alles, was bislang an Methoden zum Einsatz komme, dem Idealbild nicht entspreche. In aller deprimierenden Offenheit wird dies beim Autor des oben erwähnten Buches über den Zentralbankkapitalismus evident, der ellenlang beschreibt, wie die Notenbanken das aufgeblähte Finanzsystem stützen müssen, um dann zu behaupten, dies sei kein Keynesianismus, da Finanzmärkte nicht an die Kandarre genommen würden:26 „Das derzeitige starke Eingreifen der Zentralbanken in das Finanzsystem und selbst die Unterstützungsmaßnahmen der Regierungen während der Corona-Pandemie sind also kein Zurück zum starken Staat oder ein neuer Keynesianismus. Trotz der Schwere der Krisen ist es zu keinen weitreichenden wirtschafts- und finanzpolitischen Kursänderungen gekommen. Es ist eine Regierungsweise, die sich innerhalb der weiterhin vorherrschenden marktliberalen Wirtschaftsordnung vollzieht. Weder die Funktionsweise des Finanzsystems im Allgemeinen noch die des Schattenbankensystems im Speziellen werden infrage gestellt. Genau das müsste aber passieren, um die Krisenhaftigkeit des Systems zu überwinden.“

Tatsächlich kann der heutige Krisenkeynesianismus nicht dem alten Idealbild entsprechen, da er als Form prekärer Krisenverwaltung mit den Folgen der dekadenlangen Finanzialisierung des Kapitalismus konfrontiert ist. Es ist deprimierend: Joscha Wullweber beschreibt die Folgen dieser Finanzialisierung anhand der von ihm als „Schattenbanksystem“ bezeichnenden Repo-Geschäfte27 und beklagt die Folgen der raschen Expansion der Finanzsphäre, um dann im kapitalistischen Gedankengefängnis zu verbleiben und die strukturellen Dynamiken zur bloßen Frage einer falschen der Politik zu erklären. Und eben dieses Denken macht den Keynesianismus zu einem gern benutzten ideologischen Vehikel für linken Opportunismus.28 Keynesianer werden vor allem in der „Linkspartei“ hofiert, da sie die Systemkrise zu einer bloßen Politikfrage umlügen, was die intendierte Mitmacherei bei der Krisenverwaltung ganzer Linkspartei-Rackets von linksliberal bis rechtsnational legitimiert. Die verkürzte Kapitalismuskritik der Keyesianer ist längst zur Ideologie geronnen.

Postkeynesianische Kriegswirtschaft

Der Keynesianismus mit seinem drögen Deficit Spending und seiner Staatsgeilheit kann die sich zuspitzende innere und äußere Krise des Kapitals selbstverständlich nicht lösen, er kann aber als Übergang in eine neue Krisenqualität fungieren. Keynes kann aber – gerade bei Funktionseliten, die des Öfteren „auf Sicht“ agieren – einen brauchbaren Bootloader, ein Übergangsvehikel, zu einer qualitativ neuen Form autoritärer Krisenverwaltung abgeben. Das haben ideologisch avancierte Postkeynesianerinnen, wie die Taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, längst begriffen:29 In ihrem jüngsten Buch über das „Ende des Kapitalismus“, das eine weitgehend von der Wertkritik abgeschriebene Darstellung der äußeren Schranke des Kapitals mit einem Bekenntnis zur Kriegswirtschaft koppelt – inklusive Ukas (Erlass, russ.) und Rationierung. Dem auf dem rechten Auge blinden, von rechten Seilschaften durchsetzten deutschen Staat will die Taz-Redakteurin mit ungeheurer Machtfülle ausstatten und zur zentralen Instanz der gesellschaftlichen Reproduktion in der Krise machen. Frau Herrmann baut auch hier natürlich auf keynesianisch verkürzter Kapitalismuskritik auf, wo der Staat als großer Gegenspieler zum Kapital erscheint – und nicht als Teil des kapitalistischen Systems, das mit diesem untergeht, wie es reihenweise in den „Failed States“ der Peripherie bereits der Fall ist.

Darauf, auf autoritäre, postdemokratische Krisenverwaltung, exekutiert von erodierenden, mitunter offen verwildernden Staatsapparaten, läuft der Krisengang hinaus. Die Keynesianer spielen nur die – dummen oder perfiden – Jubelperser dieser objektiven Krisentendenz zum anomischen Autoritarismus. Der Keynesianismus, der nur aufgrund der absurden Rechtsverschiebung des gesamten politischen Spektrums als Teil der Linken links der Sozialdemokratie gilt, verkommt somit auch hier zur Ideologie in ihrem reinsten Sinn: Zur Rechtfertigung der drohenden autoritären staatskapitalistischen Krisenverwaltung, die das genaue Gegenteil der überlebensnotwendigen Emanzipation vom kollabierenden spätkapitalistischen Sachzwangregime wäre. Die Linke sollte folglich endlich dazu übergehen, die Keynesianer als das zu betrachten, was sie objektiv sind: als Ideologen.

Zuerst erschienen in: oekumenisches-netz.de, Netz-Telegramm Februar 2023.

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1 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/der-volks-und-betriebswirt/volkswirtschaftslehre-sind-wir-jetzt-alle-keynesianer-1775435.html

2 https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/in-der-krise-sind-alle-keynesianer

3 https://www.konicz.info/2020/10/27/vergleich-der-krisen-2020-vs-2008/

4 https://www.mckinsey.com/featured-insights/coronavirus-leading-through-the-crisis/charting-the-path-to-the-next-normal/total-stimulus-for-the-covid-19-crisis-already-triple-that-for-the-entire-2008-09-recession

5 https://www.sueddeutsche.de/politik/eu-sondergipfel-haushalt-1.4973847

6 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/507732/zentralbankkapitalismus/

7 https://www.konicz.info/2022/12/30/japan-in-der-krise-mehr-alkoholismus-wagen/

8 https://www.konicz.info/2021/08/08/dreierlei-inflation/

9 https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/pepp/html/index.en.html

10 https://www.handelsblatt.com/meinung/homo-oeconomicus/gastkommentar-homo-oeconomicus-kreditlenkung-ist-kein-gutes-rezept-fuer-klimaschutz/27974940.html

11 https://www.ft.com/content/fa740376-da98-4067-92b4-85d315bbb6e2

12 https://wolfgang-schaeuble.de/wir-fahren-auf-sicht-dazu-muss-man-sich-offen-bekennen/

13 https://www.ifo.de/publikationen/2005/aufsatz-zeitschrift/nationale-industriepolitik-brauchen-wir-nationale-champions

14 https://www.konicz.info/2021/01/30/hedge-fonds-gamestop-und-reddit-kleinanleger-die-grosse-blackrock-bonanza/

15 https://www.konicz.info/2022/01/31/werteverfall/

16 https://www.streifzuege.org/2017/wir-sind-zombie/

17 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

18 https://twitter.com/MauriceHoefgen/status/1610588756754534400

19 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

20 https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/wirtschaft/theorie/stagflation-inflationsrate-6794.html

21 https://www.telepolis.de/features/Die-Welt-vor-der-Rezession-Diese-alten-Fehler-werden-die-Lage-verschaerfen-7286773.html?seite=all

22 https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2021/12/15/blog-global-debt-reaches-a-record-226-trillion

23 https://www.reuters.com/article/us-climate-emissions-idUSTRE6AK1OU20101121

24 https://www.reuters.com/article/us-iea-co2-idUSTRE74T4K220110530

25 https://joint-research-centre.ec.europa.eu/jrc-news/global-co2-emissions-rebound-2021-after-temporary-reduction-during-covid19-lockdown-2022-10-14_en#:~:text=In%202021%2C%20global%20anthropogenic%20fossil,the%20world’s%20largest%20CO2%20emitters.

26 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/507732/zentralbankkapitalismus/

27 Repurchase Agreements (Repos) sind Rückkaufvereinbarungen. Hierzu Wullweber (Quelle in Fußnote Nr. 26): „Repos sind Verträge, bei denen Wertpapiere zu einem bestimmten Preis verkauft werden, um diese nach einer definierten Zeit zu einem vorher festgesetzten Preis plus Zinsen wieder zurückzukaufen. … Im Prinzip ist ein Repo nichts anderes als eine Pfandleihe: Die eine Seite benötigt Geld und hinterlegt als Sicherheit ein Pfand in Form eines Wertpapiers. Die andere Seite besitzt Geld und verleiht dieses gegen diese Sicherheit. … Ganz allgemein gibt es im Schattenbankensystem einerseits Finanzakteure wie Hedgefonds und Geschäftsbanken, die Geldmittel benötigen, um durch Geschäfte mit unterschiedlichen Risikoprofilen kurzfristig Profit erzielen zu können oder auch, um eine Unterdeckung von Kapitalreserven aufzufangen. … Auf der anderen Seite finden sich Geldmarktfonds, Vermögensverwalter, Pensionsfonds und andere institutionelle Investoren oder auch Unternehmen, die ihr überschüssiges Kapital mit verhältnismäßig geringen Risiken und vergleichsweise hohen Renditen anlegen möchten.“

28 https://www.untergrund-blättle.ch/politik/deutschland/linkspartei-opportunismus-in-der-krise-7288.html

29 https://www.konicz.info/2022/12/14/rebranding-des-kapitalismus/

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Besser gewappnet sein

Erstellt von DL-Redaktion am 20. März 2023

Europa muss es besser machen als China:

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Kohlemine in der Inneren Mongolei; 2005

Ein Debattenbeitrag von :    ELEONORA EVI, SANDRA DETZER, JORIS THIJSSEN, MARIE-PIERRE VEDRENNE

Echte Partner-schaften bilden und Industrien vor Ort aufbauen. Die EU-Kommission stellt ein neues Gesetz über kritische Rohstoffe vor. Ziel ist es, Krisen vorzubeugen sowie unabhängiger und nachhaltiger zu wirtschaften.

Wir alle in der Europäischen Union haben eine Vorstellung von Öl- und Gaskrisen. Die Älteren erinnern sich an die Ölkrise 1973, als arabische Länder ihre Öllieferungen einstellten. Die Jüngeren erleben gerade, wie Russland im Zuge des Angriffskrieges gegen die Ukraine Gas als Waffe einsetzt. Aber wer von uns hat je an eine Nickel-, Lithium- oder Kobalt-Krise als möglichen historischen Einschnitt gedacht? Was wäre, wenn uns China oder einige afrikanische Länder diese Metalle nicht länger lieferten? Spannen wir dann wieder Rettungsschirme und fragen uns, wie wir so naiv in sichtbare Abhängigkeiten geraten konnten?

Damit solche Krisen erst gar nicht entstehen, muss Europa für die Zukunft besser gewappnet sein. Darum ist es richtig, dass die EU-Kommission in Person von Binnenmarktkommissar Thierry Breton jetzt sein neues Vorhaben vorstellte: ein europäisches Gesetz über kritische Rohstoffe. Es soll uns helfen, über ausreichend kritische Rohstoffe wie Nickel, Lithium, Kobalt oder seltene Erden zu verfügen, damit nie ein europäisches Windrad oder eine europäische Solaranlage aus Rohstoffmangel keinen Strom liefert.

Noch kennen wir es nicht anders. Mangel an diesen kritischen Metallen, die wir meist in weiterverarbeiteter Form aus China beziehen, gab es bisher nicht. Das ist allerdings auch der Grund, warum wir in Europa nicht auf eine Rohstoffkrise vorbereitet sind.

Das neue europäische Gesetz markiert deshalb einen echten Neustart. Zum ersten Mal gibt sich Europa eine gemeinsame Strategie für kritische Rohstoffe. Es geht hier um elementarste Vorkehrungen für die eigene Sicherheit und den Klimaschutz.

Gerade für den Ausbau von Sonnen- und Windenergie als vorherrschende Energieträger ebenso wie für die Elektromobilität brauchen wir große Mengen kritischer Rohstoffe. Um sie über Jahre zuverlässig zu beschaffen, gibt uns der Raw Materials Act die nötigen Regeln. Das neue Gesetz schafft ein gemeinsames Verständnis für die Bedeutung kritischer Rohstoffen für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften. Es führt zu einem gemeinsamen Handeln der europäischen Akteure für sichere und diversifizierte Lieferketten. Es soll uns auf hohe ökologische und soziale Standards bei Bergbau und Weiterverarbeitung verpflichten.

Um damit erfolgreich zu sein, muss das Gesetz echte Partnerschaften zwischen den Ländern des Globalen Südens und der EU ermöglichen. Mit Investitionen in die Infrastruktur und die weiterverarbeitende Industrie vor Ort können wir echte Win-win-Situationen schaffen. Dabei sollte das Gesetz auch im Ausland hohe Umweltstandards und menschenwürdige Arbeitsplätze sicherstellen.

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Wer lernt Heute noch das lügen – wird auch Morgen noch betrügen. Die Luft in der EU wird besser, da der Dreck in China anwächst?

Europa muss seine strategische und industrielle Unabhängigkeit stärken. Es muss in der Lage sein, Wertschöpfungsketten für den Abbau und die Nutzung von Ressourcen innerhalb Europas zu schaffen. Das erfordert eine Reform der nationalen Gesetze, um kluge Bergbau-Regeln für die Einhaltung unserer Umweltambitionen umzusetzen und gleichzeitig bei der Rohstoffsouveränität voranzukommen. Mehr Unabhängigkeit müssen wir auch durch die Wiederverwendung von Rohstoffen gewinnen, die bereits im Umlauf sind. Das Gesetz setzt hier die richtigen Ziele: 10 Prozent der benötigten kritischen Rohstoffe sollen bis 2030 innerhalb der EU gefördert werden, 15 Prozent recycelt und 40 Prozent in der EU veredelt werden. Um diese Ziele zu erreichen, muss unser gesamter europäischer Industrieapparat in die Umgestaltungen einbezogen werden. Nur dann können wir Rohstoffe direkt in Europa nachhaltig nutzen, verarbeiten und wiederverwenden.

In der Vergangenheit verfügte bei der Rohstoffbeschaffung jedes europäische Land über seine eigenen Methoden. In Paris und Rom ließ man alte Verbindungen spielen, in Berlin vertraute man der Kraft der eigenen Großunternehmen. Das alles wird nun nicht mehr reichen.

Vor Ort in Ländern wie Simbabwe und dem Kongo haben chinesische Staatsunternehmen bereits umfangreich investiert und wollen es auch in Zukunft tun. Das ist grundsätzlich zu begrüßen, denn auch China investiert damit in Energiewende und Klimaschutz. Doch wir Europäer müssen hier nicht nur mit China gleichziehen, sondern es besser machen: Nämlich indem wir die weiterverarbeitende Industrie, die sich heute oft in China befindet, vor Ort aufbauen. Nicht umsonst hat Simbabwe gerade den Export von unverarbeiteten Lithium verboten. Das Land wartet auf die Investoren vor Ort.

Quelle         :        TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Eine Frage der Öffentlichkeit

Erstellt von DL-Redaktion am 20. März 2023

Strafen für rechtsextreme Polizei-Chats

Sehr viel Haus für wenig Kopf – wer fasst Denen am Schopf ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von      :     

Frankfurter Polizist:innen schickten sich in einer Messenger-Gruppe Hakenkreuze und machten sich über Minderheiten lustig. Es könnte sein, dass sie nicht strafrechtlich belangt werden, denn die Hürden dafür sind hoch. Wir erklären die Rechtslage.

Deutschland hat ein Problem mit Rechtsextremen bei der Polizei. Inzwischen vergeht kaum ein Monat, indem nicht rechtsextreme Umtriebe von Polizist:innen Schlagzeilen machen. Das hat oft auch eine digitale Komponente: Beamte geben Daten an Nazis herausschreiben selbst Drohbriefe an Linke oder schicken sich in Chatgruppen Hakenkreuze und rassistische oder antisemitische Sprüche.

Währen Innenminister:innen versprechen, mit aller Härte gegen Verfassungsfeinde in den Reihen der Polizei vorgehen zu wollen, bleibt die juristische Aufarbeitung bislang oft hinter den Erwartungen der Öffentlichkeit zurück. Wir haben zwei Expert:innen zur Rechtslage befragt: Sind rechtsextreme Chats von Polizist:innen wirklich nicht strafbar?

Hakenkreuze und Hitlerbilder

Anstoß für diese Recherche gab eine Entscheidung des Landgerichts Frankfurt zu einer rechtsextremen Chatgruppe von Polizist:innen. Mehrere Jahre lang hatten fünf Beamt:innen aus dem 1. Polizeirevier in Frankfurt und die Lebensgefährtin eines Beamten in der Messenger-Gruppe „Itiotentreff“ unter anderem Hakenkreuze, Hitlerbilder und Verharmlosungen des Holocausts ausgetauscht. Auch über Menschen mit Behinderung und People of Colour machten sie sich lustig und verleumdeten diese. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen zudem Gewaltdarstellungen und Besitz sowie Verbreitung pornographischer Schriften vor.

Die Gruppe flog nur durch Zufall auf: Diensthandys der Angestellten wurden untersucht, weil die Daten der Anwältin Seda Başay-Yıldız von einem Computer im 1. Polizeirevier abgerufen wurden, unmittelbar bevor sie einen rassistischen NSU2.0-Drohbrief erhielt.

Im Februar entschied nun das Landgericht, das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafverfahren gegen die Gruppe gar nicht erst zu eröffnen. Dabei besteht offenbar kein Zweifel daran, dass die Polizist:innen verbotene Kennzeichen geteilt und den Holocaust verharmlost haben.

Die Rechtslage ist kompliziert

Fälle wie dieser würden das „Vertrauen in die politische Integrität der Polizei stark beschädigen“, konstatiert im Gespräch mit netzpolitik.org Josephine Ballon von HateAid. Die Organisation unterstützt Opfer von Hasskriminalität. Immer wieder komme es vor, dass Betroffene von digitaler Gewalt die Taten nicht zur Anzeige bringen würden – aus Angst vor der Polizei. „Diese Menschen sorgen sich, dass sie bei der Polizei auf Täter:innen treffen.“ Auch die Angst davor, dass Polizist:innen Schindluder mit den Daten der Opfer treiben könnten, wie es in der Vergangenheit passierte, spiele eine Rolle.

Die Rechtslage ist in Hinblick auf Chatnachrichten durchaus kompliziert. Grundsätzlich können sowohl die Verwendung von Hakenkreuzen als auch die Verharmlosung des Holocausts in Deutschland strafbar sein. Relevante Paragrafen des Strafgesetzbuches sind hier § 86a zum Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen sowie § 130 zu Volksverhetzung. Ob die Straftatbestände bei rechtsextremen Chats tatsächlich zutreffen, hängt vom konkreten Fall ab.

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„Ist so kalt der Winter !“

Besonders komme es darauf, ob die fraglichen Äußerungen öffentlich oder in einer Versammlung getätigt wurden, erklärt der Düsseldorfer Rechtsanwalt Eren Basar. „Die Abgrenzung, was als Öffentlichkeit und was als Versammlung gilt, kann im Einzelfall sehr filigran sein.“ So habe der Bundesgerichtshof in der Vergangenheit zum Beispiel entschieden, dass das Posten eines Hakenkreuzes im Freunde-Feed auf Facebook mit mehreren hundert Kontakten durchaus als öffentliche Verbreitung gelte. Ein Mann, der ein Hakenkreuz in seinem Hausflur anbrachte, kam jedoch straffrei davon.

Wann ist eine Chatgruppe öffentlich?

„Das Strafrecht ist grundsätzlich sehr zurückhaltend, was Äußerungen und Haltungen angeht“, erklärt Basar, der sich als Mitglied des Deutschen Anwaltvereins regelmäßig mit den Themen Polizei, Sicherheit und öffentliche Ordnung auseinandersetzt. Auch wenn es manchmal schwer auszuhalten sei: Das sei ein wichtiger Grundsatz der liberalen Demokratie, „weil wir sonst Gefahr laufen, unliebsame Meinungen unter Strafe zu stellen.“

Im Fall des „Itiontreffs“ gehe das Landgericht Frankfurt offenbar von einer eindeutig nicht-öffentlichen Verbreitung aus und sehe den Chat auch nicht als Versammlung an, so Basar. Tatsächlich schreibt die FAZ, dass das Gericht in seiner nicht veröffentlichten Entscheidung darauf abstelle, dass die Chatgruppe exklusiv und jederzeit kleiner als zehn Personen gewesen sei. Offenbar haben sich die Polizisten in der Gruppe sogar darüber ausgetauscht, dass ihr Verhalten strafbar wäre, wenn es einer größeren Öffentlichkeit zugänglich wäre. Von einer öffentlichen Verbreitung könne deshalb nicht die Rede sein, so das Landgericht. Teile der Äußerungen seien zudem satirisch und von der Kunstfreiheit gedeckt.

Auch Josephine Ballon von HateAid räumt ein, dass die Voraussetzungen für eine Verurteilung wegen Messengernachrichten hoch seien. Im Fall der Frankfurter Nazi-Chats sieht sie die Sache jedoch nicht ganz so eindeutig wie das Landgericht. Die Juristin verweist auf mehrere Gerichtsentscheidungen, die Menschen wegen Volksverhetzung in kleinen und nicht-öffentlichen Chatgruppen verurteilten. Der erste Absatz des Volksverhetzungsparagrafen setze nämlich weder Öffentlichkeit noch Verbreitung voraus, sondern stelle auf die Störung des öffentlichen Friedens ab.

Wichtiger als die Frage der Öffentlichkeit sei hier die Frage der Diskretion. Also: Ob sich die Kommunikationsteilnehmer:innen darauf verlassen können, dass die Inhalte nicht den Kreis der Chat-Gruppe verlassen und dann den öffentlichen Frieden beeinträchtigen. Ein Familienchat sei zum Beispiel vertraulicher als einer mit Kolleg:innen. So wurde kürzlich in Fulda ein junger Mann wegen rassistischer Bilder in einem Chat mit zehn Freunden verurteilt und 2020 ein Würzburger Faschingsfunktionär, der volksverhetzende Inhalte in einer 20-köpfingen Chat-Gruppe mit Vereinskolleg:innen geteilt hatte.

Gleiche Maßstäbe für alle

Klar sei jedenfalls, dass Polizeibeamte sich grundsätzlich nicht mit vermeintlicher Unwissenheit herausreden könnten. „Sie bringen eine Vorbildung mit und sind auf die Verfassung vereidigt“, so Ballon. Dass die Chats der Frankfurter Polizist:innen von der Kunstfreiheit gedeckt sein könnten, hält Ballon für unwahrscheinlich. „Hier geht es ja offenbar um eine Gruppe, die dem regelmäßigen Austausch rechtsextremer Inhalte diente.“

Wie es in dem Fall weitergeht, muss nun das Oberlandesgericht entschieden. Die Staatsanwaltschaft hat Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts eingelegt, das Verfahren nicht zu eröffnen. „Für die Öffentlichkeit wäre das kein gutes Signal, wenn diese Polizist:innen straffrei bleiben“, findet Josephine Ballon, „auch wenn die öffentliche Signalwirkung natürlich kein Bemessungsmaßstab für Strafen ist.“

Müssten dann vielleicht für die Chatgruppen von Polizist:innen andere Maßstäbe gelten? Das halten weder Ballon noch Basar für eine gute Idee. Einer der Grundsätze des Strafrechts sei es, dass alle Menschen gleich behandelt werden. „Polizist:innen sind auch Bürger:innen“, sagt Ballon. „Daran sollten wir nicht rütteln“, sagt Basar.

Rechtsextreme aus dem Dienst entfernen

Handlungsbedarf sehen die beiden trotzdem: In der konsequenten Anwendung des Disziplinarrechts. Denn unabhängig von Strafverfahren müssten rechtsextreme Beamte dienstrechtliche Konsequenzen zu spüren bekommen. „Im Endeffekt geht es doch darum, dass wir keine Leute als Beamte haben wollen, die eine rechtsextreme Haltung teilen oder mit deren Kennzeichen spielen“, so Basar. „Schon gar nicht als Beamte, die über die rechtliche Befugnis zur Ausübung physischer Gewalt verfügen.“ Wer Volksverhetzung verharmlose, müsse aus dem Dienst entfernt werden.

Basar verweist hier auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Es hatte im Fall eines Soldaten entschieden, dass dieser aufgrund rechtsextremer WhatsApp-Nachrichten aus dem Dienst entfernt werden könne. Dessen Verteidigung, es habe sich lediglich um geschmacklose Witze gehandelt, hatte das Gericht nicht gelten lassen.

Im Fall der Frankfurter Polizist:innen liegt das Disziplinarverfahren derzeit noch auf Eis. Aus juristischen Gründen muss erst der Ausgang eines möglichen Strafverfahrens abgewartet werden, die Entscheidung des Landgerichts ist wegen der Beschwerde der Staatsanwaltschaft noch nicht rechtskräftig.

Unterdessen bringt Josephine Ballon einen weitere Verbesserungsmöglichkeit ins Spiel: Die Polizei müsse deutlich stärker für Aufklärung unter Polizist:innen sorgen. Regelmäßig veranstalte HateAid Workshops und Vorträge bei der Polizei. Hier nehme sie insgesamt ein gesteigertes Problembewusstsein für Rechtsextremismus in den eigenen Reihen wahr. Von einer ganzheitlichen Antidiskriminierungsbildung und vor allem Sensibilisierung für Extremismus im digitalen Raum sei die Polizei aber noch weit entfernt. 

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —    Frankfurt Police HQ. Main entrance at Adickes Avenue.

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Zu Ostern für Frieden

Erstellt von DL-Redaktion am 20. März 2023

Abrüstung und ein Ende des Krieges in der Ukraine aktiv werden!

File:Saarlouis Kleiner Markt.jpg

Kleiner Markt in Saarlouis, Blick in die Französische Straße

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von  :   Waltraut Andruet

Frieden muss verhandelt werden. –  Mahnwache mit Infostand am Mittwoch: 29. März 2023 17.00 bis 18.00 Uhr Saarlouis, auf dem Kleinen Markt vor Peek & Cloppenburg.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat zu unzähligen Toten und Verletzten sowie zu Millionen Geflüchteten geführt. Infolge des Krieges sind die Beziehungen zwischen NATO und Russland an einem besorgniserregenden Tiefpunkt angelangt, wodurch auch die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs zugenommen hat. Zusätzlich zu den riesigen Rüstungsetats planen Deutschland und andere Staaten weitere Milliarden Euro in Aufrüstungsprojekte zu stecken. Wir warnen: Die ungehemmte Aufrüstung, immer mehr Krieg, zunehmende soziale Ungleichheit sowie Umweltzerstörung und Klimakrise führen die Menschheit in den Abgrund!

Wir fordern die Staaten und Regierungen weltweit zum Umdenken auf. In Kooperation, nicht in Konfrontation liegt die Lösung der globalen Probleme. Nur durch internationale Zusammenarbeit werden Abrüstung, eine atomwaffenfreie Welt und die Bewältigung der Klimakrise möglich! Von Russland fordern wir das Ende des Krieges gegen die Ukraine! Die Bundesregierung fordern wir auf, endlich wieder Friedensinitiativen zur Beendigung des Krieges zu starten und die Verhandlungsbereitschaft aller involvierten Parteien zu fördern. Die Menschen in der Ukraine brauchen dringend Friedensperspektiven. Immer mehr Waffenlieferungen schaffen keinen Frieden und werden die Spirale der Gewalt nicht durchbrechen. Dies ist nur durch einen Waffenstillstand, Verhandlungen und langfristig durch Versöhnung möglich – in der Ukraine und den Konflikten weltweit!

Wir zeigen uns solidarisch mit allen von Kriegen und Konflikten betroffenen Menschen, wie etwa in Afghanistan, Äthiopien, Irak, Jemen, Mali, Myanmar, Syrien oder der Ukraine. Daher fordern wir die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen sowie Asyl und Schutz für alle Menschen, die vor Kriegen fliehen, den Kriegsdienst verweigern oder desertieren.

Für Frieden, Abrüstung und Gerechtigkeit gehen wir Ostern auf die Straße und rufen alle zur Teilnahme an den Ostermärschen auf. Selten war es dringender!

Waltraud Andruet, FriedensNetz Saar und pax christi Saar Infos.: www.friedensnetzsaar.com

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Oben       —    Kleiner Markt in Saarlouis, Blick in die Französische Straße

Author Xocolatl (talk) 18:42, 11 April 2010 (UTC)       /       Source   :  Self-photographed      /      Date    :  2010

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ChatGPT löst Krise aus

Erstellt von DL-Redaktion am 19. März 2023

Hausaufgaben aus der Maschine

Tote Augen – leerer Sinn, welche Rergierung steuert von innen ?

Von Philipp Brandstädter

Schüler überlassen das Schreiben ganzer Aufsätze einer künstlichen Intelligenz. Kritiker fürchten, dass der Persönlichkeitsentwicklung dadurch etwas Zentrales verlorengeht. Stimmt das?

Die ersten Videos liefen zum Jahreswechsel auf Sihams Smartphone ein. Von da an folgte ein Tiktok-Kurzclip auf den nächsten, neben Kosmetik-, Tanz- und Tiervideos immer wieder ChatGPT, die geniale Erfindung. „Ständig erzählte irgendjemand, wie einfach man damit Hausaufgaben machen kann und wie es das ganze Schulleben auf den Kopf stellen würde“, sagt die Schülerin aus der Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln. „Also habe ich es selbst ausprobiert.“

Seit ChatGPT Ende November 2022 gestartet ist, drehen sich die Diskussionen in sozialen Netzwerken oft um das auf einer künstlichen Intelligenz (KI) basierende Sprachsystem. Und SpiegelZeitFAZ machen KI zum Titelthema. Was KI bereits alles kann, wo KI schon überall eingesetzt wird, wann KI unsere Arbeit übernimmt. Wöchentlich gibt es neue Experteninterviews, oder die KI schreibt die Kolumnen gleich selbst – wie einmal im Monat in der wochentaz, wo die künstliche Intelligenz Anic T. Waed Autorin der Kolumne „Intelligenzbestie“ ist.

ChatGPT, so heißt es, könne komplexe Fragen beantworten, gebe Erklärungen und Tipps, helfe genauso schnell bei der Reiseplanung, wie sie einen Computercode oder ein neues Theaterstück schreibt.

„Zuerst habe ich die Englischaufgaben damit gemacht“, sagt Siham. „Frage eingeben und die Antwort kopieren. Das geht total einfach, wenn man mal faul ist oder keine Zeit hat.“ Auch bei grundsätzlichem Lernstoff, für den im Unterricht der Oberstufe mal wieder nicht genug Zeit blieb, hilft ChatGPT nach. Dadurch wurde die KI zum Standard-Tool der 17-Jährigen. „Wenn mir die Antwort nicht ausreicht, schreibe ich:,Erkläre das genauer‘, oder ich stelle meine Frage anders. Schon bekomme ich einen neuen, detaillierteren Text, der mir beim Lernen hilft.“

War das jetzt schon gemogelt?

In diesen Tagen macht sich mal Begeisterung breit, mal Besorgnis. Dabei hätten wir auch schon vor Jahren von KI überwältigt sein können: Erst bezwingt ein Computer den Weltmeister im Schach, dann helfen Navis beim Autofahren, später empfehlen uns Algorithmen personalisierte Inhalte wie Bücher, Musik, Filme und Schnäppchen. Aber so richtig von den Socken sind wir erst, als eine KI beginnt, auf Zuruf verrückte Bilder zu zeichnen oder in einem Chatfenster mit uns zu plaudern. Faszinierend und gruselig zugleich.

Gruselig vor allem für Schulen und Universitäten. Denn dort, wo Schreiben eine Persönlichkeit ausbilden, kritisches Denken fördern und junge Menschen zu mündigen BürgerInnen erziehen soll, beginnen die jungen Menschen, das Schreiben einer Maschine zu überlassen.

Wenn dieser Schritt aber von einem Computer übernommen wird, geht in der Persönlichkeitsentwicklung nicht etwas Zentrales verloren? Muss das Bildungswesen einschreiten? Kann man das überhaupt verhindern?

Gerade wurde Siham von ihrem Lehrer erwischt. Was heißt schon „erwischt“: „Warum soll ich nicht ChatGPT benutzen? Ist doch auch nicht groß anders als Googeln.“ Siham sucht in ihrem Chatverlauf mit ChatGPT, um welches Thema es ging, kann den Dialog mit der Sprach-KI aber auf die Schnelle nicht finden. Es war im Politikkurs, die Hausaufgabe hatte irgendwas mit Verfassungsorganen und dem Bundesrat zu tun. „ChatGPT hat da auch ganz gute Antworten geliefert, aber dann ist mein Lehrer stutzig geworden.“

„Das war Zufall“, sagt Lehrer Friedemann Gürtler. „Ich hatte mit ChatGPT gespielt und viele dieser typischen, abwägenden Antworten erhalten.“ Si­hams Sätze in der Hausaufgabe hatten einen ganz ähnlichen Ton. „Die abwägende Antwort hat nicht so recht zu der eindeutigen Fragestellung gepasst.“

Hat Siham etwas Verbotenes getan? Hat sie getäuscht? Plagiiert? Friedemann Gürtler war sich da auch nicht so ganz sicher. Also hat er Siham gebeten, ein Referat über ChatGPT zu halten. Da hatten schon die meisten SchülerInnen in Sihams Oberstufe von dem Programm mitbekommen. „Inzwischen nutzt jeder ChatGPT für die Schule“, sagt Siham. „Das ist total nützlich und auch richtig so. Nur wird es ab jetzt für die Lehrkräfte schwierig werden, die schriftlichen Leistungen zu bewerten.“

ChatGPT soll in Minnesota eine Juraprüfung bestanden haben

Dass Computer Fließtexte generieren, die sich nicht von jenen unterscheiden lassen, die Menschen verfassen, ist für die Lehre ein Riesenproblem. ChatGPT soll an der Uni von Minnesota sogar schon eine Juraprüfung bestanden haben. Auch im Theo­rieteil, den MedizinerInnen ablegen müssen, um in den USA praktizieren zu dürfen, hat ChatGPT locker die vorgeschriebene Mindestpunktzahl erreicht.

Warum also nicht einfach ChatGPT verbieten?

In den USA ist das teilweise schon geschehen, der Schulbezirk in New York hat sich dazu entschieden. In der EU feilen Kommission und Parlament seit zwei Jahren am Artificial Intelligence Act, dem ersten Regelwerk für KI. Sogenannte Hochrisikoanwendungen sollen dabei eingeschränkt werden wie die Gesichtserkennung oder die Prüfung der Kreditwürdigkeit. ChatGPT ist per Definition auch ein Hochrisiko, solange die generierten Texte nicht einer Person zugeschrieben werden. Irgendjemand muss ja dafür gerade­stehen, sollte die Maschine sexistischen, rassistischen, manipulativen, zusammengelogenen Mist verzapfen. Kann man Schulen so eine Maschine zumuten?

Berliner Firma bringt eigene Version heraus

Gerade einmal fünf Tage brauchte ChatGPT, um weltweit eine Million NutzerInnen zu erreichen. Kein anderer Onlinedienst hat diese Marke so schnell geknackt. Instagram brauchte knapp drei Monate, Twitter zwei Jahre. Der irrwitzige Hype überrascht auch Fachkreise, denn Sprachmodelle wie GPT, die bei Google LaMDA und bei Face­book OPT-175B und jetzt LLaMA heißen, gibt es schon etwas länger, auch wenn sie noch nicht frei nutzbar sind.

GPT steht für Generative Pretrained Transformer und ist ein neuronales Netz, dessen Verbindungen sich zwischen den Rechenknoten bei Erfolg verstärken. Dadurch lernt das Netzwerk, ähnlich wie unser Gehirn es tut. Die künstliche Intelligenz wurde mit massenhaft Textdaten trainiert: Artikel, Aufsätze, Blogeinträge, wissenschaftliche Papers, Belletristik, Kochrezepte – Millionen Texte, größtenteils aus dem Internet und ein beträchtlicher Stapel Fachbücher.

Es ist in etwa so, als hätte man ein Kind in eine Bibliothek gesperrt, wo es sich mit der Zeit einen Sinn aus den Texten zusammengereimt hat. Welcher Buchstabe folgt mit welcher Wahrscheinlichkeit auf den anderen? Welches Wort folgt auf welches Wort? Welche Wortfolgen passen grammatikalisch und inhaltlich zusammen? Auf der Grundlage von erlernten statistischen Wahrscheinlichkeiten imitiert ChatGPT menschliche Sprache und erzeugt mit jeder Anfrage einen neuen Text. In seiner inzwischen dritten Version macht das Programm das so gut, dass unsereins in der Regel die Luft wegbleibt.

Für ChatGPT wurde das bestehende Sprachmodell lediglich mit einer Chatfunktion garniert. Das macht es leicht, das Programm zu benutzen, und bringt auch noch Spaß mit ins Spiel. So können alle „prompten“, also eine Anfrage an das Programm richten. Und die Erfinder von ChatGPT konnten ihr Monster auf die ganze Welt loslassen, das seitdem durch die Prompts von derzeit weit über 100 Millionen Menschen weiter trainiert und verbessert wird.

Dass diese kostbaren Daten gerade Sekunde für Sekunde den Internet­riesen durch die Lappen gehen, macht ChatGPT zu dem großen Ding, das es gerade ist. Zum ersten Mal spurtet Google nicht vorweg, sondern muss nachziehen. Hastig hat es sein eigenes künstliches Sprachmodell namens Bard veröffentlicht, das bei dessen Vorstellung gleich mal eine falsche Info verbreitete und die Aktie von Googles Mutterkonzern Alphabet absacken ließ. Chinas Suchmaschine Baidu antwortet derweil mit ihrem Chatbot Ernie.

Ernie und Bard, kein Witz. Und ausnahmsweise gibt es mit dem Heidelberger Unternehmen Aleph Alpha auch einen deutschen Player, der in Sachen KI auf Augenhöhe mitmischt.

Andere Firmen nutzen GPT3 für ihre Produkte, alle können die Sprach-KI kostenfrei in ihre Software einbauen. Zu diesen Firmen gehört auch Mindverse aus Berlin-Spandau. Geschäftsführer Noel Lorenz, 25 Jahre alt, spaziert durch die neuen Räume, in die er vor Kurzem mit seinem Team eingezogen ist. Sein Personal verdoppelt sich gerade, der hintere Trakt der Etage ist noch eine Baustelle.

„Von GPT3 war ich schon fasziniert, als es noch in der Beta­phase steckte“, erzählt Lorenz. Da war das Modell endlich in der Lage, selbstständig Muster in seinen Daten zu erkennen und menschenähnliche Texte zu erstellen. Das gelang, weil die KI mit einer Datenmenge trainiert wurde, die bald 1.500-mal so groß war wie die der Vorgängerversion.

Vor zwei Jahren gegründet, surft Mindverse nun auf der Erfolgswelle von ChatGPT mit. „Im Vergleich zu GPT kann Mindverse besser Deutsch und ist dank seiner Livedaten aus dem Internet moderner“, sagt Lorenz. ChatGPT greift nur auf Datensätze bis zum Jahr 2021 zurück. Seit zehn Jahren programmiert Lorenz, vor sieben Jahren hat er seine erste Firma gegründet, dann verkauft. Er hat ein bisschen Medizin studiert, ist aber lieber zu BWL gewechselt. Der schwarze Steve-Jobs-Rolli unter dem Sakko lässt erahnen, welche Richtung seine Karriere einschlagen soll.

Neben der Chatfunktion bietet Mindverse zusätzliche Feintuning-Modelle, die sich gezielter auf die Datensätze beziehen als bei ChatGPT. „Das neuronale Netzwerk antwortet nur so gut, wie es gefragt wird. Daher konkretisieren wir die Anfragen mit unserer Software.“ Eine Funktion ist dafür gemacht, Stichpunkte in Fließtext zu verwandeln, eine andere soll Aufsätze mit Thesen und Argumenten schreiben, die nächste werbewirksame Überschriften erfinden oder Songtexte dichten.

„Die KI wird ständig von unseren Power­usern trainiert und bewertet“, sagt Lorenz. Das bedeutet, dass das Sprachmodell weiter lernt und umso menschlicher wird, während es den Gesprächspartner spielt. Außerdem bezieht die Maschine Formeln ein, die die Lesbarkeit von Texten berechnen: das Flesch-Kincaid-Grade-Level, den Gunning-Fog-Index, den Coleman-Liau-Index. Diese Formeln zählen Buchstaben, Silben und Wörter und berechnen, wie verständlich ein Satz sein muss. Unabhängig von dessen Inhalt ist das wichtig für die Suchmaschinenoptimierung. Je besser die berechnete Lesbarkeit, desto höher das Ranking bei Google und Co.

Im Gegensatz zur ersten Version von ChatGPT gibt Mindverse auch die Websites an, die die KI als Quelle genutzt hat. Das könnte bei Hausarbeiten ein entscheidender Vorteil sein. „Wir haben bestimmte offizielle Websites als seriös eingestuft und bewerten Quellen höher, je häufiger sie verlinkt werden“, sagt Noel Lorenz. Außerdem hat der Mindverse-Kopf auch an den Datenschutz gedacht. Die Prompts und Entwürfe können über anonyme Konten verfasst werden.

Das hat Thomas Süße auf das Programm aufmerksam gemacht. Er steht vor einem Smartboard in den Räumen des Campus Gütersloh, einem schlichten weißen Gebäude hinter dem Bahnhof, auch „Gleis 13“ genannt. Die Studierenden machen hier hauptsächlich etwas mit Maschinen: Mechatronik, Engineering, Logistik, digitale Technologien. Sozialwissenschaftler Süße bringt die menschliche Komponente in die Maschinenwelt, indem er zur Transformation der Arbeit forscht. „Die Technisierung verändert, beschleunigt, erleichtert unsere Arbeit“, erklärt der Professor. „Sie setzt uns aber auch unter Druck.“

Technostress nennt Thomas Süße das, die Schattenseite der Digitalisierung. Er kritzelt blaue Pfeile und Kürzel an die Wand und denkt laut: „Bislang haben sowohl Hochschulen als auch Schulen nur sehr wenig wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie Schüler und Studierende die Sprach-KI sinnvoll nutzen.“ Es gibt noch keine gesicherten Antworten. Wie auch, ChatGPT ist zu neu – und das Bildungswesen zu langsam. „Darum brauchen wir jetzt Grundlagenforschung, und zwar schnell.“

Doch Lernerfolg lässt sich nicht so einfach nachweisen. Gelernte Kompetenz, das umfasst neben Fachwissen auch kreatives Schaffen, kritisches Denken, Zusammenarbeit, die Fähigkeit, sich mitzuteilen. „Das sind alles persönlich empfundene und eingeschätzte Werte“, sagt Süße. „Mein Job ist es, diese schwer erfassbaren Variablen besser messbar zu machen.“ Dazu will er eine große Gruppe SchülerInnen befragen, die regelmäßig eine Sprach-KI nutzt.

Der Plan: Eine Klassenstufe soll ihre Facharbeit schreiben und dabei Mindverse verwenden dürfen. „Wir wollen wissen, welche Rolle die Sprach-KI spielt: ob sie Ideen einbringt, als Sparringpartnerin im Schreibprozess hilft, oder Co-Autorin wird.“ An der ersten Untersuchung werden 120 junge Leute teilnehmen. Wie praktisch, dass die benötigte Kohorte quasi vor der Haustür des Professors lernt.

Den richtigen Umgang mit ChatGPT lernen

Das Evangelisch Stiftische Gymnasium (ESG) in Gütersloh ist ein bisschen besonders. Protestanten gründeten es, als die ersten Maschinen begannen, die Arbeitswelt auf den Kopf zu stellen, und die Aufgaben des Handwerks übernahmen. Es heißt, hier würden RichterInnen, ChirurgInnen und ManagerInnen von morgen die Schulbank drücken.

Der in Gütersloh ansässige Medienkonzern Bertelsmann hat den Backsteinbau der Schule um eine verspiegelte Mediothek mit Tonstudio und Videoschnittraum ergänzt. Seit einem Vierteljahrhundert sind Laptops hier Teil des Unterrichts. Dank Lernplattform und Endgeräten wechselte das ESG im Lockdown spielend in den Distanzunterricht. Und auch bei der Verwendung von Sprach-KIs gibt es an dieser Schule nur wenig Berührungsängste.

Deutschlehrer Hendrik Haverkamp hat seine 8. Klasse erst neulich gegen ChatGPT antreten lassen. Die Aufgabe war eine Gedichtanalyse. Nachdem die Schülerinnen und Schüler ihre Arbeiten abgegeben hatten, kam die KI an die Reihe. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um ihren Text abzuliefern: eine fein strukturierte Analyse mit aufeinander aufbauenden Argumenten und ohne einen Rechtschreibfehler. „Das sah auf den ersten Blick nach einer hervorragenden Arbeit aus“, erzählt Haverkamp. „Nur war der Text inhaltlich komplett falsch.“

Sprachmaschine statt Wissensmaschine

Die KI schrieb das Gedicht „Berliner Abend“ von Paul Boldt lieber Erich Kästner zu und erzählte etwas über hübsche Naturbeobachtungen, die in Boldts Schilderungen nicht wirklich vorkommen. Die Argumente der Maschine waren teils erzkonservativ, teils weltfremd. Das erste Urteil der Klasse über ChatGPT: „Boomer-Tool“. „ChatGPT ist wie ein Insidergag: Ich verstehe ihn nur dann, wenn ich genug darüber weiß“, sagt Haverkamp.

Es ist Mittwoch, ein eisiger Morgen, erste Stunde, Deutsch. In der 8. Klasse sind die Laptops aufgeklappt, kein Heft, kein Stift liegt auf den Tischen. Lehrer Haverkamp steht vor dem Bildschirm an der Wand, wo früher mal eine Kreidetafel hing, und schickt ein paar Meldungen über Elon Musk auf den Monitor. „Welche Nachricht ist Fake und von ChatGPT, welche ist echt?“ Es gibt erste Vermutungen, der Schreibstil der KI ist der Klasse längst vertraut.

„ChatGPT macht keine Umschreibungen wie ‚Der 51-Jährige‘.“ „Das Wort ‚Milliarden‘ würde nicht mit,Mrd.‘ abgekürzt.“ Haverkamp zeigt der Klasse ein Tool, das künstlich generierte und von Menschen verfasste Texte unterscheiden können soll. Kann es aber nicht. Die Sprach-KI ist zu weit entwickelt, das Prüfungsprogramm aufgeschmissen. Dann kopiert ein Schüler fix einen Textbaustein der menschengemachten Meldung aus der Zeitung, sucht im Netz und findet die Quelle.

„Mir wäre es lieber, wenn ChatGPT auch mal zugeben würde, dass es keine Ahnung hat“, sagt Lilli aus der 10. Klasse. „Eine eigene Meinung würde ihr auch gut stehen.“ Im Projektunterricht beschäftigt sich die 16-Jährige gerade mit den sogenannten Neuen Medien. „Die KI relativiert alle Argumente und geht nicht so richtig in die Tiefe. Man braucht eigenes Wissen und muss skeptisch bleiben, damit man keine Fehler übernimmt.“ Bei Themen, für die es kein Richtig oder Falsch gibt, sagt Lilli, wenn es ethisch, emotional oder persönlich wird, dann sei ChatGPT blank.

ChatGPT ist eine Sprachmaschine, keine Wissensmaschine. Das Programm schwafelt, immer selbstbewusst, immer wieder inhaltsarm. Es verwendet Worthülsen, bedient sich aus Quellen wie Blogs oder der Boulevardpresse, ignoriert direkte Zitate, liest nicht zwischen den Zeilen, erzählt lieber irgendetwas, als gar nichts zu texten. Viele Floskeln, inflationär verwurstete Fremdwörter, sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit, eine Illusion des Plausiblen.

Dennoch arbeitet auch Lillis Mitschüler Max viel mit dem Sprachtool. „Wenn ich einen Aufsatz schreibe oder etwas programmieren will. Die KI verkürzt die Zeit für die Fleißarbeit, damit ich mehr Zeit für die Denkarbeit habe.“ Wegen der Sache mit ChatGPT waren auch schon mehrere Medienleute am Gymnasium und haben mit ihm gesprochen. Gerade erst kam ein Fernsehteam vorbei, erzählt Max. Die hätten für ihren Beitrag aber mal schön seine Antworten verdreht. „Es kam so rüber, als würde ich die KI aus purer Faulheit alle Hausaufgaben erledigen lassen.“ Ganz so einfach sei das nun auch wieder nicht.

Im Mai werden Max und Lilli ihre Facharbeiten schreiben, KI-unterstützt, für die Studie von Thomas Süße. „Ich kann mir vorstellen, dass das Programm eine Inspirationsquelle sein wird“, sagt Lilli. „Es hat mir vorher schon gute Überschriften oder auch Argumente vorgeschlagen, auf die ich selbst nicht gekommen wäre. Warum sollte ich solche Ideen nicht benutzen.“

Für die meisten SchülerInnen und Studierenden ist das noch nicht so selbstverständlich wie für Lilli und Max. Künstliche Intelligenz für eine Abschlussarbeit zu verwenden ist zwar kein Plagiat. Dafür müsste das geistige Eigentum einer Person gestohlen werden, und noch machen wir zwischen Mensch und Maschine einen klaren Unterschied. Jedoch kann man die Texte einer KI auch schlecht als eigenes geistiges Eigentum ausgeben. Das wäre eher als Täuschungsversuch zu werten.

Was ist erlaubt, was verboten?

Diese Art der vermeintlichen Täuschung bringt zwei Probleme mit sich.

Erstens: Das ohnehin schon überlastete Lehrpersonal müsste nach maschinellem Ghostwriting fahnden. Aber wann? Und wie? Schon jetzt bekommt es kein Tool hin, zielsicher KI-Content zu erkennen. Das wird auch in Zukunft kaum gelingen, da die Sprach-KI ja ständig besser, menschenähnlicher wird.

Zweitens: Wo fängt die Täuschung an? Ganz sicher, wenn man ganze KI-generierte Absätze verwendet. Aber auch schon bei ein paar Worten? Oder bei einer Idee, die mir von allein nicht eingefallen ist? Oder wenn ich meinen Text durch ein Rechtschreibprogramm laufen lasse? Wenn ich einen Taschenrechner benutze?

Im Gegensatz zu den USA scheinen es die Bundesländer nicht auf ein Verbot von ChatGPT abzusehen. Auf der Bildungsmesse Didacta in Stuttgart hieß es gerade: Sprach-KI hat zu viel Potenzial, um sie zu verbieten.

Seitens des Hessischen Kultusministerium hieß es: KI-Anwendungen könnten „Schülerinnen und Schüler individuell in ihrem Lernprozess unterstützen“. Viel konkreter wird es bis dato nicht. Immerhin veröffentlichte das nordrhein-westfälische Schulministerium einen Leitfaden zum Umgang mit KI. Darin wird die Arbeit mit Textrobotern nicht verboten, stattdessen auf die Pflicht der Schulen hingewiesen, ­Medienkompetenz zu lehren.

Eine Richtlinie, wie die Lehrerinnen und Lehrer künftig Leistungen prüfen sollen, hat noch niemand geschrieben. Und so scheint es, als würden wir der künstlichen Intelligenz genauso begegnen wie den anderen Krisen der jüngeren Zeit auch. Klima, Corona, KI-Weltherrschaft: Wir sehen es kommen, wir wissen, dass wir handeln müssen – und sitzen es lieber aus.

„Die Angst ist vor allem so groß, weil es an Erfahrung fehlt“, sagt Anja Strobel. Die Psychologin forscht im Bereich „Hybrid Societies“ an der TU Chemnitz daran, wie der Mensch mit der Maschine interagiert und ein vertrauensvolles Miteinander in der Arbeitswelt möglich ist. Strobel hat Interviews ausgewertet, die der Gütersloher Sozialwissenschaftler Thomas Süße mit ArbeiterInnen in einer Fabrik geführt hat. Sie sprachen darin über ihre Erfahrung, eine künstliche Intelligenz wie einen Azubi anzulernen.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Output of Craiyon (formerly „DALL-E Mini“). See the model card for information on the model used. Specifically (from the title card): „Images are encoded through a VQGAN encoder, which turns images into a sequence of tokens. Descriptions are encoded through a BART encoder. The output of the BART encoder and encoded images are fed through the BART decoder, which is an auto-regressive model whose goal is to predict the next token. Loss is the softmax cross-entropy between the model prediction logits and the actual image encodings from the VQGAN.“ Upscaled using Real-ESRGAN.

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Unten        —     The Chromatics CT4100 graphics terminal displayed text and character-cell graphics in color.

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Wann fällt Macron ?

Erstellt von DL-Redaktion am 19. März 2023

Frankreich: Rentenreform um jeden Preis?

Von Steffen Vogel

Es ist eine Kraftprobe mit ungewissem Ausgang: Mit seiner geplanten Rentenreform hat Emmanuel Macron große Teile des Landes gegen sich aufgebracht. Die Gewerkschaften rufen vereint wie lange nicht zu Streiks auf, Millionen Menschen strömen zu den Großdemonstrationen. Bereits zu Beginn waren die Proteste massiver, als es selbst die klassenkämpferische Gewerkschaft CGT erwartet hatte. In Umfragen lehnen drei Viertel der Französinnen und Franzosen das Vorhaben ab. Derzeit ist es sogar alles andere als ausgemacht, dass Macrons Reform bis zum geplanten Abschluss der parlamentarischen Beratungen am 27. März eine Mehrheit in der Nationalversammlung finden wird.

Das stellt den französischen Präsidenten vor ein gewaltiges, aber zu einem guten Teil selbstverschuldetes Dilemma: Macron hat seine politische Glaubwürdigkeit an das Gelingen dieser seiner wichtigsten innenpolitischen Reform geknüpft. Daher steht und fällt mit ihr auch seine Bilanz als Staatschef. Kapituliert Macron vor dem Volkszorn, wird er unweigerlich als gescheiterter Modernisierer gelten. Schaltet er hingegen auf stur und setzt die Reform gegen den Mehrheitswillen und am Ende nötigenfalls sogar per Dekret durch, riskiert er eine weitere Spaltung des Landes, zulasten der französischen Demokratie.

Die massive Ablehnung, die der Rentenreform allenthalben entgegenschlägt, selbst aus Teilen der Regierungsfraktion, erklärt sich nur zum Teil aus den konkreten Plänen von Macron und Premierministerin Élisabeth Borne. Diese sind weniger weitreichend als noch im ersten, durch die Pandemie gestoppten Anlauf von 2019.[1] So soll der Rentenbeginn nun von 62 auf 64 Jahre angehoben werden, statt wie ursprünglich geplant auf 65 Jahre. Da das Vorhaben aber Gruppen stärker belastet, die in der Arbeitswelt ohnehin benachteiligt sind, fügt es sich in den Augen vieler in das größere Panorama einer zunehmend von Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägten Gesellschaft – und in das Bild einer abgehobenen Elite, die blind ist für die soziale Lage einer Mehrheit der Französinnen und Franzosen. Damit sind alle Zutaten vorhanden, die es für eine harte Auseinandersetzung braucht – vor allem in einer politischen Kultur, in der Konflikt wichtiger ist als Konsens.

Von außen betrachtet mag die Empörung irritieren. Denn das französische Rentensystem ist überdurchschnittlich teuer und extrem komplex: Die jährlichen Kosten entsprechen knapp 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, in Deutschland sind es zehn, im OECD-Schnitt acht Prozent.[2] Zudem existieren gleich 42 Rentensysteme, die oft nur bestimmten Berufsgruppen offenstehen und teils hoch defizitär sind. Allein schon die von der Regierung geplante Abschaffung zumindest eines Teils der vielen Spezialkassen würde eine Reform rechtfertigen. Dass Millionen Menschen vermeintlich dafür demonstrieren, weiterhin mit 62 Jahren in den Ruhestand eintreten zu dürfen, erscheint gerade in Deutschland, wo schon die Rente mit 70 debattiert wird, wie aus der Zeit gefallen.

Tatsächlich aber gehen bereits jetzt viele Französinnen und Franzosen deutlich später in Rente, zumindest sofern ihr Körper es mitmacht. Denn um eine abschlagsfreie Rente erhalten zu können, müssen sie 42 Beitragsjahre vorweisen, künftig sollen es 43 Jahre sein. Genau diese zeitgleiche Erhöhung des Renteneintritts und der Beitragsjahre führt aber zu Ungerechtigkeiten, insbesondere mit Blick auf drei Gruppen. Das gilt erstens für Menschen, die nicht studiert haben: Wer mit 20 Jahren erwerbstätig wird, kann bisher mit 62 Jahren in den Ruhestand gehen. Nach der neuen Regelung hätte er hingegen erst mit 63 lange genug Beiträge eingezahlt und würde ein weiteres Jahr später das Renteneintrittsalter erreichen – müsste also zwei Jahre länger arbeiten. Für Akademiker hingegen ist die Altersgrenze schon jetzt ohne Belang, da sie aufgrund ihres Studiums ohnehin länger arbeiten müssen, um abschlagsfrei zu sein. Wer künftig beispielsweise mit 23 Jahren die Uni abschließt, hat nach dem neuen System die fälligen Beitragsjahre an seinem 66. Geburtstag beisammen, also nur ein Jahr später als zuvor. Und für alle, die noch länger studieren, greift wie bisher die Höchstgrenze von 67 Jahren, ab der jeder spätestens ohne Abzüge in Rente gehen darf. Akademiker leiden damit weniger unter der Reform als ihre geringer qualifizierten Altersgenossen – die überdies schon jetzt weniger von ihrer Rente haben. Denn nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen stirbt statistisch gesehen beispielsweise eine Arbeiterin drei Jahre früher als eine Managerin, und ein Arbeiter lebt sogar über sechs Jahre kürzer als ein Manager.[3] Diese im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle Ungleichheit würde durch die Reform noch verstärkt.

Ähnlich ergeht es, zweitens, den Müttern, für die sich die Anrechnung von Kindererziehungszeiten ungünstig auswirkt. Dadurch werden sie im Durchschnitt etwas länger zusätzlich arbeiten müssen als Männer. Auch in diesem Fall verschärfen die Regierungspläne bestehende Ungerechtigkeiten: Da Frauen im Schnitt deutlich weniger verdienen als Männer, fallen ihre Renten entsprechend um 40 Prozent niedriger aus – in deren Genuss sie nun obendrein später kommen würden.[4] Selbst der Minister für Parlamentsbeziehungen, Franck Riester, musste einräumen, Frauen würden durch die Reform „ein wenig bestraft“.[5]

So aber fühlen sich, drittens, insgesamt viele ältere Arbeitnehmer. Derzeit ist in Frankreich nur ein knappes Drittel der über 60jährigen noch im Beruf, in der EU liegt der Durchschnitt immerhin bei 45 Prozent.[6] Selbst wer körperlich fit genug und arbeitswillig ist, findet ab einem gewissen Alter in Frankreich schwerer einen Job als anderswo. Ein höheres Renteneintrittsalter bedeutet für viele daher nicht, dass sie länger im Beruf bleiben müssen, sondern dass sie länger arbeitslos sein werden. Auch das trifft geringer Qualifizierte häufiger als Akademiker. Es sind diese sozialen Unwuchten, die derzeit landesweit Menschen auf die Straße treiben.

Ungerecht, aber notwendig?

Die Befürworter von Macrons Plänen bemühen dagegen den Sachzwang. So erklärte der ehemalige Fraktionschef der Regierungspartei, Gilles Le Gendre ganz offen: „Ich sage nicht, dass diese Reform gerecht ist, sondern dass sie notwendig ist.“ Die Regierung argumentiert, angesichts der alternden Bevölkerung drohe den Rentenkassen ein Milliardendefizit, das früher oder später das Rentensystem gefährden werde. Ihre Reform sei daher unabdingbar, um den Solidarvertrag zu retten.[7]

Wie hoch dieses Defizit tatsächlich ausfallen wird, ist allerdings stark umstritten, auch weil es von schwer kalkulierbaren Faktoren wie der erwarteten Arbeitslosenquote abhängt. Macrons Kritiker werfen ihm vor, bewusst ein düsteres Bild zu zeichnen, tatsächlich gehe es ihm bei seiner Reform vor allem um die erwarteten Mehreinnahmen von 20 Mrd. Euro jährlich, die er unter anderem zur von der EU angemahnten Haushaltskonsolidierung einplanen könnte.[8]

Den Sozialstaat verteidigen

Quelle          :        Blätter-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben        —     Manifestation contre la réforme des retraites au Mans, le 15 mars 2023

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Arbeitskraft als Mangelware:

Erstellt von DL-Redaktion am 19. März 2023

Fachkräftemangel – mangelt es an Zwang zur Arbeit?

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Fachlräftemangel wird besonders in der Poltik sicht und hör-bar. Hirn zu klein-Maul zu groß!

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von    :    Suitbert Cechura

Arbeitskraft als Mangelware: Das freie Unternehmertum vermisst nachhaltige Planung auf dem Arbeitsmarkt.

Alle möglichen Branchen klagen über Fachkräfte- oder Personalmangel. Von der Gastronomie mit ihren Billigarbeitskräften über Pflege, Nahverkehr oder Handwerk bis hin zu Ingenieuren oder Lehrerinnen – überall sollen sie fehlen. Und das bei gut 2,6 Millionen arbeitslos gemeldeten Menschen im Februar 2023. Wie das zusammengeht und welche Begründungen dafür geliefert werden, ist bemerkenswert. Dazu hier ein paar Hinweise.

Demographischer Wandel

Als Begründung für den allseitigen Personalmangel wird regelmäßig der demographische Wandel bemüht. Telepolis hat sogar schon mit ChatGPT einen genuinen Vertreter der Künstlichen Intelligenz zu Wort kommen lassen, der mit seinen maschinell hergestellten Textbausteinen die ideologischen Standardargumente abspulen kann. Auch der KI liegt die marktwirtschaftlich interessierte Einbildung zugrunde, „dass zwischen Geburtenrate oder Altersstruktur und dem Bedarf an menschlichen Ressourcen des Wachstums eine Passung bestehen sollte“ (G. Schuster).

Diese Passung soll zur Zeit wieder schwer gestört sein. Es würden immer mehr Menschen altersbedingt aus dem Arbeitsleben ausscheiden, heißt es, während immer weniger junge Menschen in es einsteigen. Betont wird dabei, dass jetzt besonders die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Als geburtenstark gelten die Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg, Höhepunkt war dabei laut Statistischem Bundesamt Destatis das Jahr 1964.

Das heißt aber: Sie scheiden schon seit einem Jahrzehnt aus dem Arbeitsleben aus, das ist kein neues Phänomen; und gleichzeitig gibt es so viele abhängig Beschäftigte wie noch nie, obgleich weniger junge Menschen nach ihrer Ausbildung ins Arbeitsleben eingemündet sind. So hat die Zahl der Beschäftigten, wie Destatis meldet, in den letzten zehn Jahren um mehr als zwei Millionen zugenommen. Fazit: Es hängt nicht von der Zahl der Geburten ab, ob ausreichend Menschen beschäftigt werden oder ob sie arbeitslos sind, das kann man schon der Arbeitsmarktstatistik entnehmen.

Attraktion und Repulsion

Bei der Aufrechnung der Arbeitslosenzahlen verweist die Bundesanstalt für Arbeit darauf, dass die Arbeitslosigkeit keinen monolithischen Block darstellt: „Arbeitslosigkeit ist kein fester Block, vielmehr gibt es unabhängig von der wirtschaftlichen Lage viel Bewegung. Dabei werden Zu- und Abgänge von Arbeitslosen im Zeitraum zwischen den Stichtagen jeweils zur Monatsmitte erfasst. So meldeten sich im Berichtsmonat Februar 2023 insgesamt 579 000 Menschen bei einer Arbeitsagentur oder Jobcenter arbeitslos, das waren 80 000 oder 16 Prozent mehr als vor einem Jahr… Gleichzeitig beendeten 575 000 Personen ihre Arbeitslosigkeit, 42 000 oder 8 Prozent mehr.“ (https://www.statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/202302/arbeitsmarktberichte/monatsbericht-monatsbericht/monatsbericht-d-0-202302-pdf.pdf?_blob=publicationFile&v=1 )

Diese Meldung soll wohl wie eine Beruhigung klingen, dabei ist sie alles andere als beruhigend. Schließlich drücken diese Zahlen aus, dass laufend Entlassungen stattfinden und dass im letzten Monat mehr als eine halbe Millionen Menschen, die gezwungen sind, von dem Verkauf ihrer Arbeitskraft zu leben, in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden, also in eine Lage, die von vornherein mit Einkommensverlusten verbunden ist.

Die Lage dieser Menschen soll man aber nicht so tragisch nehmen, da andere ihrer Schicksalsgenossen – fast in gleichen Umfang – wieder eine Stelle gefunden haben. Das gehört zur Normalität im Kapitalismus, mit der man sich abfinden soll: Ständig werden Menschen entlassen und müssen sich dann auf die Suche begeben, möglicher Weise auch einen Ortswechsel in Kauf nehmen, um wieder eingestellt zu werden – alles in allem eine sehr unsicher Kiste, je nach dem Gang der Geschäfte derer, die durch die Beschäftigung von Menschen ihr Kapital vergrößern.

Zum Thema in der Öffentlichkeit werden solche Schicksale erst dann, wenn beeindruckende neue Zahlen zu vermelden sind, wenn es zu einem eklatanten Missverhältnis kommt und zu viele Menschen arbeitslos werden, d.h. im marktwirtschaftlichen Jargon: den Sozialkassen auf der Tasche liegen. Arbeitslosigkeit ist – politisch betrachtet – auch immer deshalb ein Missstand, weil zu viele Menschen ungenutzt bleiben, was der Nation schadet.

Gleichzeitig gilt aber auch das Gegenteil in gewisser Weise als normal, ja systemkonform: Dass es immer ein Potential an Menschen gibt, die (dauer-)arbeitslos sind, passt zu dieser Wirtschaftsweise. Schließlich können die Unternehmen sich so ihre Arbeitskräfte aussuchen und sind nicht erpressbar; eine Mehrzahl an Bewerbern für eine Stelle drückt die Preise für die Arbeitskräfte und erhöht den Leistungswillen derer, die einen Arbeitsplatz „besitzen“. Das ist dann doch wieder ganz im Sinne von Staat und Wirtschaft, schließlich dreht sich ja alles in dieser Gesellschaft darum, dem Wirtschaftswachstum, dem Wachstum des als Kapital angelegten Geldes, freie Bahn zu schaffen.

Die Bundesanstalt für Arbeit unterscheidet bei den Arbeitslosen genau nach Gesetzeslage: „Von den 2 620 000 Arbeitslosen im Februar wurden 910 000 oder 35 Prozent im Rechtskreis SGB III von der Arbeitsagentur für Arbeit und 171 0000 oder 65 Prozent im Rechtskreis SGB II von einem Jobcenter betreut.“ (Arbeitsagentur) Der Gesetzgeber sortiert eben das Potenzial. Es wird erstens ein Unterschied gemacht bei denjenigen, die ein Jahr (oder in besonderen Fällen bis zu zwei Jahren) arbeitslos sind und daher aus der Arbeitslosenversicherung ihr Geld erhalten, für das sie vorher zur Kasse gebeten wurden. Sie erhalten nicht ihren vorherigen Lohn, sondern 60 bzw. 67 Prozent ihres Nettolohns, je nachdem ob sie kinderlos sind oder Nachwuchs haben. Damit stehen die „Leistungsbezieher“ vor einem doppelten Problem: Sie müssen irgendwie mit dem gekürzten Einkommen zurecht kommen und sind unter diesen Bedingungen gezwungen, möglichst bald wieder einen Job zu finden.

Zweitens: Wer länger als ein Jahr – bei den Über-50-Jährigen: zwei Jahre – arbeitslos ist, gilt als Problemfall, bei dem der Druck, wieder in Arbeit zu kommen, neuerdings in Form des „Bürgergelds“ (siehe dazu „Hartz IV geht, das Bürgergeld kommt – die Notlagen bleiben“), erhöht wird, indem der Lebensunterhalt weiteren Kürzungen unterliegt. Den Betreffenden wird auf den Cent genau vorgerechnet, was sie wofür zum Leben ausgeben dürfen. Dabei bezieht sich die Rechengrundlage nicht auf die wirklich anfallenden Kosten, sondern auf ein Konstrukt aus der Vergangenheit, wodurch diese Menschen, auch nach offiziellen Ansagen, zusätzlich auf private Hilfen wie die Tafeln oder Kleiderkammern angewiesen sind. Die Betroffenen gelten allein deshalb als Problemfälle, weil sie schon lange kein Arbeitgeber mehr beschäftigen wollte. Das stellt ihre Brauchbarkeit grundsätzlich in Frage – das Urteil, das Arbeitgeber über sie gefällt haben, wird so zu ihrer Eigenschaft.

Wer über keine Ausbildung verfügt oder keinen Schulabschluss hat – aktuell sind es 50 000 Jugendliche pro Jahr –, dessen Tauglichkeit ist ebenfalls zweifelhaft. Denn er hat nicht nur den Erwerb bestimmter Fähigkeiten verpasst, sondern den Beweis nicht erbringen können, dass er über die entsprechende Arbeitsmoral verfügt. Alleinerziehende stehen ihrem Arbeitgeber nicht unbeschränkt und zu jeder Zeit zur Verfügung, weil sie sich eben auch noch um ihre Kinder kümmern müssen. Damit ist ihre Brauchbarkeit ebenso eingeschränkt wie die derjenigen Menschen, die körperliche oder psychische Handicaps aufweisen. Migranten oder Flüchtlinge, sofern sie denn überhaupt geduldet werden, verfügen oft nicht über die entsprechenden Sprachkenntnisse und kennen sich mit den rechtlichen und kulturellen Gegebenheiten nicht aus, stellen auch unter den Jugendlichen ohne Schulabschluss einen hohen Anteil. Also sind auch sie nur bedingt tauglich.

Der Sache nach bestätigt die Statistik, die das Phänomen Arbeitslosigkeit fast wie eine Schicksalsgegebenheit behandelt, die Analysen des alten Theoretikers Karl Marx. Der hat schon vor langer Zeit nachgewiesen, dass der Kapitalismus sich durch die ständige Attraktion und Repulsion von Arbeitskräften und einen dazugehörigen „Bodensatz“ von Menschen auszeichnet, die als überflüssig gelten, weil sie unbrauchbar sind. Maßgeblich sind hier die Konjunkturen des Geschäfts und nicht die Entscheidungen von Vati und Mutti, sich was Kleines zuzulegen, oder von Oma oder Opa, den Lebensabend möglichst in die Länge zu ziehen.

Hoffentlich erscheint bald ein Pascha – welcher das Gesäß des Hinterwäldlers mit einer Gesäßstreifen – Fahne der Republikaner reinigt.

Deutschland braucht Zuwanderer, aber die richtigen

Damit das Kapital immer ausreichend Arbeitskräfte mit der entsprechenden Qualifikation zur Verfügung hat und sie sich auch auswählen kann – sonst werden diese Leute noch zu anspruchsvoll –, braucht es Zuwanderung, von 400 000 pro Jahr, so das Urteil von Fachleuten. Nun mangelt es nicht an Leuten, die nach Deutschland wollen und dabei einige Gefahren auf sich nehmen, um in die bestens abgeschirmten europäischen Länder zu gelangen. Da unternimmt ja Deutschland in Gemeinschaft mit seinem Europa schon Einiges, um diese Menschen von den Grenzen fernzuhalten (https://www.overton-magazin.de/top-story/eu-migrationsgipfel-ein-gipfel-der-heuchler-und-der-heuchelei ).

Denn schließlich will ein Staat es nicht denjenigen überlassen, die Arbeit suchen, ob sie ins Land kommen oder nicht. Das bestimmt er schon selber; wer mit welcher Qualifikation die Grenzen überschreiten und für länger oder kürzer bleiben darf, ist eine Sache hoheitlicher Gewalt. Diese Klarstellung kostet regelmäßig Menschen das Leben – nicht nur im Mittelmeer, sondern z.B. auch an der Grenze von Polen zu Belarus oder der zwischen Griechenland und der Türkei. Da die Staaten sehr genau die Bedingungen der Einreise festlegen, gibt es auch immer wieder die Klage über zu viel Bürokratie, Unternehmen könnten sich da unternehmerfreundlichere Lösungen vorstellen.

Andererseits machen Arbeitgeber gerade von dem fehlenden Qualifikationsnachweis oder dessen fehlender Anerkennung Gebrauch, indem sie hochqualifizierte Kräfte als Billiglöhner einsetzen. Doch es bleibt das Problem, dass sowohl die anspruchsvollen Kriterien für eine Einreise in die EU bzw. nach Deutschland als auch die Praktiken im Umgang mit den hier beschäftigten Migranten Deutschland nicht gerade zum Zielland für qualifizierte Arbeitskräfte aus fremden Ländern machen, der „Brain Drain“ also weiterer Betreuung bedarf.

Der Zwang zur Arbeit – muss besser greifen

Politiker entdecken daher immer wieder ein noch nicht genutztes oder zu wenig genutztes Arbeitskräftepotential. So fordert der Wirtschaftsfunktionär Steffen Kampeter: „Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit“ (SZ, 1.3.23). Er meint damit, dass die Menschen nicht so sehr auf ihre Freizeit achten, sondern mehr den Betrieben zur Verfügung stehen sollten. Und das nicht einfach, weil sie bei Mehrarbeit auch ein Plus bei Lohn oder Gehalt verbuchen könnten. Es soll vielmehr aus purer Lust erfolgen. Und das passt genau in die Landschaft, Mehrarbeit bedeutet heutzutage ja nicht unbedingt, dass die Überstunden vergütet werden:

„Jedes Jahr machen Beschäftigte in Deutschland zahlreiche Überstunden – und mehr als ein Fünftel von ihnen wird dafür noch nicht einmal bezahlt. Zugenommen hat zuletzt die Bedeutung von Überstunden, die durch Freizeit ausgeglichen werden können. Das geht aus den aktuellen Daten des Statistischen Bundesamts (Destatis) und des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) hervor… Knapp jeder Dritte macht mehr als 15 Überstunden pro Woche.“ (https://www.haufe.de/personal/hr-management/arbeitszeit-ueberstunden-in-deutschland_80_412324.html )

So nutzen Arbeitgeber die Abhängigkeit ihrer Beschäftigten aus, um sie kostenlos für sich arbeiten zu lassen. Und wenn es heißt, dass Überstunden verstärkt durch Freizeit ausgeglichen werden können, dann bedeutet dies in der Praxis unter Umständen nur, dass die betreffenden Mitarbeiter ewig ein hohes Freizeitkonto vor sich herschieben. Denn betriebliche Belange haben immer Vorrang und stehen möglicher Weise einem Ausgleich entgegen. Es sei denn, die Geschäfte gehen schlecht, dann darf der Mitarbeiter gegebenenfalls die Freizeit in Anspruch nehmen, so lange, bis ein neues Kommando erfolgt.

Dass junge Arbeitnehmer bei ihrem Bewerbungsgespräch nach Überstundenregelungen fragen, hält übrigens die Chefin der Agentur für Arbeit und ehemalige Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) für eine Zumutung. „Arbeit ist kein Ponyhof“ gab sie zu Protokoll und machte damit deutlich, dass Arbeitszeitbegrenzungen zwar im Arbeitsvertrag geregelt sein mögen, aber darauf zu pochen komme für Arbeitnehmer eigentlich nicht in Frage. Sie haben eben dann und so lange zur Verfügung zu stehen, wenn und wie das Kapital sie braucht. Bild am Sonntag (5.3.23) ergreift auch gleich Partei für die ehemalige Ministerin, indem das Blatt Menschen vorführt, die aus lauter Lust an der Arbeit arbeiten und für die Geld nicht das Wichtigste ist. Sie können z.B., wie im Bild belegt, auch von Südafrika aus arbeiten oder haben das schon immer so gemacht. Wovon die zitierte Dame, der das Geld nicht so wichtig ist, die Reise nach Südafrika bezahlt hat, bleibt dabei allerdings offen.

Eine Verschleuderung von ungenutztem Arbeitskräftepotenzial entdeckt so mancher Politiker oder Journalist im Rentenalter und vor allem in der Möglichkeit der Frühverrentung mit 63 Jahren, wenn die Betreffenden die vollen Beitragsjahre geschafft haben. Natürlich haben vor allem die rot-grünen Politiker mit ihren Rentenkürzungen schon einiges erreicht, was den Zwang zu längerem Arbeiten auch nach dem Renteneintrittsalter anbetrifft. Und auch die folgenden Regierungen waren nicht müßig und haben das Rentenalter erhöht. Wer früher in Rente geht oder gehen muss, der hat erhebliche Abschläge von der sowieso schon reduzierten Rente in Kauf zu nehmen.

In der Diskussion ist jetzt, die Flexibilisierung des Rentenalters mit erhöhten Zuverdienstmöglichkeiten zu verbinden. Ein festes Datum für den Renteneintritt ist damit passé. Stattdessen ist noch einmal unterstrichen, dass von der Rente kaum noch einer leben kann, weswegen Arbeit im Alter ganz selbstverständlich die neue Perspektive ist. Und so haben denn auch investigative Journalisten der Süddeutschen einen 85 jährigen aufgespürt, der es zu Hause zu langweilig findet und begeistert zur Arbeit geht. (SZ 4.3.23) Eine echte Perspektive für alte Alleinstehende!

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Zuwenig genutzt ist auch noch die Arbeitskraft der Frauen. Wie der Missstand zu beheben wäre, weiß ein Kommentator der Süddeutschen: „Mehr Kinderbetreuung und weniger Fehlanreize wie das Ehegattensplitting ermutigen Mütter, mehr zu arbeiten als Mini-Teilzeit.“ (Alexander Hagelücken, SZ 1.3.23) Eltern sollen hier und heute eben Kinder in die Welt setzen, um sie möglichst schnell wegzugeben, denn Familienleben ist schließlich vergeudete Zeit, die nicht zum Wirtschaftswachstum beiträgt. An dieser Front haben Politik und Wirtschaft viel geleistet, um Frauen weg vom Herd hinein ins Büro, in die Fabrik oder hinter die Kasse zu bringen. Die Löhne der Männer wurden durch schleichende Inflation und zu geringen Ausgleich schrittweise entwertet und so die Frauen zu notwendigen Mietverdienerinnen gemacht. Der Versorgungsausgleich im Falle einer Scheidung wurde gesenkt, die Rente gekürzt und damit sind Frauen der Wahl weitgehend enthoben – frei zu entscheiden, ob sie sich lieber um Haus und Kinder kümmern wollen oder arbeiten gehen.

Das Doppelverdienerdasein ist zur Normalität geworden und damit das Familienleben auf den Feierabend und das Wochenende verkürzt. Und so gibt es jetzt die Diskussion um Work-Life-Balance, wobei die Alternative immer heißt, dass weniger Arbeit weniger Lebensstandard bedeutet, und in der Regel geben die Arbeitgeber vor, wie die Balance ausfällt. Dass viele Frauen nur Teilzeit arbeiten, lässt Politiker und Politikerinnen vor allem der Grünen keine Ruhe; sie bringen daher das Ehegattensplitting als Beschäftigungshindernis in die Diskussion. Die Beseitigung der bisher gültigen gemeinsamen Steuerveranlagung, die für das Paar zu niedrigeren Steuern führt, soll den Effekt haben, dass die Frauen stärker gezwungen werden, eine Arbeit anzunehmen.

Angepriesen wird dieser Druck als Befreiung der Frau. Bisher ist sie oft als Geringverdienerin in der ungünstigeren Steuerklasse eingestuft, um so die Steuerzahlung während des Jahres bereits niedrig zu halten. Mit dem Lohnsteuerjahresausgleich werden die unterschiedlichen Steuerleistungen verrechnet und beide Partner dann steuerlich gleich gestellt. Die Abschaffung des Ehegattensplitting, die als Vorteil verkauft wird, würde eine Schädigung darstellen, wenn Frauen wie Männer in der gleichen Steuerklasse gleichermaßen steuerlich gerupft werden. Ein gelungener Fall feministischer Steuerpolitik!

Der jungen Generation muss auch auf die Sprünge geholfen werden, damit sie sich so schnell wie möglich und so passend wie nötig für den Bedarf der Wirtschaft herrichtet, wobei eine neue Dienstpflicht – so die aktuelle Debatte über den deutschen Wehrwillen – vielleicht helfen könnte. Ein staatlicher Zwangsdienst käme natürlich zunächst dem Bedarf der Wirtschaft in die Quere, aber clevere Ideen sind, wie Telepolis berichtete, schon unterwegs. CDU-Verteidigungsexperte Kiesewetter ist klar, dass eine wieder eingeführte Wehrpflicht „im Spannungsfeld der Wirtschaft mit eklatantem Fachkräftemangel“ stehen würde . Daher favorisiert er das „norwegische Modell“, eine Kombination von allgemeiner Dienstverpflichtung mit einem nachfolgenden Auswahlverfahren, das die Spreu vom Weizen trennt und die zukünftigen Helden der Arbeit und des Schlachtfelds sauber sortiert.

So oder so, eins stellt die deutsche Politik hier klar: Sich wegen Alter oder Familienpflichten, wegen Aus- oder Fortbildungsbedarf, geschweige denn wegen dem Wunsch nach einer Auszeit, dem Arbeitsmarkt (und möglicher Weise demnächst einem neuen Dienst an der Waffe) zeitweise zu entziehen, geht gar nicht. Dafür sind die Insassen des hiesigen Standorts nicht vorgesehen. Ihr Dasein ist vielmehr für Wirtschaftswachstum und Mehrung der Staatsmacht verplant – auch wenn von Planung in dieser tollen Wirtschaftsordnung weit und breit nichts zu sehen ist.

Zuerst erschienen bei Telepolis

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Oben       —   Christian Lindner am Wahlabend der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai 2017 in Düsseldorf

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von DL-Redaktion am 19. März 2023

Sollen Friedens­forscherInnen Waffenlieferungen fordern?

Wirkt vielleicht ein jeder Schanbel zu klein für Waffen ?

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Sie müssen verzeihen, dass ich an dieser Stelle manchmal Dinge wiederverwerte, die ich anderswo eingesammelt habe. Unsereins kommt ja selten raus, da beschäftigt es einen länger, wenn ExpertInnen Einblicke in ihre Arbeit geben – so geschehen in einem taz-Videotalk, den ich jüngst mit der Friedensforscherin Ursula Schröder hatte.

Schröder ist Direktorin des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg, und sie sagt, dass die Ukraine mehr Waffen vom Westen braucht. Sie ist damit in ihrer Berufsgruppe nicht allein: Die vier großen deutschen Friedensforschungsinstitute traten bei der Präsentation ihres Friedensgutachtens im vergangenen Juni geschlossen dafür ein, die Ukraine militärisch zu unterstützen.

Ich fragte, ob dadurch nicht Menschen enttäuscht würden, die denken, dass die Friedensforschungsinstitute zur Erforschung des Friedens und nicht für Waffenforderungen da sind. Schröder antwortete: „Es ist mein Job, Dinge zu verkomplizieren, wenn sie nicht einfach sind.“ Angriffskriege könnten es nötig machen, Frieden mit Waffengewalt herzustellen. „Wir haben nicht die gleiche Situation wie in den 80ern, als sich zwei hochgerüstete Blöcke gegenüberstanden, bei denen dann gefordert wurde, beide abzurüsten“ – was ja bis heute unterschreibbar sei, ergänzte sie.

Doch regt sich innerhalb der Friedensforschung Widerspruch dagegen, dass die Institute den Zeitenwende-Kurs der Bundesregierung so deutlich mittragen. In der Zeitschrift „Wissenschaft und Frieden“ versammelten sich jüngst irritierte Stimmen. Den HerausgeberInnen fiel dazu leider kein anderer Titel als „Quo vadis, Friedensforschung?“ ein, doch die Texte zeigen gut, wie es dem Antimilitarismus gerade geht.

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„Eine kritische Friedensforschung stellt die Kriegslogik und ihre vernunftwidrigen Konsequenzen in Frage“, schreibt Jürgen Scheffran. Das Dossier bietet viel Theorie über Krieg und Frieden anderswo und in der Vergangenheit – hat aber auch für den akuten Fall der Ukraine eine Idee: das Konzept der sozialen Verteidigung, gemeint sind zivile Widerstandsformen, Streik, Verweigerung, Untergrundorganisationen. Olaf L. Müller formuliert rückwirkend: „Wenn sich die Ukraine bereits unmittelbar nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 entschieden auf eine zivile Verteidigung gegen einen weitergehenden Überfall vorbereitet hätte“, wenn sie nicht in die Nato gewollt hätte, „wenn sie ihren Widerwillen gegen Fremdherrschaft aus Moskau durch millionenfache Demonstrationen mit Slogans wie ‚Ihr seid nicht willkommen‘ gezeigt hätte“ und der Westen all das auch finanziell unterstützt hätte, „dann hätte Putin seinen Truppen vielleicht keinen Einmarsch befohlen“.

Hm, vielleicht. Sehr vielleicht.

Quelle         :        TAZ-online        >>>>>         weiterlesen

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Unten       —     Ulrike Winkelmann bei einer öffentlichen Diskussion im April 2013

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Frag mal Clausewitz

Erstellt von DL-Redaktion am 18. März 2023

Der Militärtheoretiker ist heute so aktuell wie zu seiner Zeit

File:Ostfriedhof Burg Grab von Clausewitz.jpg

Ostfriedhof Burg bei Magdebirg – Grab von Clausewitz

Von Christian Th. Müller

Beim Streit über Wege zur Beendigung des Kriegs kann ein Blick auf die Lehren des Carl von Clausewitz hilfreich sein. Ohne den Krieg politisch zu denken und die politischen Zwecke festzulegen, ist die Entwicklung einer Strategie nicht möglich.

Der preußische General Carl von Clausewitz ist neben Sunzi aus dem alten China vermutlich der weltweit bekannteste Theoretiker des Kriegs. Seit Beginn der offenen russischen Aggression gegen die Ukraine wird Clausewitz, der von 1780 bis 1831 lebte, wieder häufiger zitiert, aber leider immer noch kaum gelesen und noch weniger verstanden. Fast jeder kennt zwar seine berühmte „Formel“ vom Krieg als der „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Manche haben auch noch von der für sein Theoriegebäude grundlegenden Zweck-Mittel-Relation gehört. Seine Überlegungen zur Komplexität und Wandlungsfähigkeit des Phänomens Krieg, das er treffend als „wahres Chamäleon“ charakterisiert hatte, sind hingegen selbst im Kreis der mit Sicherheitsfragen befassten Politiker, Journalisten und Wissenschaftler kaum näher bekannt oder werden von vornherein als obsolet abgetan und ignoriert.

Unsere sicherheitspolitische Debatte leidet an einem grundlegenden Strategiedefizit, das seinen deutlichsten Ausdruck in der Tendenz zur eindimensionalen Betrachtung des nicht nur militärisch, sondern auch politisch hochkomplexen Konflikts um die Ukraine findet. Das zeigt sich seit einem Jahr in den seriellen Diskussionen zum Thema Waffenlieferungen. Egal ob es um westliche Artilleriesysteme, Schützenpanzer, Kampfpanzer oder derzeit Kampfflugzeuge geht, stets wird von den vehementen Lieferungsbefürwortern die große, wenn nicht gar entscheidende Bedeutung des jeweiligen Waffensystems betont. Immer wieder wird dann auch der Begriff des Gamechangers ins Feld geführt, der der Ukraine zum erhofften Sieg über die russischen Invasoren verhelfen könne. Hat sich die Bundesregierung dann in Abstimmung mit den Nato-Partnern zur Lieferung entschlossen, wird erstaunlicherweise sofort der nächste Gamechanger in die Diskussion gebracht.

Bei einer solchen Argumentation wird geflissentlich übersehen, dass noch kein Krieg in der Geschichte durch einen einzigen Waffentyp entschieden wurde. Das gilt umso mehr, wenn dieser nur in eher homöopathischer Dosis zur Verfügung steht und überdies nicht auch die für einen nachhaltigen Einsatz erforderlichen Munitions- und Reparaturkapazitäten bereitgestellt werden. Umso fragwürdiger sind die diskursiven Leerstellen dahingehend, welchen Effekt die westliche Militärhilfe im Hinblick auf die zeitnahe Beendigung des Kriegs und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine realistischerweise haben kann.

Die Probleme des sicherheitspolitischen Diskurses in Deutschland ebenso wie im westlichen Bündnis insgesamt sind jedoch viel grundsätzlicherer Natur und haben inzwischen gewissermaßen jahrzehntelange Tradition. In den von den USA und ihren Verbündeten geführten Militäreinsätzen und Kriegen begegnet man von Vietnam bis Afghanistan immer wieder einem Syndrom aus drei Elementen.

Erstens sind die mit dem Einsatz verfolgten politischen Zwecke häufig unklar oder unter den Bündnispartnern umstritten, was dann wiederum mit Kompromissformeln kaschiert wird, die Interpretationsspielraum lassen. Wenn jedoch der politische Zweck des Kriegs nicht klar ist, gestaltet sich die Formulierung des strategischen Ziels im Krieg und die Entwicklung einer stringenten militärischen Strategie und ihre erfolgreiche Umsetzung als einigermaßen schwierig. Mit Blick auf die Afghanistan-Mission der Bundeswehr sprach der Historiker Klaus Naumann in diesem Zusammenhang treffend von einem „Einsatz ohne Ziel“.

Tatsächlich beschäftigen sich Politiker und Spitzenmilitärs zweitens kaum noch mit Strategie, sondern vor allem mit Ressourcenallokation. Statt darüber nachzudenken, was man auf welchem Weg und mit welchen Mitteln erreichen will, geht es dann vorzugsweise darum, wer wie viel Geld, Waffen und Truppen bereitstellt.

Hinzu kommt schließlich drittens das Ressortdenken der beteiligten militärischen und politischen Institutionen, die nicht selten geradezu eifersüchtig über ihre Kompetenzbereiche wachen. In der Folge fehlt dann zwischen der operativ-taktischen und der politischen Handlungsebene die Strategie als verbindendes Element.

Staatliche Uniformträger : Keine Zähne mehr im Maul – aber La-Paloma pfeifen !

Der französische Philosoph Raymond Aron hatte bereits in den 1970er Jahren – mit Blick auf den von den USA in Vietnam massiv geführten Luftkrieg – die verbreitete Tendenz kritisiert, Krieg vom Mittel und nicht vom verfolgten Zweck her zu denken. In den Jahren seit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich dieser letztlich auch apolitische Blick auf das Phänomen Krieg eher noch verstärkt. Daran haben auch so einflussreiche Militärhistoriker wie John Keegan und Martin van Creveld einen großen Anteil. Beide setzten dem clausewitzschen Primat der Politik ein Primat des Kampfs entgegen. Creveld ging sogar so weit, dass er einen Großteil des Kriegsgeschehens jenseits der zwischenstaatlichen Kriege als „nichtpolitisch“ betrachtete. Dieses auf staatliche Akteure und Regierungen verengte Politikverständnis trug wesentlich dazu bei, dass die Rolle des politischen Faktors in den Kriegen gegen nichtstaatliche und irreguläre Akteure verkannt wurde und man sich stattdessen darauf konzentrierte, den Gegner auf dem Gefechtsfeld – auf der taktischen Ebene – zu besiegen. Von Vietnam über den Irak bis Afghanistan machten die USA und ihre Verbündeten dabei immer wieder die gleichen Erfahrungen. Zwar hatten ihre Truppen in allen größeren Gefechten gesiegt, doch am Ende des Kriegs war man auf der strategischen und der politischen Handlungsebene gescheitert.

Clausewitz hingegen erkennt die Komplexität, die Mehrdimensionalität ebenso wie die dem Phänomen Krieg eigene, unberechenbare Dynamik. Gleichzeitig bietet er mit klar gehaltenen Begriffen und einer, seine Theorie von der taktischen bis zur politischen Handlungsebene durchziehenden Hierarchie von Zwecken und Mitteln ein effektives Instrumentarium, um sich in diesem vordergründigen Wirrwarr widerstreitender Elemente zurechtfinden zu können. Ein wesentliches Plus seiner Theorie besteht außerdem darin, dass er die moralischen Kräfte, die Friktion und die umfassende politische Bedingtheit des Kriegs in seinen Überlegungen berücksichtigt.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben      —     Ostfriedhof Burg Grab von Clausewitz

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Vom Seco zu Nestlé:

Erstellt von DL-Redaktion am 18. März 2023

Um die 40’000 Franken pro Sitzung

Lobby-Ablösung gefunden

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von     :    Pascal Sigg /   

Die ehemalige Seco-Direktorin soll in den Nestlé-Verwaltungsrat. Sie hat jahrelang im Dienst des Konzerns lobbyiert.

Ende April soll Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch in den Nestlé-Verwaltungsrat gewählt werden. Ineichen-Fleisch war bis Juli 2022 elf Jahre Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) in Guy Parmelins Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung. Zuvor war sie vier Jahre Schweizer Botschafterin und Delegierte für Handelsabkommen sowie Chefunterhändlerin der Schweiz bei der Welthandelsorganisation (WTO).

Nun soll der Schritt in die Privatwirtschaft folgen. Und der ist lukrativ. Die Zeitung «work» der Gewerkschaft «unia» hat berichtete kürzlich: «Die Nestlé-Verwaltungsrätinnen und -räte haben sich 2022 zu 11 Sitzungen getroffen, die durchschnittlich 2 Stunden und 55 Minuten dauerten. Dafür bekommen sie 280’000 Franken Honorar und 15’000 Franken Spesen im Jahr. Für den Einsitz in einem der Verwaltungsratsausschüsse kommen minimal 70’000 Franken und maximal 300’000 Franken hinzu. Ebenfalls pro Jahr. Zum Vergleich: Das Lohnmaximum für einen 100-Prozent-Job beim Bund liegt bei knapp 400’000 Franken.»

Im Namen der Schweiz in Südamerika für Nestlé lobbyiert

Ineichen-Fleisch kennt Nestlé bereits gut. Denn ihr Seco lobbyierte im Ausland wiederholt für die Interessen des Grosskonzerns – im Namen der Schweizer Eidgenossenschaft. Dies machten letztes Jahr Recherchen der NGO «Public Eye» bekannt (Infosperber berichtete). Ihnen zufolge versuchte das Seco die Regulierung von Nahrungsmitteln in Ländern wie Chile, Peru oder Ecuador im Interesse Nestlés zu beeinflussen. Besonders gut dokumentiert ist die letztlich erfolglose Einflussnahme in Mexiko.

Wegen der grassierenden Fettleibigkeit hatte Mexiko im Herbst 2016 einen «nationalen epidemiologischen Notstand» ausgerufen. Die Zahlen einer Gesundheitsstudie von 2020 zeigten: Unter den fünf- bis elfjährigen Kindern sind 38 Prozent übergewichtig oder gar fettleibig. Und unter den MexikanerInnen ab 20 Jahren sind 74 Prozent zu dick. Über ein Drittel der Erwachsenen ist fettleibig.

Auch in der Schweiz droht Nestlé eine Regulierung

Als Massnahme schlug der Gesundheitsausschuss der mexikanischen Abgeordnetenkammer fünf schwarze Stoppschilder vor, mit dem Schriftzug «Exceso», also «Übermass» – an gesättigten Fetten, an Kalorien, an Salz, an Transfetten, an Zucker. Zudem sollten mit Warnhinweisen versehene Produkte nicht mehr mit Comic-Figuren, Spielzeugen oder Berühmtheiten beworben werden. Dagegen wehrte sich Nestlé mithilfe der offiziellen Schweiz. Doch im Herbst 2020 trat die Regelung trotzdem in Kraft.

Selbst ausströmender Lobbygestank von Lindner FDP und Klöckner CDU konnte Nestle nicht von einen Arrangement mit den-r Politiker-in abhalten.

Seither haben weitere Länder wie Brasilien oder Kolumbien nachgezogen. Und auch in Deutschland und der Schweiz laufen ähnliche Bestrebungen. Die Sprecherin des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) aus Alain Bersets Departement des Innern sagte der SonntagsZeitung (Paywall) kürzlich: «Das BLV hat ebenfalls Pläne für eine Regulierung der an Kinder gerichteten Werbung». Die Behörde habe jahrelang erfolglos versucht, die Produzenten dazu zu bringen, entsprechende Lebensmittel freiweillig gesünder zu machen (Infosperber berichtete).

Ineichen-Fleisch dürfte also wissen, was bei Nestlé auf sie zukommt. Letzten Frühling sagte sie öffentlich über ihre Arbeit im Auftrag der Schweizer BürgerInnen: «Eine Hauptaufgabe meiner letzten elf Jahre als Seco-Direktorin war es, mehr Regulierung abzuwehren.»

Weiterführende Informationen

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —

Day 2 of the 10th WTO Ministerial Conference, Nairobi, 16 December 2015. Photos may be reproduced provided attribution is given to the WTO and the WTO is informed. Photos: © WTO. Courtesy of Admedia Communication.

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Kolumne * FERNSICHT Polen

Erstellt von DL-Redaktion am 18. März 2023

Beten und den Friseur fragen: – Auf Wohnungssuche

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Von  :  Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz

Sechs Monate, 147 Anfragen für Wohnungsbesichtigungen, vier Besichtigungstermine. Mietverträge: Null. Das ist unsere Erfolgsbilanz bei der Suche nach einer größeren Wohnung in Berlin. Im Moment haben wir 45 Quadratmeter und 2 Zimmer.

Freunde sagen, man brauche mehr Geduld. Man soll ein paar Jahre lang suchen, Tausende von Nachrichten schreiben und im unerwartetsten Moment wird es eine Wohnung geben, sagen sie. Man nimmt sie, denn sie ist zwar zu teuer, zu weit weg, in einem zu hässlichen Haus, aber drei beengte Zimmer statt zwei sind eine räumliche Revolution.

Anstelle von „beten und arbeiten“ müssen wir in Berlin also beten und E-Mails schreiben, Freunde fragen, die Verwaltung anrufen. Man sagt, Menschen täten auch andere Dinge. Zum Beispiel sechs Monatsmieten im Voraus zahlen. Oder bestechen.

Als wir Kinder waren, gab es im kommunistischen Polen einen Kultfilm. Er hieß „Miś“ (Bärchen). Darin gibt es eine Szene über einen Schwarzmarkt, auf dem Fleisch verkauft wird, das man nicht in einem normalen Geschäft bekommen konnte. Die Verkäuferin wirft einen hartnäckigen Kunden hinaus, indem sie ihn anschreit: „Was denken Sie denn, hier ist ein Zeitungskiosk, ich habe Fleisch hier!“.

In Rom Vor der Generalaudienz 2. Mai 2007

Vielleicht hilft hier der Himmelkomiker?

Unsere Generation wollte diesem System entfliehen. Nun haben wir das Gefühl, in Berlin hat es uns wieder. Es ist unmöglich, auf dem freien Markt eine Wohnung zu finden, es sei denn, man kann 3.000 Euro im Monat zahlen. Helfen soll angeblich ein Gespräch mit dem örtlichen Friseur. Auch an der Tür eines Gemüseladens in meiner Straße wurde kürzlich eine Wohnung inseriert. Freunde raten weiter: Eine Person mit einem deutsch klingenden Namen wird eher eine positive Antwort kriegen. Kein Kowalski oder Abdul – solche Namen haben keine Chance. Am besten ist es, Arzt oder Anwältin zu sein. Ist ein Philosoph etwa nicht in der Lage, die Miete pünktlich zu bezahlen?

In unserer Heimatstadt Warschau begann dieser Wahnsinn vor über einem Jahrzehnt. Die Preise stiegen von Tag zu Tag, und die schlechteste Wohnung mit Blick auf die Mülldeponie fand innerhalb von 15 Minuten einen Käufer. Heute kann man in Warschau keine Zweizimmerwohnung für weniger als 1.000 Euro mieten. Der Wohnungsmarkt wird eines der wichtigsten Themen des bevorstehenden Wahlkampfes sein.

In Warschau begann der Mieten-Wahnsinn schon vor einem Jahrzehnt

Quelles           :          TAZ-online           >>>>>         online

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Hass von oben

Erstellt von DL-Redaktion am 17. März 2023

Gewalt gegen Schwarze aus Subsahara-Afrika

Wer Hass sät wird seine eigene Hinterlassenschaften ernten ! 

Ein Debattenbeutrag von Sadem Jebali

Der tunesische Präsident Kais Saied befeuert mit seiner Rhetorik Proteste und Hetze gegen Migration aus Subsahara-Afrika. Es kam auch zu Angriffen.

Eine Woche, nachdem ich in Tunis demonstriert hatte und nur Stunden nach meiner Ankunft in Berlin traf ich mich mit einer Gruppe Tunesier und Vertreter afrikanischer Einwandererorganisationen, die vor der tunesischen Botschaft in Charlottenburg protestierten. Die Polizeibeamten vor der Tür schienen sich zu wundern über die Slogans, die gerufen wurden: „Solidarität mit Migranten und papierlosen Migranten!“, „Die Diktatur von Kais Saied muss enden!“. Die tunesischen Diplomaten beobachteten das Spektakel von den Fenstern der Botschaft aus.

Die Wut der Demonstranten wurde von den Ereignissen des 21. Februar angestachelt. An diesem Tag verkündete der tunesische Präsident Kais Saied, dass der tunesische Sicherheitsrat über dringende Sicherheitsmaßnahmen gegen die große Zahl irregulärer Einwanderer aus Subsahara-Afrika berate. Nach Angaben der Organisation FTDES (Forum Tunisien des Droits économiques et sociaux) leben mehr als 20.000 Menschen aus Ländern südlich der Sahara in Tunesien, was weniger als 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Während des libyschen Bürgerkriegs 2011 fand eine Million Flüchtlinge in Tunesien Zuflucht und blieb länger im Land – es war also keineswegs die erste Situation dieser Art.

In seiner Rede betonte der Präsident, es handele sich um eine Ausnahmesituation; schon länger sei ein Plan im Gange, Tunesiens demografische Zusammensetzung zu ändern. Nach der Revolution von 2011 sei viel Geld geflossen für die Ansiedlung illegal Eingereister aus Subsahara-Afrika – eine Anspielung auf den Druck aus Italien und der EU, die Migrationsströme einzudämmen. Saied betonte die Notwendigkeit, die Migrationswelle schnell zu beenden, da die Abertausenden Migranten aus dem südlichen Afrika Gewalt, Kriminalität und inakzeptable Praktiken ins Land brächten.

Nur Stunden nach der Rede trendeten migrantenfeindliche Sprüche in den sozialen Medien – frisch legitimiert vom politischen Diskurs. Einen Tag später nahmen Sicherheitskräfte willkürlich Schwarze Menschen auf den Straßen und in öffentlichen Verkehrsmitteln fest. Videos machten die Runde, in denen Bürger Migranten angriffen und Familien aus ihren Wohnungen geräumt wurden. In den Regionen Tunis und Sfax wurden tätliche Angriffe gemeldet. In weniger als 48 Stunden waren die Schwarzen Communities gelähmt vor Angst. Man konnte stundenlang durch Tunis laufen, ohne auch nur eine Schwarze Person zu sehen. Auch Schwarze Tunesier wurden zum Ziel von Angriffen und in den sozialen Medien begannen Verleumdungskampagnen gegen tunesische Black-Rights-Aktivistinnen wie die Feministin Saadia Mesbah. In Guinea, Mali und der Elfenbeinküste wurden eilig Rückholflüge angesetzt für Menschen, die in den Botschaften in Tunis warteten.

Im Land begann eine lebhafte Debatte über Migration, in der sich die einfache Lesart durchsetzte, das Problem seien die durchreisenden Illegalen aus dem Süden, die in Tunesien lediglich ein Transitland sähen. Dass die vielen Flüchtenden etwas mit gescheiterten Wirtschaftsreformen, Inflation, Mangel an Grundnahrungsmitteln und Staatspleiten zu tun hatten, verschwand schnell aus dem öffentlichen Bewusstsein. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Thema Migration und ob der Präsident denn nun recht oder unrecht habe mit seiner Haltung. Mich erinnerte das an rechtsextreme Bewegungen anderswo, etwa an die AfD in Deutschland. Was in Tunesien geschah, ist wie ein Lehrbeispiel für Massenmanipulation – dafür, wie man als nicht besonders weise politische Führungsfigur die öffentliche Meinung von sich weglenken kann.

Am 6. März gab das Saied-Kabinett eine erneute Stellungnahme ab, die folgendermaßen begann: „Tunesien ist überrascht über die Kampagne gegen angeblichen Rassismus in Tunesien. Tunesien weist die Anschuldigungen gegen den tunesischen Staat zurück. Wir sind ein Gründungsmitglied der Organization of African Unity (OAU), der späteren Afrikanischen Union, und haben stets nationale Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt unterstützt, vor allem in Afrika.“

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Oben     —     President of Tunisia, H.E. Kais Saied and I met while I was in Tunisia and had productive discussions regarding the partnership between @USAID and the Government of Tunisia. We are committed to helping implement their ambitious democratic and economic reform agenda.

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Aus eins mach zwei:

Erstellt von DL-Redaktion am 17. März 2023

Neuer Anlauf für Whistleblowing-Schutz

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

Der Schutz für Hinweisgeber:innen war an der Union im Bundesrat gescheitert. Nun versucht es die Ampelkoalition erneut und will der Union dabei den Teppich unter den Füßen wegziehen.

Diesmal soll es endlich klappen: Die Ampelkoalition unternimmt einen erneuten Anlauf, um Whistleblower:innen gesetzlich besser zu schützen. Erreichen will sie das mit einem waghalsigen Manöver, das die Union im Bundesrat ausbooten soll.

Eigentlich hatte der Bundestag bereits letztes Jahr ein Hinweisgeberschutzgesetz beschlossen. Doch weil das geplante Gesetz teils auch die Länder betroffen hat, war die Zustimmung des Bundesrats notwendig. Dort stellten sich die unionsgeführten Länder quer und blockierten das Gesetz. Es schieße weit über das Ziel hinaus und belaste vor allem kleine und mittlere Betriebe, begründete etwa der bayerische Justizminister Georg Eisenreich seine Ablehnung.

Mit den selben Argumenten hatte die Union noch zu Zeiten der Großen Koalition die längst überfälligen Regelungen verhindert. Bereits Ende 2019 trat die EU-Whistleblowing-Richtlinie in Kraft, umgesetzt ist sie hierzulande aber weiterhin nicht – trotz eines inzwischen laufenden Vertragsverletzungsverfahrens der EU-Kommission samt einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Aus eins mach zwei

Die Pattsituation soll nun ein neuer Ansatz auflösen. Hierfür hat die Regierung das Vorhaben in zwei Gesetze aufgeteilt, die heute in den Bundestag eingebracht werden: Das erste davon bleibt im Vergleich zum im Februar gescheiterten Entwurf praktisch unverändert. Es klammert aber alles aus, wofür die Zustimmung des Bundesrats erforderlich ist: etwa den Anwendungsbereich auf Landesbedienstete oder auf Körperschaften, die der Aufsicht eines Landes unterstehen.

Somit sollte sich der Löwenanteil des Gesetzes mit einer simplen Stimmenmehrheit im Bundestag beschließen lassen, hofft die Regierung. Es handle sich um ein Einspruchsgesetz, das könne die Union nicht verhindern, sagt eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums (BMJ).

Das zweite Gesetz ist nur ganz kurz gehalten und dient allein dazu, die obigen Ausnahmen gleich wieder aufzuheben. Zwar könnte es der Bundesrat – voraussichtlich Ende März – erneut durchfallen lassen, aber immerhin bliebe der Schaden verhältnismäßig begrenzt.

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Vor allem aber würden die bisherigen Argumente der Union nicht mehr greifen, sagt der SPD-Abgeordnete Sebastian Fiedler: „Die wesentliche Kritik der Union hat sich ja nur auf Fragen der Wirtschaft bezogen“. Etwaige Kosten für die Wirtschaft oder ob es sinnvoll ist, auch anonyme Meldungen zuzulassen, sei in diesem Gesetzentwurf kein Thema. „Die Union müsste sich neue Argumente einfallen lassen, um das wieder abzulehnen“, sagt Fiedler.

Union hält sich bedeckt

Ob es dazu kommt, bleibt vorerst offen. Aus dem bayerischen Justizministerium heißt es auf Anfrage, dass „zum Abstimmungsverhalten Bayerns im Plenum des Bundesrates vor der Bundesratssitzung grundsätzlich keine Auskunft gegeben werden kann“. Auch Hessen, das zuletzt seine Zustimmung verweigert hat, hält sich bedeckt. Da Justizminister Roman Poseck „selbst im Bundestag dazu sprechen wird, möchte ich seiner Rede nicht vorweggreifen und verweise zunächst auf die morgige Debatte“, beschied gestern eine Sprecherin des Ministeriums.

Druck auf die Union könnte auch von anderer Seite kommen. Denn sollte die Länderkammer das abgespeckte Gesetz abermals zurückweisen, dann würde das schlicht darauf hinauslaufen, dass „die Länder ihre Mitarbeiter schlechter stellen“ als den Rest der Bevölkerung, der unter bestimmten Umständen Rechtsverstöße geschützt melden kann, sagt Kosmas Zittel vom Whistleblower-Netzwerk. „Es wäre geradezu absurd, wenn die Blockadehaltung der Unionsparteien im Bundesrat für ein Zwei-Klassen-Recht im öffentlichen Dienst sorgen würde“, heißt es in einem Blogbeitrag der Nichtregierungsorganisation.

Vertreter:innen der Ampel zeigen sich derweil zuversichtlich. „Es gibt für den Bundesrat keine inhaltlichen Kritikpunkte in diesem Gesetz, sodass es nur aufgrund sachfremder Erwägungen aufgehalten werden könnte“, teilt der Grünen-Abgeordnete Till Steffen mit. Ein solches Vorgehen habe es noch nie gegeben. „Es liegt an der Union, das Gesetz nicht weiter zu blockieren“, so Steffen. Sollte wider Erwarten das Ergänzungsgesetz ohne tatsächliche Begründung abgelehnt werden, „werden wir das weitere Vorgehen erneut diskutieren müssen“.

Denn vom Tisch wäre das Thema dann nicht: Eine Ausklammerung von Landesbeamt:innen vom Anwendungsbereich würde bedeuten, dass Deutschland die EU-Richtlinie weiterhin nicht vollständig umgesetzt hat. Das von der EU-Kommission angestrengte Verfahren würde also weiterlaufen, im Falle einer Verurteilung würde eine saftige Geldstrafe auf Deutschland zukommen. Das findet der SPD-Abgeordnete Fiedler nicht fair. Rechtlich habe er es selbst noch nicht geprüft, aber „wenn sie trotzdem dagegen stimmen, dann könnte man die Strafzahlungen theoretisch an die Länder weiterreichen“, sagt Fiedler.

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Oben     —     Günter Wallraff bei einer Lesung während seiner Anti-Bild-Kampagne 1981

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Ein Kurt für alle Fälle

Erstellt von DL-Redaktion am 17. März 2023

Berlins Top-Kopfgeldjäger auf Jagd nach Mandatsdrückeberger-innen

Heute mit staatlichen Verdienstkreuz ?

Die Wahrheit von Patric Hemgesberg

Unterwegs mit Berlins Top-Kopfgeldjäger für Abgeordnete aller Art in freier Wildbahn. Ein gefährliches Unterfangen, eine exklusive Wahrheit-Recherche.

Auf der Inspektionsrunde durch das Berliner Zentrum hat Kurt Sievers plötzlich etwas gesehen. Der bärtige Mann mit der kugelsicheren Weste und dem muskulösen Oberkörper reißt das Steuer herum. Begleitet von wütendem Motorengeheul durchbricht sein wuchtiger SUV den Zaun vor dem Volkspark Friedrichshain und schlingert zwischen Spaziergängern und Sonnenanbetern über das Gras. In der Nähe des Märchenbrunnens kommt das 350 PS starke Gefährt schließlich mit einer letzten Drehung zum Stehen.

Sievers steigt aus und steuert zielstrebig auf einen am Boden kauernden Mittdreißiger zu, der beim Abbeißen von seinem Döner vor Entsetzen erstarrt ist. Bevor der arme Kerl überhaupt weiß, wie ihm geschieht, klicken schon die Handschellen. Wenig später wartet der Delinquent über die Motorhaube des SUV gebeugt auf die Überprüfung seiner Personalien.

„Kai-Malte Steffens, Bündnis 90/Die Grünen“, fasst Spürnase Sievers für uns noch mal die Eckdaten seiner „Person of Interest“ zusammen. „Sollte sich genau in diesem Moment in einer Abstimmung des Deutschen Bundestages zum ‚Chancen-Aufenthaltsrecht‘ befinden und wurde vor zehn Minuten als ‚unentschuldigt fehlend‘ gemeldet. Tja, Pech gehabt, Freundchen!“

Der gebürtige Spandauer Sievers verfrachtet seinen jüngsten Fang unsanft auf die Rückbank. Direkt daneben schmollt bereits eine Delegierte der CSU, die Sievers gerade erst bei Weißwurst und Hefeweizen in einem Biergarten erwischt hatte. Der 49-jährige „Bounty Hunter“ ist direkt der Bundestagspräsidentin unterstellt und treibt im Auftrag des Parlaments sitzungsmüde Abgeordnete sämtlicher Parteien im Berliner Stadtgebiet auf. Am heutigen Freitag hat er besonders viel zu tun.

Beschämte Mandatsdrückeberger

„Mit einem langen Wochenende vor der Nase möchte sich so mancher schon früher ins Privatleben verabschieden“, bellt Sievers in Richtung der beschämten Mandatsdrückeberger. „Aber nicht in meiner Schicht, verstanden?“

Nachdem wir die schwarz-grünen Ausreißer an der Bundestagspforte dem Sicherheitsdienst übergeben haben, dürfen wir die Streifenfahrt mit Sievers fortsetzen. Wie er uns erzählt, bezahlen geschnappte Volksvertreter die Prämie, die auf ihre Ergreifung ausgesetzt ist, bis auf den letzten Cent selbst.

„Die genaue Summe ergibt sich aus dem Betrag im persönlichen Fehlstundenkonto, multipliziert mit dem Faktor 100“, plaudert der Kopfgeldjäger bei der Tour durch die quirlige Hauptstadt aus dem Nähkästchen. Sein großer Traum sei es daher, nur ein einziges Mal die ständig abgängige Sahra Wagenknecht dingfest zu machen. Vom fürstlichen „Finderlohn“ könnte Sievers anschließend in Saus und Braus auf den Bahamas leben.

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Beth Chapman war eine US-amerikanische Kopfgeldjägerin und Reality-TV-Darstellerin.

Als wir bei Rot vor einer Fußgängerampel halten, watschelt zufällig Franziska Giffey mit einem Eis in der einen und einem Bündel bunter Tragetaschen in der anderen Hand über die Fahrbahn. Bedauerlicherweise sei er in diesem Fall nicht zuständig, seufzt der Abgeordnetenhäscher. Während wir weiterfahren, verständigt er netterweise per Funk den Kollegen in Diensten des Berliner Senats, damit er die SPD-Politikerin gleich vor ihrem Lieblingscafé in Berlin-Mitte einkassieren kann.

„Unter allen 736 Mitgliedern des Bundestags ist Armin Laschet übrigens der einzige Abgeordnete mit Dauerfreigang“, füttert uns der Fugitive Recovery Agent weiter mit Insiderwissen. „Aufgrund der bestehenden Härtefallregelung und des erlittenen Söder-Traumas während seiner Kanzlerkandidatur darf er kommen und gehen, wann er will.“

Sahra Wagenknecht einfach so auf einer Bank

Sievers würde uns gern noch mehr Geschichten aus dem Politbetrieb erzählen, doch plötzlich wird er Zeuge von etwas Unglaublichem. Sahra Wagenknecht, Berlins unangefochtene Blaumacherkönigin, sitzt in der Nähe des ZDF-Hauptstadtstudios einfach so auf einer Bank und blättert seelenruhig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ob der linke Friedensengel gerade ein Interview gegeben oder zum tausendsten Mal an einer Talkshow teilgenommen hat, ist dem Staatsdiener wurscht. Er will das schmale Zeitfenster für eine Frührente im sonnigen Süden unbedingt nutzen und fährt vorsichtig rechts ran.

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Oben     —       Foto: DIE LINKE NRW / Irina Neszeri

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Gelernte Lektion anwenden

Erstellt von DL-Redaktion am 16. März 2023

Deutschland steht in der Pflicht

Sind nicht viele Bürger-innen in der gähnenden 16 jährigen Schläfrigkeit sehr alt geworden ?

Ein Debattenbeitrag von Roee Kibrik aus Jerusalem

Kein Weg führt an einer Konfrontation mit der Regierung in Jerusalem vorbei, will man ein demokratisches Israel retten. In Israel verändern sich die Dinge auf eine Art, die ein politisches Umdenken erfordert.

Die Reise von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu nach Berlin ist eine gute Gelegenheit für die Bundesrepublik, ihn auf den Platz zu verweisen, der ihm zusteht.

Bundesjustizminister Marco Buschmann besuchte im vergangenen Monat Israel und erinnerte behutsam an Demokratien, die sich in der Geschichte der Menschheit selbst zu zerstören wussten, und dass der Macht der Mehrheit keine Grenzen gesetzt seien. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock traf jüngst mit ihrem Amtskollegen Eli Cohen in Berlin zusammen und brachte ihm gegenüber ihre Sorge vor einer Beeinträchtigung der „Unabhängigkeit der Justiz“ zum Ausdruck. Und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte bei einem Empfang im Schloss Bellevue anlässlich des 50. Gründungsjubiläums der Universität Haifa, er sei besorgt über den „Umbau des Rechtsstaats“, den die Regierung in Jerusalem plant.

Das ist sehr nett, dass der Präsident und die Minister besorgt sind. Aber es ist keineswegs ausreichend. Dass Deutschland aus dem Zweiten Weltkrieg und den Ruinen der Konzentrationslager gebrochen, zerschlagen, geächtet und auf ewig beschämt hervorgeht, war nur gerecht. Der Weg zurück zur Völkerfamilie führte völlig klar über die bedingungslose Annahme des Prinzips: Nie wieder! Nie wieder Holocaust! Nie wieder Krieg! Nie wieder eine Diktatur!

Deutschland hat den Holocaust als Teil seiner Identität angenommen und weder die Geschichte ausgelöscht noch davon abgesehen, sich mit diesem düsteren Kapitel auseinanderzusetzen. Deutschland hat mit großer Klugheit den Holocaust zu einem Teil der Identität des Volkes gemacht, kann so in den Spiegel sehen und sich der Scham stellen und aus dieser Scham heraus kommende Generationen erziehen.

Aus der geschichtlichen Verpflichtung heraus hat sich Deutschland selbst außenpolitische Schranken errichtet und für eine Außenpolitik der Kooperation entschieden, die auf Sicherheit und Stabilität setzt, auf Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit. Anstelle eines unabhängigen Handelns strebt die Bundesregierung ein Agieren im Rahmen einer Koalition westlich-liberaler Staaten an. Deutschland unterhält enge Beziehungen zu den USA, ist Mitgliedsstaat der Nato und federführend in der Europäischen Union.

Hand in Hand mit Frankreich treibt Deutschland innerhalb der EU Menschenrechte und Frieden voran, dient als Modell für den Umgang mit Flüchtenden, Menschen mit Behinderung und LGBTQ. All das ist ein komplettes Gegenstück zu den Gräueltaten der Nazis.

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Roee Kibrik ist Forschungsdirektor der israelischen Denkfabrik Mitvim und Dozent für Internationale Beziehungen an der Hebräischen Universität Jerusalem. Zu seinen Schwerpunkten gehören der israelisch-palästinensische Konflikt, die Theorie der Internationalen Beziehungen, Politische Psychologie, Politisches Denken und Konzeptgeschichte. Kibrik ist zudem Mitglied im Kibbuz Mizra.

Deutschland hat sich zum Existenzrecht und der Sicherheit Israels verpflichtet. Die besondere Sorge gilt dem jüdischen Volk und dem Staat Israel. Reparationszahlungen, die Rückendeckung auf internationaler Bühne, Waffenlieferungen und Vermittlungen bei Verhandlungen mit Drittstaaten haben die Beziehungen beider Staaten über Jahre gefestigt.

Nicht, dass alles perfekt wäre in Deutschland, das vor Korruption oder auch wachsendem Rassismus nicht gefeit ist. Und doch hat die verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und die Umsetzung dieser Lektion in politisches und staatliches Handeln Deutschland nicht nur in die Arme der Völkerfamilie zurückgeführt, sondern einen zentralen Platz unter den führenden liberalen Demokratien der Welt einnehmen lassen.

Die Welt verändert sich, und die Politik muss der sich wandelnden Realität angepasst werden. Auch in Israel verändern sich die Dinge – auf eine Art, die ein politisches Umdenken erfordert. Lange Jahre hat Deutschland dem Besatzungsstaat Israel viele Verbrechen verziehen. Der Umgang mit Minderheiten und Fremden, die Menschenrechtsverletzungen und die massiven Einschränkungen für Menschenrechtsorganisationen – all das steht in direktem Gegensatz zu den Prinzipien, die die deutsche Politik leiten, von der einen Verpflichtung, Israel zur Seite zu stehen, abgesehen. Doch jetzt ändern sich die Vorzeichen auf eine Weise, die es Deutschland ermöglicht, beide Komponenten unter einen Hut zu bringen: die Verpflichtung Israel gegenüber und der Kampf gegen die Diktatur. Israel wird heute angegriffen von einer extrem rechten Regierung, die sich zusammensetzt aus Kriminellen, Korrupten und Messianern, die sich die Zerschlagung des Justizapparats zum Ziel setzt und die Machtkonzentration in den Händen der Exekutive. Wie kaum ein anderes Land müsste Deutschland wissen, was dabei herauskommen kann.

Die Regierung in Berlin muss diese Entwicklungen nicht tatenlos beobachten. Schließlich hat sich Deutschland in der Vergangenheit bisweilen deutlicher gegenüber Israel positioniert. So wurde die Lieferung der deutschen U-Boote so lange aufgehalten, bis Israel zurückgehaltene Gelder an die Palästinensische Autonomiebehörde überwies. Auch heute gäbe es Möglichkeiten – ein verändertes Abstimmungsverhalten in New York oder die schärfere Verurteilung der Besetzung.

Deutschland kann und muss signalisieren, dass die Handelsbeziehungen so wenig in Stein gemeißelt sind wie die Sicherheitskooperation oder Rüstungslieferungen. Deutschland kann und muss Menschenrechtsorganisationen unterstützen, die für Demokratie und Frieden in Israel kämpfen und auf jede nur mögliche Hilfe – sei es finanzieller, politischer oder organisatorischer Art – angewiesen sind.

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Oben     —     Catrinas – Day of the Dead Ladies

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Unten          —     Members of the transgender family organisation Brit HaLeviot in the Red Line for Hate protest against the anti-lgbt coalition agreements of the upcoming 37th Government of Israel, Tel Aviv, 29 December 2022

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EuGH – Verhandlung :

Erstellt von DL-Redaktion am 16. März 2023

Braucht der Perso Fingerabdrücke?

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von         :     

Der Zwang zur Abgabe von Fingerabdrücken für den Personalausweis ist umstritten. In Luxemburg fand gestern eine Sitzung dazu vor dem Europäischen Gerichtshof statt. Ein Bürgerrechtler hatte geklagt.

Schon deutsche Gerichte hatten darauf hingewiesen, jetzt zeichnet sich auch vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein ähnliches Bild ab: Der Fingerabdruckzwang steht auf wackeligen Rechtsbeinen. Gestern wurde der Fall mündlich in Luxemburg verhandelt.

Geklagt hatte Detlev Sieber von der Bürgerrechtsorganisation Digitalcourage, zunächst vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden: Sieber verlangte von der Stadt einen Personalausweis ohne dafür biometrische Daten in Form von Fingerabdrücken zu hinterlassen. Die Richter hatten den Fall dann an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weitergegeben.

Dass die rechtlichen Bedenken aus Wiesbaden kein Einzelfall sind, hat sich in der Zwischenzeit bestätigt: Das Verwaltungsgericht Hamburg hat Ende Februar angeordnet, dass einer Person ein Personalausweis ohne gespeicherte Fingerabdrücke ausgestellt werden soll.

Zweifel aus den eigenen Reihen

Die Sitzung am EuGH fand nun vor der Großen Kammer statt – ein Zeichen, dass das Gericht sich der Dimension bewusst ist. Mehr als 300 Millionen EU-Bürger:innen sind von der Verordnung 2019/1157 betroffen. Sie verpflichtet seit 2021 alle EU-Bürger:innen, zwei Fingerabdrücke abzugeben, sobald sie einen neuen Personalausweis beantragen. Die biometrischen Daten werden anschließen auf einem Chip im Personalausweis gespeichert.

Die EU sagt, die Verordnung diene dem Fälschungsschutz und soll es den Behörden einfacher machen, eine verlässliche Verbindung zwischen einer Person und ihrem Ausweis herzustellen. Laut dem Europäischen Datenschutzbeauftragten ist das allerdings nicht notwendig. Schon 2018 hat dieser empfohlen, auf Alternativen zurückzugreifen, die in gleichem Maße Fälschungen vorbeugen – dabei aber das Grundrecht auf Datenschutz schonen.

Neben dem Fälschungsschutz gibt es noch eine zweites Argument: Mit dem neuen Perso könnten sie EU-Bürger:innen frei in und zwischen den Staaten bewegen. Für Kritiker:innen ist auch diese Begründung vorgeschoben. Schließlich besitzen die meisten EU-Bürger:innen bereits einen Reisepass. Und bei Reisen innerhalb der EU wird der Perso ohnehin kaum kontrolliert.

Vorgeschobene Gründe

Jetzt also Luxemburg. Die Parteien trugen ihre Rechtsansicht am Dienstagvormittag im Grande Salle Palais vor den 15 anwesenden Richter:innen vor. Wilhelm Achelpöhler, der Anwalt des Klägers, begann mit seinem Hauptangriffspunkt: Die Fingerabdrücke dienten nicht ausschließlich dem Zweck, dass sich Unionsbürger:innen frei in und zwischen den Staaten bewegen könnten. Im Gegenteil: Die Verordnung ließe es ausdrücklich zu, dass nationale Behörden aus beliebigen Gründen – beispielsweise für die Strafverfolgung – auf die biometrischen Daten zugreifen. „Die Verordnung begrenzt die Verwendung der Daten nicht auf das erforderliche Maß“, sagte Achelpöhler.

Der Anwalt erklärte auch noch mal, welchen Weg die Daten nehmen. Sobald EU-Bürger:innen einen Antrag für einen neuen Personalausweis stellen, nimmt die zuständige Behörde biometrische Daten in Form von zwei Fingerabdrücken. Danach verbleiben die hochsensiblen Daten bis zu 90 Tage bei der Behörde sowie beim Unternehmen, das den Ausweis anschließend erstellt. Im Regelfall sollen die Daten zwar schon bei Abholung des Ausweises gelöscht werden. Doch auf der Grundlage von nationalen Gesetzen kann der Staat in diesem Zeitraum auf die Daten zugreifen.

Nach 90 Tagen verringert sich die Gefahr eines Zugriffs: Die Daten sind dann nur noch auf einem kleinen Chip im Personalausweis. Auf diesen können Behörden nur noch mit einem speziellen Lesegerät zugreifen. Und nur zu dem Zweck, um den Ausweis und die Identität der Person auf Echtheit zu überprüfen.

90 Tage Wilder Westen

90 Tage sind dennoch eine lange Zeit für die EU, die sich sonst gerne als Vorreiter in Fragen des Datenschutzes positioniert. Achelpöhler sagt in der Verhandlung dazu: „Warum soll man bei der Ausstellung eines Personalausweises Fingerabdrücke der Bürger erheben und diese für 90 Tage zu jedem potentiellen Zweck des nationalen Rechts verwenden?“ Ein solche Regelung verunsichere die Bürger:innen und führe zu der Befürchtung, dass der Staat anlasslos die Daten gegen sie verwendet.

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Konstantin Macher, ein Sprecher von Digitalcourage, erhob in einer Pressemitteilung nach der Verhandlung noch einmal ganz grundsätzliche Kritik: „Auch auf mehrere Nachfragen hin konnten EU-Kommission und Rat nicht erklären, wie eine Gefahr für die biometrischen Daten der betroffenen Bürger.innen ausgeschlossen werden soll. Das lässt sich auch gar nicht verhindern: wenn die Daten einmal erhoben werden besteht das Risiko des Datenlecks und des Missbrauchs. Darum sollte es erst gar keine Fingerabdruckpflicht geben.“

Vertreter:innen von Kommission, Parlament und Rat verteidigten den Fingerabdruckzwang vor dem EuGH vehement. Das ist wenig überraschend, schließlich geht die Verordnung auf diese Institutionen zurück. Eine Vertreterin des Rats der Europäischen Union betonte in ihrem Statement immer wieder, dass die Daten vor Zugriff sicher seien.

Der nächste Schritt im Verfahren ist jetzt die Veröffentlichung der Schlussanträge der Generalanwältin am 29. Juni. In den allermeisten Fällen folgt das Gericht diesen Anträgen. Ein Termin für die endgültige Urteilsverkündung steht noch nicht fest.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —       Sitzungssaal des EuGH

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Es gibt die Wahrheit.

Erstellt von DL-Redaktion am 16. März 2023

Es gibt Stolz. Es gibt Mut. – Kontertext:

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Nika Parkhomowskaia und Inna Rozowa /

Wo bleibt die russische Opposition gegen Krieg und Putin?

Am 10. März 2023 veröffentlichte die berühmte russische Rocksängerin Zemfira, die sich derzeit im französischen Exil befindet und ein modernes, europäisch geprägtes Russland verkörpert, ihren neuen Song «Motherland». Der Hauptgedanke dieses Liedes ist, dass niemand gezwungen werden kann, sein/ihr Heimatland zu lieben. Unmittelbar danach wurde sie von «Patrioten», die eine totale russische Invasion der Ukraine unterstützen, als Verräterin beschimpft, und Parlamentsmitglieder forderten die Beschlagnahmung ihrer Moskauer Wohnung und ihrer zwei Autos.

Nun ist die Forderung, denen, die den Krieg kritisiert und das Land verlassen haben, ihre Immobilien zu entziehen, keineswegs neu, und die schärfsten Propagandisten drohen auch damit, den Exilierten, die sich dem Regime weiterhin widersetzen, die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Der besonders grimmige Ex-Präsident Medwedew versucht sogar, sie mit physischer Gewalt einzuschüchtern.

Doch die russischen Journalisten, Künstler und Politiker, die sich inzwischen in der ganzen Welt niedergelassen haben, vertreten weiterhin ihre Positionen. Viele von ihnen wurden als «ausländische Agenten» bezeichnet, was bedeutet, dass sie automatisch in ihren sozialen und menschlichen Rechten eingeschränkt werden. Jegliche Zusammenarbeit mit russischen Institutionen oder etwa die Unterrichtung russischer Kinder via Zoom ist ihnen verunmöglicht. Viele von ihnen werden auch immer wieder in absentia mit Geldstrafen belegt oder wegen Diskreditierung der russischen Armee verurteilt. Das heisst: sie werden verurteilt, weil sie die Wahrheit sagen und nicht der offiziellen Linie des Kremls folgen.

Nicht erst seit gestern

Diejenigen, die in Russland bleiben, befinden sich jedoch in einer viel gefährlicheren Lage. Jede Äusserung gegen den Krieg kann zur Verhaftung und zu Prozessen führen. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass die Verfolgung wegen der Teilnahme an Versammlungen und Mahnwachen nicht erst heute begonnen hat, sondern bereits seit mehr als zehn Jahren stattfindet. Es gab in den letzten Jahren nicht nur die riesigen Protestkundgebungen gegen die gefälschten Parlamentswahlen im Jahre 2011, sondern auch Hunderte von anderen Demonstrationen, von denen am ehesten noch die Proteste gegen die neue Amtszeit von Präsident Putin anno 2012 in Erinnerung geblieben sind.

Diese Demonstrationen führten zu Verhaftungen und langjährigen Haftstrafen. Die Situation wird dadurch verschärft, dass die Justiz in Russland bekanntlich abhängig und ungerecht ist: Man kann leicht für etwas verurteilt werden, das man gar nicht begangen hat, und kein Anwalt kann einen in diesem Fall schützen. Die meisten Menschen in Russland haben wirklich Angst davor, verhaftet zu werden, denn die Polizei verhält sich sehr aggressiv, und jeder weiss, dass in russischen Gefängnissen Folterungen vorkommen, die zwar offiziell verboten, aber in der Realität weit verbreitet sind. Verhaftet zu werden ist gefährlich für Leib und – manchmal – Leben. Es bedeutet zumeist, unter sehr schlechten Bedingungen existieren zu müssen.

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Es gibt andere Gründe Menschen umzubringen !

In letzter Zeit haben die russischen Behörden begonnen, Kinder von ihren Eltern zu trennen: So haben die Medien viel über den Fall Alexey Moskalev berichtet. Der Arbeitslose aus einer Kleinstadt unweit von Moskau schrieb in den sozialen Medien gegen den Krieg, und seine 13-jährige Tochter malte ein Bild mit der Aufschrift «Kein Krieg». Die Lehrerin zeigte sie an, und nun befindet sich das Mädchen in einem Waisenhaus, während ihr Vater in Haft ist.

Geld und Propaganda

Der Staat bestraft seine Bürger nicht nur, er provoziert sie auch. Und er erkauft sich Loyalität, indem er denjenigen, die am Krieg teilnehmen, hohe Gehälter zahlt – viele Menschen in Russland hatten nie die Möglichkeit, mit ehrlicher Arbeit so viel Geld zu verdienen wie nun mit Krieg. Die traurige Wahrheit ist, dass das Land in Arm und Reich gespalten ist, und einige Menschen ziehen aus Armut in den Krieg und nicht weil sie kriegsbegeistert sind oder etwas gegen die Ukraine haben. Um ihre Moral zu heben, setzen die Behörden massive Propaganda ein, auch in den nationalen Fernsehkanälen. Die Vorstellung, dass Russland ein altes, spirituelles Land sei, das die «wahren» Werte bewahre und gefährliche Feinde bekämpfen müsse, wird den Menschen erfolgreich eingepflanzt. Diese verrückten Ideen sind beliebt, denn leider ist Russland in seinem Kern immer noch sehr patriarchalisch. Während fast alle unabhängigen Medien geschlossen sind und Youtube als alternative Informationsquelle ständig Gefahr läuft, komplett verboten zu werden, sind die Menschen – vor allem diejenigen, die nicht in der Lage sind, selbst zu denken – bereit, jeden Unsinn zu glauben.

Die Macht des Faktischen

Alle Soziologen erklären jedoch, dass von denjenigen, die im Lande bleiben, mindestens 20 Prozent den Krieg nicht unterstützen. Wenn man bedenkt, wie gross Russland ist, bedeutet das, dass nicht weniger als 20 Millionen Menschen gegen den Krieg sind. Sie protestieren nicht unbedingt offen – sowohl aus Angst als auch aus dem Gefühl heraus, dass es absolut nutzlos ist –, schliesslich war in den Jahren der Putin-Regierung keine der Demonstrationen erfolgreich.

Wer politische Situationen, wie sie heute in Russland herrschen, aus Erfahrung kennt, kann das verstehen. Der litauische Ex-Premierminister Andrius Kubilius beispielsweise, der fest an die demokratische Zukunft Russlands glaubt, sagt, dass selbst das freiheitsliebende Litauen sich nicht gegen das Sowjetregime stellen konnte, weil das System zu stark war. Dennoch finden die Menschen Mittel und Wege, um ihre Haltung zu aktuellen Ereignissen zum Ausdruck zu bringen. So begannen die Russen nach dem Bombenanschlag auf ein Gebäude voller Menschen im ukrainischen Dnipro, Blumen niederzulegen – zunächst an den Denkmälern, die mit der Ukraine in Verbindung stehen, und dann an Gedenkstätten, die mit politischen Repressionen im ganzen Land in Verbindung gebracht werden. Die Behörden versuchten, diese unschuldigen Aktionen zu verbieten und leiteten einige Verwaltungsverfahren ein, aber es entstanden immer wieder spontane Gedenkstätten. Mit Grund singt Zemfira in ihrem neuen Lied: «Es gibt die Wahrheit. Es gibt Stolz. Es gibt Mut.»

Aus dem Englischen übersetzt von Felix Schneider 

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —     ‚Chain of Protest‘ in Moscow by Fair Elections Movement / White Ribbons

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Hungary-Serbia border barrier

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Lob der Umerziehung

Erstellt von DL-Redaktion am 15. März 2023

Angebliche Bevormundung durch Linke

Ein Schlagloch von Robert Misik

Linke Selbstveränderung und Kritik an überholten Lebensformen und Werten ist nicht überheblich. Im Gegenteil: Sie ist ein nobles Anliegen.

Linken wird heute gern vorgeworfen, sie wollten die Menschen „umerziehen“. Der Vorwurf kommt von hartleibigen Konservativen, im Chor mit Rechtsextremen. Es ist ein Vorwurf, der auf subtile Weise ins Mark trifft, weil die Linken darauf ja nicht „Genau, das wollen wir“ antworten können. Schließlich hat der Begriff der „Umerziehung“ einen autoritären Beiklang, es schwingt die totalitäre Konzeption einer „Menschenzüchtung“ mit, oder zumindest deren freundlichere Schwester, der Paternalismus: Wir sind gut, aufgeklärt und liberal, und ihr seid es nicht, weshalb wir euch ein bisschen verbessern müssen, natürlich zu eurem eigenen Vorteil. Der Vorwurf sitzt, weil viele Linke insgeheim das Gefühl haben, dass die Rechten vielleicht irgendwie recht haben könnten.

Tatsächlich ist das nicht völlig falsch, zumindest auf den ersten Blick. Denn die Linken haben sowohl eine große Tradition als auch das Selbstbild, auf der Seite der einfachen Leute zu stehen, die es schwer im Leben haben, nicht mit goldenen Löffeln im Mund geboren oder in verzärtelten Mittelschichtsfamilien aufgewachsen sind, die den Restbeständen einer traditionellen, plebejischen Kultur entstammen, und die, sagen wir es mit einem Modewort, nicht immer vollständig woke sind. Und jetzt kommen die Linken daher und sagen ihnen: Es ist nicht okay, wie ihr seid.

Zumindest haben manche Leute das Gefühl, dass die Linken das von ihnen denken. Stimmt ja auch: Wer den Rassismus, die Engstirnigkeit, die Dominanz traditioneller Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Teilen plebejischer Milieus kennt, der weiß, dass es auch die Quelle von viel Leid ist, des Leids jener, die Diskriminierung, Mobbing oder Tätlichkeiten ausgesetzt sind. All das führt dazu, dass die Linken einerseits auf der Seite der einfachen Leute stehen, andererseits ihnen aber zu verstehen geben, dass sie ihr Verhalten missbilligen. Und dann kommen die Rechten und sagen diesen Gruppen: „Es ist okay, wie ihr seid.“ Es ist nicht verwunderlich, dass einige diese Botschaft lieber hören als Kritik an Lebensstilen und Werthaltungen.

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Bundeswehr in Schulen Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Aber das ist erst der Beginn der Kompliziertheiten. Oft kommt als Ergänzung der Vorwurf, dass die Linken früher noch in der konkreten Lebensrealität des einfachen Volkes verwurzelt waren, ihnen heute aber „von oben“ mit dem Zeigefinger kommen. Nun wollten Sozialisten, Sozialdemokraten und alle anderen Linken schon früher die arbeitenden Klassen einerseits ermächtigen, aber andererseits immer auch verändern. Weltverbesserung und Selbstverbesserung waren stets untrennbar miteinander verbunden. Der Ursprung der Arbeiterbewegung lag oft in Arbeiterbildungsvereinen. Die Idee dahinter war, dass man den ungebildeten, analphabetischen Arbeitern Wissen vermittelt, denn, so hieß die Parole, „Wissen ist Macht“. Mit dem Wissen, Lesen und Schreiben wurden auch Werte vermittelt, die an die Vernunftvorstellungen der Aufklärung angelehnt waren. Die Anführer der Sozialisten legten beispielsweise den männlichen Arbeitern nahe, ihren Wochenlohn nicht prompt am Samstagabend zu versaufen, sie ermahnten sie, ihre Frauen anständig zu behandeln, sie propagierten neue Partnerschaftsmodelle, sie hatten sogar die Frechheit, die Männer aufzufordern, sich gelegentlich um die Kinder zu kümmern, damit die Frauen auch in Parteiversammlungen gehen könnten. Ärger noch: Man erklärte ihnen die Vorteile von Sanitärinstallationen, die Sozialisten druckten in ihren Zeitungen Anleitungen, wie man sich die Zähne putzt, und dass man die Wohnungen nicht nur fegen solle, sondern auch feucht mit dem Mopp wischen. Mit einem Wort: Man hat die Menschen verändern wollen, und niemand wäre damals auf die Idee gekommen, dass daran etwas schlecht sein könnte.

Sozialisten legten den Arbeitern nahe, ihren Wochenlohn nicht zu versaufen und ihre Frauen anständig zu behandeln

Es ist auch gar nichts Schlechtes daran, sich umzumontieren, was ja nichts anderes heißt, als sich zu verändern. Ich bin ein anderer als vor dreißig Jahren – Gott sei Dank. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, war ich zwar auch als zarter Teenager schon ziemlich woke, aber dass bestimmte Verhaltensweisen, auf die ich keine großen Gedanken verschwendete, andere verletzen könnten, habe ich wahrscheinlich erst nach und nach dazugelernt. Mein Freund, der Falter-Chefredakteur Florian Klenk, hat unlängst in einem schönen Text beschrieben, wie ihn Freundinnen und Kolleginnen allmählich zum Feministen umwandelten, und dass das nicht ohne innere Konflikte für ihn abging, weil er sich gelegentlich auch angegriffen gefühlt habe. Selbstredend wird man nicht immerzu völlig nach seinen Werten leben, wir Menschen sind nicht fehlerfrei, ich nenne das selbstironisch meine „Woke-Life-Balance“.

Quelle        :       TAZ-online            >>>>>          weiterlesen    

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Politik, News, Bundesparteitag Die Linke: die neu gewählten Parteivorsitzenden Martin Schirdewan und Janine Wissler

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Unten       —        Autor Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

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DIE ERDE BEBT

Erstellt von DL-Redaktion am 15. März 2023

– UND WAS MACHT ERDOĞAN?

von Ariane Bonzon

Während sich der türkische Präsident mit der Nothilfe sichtlich schwertat, war die Opposition sofort zur Stelle. Sie organisierte schnelle Unterstützung, wo staatliche Stellen versagten, und kritisierte sehr vernehmlich die Baupolitik. Trotzdem könnte der Langzeitherrscher auch diese Katastrophe überstehen.

Am 6. Februar 2022 erschütterten zwei gewaltige Erdbeben die Türkei und Syrien. In zehn türkischen Provinzen und in den vor allem von Kurden besiedelten Regionen in Nordsyrien gab es mehr als 50 000 Tote (Stand 6. März), von denen viele nicht mehr identifiziert werden konnten. Fast 2 Mil­lio­nen Menschen verloren ihr Zuhause, viele blieben mehrere Tage ohne Hilfe. Ganze Stadtviertel sind zerstört, die Bewohner auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Infrastruktur ist in weiten Gebieten schwer beschädigt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht von der „Katastrophe des Jahrhunderts“.

Nach dieser Katastrophe stellt sich allerdings auch die Frage nach der politischen Verantwortung Erdoğans und nach dem diplomatischen Einfluss, den sein Land künftig genießen wird. Wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai haben diese Fragen besonderes Gewicht.

Erdoğan hat allen Grund, eine Niederlage zu fürchten. Denn dann müsste er sich, nach 20 Jahren an der Macht, mitsamt seiner Entourage für zahllose in den letzten zehn Jahren begangene Verletzungen des Rechtsstaats verantworten und mit Anklagen wegen Betrug und Korruption rechnen. „Er­do­ğan weiß, dass er wegen Verrat und Unterschlagung vor dem obersten Gerichtshof landen wird, wenn er verliert“, erklärt Bayram Balci, Politikwissenschaftler am Centre de recherches internationales (Ceri).

Auch wenn der Präsident vor dem 6. Februar in Umfragen hinter den potentiellen Kandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP, Mitte-­links, laizistisch) zurücklag, stand es für ihn gar nicht so schlecht – obwohl klar war, dass Erdoğans großspurige Ankündigungen – 2023 sollte die Türkei zu den zehn stärksten Wirtschaftsmächten der Welt aufsteigen, mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 25 000 US-Dollar pro Einwohner – nicht eintreffen werden.

Alles offen vor den Wahlen

Anfang Oktober 2022 erreichte die Inflation mit über 83 Prozent ihren Höchststand, bei Lebensmitteln stiegen die Preise sogar um 93 Prozent. Im letzten Jahrzehnt ist das BIP um 1903 US-Dollar auf 9327 US-Dollar gesunken, und auf der Weltrangliste der 50 größten Volkswirtschaften stand das Land 2021 auf Platz 19.

Aber der Präsident hatte noch ein paar Trümpfe im Ärmel. Im September 2022 versprach er, 500 000 Sozialwohnungen zu bauen; vier Monate später kündigte er die Erhöhung des Mindestlohns um 50 Prozent an. Damit legte er in den Umfragen ein paar Prozentpunkte zu. Eine weitere populäre Maßnahme war die Abschaffung des Mindestalters für den Renteneintritt. Bisher wurde fast 2 Millionen türkischen Beschäftigten eine Rente auch dann verwehrt, wenn sie die nötigen Beitragsjahre vorweisen konnten.

Erdoğans offensive Außenpolitik im Kaukasus und in Afrika oder die Bombardierung der autonomen Kurdengebiete in Nordsyrien wird auch nur im Westen kritisch gesehen. In der Türkei stößt diese Politik eher auf Zustimmung; auch die Oppositionsparteien sind mit Ausnahme der Demokratischen Partei der Völker (HDP, links, für kurdische Autonomie) dafür.

Konsens besteht auch hinsichtlich der Entscheidung, die Millionen syrischen Flüchtlinge abzuschieben, die einst als „Gäste“ kamen und nun unerwünscht sind.1 Und dass die Türkei erkennbar davon profitiert, dass sie die Sanktionen gegen Russland nicht mitmacht, stellt viele Wählerinnen und Wähler ebenfalls zufrieden. Vor dem 6. Februar war der Wahlausgang zwar keineswegs sicher, aber Erdoğan hatte durchaus eine Chance – zumal im Hohen Wahlausschuss (YSK) vor allem regimefreundliche Richter sitzen und das Fernsehen „fast ausnahmslos unter Kontrolle der Regierung steht“2 .

Und nun? Das zerstörerische Erdbeben hat auch die türkische Gesellschaft erschüttert. 14 Millionen Menschen sind unmittelbar betroffen. Tagelang saß das ganze Land vor dem Fernseher, in dem rund um die Uhr und live über die Such- und Rettungsarbeiten berichtet und zu Spenden und Hilfen aufgerufen wurde. Zwei Tage nach der

Katastrophe sprach der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu in einer nüchternen und sehr ernsten Videoansprache den Opfern seine Anteilnahme aus, prangerte zugleich aber die Inkompetenz der Behörden an und auch die Desinformationskampagnen der Regierung. Am Ende erklärte Kılıçdaroğlu, es gebe einen großen Verantwortlichen für die Katastrophe, und das sei Er­do­ğan: „Zwanzig Jahre lang hat seine Regierung das Land nicht auf ein Erdbeben vorbereitet.“

Dieser Frontalangriff bedeutete eine radikale Wende. Damit brach der CHP-Vorsitzende die ungeschriebene Regel, an die sich seine Partei in der Vergangenheit im Namen der nationalen Einheit bei jedem Attentat und jeder militärischen Auslands­ope­ra­tion gehalten hatte, aber auch bei dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 oder bei der Verfolgung und Verhaftung kurdischer HDP-Abgeordneter in den vergangenen Jahren.

Die Opposition hat sehr rasch auf die Katastrophe reagiert, stellt der Sozialgeograf und Turkologe Jean-François Pérouse fest, der seit 1999 in Istanbul lebt. Sie eröffnete umgehend die Diskussion über den Umgang mit der Krise und das hyperzentralisierte Machtsystem, über die Günstlingswirtschaft und das Schneckentempo der Armee beim Einsatz in den Katastrophengebieten. Der Istanbuler CHP-Bürgermeister Ekrem İmamoğlu fuhr sofort ins Katastrophengebiet. In der schwer betroffenen Region Hatay habe die CHP mit beispielhafter Effizienz geholfen, berichtet Pérouse, und „quasi anstelle des Staats die Infrastruktur wiederhergestellt“.

Auch Selahattin Demirtaş, der frühere Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP3 , der sich seit November 2016 in Edirne in Untersuchungshaft befindet, hat aus dem Gefängnis heraus den Staatspräsidenten für die nationale Katastrophe verantwortlich gemacht. Und darüber hinaus eine Wahlempfehlung für den CHP-Kandidaten Kılıçdaroğlu ausgesprochen. Sollte die kurdische Basis der HDP auf ihren Vorsitzenden hören, könnte das Erdoğans Wahlniederlage besiegeln.

Für den Präsidenten geht es jetzt vor allem darum, von seiner politischen Verantwortung abzulenken und sich als „Retter“ und „Organisationsgenie“ zu inszenieren. Nur wenn ihm das gelingt, kann er noch auf einen Wahlsieg hoffen. Das ist auch das Leitthema von Erdoğans PR-Feldzug, für den er alle staatlichen Ressourcen mobilisiert.

Bei seinem ersten Besuch im Erdbebengebiet sprach er zuerst von der Hand des Schicksals, gegen das der Mensch machtlos sei, und gab lediglich „Lücken“ zu, da man „unmöglich auf so eine Katastrophe vorbereitet sein“ könne. Erst nach drei Wochen, am 27. Februar, hat sich Erdoğan in Adiyaman wegen der verspäteten Rettungseinsätze entschuldigt: „Wegen der verheerenden Auswirkungen der Beben und des schlechten Wetters konnten wir in Adiyaman in den ersten Tagen nicht so arbeiten, wie wir wollten. Dafür bitte ich um Entschuldigung.“

Quelle     :     LE MONDE diplomatie-online

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Oben     —        Aid collected in Eyüpsultan, Istanbul for the 2023 Gaziantep-Kahramanmaraş earthquakes

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Kolumne Materie

Erstellt von DL-Redaktion am 15. März 2023

Anschlag auf Nord-Stream-Pipelines: – Danke! Danke! Danke!

Eine Kolumne von Kersten Augustin

Eigentlich ist es egal, wer es war: Wer auch immer die Nord-Stream-Pipeline gesprengt hat, hat drei Preise verdient.

Wer hat die Nord-Stream-Pipeline gesprengt? Die Ostsee liegt zwar wieder so ruhig und langweilig da, wie es ihre Art ist, aber die Gerüchteküche blubbert. Einer Recherche verschiedener Medien zufolge soll eine Gruppe von sechs Personen mit gefälschten Pässen an der deutschen Ostseeküste eine Jacht gemietet haben und mit einem Sprengsatz zur Pipeline geschippert sein.

Das ist natürlich wahnsinnig aufregend, aber schlauer ist man nach dieser Recherche nicht – außer, dass es ein Wieck auf dem Darß und ein Wiek auf Rügen gibt und die Jacht an einem der beiden Häfen ein Päuschen gemacht hat. Ob die Sprengung aber von Ukrainern oder Russen ausgeführt wurde, ob die ukrainische Regierung informiert oder involviert war oder gar die Amerikaner – nichts davon ist heute klarer als vor einer Woche.

Einige Hinterbänkler sehen trotzdem die Chance, aus den Vermutungen Profit zu schlagen. Über „Terrorismus mit Staatshilfe“ spekuliert etwa Ralf Stegner und behauptet, die Medienberichte legten nahe, dass „Putin es nicht war“. Er raunt über „politische Turbulenzen, die sich gewaschen haben dürften“. Die Hoffnung, einen Grund zu finden, die Waffenlieferungen an die Ukraine endlich einzustellen, ist in Bordesholm so stark spürbar, da braucht man keinen Seismografen.

Ich muss Sie enttäuschen, auch diese Kolumne wird das Rätsel nicht lösen. Aber ich werde es herausfinden, mit einer investigativen Methode, einem Preisausschreiben. Denn egal, wer für die Zerstörung der Pipeline verantwortlich ist und woher die Täter kommen, ihnen gehören sämtliche Orden angebunden.

So geht sozial-ökologische Transformation

Zunächst der ARD-Vorabend-Preis für den besten Krimiplot: Man muss sich das nur mal vorstellen, wie diese Jacht, bis oben hin vollgepackt mit Sprengstoff, in den beschaulichen Hafen Wiek auf Rügen einfährt, neben der Jacht eines Rostocker Zahnarztes vertäut wird und etwas später weiterfährt. James Bond kann einpacken, bei dieser Geschichte stimmt einfach alles.

James Bond kann einpacken, hier stimmt einfach alles

File:Nord Stream gas leaks 2022.svg

Die Pipeline-Helden verdienen außerdem den Footprint-Award für sozialökologische Transformation: Sie haben für das Ende des fossilen Albtraums mehr geleistet als jeder vegane Nachtzugfahrer. Ohne ihren heldenhaften Einsatz wäre die Wärmepumpe immer noch ein Kapitel im grünen Parteiprogramm. Jetzt ist sogar dem letzten aus Aserbaidschan bezahlten CDU-Politiker klar: Es gibt keinen Weg zurück zum russischen Billiggas.

Womit wir beim dritten Preis wären: Dem Gerhard-Schröder-Preis für Verdienste gegen die deutsche Sozialdemokratie. Denn seien wir ehrlich, spätestens im nächsten Winter, wenn es wieder kalt wird, aber Christian Lindner sich weigert, Olaf Scholz’ Finanzbazooka nachzuladen, wird es ungemütlich werden in Deutschland. Und wenn es in der Ukraine dann etwas gäbe, das man aus der Ferne mit zusammengekniffenen Augen als Waffenstillstand bezeichnen könnte, wären die ersten Sozialdemokraten aus ihren norddeutschen Villen gekrochen und hätten gefordert, dass wir doch bitte Nord Stream 2 endlich in Betrieb nehmen.

Quelle          :       TAZ-online

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Unten        —    Karte der Explosion, die an den Nord-Stream-Pipelines am 26. September 2022 verursacht wurden.

https://www.berria.eus/albisteak/218737/berlinek-eta-moskuk-laquosabotajetzatraquo-jo-dituzte-nord-streameko-isuriak.htm

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Ungenutzte Bildungszeit

Erstellt von DL-Redaktion am 14. März 2023

Weiterbildung und Arbeitsrealität

File:Deutscher Bundestag Plenarsaal Seitenansicht.jpg

Keine Lehrer kein Volk

Ein Debattenbeitrag von :   Lara Körber

Die von Hubertus Heil vorgeschlagene Bildungszeit ist ein schöner Ansatz. Nur häufig steht die Unternehmenskultur der Weiterbildung im Weg.

Die von Arbeitsminister Hubertus Heil geplante Bildungszeit wäre – wenn das Finanzministerium nicht zuvorgekommen wäre – spätestens in den meisten Unternehmen selbst gescheitert. Konkret an den dort vorherrschenden Unternehmenskulturen. Denn Weiterbildung ist viel zu oft keine Sprosse der Karriereleiter, sondern sie verkommt zur Posse im Angesicht der firmenintern bestimmenden Strukturen. Ein Realitäts-Check zeigt, warum das so ist.

In der Arbeitswelt wird oft das Märchen vom lebenslangen Lernen erzählt, doch das fristet eher einen Dornröschenschlaf

Per Gesetz – und das ist weitgehend viel zu wenig bekannt – haben 27 Millionen Arbeitnehmende in Deutschland Anspruch auf Bildungsurlaub. Dahinter verbergen sich fünf bis zehn Tage bezahlte Freistellung für als Bildungsurlaub anerkannte Weiterbildungen – von Führungskräftetraining über Sprachkurse bis Burn-out-Prävention. Kurz: zertifizierte Auszeiten, die Arbeitnehmende ganz individuell fachlich, persönlich und gesundheitlich fördern.

Trotzdem nehmen nur rund 2 Prozent der Anspruchsberechtigten ihr Recht auf Bildungsurlaub aktuell in Anspruch – und das, obwohl es das Gesetz zum Beispiel in Hamburg bereits seit 1974 gibt. Warum ist das so? Als Mitgründerin des mittlerweile größten Aufklärungs- und Buchungsportals für gesetzlichen Bildungsurlaub in Deutschland bin ich täglich mit weiterbildungsinteressierten Ar­beit­neh­me­r:in­nen im Austausch, die sich nicht trauen, ihr Recht auf „Bildungsurlaub“ in Anspruch zu nehmen.

Ein entscheidender Grund dafür ist der oftmals große Unterschied zwischen extern groß gelobter und intern klein gelebter Unternehmenskultur. Zwar wird in der Arbeitswelt oft das Märchen vom lebenslangen Lernen erzählt, doch das fristet eher einen Dornröschenschlaf – während die Prinzessin oder der Prinz zum Wachküssen sich ganz schön vergaloppiert hat.

Angst vor den Che­f:in­nen

In der Hel­d:in­nen­ge­schich­te von Unternehmen heißt es nämlich leicht: „Wir sind offen gegenüber Weiterbildung!“ Die externe Unternehmenskultur steht damit gut da. Allerdings zeigt sich hinter geschlossenen Bürotüren oft ein ganz anderes Bild. Die Forderung nach Förderung kommt dort oft gar nicht gut an, und die auf diese Weisen geprägte interne Unternehmenskultur reguliert somit den Weiterbildungsmarkt.

Es gibt also firmenkulturelle Hindernisse, die es erschweren, für das eigene Recht auf Weiterbildung einzustehen. Fehlendes Vertrauen und mangelhafte Kommunikation sind hier zentral zu nennen. Um Weiterbildungen wahrzunehmen, braucht es die Zustimmung des Unternehmens. Wir beobachten allerdings sehr stark, dass viele Beschäftigte sich schon gar nicht erst trauen, den Dialog mit ihren Che­f:in­nen aufzunehmen, um über ihre individuellen (Weiterbildungs)Bedürfnisse zu sprechen.

Wer aber nichts anspricht, dem kann man auch nichts absprechen. Was beim Ansprechen hemmt, ist, dass zu viele Arbeitgebende in Weiterbildungen immer noch viel zu oft Fehlzeit statt Förderung sehen. Damit begünstigen sie eine Fehlinterpretation von Leistung als Präsenz statt Produktivität. Ein weiterer Grund, der Mitarbeitende zögern lässt, eine Fortbildung in Erwägung zu ziehen, ist die generelle Überlastung.

Zu viele Arbeitnehmende sind oft am Limit und möchten in dieser Ausnahmesituation ihr Team nicht allein lassen beziehungsweise diesem noch mehr Arbeit zumuten. Das ist verständlich. Leider ist der Ausnahmefall zu oft die Regel. Wer als Unternehmen wirklich will, dass Weiterbildungsangebote angenommen werden, muss ein Arbeitsumfeld schaffen, das Entfaltungsspielraum bietet.

Sozialer Druck und Neid

Nicht selten wirkt auch der Mangel an Gönnungskultur als Hindernis auf dem Weg zur Weiterbildung. Leider ist es so, dass viele Kol­le­g:in­nen einander Weiterbildungen nicht gönnen oder sich schnell benachteiligt oder abgehängt fühlen. Dieser soziale Druck erhöht die Hürde, nach Weiterbildung zu fragen – und ist eine „Red Flag“ im Hinblick auf eine gesunde Arbeitskultur in einem Unternehmen.

Statt Misstrauen brauchen wir ein Team-Miteinander, eine „Gönnungskultur“ – in der je­de:r Einzelne weiß, dass sie oder er nicht zu kurz kommen wird. Wichtigster Schlüssel dafür auch hier wieder: transparente Kommunikation von oben. Die Message der Unternehmen sollte dabei sein: „Wir wollen deine Weiterentwicklung. Und die der anderen.“

Quelle       :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben         —      Plenarsaal des Deutschen Bundestages

Author Times        /    Source    :   Iwn worh       /     Date      :      12 September 2010

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European Health Data Space

Erstellt von DL-Redaktion am 14. März 2023

Ein Datenraum voller Ungereimtheiten

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von         :       

Rezepte EU-weit einlösen, mehr Daten für die medizinische Forschung: Das und noch viel mehr soll der Europäische Gesundheitsdatenraum bringen. Aber es gibt da noch viele offene Fragen, findet Bianca Kastl.

Ab und zu finde ich mich deutsche Digitalisierungskartoffel in Diskussionen wieder, in denen geradezu sehnsüchtig gelungene Digitalvorhaben anderer Länder angehimmelt werden. So eine Patientenakte wie in Estland oder Finnland, das wär doch was, oder? Und als Silberstreif am Horizont so ein großer gemeinsamer Europäischer Gesundheitsdatenraum, der EHDS.

All das wird nur Wunschdenken bleiben, wenn wir nicht die vielen Ungereimtheiten auflösen, die darunter verborgen sind.

Die Pandemie-Phrase

Des Weiteren hat die COVID‑19-Pandemie noch stärker gezeigt, wie wichtig elektronische Gesundheitsdaten für die Entwicklung von Strategien zur Bewältigung von Gesundheitskrisen sind.

Dieser Satz steht in der Präambel des ersten Vorschlags der Europäischen Kommission zum Europäischen Raum für Gesundheitsdaten. Worum geht es da und ist das alles so in sich stimmig?

Der EHDS ist erst einmal vordergründig eine rechtliche Initiative, die europaweit Gesundheitsdaten und Leistungen digital harmonisieren soll.

Die Forderung nach Harmonisierung ist im Kern nicht schlecht. Elektronische Rezepte, die europaweit funktionieren, sind durchaus hilfreich. Wenn Gesundheitsdaten aus Spanien deutschen Ärzt*innen besser nicht mehr spanisch vorkommen und nach internationalen Standards auswertbar sind, ist das auch durchaus hilfreich.

Nun steht im Entwurf zum EHDS aber nicht nur der Wunsch nach stärkerer Interoperabilität und Standardisierung, sondern es geht auch ganz klar um einfacheren Zugang zu Daten. Dabei geht es nicht nur um den sogenannten „primary use“, sondern es gibt noch einen „secondary use“ – also eine Verwendung von Gesundheitsdaten über den eigentlich Primärzweck der Behandlung und Versorgung hinaus. Das kann für die Forschung sein, aber auch zu kommerziellen Zwecken, sofern dies in die möglichen zugelassenen Formen der Datennutzung passt.

Da der EHDS europaweit gedacht ist, ist das Ziel auch ganz klar die Schaffung eines einzigen großen Datenraums im Sinne eines europäischen digitalen Binnenmarktes, des sogenannten Digital Single Market.

Probleme im Schlepptau

Die erste Fassung des EHDS-Vorschlags war – gelinde gesagt – nicht so wirklich auf die Rechte der betroffenen Personen ausgerichtet.

Für die Zweitnutzung gab es im ersten Entwurf keinerlei Widerspruchsmöglichkeit. Also gar keine. Aktuell bewegt sich die Diskussion zwar in diese Richtung, es ist aber noch in Verhandlung, ob als Opt-Out oder Opt-In. Also ob die Betroffenen der Nutzung aktiv widersprechen oder ob sie explizit einwilligen müssen, bevor ihre Daten verwendet werden.

Der Witz an der Sache von Seiten der medizinischen Leistungserbringer ist auch, dass der Entwurf darauf abzielt, dass sogenannte Dateninhaber („Data Holders“) Gesundheitsdaten auch bereitstellen müssen, zumindest ab einer bestimmten Größe. Darunter fallen quasi alle Kliniken.

Nun ist die Forschung an Daten auf verschiedenen Wegen vorstellbar. Idealerweise wäre Forschung mit komplett anonymisierten Daten möglich. Das geht aber leider gar nicht mal so häufig, weil manche Datenpunkte, speziell mehrere miteinander kombinierte, eine so individuelle „Daten-Signatur“ haben, dass Personen auch anhand der Datenpunkte allein wieder eindeutig identifiziert werden können.

Je seltener bestimmte Werte innerhalb eines Datensets vorkommen, desto schneller lässt sich eine Person einwandfrei auch aus dann pseudonymen Daten wiedererkennen.
Menschen mit einer seltenen Erkrankung – manche davon kommen im Bereich von 1:1.000.000 vor – und einer bestimmten Blutgruppe gibt es in der Kombination in ganz Deutschland oder Europa gar nicht mal so viele.

Das Problem ist so ähnlich wie bei der Nutzung der Abrechnungsdaten von gesetzlichen Krankenkassen. Dort ruht in Deutschland gerade das Verfahren der Gesellschaft für Freiheitsrechte gegen eine solche Verarbeitung ohne Widerspruchsmöglichkeit – zufriedenstellend gelöst ist das Problem aber noch nicht. Mit dem EHDS könnte das Problem sogar wiederkommen.

Breite Definition von Gesundheitsdaten

Was genau im Sinne des EHDS unter den Begriff Gesundheitsdaten fällt, ist aktuell sehr weit auslegbar. In der ersten Fassung stehen da etwa auch „Wellness-Anwendungen“, deren Daten verfügbar gemacht werden sollen. Oder um es mit den Worten des Netzwerk Datenschutzexpertise zu sagen: „Man kann den Eindruck haben, dass alle Daten, die auch im entferntesten einen Gesundheitsbezug haben, von der Bereitstellungpflicht erfasst sein sollen“.

Neben der sehr großzügigen Definition der Daten selbst, ist auch die erste Definition von Zwecken, zu denen diese Daten genutzt werden können, sagen wir mal, bei kreativer Anwendung für so ziemlich alles anwendbar.

Unter „Training, Erprobung und Bewertung von Algorithmen, auch in Medizinprodukten, KI-Systemen und digitalen Gesundheitsanwendungen, die zur öffentlichen Gesundheit oder sozialen Sicherheit beitragen“ lässt sich dann doch einiges unterbringen. Wenn zwar das „Treffen von Entscheidungen zum Schaden einer natürlichen Person“ verboten ist, stellt sich die Frage, ob das vielleicht vorher erst durch Bewertung von Algorithmen herausgefunden werden müsste.

Da ist also rechtlich noch einiges klar zu fassen und genauer zu definieren. Inklusive der zentralen Frage, inwieweit sich Forschung im Sinne der Allgemeinheit an Daten klar trennen lässt von kommerziellen Interessen.

Die Forderungen des Handelsverbands der Medizintechnikindustrie etwa, Handelsgeheimnisse und geistiges Eigentum durch den EHDS nicht zu gefährden, lassen doch auch eher auf starke kommerzielle Interessen schließen.

Erschwerend dazu kommt, dass der EHDS nach Plan Mitte 2023 verabschiedet werden sollte. Mit der Zielsetzung, dass die Mitgliedstaaten 2025 diesem Datenraum quasi beitreten sollen, wird das aus rein technischer Sicht selbst für digital weiter entwickelte Länder nicht unbedingt einfach. Die Aussichten, dass das alles in Deutschland funktioniert, stehen damit nicht unbedingt gut.

Viele schlecht umgesetzte EU-Initiativen auf einmal

Obwohl der EHDS und seine rechtlichen Grundlagen uns alle in Europa betreffen, bleibt das Thema aktuell noch etwas arg unter dem Radar. Der EHDS ist als Vorschlag digitalpolitisch leider etwas neben den Themenfeldern Chatkontrolle und digitale Identitäten untergegangen. Wenn es digitalpolitisch überall brennt, ist es schwer, alles gleichzeitig zu löschen.

Wer sich aus zivilgesellschaftlicher Sicht auf EU-Ebene mehr mit dem EHDS beschäftigen möchte, dem sei das Positionspapier von EDRi empfohlen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —   Coronavirus-Pandemie 2019/20 in Busan

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Die Grünen in Deutschland

Erstellt von DL-Redaktion am 14. März 2023

Mehr Krieg, um den Krieg zu beenden?

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :    Rositsa Kratunkova  –  berlinergazette.de

Europas grüne Parteien auf bellizistischen Irrwegen. Angesichts Russlands Ukraine-Invasion werden wir daran erinnert, dass es dem grünen Kapitalismus gelungen ist, den technologischen Solutionismus in die Matrix des Krieges zu integrieren, wie das Drängen auf die Lieferung und Entwicklung von Waffen zeigt.

Es handele sich um “pragmatische” Lösungen, wie die grünen Parteien in Frankreich, Deutschland und Bulgarien behaupten. Doch stellt diese Abkehr vom “Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit” nicht zuletzt ein Ende der Welt in Aussicht, das sogar früher einsetzen könnte als es die Gewalt der Klimakatastrophe vorsieht, wie die Klimagerechtigkeitsaktivistin und Journalistin Rositsa Kratunkova in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” argumentiert.Einen Monat nach Kriegsbeginn hat der IPCC, eine internationale Expert*innenengruppe der UNO, die sich mit dem Klimawandel befasst, den dritten Teil seines sechsten Berichts veröffentlicht, der sich mit den möglichen Lösungen zur Vermeidung einer planetarischen Katastrophe befasst. Doch nur wenige Politiker*innen in Europa haben den Bericht zur Kenntnis genommen und sich mit der Dringlichkeit der Situation auseinandergesetzt, die nach Ansicht der Expert*innen nur drei Jahre Zeit zum Handeln lässt.

Während ihrer fast dreistündigen Debatte widmeten die beiden Anwärter*innen auf die französische Präsidentschaft, Marine Le Pen und Emmanuel Macron, der Klimafrage nur 18 Minuten. Das zeigt, dass sie eindeutig keine Priorität hat. Man könnte argumentieren, dass dies auf die Invasion in der Ukraine zurückzuführen ist und ihre weitreichenden Folgen. Andere wichtige Themen wurden in den Hintergrund gedrängt und die politische Agenda auf dem gesamten Kontinent veränderte sich.

Ein bisher eher unerwarteter Effekt ist, dass die grünen Parteien die Aufrüstung befürworten und ihr Bekenntnis zum Pazifismus aufgeben, wobei sie vergessen, dass Kriege grosse Mengen an Treibhausgasen produzieren und katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt haben. Dieser Artikel zeichnet die Entwicklung der Grünen in Frankreich, Deutschland und Bulgarien seit dem Beginn des Konflikts nach und untersucht die Veränderungen ihrer Positionen zum Krieg.

Die Grünen in Frankreich: Der müde Rahmen der “humanitären Intervention”

Seit ihrer Gründung in den 1980er Jahren stehen die französischen Grünen in der Aussenpolitik in der Tradition des Pazifismus und vertreten gewaltfreie, antinukleare und antimilitärische Positionen. Einer ihrer wichtigsten Werte ist die Überzeugung, dass Konflikte durch Diskussion und Transparenz friedlich gelöst werden können. In diesem Sinne stimmte die Partei 1990 fast einstimmig gegen den Einmarsch des Irak in Kuwait. Einige Jahre später wurde der Pazifismus der Grünen jedoch von einigen Ausnahmen unterbrochen. Im Jahr 1999 unterstützte die Partei die NATO-Militärintervention im Kosovo, 2011 stimmten zwei Abgeordnete für die Fortsetzung der Militäroperationen in Libyen und zwei Jahre später unterstützte die Parteiführung den Angriff auf Syrien. Heute rechtfertigt die Partei die Anwendung von Gewalt mit dem abgedroschenen Begriff der “humanitären Intervention”.

Auch der Parteivorsitzende und Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot rief unmittelbar nach Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar dazu auf, Waffen zu schicken und Sanktionen gegen Russland zu verhängen, eine Entscheidung, die von den Parteimitgliedern nicht einstimmig unterstützt wurde. Die Abgeordnete Bénédicte Monville argumentierte, dass man zunächst einen Waffenstillstand fordern und die Positionen der Gewaltlosigkeit aufrechterhalten müsse, bevor man Waffen schicke, und sah in Jadots Aktion eine populistische Strategie, um die eher hawkistischen Wähler zu gewinnen. Andere forderten, zuerst den russischen Pazifist*innen zu helfen. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu der 2014 von der Partei nach den Maidan-Ereignissen verabschiedeten Resolution zum Frieden in der Ukraine, in der sie erklärte, dass der Druck der EU auf Russland nur diplomatisch, politisch und wirtschaftlich und niemals militärisch sein kann, und darauf bestand, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO ausdrücklich ausgeschlossen werden muss.

Zusätzlich zu den Waffenlieferungen forderte Jadot massive Sanktionen gegen die Staatsoligarchie des Putin-Regimes und bekräftigte, dass ein Friedensprojekt notwendigerweise ein Gleichgewicht der Kräfte vis-à-vis Putin voraussetzt. Dazu gehöre eindeutig ein Embargo für russisches Öl und Gas, das sich unweigerlich auf die Energiebeschaffungsmöglichkeiten Frankreichs und Europas auswirken würde. Um jeglichen Wettbewerb zwischen den Ländern zu vermeiden, schlug der Parteivorsitzende der Grünen vor, einen einzigen Staat in Europa als Abnehmer des in Russland geförderten Gases zu benennen, um so die EU-Richtlinien zur Liberalisierung der Energiepreise auszusetzen und eine Preisregulierung einzuführen. Ausserdem schlug Jadot vor, auf Supermärkten, Schulen und anderen Flachdächern Fotovoltaikanlagen zu installieren, denn Ökologie bedeute “Frieden, Klima und Kaufkraft zugleich”. Den IPCC-Bericht erwähnte er allerdings nur flüchtig in einem einzigen Tweet.

Inmitten des Kampfes mit den russischen Oligarchen ist Jadot der Meinung, dass das Öl- und Gasembargo auf die französischen Ölgesellschaften ausgedehnt werden muss, und kritisiert sie dafür, dass sie Russland nicht verlassen haben, wie Shell, Exxon Mobil und BP, was impliziert, dass sie an Kriegsverbrechen in der Ukraine beteiligt sind. Es ist ziemlich offensichtlich: not all of them left. Auf dem Höhepunkt des Präsidentschaftswahlkampfes forderte Jadot, Macron solle französische Ölfirmen zwingen, Russland zu verlassen.

In diesem Debakel bezeichnete der andere grün-linke Präsidentschaftskandidat der Union populaire Jean-Luc Melenchon den Vorschlag, Waffen in die Ukraine zu schicken, als “Dummheit” und fügte hinzu, dass die Lage in Europa derzeit unglaublich angespannt sei und man vorsichtig handeln müsse. Für diese Position wurde der Vorsitzende der Linkspartei sofort von den Grünen beschuldigt, sich auf die Seite Putins zu stellen. Im Gegensatz zu Jadot lehnt Melenchon ein Embargo für russische Kohlenwasserstoffe ab, da dies schädliche Auswirkungen auf Europa hätte und dessen Abhängigkeit vom teureren Schiefergas aus den USA verstärken würde. Stattdessen schlug er Preiskontrollen und einen einheitlichen Preis für ganz Europa vor. Während er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj verteidigte, erklärte er ausserdem, dass Frankreich in seinen internationalen Beziehungen bündnisfrei sein und die Möglichkeit haben sollte, seine eigenen Verhandlungen zu führen, und erinnerte an die vergessene Idee, alter-globalistische Allianzen zu schmieden, um Konflikte zu verhindern und gemeinsam gegen den Klimawandel vorzugehen – eine Position, die Jadot als Kapitulation gegenüber Putin bezeichnete.

Am 12. März erreichte der Parteivorsitzende der Grünen in den Umfragen 6,5 Prozent, Melenchon 12 Prozent. Die Kluft vergrösserte sich bis zum ersten Wahlgang am 10. April erheblich, als der erste 4,65 Prozent und der zweite 21,95 Prozent der Stimmen erhielt.

Die Grünen in Deutschland: Praktisch ein Aufruf zum Dritten Weltkrieg

Im Wahlkampf des vergangenen Jahres propagierten die Grünen in Deutschland Abrüstung und eine “wertebasierte Aussenpolitik”. Begleitet von einem werbewirksamen Auftritt ihres Co-Vorsitzenden Robert Habeck in der Ukraine, wo er für Waffenlieferungen plädierte und in militärischer Ausrüstung für vielbeachtete Fotos nahe der russisch-ukrainischen Grenze posierte, zeigte dieses Kampagnenelement dem kritischen Auge deutlich, was “wertebasierte Aussenpolitik” für die Grünen bedeutet: Sie würden “notfalls für Werte in den Krieg ziehen”, wie sie es schon bei ihrer ersten Regierungsbeteiligung vom 27. Oktober 1998 bis zum 22. Oktober 2002 im ersten Kabinett Schröder taten.

Die Grüne Partei wurde 1980 gegründet und ging aus verschiedenen demokratischen Bewegungen wie Anti-Atomkraft-, Umweltschutz-, Frauenrechts-, Friedensbewegung und Dritte-Welt-Gruppen hervor. Die Partei strebt eine gewaltfreie Gesellschaft an und vertritt die Auffassung, dass kein humanes Ziel mit unmenschlichen Mitteln erreicht werden kann. Eine zentrale Position war die Auflösung der Militärblöcke, vor allem der NATO und des Warschauer Paktes, einschliesslich der deutschen Streitkräfte.

Diese Position wurde erstmals 1999 verraten, als der damalige grüne Aussenminister Joschka Fischer eine Kehrtwende vollzog und – während er völkerrechtswidrige Aktionen vorbereitete – erklärte, es sei die “moralische Verpflichtung” Deutschlands als eines der grössten NATO-Mitgliedsländer, sich an der US-geführten Militärintervention im Kosovo zu beteiligen. Es war der erste Krieg, an dem sich Deutschland seit 1945 aktiv beteiligte, und er verlief nicht ohne innere Unruhen. Die österreichische Schwesterpartei der Grünen verurteilte die französischen und deutschen grünen Kriegstreiber, was jedoch nicht zu einer Spaltung auf europäischer Ebene führte.

Im Rahmen ihres Wahlprogramms 2021 propagierten die Grünen in Deutschland Abrüstung und Rüstungsexportkontrolle, die sie für zu lax hielten. Obwohl sie die NATO für einen unverzichtbaren Akteur für die gemeinsame Sicherheit Europas hielten, kritisierten sie die NATO-Richtlinien, zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, als “willkürlich” und lehnten den Transport amerikanischer Atomwaffen mit Jets aus Deutschland ab. Andererseits sprachen sie sich dafür aus, mit Russland in Kontakt zu bleiben und den Handel mit der EU zu fördern, ohne jedoch Waffen aus Deutschland in Kriegsgebiete und Diktaturen zu exportieren. Paradoxerweise ergab eine kürzlich durchgeführte Untersuchung, dass Deutschland nach dem Embargo von 2014 mit Ausfuhren im Wert von 122 Millionen Euro der zweitgrösste Waffenexporteur nach Russland war.

Heute jedoch scheinen die Grünen eine Kehrtwende vollzogen und eine kriegerischere Position eingenommen zu haben. Sie glauben, dass eine massive Bewaffnung der Ukraine die einzige Option ist, während sie gleichzeitig nach Wegen suchen, um schnell von Russland energieunabhängig zu werden. Wenige Wochen vor Beginn des Krieges verkündete die derzeitige grüne Aussenministerin Annalena Baerbock, dass Deutschland aufgrund seiner “historischen Verantwortung” keine Waffen an die Ukraine liefern könne und betonte, dass Diplomatie der einzig gangbare Weg sei. Ein paar Wochen später schlug Baerbock vor, schwere Artillerie in die Ukraine zu schicken und die Position “nichts, was schiesst” durch “alles, was schiesst” zu ersetzen, während sie gleichzeitig zusätzliche 100 Milliarden Euro für die deutschen Streitkräfte befürwortete.

Sogenannter “Pragmatismus” und “Realismus” haben den traditionellen “grünen Pazifismus” abgelöst. Oder man könnte auch sagen: Die “wertebasierte Aussenpolitik” hat wieder ihr wahres Gesicht gezeigt. So betonte der grüne Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter, dass man keine andere Wahl habe, als Waffen zu schicken, und dass man, wenn man jetzt nicht handle, den Krieg in die Länge ziehe. Eine weitere Grünen-Politikerin, Marieluise Beck, die vielleicht profilierteste Kritikerin des Putin-Regimes in der Partei, ging sogar noch weiter als Hofreiter, indem sie dazu riet, dass Deutschland trotz seiner Energieabhängigkeit kurzfristig schwere Sanktionen gegen Russland verhängen sollte. Darüber hinaus schlug sie vor, dass Deutschland und Frankreich den Luftraum für russische Flugzeuge sperren sollten, womit sie praktisch einen Dritten Weltkrieg forderte.

Dieser Wandel “traditioneller grüner Positionen” zum Krieg, der sich für kritische Beobachter*innen seit Jahrzehnten abzeichnet, ist nicht ohne interne Konflikte verlaufen. Timon Dzienus, Bundessprecher der Grünen Jugend, nannte die Aufstockung der Mittel für die Bundeswehr “einen sehr fatalen Schritt”. Die Unabhängige Grüne Linke, eine Basisgruppe innerhalb der Grünen, wandte sich in einem offenen Brief an die Parteispitze gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und forderte, sich bei der russischen Regierung für eine sofortige Einstellung aller militärischen Aktivitäten und eine Rückkehr zu Verhandlungen einzusetzen. Die Gruppe erklärte, dass Waffenlieferungen den Menschen in der Ukraine den falschen Glauben vermitteln, dass sie eine militärische Chance gegen Russland haben, und die unverständliche, aber berechtigte Frage aufwerfen, ob sie eine weitere Eskalation und sogar einen Atomkrieg provozieren.

Inmitten des internen Konflikts navigieren die Parteivorsitzenden weiterhin durch die stürmischen Gewässer der Überschreitung anderer ehemaliger “roter Linien”. Obwohl Olaf Scholz und sein Kabinett versprachen, ein Gesetz einzuführen, das bis 2035 einen Anteil von nahezu 100 Prozent erneuerbarer Energien vorschreibt, wird zunächst mehr CO2 ausgestossen. Während der Atomausstieg wie geplant fortgesetzt wird, könnten die deutschen Kohlekraftwerke eine Verlängerung um einige Jahre über die von den Grünen ausgehandelte Frist bis 2030 hinaus erhalten. Waffenexporte an ein autoritäres Regime mögen verboten sein, aber der Handel mit Gasgeschäften mit einem anderen wird als akzeptabel angesehen.

Um sich neue Energiequellen zu sichern, reiste Robert Habeck – derzeit grüner Minister für Wirtschaft und Klimaschutz – im März nach Katar, dem Land der Fussballweltmeisterschaft 2022, das viele Grüne zu boykottieren versprachen und in dem Arbeits- und Menschenrechte kaum gelten. Ausserdem verhandelte Habeck über Flüssiggaslieferungen, die die Grünen als klimaschädlich brandmarkten und bis vor kurzem strikt ablehnten. Der Krieg zeigt, dass der Übergang zu erneuerbaren Energien von den Grünen ebenso als nationale Sicherheitspolitik wie als Klimapolitik betrachtet wird, wobei die ersteren Grundsätze “pragmatischen”, wenn auch widersprüchlichen Lösungen weichen.

Dieser Bruch mit früheren Prinzipien hat sich für die Grünen als lukrativ erwiesen und ihre beiden Minister Habeck und Baerbock zu den beliebtesten Politiker*innen in Deutschland gemacht. Dahinter steht Olaf Scholz, der sich lange weigerte, schwere Waffen in die Ukraine zu schicken, was Baerbock mit den Worten kritisiert: “Jetzt ist nicht die Zeit für Ausreden”. Der Co-Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, betonte, dass die derzeitigen Lieferungen ins Schlachtfeld unzureichend seien und schloss eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland ohne einen Wechsel in der Führung des Landes aus.

Gleichzeitig argumentierte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, dass Deutschland keine Panzer aus seinen eigenen Beständen an die Ukraine liefern könne, da es diese sowohl für seine eigene Verteidigung als auch für NATO-Aufgaben benötige. Diese Pattsituation wurde von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin während seines Besuchs im April “gelöst”, als die Entscheidung über die Lieferung von Panzern an die Ukraine hinter verschlossenen Türen mit Regierungsvertreter*innen in Deutschland getroffen wurde, was zeigt, dass nichts, auch nicht die mächtigste Wirtschaft Europas, den aussenpolitischen Interessen der USA im Wege stehen darf.

Die Grünen in Bulgarien: “Alle notwendigen wirksamen Massnahmen” ergreifen

Die Grüne Partei in Bulgarien wurde 2008 gegründet, nachdem sich zahlreiche ökologische Nichtregierungsorganisationen zusammengeschlossen hatten, und hat eine eher kurze Geschichte. Mit einer liberalen, antikommunistischen politischen Plattform erzielten sie viele Jahre lang kaum nennenswerte Wahlergebnisse, aber 2021 schlossen sie sich einer Koalition aus zwei rechtsliberalen Parteien namens Demokratisches Bulgarien an. Gemeinsam schafften sie es, in die Regierung einzutreten und haben nun sogar das Ministerium für Umwelt und Wasser inne – ihr bisher wichtigster politischer Erfolg. Obwohl ihr Wahlprogramm den Frieden hochhält, ist ihre Position heute alles andere als friedlich und setzt die militärische Unterstützung der Ukraine mit dem Schutz der Demokratie gleich, ähnlich wie ihre Pendants in Frankreich und Deutschland, jedoch mit einer ausgeprägteren antirussischen ideologischen Ausrichtung.

Seit dem Ausbruch des Krieges wird darüber debattiert, ob Waffen in die Ukraine geliefert werden sollen, um das Land bei der Verteidigung gegen den Aggressor zu unterstützen oder nicht. Die regierende Koalition aus vier politischen Parteien hat Schwierigkeiten, zu einer einstimmigen Entscheidung zu gelangen, wobei die bulgarische sozialistische Partei entschieden dagegen ist und sogar die Stabilität der Regierung bedroht. Die gleiche Position – allerdings auf der anderen Seite des politischen Spektrums – vertritt das Demokratische Bulgarien, das versucht, einen Weg zu finden, die Sackgasse zu umgehen und den “moralischen” Krieg zu gewinnen. Am 19. März beschloss die Grüne Partei, der Nationalversammlung eine Anhörung des ukrainischen Präsidenten vorzuschlagen. Am 30. März gab das Demokratische Bulgarien eine Erklärung zur Aufnahme von Konsultationen im Parlament zur militärischen Unterstützung der Ukraine und zur Verteidigung der “Freiheit, Solidarität und Sicherheit in Europa” ab.

Die Grünen zeigten ihre Solidarität auch auf andere Weise, als eines ihrer Parteimitglieder und ehemaliger Kandidat für die Nationalversammlung kurz nach Ausbruch des Krieges dem Bataillon der ausländischen Kämpfer beitrat. Die Partei unterstützte auch lautstark den Friedensmarsch “Wir sind nicht neutral”, der eine Verschärfung des Krieges durch Waffenlieferungen forderte. Paradoxerweise sind die Grünen der Ansicht, dass die Ergreifung “aller notwendigen wirksamen Massnahmen”, zu denen Friedensverhandlungen offenbar nie gehören, die Zahl der Opfer begrenzen, die Zerstörung von Städten in der Ukraine verhindern, den Aggressor abwehren und letztlich den Krieg beenden wird.

In einem kürzlich geführten Interview sagte der grüne Umweltminister Borislav Sandov sogar, dass ein Verzicht auf militärische Unterstützung für die Ukraine die Selbstisolierung Bulgariens und seine Loslösung von seiner “zivilisatorischen Wahl” – der EU und der NATO – bedeuten würde. Er ging sogar so weit, anzudeuten, dass dies die Position Bulgariens gegenüber Nordmazedonien untergraben würde, gegen das Bulgarien 2019 ein Veto einlegte, als es versuchte den Status eines EU-Kandidatenlandes zu erhalten. Alles, was nicht zu mehr Aufrüstung führt, wird schnell als Abweichen vom “gerechten” Weg der EU-Entwicklung abgetan, ohne eine solche Entwicklung in Frage zu stellen. Ironischerweise erwähnte die grüne Bewegung den neuesten IPCC-Bericht in einem einzigen Facebook-Posting – inmitten all des Waffengefechts.

Es ist keine Überraschung, dass Bulgarien als grosser Waffenproduzent seit Kriegsbeginn massiv über Stellvertreter in die Ukraine exportiert hat. Als dies aufgedeckt wurde, folgten Vergeltungsmassnahmen seitens Russlands. Unter dem Vorwand, Bulgarien weigere sich, für russisches Gas in Rubel zu zahlen, kündigte Gazprom am 26. April an, die Gaslieferungen an Bulgarien mit sofortiger Wirkung einzustellen. In Vorbereitung auf eine solche Wende schlug der Co-Vorsitzende der Grünen Partei, Vladislav Panev, vor, den Markt noch stärker zu liberalisieren, um den Verbraucher*innen die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Energie zu produzieren. Eine Position, die in krassem Widerspruch zu der ihrer Genoss*innen in Frankreich steht.

Unter dem Strich sind die weitreichenden Folgen des Krieges auch an den grünen Parteien in ganz Europa nicht vorbeigegangen, die sich für mehr Krieg einsetzen, um den Krieg zu beenden. Ihre Vision einer “pragmatischen” Lösung, die sich auf die Entsendung von Waffen und die Verhängung von Sanktionen beschränkt, hat ihren Anspruch auf Gewaltlosigkeit aufgegeben und gezeigt, dass sie sich der Doktrin der “gerechten Gewalt für humanitäre Zwecke” verschrieben haben. In wirtschaftlicher Hinsicht hat ihre Reaktion die ideologischen Unterschiede innerhalb der grünen Parteien offengelegt. Auf der anderen Seite haben sich die linken und nominell linken Parteien in Frankreich, Deutschland und Bulgarien alle gegen die Lieferung von Waffen in die Ukraine gewehrt. Die Begrenzung der öffentlichen Debatte seit Beginn des Krieges auf die Frage, ob die Ukraine militärisch unterstützt werden soll oder nicht, hat sich nachteilig darauf ausgewirkt, die Dringlichkeit des Klimawandels und die Notwendigkeit von Massnahmen zu verdeutlichen und in Erinnerung zu rufen. Stattdessen hat sie es ermöglicht, sich ein noch früheres Ende der Welt vorzustellen, als es die langsame Gewalt der Klimakatastrophe mit sich bringen würde.

Rositsa Kratunkova
berlinergazette.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lize

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Oben        —      Français : Forum Européen de l’eau, La Rochelle, Forum des Pertuis, le 25 janvier 2022, organisé par Benoit Biteau, député européen. la dernière plénière réunissait : Yannick Jadot, Député européen, Mathilde Panot, député et Boubakar soumahoro, syndicaliste.

Author Greenbox         /       Source    :     Own work       /          Date    :      25 January 2022, 18:49:06

This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.

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Unten       —           Bündnis 90/Die Grünen auf der Datenschutzdemonstration „Freiheit statt Angst“

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 14. März 2023

Big Brother  –  Feindbilder und Fatalismus

KOLUMNE VON – Lukas Wallraff

Unsere alten Hassfiguren sterben aus. Und vor dem möglichen Missbrauch von Daten über ungesunde Körperteile graut es auch kaum noch einem.

Früher war alles besser. Diese Theorie ist nicht ganz neu, aber immer noch vollkommen richtig und seit dieser Woche quasi nicht mehr widerlegbar. Vor allem die ideologischen Feindbilder waren früher deutlich pflegeleichter. Aus, vorbei, es gibt sie nicht mehr. Meine persönlichen Hassfiguren sind jedenfalls alle mausetot. Strauß, Reagan, die Bundeswehr und jetzt auch noch der FC Bayern. Am Mittwoch habe ich zum ersten Mal in meinem Leben bei einem Tor für den FC Bayern fast gejubelt. Wie konnte es so weit kommen?

1987 war noch alles anders. Damals, in meiner Jugend hinter den sieben fränkischen Bergen, kurz nach dem Aussterben der Dinosaurier, lagen sich die Menschen vor Schadenfreude weinend in den Armen, als der bis dato unbekannte Algerier Rabah Madjer mit einem sensationellen Hackentrick den Europacupsieg des kleinen, schnuckeligen FC Porto gegen die großen, fetten, CSU-verseuchten Bayern aus dem superreichen München sicherstellte.

Und nu? Ist der arrogante Schnöselklub ein vergleichsweise bescheidener Traditionsverein mit einer sympathischen Multikulti-Truppe, der man im Duell mit Saint-Katar Paris oder Abu Dhabi Manchester alles Mögliche wünschen kann, aber sicher nicht mehr „Tod und Hass dem FCB“ wie früher. Ach, ist doch nur Fußball, mögen manche sagen. Gibt Wichtigeres. Geschenkt! Das Verblassen der geliebten Feindbilder zieht sich durch sämtliche Lebensbereiche, Politikfelder und Institutionen.

Alles, aber auch alles, was unter ordentlichen Linken in jenem Deutschland vor unserer Zeit als furchtbar und verachtenswert galt, hat seinen Schrecken verloren. In dem Jahr, als der kleine Madjer die großen Bayern besiegte, hatten viele Linke nur wenig Zeit für Schadenfreude, weil sie mehr als 1.100 Bürgerinitiativen gründen mussten – gegen die fürchterliche Volkszählung, vor der sich alle fast so sehr gruselten wie vor dem Atom.

Kein Wunder: George Orwells Überwachungsdiktatur war 1987 gerade erst drei Jahre her. Auch an die Gestapo konnten sich manche noch erinnern. Da fand man es nicht sehr erbaulich, wenn der Staat plötzlich ganz Privates wissen wollte. Heute scheint die Volkszählung fast so weit weg und so ungefährlich wie jene in der Bibel.

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Besagt eine Volkszälung etwas anderes als das Behörden und Politik ihre Orientierung verloren haben ? 

Bei der deutschen musste man nicht einmal an seinen Geburtsort reisen, auch nicht mit irgendwelchen Viechern in einem stinkenden Stall übernachten, man sollte nur ein paar mehr oder wenige technische Daten wie die Zahl der bewohnten Zimmer nennen. Auf Papier. Und nach Protesten anonymisiert. Trotzdem war der Aufschrei weitaus größer als in dieser Woche, als die Einführung der elektronischen Patien­ten­akte für alle angekündigt wurde.

Eigentlich erstaunlich. Denn das wäre ein Datenschatz ohnegleichen. Statt um die Statistik anonym bewohnter Stuben geht es jetzt um die personalisierte Zählung sämtlicher Herzkammern, Allergien und Neurosen, damit jede Ärztin alle Vorerkrankungen auf einen Blick sofort nachschlagen kann. Tolle Sache, sicher. In manchen Fällen vielleicht sogar lebensrettend. Aber woran liegt es, dass sich unter Linken offenbar so gut wie niemand mehr vor einem Missbrauch dieser höchst intimen Daten fürchtet?

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Wenn die Mutter im Weg ist

Erstellt von DL-Redaktion am 13. März 2023

Dies ist das Werk einer einflussreichen Väterlobby

Ein Debattenbeitrag von Christina Mundlos

Vor Gericht wiegt nach einer Trennung das Recht des Vaters auf das Kind schwerer als Gewaltschutz. Seit 2009 haben die Sorgerechtsentzüge nach einer Scheidung für Mütter um 50 Prozent zugenom­men.

Gewalt an Frauen und Kindern geht eher selten vom Fremden aus, der im Gebüsch hockt. Die größte Gefahr stel­len Männer aus dem engsten Umfeld dar – meist die eigenen (Ex-)Partner. Nachtrennungsgewalt heißt das, wenn der ehemalige Partner aufgrund der Trennung eine derartige (narzisstische) Kränkung erlebt, dass ihn nur noch ein Wunsch antreibt: die Ex-Frau zu vernichten. Die gemeinsamen Kinder sind solchen Männern egal, sie werden instrumentalisiert od­er verletzt, mit dem Ziel, der Mutter wehzutun. Natürlich gibt es wunderbare Väter. Ich spreche hier nur von den Vätern, die Frauen und Kinder als ihren Besitz erachten und für die die Trennung einen Verlust von Kontrolle und Macht darstellt.

Das BKA hat 2020 rund 120. 000 Fälle häuslicher Gewalt von (Ex-)Partnern gegen Frauen er­fasst. Die Zahlen steigen. Eine Studie zeigt, dass wir es in 20 Prozent der aktuellen Paarbezie­hun­gen mit schwerer Gewalt gegen Frauen zu tun haben. Und jeden dritten Tag stirbt in Deutschland eine Frau durch Männergewalt – häufig nach ein­er Trennung. Andere müssen ins Frauen­haus flüchten: jährlich suchen in Deutschland dort 34.000 Frauen und Kinder Schutz. Sind gemeinsame Kinder im Spiel, haben die Mütter kaum eine Chance, sich und die Kinder mit der Trennung zu schützen. Im Gegenteil: Oft werden sie vom Staat zum Täter-Kontakt gezwungen. Das Recht des Vaters auf das Kind wiegt im Familiengericht schwerer als Gewalt­schutz für Mutter und Kind. Selbst dann, wenn die Gewalt durch den Vater belegt ist, ebenso bei sexuellem Missbrauch.

Berichtet eine Mutter von väterlicher Gewalt, glauben Familiengerichte und Jugendämter allzu oft einem misogynen Mythos: Gewalt durch Väter sei unproblematisch für das Kind oder exis­tiere kaum. Dabei haben wir es in Wirklichkeit in bis zu 63 Prozent der Umgangs- und Sorgerechts­ver­fah­ren mit väterlicher Gewalt zu tun. Diese Fehleinschätzung führt zu der fatalen Schluss­fol­ge­rung, die Mutter sei das eigentliche Pro­blem. Sie habe sich die Gewalt ausgedacht oder sei unfähig sie zu akzeptieren. Belege der Gewalt, Polizeiberichte, sogar Geständnisse werden ignoriert. Den Müttern wird vorgehalten: „Auch ein gewalttätiger Vater ist ein guter Vater“, oder: „Sie hängen in der Ver­gangenheit, wir wollen aber in die Zukunft schauen.“

Würde es vor dem Arbeitsgericht heißen: „Auch ein gewalttätiger Mitarbeiter ist ein guter Mitar­beiter“? Oder sagt ein Strafgericht zum Opfer des tätlichen Angriffs: „Der Vorfall ist vorbei, schauen Sie doch in die Zukunft.“ Werden in deutschen Gerichtssälen nicht ausschließlich vergangene Taten verhandelt? Soll das eine Absage an jegliche Rechtsverfolgung sein? Kann die Mutter nicht freudig in die gewaltvolle Zukunft schauen, gilt sie als unkooperativ oder psychisch krank. Ihr werden Bindungsintoleranz oder Vater-Kind-Entfremdung vorge­wor­fen. Die Mutter wolle nur Kontrolle über Vater und Kind haben. Damit gilt sie als schädlich für das Kind und muss den Entzug des Sorgerechts fürchten.

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Auch wenn die Mutter bis zur Trennung die engste Bezugsperson des Kinds war und niemand ihre Eignung anzweifelte, äußern nach der Trennung plötzlich einige Väter allergrößte Zweifel an ihrer Erziehungsfähigkeit. Was den klagenden Vätern wohl eigentlich nicht gefällt, ist, dass die Mutter es wagte, sich zu trennen. Rechtlich ist eine Scheidung für Frauen erlaubt. Faktisch riskieren sie, dass man ihnen das Sorgerecht entzieht. Mit der Drohung, man könne ihr jederzeit die Kinder nehmen, werden Mütter gefügig gemacht. Das ist nicht nur eine theoretische Option. Seit 2009 haben die Sorgerechtsentzüge nach einer Scheidung für Mütter um 50 Prozent zugenom­men.

Hinter diesem Trend steckt die gezielte Unterwanderung und Beeinflussung von Jugendämtern und Familiengerichten durch Väterlobbys, die längst die deutschen Behörden mit ihren misogynen Mythen schulen. Bereits seit den 1980ern verfolgen Väterrechtler die Strategie, Mütter loszuwerden, die väterliche Gewalt verhindern wollen. Die Anleitung dazu stammt aus den pädosexuellenfreundlichen Büchern des 2003 verstorbenen US-amerikanischen Kinderpsychiaters Richard A. Gardner. Darin schrieb er, es gebe gar keinen sexuellen Missbrauch, Kinder genössen Sexualität mit Erwachsenen, das sei Teil der Sexualerziehung. Mütter, die damit ein Problem haben, seien psychisch krank. Diese krude Argumentation erinnert nicht zufällig an die Täter-Opfer-Umkehr aus den Familiengerichten. Radikale Vätervereine werben sogar öffentlich mit ihrem Faible für Richard Gardner. Einzelne Fehlgeleitete? Weit gefehlt. Erst im Januar waren sie zum Plausch beim Bundesjustizminister. Ihr Ziel, damals wie heute: Vätern auch bei Ge­walt und Missbrauch weiter umfangreichen Zugang zu ihren Opfern zu ermöglichen. Die Mütter sind dabei im Weg.

Politik und Justiz haben nun den Auftrag, aufzuräumen: Ausbildungsinstitute müssen über­prüft werden. Das Justizministerium muss seine Berater sorgfältiger auswählen. Die Umset­zung der Istanbul-Konvention ist überfällig. Gewalt muss als Kindeswohlgefährdung aner­kannt werden und Umgangs- und Sorgerecht sind für Täter auszuschließen.

Quelle         :           TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben      —         Unevolution (by Latuff).

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Wer bemerkt denn so was?

Erstellt von DL-Redaktion am 13. März 2023

Covid-Impfstoffe: Das 32 Milliarden-Dollar-Geschenk

Wer- in der Politik kann schon ohne Geschenke leben ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Martina Frei /   

Entwicklungskosten von der Öffentlichkeit bezahlen lassen, Gewinne privatisieren – so gehen grosse Pharmafirmen vor.

Die Pharmafirmen Moderna und Pfizer haben mit ihren Covid-Impfstoffen bisher über 100 Milliarden Dollar eingenommen. Das ist 20-mal mehr als das Budget der Weltgesundheitsorganisation für die zwei Jahre 2020 und 2021. Und obwohl die Herstellung einer mRNA-Covid-Impfdosis nur etwa einen bis drei Dollar koste, hätten beide Pharmafirmen angekündigt, dass sie in den USA dieses Jahr 110 Dollar pro Dosis verlangen wollen.

Auf diese Diskrepanzen weist der Editorialist Victor Roy in der britischen Ärztezeitung «BMJ» hin. Anlass für seinen Artikel ist eine Recherche von US-Medizinern um den bekannten Pharmakologen Aaron Kesselheim im «BMJ». Sie ermittelten, wie viel Geld die öffentliche Hand in den USA in die Entwicklung der mRNA-Impfungen steckte: Mindestens 31’912’100’000 Dollar.

Risiko für die Firmen erheblich abgefedert

Während der Pandemie investierten die «National Institutes of Health», das US-Verteidigungsministerium und die «Biomedical Advanced Research and Development Authority» mindestens 2,366 Milliarden an Forschungsgeldern. Zudem leisteten sie 29,2 Milliarden Dollar an Garantiezahlungen für die (zu entwickelnden) Impfstoffe. Moderna und Pfizer erhielten Zusagen, dass ihnen Millionen von Impfdosen abgekauft würden. Indem die US-Regierung klinische Versuche von Moderna finanzierte, Kaufzusagen für die Vakzinen in grossen Stil machte etc., habe sie das Risiko für die Hersteller bei der Entwicklung der Impfstoffe massgeblich «de-riskiert», schreiben Kesselheim und seine Kollegen.

Im Verlauf von 35 Jahren vor der Pandemie bezahlten die US-Bürgerinnen und-Bürger über die drei erwähnten Institutionen demnach zusammen rund 337 Millionen Dollar, um die RNA-Technologie auf den Weg zu bringen, zum Beispiel in die Forschung an Lipid-Nanopartikeln. Diese Schätzung sei bewusst vorsichtig, schreiben Kesselheim und seine Kollegen. Vermutlich seien indirekt zusätzliche 5,9 Milliarden Dollar an Forschungsgeldern geflossen.

Moderna erhielt über 18,1 Milliarden Dollar an öffentlichen Geldern, Pfizer/Biontech rund 13,1 Milliarden, ergab die Recherche weiter. Trotz dieser grosszügigen Förderung sperren sich die Firmen dagegen, die Rohdaten ihrer Studien offen zu legen.

Produktionskosten für eine mRNA-Impfdosis: Maximal drei Dollar

Die Produktionskosten für eine Impfdosis belaufen sich laut dem «BMJ» auf einen bis drei Dollar. Bezahlt hätten die USA an Pfizer/Biontech im Jahr 2020 jedoch 19,50 Dollar, im Jahr 2021 waren es 24 Dollar und im Jahr 2022 für den bivalenten Booster rund 30 Dollar. Moderna habe anfangs rund 15 Dollar pro Impfdosis erhalten, im Jahr 2022 dann rund 26 Dollar.

Die mRNA-Impfstoffe seien eine bemerkenswerte Errungenschaft, findet Victor Roy. Ihre Entwicklung sei aber auch ein warnendes Beispiel dafür, wie wie das Innovationsrisiko durch die Gemeinschaft getragen wurde, während der Löwenanteil des Gewinns privatisiert und an die Aktionäre ausbezahlt wurde.

Mit den Steuereinnahmen fand noch keine Regierung das rechte Maß!

Mehr für Dividenden ausgegeben als für die Entwicklung neuer Medikamente

Die hohen Medikamentenpreise «sind nicht durch die Ausgaben der Industrie für Forschung & Entwicklung zu rechtfertigen», stellen die Autoren einer Analyse im «BMJ» zu Arzneimitteln fest. Ihnen zufolge gaben die grossen Pharmafirmen in jedem Jahr von 1999 bis 2018 mehr fürs Marketing und fürs Verkaufen ihrer Produkte aus als für die Forschung und Entwicklung. Damit setzten sie einen Trend fort, der schon 1975 festgestellt wurde. 

Auch in die Rückkäufe ihrer eigenen Aktien hätten die meisten mehr investiert als in die Forschung und Entwicklung. Die 14 grössten Pharmafirmen wendeten für solche Rückkäufe und für die Zahlungen von Dividenden von 2016 bis 2020 etwa 577 Milliarden Dollar auf – 56 Milliarden mehr, als sie für die Forschung und Entwicklung neuer Wirkstoffe ausgaben. Die jährlichen Bezüge der Unternehmensleitungen seien in dieser Zeit um 14 Prozent gestiegen, berichtet das «BMJ». Dies vor dem Hintergrund, dass die meisten neu auf den Markt gekommenen Medikamente nur einen kleinen oder gar keinen Zusatznutzen gegenüber etablierten Wirkstoffen geboten hätten.

Einer anderen Analyse zufolge zahlten 18 grosse Pharmahersteller von 2006 bis 2015 ihren Aktionären mehr Dividenden aus, als sie in ihre Forschung investierten. Seit Jahrzehnten richteten Arzneimittelhersteller ihren Fokus darauf, den Aktienwert hochzutreiben, stellen die Autoren des Artikels im «BMJ» fest.

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Oben      —     COVID-19 vaccination center, Lanxess-Arena Cologne

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Opfer suchen Wahrheiten

Erstellt von DL-Redaktion am 13. März 2023

Die Wahrheit ist stets das erste Kriegsopfer

File:Wallendorf (Luppe) Kriegsopfer 1939-1945.JPG

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Wir mögen es micht wahrhaben, aber wir leben in Kriegszeiten, mit einem Krieg vor der Haustüre, vorgeführt wie in einem Theater. Nur die heute Über-Achtzigjährigen haben noch eigene Kriegserfahrung und die Erinnerung, dass auch der Zweite Weltkrieg herbeigeredet worden ist, mit Lügen, falschen Versprechen, Illusionen.

Während Hitler sich der Verantwortung durch Selbstmord entzog, wollen z.B. US-Politiker ihre Hände seit dem Vietnam-Krieg in Unschuld waschen. So erklärte der seinerzeitige US-Verteidigungsminister McNamare noch 1995, dass er bis heute nicht wisse, was am 2. und 4. August 1964 im Golf von Tonkin geschah. Damals wurde von den USA wahrheitswiedrig behauptet, dass der US-amerikanische Zerstörer Maddox im Golf von Tonkin von nordvietnamesischen Torpedobooten angegriffen worden sei. Und das war genug, einen verheerenden Krieg in Vietnam auszulösen. Ein amerikanischer Freund, der deswegen eingezogen wurde, wusste nicht einmal, wo Vietnam lag und was er dort sollte. Seine Erfahrung war dann ein zerschossenes Bein und lebenslanges Humpeln. Und McNamara kann sich an den Grund für den grausamen Vietnamkrieg mit drei Millionen Toten nicht erinnern!

Seit Vietnam haben die USA mit Lügen, Unterstellungen und machtgeil Kriege im Irak bis hin in Afghanistan geführt und allesamt verloren. Und im Stellvertreterkrieg in der Ukraine geht es konsequent weiter. Die USA wissen immer ein paar Tage voraus genau, was Russland macht, halten sich zwar militärisch bedeckt im Hintergrund, stacheln aber die NATO und die Ukraine auf und heizen ihre Militärindustrie kräftig an. Russland verhält sich ebenso. So wiegeln sich die beiden Supermächte gegenseitig auf, bis irgendwann die Sicherung durchknallt und tausende unschuldiger Menschen ihr Leben lassen müssen.

Der Auslöser der heutigen Kriegssituation ist der Einfall von Russland. Der Grund dafür liegt jedoch Jahre zurück mit dem Vorrücken der NATO direkt an die russische Grenze und weltweit. Stets auf Druck und mit Machtphantasien der USA. Was, bitte, hat ein deutsches Kriegsschiff im Chinesischen Meer zu suchen? Und warum wird heute so infam gegen China als Feind Nr.1 gestänkert, obwohl China noch nie in seiner Geschichte kriegerisch gegen ein Land außerhalb seiner Grenzen vorgegangen ist?

Es sind wohl Bequemlichkeit und Bildungslücken, die uns immer wieder den kriegstreibenden Lügenmärchen insbesondere der USA Glauben schenken lassen. Bis wir uns dann verdutzt die Augen darüber reiben, dass wir unmittelbar selbst betroffen sind. Aber dann ist es zu spät! Es darf uns nicht kalt lassen, dass wir nach der anfänglichen Zusage der Bereitstellung von Kriegshelmen heute bei der Lieferung schwerster Waffen an die Ukraine angekommen sind. Dauernde Eskalation und immer kompliziertere Lügenmärchen haben uns an den Rand eines Krieges direkt bei uns manövriert.

Aber hinterher will es keiner gewesen sein. Pathetisch verkündet unser Bundespräsident, dass die Friedensdividende aufgezehrt sei. Mitnichten! Frieden ist eines der höchsten Güter und ohne wenn und aber anzustreben. Diese Wahrheit dürfen wir nicht von machtgeilen Politikern durch Kriegstreiberei oder gar Kriege massakrieren lassen. Und immer wieder fragen: Was ist Wahrheit und was ist Lüge?

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Oben       —      Wallendorf (Luppe) Kriegsopferdenkmal 1939-1945

Author Wikswat        :      Own work    /      Date    :   21 October 2018

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Unten     ––       We kill for FUN! (by Latuff).

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Ulrike im Wunderland

Erstellt von DL-Redaktion am 12. März 2023

Die Gesinnungswende fordert ihren Tribut

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von   :   Johannes Schillo

Die Politikprofessorin Ulrike Guérot ist zur Zielscheibe einer Kampagne geworden – und auch das Ethos der Wissenschaft sieht sich seit der deutschen „Zeitenwende“ vor neuen Herausforderungen. Dazu hier eine Randnotiz.

Seit ihrem Auftritt bei Markus Lanz am 4. Juni 2022 ist die Bonner Politikprofessorin Guérot – milde ausgedrückt – persona non grata im öffentlichen Leben. Hatte sie mit ihrem Essay „Wer schweigt, stimmt zu“, der Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung vorbrachte, schon Anstoß erregt, so war mit ihrem im November 2022 erschienenen Buch „Endspiel Europa“ für den Mainstream der deutschen Medienlandschaft endgültig klar: Diese Frau hat im Wissenschaftsbetrieb und im öffentlichen Diskurs, wie er hierzulande geführt wird, nichts verloren. Mittlerweile hat auch der Arbeitgeber Guérots reagiert, was noch einmal für Wirbel sorgte.

Eine Exkommunikation – oder doch nicht?

Der Eindruck liegt nahe und die begründete These steht ja auch im Raum, dass es hier um die Exkommunikation einer unbequemen Autorin aus der scientific community geht. Guérot hat zusammen mit dem Wissenschaftler Hauke Ritz in ihrem Endspiel-Buch, das sich bewusst als Essay vom üblichen Publikationswesen des akademischen Betriebs absetzt, den Weg des Westens hin zum Ukrainekrieg analysiert und dabei den Anteil der NATO an der Eskalation deutlich zur Sprache gebracht. Und sie hat, als Fazit, die Europäische Union dazu aufgefordert, „nicht als Stellvertreter der USA zu fungieren“, wie es bei Krass & Konkret in einem Resümee des Autorenduos hieß. Dabei beriefen sich die beiden – unter Rückgriff auf die kulturelle Tradition des Abendlands – auf eine „EUtopie, die humanistisch, antifaschistisch, antimilitärisch, inter-nationalistisch und antikapitalistisch ist“, und schlossen mit der Forderung: „Deswegen muss Europa alles tun, um diesen Krieg sofort zu beenden.“

Von der Universität, von Kollegen, aber auch von Medien wie der FAZ, die sich auf eine regelrechte Kampagne gegen die zur Außenseiterin erklärte Politologin verlegten, gab es Einspruch gegen einen solchen europäischen Friedensidealismus, der bis zur „Zeitenwende“ – und der damit verbundenen Gesinnungswende – hierzulande als Selbstverständlichkeit galt. Unisono wurde die Unwissenschaftlichkeit von Guérots Positionen festgestellt, die – so kann man die Vorwürfe auf den Punkt bringen – nicht dem NATO-Narrativ folgen. Das Bonner Uni-Rektorat verabschiedete 2022 eine Erklärung, die sich zur Parteinahme für den Westen und gegen Russland bekannte und noch ohne Nennung Guérots den Rahmen setzte, in dem der wissenschaftliche Diskurs stattzufinden habe; womit auch klargestellt war, dass weitergehende juristische Möglichkeiten zum Ausschluss dissidenter Meinungen geprüft werden sollten.

Das ist mittlerweile geschehen. Der bekannte Plagiatsforscher Stefan Weber hat in Telepolis darüber berichtet: Die Uni Bonn hat der Wissenschaftlerin, so weit bekannt, gekündigt, und nun „tobt die Debatte: Waren Plagiate Auslöser oder politisches Engagement? Der Fall geht wohl vor Gericht.“ Weber eiert in seinem Text etwas herum, um den offenkundigen Zusammenhang der Kündigung mit der Äußerung abweichender politischer Meinungen in den Hintergrund zu rücken. Natürlich sind auch schon andere Wissenschaftler (oder Politiker!) über Plagiate in ihren akademischen Arbeiten gestolpert, aber es „ist in den seltensten Fällen so, dass Wissenschaftler genuin wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens berufliche Nachteile haben“. Das hält Weber fest und man merkt ihm die Bauchschmerzen an, mit denen er die politische Einflussnahme auf diese – angeblich – rein innerwissenschaftliche Kontroverse konstatiert.

Das ist übrigens auch der Presseberichterstattung zu entnehmen – und sei es in der Form des entschiedenen Dementis wie in der FAZ (25.2.2023). Die Bonner Lokalpresse (siehe General-Anzeiger, 4./5.3.2023) hat den Fall groß gewürdigt und sich Sorgen gemacht, es könnte „ein zäh erkämpftes Grundrecht“, nämlich die Wissenschaftsfreiheit, Schaden nehmen. Genauer gesagt: Das könnte geschehen, wenn nicht konsequent dem Eindruck entgegengearbeitet wird, bei der Einleitung von „arbeitsrechtlichen Schritten“ hätten politische Überlegungen, vulgo: Zensur, eine Rolle gespielt. Und die Sorge betrifft natürlich das Ansehen des Hochschulbetriebs, wie von einem Kommentator gleich bemerkt wurde: „Wenn sich die Vorwürfe gegen Guérot auf die Zeit vor ihrer Berufung beziehen, dann wirft das auch ein schlechtes Licht auf die Bonner Uni. Hätten die Defizite in Sachen wissenschaftlichen Arbeitens dann nicht früher auffallen müssen?“ (G.-A., 25./26.2.2023) Ja, das hätte in der Tat besser ausgesehen.

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Je größer die Häuser – je mehr an Wissen passt hinein ?

Nun geht es wahrscheinlich so weiter, wie der Arbeitsrechtler Volker Rieble ganz gelassen mitteilt (G.-A., 6.3.2023). Nach den Angriffen auf die Professorin werde sich das Gerichtsverfahren erst einmal Jahre hinziehen. „Wenn dann ein Vergleich mit einer kleinen Abfindung herauskommt, hat die liebe Seele eine Ruh’. Die Öffentlichkeit kriegt das ohnehin nicht mehr mit.“ Solche abgebrühten Stellungnahmen gehen in der Öffentlichkeit, der hier ein Fachmann erzählt, wie sie funktioniert, ohne Weiteres durch: Öffentlich ist die Frau diffamiert, sachlich ist wohl weniger dran, was sich nach Jahren herausstellen dürfte, doch erst einmal hat die Kampagne ihre Funktion erfüllt

Möglicher Weise geht es jetzt aber auch schneller, wenn die geschasste Professorin klein beigibt und sich auf einem demnächst anstehenden „Gütetermin“ mit einer „kleineren Abfindung“ (G.-A., 10.3.2023) abfinden lässt.

Im Reich der exakten Wissenschaft, oh Gott!

Tja, die Koinzidenz von Einspruch gegen das NATO-Narrativ und Aufdeckung wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist wirklich unschön. Plagiatsforscher Weber macht sich auch ein Gewissen daraus, aber dann findet er einen festen Halt. Arbeitsrechtlich verzwickt, politisch unschön, Konsequenzen unklar – das muss man konzedieren (und sich auch fragen, ob das „für einen Rauswurf“ genügt). Nur eins soll definitiv feststehen: Die Autorin hat „in zumindest zwei Büchern plagiiert, die sie als Wissenschaftlerin verfasst hat und die sicher nicht der Nicht-Wissenschaft, also etwa der Kunst zuzuordnen sind“.

Und jetzt kommt endlich mal Butter bei die Fische, die Vorwürfe werden von Weber substantiiert. Er bringt nämlich ein Beispiel – eine einzige Textstelle aus Guérots Essay „Wer schweigt, stimmt zu“ –, und von diesem Beleg versichert er nur noch, dass er weitere, ähnliche Fälle anführen könnte (und dass er auch schon Einschlägiges bei den Kritikern Guérots gelesen habe). Worin besteht nun der Beweis, das einzige Argument für Guérots Verstoß gegen wissenschaftliche Standards, das geliefert wird?

Was da geboten wird, ist ein erstaunlicher Beleg für den Geisteszustand des Wissenschaftsbetriebs. Aber im Einzelnen! Weber bringt ein Zitat aus dem Buch Wie wirklich ist die Wirklichkeit? des Kommunikationsforschers Paul Watzlawick (1976, S. 101):

Wir alle, jeder von uns auf seine Weise, befinden uns auf einer unablässigen, wenn auch oft ganz unbewußten Suche nach dem Sinn der uns umgebenden Geschehnisse, und wir alle neigen dazu, selbst hinter den verhältnismäßig unbedeutenden Vorfällen unseres täglichen Lebens das Wirken einer höheren Macht, sozusagen ,eines metaphysischen Versuchsleiters’ zu sehen. Es gibt wohl nicht viele Menschen, die den Gleichmut des Königs in »Alice im Wunderland« besitzen, der es ihm ermöglicht, das unsinnige Gedicht des Weißen Kaninchens mit der philosophischen Bemerkung abzutun: »Wenn kein Sinn darin ist, so erspart uns das eine Menge Arbeit, denn dann brauchen wir auch keinen zu suchen.« Zum Beispiel: Es gibt wahrscheinlich eine recht große Zahl von Personen, die eine private Mythologie über Verkehrsampeln haben…

Guérot hat auf Watzlawick, den sie als wissenschaftliche Autorität schätzt, in ihrem Buch mehrfach Bezug genommen. Sie knüpft explizit an seine Aussagen an, beansprucht also in keiner Weise, hier eine eigenständige wissenschaftliche Leistung zu präsentieren, sondern, im Gegenteil, einem Konsens zu folgen. Dann bringt sie auf Seite 101 ihres Buchs – ohne nochmals auf Watzlawick eigens als Urheber zu verweisen – zwei Sätze, die Weber als Plagiat beanstandet. Guérot übernimmt den Satz: „Es gibt wohl nicht viele Menschen … abzutun“ und schließt das Zitat von Lewis Carroll aus dem 12. Kapitel seines berühmten Buchs (mit kleinen Änderungen) an. Der Spruch findet sich übrigens in vielen populären Sammlungen mit den besten Zitaten aus „Alice im Wunderland“.

Alice in Wonderland 

Diese Übernahme soll ein Verstoß gegen wissenschaftliche Standards sein, der die Autorin eindeutig als Wissenschaftlerin disqualifiziert. Der Sache nach ist es eine absolute Lappalie. Nur würde Webers Einwand lauten: So kleinkariert muss der akademische Betrieb vorgehen, damit sich keiner mit fremden Federn schmückt; exakte Benennung der Quelle muss sein, weil alle Theoriebildung darauf aufbaut. Aber wenn das so ist, dann müsste diese Exaktheitsforderung auch für Watzlawick gelten, dessen wissenschaftliche Leistung hier angeblich entwendet und vom Werk einer Nachfolgerin usurpiert wurde. Schauen wir uns daher einmal den Passus aus Watzlawicks Opus genauer an.

Als Erstes fällt auf, dass der Autor mit einer erstaunlichen Allaussage startet, die er in keiner Weise belegt. Alle Menschen sollen auf Sinnsuche sein – eine unhaltbare Behauptung, die man auch blitzschnell, z.B. mit einem Klick, widerlegen kann, wenn man sich etwa die Kritik der Sinnfrage von Jürgen Hoßdorf ansieht, die ebenfalls bei Telepolis vorgestellt wurde: Das Sinnbedürfnis treibt zwar viele Menschen um, genau so liegen aber seit den Zeiten der Aufklärung viele stichhaltige Einwände gegen das Aufspüren geheimnisvoller Kräfte in einer Hinterwelt vor. Zweitens, um zum Ende, zur Schlussfolgerung aus dem Zitat zu gehen: Wer „Alice im Wunderland“ gelesen hat, weiß, dass der König kein gleichmütiger Mensch ist (wie Watzlawick behauptet), sondern ein gefährlicher Irrer, der sich mit seinen absurden Vorwürfen gegenüber Zeugen und Angeklagten ständig ereifert, mit Hinrichtung droht etc. Der zitierte Satz geht dann auch so weiter: „And yet I don’t know… I seem to see some meaning in them, after all.“ Wieso er bei Watzlawick zu einer Marotte, einem etwas gesuchten Beispiel von „Alltagsmythologie“ (den Sinn der Ampeln betreffend), überleiten soll, ist dann kaum ersichtlich; anscheinend sollte nur ein kleines Bonmot den Text auflockern…

Man kann natürlich einwenden: Weber als Plagiatsforscher hat mit dem Inhalt, mit dem Gang der Argumentation oder dem Versuch, sie zu veranschaulichen etc., nichts zu tun. Das heißt aber, die Frage, ob hier kommunikationstheoretisches Geschwurbel vorliegt oder wissenschaftliche Erkenntnis, interessiert ihn und die von ihm betrieben Forschung kategorisch nicht. Weber kümmert sich bloß um die Basics. Aber wenn das so wäre, dann müsste sich doch als nächste Frage anschließen: Wie steht es denn eigentlich mit der Exaktheit in Watzlawicks Text?

Er zitiert einen Satz von Carroll. Woher stammt er? Wo ist die Quellenangabe? Welche Ausgabe wurde zugrundegelegt? Hat er etwa aus eine populäre Sammlung zitiert (was Guérot übrigens von Kritikern bei Einstein- oder Hume-Zitaten zur Last gelegt wird, da sie, möglicher Weise, auf Internet-Seiten zurückgegriffen hat statt auf die Originalausgaben von Anno Toback)? Weiter gefragt: Bekanntlich hat Carroll nicht in Deutsch geschrieben – woher stammt die Übersetzung? Carroll wurde x-fach übersetzt, auch ad usum delphini. Wer hat diese Übersetzung angefertigt?

Klar, das sind kleinkarierte Fragen. Aber wenn schon kleinkariert, dann immer! Und Frau Guérot kann man nur wünschen, dass sie sich wie Alice im Gerichtskapitel über die absurden Vorwürfe des Kartenkönigs und seiner Königin erhebt – und am Schluss aus dem Alptraum aufwacht.

Zuerst bei Telepolis erschienen.

Urheberrecht
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Oben       —     Ulrike Guérot (Senior Research Fellow und Leiterin des Berliner Büros, European Council on Foreign Relations, Berlin) Foto: CC-BY-SA Stephan Röhl / www.boell.de

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 12. März 2023

Die Fesseln des undemokratischen Sreikrechts

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Von Elisa Aseva

Es gibt Dinge, die in Deutschland nicht zum intuitiven Allgemeinwissen gehören. Zum Beispiel der Fakt, dass Menschen mehr Geld verdienen sollten.

Seit Kurzem verfolgt mich ein kleiner, unscheinbarer Satz. Eigentlich war es bei dem Telefonat um ein konkretes Anliegen gegangen, doch meine Bekannte und ich hatten uns zuletzt zu Beginn der Pandemie gesprochen, und so verfielen wir bald in eines dieser gegenwärtig so typischen Blitz-Aufholgespräche.

In unter zehn Minuten tauschten wir Trennungen, Todesfälle und andere Alltagsumbrüche, als seien es Panini-Karten. „Ach so, ich wusste nicht, dass du da nicht mehr bist. Und ist der neue Job denn okay?“, fragte meine Bekannte. „Ja schon. Aber eben wieder nur Mindestlohn, es bleibt also stressig.“ – „Was, echt? Soll jetzt nicht blöd klingen, aber du könntest doch mehr verdienen.“ Es soll hier nicht um meine individuellen Chancen und Hinde­rungen gehen, der Satz hallt anders nach. Morgens, während ich beim Warten am überfüllten U-Bahnhof dabei zusehe, wie ein junger, nicht-weißer Typ mit der Reinigungsmaschine Muster auf den Boden zeichnet.

Als ich in der U-Bahn dann Zeugin werde, wie eine unübersichtlich wackelnde Kleinkindbande von einer Erzieherin und einem Praktikanten auf die freien Sitze verteilt und bei Anfahrt des Zuges bereits mit Apfelschnitzen versorgt wird. Und auch, als ich nach Feierabend in den Supermarkt springe und der Kassierer die Waren roboterschnell über den Scanner zieht, als wolle er ein sagenhaftes nächstes Level freispielen.

IHR MÜSSTET ALLE MEHR VERDIENEN. Es gibt statistische Wahrheiten, die in diesem Land nicht in das intuitive Allgemeinwissen einfließen. Mit der neoliberalen Umstrukturierung des Arbeitsmarktes und der massiven Privatisierung von staatlicher Infrastruktur wurde die soziale Landschaft Deutschlands grundlegend umgegraben. Viele einst gut bezahlte Mittelstandsjobs wie etwa bei der Deutschen Post wurden so in den Niedriglohnsektor geschoben, der folgende allgemeine Lohnverfall lässt sich durchaus als kalkuliert beschreiben.

Das Bekenntnis zum aggressiven Lohndumping verschaffte Deutschland ohne Zweifel einen klaren Wettbewerbsvorteil innerhalb des europäischen Staatengefüges. Erarbeitet wird er vor allem von Frauen, Mi­gran­t*in­nen und ostdeutschen Arbeiter*innen. Sind also diese Gruppen gemeint, wenn Bundesfinanzminister Christian Lindner mal wieder von den Leistungsträgern spricht, für die er Politik machen will?

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Tatsächlich arbeitet in Deutschland je­de*r Fünfte für einen Stundenlohn, der unter 12,50 liegt. Ein Aufstieg in höhere Gehaltsklassen gelingt nicht zufällig selten, er gibt schlicht kein wirtschaftliches Interesse. Nur in Lettland, Litauen, Estland, Polen und Bulgarien ist die Lohn­ungerechtigkeit ausgeprägter.

Lohnbeschäftigte werden oft zu individueller Anstrengung zur Verbesserung ihrer Lage ermutigt, dabei läge ihre tatsächliche Macht im kollektiven Zusammenschluss. Doch auch die Arbeitnehmerrechte sind in Deutschland stärker beschnitten als beispielsweise in Ländern wie Frankreich oder Italien. Gerade anlässlich der aktuellen Entscheidung der Post-Beschäftigten zum Streik sollte an die reaktio­näre Schlagseite des deutschen Streikrechts erinnert werden. Streikformen, die anderswo als selbstverständlich gelten und wichtige demokratische Mittel von Ar­beit­neh­me­r*in­nen darstellen, sind im Land der strukturellen Ungleichheit verboten.

Quelle        :     TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —   Kita-Warnstreik der Sozial- und Erziehungsdienste am 13. Mai 2022 in Hamburg

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Lindner auf Sklavensuche

Erstellt von DL-Redaktion am 11. März 2023

„Oh, wow“ – Deutschland für Fachkräfte unattraktiv

Das hätte ihm jeder sagen können, welcher mit Studenten-innen Kontak hat.

Von:   MOHAMED AMJAHID

Nicht nur Finanzminister Lindner musste es kürzlich erleben: Für die viel beschworenen ausländischen Fachkräfte ist Deutschland kein begehrtes Ziel.

Vor Kurzem stand Finanzminister Christian Lindner von der FDP bei einem Auslandsbesuch in Ghana in einem Hörsaal. Luftig in ein weißes Hemd gekleidet, hielt er in der Hauptstadt Accra einen seiner TED-Talks, ganz locker in den Reihen zwischen den Studierenden. Jemand filmte die Szene.

Lindner fragt in den Saal, wer von den Anwesenden sich vorstellen könne, nach Deutschland zum Arbeiten zu migrieren. Kurze Stille. Null Hände heben sich. Hinter der Kamera flüstert jemand: „Oh, wow“, es folgt ein verlegenes „Okay!“ vom Finanzminister. Dann gehen hier und da ein paar wenige Hände zögerlich doch noch hoch – eher aus Mitleid. Christian Lindner rettet sich mit dem Witz, dass er die Telefonnummern und E-Mail-­Adressen der skeptischen Freiwilligen höchstpersönlich einsammeln werde. Alle lachen.

Oft heißt es ja sinngemäß: Ganz Afrika wolle zu uns nach Deutschland kommen. Eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung, die man an sich kritisch lesen sollte, gibt nun weitere Anhaltspunkte, warum das nicht so ist. Unter den OECD-Ländern ist Deutschland demnach beim Ansehen unter ausländischen Fachkräften, Unternehmen und Start-ups von Platz 12 auf Platz 15 zurückgefallen. Hauptgrund dafür ist, dass andere Länder schlicht viel attraktivere Arbeits- und Lebensbedingungen bieten: Norwegen, Kanada oder Neuseeland zum Beispiel.

In der Studie wurden mehrere Faktoren beachtet: Aufstiegschancen, Höhe des Einkommens und der Steuern, Möglichkeiten für Familienmitglieder oder die Visa-Vergabe. Auf all diesen Feldern bietet Deutschland kein gutes Bild. Schaut man zum Beispiel in die Portale für die Terminvergabe für deutsche Visa-Anträge, herrscht gähnende Leere: Oft sind keine Termine weit und breit zu sehen. Fürs Auswandern nach Deutschland braucht man Geduld, Kontakte, viel Geld und noch mehr Willen. Den bringen aber viele gut ausgebildete Menschen in Sachen Deutschland nicht automatisch mit. An­trag­stel­le­r*in­nen beschweren sich über eine besonders ausgeprägte Bürokratie und ineffiziente Verfahren. Dabei wird ihnen von Finanzministern und Werbebroschüren gesagt, dass Deutschland sie dringend als Fachkräfte brauche. Diese Diskrepanz zwischen Diskurs und Realität kommt bei den Fachkräften selbst offensichtlich nicht gut an.

Arg abgerutscht

Beim Ansehen unter Unternehmen und Start-ups ist Deutschland sogar laut Studie von Platz 6 auf Platz 13 abgerutscht. Hauptgründe hier: die schleppende Digitalisierung mit riesigen Funklöchern und weiter heiß laufenden Faxgeräten in den Ämtern, ein zu hohes Mindestkapital bei Neugründungen und eine „geringe Akzeptanz von Zuwanderer*innen“ in der deutschen Gesellschaft. Für den letzten Punkt gibt es ein akkurateres Wort: Rassismus. Den gibt es auch in Norwegen, Kanada oder Neuseeland, nur hat sich herumgesprochen, dass es in Deutschland besonders bedrückend sei.

Hätte er seinen Zuhörern gesagt das eine Lehr als Hausmeister ausreicht, in Deutschland Finanzminister werden zu können, wäre er wohl im Ansturm untergegangen !

Spricht man zum Beispiel mit bei der deutschen Wirtschaft begehrten Studierenden, For­sche­r*in­nen und Fachkräften an deutschen Hochschulstandorten sind viele Neuankömmlinge wenig begeistert von der gesellschaftlichen Atmosphäre. In Städten wie Dresden oder Tübingen bekommen die neuen Bür­ge­r*in­nen schnell mit, dass dort politisch betrachtet eine rassistische Normalität herrscht. Einige entscheiden sich deswegen bewusst, den Standort zu wechseln. Auch weil hochqualifizierte Fachkräfte sehr mobil sind. Oft genug wandern sie weiter in ein anderes Land. Gut ausgebildete Fachkräfte folgen Entwicklungschancen auf dem eigenen Feld und höheren Löhnen. Wenn es dann noch an Anerkennung und basaler Menschlichkeit im Umgang hapert, dann schreckt das eben viele Menschen ab.

In Deutschland spielen daneben bestimmt auch andere Faktoren eine maßgebliche Rolle, die in der Studie nicht vordergründig auftauchen: Deutschland ist ein sehr deutschsprachiges Land. Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen haben oft keine Lust und noch weniger Zeit, sich in das Mysterium von „der, die, das“ einzuarbeiten. Zwar haben sich in Großstädten wie Berlin oder Frankfurt Räume entwickelt, in denen Englisch die Arbeitssprache ist, dennoch sind ausländische Fachkräfte oft genug mit deutschen Führungskräften konfrontiert, die noch nicht mal Deutsch gut sprechen und teilweise schlechter ausgebildet und qualifiziert sind als die Neuen am Konferenztisch. Dazu kommen konkrete Probleme bei der Wohnungssuche oder bei der Kinderbetreuung, für die man nicht extra nach Deutschland einwandern muss, um zu wissen, wie schlimm es ist.

Die geringe Attraktivität des Standorts Deutschland liegt also am international ramponierten Image. Die spezielle deutsche Willkommenskultur spricht sich herum, und Menschen wenden sich mit einem zusätzlichen Blick auf die konkreten Bedingungen von Deutschland ab. Das wiederum hängt daran, dass sich Menschen mit relativ wenig Aufwand darüber informieren können, wie eine Mehrheitsgesellschaft so tickt. Und viele Yelp-Reviews für Deutschland weisen wenig Sterne auf.

Alles schön vermischen

Quelle        :       TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben       —   Dieses Bild zeigt das Denkmal in Algerien – Lecture hall in Algeria

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Palantir in Bayern:

Erstellt von DL-Redaktion am 11. März 2023

Nicht eingesetzte Polizei-Software kostet Millionen

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von    :    

Ein technisches Gutachten soll den sicheren Betrieb der umstrittenen Polizei-Software Palantir belegen. Doch rechtlich fehlt noch immer die Grundlage für einen Einsatz. Für die nicht genutzte Software fließen derweil Lizenzgebühren in Millionenhöhe – nicht nur in Bayern.

Die Palantir-Software, die Bayern bei der Polizei einsetzen will, ist nach Ansicht des Fraunhofer Instituts in Fragen der IT-Sicherheit unbedenklich. Das verkündetete das Landeskriminalamt München unter der Überschrift: „Sicherer Betrieb ist möglich!“ Das Fraunhofer Institut hatte den Quellcode unter anderem auf Hintertüren und Datenabflüsse überprüft. Zuvor gab es Bedenken, ob die Daten von der bayerischen Polizei an das US-Geheimdiensten nahestehende Unternehmen Palantir abfließen könnten.

Mit der Quellcode-Untersuchung wurde das Fraunhofer Institut für Sichere Informationstechnologie (Fraunhofer SIT) beauftragt. Das Gutachten basierte laut dem LKA München auf einer „breiten und fundierten methodischen Vorgehen zur vollumfänglichen Prüfung der Software.“ Im Rahmen der Prüfung sei unter anderem eine umfassende Schwachstellenanalyse durchgeführt worden. Dazu gehöre neben manuellen Prüfungen und Penetrationstests auch ein Code-Scanner zur automatisierten Detektion von Schwachstellen.

Das Gutachten selbst wurde nicht veröffentlicht, sondern steht unter Verschluss, weil es sensible Angaben über die IT-Infrastruktur der Polizei und Geschäftsgeheimnisse von Palantir enthalte. Die technische Prüfung ist allerdings nur für die aktuelle Version gültig. Um zu wissen, was wirklich mit der Software passiert, müsste sie bei jedem Update erneut geprüft werden.

Palantirs Software soll unter dem Namen „Verfahrensübergreifende Recherche- und Analyseplattform“ (VeRA) bei der bayerischen Polizei eingesetzt werden. Das Verfahren in Bayern ist auch für andere Bundesländer von Belang, da Bayern einen Rahmenvertrag mit Palantir abgeschlossen hat. Der Einsatz in weiteren Bundesländern könnte dann auf dieser Grundlage folgen.

Zwar wurde die Software nach der 430.000 Euro teuren geheimen Untersuchung nun rein technisch als unbedenklich eingestuft. Davon unberührt sind aber starke verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Einsatz der Software, die Daten aus verschiedenen Datenbanken und Quellen zusammenführt und so ganz neue Möglichkeiten eröffnet, um Menschen ins Visier zu nehmen. Diese Bedenken lassen sich nicht durch eine Überprüfung des Quellcodes ausräumen.

„Kein Zeitplan“ für Rechtsgrundlage

In Hessen und Hamburg hatte das Bundesverfassungsgericht im Februar die rechtlichen Grundlagen für verfassungswidrig erklärt. Auf Anfrage von netzpolitik.org erklärt das Bayerische Staatsministerium des Innern: Die noch zu schaffende Rechtsgrundlage im Bayerischen Polizeiaufgabengesetz werde sich an den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts getroffenen Aussagen orientieren.

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Das Ministerium geht davon aus, dass „ein Einsatz sowohl zur Abwehr von konkreten oder konkretisierten (drohenden) Gefahren, als auch zur Verhütung von Straftaten im Vorfeld von (drohenden) Gefahren grundsätzlich zulässig ist“. Keine Aussage wollte das Ministerium dazu treffen, wann genau Bayern allerdings die neue Rechtsgrundlage anpeile oder wann VeRA eingesetzt werden könne. Dazu liege „noch kein Zeitplan vor“, schreibt ein Sprecher an netzpolitik.org.

Wann die Software zum Einsatz kommen wird, ist also in Bayern noch offen. Doch selbst wenn die Software nur in der Schublade liegt entstehen dem Bundesland Kosten in Millionenhöhe, wie der Bayerische Rundfunk recherchiert hat. Alleine seit dem Vertragsabschluss im Mai 2022 waren es laut Ministerium rund 3,2 Millionen Euro an Lizenzgebühren. Insgesamt sind in den ersten fünf Jahren bis zu 25 Millionen Euro fällig. Auch in Nordrhein-Westfalen (NRW) wird Palantir teuer, dort haben sich die Kosten gegenüber der Planung verdreifacht. Gegen den Palantir-Paragraf im Polizeigesetz von NRW läuft eine weitere Verfassungsbeschwerde.

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Veraltetetes Familienrecht

Erstellt von DL-Redaktion am 10. März 2023

„Kind und Küche für Mama, Arbeit und Geld für Papa“

Ein Debattenbeitrag von Andreas Gran

Bei Trennungen und Versorgungsmodellen ist noch viel Luft nach oben. Die überholten Strukturen aufzubrechen, wäre im Sinne der Frauen und der Kinder.

Hier geht es nicht etwa um „Machtdurchsetzung“ zwischen Müttern und Vätern auf dem Rücken von Kindern, sondern um Impulse für eine moderne Gesellschaft, denn tatsächlich existiert sie einfach nicht: die Gleichberechtigung der Frauen. Sie würde den Grundrechten entsprechen, soll durch das Antidiskriminierungsgesetz realisiert werden, Quotenregelungen sollen sie durchsetzen und Gerichte gleichen einiges aus, aber die Missstände sind beruflich und gesellschaftlich verfestigt. Warum nur?

Eine denkbare Ursache ist, dass Emanzipation die Überwindung veralteter konservativer Rollenbilder notwendig macht, insbesondere beim elterlichen Bezug zu Kindern – auch bei Trennungen. Das klassisch-konservative Familienrecht aus dem Jahr 1900 fördert Gleichberechtigung keineswegs. Es erscheint als kontraproduktiv, denn es entspringt einem Ideal, das „klassische Hausfrauenehe“ genannt wird. Die gesetzlichen Grundlagen im Bürgerlichen Gesetzbuch stammen nämlich noch aus der Kaiserzeit, bestanden im faschistischen Obrigkeitsdeutschland und sind bis heute nicht überwunden. So besteht über Generationen hinweg die Rollenverteilung „Kind und Küche für Mama, Arbeit und Geld für Papa“, konsequent konservativ konserviert.

Damit Frauen und Männer sich gleichberechtigt entfalten können, sollte sich das endlich ändern. Im Kern ist allerdings familienrechtlich vorgesehen, dass das Sorgerecht bei dem Elternteil liegt, das den intensiveren Kindesbezug und Zeit für elterliche Sorge hat. Zwangsläufig ist das zunächst regelmäßig die Mutter. Ohne Eheschließung weist das Gesetz dies sogar explizit zu. Wer vor diesem Hintergrund rein pragmatisch denkt, könnte auf berufliche und soziale Selbstverwirklichung verzichten, um familienrechtliche Chancen nicht zu verschlechtern. Diese Lebensgestaltung ist Wasser auf die Mühlen für konservative Geschlechterklischees, die besonders von Männern gerne als Argument genutzt werden: Emanzipation sei allseits nicht gewollt, weil die althergebrachte „Normalität funktioniere“.

Selbstverständlich sollte jede Frau und jeder Mann frei über die individuelle Lebensführung entscheiden dürfen, aber solange staatlich ein nicht-emanzipiertes Lebensmodell geradezu schmackhaft gemacht wird, ist das gesellschaftliche Ergebnis nicht verwunderlich.

Um dem zu begegnen, ist eine Änderung des Familienrechts oder zumindest der oft unflexiblen Routine überfällig. Kernproblem ist dabei, ob als Regelfall „Trennungskinder“ ganz überwiegend, wie bei dem sogenannten Residenzmodell, bei einem Elternteil bleiben, oder ob der Umgang, zumindest bis zu einvernehmlicher Einigung, entsprechend des sogenannten Wechselmodells hälftig geteilt wird. Beim Wechselmodell ist auch die Ausgestaltung möglich, wonach der Umgang jeweils in derselben Wohnung stattfindet, was Kindern Geborgenheit geben kann, wenn es finanziell machbar ist. Beide Lebensmodelle stehen alternativ zueinander, sie haben Vor- und Nachteile.

Gleichwohl überzeugt eher das gleichberechtigte Konstrukt. Alle hätten dann gleiche Umgangsrechte, und um Gleichberechtigung geht es. Der oft leider monetäre Anreiz für Zerstrittene, Druck und Gegendruck auszuüben, würde vermindert. Beide Elternteile blieben für das Kind präsent. Dem entgegen fällt bislang nach mehr oder weniger jeder zweiten Trennung faktisch ein Teil komplett. Oft ist das der Vater, aber vermehrt auch die Mutter. „Besuch“ an nur jedem zweiten Wochenende reicht sicher nicht aus. Kindern wird noch immer der belastende interne „Loyalitätskonflikt“ aufgebürdet, weil sie den fehlenden Elternteil vermissen und vielleicht ihr Recht durch Auszug mit den Füßen durchsetzen, was staatlich kontrolliert, aber grundsätzlich nicht verhindert werden darf.

Die hälftige Aufteilung des elterlichen Umgangs ist für Kinder gewiss nicht immer die beste Lösung, etwa bei Trennungen noch vor der Geburt oder bei Desinteresse eines Elternteils. Außerdem kann das Modell für zusätzliche Unruhe im Alltag sorgen. Andererseits wirkt Abwechslung bisweilen durchaus bereichernd. All dies ist jedoch stets abhängig von der individuellen Lebenssituation.

Wichtig ist deshalb, dass die hälftige Aufteilung keineswegs eine Dauerlösung sein muss und dass versöhnliche Eltern frei in ihrer Abstimmung bleiben. Wenn dann wieder eine Vertrauensgrundlage aufgrund der solidarischen Elternverantwortung aufgebaut wird, können konsensfähige Eltern individuell andere Modelle entwickeln, aber eben aus einer Position auf Augenhöhe. Dabei sollte beratend unterstützt werden. Kommt es zu Reibereien, bleiben Gerichte und Behörden berechtigt, um zur Seite zu stehen oder auch um zu sanktionieren. Ein solches Einschreiten ist selbstverständlich geboten, wenn sich konkrete Risiken für das Kind abzeichnen, insbesondere wenn Gefahr von Gewalt droht.

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Das Demonstrationsrecht :

Erstellt von DL-Redaktion am 10. März 2023

Der Protest gegen das hessische Versammlungsgesetz wird lauter

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von          :         

Der Entwurf liegt auf dem Tisch, die Kritik daran gleich mit: Der hessische Landtag stimmt in kommender Sitzung über das sogenannte Versammlungsfreiheitsgesetz ab. Am Samstag findet in Wiesbaden eine Demonstration dagegen statt.

Mehr Freiheit und mehr Demonstrationskultur? Oder mehr Repressalien und Befugnisse für die Polizei? In der Sachverständigenanhörung im Innenausschuss vor gut einem Monat hatte Clemens Arzt jedenfalls wenig Anstrengungen unternommen, um seine Abneigung gegen den hessischen Entwurf eines Versammlungsfreiheitsgesetz zu verbergen. Schon der Name „Versammlungsfreiheitsgesetz“ sei ein „Euphemismus“, sagte der Staats- und Verwaltungsrechtler. Das Recht sich zu versammeln sei ein Grundrecht – ein neues Gesetz bräuchte es dafür nicht. Schon gar nicht eines, das in Teilen verfassungswidrig sei.

Das kritisierte nach der Expertenanhörung im Februar auch der rechtspolitische Sprecher der Linkspartei, Ulrich Wilken: Das neue Versammlungsgesetz schaffe zu große Hürden für Versammlungen und betrachte Proteste vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Gefährlichkeit. „Der Begriff Versammlungsfreiheitsgesetz ist für den vorgelegten Entwurf unangebracht – besser würde Gefahrenabwehrgesetz passen.“

Demo gegen Gesetz angekündigt

Inzwischen regt sich auch in der Bevölkerung erster Protest. So ruft eine „Arbeitsgruppe gegen das hessische Versammlungsfreiheitsgesetz“ – für Samstag um 13 Uhr zur Demonstration in Wiesbaden vor dem Hauptbahnhof auf. Im Netz solidarisieren sich unter anderem Antifagruppen, die Partei „Die Linke“ und Fridays for Future Frankfurt. Ihre Forderung: Das Gesetzesvorhaben sofort stoppen. Der Gesetzentwurf würde „zu einer erheblichen Behinderung von einer bunten und vielfältigen Versammlungs- und Demonstrationskultur führen“, heißt es in einer Pressemitteilung. In der Frankfurter Rundschau entgegnet hingegen Lukas Schauder, Mitglied des Innenausschusses im Landtag für die Grünen: Der Arbeitskreis hätte einen „etwas flexiblen Umgang mit der Wahrheit“. Die Grünen sind Teil der schwarz-grünen Landesregierung, welche das Gesetz durchsetzen will.

Sicher ist: In bereits acht Bundesländern gibt es bereits ein Versammlungsrecht auf Länderebene. Seit der Föderalismusreform 2006 ist das grundsätzlich möglich. Die Berliner als auch die Schleswig-Holsteinische Umsetzung gilt gemeinhin als beispielhaft für eine Vertrauenskultur zwischen Demonstrierenden und Staat. Die bayrische Version von Versammlungsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht im April 2022 in Teilen gekippt – vor allem wegen grundrechtswidriger Überwachungsmaßnahmen. Auch in Nordrhein-Westfalen war das neue Versammlungsgesetz stark umkämpft, es gab über Monate Proteste, am Ende bekam die damalige schwarz-gelbe Regierung das Gesetz mit einigen kosmetischen Korrekturen durch den Landtag. Auch gegen dieses Gesetz läuft eine Verfassungsbeschwerde. Nun ist es also das Bundesland Hessen, das die Grenzen der Verfassung austestet. Oder etwa nicht?

Sachverständige haben grundrechtliche Bedenken

Umstritten ist unter anderem das Thema Videoüberwachung. Der Gesetzentwurf gestattet Übersichtsaufnahmen. Bei größeren Demos (ab rund 100 Menschen) darf die Polizei eine Demonstration präventiv abfilmen, um den Überblick über das Geschehen zu wahren. Ob die Demo draußen oder drinnen stattfindet, spielt dabei keine Rolle. Übersichtsaufnahmen legitimieren die Polizei allerdings nicht dazu, die Demo aufzuzeichnen, Daten zu speichern und einzelne Demoteilnehmer:innen zu identifizieren – eigentlich.

In der Anhörung wies Rechtsprofessor Clemens Arzt darauf hin, dass es heute technisch keine reinen Übersichtsaufnahmen mehr gebe: man könne alles immer „heranzoomen und herausdestillieren“. Übersichtsaufnahmen seien ein schwerer Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Danach haben Menschen das Recht, selbständig zu entscheiden, wem gegenüber sie welche Informationen preisgegeben. Durch die Videoüberwachung sei das nicht mehr gewährleistet, die Folge sei eine „sehr hohe Abschreckungswirkung“, sagte Arzt. Denn Demonstrierwillige könnten aus Angst vor staatlicher Überwachung vom Demonstrieren abgehalten werden.

Abschreckungspotentiale

Abschreckungspotential birgt laut einigen Expert:innen auch Paragraph 11 im Gesetzentwurf. Dort wird die Anwesenheit von Polizei während der Versammlung geregelt. Laut dem Grundrechtekomitee darf die Polizei darauf basierend Zivilbeamte entsenden, ohne dass sich die Beamten zu erkennen geben müssten. Für die Entsendung brauche es im neuen Gesetz auch keine konkrete Gefahr: Eine anlasslose Überwachung, „verfassungsrechtlich inakzeptabel“, meint Michèle Winkler von der Bürgerrechtsorganisation. Die Versammlungsfreiheit zeichne sich durch Staatsferne, nicht durch Staatsanwesenheit aus.

Mathias Hong von der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl sagt hingegen, eine solche Befugnis ergebe sich nicht aus dem Gesetz. Einig sind sich die beiden Parteien hingegen in dem Punkt, dass die Anwesenheit von Polizei nur bei einer konkreten Gefahr legitimiert sein darf. Der Entwurf bleibt an dieser Stelle allerdings sehr vage – ein möglicher Freifahrtschein für polizeiliche Überwachung.

Unkonkret und unbestimmt

Zu unkonkret, zu verschwommen, zu unbestimmt: Eine ähnliche Kritik wie bei den Überwachungsmaßnahmen zeigt sich auch bei der Frage, welche Gegenstände Demonstrierende mitführen dürfen. So sieht der Entwurf sogenannte Anordnungsermächtigungen vor, durch welche die Polizei das Mitführen bestimmter Gegenstände bei einer Demonstration künftig unter Strafe stellen kann. Eine Maßnahme, die darauf abzielt, es Teilnehmer:innen künftig zu verbieten, sich unkenntlich zu machen. Häufig ist in diesem Zusammenhang auch vom Vermummungsverbot die Rede.

Das Problem dabei: „Eine Strafe gibt es nur bei Anfangsverdacht“, sagt Verwaltungsrechtler Hong in der Anhörung. Pauschale Anordnungsermächtigungen hebeln dieses Prinzip aus. Das bestätigt auch Clemens Arzt: Um etwa das Tragen eines Schals im Gesicht unter Strafe zu stellen, müsse eine Demonstrierende vorher überhaupt erst gegen Gesetze verstoßen. Die Polizei habe kein generelles „Identitätsfeststellungsrecht“. „Wenn beispielsweise ein kurdischer Oppositioneller in Deutschland demonstriert, möchte er vielleicht aus guten Gründen nicht, dass der türkische Geheimdienst sein Gesicht sieht, wenn er hier in diesem Lande operiert“, sagt Arzt.

Gefahrenabwehr statt Vertrauen

Der Entwurf offenbart, dass die Regierung das Prinzip Skepsis walten lässt. Das wird an vielen Stellen deutlich. Vieles, was den eigentlichen Kern der Versammlungsfreiheit ausmacht, wird mit der Gießkanne sanktioniert. Neben dem Verbot des Mit-Sich-Führens bestimmter Gegenstände, ist die Anmeldepflicht ein Beispiel. Clemens Arzt dazu: Grundsätzlich treffe Veranstalter:innen erst einmal keine Pflicht, eine Demonstration überhaupt anzumelden.

Im hessischen Entwurf gibt es dennoch eine solche Pflicht – verfassungsrechtlichen Bedenken zum Trotz. Allein sieben Ordnungswidrigkeiten verzeichne das Gesetz beim Verstoß gegen vermeintliche Anmeldepflichten. Laut Arzt wird so die grundrechtliche Versammlungsfreiheit „weitestgehend eingeschränkt“.

Ein ähnlicher Vorbehalt zeigt sich darin, dass auch das Verweigern von Polizeianwesenheit ein Bußgeld nach sich zieht. Dabei könnte man meinen, die hessische Landesregierung hätte ihre Lehren aus der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum bayrischen Versammlungsgesetz gezogen. Das Gericht hat dort etliche Bußgeldbestimmungen außer Vollzug gesetzt.

Das neue hessische Versammlungsgesetz soll schon in der kommenden Landtagssitzung beschlossen werden.

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Worst-Case-Szenarien II

Erstellt von DL-Redaktion am 10. März 2023

Über aufgeklärten Katastrophismus und Analphabet*innen der Angst

File:Schoolchildren examine replica of 'Fatman' atomic bomb at the Nagasaki Atomic Bomb Museum, Nagasaki, Japan.tif

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :        MAS

„Gewalt gegen Gewalt funktioniert nicht. Sie dürfen den Krieg gar nicht erst anfassen, denn er ist infektiös wie ein Virus.“ Alexander Kluge.

Vor zwei Jahren habe ich hier einen Artikel über das geleakte Strategiepapier des deutschen Innenministeriums veröffentlicht, in dem ich eine Parallele zum „catastrophisme éclairé“ von Jean-Pierre Dupuy zu entdecken meinte (1).Dieses interne Papier wurde von einem bislang anonym gebliebenen Expertenteam aus Virologen, Epidemiologen, Medizinern, Wirtschafts- und Politikwissenschaftlern mit dem Ziel erarbeitet, unterschiedliche Szenarien der Ausbreitung des Coronavirus zu analysieren, unabhängig von ihrer jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit. Falls nichts unternommen werde, rechne man mit „über einer Millionen Toten im Jahr 2020 – für Deutschland allein.“ Insofern sei 1.) der „Worst Case (.) mit allen Folgen für die Bevölkerung in Deutschland unmissverständlich, entschlossen und transparent zu verdeutlichen“; 2.) die „Vermeidung des Worst Case (.) als zentrales politisches und gesellschaftliches Ziel zu definieren“; und 3.) den Bürger*innen klar zu machen, „dass folgende Massnahmen nur mit ihrer Mithilfe zu ihrem Wohl umgesetzt werden müssen und können.“ (2)Bei den Kritiker*innen war damals von Panikmache die Rede. Viele, auch ich, stiessen sich an der formulierten Absicht, mittels drastischer Schilderungen – von den Krankenhäusern abgewiesene Schwerkranke sterben „qualvoll um Luft ringend zu Hause“, Kinder bringen ihre Eltern ins Lebensgefahr, „weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen“ usw. – eine „Schockwirkung“ (3) erzielen zu wollen, um Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung für die ergriffenen Massnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehen herzustellen.

Der aufgeklärte Katastrophismus im Sinne Dupuys besteht genau in dieser Schockwirkung, in einem negativen Gesellschaftsentwurf, „der die Form eines fixen Zukunftsbilds annimmt, das man nicht will“ (4). Dieser Entwurf muss katastrophal genug sein, um abstossend zu wirken, und glaubwürdig genug, um zum Handeln zu bewegen. Insofern muss die geringe Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gefahr in eine Gewissheit verwandelt werden, man muss, wie Dupuy empfiehlt, vom schlimmsten Szenario ausgehen, „um den maximalen Schaden auf ein Minimum zu reduzieren“, damit das Unaufhaltsame nicht eintrifft. (5) Die Voraussage zeitigt selber Wirkung – jene nämlich, sich selbst zu dementieren.

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Kürzlich wurde der Gesundheitsminister bei Lanz in die Mangel genommen, nach dem üblichen 4-gegen-1-Prinzip (den Moderator eingerechnet). Markus Grill warf Lauterbach vor, sich einer „Rhetorik der Angst“ bedient zu haben, als er etwa am 18. April 2021 folgenden Tweet postete:

„Es gibt jetzt die Möglichkeit, in den nächsten 6 Wochen noch einmal weit über 10.000 Menschen meist im Alter von 40-60 J zu retten, mit letztem strengen Lockdown. Oder sind wir dafür nicht bereit, weil uns die Einschränkungen 10.000 Tote nicht wert sind. Dann hätten wir versagt.“

Der Lockdown blieb aus. Nach sechs Wochen informierte sich der Chefreporter beim Robert-Koch-Institut: Es waren in Wirklichkeit „nur“ 700 Tote. Sein Fazit: „Ich finde es sowieso eine relativ schlechte Art (…) zu kommunizieren, ein Arzt nimmt Patienten eigentlich unbegründete Ängste. Und ich finde auch ein Politiker sollte nicht mit Ängsten operieren, die möglicherweise auf sehr wackligen Beinen stehen.“

Lauterbach verteidigte die Prognose, berief sich auf die ihm damals vorliegenden „hochkomplexen Modellrechnungen“ renommierter Wissenschaftler wie Michael Meyer-Hermann und Viola Priesemann, die – wie Grill sofort einwarf – „oft kolossal danebenlagen“.

So funktioniere Wissenschaft, entgegnete Lauterbach, und verwies später auf das „Präventionsparadox“. Gegenüber Heribert Prantl wurde er in seiner Verteidigung grundsätzlicher:

„Was ich wirklich ablehne und falsch finde, dass also eine Warnung vor dem, was wirklich stattfinden kann – schwere Erkrankung, Todesfolge, Long Covid usw. –, (…) dass man das im Nachhinein als eine Panikmache abtut“. (6)

Man kann Lauterbach vieles vorwerfen, – eines aber nicht: Die Pandemie wie Trump oder Bolsonaro bagatellisiert zu haben. Er wirkt tatsächlich ein wenig wie der Unglücksprophet aus Günther Anders Parabel „Die beweinte Zukunft“, an Noah, den einsamen Rufer in der Wüste, der für seine Botschaft auf die Zeitform der vollendeten Zukunft zurückgreifen musste.

Zunächst ist es natürlich richtig, dass die Datenlage bezüglich der getroffenen Corona-Massnahmen mangelhaft war. Der vom Bundestag beauftragte Bericht des Corona-Sachverständigenrates vom Juli 2022 hat längst bestätigt: „Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Massnahmenstärke nicht erkennbar.“ (7)

Doch indem wir das wissenschaftliche Nichtwissen betonen, schreibt Jean-Pierre Dupuy (8), gerät die Katastrophe aus dem Blick und hält uns davon ab, verantwortlich zu handeln.Die grösste Schwierigkeit besteht in unserer Unfähigkeit zu glauben, dass der schlimmste Fall tatsächlich eintreten wird. Je grösser die Katastrophen erscheinen, für um so unwahrscheinlicher werden sie gehalten, bevor sie eintreten, doch um so selbstverständlicher erscheinen sie, sobald sie eingetreten sind – eine Erfahrung, auf die bereits Henri Bergson im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg hingewiesen hat.

„Trotz meines Schockes, und meines Glaubens, dass ein Krieg selbst im Fall eines Sieges eine Katastrophe wäre, fühlte ich (…) eine Art von Bewunderung für die Leichtigkeit, mit der der Wandel vom Abstrakten zum Konkreten vonstatten ging: Wer hätte gedacht, dass eine so ehrfurchtgebietende Möglichkeit mit so wenig Aufhebens in die Wirklichkeit eintreten würde? Dieser Eindruck von Einfachheit überwog alles.“ (9)

„Katastrophen zeichnen sich durch eine in einem gewissen Sinne inverse Zeit aus“, schlussfolgert Dupuy. „Als ein Ereignis, das aus dem Nichts hervorbricht, wird die Katastrophe möglich nur durch ihre „Selbstermöglichung“ (um einen Begriff Sartres zu verwenden, der in diesem Punkt ein Schüler Bergsons war). Und das ist genau die Quelle unseres Problems. Wenn man einer Katastrophe vorbeugen will, dann muss man an ihre Möglichkeit glauben, bevor sie eintritt. Wenn es andererseits gelingt ihr vorzubeugen, dann versetzt ihr Nichteintreten die Katastrophe ins Reich des Unmöglichen und die Vorsichtsmassnahmen werden im Nachhinein als sinnlos angesehen.“ (10)

Wer sich heute angesichts des Kriegs in der Ukraine vor einer möglichen Eskalationsdynamik fürchtet, die sich bis hin zum Einsatz taktischer Atomwaffen erstreckt, wird von Expert*innen dahingegen beruhigt, bloss einem Putinschen Narrativ aufzusitzen. Florence Gaub sagt etwa bei Maischberger:

„Ich tue mich ein bisschen schwer mit diesem Worst Case Szenario, was hier davongaloppiert mit uns. Wenn wir von Atomwaffen reden, reden wir immer über ein superhypothetisches Szenario. Sie sind nur einmal beziehungsweise zweimal, aber in ganz kurzer Zeit hintereinander, zum Einsatz gekommen. Die ganze Literatur zum Thema Abschreckung sagt, die Hauptfunktion ist, dass man damit drohen kann. Und das macht Putin die ganze Zeit. Und hier in Deutschland funktioniert das tatsächlich sehr gut.“ (11)

Es funktioniert sogar so gut, dass Prof. Dr. Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, den Deutschen eine psychische Krankheit namens „Eskalationsphobie“ attestieren zu müssen glaubt:

„Von aussen betrachtet, ist die Berliner Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine von einer Angst vor Eskalation beherrscht, die in kaum einem anderen Land des Westens in dieser Intensität so zu beobachten ist. Während in anderen Hauptstädten mehr und mehr überlegt wird, welche Waffensysteme die Ukrainer benötigen, um die nächste russische Offensive abzuwehren oder um die russischen Truppen gar aus dem Land zu vertreiben, dreht sich die deutsche Debatte in geradezu hektischer Weise darum, wie man jede Eskalation vermeiden kann, weil sonst der dritte Weltkrieg ausbricht. Dabei ist es Russland, das in der Ukraine eskaliert, weil es dort unbedingt gewinnen will. Und ohne Bereitschaft des Westens, diese Eskalation mit einer überlegten, stufenweisen Gegen-Eskalation zu beantworten, wird es keinen Frieden in der Ukraine geben.“ (12)

Das ist ein klarer Fall von „Apokalypse-Blindheit“ (Günther Anders). Was kann man diesen – nochmals Günther Anders – „Analphabeten der Angst“ entgegnen?

Sich vor allem nicht so sicher zu sein, was Putin nun will oder nicht will, was er letztlich tun oder nicht tun wird. Wir wissen nicht, ab wann für ihn die rote Linie überschritten sein wird, welche „Gegen-Eskalation“, ob dies nun Panzer- oder Kampfjetlieferungen an die Ukraine sind, zum Einsatz taktischer Atomwaffen führen könnte. Dieses Wissen ist keinem Standardwerk über den Kalten Krieg oder Modellrechnungen atomarer Bedrohungsszenarien zu entnehmen. Es aufgrund dieser Ungewissheit einfach darauf ankommen zu lassen, wäre fatal; dann verhielte man sich in der Tat so, „als ob die Katastrophe selbst die einzige faktische Grundlage dafür bilden würde, die Katastrophe prognostizieren zu können.“ (13)

Folglich muss diese prinzipielle Ungewissheit – das ist das „Aufgeklärte“ an Dupuys Katastrophismus – in eine Gewissheit verwandelt und vom schlimmsten anzunehmenden Fall ausgegangen werden, um diesen verhindern zu können.

Ansonsten wird es übermorgen zu spät sein.

Fussnoten:

(1) „Worst-Case-Szenarien“ 07.02.2021: https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/gesellschaft/coronavirus-worst-case-szenarien-6245.html

(2) https://fragdenstaat.de/dokumente/4123-wie-wir-covid-19-unter-kontrolle-bekommen/, S.1.

(3) https://fragdenstaat.de/dokumente/4123-wie-wir-covid-19-unter-kontrolle-bekommen/, S. 13.

(4) Dupuy zit. Walter Francois: Katastrophen: eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Reclam Verlag: Stuttgart 2010, S. 274f. Die beiden Werke von Jean-Pierre Dupuy, die sich diesem Thema widmen – Pour un catastrophisme éclairé. Quand l’impossible est certain, Seuil: Paris 2004 und Petite métaphysique des tsunamis, Seuil: Paris 2005 –, wurden noch nicht ins Deutsche übersetzt. Dupuy hat inzwischen über andere Katastrophen publiziert: La guerre qui ne peut pas avoir lieu: essai de métaphysique nucléaire, Desclée de Brouwer: Paris/Perpignan 2018 und La catastrophe ou la vie: pensées par temps de pandémie, Seuil: Paris 2021.

(5) Dupuy zit. n. Francois a.a.O., S. 274.

(6) Markus Lanz vom 9. Februar 2023. Zu Gast: Politiker Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte Markus Grill, Ärztin Dr. Agnes Genewein und Journalist Heribert Prantl. ZDF-Mediathek: https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-9-februar-2023-100.html

(7) Evaluation der Rechtsgrundlagen und Massnahmen der Pandemiepolitik. Bericht des Sachverständigenausschusses nach § 5 Abs. 9 IFSG: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/S/Sachverstaendigenausschuss/220630_Evaluationsbericht_IFSG_NEU.pdf, S. 70.

(8) Vgl. Jean-Pierre Dupuy: „Aufgeklärte Unheilsprophezeiungen. Von der Ungewissheit zur Unbestimmbarkeit technischer Folgen“. In: Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.): Unbestimmtheitssignaturen der Technik. Eine neue Deutung der technisierten Welt. Transcript Verlag: Bielefeld 2005, S. 81–102, hier: 93.

(9) Bergson zit. n. Dupuy a.a.O., S. 94.

(10) Dupuy a.a.O., S. 94f.

(11) Erich Vad und Florence Gaub: Wie der Ukraine-Krieg beendet werden könnte. 22.02.2023. ARD-Mediathek: https://www.ardmediathek.de/video/maischberger/erich-vad-und-florence-gaub-wie-der-ukraine-krieg-beendet-werden-koennte/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL21lbnNjaGVuIGJlaSBtYWlzY2hiZXJnZXIvMTRiZTE5MGUtMTk5Yy00YTM2LTllMjMtZjllZjQ2NzM1NzZh

(12) Joachim Krause. „Eskalationsphobie – eine deutsche Krankheit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 7. Februar 2023.

(13) Dupuy a.a.O., S. 93.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Author OKJaguar         /        Source   :     Own work        /       Date     :      16. April   2019

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Daten als neue Munition

Erstellt von DL-Redaktion am 10. März 2023

Ukraine nutzt KI von Palantir

Von Adrian Lobe

Die US-Datenfirma Palantir liefert Software an die Ukraine, um feindliche Truppenbewegungen zu verfolgen. Ist das rechtlich und moralisch vertretbar?

Zu den Eigentümlichkeiten des Ukraine-Kriegs gehört, dass er mit den militärischen Mitteln und Taktiken des 20. Jahrhunderts geführt, aber mit Instrumenten des 21. Jahrhunderts organisiert wird. Brutale Abnutzungskämpfe in Schützengräben wie im Ersten Weltkrieg stehen satellitengestütztem Internet und Kryptofinanzierung gegenüber. Vor Kurzem wurde bekannt, dass die Ukraine bei der militärischen Zielerkennung, dem sogenannten „Targeting“, eine Künstliche Intelligenz der US-Firma Palantir nutzt.

Die Software namens MetaConstellation, die Palantir der Ukraine kostenlos zur Verfügung stellt, verarbeitet massenhaft Daten von Satelliten, Flugzeugsensoren und Drohnen, um in Echtzeit feindliche Truppenbewegungen zu verfolgen. Palantir-Chef Alex Karp jubilierte, die „Macht ausgefeilter algorithmischer Waffensysteme“ sei mittlerweile vergleichbar mit dem Besitz einer taktischen Atomwaffe.

Die verbale Offensive überrascht, heißt es doch immer, man müsse in dem Konflikt „rhetorisch abrüsten“. Doch Karp kann sich solche forschen Töne erlauben. Palantir ist einer der größten Player im globalen Überwachungskapitalismus. Die vom rechts-libertären Investor Peter Thiel gegründete Firma, die in der Anfangsphase vom Wagniskapitalarm der CIA mitfinanziert wurde, liefert Analysesoftware an Behörden auf der ganzen Welt.

Durch die Hintertür zur Kriegspartei

Es ist ein lukratives, aber gleichsam verschwiegenes Geschäft. Zu den Kunden von Palantir gehören neben US-Geheimdiensten und -konzernen unter anderem auch die Polizei in Hessen, deren eingesetzte Fahndungssoftware HessenData jüngst vom Bundesverfassungsgericht für teilweise verfassungswidrig erklärt wurde. Das Überwachungsnetz, das die umstrittene Analysefirma über die Welt geworfen hat, ist so engmaschig, dass sich darin nicht nur Terroristen und Drogendealer, sondern auch Betrüger wie der mittlerweile verstorbene Börsenmakler Bernie Madoff verfangen haben. Und möglicherweise auch russische Kriegsverbrecher. Palantir-Chef Karp erklärte in kühl-technischem Militärjargon, die Software seines Unternehmens sei für den größten Teil des „Targetings“ in der Ukraine verantwortlich.

Dabei stellt sich aus völkerrechtlicher Perspektive eine wichtige Frage: Wenn Teile der Befehlskette, nämlich die datengestützte Zielverfolgung, an ein US-Unternehmen delegiert werden, werden dann die USA durch die Hintertür zur Kriegspartei? Es ist schon erstaunlich: Über die Lieferung von Panzern wird hitzig diskutiert, über die Lieferung von Software und Daten jedoch kaum. Dabei sind Daten im Krieg mindestens so wichtig wie Munition.

Das weiß auch Palantir-Chef Karp, der sich als Teil einer Guerilla-Truppe sieht, die nicht nur für den Westen, sondern auch für ihre Anteilseigner kämpft. Viele Anleger, die in das börsennotierte Unternehmen investierten, spekulierten auf eine steigende Nachfrage an Überwachungssoftware im „Global War on Terror“.

„Mehr Google als Lockheed“, so beschrieb das Tech-Magazin „Wired“ einmal die Unternehmenskultur von Palantir – mehr Suchmaschine als Rüstungskonzern. Die Webseite des Konzerns wirkt wie die eines Biolabors. In einem Imagefilm blicken Menschen in medizinischer Kleidung in Mikroskope und füllen Reagenzgläser ab, laufen Impfampullen und Einwegmasken vom Band; in einer fast schon rührenden Szene hält eine Pflegerin am Krankenbett die Hand einer Seniorin. Der Hintergrund: Palantir hat einen millionenschweren Deal mit dem britischen Gesundheitsdienst NHS geschlossen – die Bilder von fürsorgendem Pflegepersonal lassen sich besser vermarkten als die bewaffneter Soldaten. Doch vieles von dem, was die T-Shirt-tragenden Softwareentwickler in ihren hippen Start-up-Räumen zu Code verschrauben, landet am Ende bei der Polizei oder dem Militär.

Waffenfähige Daten

So konnte die US-Armee mit einer Mustererkennungssoftware von Palantir herausfinden, dass Terroristen im Irak Garagentüröffner als ferngesteuerte Detonatoren benutzen. Auch bei der Aufspürung des Verstecks von Osama bin Laden soll die dubiose Datenfirma eine Rolle gespielt haben. Wenn die Ukraine nun bei der militärischen Zielauswahl auf die Software von Palantir zurückgreift, ist das, zumindest instrumentell, eine Fortsetzung des Krieges gegen den Terror. Nur: Wo und von wem werden die Entscheidungen getroffen? Wie hoch ist die Trefferrate? Was, wenn die Künstliche Intelligenz sich irrt?

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil zu US-Drohneneinsätzen entschieden, dass die bloße Durchleitung von Datenströmen über eine Satelliten-Relaisstation an der Air Base Ramstein keine grundrechtlichen Schutzpflichten des deutschen Staates auslöst. Diese seien nur für „Handlungen oder technische Abläufe auf deutschem Staatsgebiet“ zu bejahen, „die einen relevanten Entscheidungscharakter aufweisen“. Das wäre zum Beispiel die Erstellung von Ziellisten oder Auswertung von Informationen.

Quelle         :         TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben     —       World Economic Forum 2022, Dev, panel discussion

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Die Diktatur des Verzichts

Erstellt von DL-Redaktion am 9. März 2023

Die ideologische Mobilisierung der Massen zu Verzicht

Sitz in Hannover

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Iwan Nikolajew

Zur Kriegswirtschaft und Krieg, exemplarisch dargestellt an Ulrike Herrmann.

  1. Prolog

Mit dem Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes flüchtet die Bourgeoisie in Krieg, Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft. Der naturwüchsig entstehende multipolare Weltmarkt, vor allem in seiner ersten Phase, ist tief geprägt von Krieg und Kriegswirtschaft und damit von schweren Angriffen auf das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse. Der zentrale Krieg des Kapitals ist immer der Klassenkrieg gegen die Arbeiterklasse, d.h. der Klassenkrieg, bzw. der Klassenkampf, ist die zentrale Achse des Kapitalismus. Und jeder Krieg ist ein Krieg gegen die Arbeiterklasse, jede Kriegswirtschaft ist ein Krieg gegen die Arbeiterklasse, jeder Wirtschaftskrieg ist ein Krieg gegen die Arbeiterklasse. Die bürgerlichen Ideologen mobilisieren für Krieg und Kriegswirtschaft, beides ist voneinander nicht zu trennen. Ulrike Herrmann steht exemplarisch für die bürgerliche Mobilisierung zu Krieg, Wirtschaftskrieg, Kriegswirtschaft.

  1. Diktatur des Verzichts

Mit dem neuen Krisenschub der Großen Krise steht der Verzicht der Arbeiterklasse wieder im Mittelpunkt der Klassenauseinandersetzung. Die Forderungen nach Opfer, die gebracht werden müssen, werden lauter und beziehen auch Menschenopfer, ob durch Unterversorgung oder auf dem Schlachtfeld, mit ein. Verzicht ist ein Opfer zugunsten höherer Ziele. Diese Opfer, dieser Verzicht, darf vom bürgerlichen Staat eingefordert, erzwungen, werden. Der bürgerliche Staat übt die Zwangsgewalt über die Arbeiterklasse aus. Wer nicht „freiwillig“ verzichtet, wird zum Verzicht gezwungen.

Das Kapital flüchtet in Krisenzeiten in die „Nation“. Die “Nation“ ist eine Zwangs- Opfergemeinschaft der Arbeiterklasse, wo die Arbeiterklasse auf dem Altar der Akkumulation ihr gesellschaftlich notwendiges Reproduktionsniveau opfern soll, während das Kapital nichts opfert als die Arbeiterklasse. In der „Nation“ wird die Arbeiterklasse zum Opfer konditioniert; Opfer für die „Nation“ sind notwendig und alternativlos. Die „Nation“ selektiert die Opfer. Widerstand gegen diese Politik ist ein „Angriff auf die nationale Sicherheit“. Der bürgerliche Staat als ideeller Gesamtkapitalist erklärt die „nationale Sicherheit“ zum zentralen Paradigma seiner Politik und unterscheidet so nur noch über „Freund“ und „Feind“, denn die „nationale Sicherheit“ kennt nur „Freund“ oder „Feind“, aber keine andere Kategorie wie „Opposition“ oder „Neutralität“. Der „Feind“ kann nicht geduldet, er muß vernichtet werden. Eine „neutrale“ Position zur „nationalen Sicherheit“ bzw. „Staatssicherheit“ kann es nicht geben. Entweder man dient zum Wohle der „nationalen Sicherheit“ oder aber man steht gegen die „nationale Sicherheit“. Ein Drittes gibt es nicht. Wer für die „nationale Sicherheit“ steht ist ein „Freund“ und darf am Leben bleiben; wer gegen die „nationale Sicherheit“ steht, ist ein „Feind“ und darf nicht am Leben bleiben. In letzter Instanz bedeutet unter einem Regime der „nationalen Sicherheit“ „Freund“ nichts Geringeres als Leben und „Feind“ ist ein synonym für Tod. Opfer ist Verzicht. –für die Arbeiterklasse: Verzicht auf Momente gesellschaftlich notwendiger Reproduktion und damit indirekt auch ein Verzicht auf Leben. Die Arbeiterklasse hat nichts Überflüssiges, auf das sie verzichten könnte. Im Durchschnitt ermöglicht ihr gesellschaftlich notwendiges Reproduktionsniveau nur die Existenz als Lohnarbeiter. Jeder Verzicht senkt das Reproduktionsniveau der Ware Arbeitskraft unter das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau und gefährdet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft als Ware Arbeitskraft, gefährdet die soziale und physische Existenz der Arbeiterklasse, ist somit ein Angriff auf das Leben des Lohnarbeiters. Die „soziale Sicherheit“ der Arbeiterklasse steht im Widerspruch zur „nationalen Sicherheit“ des Kapitals, die immer nur „Sicherheit der Akkumulation von Kapital“ und damit nur „Sicherheit von Ausbeutung“ sein kann. Das Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse garantiert nur das gesellschaftliche Überleben als Arbeiterklasse. Dieses gesellschaftliche Überleben ist nicht mit dem physischen Überleben zu verwechseln, denn das gesellschaftliche Überleben ist gesellschaftlich-historisch und nicht physisch bestimmt. Das gesellschaftliche Überleben bzw. die Reproduktion der Arbeiterklasse ist eine historische Entwicklung und Produkt von Klassenkämpfen. Das physische Minimum reicht zum Überleben der Ware Arbeitskraft nicht aus

Die gesellschaftlich notwendige Reproduktion der Ware Arbeitskraft realisiert sich unter der politischen Form der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie, denn nur dort kann die Arbeiterklasse Eroberungen im Kapitalismus machen und verteidigen, nur dort kann sie über ihre proletarischen Massenorganisationen eine relative proletarische Gegenmacht entwickeln und im Durchschnitt sogar langsam ein wenig das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Ware Arbeitskraft erhöhen, damit die Abnutzung der Ware Arbeitskraft im Ausbeutungsprozeß tendenziell kompensiert wird. Hingegen verlangt eine „Politik der nationalen Sicherheit“ nach einer Form des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus), denn diese läßt keinen Raum für proletarische Eroberungen im Kapitalismus, zerstört offen oder verdeckt die reformistischen proletarischen Massenorganisationen. Eine Verzichtspolitik in Form einer Deflationspolitik kann nur realisiert werden, wenn eine Form des bürgerlichen Ausnahmestaates diese Politik absichert. Einen „demokratischen Verzicht“ gibt es nicht, nur ein autoritärer antidemokratischer Verzicht ist möglich und wird notfalls erzwungen, wenn sich die Arbeiterklasse nicht „freiwillig“ unterwirft.

Deshalb die verstärkten Notstandsdiskussionen seit 2019, tendenziell parallel mit dem neuen Krisenschub der Großen Krise seit Herbst 2019. Notstand heißt Verzicht. Mit der „Corona-Krise“ realisiert sich die erste Phase des Notstands. Die „Corona-Krise“ ist nur die erste Phase der notwendigen Entwertung des Kapitals im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate als durchschnittliche Bewegungsform des Kapitals und fällt mit der Corona-Pandemie zusammen, welche nur ein zufälliger Auslöser der notwendigen Entwertung des Kapitals ist. Wäre es nicht die Corona-Pandemie, wäre es ein anderer Auslöser. Das Kapital reagiert mit dem Notstand, weil deutlich ist, daß hinter dem Schleier der Corona-Krise tiefergehende Krisenprozesse, Entwertungsprozesse, ablaufen, welche durch die Corona-Pandemie zufällig aktiviert wurden und versucht vermittels Notstand die Entwertungsprozesse unter Kontrolle zu halten. Die zweite Phase der Entwertungsprozesse wird durch den Ukraine-Krieg eingeleitet, der zu einem tendenziellen Energienotstand führt, da der transatlantische antirussische Wirtschaftskrieg, vor allem die EU, von ihrer Energieversorgung abschneidet. Die Entwertungsprozesse des Kapitals haben eine Größenordnung erreicht, daß sie eine Neuzusammensetzung des Kapitals- Neuzusammensetzung des Kapitals erzwingen und dies erfordert auch eine Neuzusammensetzung des bürgerlichen Staates in der Form des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus). Diese Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse realisiert sich auf internationaler Ebene, in Form einer neuen Weltmarktstruktur und einer neuen internationalen Ordnung, d.h. in einer Neuzusammensetzung der imperialistischen Kette. Hier geht es konkret um die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette, denn nur ein Hegemon kann diese ordnen und konkret ausrichten, dieser imperialistischen Kette eine gewisse Stabilität geben und damit auch der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Nur ein Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette kann die Akkumulation des Kapitals weltweit tendenziell stabilisieren und die bürgerliche Klassenherrschaft festigen. Eine stabile Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse verlangt nach einem Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette, welcher dort als Schiedsrichter fungiert und die innerimperialistischen Konflikte regelt und vor allem entscheidet. Der bisherige US-Hegemon hat seine herausragende Position innerhalb der imperialistischen Kette durch die Große Krise seit 2007/2008 verloren. Das mehrwertheckende US-Kapital ist zu schwach, um den Überbau des fiktiven Kapitals zu tragen; der US-Imperialismus muß sich erst wieder Re-Industrialisieren. Die Schwäche der US-Mehrwertproduktion versuchte der US-Imperialismus schon präventiv vor dem Ausbruch der Großen Krise mit politischen Aktionen zu überspielen und zu kompensieren. Der US-Dollar war Weltgeld und damit hatte der US-Imperialismus das Privileg sich in seiner eigenen Währung zu verschulden. Die hohen Doppeldefizite konnte nur auf diese Weise der US-Imperialismus finanzieren und damit hängt der US-Imperialismus am US-Dollar. Jedoch konnte der US-Dollar nur solange Weltgeld bleiben, wie es gelingt, den US-Dollar bzw. das US-Kapital insgesamt, mit Wert zu unterfüttern. Eine Bedrohung des US-Dollar ist damit eine Bedrohung der „nationalen Sicherheit“ der USA. Der Ausgriff des US-Imperialismus auf die strategischen Rohstoffe, vor allem Öl und Gas, des Mittleren Ostens in der Operation Syriana zur „Neuordnung“ des Mittleren Ostens diente zur Unterfütterung des US-Dollar mit Wert. Legitimiert wurde diese Operation Syrien durch die vom US-Imperialismus inszenierten Terroranschläge des 11. September 2001. Diese US-Kolonialkriege richteten sich indirekt gegen die schärfsten Weltmarktkonkurrenten des US-Imperialismus, gegen den russischen Imperialismus und gegen China. China sollte von seiner Mineralölversorgung aus dem Mittleren Osten abgeschnitten werden und Rußland sollte sein Einflußfeld in Eurasien verlieren. Mit der Niederlage der US-Kolonialkriege im Mittleren Osten ist dann auch die indirekte imperialistische Konfrontation mit dem russischen Imperialismus zu Ende und transformiert sich tendenziell immer näher einer offenen imperialistischen Auseinandersetzung, wie jetzt in der Ukraine. Die Zeit der Kolonialkriege ist vorbei. Es beginnt die Zeit der imperialistischen Großkonflikte. Und auch der US-chinesische Konflikt wird immer unmittelbarer. Auch hier steht eine unmittelbare Auseinandersetzung kurz bevor. Mit dem Scheitern der US-Kolonialkriege im Mittleren Osten verliert der US-Imperialismus auch seine Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette. Die nun folgende notwendige Großauseinandersetzung mit dem russischen Imperialismus und China ist schon eine Auseinandersetzung über die nachhegemoniale Rolle des US-Imperialismus innerhalb der imperialistischen Kette. Über die US-Kolonialkriege als indirekte US-Auseinandersetzung mit China und Rußland sollten China und Rußland weiterhin im US-garantierten neoliberalen Weltmarkt gefangen gehalten werden. Mit dem Scheitern dieser US-Politik brach der neoliberale Weltmarkt zusammen und transformierte sich naturwüchsig in den multipolaren Weltmarkt. Die Flucht nach vorn des US-Imperialismus in eine extrem expansionistische Politik als Kompensation für die sozioökonomische Schwäche führte notwendig in den Abgrund und an den Rand des Dritten Weltkrieges. Nur eine Revitalisierung der US-Mehrwertproduktion Anfang des 21. Jahrhunderts hätte die US-Hegemonie gesichert. Stattdessen expansionierte der US-Imperialismus in eine Sackgasse. Als erste Reaktion auf den Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes und der realen Existenz des multipolaren Weltmarktes griff das Kapital weltweit tendenziell auf die Kriegsökonomie zurück. Diese autoritären Tendenzen manifestieren sich seit dem Jahr 2020 in der „Corona-Krise.“ Die „Corona-Krise“ ist nur der oberflächliche Ausdruck für den letzten Krisenschub der Großen Krise, welcher im Jahr 2020 den neoliberalen Weltmarkt zusammenbrechen ließ. Seitdem ist der Weltmarkt durch tendenziellen Kriegsökonomien geprägt und damit auch durch Wirtschaftskriege. Über die Wirtschaftskriege wird zentral die multipolare Weltmarktkonkurrenz ausgetragen, sie sind keine Ausnahme, sondern die Norm. Der Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes produziert notwendig „Feinde“. Konkurrenten werden zu „Feinden“. Ein Notstandsstaat wird notwendig, um in der multipolaren Weltmarktkonkurrenz bestehen zu können, denn die Not der Akkumulation verlangt nach einem Notstandsstaat und somit nach einer Not der Arbeiterklasse, denn nur die Not der Arbeiterklasse kann die Not der Akkumulation verhindern. Der Notstand wird zur „neuen Normalität“ und reflektiert konkret-spezifisch die Herausbildung des multipolaren Weltmarktes und der multipolaren Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Die imperialistische Kette spaltet sich in imperialistische Blöcke auf. Multipolare Weltmarktkonkurrenz ist eine imperialistische Blockkonkurrenz. Es kommt zu einer internen Vereinheitlichung eines jeden imperialistischen Blocks bei gleichzeitiger Desintegration im Verhältnis zu anderen imperialistischen Blöcken, welche somit zu „Feinden“ werden. Zwischen den verschiedenen imperialistischen Blöcken gibt es nur noch eine geringe ökonomische Verflechtung und damit nur noch geringe gemeinsame Interessen. Dann steigert sich die Konkurrenz zur Feindschaft. Mit der Ukraine-Krise kappt der deutsche Imperialismus erst einmal alle seine ökonomischen Verbindungen mit dem russischen Imperialismus und läßt nur noch einen geringen ökonomischen Austausch zu. Der Wirtschaftskrieg zerstört die ökonomischen und politischen Bindungen zwischen Rußland und Deutschland und beschädigt sogar die kulturellen Beziehungen. Der Ukraine-Krieg setzt eine Feindschaft zwischen dem deutschen und russischen Imperialismus und damit potentiell den Krieg, konkret, den Dritten Weltkrieg. Mit der aufziehenden imperialistischen Kriegsgefahr zieht auch der Notstand auf, konkret in der Form des Energienotsandes, da der deutsch-transatlantische Wirtschaftskrieg die deutsche Energieversorgung stark beschädigt. Handel zwischen den imperialistischen Blöcken wird im Prinzip als „Gefahr für die nationale Sicherheit“ eingestuft.

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Pressekonferenz von „Totalverweigerern des Wehrdienstes“ aus Ost- und Westdeutschland mit Renate Künast (AL), Januar 1990

Ideologisch wird der Energienotstand auch versucht als Klimanotstand zu rechtfertigen, als die „Neue Normalität“. Damit wird dann ideologisch der transatlantische antirussische Wirtschaftskrieg und auch der Ukraine-Krieg gegen Rußland zum Klimakrieg bzw. Klimanotstandskrieg, zu einem „guten Wirtschaftskrieg“ bzw. „guten Krieg“. Rußland wird zum „äußeren Feind“ ideologisch aufgerüstet. Nicht nur wegen dem Ukraine-Krieg, welcher die transatlantische Hegemonie beseitigt, bzw. die „Werte des Westens“, sondern auch, weil Rußland fossile Energieträger im großen Maßstab exportiert. Diese beiden Momente fallen im antirussischen Feindbild zusammen, „Klimazerstörer“ und gleichzeitig „Aggressor“. Deshalb unterzeichnet Ulrike Herrmann auch Aufrufe, die „Waffen für die Ukraine“ fordern und gleichzeitig fordert sie den „Klimanotsand.“ Es ist das unheilige Band von „Corona-Notstand“, „Klimanotstand“, „Energienotstand“ und imperialistischen Ukraine-Krieg, welches die Arbeiterklasse fesseln und zum Verzicht zwingen soll und repräsentiert an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse den Krisenschub der Großen Krise. Es entsteht ein Notstandskapitalismus, der ideologisch nicht mehr als Kapitalismus bezeichnet werden darf, sondern als „Überlebenswirtschaft“ in die ideologische Sprachregelung der Bourgeoisie eingeführt wird. So wird der Notstandskapitalismus zur „Überlebenswirtschaft“, welche den Kapitalismus ersetzten soll. Welche die Gesetzmäßigkeiten sind, welche die „Überlebenswirtschaft“ zur eigenständigen Produktionsweise machen, bleibt offen. Da der „ökologische Fußabdruck“ des Kapitalismus zu groß ist, droht er automatisch zusammenzubrechen und kann nur durch eine „Überlebenswirtschaft“, durch eine Notstandsökonomie, ersetzt werden.

„Die nächste Epoche wird daher eine „Überlebenswirtschaft“ sein müssen, die den Kapitalismus überwindet“ (Ulrike Herrmann: Raus aus der Wachstumsfalle, in Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2022, S. 57 ff, im fortfolgend abgekürzt mit Ulrike Herrmann)

Real ist die „Überlebenswirtschaft“ nur eine kapitalistische Notstandsökonomie, eine „Rationierungsökonomie“ im Sinne einer kapitalistischen Kriegswirtschaft. Auch eine Notstandsökonomie bricht nicht mit dem Wertgesetz, daß Wertgesetz wird nur modifiziert, indem es bürokratisch überformt wird. Doch das Privateigentum an Produktionsmitteln, die unabhängig voneinander existierenden Privatarbeiten für einen anonymen Markt, wird nur modifiziert, nicht aber angetastet. Neben die Rationierung durch das Wertgesetz tritt die bürokratische Rationierung des bürgerlichen Staates als ideellen Gesamtkapitalisten. Über eine Rationierung durch den bürgerlichen Staat wird dann die gesellschaftlich notwendige Reproduktion der Ware Arbeitskraft drastisch abgesenkt, entwertet. Das Ziel soll sein, daß nur so viel produziert wird, wie recycelt werden kann.

„Auch mangelt es nicht an Visionen, wie eine ökologische Kreislaufwirtschaft aussehen könnte, in der nur noch so viel verbraucht wird, wie sich recyceln lässt, Stichworte sind unter anderem Tauschwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, Konsumverzicht, Arbeitszeitverkürzung oder bedingungsloses Grundeinkommen“ (Ulrike Herrmann: a.a.O)

Politisch geht es um den Konsumverzicht der Arbeiterklasse und damit um die qualitative Absenkung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus der Arbeiterklasse. Auffällig ist, daß hier sehr detailliert sich über den Sektor II der Volkswirtschaft, dem Sektor der privaten Konsumtion, ausgelassen wird, nicht aber über den Sektor I, dem Sektor, wo Produktionsmittel produziert werden und welcher das Akkumulationszentrum des Kapitalismus ist. Es geht also zentral um die Rationierung des Konsumwaren produzierenden Sektors, nicht aber um die Rationierung des Produktionsmittel produzierenden Sektors. Im Resultat: Es geht damit also um die Rationierung der Arbeiterklasse, nicht aber um die Rationierung des Kapitals. Natürlich kann man nicht dauerhaft die Akkumulation der beiden Sektoren voneinander entkoppeln, doch zeitweise und tendenziell ist dies über eine Kriegswirtschaft möglich und wird im Falle kapitalistischer Kriege auch so realisiert. Es geht also nicht um eine langfristige und systematische ökologisch-soziale Reformpolitik, sondern um einen Notstand gegen die Arbeiterklasse, wobei die ökologische Dimension nur die Funktion hat, den Notstand zu legitimieren.

„Um sich das „grüne Schrumpfen“ vorzustellen, hilft es, vom Ende her zu denken. Wenn Ökostrom knapp bleibt sind Flugreisen und private Autos nicht mehr möglich. Banken werden ebenfalls überflüssig, denn Kredite lassen sich nur zurückzahlen, wenn die Wirtschaft wächst. In einer klimaneutralen Wirtschaft würde niemand hungern- aber Millionen von Arbeitnehmern müssten sich umorientieren. Zum Beispiel würden sehr viel mehr Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern“ (Ulrike Herrmann: a.a. O.)

Bei Ulrike Herrmann zielt der Notstandskapitalismus auf eine Schockpolitik und verlangt damit eine Notstandsdiktatur. Ihre ideologische Position wird das Kapital nicht teilen, denn es ist äußerst wirr und konfus. Ein Zurück in den Feudalismus wird es nicht geben, keine De-Industrialisierung und keine Politik a la Pol Pot in Kambodscha, sondern unter dem Schild eines „ökologischen Notstandes“ wird ein klassisch kapitalistischer Notstand exekutiert. Es geht dem Kapital nur um die Propaganda einer Schockpolitik, zumindest als Drohung. Dies ist der reale Kern in den bizarren Ausführungen einer Ulrike Herrmann, die reale Drohung des Kapitals, welches Ulrike Herrmann benutzt, um die Notwendigkeit des „progressiven Verzichts“ in den Massen, vor allem im Kleinbürgertum, zu verankern. Eine Politik a la Ulrike Herrmann würde eine enorme Massenarbeitslosigkeit und Massenverelendung bedeuten und den Tod von Millionen Menschen. Eine feudale Landwirtschaft wird nicht achtzig Millionen Einwohner Deutschland ernähren können. Es ist ein Programm für einen Völkermord, denn unter der Bedingung, daß nur so viel produziert werden darf, wie recycelt werden kann, reicht die Produktion nicht für die ganze Bevölkerung aus. Damit wäre dann der ökologische Fußabdruck reduziert, in dem die Bevölkerung reduziert wird. Bevölkerungsreduktion= Reduktion des ökologischen Fußabdrucks. Nicht ganz so radikal, aber auch noch radikal genug, wird die herrschende Klasse in diese Richtung marschieren, indem sie mit einer Schockpolitik droht. Um das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse drastisch zu senken, reicht schon die Drohung mit einer Schockpolitik aus. Die Arbeiterbürokratie wird alles versuchen dies zu verhindern und dem Kapital Angebote unterbreiten, „freiwillig“ das gesellschaftliche Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse abzusenken, um so gesellschaftliche Verwerfungen durch eine offene Klassenkonfrontation zu vermeiden und kleine Zugeständnisse auszuhandeln. Eine „Politik