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Archiv für die 'Arbeitspolitik' Kategorie

Kolumne FERNSICHT Israel

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Juli 2023

Fromme Fundamentalisten vereint im Hass

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Von Hagan Dagan

Die USA initiierten jüngst eine scharfe Verurteilung der Anti-LGBT-Gesetze in Ungarn, der sich über 30 Länder anschlossen, darunter die Bundesrepublik. Das einzige europäische Land, das die Kritik verweigerte, war Polen. Auch Israel unterzeichnete die Stellungnahme nicht, obschon das Weiße Haus Jerusalem ausdrücklich dazu aufgefordert hatte. Grund für die israelische Haltung dürften die engen Beziehung zwischen Jerusalem und Budapest sein.

In den vergangenen Jahren sind sich Benjamin Netanjahu und Viktor Orbán noch näher gekommen. Rechte Politiker aus dem Umfeld Netanjahus reisen regelmäßig nach Budapest und preisen die weltanschaulichen Übereinstimmungen der Rechten Israels und Ungarns. Umgekehrt machen sich die Ungarn innerhalb der EU für Israel stark, wenn es um eine Verurteilung der israelischen Politik geht. Aber das ist nicht die ganze Geschichte.

Über Jahrzehnte war Israel ein konservatives Land, allerdings nicht im religiösen, sondern im sozialistischen Sinne. Die Jugendbewegung, der ich im Kibbuz angehörte, nannte sich „Hashomer Hatzair“, zu Deutsch: „der junge Wächter“, der, wie wir auswendig lernen mussten: „nicht trinkt, nicht raucht und sexuelle Reinheit bewahrt“. In den 90er Jahren wurde die Gesellschaft offener, entspannter und befreiter, vor allem in der Tel Aviver „Blase“. Außerhalb der Stadtgrenzen fand bisweilen genau das Gegenteil statt. Dort nahm der Einfluss der konservativen und fundamentalistischen Gruppen nur noch zu. Diese Gruppen standen auch unter dem Einfluss der Rechts-Religiösen in den USA, und so kam es, dass ein Teil der israelischen Rechts-Religiösen weniger vom „heiligen Land“ und dem unteilbaren Großisrael sprach, als von Geschlechtertrennung und der Wahrung der Jungfräulichkeit. Im Laufe der Jahre wurde die Auseinandersetzung mit dem Thema LGBT, allen voran schwule Männer, zu einer regelrechten Obsession. Ultraorthodoxe propagierten Kon­ver­sions­the­ra­pien und beschimpften Homo­sexuel­le als schmutzige, wilde Tiere, die sich wider die Natur verhielten. Infolge der letzten Parlamentswahlen zogen Vertreter dieser Gruppen in die Regierung Netanjahus ein. Dort sind sie Herren über umfangreiche Budgets, die es ihnen ermöglichen, ihre verstörenden, abscheulichen Vorstellungen in das israelische Bildungssystem einfließen zu lassen.

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So entsteht eine dichotome, brisante Situation. Während in Tel Aviv riesige Pride-Partys stattfinden, die gesamte Stadt und die Knesset in Jerusalem die Regenbogenfahne hisst, steht ein großer Teil der israelischen Gesellschaft der Queer-Community durch und durch feindselig gegenüber. In manchen Gegenden riskieren offen homosexuell lebende Menschen Übergriffe. Ein Abgeordneter verkündete jüngst in der Knesset, dass Queers „gefährlicher als der IS“ seien. Die Pride-Paraden finden zwar fast im ganzen Land statt, aber außer in Tel Aviv müssen sie polizeilich vor eventuellen Angriffen geschützt werden. In Jerusalem hat vor wenigen Jahren ein religiöser Fanatiker ein junges Mädchen im Verlauf der Pride-Parade erstochen. Die Lage im arabischen Sektor ist noch schlechter. Dort wurde vor Kurzem eine junge lesbische Frau von Familienangehörigen getötet.

Quelle          :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grün als Bedrohung :

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Juli 2023

Warum die Klimapolitik die Arbeiter verliert

Von Klaus Dörre

In der April-Ausgabe analysierte der Soziologe Sighard Neckel, wie der Reichtum einer globalen Verschmutzerelite das Klima ruiniert. An die Gerechtigkeitsfrage anknüpfend beleuchtet sein Kollege Klaus Dörre, inwieweit der persönliche Klimafußabdruck von der jeweiligen Klassen- position abhängt und welche Resonanz die deutsche Klimapolitik in der Arbeiterschaft hervorruft.

Auf die Frage, wie er die Klimabewegung einschätze, antwortet ein Arbeiter und angehender Vertrauensmann der IG Metall: „Als gefährlich!“ Gefährlich, weil sie die dem Befragten eigene Vorstellung eines guten Lebens bedrohen – und so in eine harte Ablehnung ökologischer Politik umschlagen könne, wie wir sie momentan auch zum Beispiel in der Debatte um die Wärmepumpen erleben. Daran zeigt sich: Ohne eine echte Auseinandersetzung über Klimagerechtigkeit – und wie diese herzustellen sei – wird die Klimakrise nicht zu bewältigen sein.

Als demokratischen Klassenkampf hatte einst Ralf Dahrendorf tariflich und arbeitsrechtlich geregelte Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit bezeichnet. Den institutionalisierten Kampf um die Verteilung des gesellschaftlich erzeugten Mehrprodukts von Arbeit gibt es noch immer. Doch mit Blick auf Klimawandel, Artensterben und Ressourcenknappheit hatte er, so schien es, seine gesellschaftsprägende Kraft mehr und mehr verloren. „Not ist hierarchisch, Smog demokratisch“, hieß es vor jetzt bald 40 Jahren in Ulrich Becks „Risikogesellschaft“, sprich: Unter der Klimakrise leiden alle gleichermaßen. Doch das war schon damals eine Fehlannahme.[1]

Gewiss, ökologische Großgefahren wie die des Klimawandels betreffen alle, aber eben nicht in gleicher Weise und sie machen auch nicht alle gleich. Im Gegenteil: In Gesellschaften, in denen der demokratische Klassenkampf öffentlich marginalisiert wird, kann sich, so meine These, der ökologische Gesellschaftskonflikt in einen Modus ideologischer Beherrschung verwandeln – und zwar gerade, wenn auch nicht nur, der ökonomisch Schwachen. In Klassenlagen, die von den Zwängen des Lohns und der Lohnarbeit geprägt werden, löst das massive Widerständigkeiten aus, die als gewaltiger Bremsklotz für Nachhaltigkeit wirken und letztlich populistischen, antiökologischen Bewegungen Auftrieb verleihen.

Nehmen wir dafür ein Beispiel aus unseren laufenden Erhebungen in der Auto- und Zulieferindustrie, nämlich den oben bereits erwähnten Arbeiter, der die Klimabewegung als gefährlich einschätzt. Er bezeichnet sich selbst als „Autonarr“, der große Freude dabei empfindet, seinen PKW auf „weit über 220 km/h zu tunen“, um auf der Autobahn Teslas zu jagen, bis diese „mit überhitztem Motor von der Spur müssen“. Sein Hobby kann er sich leisten, weil er bei Opel arbeitet. Das heißt für einen Beschäftigten, der in Gotha lebt: um 3:20 Uhr aufstehen, damit pünktlich zur Frühschicht um 5:30 Uhr gearbeitet werden kann; Tätigkeit in 50-Sekunden-Takten; die Arbeitszeit unterbrochen von zwei Neun-Minuten-Pausen und einer 23-Minuten-Mittagspause; eine Stunde vor der Mittagspause „ist man platt“.[2]

Warum ist der Befragte bereit, diese monotone, körperlich enorm belastende Arbeit jeden Tag auszuführen? Er nennt dafür drei Gründe – 3800 Euro brutto, für Arbeiter in Thüringen ein Spitzenverdienst; Kolleginnen und Kollegen, die für ihn „wie eine Familie“ sind und schließlich der Schutz durch einen Tarifvertrag und einen starken Betriebsrat – also aufgrund von Sozialeigentum, das im Osten der Republik alles andere als selbstverständlich ist. Kurzum: Die Zwänge des Arbeitslebens nimmt der Befragte letztlich vor allem deshalb in Kauf, um in seiner Freizeit, wie er sagt, wirklich frei zu sein. Wie er lebt, was er nach der Arbeit macht, will er sich unter keinen Umständen vorschreiben lassen. Und das schon gar nicht von Leuten mit privilegiertem Klassenstatus, die von „Bandarbeit nichts wissen“, sich aber moralisch überlegen fühlen. Das ist der Grund, weshalb der angehende Vertrauensmann die Klimabewegung und vor allem die grüne Partei als Gegner betrachtet.

Hinzu kommt: Angehörige der Arbeiterklasse nehmen sich selbst häufig als – mehrfach abgewertete – Statusgruppe wahr. Arbeiter wird man nur, wenn man es muss; wer kann, „studiert oder geht ins Büro“. Lebt man im Osten, auf dem Land und ist ein Mann, wird die Abwertung und öffentliche Nichtbeachtung der eigenen Lebensweise umso schmerzlicher erfahren.

»Hauptursache für die steigende Emissionslast sind die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.«

All das sind Gründe dafür, weshalb die imaginäre Revolte einer radikalen Rechten, die den Klimawandel leugnet oder stark relativiert, mit ihrer fiktiven Aufwertung des Lebens „normaler“ Arbeiter sich inzwischen selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern Gehör verschaffen kann. Man rebelliert dabei gegen einen Modus ideologischer Beherrschung, der sich in unterschiedlichen Facetten in zahlreichen Segmenten der neuen Arbeitswelt findet.

Dabei sind, wie unsere Untersuchungen ebenfalls belegen, Klimawandel, Artensterben und andere ökologische Großgefahren selbst in den untersten Klassensegmenten subjektiv durchaus relevant. Allerdings – und das ist das zentrale Problem – verschwindet die soziale Dimension von Nachhaltigkeit im öffentlichen Diskurs fast völlig.

Dabei hängt der persönliche Klimafußabdruck eindeutig von der jeweiligen Klassenposition ab, wie Lucas Chancel in seiner jüngsten Untersuchung über soziale Ungleichheit und klimaschädliche Emissionen gezeigt hat. Die Emissionen der ärmeren Bevölkerungshälfte in Europa und Nordamerika sind zwischen 1990 und 2019 um mehr als ein Viertel zurückgegangen, während sie in den (semi-)peripheren Ländern im gleichen Ausmaß zugenommen haben. Das heißt, die untere Hälfte der Einkommens-/Vermögensgruppen in Europa und Nordamerika hat Werte erreicht, die sich denen der Pariser Klimaziele für 2030 mit einer jährlichen Pro-Kopf-Emissionslast von etwa zehn Tonnen in den USA und etwa fünf Tonnen in europäischen Ländern zumindest annähern oder diese gar erreichen. Die wohlhabendsten ein Prozent emittierten 2019 hingegen 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren, die reichsten 0,01 Prozent legten gar um 80 Prozent zu.[3]

Hauptursache für die steigende Emissionslast sind dabei die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.[4] Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass Produktions- und Investitionsentscheidungen in der Regel nur von Mitgliedern herrschender Klassenfraktionen, also von winzigen Minderheiten getroffen werden (nach unserer Heuristik 1,2 Prozent). Diese Entscheidungen beeinträchtigen jedoch das (Über-)Leben vor allem derjenigen Klassen, die zum Klimawandel am wenigsten beitragen und die unter den Folgen der Erderhitzung am stärksten leiden.

Die Autoindustrie liefert dafür glänzendes Anschauungsmaterial. So haben die in der Bundesrepublik ansässigen Endhersteller im Herbst 2022 trotz Inflation, Chipmangel und gestörter Lieferketten ein „Traumquartal“ erlebt. Ihre Gewinne machten sie hauptsächlich mit hochpreisigen, spritfressenden bzw. energieintensiven Luxuslimousinen und SUVs. Preissteigerungen können in diesem Segment problemlos an die Kunden weitergegeben werden. Da die Großgruppe der Reichen und Superreichen künftig noch wachse, sei es eine herausragende Leistung der deutschen Automobilhersteller, in diesem Bereich die Spitzenposition zu besetzten; so würden Arbeitsplätze gesichert, argumentiert das Vorstandsmitglied eines großen Endherstellers im Interview.

Die Realerfahrung vieler Beschäftigter in den Karbonbranchen ist jedoch eine völlig andere. Bereits jetzt gehen Arbeitsplätze in erheblichem Ausmaß verloren. Allein die Umstellung auf E-Motoren könnte in Deutschland mehr als 250 000 Jobs kosten. Ob neue Arbeitsplätze, die es in diesem Bereich zweifellos auch geben wird, hierzulande entstehen, ist hingegen eine offene Frage.

Quelle        :         Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Guatemala: Failed State

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Juni 2023

Am 25. Juni wurde in Guatemala gewählt.

Guatemala City

Menschenrechte – davon hat auch in Europa kaum jemand etwas von gehört.

Ein Debattenbeitrag von Knut Henkel

Doch das Land wird von einer korrupten Elite kontrolliert. Daran sind die USA und die EU nicht unbeteiligt. Die letzte unabhängige Bastion der Demokratie war die Ombudsstelle für Menschenrechte.

Ganze 40 Jahre Haft für den Gründer und ehemaligen Direktor der kritischen Tageszeitung elPeriódico hat Guatemalas Staatsanwaltschaft am 30. Mai gefordert. Geldwäsche, Korruption und Erpressung werden dem 66-jährigen José Rubén Zamora vorgeworfen – belastbare Beweise: Fehlanzeige.

Der Fall ist der jüngste in einer langen Kette von Strafprozessen, die dazu dienen, diejenigen hinter Gitter zu bringen oder außer Landes zu drängen, die für ein anderes Guatemala stehen. José Rubén Zamora ist ohne jeden Zweifel so einer. Der hagere Mann mit dem zurückgekämmten Haar hat sich sein ganzes Leben lang für ein kritisches Mediensystem in Guatemala engagiert. Nun droht ihm, für Jahre weggesperrt zu werden – wie so vielen anderen auch.

Guatemala, das größte Land Mittelamerikas, dass hierzulande vielen für guten Kaffee, die Rui­nen der Maya-Hochkultur und wenigen für den überaus blutigen Bürgerkrieg (1960–1996) bekannt ist, schmiert ab. In gerade acht Jahren ist das Land, das im September 2015 noch als Hoffnung für einen „mittelamerikanischen Frühling“ galt, zu einem autoritären Regime mutiert. Die Präsidentschaftswahlen vom Sonntag, 25. Juni, sind dafür das beste Beispiel, denn erstmals wurde ganz offen manipuliert: nicht an der Urne und während der Stimmauszählung, sondern schon davor.

Indigene Kandidatin vorab ausgeschlossen

Schon vor der Wahl spielten sich zwei Gerichte, das Oberste Wahlgericht und das Verfassungsgericht, die Bälle zu: Drei Kandidat:innen, darunter die aussichtsreiche indigene Kandidatin Thelma Cabrera, waren von beiden Gerichten unter dubio­sen Begründungen von den Wahlen ausgeschlossen worden. Mit Edmond Mulet wartete am Ende ein vierter Kandidat auf sein endgültiges Urteil von der höchsten juristischen Instanz des Landes. Vieles deutete darauf hin, dass auch der ehemalige UN-Diplomat seine politischen Ambitionen beerdigen muss.

Thelma Cabrera.

Alles andere wäre eine Überraschung, denn viele der 17 Millionen Gua­te­mal­te­k:in­nen wissen, dass Richter und Richterinnen in Schlüsselpositionen in Guatemala mittlerweile handverlesen sind. Dafür sorgt ein intransparentes Nominierungssystem, das schon vor Jahren hätte reformiert werden sollen. Nun befindet es sich in den Händen einer korrupten und überaus mächtigen Allianz: des Pakts der Korrupten.

So wird das Bündnis aus Militärs, einflussreichen Unternehmerfamilien, korrupten Politikern und der organisierten Kriminalität genannt, das sich ab 2015 langsam reorganisierte und peu à peu die Institutionen übernahm. Die Justiz war zwischen 2007 und 2015 zu einem immer unbequemeren und unkalkulierbaren Faktor geworden.

Das hatte seinen Grund, denn seit dem Dezember 2006 war die UN-Kommission ­gegen Straflosigkeit in Guatemala (Cicig) im Einsatz und sorgte dafür, dass sich die Strukturen im Justizsektor spürbar änderten. Richter:innen, die die Hand aufhielten, wurden vor die Tür gesetzt, neue Gerichtshöfe eingerichtet. All das sorgte 2015 für eine demokratische Zäsur: den unfreiwilligen Rücktritt von Präsident Otto Pérez Molina.

Der ehemalige General des militärischen Geheimdiensts verlor, nachdem die Ermittlungsbehörden ordnerweise Beweise für Korruption ins Parlament gekarrt hatten, am 1. September 2015 seine Immunität. Am nächsten Tag trat er zurück, und 150.000 Menschen ­feierten vor dem Nationalpalast die für Guatemala vollkommen ungewohnte Sternstunde der Demo­kratie. Selbst Experten wie der Menschenrechtsanwalt Edgar Pérez witterten Morgenluft und sahen ein Land auf der Kippe: zwischen Demokratie und dem Rückfall in autoritäre Strukturen.

Zwei Jahre später, im Sommer 2017, sorgte Präsident Jimmy Morales für eine Zäsur: er attackierte die international hochgelobte UN-Kommission Cicig. Zentraler Grund für die Attacken aus dem Präsidentenpalast war die Tatsache, dass die Cicig nicht nur gegen einen Sohn und den Bruder des Präsidenten, sondern auch gegen Morales selbst wegen illegaler Wahlkampffinanzierung er­mittelte.

An den Parallelstrukturen gescheitert

Das war zu viel für den korrupten Präsidenten, der für eine mit ehemaligen Militärs durchsetze national-konservative Partei ange­treten war. Erst erklärte er den damaligen Direktor der Cicig, den kolumbianischen Richter und heutigen kolumbianischen Verteidigungsminister Iván Velásquez, zur unerwünschten Person und entzog dann der Cicig im September 2019 ihr Mandat.

Quelle         :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Eine bittere Kiwi Ernte

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Juni 2023

Die pontinische Ebene gehört zu den fruchtbarsten Gegenden Italiens. 

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Von  :    CHARLOTTE AAGAARD   —   KUSUM ARORA  —  FRANCESCA CICCULLI   —   STEFANIA PRANDI

Hier werden Kiwis angebaut, die in ganz Europa gegessen werden. Auf den Feldern arbeiten viele Inder. Oft unter unwürdigen Bedingungen, gefan­gen in einem System aus Schulden und Angst.

Sie kamen am Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Der abgelegene Bauernhof außerhalb von Borgo Sabotino, einer 2.000-Einwohnergemeinde südlich von Rom, lag noch in der Dunkelheit. Es war der 17. März 2017. Ein Datum, das Balbir Singh nie vergessen wird.

In der Dunkelheit tauchten zwölf bewaffnete Männer auf. „Ich hatte wirklich Angst“, erzählt Balbir Singh. „Der Hofbesitzer rief mir zu, ich solle weglaufen. Aber das tat ich nicht.“ Und darüber ist er heute froh.

Die Männer in Zivil zeigten ihm ihre Ausweise. Es waren italienische Polizisten. Sie baten Balbir Singh mitzukommen. „Meine Kleidung war schmutzig. Ich hatte tiefe Wunden an Händen und Füßen, meine Nägel bluteten. Aber es war ein großer Tag“, sagt Balbir Singh. „Kurz vor unserer Abfahrt sah ich, dass die Polizisten den Bauern und seine Frau verhaftet hatten.“

Sechs Jahre Ausbeutung mit Gewalt, Drohungen, ausbleibender Bezahlung, Hunger und Entbehrungen hatten für Balbir Singh, einen ehemaligen Englischlehrer und langjährigen Landarbeiter aus der indischen Region Punjab, damit ein Ende. „Sechs Jahre in der Hölle“, nennt er die Zeit heute.

Sie endete, als er über einen indischen Landsmann Kontakt zu dem italienischen Soziologen und Menschenrechtsaktivisten Marco Omizzolo bekam. Omizzolo lehrt Sozialanthropologie an der Universität La Sapienza in Rom. Er setzt sich seit Jahren für die Rechte indischer Landarbeiter in Italien ein, dokumentiert Missstände und bringt sie zur Anzeige. 2016 organisierte er den ersten größeren Streik indischer Arbeiter in Italien mit. Wegen seines Engagements erhält er oft anonyme Drohungen, sein Auto wurde mehrmals beschädigt. Seit Jahren steht Omizzolo unter Polizeischutz, aus Sicherheitsgründen wohnt er selbst heute nicht mehr in der Region.

Omizzolo sorgte dafür, dass Balbir Singh über seinen indischen Bekannten ein Handy bekam, mit dem er ihm die Zustände auf dem Bauernhof über mehrere Wochen immer wieder schildern konnte. Mit den Informationen ging Omizzolo schließlich zur Polizei.

„Ich habe jeden Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet, sieben Tage die Woche“, erzählt Balbir Singh im Gespräch. „Obwohl ich nie einen freien Tag hatte, wurde mein Lohn immer weiter gekürzt. Am Ende gab es mehrere Monate, in denen ich überhaupt kein Geld mehr bekam.“ Er habe sich aus Geldmangel lange Zeit von altem Brot ernähren müssen und Essen aus Resten gekocht, die die Familie weggeworfen hatte. Er wohnte in einem alten Wohnwagen ohne Strom oder Heizung. Wenn er duschen wollte, erzählt er, habe er das im Stall tun müssen, nachdem alle anderen auf dem Hof bereits zu Bett gegangen waren oder bevor sie morgens aufstanden.

Es mag ein extremer Fall sein, was Balbir Singh erlebte, aber seine Geschichte zeigt, wie verletzlich indische Landarbeiter sind, wenn sie auf der Suche nach Arbeit nach Italien kommen – ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse, oft mit hohen Schulden bei zwielichtigen Vermittlern und mit der ständigen Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis wieder zu verlieren. Balbir Singh ist einer der wenigen, der sich wehrte und seinen ehemaligen Chef vor Gericht brachte.

Er ist der erste Migrant, dem in Italien eine Aufenthaltserlaubnis „aus Gründen der Gerechtigkeit“ erteilt wurde. Diese soll sicherstellen, dass er auf jeden Fall bis zum Ende des Gerichtsprozesses im Land bleiben kann. Ein rechtskräftiges Urteil steht in seinem Fall noch aus. Bei Prozessen mit Berufung kann es mehrere Jahre dauern, bis eine Entscheidung durch alle Instanzen gegangen ist.

In den vergangenen dreißig Jahren sind viele Inder auf der Suche nach Arbeit in die Agro Pontino, die pontinische Ebene, einem Gebiet südöstlich von Rom, gekommen. Offiziell gibt es in der Region Latina, in der die pontinische Ebene liegt, heute 9.500 indische Arbeiter. Nimmt man diejenigen dazu, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, die in benachbarten Regionen leben oder die noch nicht in der Statistik auftauchen, weil sie erst sehr kurz im Land sind, könnte die Zahl bei 30.000 liegen, schätzt Marco Omizzolo.

Auf den Straßen der Region sieht man oft indische Arbeiter mit bunten Turbanen, die mit ihren Fahrrädern von einem Feld zum nächsten fahren. Die meisten von ihnen sind als Arbeiter im Obst- und Gemüsesektor beschäftigt. Die Gegend ist eine der fruchtbarsten Italiens. Zu den beliebtesten Exportprodukten der pontinischen Ebene gehören Kiwis, die in Supermärkten in ganz Europa zu finden sind, auch in Deutschland.

Bei unseren Fahrten durch die Dörfer hören wir viele Geschichten über Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch. Aber nur wenige Betroffene trauen sich, offen zu sprechen, vor allem gegenüber Fremden und Journalisten sind sie zurückhaltend.

Durch zahlreiche anonymisierte Gespräche mit Arbeitern sowie Interviews mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern entsteht aber ein Bild: Die grünen Felder der pontinischen Ebene sind eine Landschaft, die geprägt ist von irregulären Verträgen und unzureichenden Löhnen.

Ein Opfer dieser Ausbeutung war Joban Singh. Sein Fall sorgte für Schlagzeilen. Er nahm sich im Juni 2020 das Leben. Wie viele indische Arbeiter war Joban Singh Opfer von Menschenhandel geworden. Er geriet in die Fänge eines kriminellen Netzes von Reise- und Arbeitsvermittlern, Mittelsmännern, Gemeindevorstehern und korrupten Beamten. Er soll 10.000 Euro Schulden aufgenommen haben, um nach Italien zu gelangen. Weil er – nach Aussage mehrerer Bekannter – nur schwarz beschäftigt wurde, sollen ihm immer wieder Teile seines Lohns vorenthalten worden sein.

Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Es gibt immer wieder Suizide. Erst im Oktober 2022 haben sich zwei indische Arbeiter, die noch nicht einmal 25 Jahre alt waren, auf den Bauernhöfen der Region das Leben genommen, wie Lokalzeitungen berichteten.

Um nach Italien zu gelangen, zahlen indische Arbeiter umgerechnet bis zu 15.000 Euro an indische Vermittler. Dafür müssen sie sich bei Bekannten und Verwandten Geld leihen oder – falls sie das besitzen – Land, Kühe und Familienschmuck verkaufen. Die meisten stammen aus dem indischen Bundesstaat Punjab. Der Monatslohn für Menschen, die körperlich arbeiten, liegt dort zwischen 80 und 120 Euro. Deshalb ist Italien, wo ein indischer Arbeiter im Durchschnitt 863 Euro pro Monat verdient, für viele attraktiv – trotz der Ausbeutung, trotz der hohen Schulden.

In den Sikh-Tempeln in den Städten Velletri, Cisterna und Pontinia trifft sich die indische Gemeinde sonntags. Das Wort „Schulden“ wird bei unseren Gesprächen, obwohl es sehr viele hier betrifft, nur verschämt geflüstert. Viele Tempel wurden in alten Lagerhallen eingerichtet, die später renoviert und zu Gotteshäusern umfunktioniert wurden. Der Tempel in Velletri zum Beispiel besteht aus einem einzigen großen Raum mit rosafarbenen Wänden, einem mit Teppichen bedeckten Boden und buntem Papier, das an der Decke hängt. Der Altar im hinteren Teil des Raumes ähnelt einem Himmelbett. Von dort aus liest der Gottesdiener – der Granthi – aus dem heiligen Buch.

Im Tempel werden tagsüber Mahlzeiten für die Gläubigen und Bedürftige zubereitet. Die Menschen essen gemeinsam auf dem Boden eines großen Raums. Junge Leute verteilen Essen und Trinken. Ein Arbeiter erzählt, er habe zwei Jahre lang im Tempel gelebt, weil er weder Miete, Essen noch Strom bezahlen konnte. Mittlerweile habe er eine eigene Unterkunft. In den zwanzig Jahren, die er in Italien verbracht hat, habe er aber Hunderte Menschen kennengelernt, die in der gleichen Situation waren wie er.

Sikh-Arbeiter werden auf den Feldern und Bauernhöfen der pontinischen Ebene oft durch die Strategie der „grauen Arbeit“ ausgebeutet. Dabei werde der Lohn in zwei Teile gesplittet – ein Teil gehe in die Lohntüte, der andere Teil werde schwarz in bar ausgezahlt, erklärt Marco Omizzolo. Die Landwirte würden so weniger Sozialbeiträge und Steuern zahlen.

Eine andere Methode der Ausbeutung ist das sogenannte Jo-Jo-Gehalt. „Manche Chefs überweisen den Lohn auf das Bankkonto der Arbeiter, zwingen sie aber dann, zu einem Geldautomaten zu gehen, 200 bis 300 Euro abzuheben und sie an den Arbeitgeber zurückzuzahlen“, sagt Omizzolo.

Außerdem gibt es Arbeiter, die gezwungen werden, sieben Tage in der Woche 10 bis 11 Stunden am Tag auf den Feldern zu arbeiten. Teils ohne Zugang zu richtigen Toiletten und ohne regelmäßige Pausen. Vorgeschriebene Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den Schutz vor Pestiziden fehlten oft, sagt Omizzolo.

Immer wieder gibt es Berichte über Fälle von physischer und psychischer Gewalt. Wer protestiert oder rebelliert, riskiert eine sofortige Entlassung und Vergeltungsmaßnahmen. Einige Sikh-Arbeiter wurden auf dem Weg zu den Feldern von Autos angefahren, andere ausgeraubt oder verprügelt.

Zu der Angst vor Gewalt tritt oft noch der Albtraum der Illegalität hinzu: Ohne einen regulären Arbeitsvertrag ist es nicht möglich, eine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, um legal in Italien zu leben. Deshalb würden so viele Arbeiter die Ausbeutung über so viele Jahre akzeptieren, sagt der Generalsekretär des nationalen Gewerkschaftsbunds CGIL, Giovanni Gioia.

Nur langsam hätten sich in den vergangenen Jahren auch ein paar Dinge verbessert, sagen Omizzolo und Gewerkschaftsvertreter. Es gab zaghafte Ansätze eines Teils der indischen Arbeiter, mehr Rechte einzufordern. Beim ersten Streik der Sikh-Arbeiter 2016 gingen Tausende in der Provinz Latina auf die Straße, der Streik führte zu einer Erhöhung der Stundenlöhne von ursprünglich 2,50 auf jetzt 6 Euro pro Stunde.

Zudem wurden Organisationen wie „Tempi Moderni“ gegründet, die den Arbeitern kostenlosen rechtlichen und medizinischen Beistand anbieten. Auch ist in der Region Latina die Zahl der Prozesse gegen Unternehmer gestiegen, die der „caporalato“-Kriminalität, der Vermittlung und Beschäftigung von Schwarzarbeitern, angeklagt sind – auch wenn es noch wenige Urteile in dem Bereich gibt.

Die Agrarunternehmer fänden auch neue Wege, um das Ausbeutungssystem am Laufen zu halten, sagt Marco Omizzolo. Sie schalteten etwa Anwälte ein, die ihnen helfen würden, Gesetze und Arbeitsschutz zu umgehen. Und die Arbeiter haben weiterhin Angst, die Ausbeutung anzuprangern.

Auch Balbir Singh war zunächst zurückhaltend, mit uns zu sprechen. Das erste Mal trafen wir ihn im Sommer 2022 in einer Unterkunft, in der er damals mit drei indischen Landsleuten lebte. Er arbeitete nun auf Kiwifeldern. Wir trafen ihn in der Mittagspause, als ein kleiner Ventilator versuchte, die Luft zu kühlen, aber die schwüle Julihitze durch das offene Fenster hereinströmte. Er zeigte uns einen Korb mit kleinen unreifen Kiwis, die er am selben Morgen gepflückt hatte.

Zwischen Juli und Dezember sind die indischen Arbeiter in der pontinischen Ebene hauptsächlich mit Kiwis beschäftigt, die wegen ihrer rentablen Produktion auch als „grünes Gold“ bezeichnet werden. Italien produziert 320.000 Tonnen Kiwis pro Jahr und exportiert sie in fünfzig Länder. Das Land ist der größte europäische Kiwiproduzent und der drittgrößte weltweit, nach China und Neuseeland. Ein Markt, der insgesamt über 400 Millionen Euro wert ist.

Balbir Singh nahm drei Kiwis in die Hand und erklärte uns, wie man die Pflanze reinigt und worin der Unterschied zwischen den Kiwisorten besteht – grün, gelb und rot. Aber als wir ihn fragten, wie er und seine Kollegen jetzt auf den Plantagen, auf denen sie arbeiteten, behandelt werden, schaute er weg und gab nur vage Antworten.

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Juni 2023

Verbände für Kopfsalat und Ehrenirgendwas

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Deutschland ist das Land der Verbände. Wer etwas auf sich hält, muss einen gründen. ADAC, VDI, Taubenzüchtende, Fleckviehhaltende, Bobbycar-Sportverband, Deutscher Fußballbund, Verband zum Erhalt des Wunders von Stuttgart, die Liste ist endlos. Mein Lieblingsverband ist ja bekanntlich der BDZV. Das Kürzel steht seit ein paar Jahren für Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger.

Bei Verbänden, zumal solchen mit Landesverbänden, gibt es klassischerweise einen Schweinezyklus. Das gilt auch dann, wenn sie gar nichts mit Landwirtschaft zu tun haben. Mal ist dann ein ganz großer, wichtiger, mächtiger Mensch die Rampensau, und der Rest hat verhältnismäßig wenig zu melden. Wenn die Rampensau zu lange auf dem Eis war oder zu absurde Pirouetten dreht, wird sie abserviert. Dann schlägt die Stunde der Lan­des­fürs­t*in­nen.

Die übernehmen in einem fein austarierten Gleichgewicht des Schreckens die Verbandsführung, bis auch das regelmäßig schiefgeht. Wer gar nicht mehr an die Verbandsspitze passt, wird Ehrenirgendwas für die Visitenkarte. „Also braucht es die Verbände gar nicht so, weil sie ja doch nur das Abbild der Gesellschaft mit ihren niederen Zielen sind“, meint die Mitbewohnerin.

BDZV-Insider*innen können ja die Namen mal zuordnen. Und ja, der große Mensch ist natürlich Mathias Döpfner. Der Springer-Boss hat bis letzten Herbst den BDZV geführt, weshalb die Funke-Mediengruppe aus dem Verband austrat. Und weil der BDZV sich dann demonstrativ von Döpfner abwandte, trat später die Neue Osnabrücker Zeitung aus. „Wir wollen auch weg von diesem Blick der Öffentlichkeit auf eine Person“, hat BDZV-Geschäftsführerin Sigrun Albert der dpa zum Auftakt des BDZV-Digital-Kongresses diese Woche erzählt. Es ginge nicht darum, „einen Star zu haben, der für alle alles bestimmt“.

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Den Kongress bestimmte dafür das Thema KI, es ging aber auch um ganz reale Fragen. Denn die Presseförderung kommt und kommt nicht. Nicht mal die zuständige Politik ließ sich beim Kongress blicken, wo doch früher die Kanzlerin mitgemacht hat. Und in vielen Verlagshirnen ist jetzt Kopfsalat, weil sie gerade auch nicht mehr wissen, was sie wirklich wollen. Dafür gibt es einen neuen Schlachtruf bei den Zeitungen: „Mehrwertsteuer Null.“

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Demokratie war nie !

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Mai 2023

Was ist los mit unserer Demokratie?

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Demokratie bedeutet als 4 Jahre zu wählen, um bis zum nächsten Wahltag den Mund zu halten.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Allzu leichtfertig reden wir von Demokratie, ohne uns der fundamentalen Bedeutung dieses Begriffes voll im Klaren zu sein. Das gilt nicht nur für das breite Volk, sondern besonders auch für unsere Politiker, denn der Fisch stinkt immer vom Kopf.

Die wohl einfachste Definition von Demokratie findet sich bei Abraham Lincolns Gettysburg- Formel von 1863: „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk“. Also das Volk regiert sich selbst, kein Diktator, Gott oder Kaiser. Dazu wählt das Volk eine Regierung, die den Staat zum Wohl des Volkes lenkt. Seit der französischen Revolution haben sich weltweit unterschiedliche Demokratieformen ausgebildet, die man heute grob in direkte und indirekte oder auch repräsentative Demokratien unterscheidet. Keine von ihnen wird in Reinform praktiziert. So entstanden viele Mischformen, die oft eher verwirrend als sinnvoll erscheinen. In der direkten Demokratie kann das Volk durch Volksentscheide oder Volksbegehren direkt in die Politik eingreifen, wie z.B. in der Schweiz. In indirekten oder repräsentativen Demokratien entscheiden gewählte Abgeordnete über politische Sachverhalte.

Bei uns in der BRD haben wir eine sog. Repräsentative Demokratie und erleben derzeit krass die Schwächen dieses Systems, bei dem das Volk während einer Regierungszeit nicht mehr in das politische Geschehen eingreifen kann, selbst wenn Abgeordnete sich nach ihrer Wahl nicht mehr an ihre Versprechen vor der Wahl halten. Derzeit hat sich bei uns grün zu braun verfärbt, rot ist rot-weiss gestreift und eine freie Demokratie ist zu einer Lobby für Wohlhabende mutiert. Nicht verwunderlich also, dass laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung die Mehrheit der Deutschen, nämlich 75 Prozent, mit unserer repräsentativen Demokratie unzufrieden ist und ihr nicht traut.

Viel schlimmer aber ist, dass selbst regierende Politiker offenbar selbst der Demokratie nicht mehr trauen und sie abschaffen wollen. In einem Strategiepapier des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit von 2017 kann man auf Seite 43 (2. Spalte, Pkt.6) nachlesen: „Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindungen oder Abstimmungen. Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem ersetzen“. Welche Anmaßung und Arroganz! Politiker, die das Vertrauen ihrer Wähler derart pervertieren, gehören in den Knast, aber mindestens auf Nimmerwiedersehen aus dem Amt gejagt. Solche Ansinnen sind höchst antidemokratisch. Das Volk kann aber spontan nichts dagegen tun, weil die Parlamentarier jede plebiszitäre Bekundung abblocken. Die Interessen des Volkes sind für sie nur hinderlich.

So mutiert Demokratie bei uns zum hohlen Begriff, den die Politiker zur Sicherung ihres Amtes stets vor sich hertragen, ganz gleichgültig warum und wie das Volk gegen ihre Handlungen protestiert. Streiks und Demonstartionen sind streng geregelt und nehmen unserer Demokratie jede Lebendigkeit. Gerade aber in Krisenzeiten will das Volk gehört werden, wenn die gewählten Politiker durch Inkompetenz das Wohl des Volkes auf lange Sicht nachhaltig gefährden. Wenn Demokratie, dann bitte direkt und keine parlamentarische Pöstchenschieberei am Willen des Volkes vorbei.

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Grafikquellen       :

Oben       —   Second round of the French presidential election of 2007.

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Noch eine Zeitenwende?

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Mai 2023

Unter dem Einfluss des Ukrainekrieges ändert der Westen seine Balkanpolitik. 

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Ein Debattenbeitrag von Erich Rathfelder

Doch Zugeständnisse an Serbien können gefährliche Konflikte auslösen. USA und EU akzeptieren ethno­nationalistische Positionen in der Hoffnung, den Einfluss Moskaus zu begrenzen.

Die bisherige westliche Strategie auf dem Balkan wird gerade auf den Kopf gestellt. Einerseits unterstützen USA und EU den Kampf der Ukrainer für demokratische und westliche Werte. Auf dem Balkan aber wollen die USA und in deren Schlepptau auch die EU ethno-nationalistische Positionen akzeptieren und hoffen so, den Einfluss Moskaus dort zu begrenzen. Sie streben deshalb sogar „Deals“ mit Politikern an, die Kriegsverbrechen verteidigen und sich offen als Sympathisanten Putins zu erkennen geben.

Lange war es westliche Strategie, die Staaten des Westbalkans zu demokratisieren und in die „Wertegemeinschaft“ der EU zu führen. Dies ist nach Ansicht einiger amerikanischer Kritiker aufgegeben worden. Die Demokratisierung der Gesellschaften, die Aufarbeitung der Geschichte und die Durchsetzung von Menschenrechten spielen letztendlich keine Rolle mehr. So jedenfalls sieht es der Politologe Janusz Bugajski, der davon ausgeht, dass die USA den Westbalkan de facto in drei Einflusssphären – die serbische, kroatische und albanische – aufteilen wollen. USA und EU streben seiner Ansicht nach jetzt einen Deal mit den ethno-nationalistischen Kräften auf dem Balkan an und lassen die bisherigen prowestlichen und demokratischen Positionen fallen. Angesichts des Kriegs in der Ukraine hege man in Washington die Hoffnung, den serbischen, autokratisch regierenden Präsidenten Aleksandar Vučić auf die westliche Seite ziehen zu können und gleichzeitig der mit Putin sympathisierenden kroatischen Rechten entgegenzukommen. So jedenfalls kommentiert einer der besten Kenner der Region, Kurt Bassuener, vom transatlantischen Thinktank Democratization Policy Council e. V. (DPC) die neue Politik.

Die Äußerungen des seit 2021 amtierenden US-Botschafters in Belgrad, Christopher Hill, und die Positionen von Gabriel Escobar, der US-Sonderbeauftragten für den Balkan, zeigen die Richtung auf. Vor allem die „Lösung“ der Kosovo- und Bos­nien­frage liegt ihnen am Herzen. Escobar will „friedliche, verlässliche und freundliche Beziehungen“ zwischen Serbien und Kosovo schaffen, um Serbien den Weg in die EU und Nato zu ebnen. Dies soll vor allem mit Druck auf die Kosovoregierung in Prishtina erreicht werden.

Die ehemalige autonome Region Kosovo erklärte sich mithilfe der USA 2008 für unabhängig von Serbien. Serbien hat diesen Akt nie akzeptiert und mit Russland und China Verbündete im UN-Sicherheitsrat gefunden. Weil aber die serbische Gesellschaft sich gleichzeitig eine Zukunft in der EU wünscht, wollen USA und EU das Land mit weitreichenden Zugeständnissen ins westliche Lager locken.

Der von Belgrad vehement geforderte „Verbund serbischer Gemeinden“ im Kosovo würde den Einfluss Belgrads im Kosovo stärken und böte die Möglichkeit, direkt in das Land hineinzuregieren. Die Kosovoführung unter Alban Kurti fürchtet, der serbische Gemeindeverbund würde die Existenz Kosovos gefährden. Deswegen wehrt sie sich mit Händen und Füßen gegen diese Forderung.

Hinzu kommt: Dass in Montenegro nach den letzten Wahlen die proserbischen und damit die Pro-Putin-Kräfte stärker wurden, ist von den USA und der EU einfach hingenommen worden. In Bosnien und Herzegowina ist der Widerstand gegen den offen als Freund Putins auftretenden Milorad Dodik, Präsident des serbisch kontrollierten Landesteils Republika Srpska, schwächer geworden.

Sarajevo City Panorama.JPG

Dodik will ohne Rücksicht auf die Zentralregierung, den Obersten Gerichtshof, die internationalen Institutionen und die bosniakische Mehrheitsbevölkerung in Sarajevo und ganz Bosnien im serbisch kontrollierten Landesteil schalten und walten, wie er will.

Dodik wollte am liebsten sogar den Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft – zurzeit der deutsche CSU-Politiker Christian Schmidt – abschaffen. Denn der hat mit seinen Sondervollmachten immer noch ein Wörtchen in Bosnien mitzureden. Doch das muss Dodik nun nicht mehr, drohen doch die USA, die EU und der Hohe Repräsentant nicht einmal mehr mit Konsequenzen wegen seiner Politik.

Die demokratiefeindlichen, nationalistischen Extremisten der kroatischen Volksgruppe in Bosnien und Herzegowina scheinen sogar gegen den Willen der bosniakischen Mehrheitsbevölkerung unterstützt zu werden. Mit Rückendeckung aus Zagreb und einer breitangelegten Lobbytätigkeit in Brüssel gelang es der herzegowinischen Ex­tre­mis­ten­partei HDZ-BiH, die Macht im zweiten Teilstaat, der bosniakisch-kroatischen Föderation, zu übernehmen. Monatelang übten Escobar und die EU-Diplomaten Borrell und Lajčak Druck auf die nichtnationalistischen Parteien aus, in eine Koalition mit den kroatischen Nationalisten einzuwilligen. Ziel war es, die bosniakisch-muslimische Nationalpartei SDA zu entmachten.

Quelle       :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben       —       The topography of the Balkan Peninsula, as defined by the Danube-Sava-Kupa line.

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Internationale Heimatkunde

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Mai 2023

Brasilien: Der Elefant im US-Hinterhof

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :      Amelie Lanier

Brasilien verdankt seine Grösse – es ist nach Territorium das 5.-grösste Land der Welt – einigen historischen Zufällen.

I. HINTERHOF-ÜBERGRÖSSE

I. 1. Historisches

Der erste davon fand zur Zeit der Eroberungen im 16. Jahrhundert statt. Der von einem spanischen Papst vermittelte Vertrag, der die Welt in zwei Hälften teilte, sollte die überseeischen Beziehungen Spaniens im heutigen Lateinamerika gegen portugiesische Ansprüche absichern und letztere auf Afrika und Indien beschränken.

Die Linie ging so, wie sie festgelegt worden war, durch Südamerika. Damals, 1494, war jedoch das amerikanische Festland den Vertragsparteien unbekannt. Kolumbus hatte auf seinen ersten zwei Reisen nur Inseln der Karibik betreten. Erst auf seiner 3. Reise sichtete und betrat er das Festland im heutigen Venezuela. Zum Zeitpunkt seiner Rückkehr im November 1500 hatten die Portugiesen bereits den Seeweg nach Indien entdeckt. Ausserdem, aber das stellte sich erst im nächsten Jahr, bei der Rückkehr einer anderen portugiesischen Flotte heraus, hatte diese einen Küstenstreifen des heutigen Brasilien entdeckt und in Besitz genommen.

Zunächst war die brasilianische Küste eher eine Nebenfront des portugiesischen Kolonialismus. Der Gewürzhandel mit Indien hatte Vorrang. Mit dem Aufkommen des Zuckerrohranbaus und des Sklavenhandels gewann die Gegend jedoch an Bedeutung. Auf der Suche nach Gold und nach Bevölkerung, die man versklaven konnte, drangen die portugiesischen Glücksritter, die Bandeirantes, weit ins Innere des Subkontinentes vor. An der Küste wurden in beide Richtungen Forts und Siedlungen angelegt, um die Kolonie gegen Korsaren und konkurrierende Kolonialmächte abzusichern. Die Ausdehnung des portugiesischen Einflussbereiches war auch beeinflusst von der Erschöpfung der Humanressourcen Spaniens, sein grosses Territorium zu befestigen, verteidigen und verwalten. Schliesslich waren es die Jesuiten, die mit ihren Siedlungen wie Wehrdörfer funktionierten und der portugiesischen Expansion Einhalt gboten.

Der zweite historische Zufall war die besondere Art, wie die Entkoppelung der Kolonie vom Mutterland von sich ging. Sie wurde nämlich nicht in langen und blutigen Heerzügen und Schlachten in unzugänglichen Gegenden bewerkstelligt, wie im Falle Spaniens, sondern von der Chefität selbst ausgerufen: Der von den französischen Truppen vom Thron gestossene portugiesische Monarch entwich in die Kolonie und wertete diese durch seine Anwesenheit zum neuen Zentrum des Reiches auf. Später wurde dann noch ein Kaiserreich draus, was der Grösse des Territoriums angemessen war und die dortige Oberschicht befriedigte. Separatismus und Kleinstaaterei, gar Staatsgründungskriege wie im restlichen Teil Lateinamerikas erübrigten sich daher.

Diese Übergrösse war ein wichtiger Faktor im Verhältnis zu den USA, die Lateinamerika im Sinne der Monroe-Doktrin zu ihrem Hinterhof machten, anfänglich von Nord nach Süd und unter Hinausdrängung des britischen Empire.

Das daraus resultierende Spannungsverhältnis zwischen brasilianischen Präsidenten, die meinten, ihre grosse Nation sei zu Grossem berufen und den USA, die meinten, jede brasilianische Ambition hätte an US-Interessen Mass zu nehmen, hat im 20. Jahrhundert drei von ihnen das Leben gekostet, Brasilien eine Militärdiktatur beschert und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes stark geprägt.

Sogar ein Präsident wir Jair Bolsonaro, der zu Beginn seiner Amtszeit sozusagen Liebkind der USA war, fiel bis zum Ende hin in Ungnade, weil er den Warenaustausch innerhalb des BRICS-Staatenbundes schätzte und nicht bereit war, sich wegen des Ukraine-Kriegs Sanktionen anzuschliessen, die er als schädlich für Brasilien ansah.

I. 2. Schwellenland

Brasilien gilt als klassisches Schwellenland, ähnlich wie andere seiner BRICS-Kollegen Indien und Südafrika.

Was ist mit diesem Begriff eigentlich ausgesagt? Um welche „Schwelle“ handelt es sich?

Gegenüber dem Begriff „Entwicklungsland“, der irgendwie die armen Hinterwäldler in Afrika, Asien oder der Karibik bezeichnet, die noch einen weiten Weg vor sich haben, soll es das Schwellenland weiter gebracht haben.

In beiden Fällen werden jedoch die erfolgreichen Staaten Europas und Nordamerikas als Ziel verstanden, zu dem sich andere hinbewegen sollten, sogar eigentlich in einer Art Geschichtsteleologie müssen. Es gibt kein Entrinnen, alle müssen sich zu marktwirtschaftlich begründeten Konkurrenzgesellschaften wandeln, dann dürfen sie sich auch an den gedeckten Tisch setzen – so die Vorstellung, die die Grundlage von Begriffen wie „Entwicklungs“- und „Schwellen“land ist.

Macht schön, was der IWF und ähnlich gelagerte Institutionen und unsere diversen „Berater“ euch sagen, und dann kommt ihr auch so weit – das ist die Vorstellung, mit der diese Staaten und ihre Regierungen „im globalen Süden“, wie sie inzwischen heissen, im Grund schon seit 1945 am Gängelband gehalten werden.

Klappt es nicht, so sind sie selber schuld, weil ihre Bevölkerung lernunfähig ist, ihre Eliten korrupt und geldgierig, und so weiter. Klappt es aber einmal schon, wie bei China – so ist es auch nicht recht und der glücklich im Entwicklungsparadies angekommene Kandidat wird als Spielverderber und Bösewicht schlecht gemacht, der sich nicht an die Regeln gehalten hat.

Die ewigen Schwellenländer sind dem Wertewesten weitaus lieber, weil sie sind klein genug, um weiter nach der Entwicklungs-Karotte zu schnappen, und gross genug, dass man mit ihnen gute Geschäfte machen kann.

Der Zusammenschluss von solchen Staaten mit Russland und China ist den USA und Europa überhaupt nicht recht. Das war der Grund für das Misstrauensvotum, das die Regierung von Dilma Rousseff gestürzt hat, und die Unterstützung des Sieges von Bolsonaro.

Bis dahin war aber ein holpriger Weg.

II. DER TEUFELSKREIS DER SCHULDEN

Der Versuch, über die Schwelle zu schreiten und eine ordentliche Kapitalakkumulation hinzulegen, anstatt sich lediglich Rohstofflieferant für die Industrien der USA und der ehemaligen Kolonialmächte zu bleiben, zeichnet nicht nur Brasilien aus, sondern auch andere Staaten Lateinamerikas.

In Argentinien versuchte Perón eine eigene Industrie aufzubauen, in Mexiko verschiedene Präsidenten der Einheitspartei, die das Land bis 2000 regierte. Auch in Brasilien tat sich diesbezüglich einiges.

II. 1. Der IWF und seine Schuldner

Neben dem Kapital, das nach 1945 in diese Richtung nördliche Vorbilder aufstrebenden Staaten wie Brasilien strömte – allerdings vor allem, um angesichts des eher schwachen inneren Marktes in Sparten zu investieren, die für den Export wichtig waren –, gesellten sich zunächst beim IWF und dann auch bei privaten Banken aufgenommene Kredite. Die Verschuldung der Staaten Lateinamerikas, Afrikas und des fernen Ostens nahm Anfang der 70-er Jahre zu, als die Umstellung des IWF von der Goldbindung auf Sonderziehungsrechte die Kreditvergabe des IWF anspornte und die Banken der USA und vor allem Europas aus verschiedenen Gründen zuviel Geld hatten und nicht wussten, wohin damit. Da erschien u.a. Lateinamerika als perspektivenreicher Kunde.

Der IWF wurde mit der Zeit und den Schuldenproblemen als Gläubiger deshalb so wichtig für einen Kreditnehmer, weil der IWF-Kredit eine Art Bürgschaft darstellt: Wenn der IWF ein Land für kreditwürdig hält, so geben die kommerziellen Banken ihm auch Kredit. Wenn also ein Staat auf dem Finanzmarkt Geld aufnehmen will, so muss er sich erst beim IWF verschulden.

Das Geld, das mit dem IWF garantiert und von der kommerziellen Finanzwelt verliehen wird, ist Weltgeld und verschafft demjenigen, der den Kredit erhält, Zugriff auf Waren der ganzen Welt. Das heisst: sowohl auf Konsumgüter als auch auf Produktionsgüter wie Maschinen oder Industrieanlagen.

Ausserdem ermöglicht ein IWF-Kredit das Anlegen bzw. die Pflege eines Devisen-, also Weltgeld-Schatzes, mit dessen Hilfe ein Staat die Konvertibilität seiner Währung garantieren kann. Das ist unbedingt notwendig, wenn dieser Staat bzw. seine Regierung ausländisches Kapital anziehen will. Mit der Konvertibilität kann er diesen Kapitalbesitzern garantieren, dass sie ihre Gewinne auch wieder in Weltgeld umwandeln und woanders hin verschieben können.

Der IWF war damals wichtig für Staaten, bei denen wenig Kapital akkumuliert worden war. Diejenigen Staaten, wo das Kapital sozusagen zu Hause ist, brauchten lange Zeit den IWF nicht als Kreditgeber – eher als Türöffner in andere Weltgegenden. Ihre Unternehmen exportierten selber genug Waren, um sich über den Welthandel die nötigen Devisen beschaffen zu können.

Diejenigen, die erst in diesen illustren Klub aufsteigen wollten, hatten vor, über Kredit eine Kapitalakkumulation in die Wege zu leiten. Sie waren von dem Willen getrieben, aus den Gewinnen der mit Kredit geschaffenen Unternehmen den Kredit zu bedienen bzw. auch irgendwann zu tilgen. Und das ist ja auch der Gedanke, der dem Begriff „Entwicklungsland“ zugrundeliegt. Hier geht es darum, den Weg der Entwicklung Richtung Westeuropa oder USA oder auch Australien zu beschreiten.

Wenn das nicht gelingt, so wächst die Verschuldung, und irgendwann einmal ist nicht genug da, um die regelmässig fälligen Zinsen zu zahlen – geschweige denn, den Kredit zurückzuzahlen und sich damit aus dem Schuldendienst zu befreien.

Zu dieser misslichen Lage tragen oftmals auch die Rohstoffpreise bei, die den Konjunkturen des Weltmarktes gemäss fallen oder ansteigen. Wenn sie fallen, so verringern sie damit die Einnahmen des Schuldnerstaates, der solche Rohstoffe oder Agrarprodukte liefert, und damit auch seine Fähigkeit zur Bedienung der Schulden – und erinnern ihn damit daran, dass er von seinen Plänen zur Erreichung eines kompletten Kapitalstandortes noch weit entfernt ist.

II. 2. „Importsubstitution“

In der Literatur zu den Bemühungen der grossen Staaten Lateinamerikas, sich in den Kreis derjenigen Nationen einzureihen, deren Währungen auch ohne die Hilfe des IWF konvertibel sind, weil sie auch ausserhalb der eigenen Landesgrenzen nachgefragt werden, wird diese Politik oftmals als das Streben nach „Importsubstitution“ bezeichnet. Dieser Begriff hat von vornherein etwas Missbilligendes an sich. Irgendetwas soll „ersetzt“ werden. Und dieses Irgendetwas, der Import, wird sozusagen als die natürliche, sozusagen prästabilisierte Harmonie aufgefasst. Damit ist gesagt, dass diese Staaten eigentlich importieren sollen, damit die „entwickelten“ Staaten, die mit dem richtigen, dem Weltgeld, ihren Krempel irgendwohin verkaufen können. Wenn Deutschland – und inzwischen auch China – Exportweltmeister sind, so muss es ja auch Staaten geben, die Import-, hmmm, -Champions sind.

Eine Sache ist, Dinge zu produzieren oder nicht zu produzieren. Man denkt zunächst einmal an Konsumgüter. Wenn es keine Fabriken für Waschmaschinen oder Staubsauger gibt, so muss man diese Güter eben aus dem Ausland beziehen. Das zweite ist aber die Zahlungsfähigkeit. Für diese ganzen Importe muss Weltgeld an Land gezogen werden, d.h., irgendetwas muss aus diesem Land auch hinausgehen. Und wenn ein Staat über wenig Bodenschätze verfügt, oder wenig fruchtbare Erde hat, – was die Handelsbilanz negativ beeinflusst – so bleiben noch Tourismus und Arbeitsemigration, um Devisen an Land zu ziehen.

Und wenn mit all diesen Wirtschaftszweigen immer zuwenig hereinkommt, so bleibt auch nur der Weg der Verschuldung – die sich in diesem Fall nicht aus Ambitionen Richtung wirtschaftliche Entwicklung ergibt, sondern aus einer negativen Zahlungsbilanz.

Diese negative Zahlungsbilanz zu überwinden, ist das, was mit gerunzelter Stirn als „Importsubstitution“ bezeichnet und auch oftmals als gescheiterte Wirtschaftspolitik verbucht wird, – mit dem Verweis auf Schuldenkrisen und natürlich die immer und überall vorhandene und daher auch problemlos als Ursache aller Übel verwertbare Korruption. Vom IWF wurde daher seit dem Anfang der Schuldenkrisen in Lateinamerika immer wieder empfohlen, die eigene Bevölkerung zu verbilligen und sich im Sinne der „internationalen Arbeitsteilung“ wieder zum Exporteur von Agrarprodukten und Rohstoffen und zum Importeur von Konsumgütern herzurichten und sich in dieser Rolle zu bescheiden.

II. 3. Die erste Schuldenkrise Brasiliens

„In den 1960er und 1970er Jahren hatten sich viele lateinamerikanische Staaten, insbesondere Brasilien, Argentinien und Mexiko, grosse Summen an Kapital von internationalen Gläubigern geliehen, um ihre Industrialisierung voranzubringen. … Zwischen 1975 und 1982 ist die Gesamtsumme der Forderungen kommerzieller Banken gegenüber Lateinamerika jährlich um 20,4 % gestiegen. Dieser Umstand führte zu einer Vervierfachung der lateinamerikanischen Auslandsschulden von 75 Milliarden US-Dollar (1975) auf mehr als 315 Milliarden US-Dollar im Jahr 1983, mithin 50% des Bruttoinlandsprodukts der gesamten Region. Der jährliche Schuldendienst (d. h. Tilgungs- und Zinszahlungen) stieg noch rasanter an und erreichte 1982 einen Betrag von 66 Mrd. US-Dollar (nach nur 12 Mrd. US-Dollar im Jahr 1975).

Als … der Ölpreis (in den 70-er Jahren) in die Höhe zu schiessen begann, bedeutete dies für viele Länder der lateinamerikanischen Region einen Wendepunkt. Viele Entwicklungsländer befanden sich plötzlich in einem extremen Liquiditätsengpass, weil sie durch die steigenden Rohstoff-“ (will heissen: Energie-)„preise in Zahlungsnot gerieten. Erdölexportierende Länder wurden hingegen mit Finanzmitteln aufgrund der gestiegenen Erdölpreise überschwemmt und investierten das Geld bei internationalen Banken, die dieses wiederum in Form von Krediten in Lateinamerika anlegten (sogenanntes Petrodollar-Recycling). Dadurch akkumulierten sich die Auslandsschulden dieser Staaten über die Jahre gefährlich. Im Anschluss begann die Schuldenkrise, als die internationalen Kapitalmärkte gewahr wurden, dass Lateinamerika seine Schulden nicht mehr zurückzahlen können wird.“ (Wikipedia, Lateinamerikanische Schuldenkrise)

Dazu muss man erwähnen, dass die Rückzahlung von Schulden inzwischen mehr oder weniger als unschicklich betrachtet wird. Der Schuldner soll seine Schulden bedienen und daher den Banken als ständige und verlässlich sprudelnde Geldquelle dienen.

Bei Staaten als Schuldnern heisst das, dass an bestimmten Terminen umgeschuldet wird: Sie nehmen neue Kredite auf, mit denen sie ihre alten zurückzahlen. Formell ist somit die Altschuld getilgt. An diesen Terminen beweist der Staat, dass er über Kredit verfügt und daher des weiteren Kredites würdig ist.

„Dies geschah im August 1982, als Mexikos Finanzminister Jesus Silva-Herzog öffentlich bekannt gab, dass Mexiko seinen Schuldendienst einstellt und den teilweisen Staatsbankrott erklärte.“ (ebd.)

Brasilien geriet also gar nicht in erster Linie deshalb in die Schuldenkrise, weil sich Einnahmen und Ausgaben nicht mehr im vorgesehenen Rahmen hielten, sondern weil sich am Kreditmarkt Misstrauen gegenüber den lateinamerikanischen Schuldnern breit machte und die Gläubiger Brasilien den Kredit abdrehten.

Wie sich später herausstellte, gab es aber noch andere Faktoren.

Aus dem Vertrag, den Brasilien 1983 mit dem IWF schloss, geht hervor, dass Brasilien mit seiner Industrialisierungspolitik relativ erfolgreich gewesen war. Von einem reinen Agrarexporteur hatte sich Brasilien in eine Ökonomie verwandelt, deren Export zu mehr als der Hälfte aus industriell hergestellten Waren bestand. Der Import bestand neben Produktionsgütern vor allem in Energieträgern, vor allem Erdöl. Und darin lag der eine Grund seiner Schuldenproblematik: Das Erdöl hatte sich sehr verteuert, dadurch flossen Devisen für Energie ab. Zweitens verteuerte sich der Kredit und damit stiegen auch die Schulden. Drittens fielen die Preise der Exportprodukte und sie trafen auf weniger Nachfrage aufgrund von Rezession in den Käuferländern. Das führte zu einem Kursverfall der brasilianischen Währung und zu galoppierender Inflation.

Ponte Estaiada Cable-Stayed Bridge, São Paulo

Im Gegenzug zu einem Stützungskredit in nicht genau festgelegter Höhe verpflichtete sich Brasilien, die Inflationsrate und das Budgetdefizit zu reduzieren. Die weiteren Punkte stellen eine Art Wunschzettel für IWF und internationales Kapital bzw. USA dar: Steigerung der Agrarproduktion zum Zwecke des Exports; Stimulierung der unternehmerischen Tätigkeit; massvolle Lohnpolitik, um „den Arbeitsmarkt zu erweitern“, „Preise, die die Produktion stimulieren sollen“, und in Folge überhaupt eine Freigabe der Preise, also auch für die bis zu diesem Zeitpunkt offenbar subventionierte Lebensmittel und Treibstoff. Gleichzeitig sollten die Steuern und Abgaben erhöht und dadurch die Staatseinnahmen erhöht werden.

Dieses und die folgenden Abkommen wurden nie erfüllt – all das konnte sich nicht ausgehen – und der Kredit floss stockend. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Probleme führten zum Ende der Militärregierung, und so – demokratisch und verschuldet – kam Brasilien in den globalisierten 90-er Jahren an.

III. AUF DER SUCHE NACH ÖKONOMISCHER UNABHÄNGIGKEIT

III. 1. DIE WÄHRUNGSREFORMEN

Zwischen 1967 und heute hat Brasilien einige Währungsreformen durchgeführt. Das ambitionierte Aufbauprogramm führte nämlich zu viel Geldausgabe – die damals durch keine IWF-Programme gestört war – und deshalb zu einer relativ hohen Inflationsrate.

Eine dieser Währungsreformen war der „Plan Cruzado“ im Jahre 1986. Die bisher übliche Währung „Cruzeiro“ (Kreuzfahrschiff bzw. Kreuz des Südens) wurde durch den „Cruzado“ (Kreuzritter, oder: durchgestrichen) ersetzt und 3 Nullen gestrichen.

Die schlauen Ökonomen, die sich diesen Plan ausgedacht hatten, hielten die Inflation für ein Ergebnis von Preissteigerungen und froren die Preise ein. Sie dachten, die Inflation käme zustande, weil in Preise, Verträge und Mieten die Inflation bereits eingepreist worden war. Inflation gebiert Inflation, man muss nur einmal das ganze stoppen und schon ist sie weg. Eine schlechte Gewohnheit, die man dem p.t. Publikum abgewöhnen muss. Stattdessen ging jedoch die Produktion zurück, die Importe überstiegen die Exporte, der Devisenschatz der Nationalbank schrumpfte, die Energieversorger-Firmen mussten vom Staat gestützt werden und am Schluss musste die Preisdeckelung aufgegeben werden.

Es war wohl ein ökonomisches Wunschdenken, das die Rolle der Notenbank und ihrer Geldemission aus dieser Inflationstheorie völlig ausgespart hatte.

Vom „Plan Cruzado“ blieb nur die neue Währung, die genauso wie die alte begann, rasant Nullen zu akkumulieren. Deswegen wurden 1989 ohne grosse Begleitmassnahmen wieder ein paar Nullen gestrichen und der „Neue Cruzado“ eingeführt – der auch nicht lange hielt. Als nächstes wurde die Währung wieder in Cruzeiro umbenannt, um wieder Nullen abwerfen zu können.

Die nächste – und auch bisher endgültige – Reform war die Einführung des Real 1994. Der Real war die Währung Portugals und seines Kolonialreiches bis 1911 und bedeutet „königlich“. Gleichzeitig heisst „real“ aber auch „wirklich, tatsächlich“ und deshalb wurde vermutlich diese Bezeichnung gewählt, um die Sehnsucht nach einer halbwegs beständigen Währung auch im Namen auszudrücken. Dass der Real sich aber mit Ach und Weh bis heute hielt, lag nicht am Namen, sondern an seiner Bindung an den Dollar. Die wurde jedoch nicht so genannt, aus verschiedenen Gründen. Statt des Dollar wurde die Bezeichnung „Wirkliche Werteinheit“ verwendet, die zufällig! gerade einem Dollar entsprach. Dazu kamen Aufkäufe der Währung durch die Nationalbank, um den Wechselkurs zu stabilisieren, und eine Politik des knappen Geldes, verbunden mit hohen Zinsen, die ausländisches Kapital anlockten.

Es war schliesslich nicht die Dollarbindung allein, die den Real bis heute über die Runden brachten. Argentinien ging 2001 pleite, auch dieses Land hatte eine Dollarbindung betrieben. Aber dort hatte sich die restliche Wirtschaft anders entwickelt.

III. 2. DER ENERGIESEKTOR

III. 2. 1. Die Wasserkraft

Da sich die Energieabhängigkeit jahrzehntelang als der Hemmschuh der wirtschaftlichen Entwicklung erwiesen hatte und eine der wesentlichsten Ursachen von Schuldenkrisen und Inflation war, so war es naheliegend, dass sich verschiedene brasilianische Regierungen seit den 80-er Jahren verstärkt darum bemühten, an dieser Ecke etwas weiterzubringen.

Die Wasserkraft wurde seit den 70-er Jahren mit grossem Schwung ausgebaut. Das bis heute wichtigste Wasserkraftwerk und lange nach Leistung das grösste der Welt ist das 1984 in Betrieb genommene Itaipú am Paraná. Praktisch gleichzeitig wurde weiter nördlich ein grosses Kraftwerk gebaut, um die energieintensive Aluminiumindustrie mit kostengünstigem Strom zu versorgen. Seither wird zügig weiter gebaut, wo es nur geht und mit relativ wenig Rücksicht auf die Folgen für Mensch und Natur. Gerade unter den PP-Regierung wurde auch wieder sehr auf die Wasserkraft gesetzt. Alle diese Kraftwerke decken aber nicht einmal die Hälfte des Strombedarfes Brasiliens ab, sodass die Energiefront weiter betreut werden musste.

III. 2. 2. Biokraftstoffe

Um eine Alternative zum lange nicht im Inland vorhandenen Erdöl zu finden, wurde Brasilien zum zweitgrössten Erzeuger von Bioethanol und Biodiesel – nach den USA, die Vorreiter bei dieser Art von Kraftstoffen waren und bis heute grösster Produzent sind.

Der Aussage von Hugo Chávez, dass es eigentlich verrückt sei, Lebensmittel durch den Auspuff zu jagen, während weltweit Menschen hungern, ist hier uneingeschränkt zuzustimmen. Ausserdem wurden und werden die Agrarflächen, auf denen die für diese Zwecke angebauten Pflanzen stehen, vorher dem Urwald entrissen, schaden also dadurch der CO2-Bilanz. Sie verringern die Absorptionsfähigkeit. Dennoch verkündet brasilianische Politiker immer wieder, dass ihr Land mit seinem Biokraftstoff-Anteil bei der CO2-Bilanz mindestens so gut, wenn nicht besser abschneide als andere Industriestaaten, weil die Biokraftstoffe gegenüber den fossilen den Ausstoss verringern.

In Brasilien haben sich jedenfalls die Landwirtschaft, die Autoindustrie und die Energieversorger auf diese Art von Kraftstoffen eingestellt. Sie stellen allerdings nur rund ein Viertel des durch Fahrzeuge verbrauchten Treibstoffs, sind also also vom Standpunkt der Energie-Autarkie eine Art Pausenfüller.

Der grosse Wurf – und das ist auch in Hinsicht auf die heutige Debatte über den Ersatz fossiler Energieträger durch erneuerbare Energien untersuchenswert – gelang erst mit Ölfunden und der Schaffung einer eigenen Erdölindustrie.

III. 2. 3. Die fossilen Energieträger. Petrobras

Magere Ergebnisse im Land

„Im Jahr 1953 verstaatlichte der damalige Präsident Brasiliens Getúlio Vargas unter dem Motto »Uns gehört das Öl!« die bis dahin in Brasilien vor allem amerikanisch kontrollierte Ölindustrie. Zu diesem Zweck wurde am 3. Oktober 1953 die Petrobras gegründet und mit einem Monopol für die meisten Sektoren der Rohölindustrie ausgestattet.“ (Wikipedia, Petrobras)

Die Formulierung ist missverständlich. Es gab praktisch keine Ölindustrie, die die USA kontrollieren hätten können. In den vergangenen Jahrzehnten hatten aber die Aktivitäten von US-Ölfirmen zu der Vermutung Anlass gegeben, dass sie die Versuche brasilianischer Behörden und Firmen, Ölvorkommen zu finden, hintertrieben hatten, um die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens zu hintertreiben und die Hand der USA auf alle Ölvorkommen des amerikanischen Kontinents – und der ganzen Welt – zu legen. (Im gleichen Jahr, als Petrobras verstaatlicht wurde, 1953, wurde Mossadegh gestürzt.)

Vargas überlebte diesen Akt nicht einmal um ein Jahr. Die Militärs, die ihn stürzten, beliessen allerdings, ähnlich wie Pinochet in Chile, die Verstaatlichungen ihres Vorgängers. Damals war jedoch die Erdölproduktion Brasiliens unbedeutend. Alle bisherigen Bohr- und sonstigen Versuche hatten einzig und allein Ölvorkommen in der Gegend von Bahía dingfest gemacht, deren Erschliessung jedoch nicht so recht vorankam. Einige kleinere Raffinerien entstanden im Lauf der Zeit, die vor allem importiertes Erdöl verarbeiteten. Der Bedarf der wachsenden brasilianischen Industrie hingegen wuchs ständig.

Aufs Meer!

Gerade als Petrobras in Folge der Ölkrise 1973, der hohen Preise für die Ölimporte und der mageren Perspektiven im Inland besonders vor sich hinkümmerte, wurden 1974 mit Hilfe neuerer Technologien im Meer vor der brasilianischen Küste Ölvorkommen entdeckt und in Folge mit Hilfe privater Sub-Firmen erschlossen. Da aber das in Brasilien vorhandene Kapital nicht ausreichte, wurden von der Regierung Cardoso (die auch den Real und seine Dollarbindung eingeführt hatte), 1997 private Firmen, auch ausländische, in begrenztem Masse zugelassen. Daneben wurde eine Aufsichtsbehörde eingesetzt, die dafür sorgen sollte, dass die zentrale Stellung von Petrobras und die nationalen Interessen Brasiliens bei allen Unternehmungen gewahrt bleiben würden.

Unter Beiziehung des Kapitals verschiedener Staaten – ohne US-Firmen! – wurde im Jahr 2000 im Meer die damals grösste und auch angeblich leistungsstärkste Ölplattform der Welt installiert. 10 Monate später sank sie aufgrund einiger Explosionen, nachdem alle Rettungsversuche gescheitert waren. (An was erinnert uns das?)

Es wurde aber nie von Sabotage ausgegangen. Die Plattform war von verschiedenen Firmen in verschiedenen Ländern um- und ausgebaut worden. Viele Köche verderben den Brei, das Design stammte offenbar vom Karneval in Rio und es mag sein, dass sie tatsächlich an irgendwelchen Geburtsfehlern verendet war.

Brasilien steckte den Verlust von 500 Millionen $ locker weg, als Besitzer fungierte sowieso eine italienische Firma. Vielleicht war es auch gross angelegter Versicherungsbetrug. Nachdem einige Jahre durch ein Ersatzschiff Öl gefördert worden war, weihte Lula 2007 die Nachfolgerin ein, die P-52-Ölplattform. Kosten ca. 1,1 Milliarden $.

Die Rolle Rousseffs

Der politische Aufstieg Dilma Rousseffs begann mit zwei Mandaten als Energieministerin der Regionalregierung der Provinz Rio Grande do Sul. Sie veranlasste ein Bauprogramm, das das Stromnetz der Provinz renovierte, um die ständigen Ausfälle und Abschaltungen zu beenden, die dort seit geraumer Zeit an der Tagesordnung waren. Später setzte sie ein ähnliches Programm auf Bundesebene durch. Es war ihre Leistung, darauf hinzuweisen, dass Energiepolitik nicht nur mit Energiequellen und -importen zu tun hat, sondern auch mit ihrer Verteilung an die Endverbraucher, ob Privathaushalte, Betriebe oder Behörden.

Als Energieministerin in der ersten PT-Regierung bestand sie darauf, beim Ausbau der Ölindustrie einheimische Firmen zu beteiligen. Damit begann der Aufstieg der Firma Odebrecht, die sich neben ihrem bisherigen Baugeschäft und dem Einstieg in die Petrochemie am Bau der Ölplattformen beteiligte. Mit staatlichen Grossauträgen wuchs das Unternehmen zu einem Konglomerat heran, dass sich auch an der Rüstungsproduktion und am Schiffbau beteiligte. Rousseff leitete neben dem Ministerium für Energie auch von 2002 bis 2010 die Firma Petrobras. In dieser Zeit überflügelte diese Firma die meisten anderen Ölkonzerne der Welt, durch Käufe in Argentinien, Bolivien, Venezuela und Peru und weitere erfolgreiche Bohrungen im Meer, die in der Installation weiterer Bohrinseln mündeten. 2009 war Petrobras nach Gewinnen der zweit-erfolgreichste Ölkonzern der Welt, nur noch übertroffen von Exxon Mobil.

Weder den grossen Ölkonzernen noch den USA gefiel dieser Aufstieg.

Das Fundament von Brasiliens Industrie

Zusätzlich stieg Petrobras auch in die Biotreibstoff-Produktion, das Raffineriegeschäft und die Petrochemie ein, alles in Zusammenarbeit mit Odebrecht.

2010 erweiterte Petrobras sein Aktienkapital mit einer Emission von 120 Milliarden Real (damals 58 Mrd. €), der damals grösste Umfang für ein Manöver dieser Art. Einen guten Teil dieser Aktien zeichnete der brasilianische Staat, der damit seinen Anteil an der Firma weiter erhöhte.

Damit war der vorläufige Höhepunkt der Ausdehnung von Petrobras erreicht. In den kommenden Jahren begann ein Rückgang, der verschiedene Ursachen hatte, darunter die weltweite Finanzkrise, die zu einem Rückgang der Produktion und zu einem Verfall des Ölpreises führte, auch innerbrasilianische Probleme wie die Finanzierung von Projekten, die keine Gewinne für Petrobras brachten, aber Infrastruktur schufen, und schliesslich politische Probleme wie der erzwungene Rücktritt Rousseffs und die Korruptionsermittlungen gegen Petrobras, die die Aktie der Firma weltweit abstürzen liessen. Nach einigen mageren Jahren konnte Petrobras jedoch im Jahr 2022 einen Rekordgewinn verbuchen.

Der am Sturz Rousseffs beteiligte Michel Temer und ihr gewählter Nachfolger Bolsonaro rührten auch nicht am Monopol, der gesetzlichen Stellung und der wirtschaftlichen Macht von Petrobras, obwohl sie aus Washington dazu gedrängt wurden.

Sie wussten, was sie damit aufs Spiel setzen: Die gesamte Wirtschaft Brasiliens, ihre Unterstützung unter den Eliten und dem Militär – und letztlich auch ihre eigene Unversehrtheit.

Unter dem Mandat von Rousseff begann jedoch eine fruchtbare Zusammenarbeit mit China, das sich über die 2014 Schanghaier Entwicklungsbank an der Erforschung und Erschliessung von Brasiliens Ölressourcen und anderer Energiequellen sowie Infrastrukturprojekten beteiligte.

IV. BRASILIEN UND DIE BRICS

IV. 1. Die „BRICS “ – Notgemeinschaft oder Schöpfer einer neuen Weltordnung?

Für die Inspirierung dieses Blocks aus „Schwellenländern“, die die Heimatländer des Kapitals des Kapitals vom Sockel stossen wollen, ist lustigerweise ein britischer Ökonom 2001 – bei einer Analyse für die US-Bank Goldmann Sachs – Pate gestanden. Zumindest geht auf ihn die Abkürzung zurück, weil er erstmals diese 5 Staaten miteinander verglich und ihnen aufgrund ihrer guten Wachstumsraten eine glänzende Zukunft voraussagte. Dabei ist es ziemlich vermessen, ein Land wie Russland, das sich gerade wie Phönix aus der Asche aus den Ruinen der Sowjetunion aufrappelte, als Schwellenland aufzufassen und ihm für seine wirtschaftliche Performance gönnerhaft auf die Schulter zu klopfen.

Ob es jetzt wirklich dieses britische Superhirn war, das den Anstoss gegeben hat oder ob die Akteure unabhängig davon tätig wurden – auf jeden Fall wurden die BRICS als loses Staatenbündnis 2004 in St. Petersburg gegründet, anlässlich eines Wirtschaftsforums. Sie vereinen über 40% der Weltbevölkerung, 25% des Festlandes der Erde, haben Bodenschätze, Industrie und Agrarflächen und ihre weisen Führer meinen, daraus liesse sich doch etwas machen. Ein Garant für Erfolg ist das allerdings nicht. Die Zeiten, als Menschen schaffende Hände und deshalb Reichtum bedeuteten, sind längst vorbei. Heute sind viele der Bewohner der Erde überflüssig und werden von vielen „Experten“ stöhnend als Problem betrachtet.

Die Ausnahme stellt hier wieder Russland dar, das traditionell und seit dem Zerfall der SU verstärkt mit Unterbevölkerung kämpft.

IV. 2. Die Neue Entwicklungsbank (NEB)

10 Jahre später gründeten die 5 Staaten die Neue Entwicklungsbank, um sich von den traditionellen Kreditgebern des US-basierten Weltmarktes zu emanzipieren. Das Stammkapital, der Kreditrahmen und alles andere sind in Dollar vorhanden bzw. werden in Dollar berechnet. Zur Überwindung des Dollar-Systems musste also ausgerechnet er selbst herhalten. Es gibt inzwischen Pläne für eine gemeinsame Digitalwährung, um zumindest ein Gegengewicht zum Dollar zu schaffen. Vorschläge gibt es bereits für den Namen: „5R“ (Real, Rubel, Rupie, Rand, Renminbi).

Nur um die Bedeutung dieser Bank auch richtig zu verstehen: Im Mai 2014 kämpfte die Eurozone mit einigen Jahren Finanz- und Eurokrise, Rezession, Rettungsschirmen, der Euro selbst war in Gefahr. Politisch war gerade der Maidan über die Bühne gegangen und der Krieg im Donbass hatte begonnen – der dem jetzigen Krieg voranging und laut OSZE-Angaben 14.000 Tote forderte.

Es krachte also ordentlich im internationalen System – und da sagen ein paar Staaten: Versuchen wir uns doch langsam von diesem Weltfinanzsystem abzunabeln und unsere Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen!

Diese Entwicklungsbank ist seither die bedeutendste Konkurrenz von IWF, Weltbank und kleineren Banken für Entwicklung aller Art. Durch ihre Geldgeber und ihre Aufgabenstellung kann sie auch Verluste locker wegstecken. Wenn ein Projekt nicht besonders erfolgreich ist, so geht weder die Bank darüber zugrunde, noch das Projekt. Es wird eben weiter Geld hineingeleert, solange der entsprechende Staat darauf beharrt, oder es werden Kredite gestundet, oder es wird umgeschuldet.

Aber der Schatz der Bank ist schier unerschöpflich, weil er teilweise auf den Währungen von Staaten beruht, die die Grösse der Nation über die Geschäftskalkulationen ihrer Bürger stellen und auch ihre staatlichen Finanzen fest im Griff haben, so auch Indien mit der Rupie.

Seit 2021 sind weitere Staaten der Entwicklungsbank beigetreten, ohne jedoch bei den BRICS aufgenommen zu sein: Bangladesch, Ägypten, die VAR und Uruguay.

Seit ihrer Gründung hat diese Bank – teilweise im Rahmen der neuen Seidenstrasse – jede Menge Transportwege, andere Infrastrukturprojekte, Kraftwerke, Staudämme usw. finanziert, nicht nur bei den Mitgliedsstaaten.

IV. 3. Brasilien und die NEB

Brasilien ist derzeit der Staat mit den meisten gerade laufenden Projekten, deren Finanzierung durch die NEB genehmigt wurde. Diese Projekte wurden alle noch unter der Regierung von Jair Bolsonaro eingereicht. Sie wurden zwar von einzelnen Städten oder Provinzregierungen beantragt, aber man merkt, dass Bolsonaro hier nicht daran dachte, am Verhältnis zu den BRICS zu rütteln, weil die Wirtschaft und damit die Unternehmerschaft Brasiliens davon in einem Masse profitiert, dass jede Störung in den Beziehungen zu den BRICS und der NEB unerwünscht ist.

Diese Projekte enthalten die Verbesserung des öffentlichen Verkehrs in verschiedenen Städten, sei es durch Anschaffung von Bussen oder den Bau von U-Bahnen, Renovierung und Ausstattung von Schulen, Anti-Covid-Massnahmen, erneuerbare Energien und Umweltschutzmassnahmen, den Bau von Kläranlagen, usw. usf.

Lauter Dinge, die durch die Auflagen des IWF „zur Sanierung der Staatsfinanzen und Wiederherstellung der Kreditfähigkeit“ in Lateinamerika unterblieben oder gestoppt werden mussten, weil der Staat ja sparen musste!

Es ist angesichts dessen für jeden Bürger Brasiliens offensichtlich, dass sie mit dieser Bank und den BRICS besser fahren als mit den traditionellen Kreditgebern, den grossen Banken Europas und der USA – vor allem, wenn sie in ihr unglückliches Nachbarland Argentinien schauen, das mit seiner IWF-Partnerschaft schlecht gefahren ist und einen völlig unbe- und -abzahlbaren Schuldenberg vor sich herschiebt.

IV. 4. Ärger aus den USA

Man liest und hört immer von dem Unmut der USA über den wachsenden Einfluss Chinas in ihrem lateinamerikanischen Hinterhof. Aber es ist alles, vom Standpunkt der imperialistischen Ambitionen der USA, viel schlimmer. Die BRICS und die NEB sind ja nicht nur China. Auch Indien leistet einen bedeutenden Beitrag zu der Bank. Russland auch, es bietet ausserdem Erdöl-Abbau-Know-How und -Ausrüstung, es liefert Waffen und, wie kürzlich festzustellen war, Impfstoff. Jede Menge Produkte, die US-Firmen dort nicht mehr verkaufen können und die damit die Abhängigkeit von den USA verringern und die dortige Souveränität stärken.

Auch Europa ist inzwischen sehr abgemeldet in Lateinamerika. Man hätte zwar gerne weiterhin europäische Produkte, aber oft scheitern sie an der Finanzierung. Das Freihandelsabkommen mit der EU muss nachverhandelt werden und ist inzwischen auch gar nicht mehr so wichtig für Brasilien: Das Land hat sich ja nach dem Maidan 2014 den ganzen russischen Markt für seine Agrarprodukte erschlossen, und zu besseren Bedingungen, als sie die EU bietet. Und, was das Allerwichtigste ist: Es hat gemerkt, dass es über weite Strecken auch ohne Dollar und Euro auskommt.

Die USA mit ihrem gesamtem Apparat – CIA, USAID, Militär-Attachés, NGOs aller Art und inzwischen auch fundamentalistische Sekten, die vor allem unter dem Deckmantel der Religionsgesellschaft steuerfreie Geschäfte in diversen Staaten Südamerikas betreiben – arbeiteten nach dem gleichen Schema wie anderswo auch: Einfach die Regierung auswechseln, uns genehme Leute an die Macht hieven und die dann dazu bringen, das Schiff wieder auf proamerikanischen Kurs zu steuern.

Der erste Schritt gelang auch: Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wurde die gewählte Präsidentin von einer auf Zuruf (und vermutlich auch Zuwendungen) aus den USA agierenden Parlamentsmehrheit abgesetzt, weil sie bei ihrer Regierung Buchungsfehler vorgenommen hatte! Dilma Rousseff ging nicht deshalb ihres Amtes verlustig, weil man ihr vorwarf, Geld in die eigenen Taschen gesteckt oder Schmiergeld an Unternehmen gezahlt zu haben. Sondern deshalb, weil sie Schulden ihrer Vorgängerregierung nicht gehörig deklariert und über Ein- und Ausnahmen irreführende Aussagen gemacht hatte. Buchhaltung: Nichtgenügend, setzen!

Es ist schon beachtlich, was alles im Hinterhof der USA möglich ist.

So, soweit lief alles glatt. Ihr interimistischer Nachfolger Temer tat alles mögliche, um das Vertrauen seiner Auftraggeber zu belohnen:

„Nach seiner Amtsübernahme kündigte Temer Kürzungen, Entlassungen, Privatisierungen, eine Rentenreform und die Liberalisierung des Arbeitsmarkts an. Im Sender TV Globo gab er bekannt, da er sich 2018 nicht zur Wahl stelle, könne er nun »unpopuläre Entscheidungen« treffen. Er kündigte eine »Regierung der nationalen Rettung« an und eine stärkere Betonung der Religiosität. In seiner Antrittsrede betonte er, seine Regierung werde die Ermittlungen im Korruptionsskandal Lava Jato um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras nach Kräften unterstützen.

Temer tauschte alle Minister aus und bildete die Institutionen um. Ganze Ministerien wurden aufgelöst. Unter den Staatsbediensteten fand ein umfassender Austausch statt. … Als eine der ersten Amtshandlungen entliess die De-facto-Regierung 4000 Staatsbedienstete. Es war das erste Kabinett seit 1979, dem keine Frau angehörte. … Zum Aussenminister bestimmte Temer José Serra; das 74-jährige Mitglied der rechtsgerichteten PSDB war zweimal in der Stichwahl um das Präsidentenamt geschlagen worden… Als Finanzminister ernannte Temer den 70-jährigen Henrique Meirelles, einstiger Vorstandschef der Bank of Boston und 2003–2010 Zentralbankchef. Er steht für eine marktfreundliche Finanzpolitik. Agrarminister wurde der umstrittene Gen-Soja-Grossunternehmer Blairo Maggi, der für die Zerstörung weiter Teile des Regenwaldes am Amazonas verantwortlich gemacht wird. Industrieminister wurde Marcos Pereira, ein evangelikaler Prediger und Bischof einer der grössten Pfingstkirchen Brasiliens. … Als Arbeitsminister wurde Ronaldo Nogueira ernannt, ein weiterer Prediger der evangelikalen „Assembleia de Deus“. Temer ernannte den General Sérgio Etchegoyen zum Minister für Nationale Sicherheit.“ (Wikipedia, M.Temer)

IV. 5. Zurück auf Kurs

Das Szenario war bereitet für Bolsonaro, in den von Washington aus grosse Hoffnungen gesetzt wurden – die er nicht erfüllt hat. In Brasilien wurde zwar einiges durcheinandergebracht, aber das Land blieb fest im Verband der BRICS verankert.

(Die sonstigen Hoffnungen, die die Trump-Regierung in Bolsonaro – und auch in Ivan Duque in Kolumbien – gesetzt hatte, doch in Venezuela einzumarschieren, erfüllten sich ebenfalls nicht. Brasilien weigerte sich dezidiert.)

Auch die durch die USA angestossenen Korruptionsuntersuchungen in Sachen Odebrecht, Petrobras usw. erwiesen sich teilweise als stumpfe Waffe, teilweise als Bumerang – und sind inzwischen, was man so mitkriegt, grösstenteils im Sand verlaufen, zumindest in Brasilien. Sie liessen sich nicht auf die PT beschränken, erfassten alle Parteien und Unternehmen und gefährdeten den Zusammenhalt der brasilianischen Unternehmerklasse – die immerhin Bolsonaro an die Macht gebracht hatte.

Michel Temer sitzt inzwischen wegen Korruptionsuntersuchungen im Gefängnis.

Bolsonaro ist unlängst aus den USA wieder nach Brasilien zurückgekehrt. Es ist anzunehmen, dass es Verhandlungen gegeben hat, ihn bei entsprechender Zusammenarbeit mit der neuen Regierung nicht strafrechtlich zu belangen, zumindest nicht wegen Korruption und dem Sturm auf Brasilia.

Die PT hat mit Lula als Präsidenten wieder die Macht in Brasilien übernommen, und Dilma Rousseff ist inzwischen – im März 2023 – zur Präsidentin der NEB ernannt worden.

Das bedeutet nicht nur eine noch intensivere Zusammenarbeit Brasiliens mit China und Russland, sondern könnte auch für Europa Bedeutung haben, im Zusammenhang mit Bulgarien: Sowohl an der Spitze der NEB als auch der des IWF stehen Damen, die zumindest Wurzeln in diesem Land haben und um dieses Schlusslicht der EU wetteifern könnten.

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2. ) von Oben        —     Ponte Estaiada Cable-Stayed Bridge, São Paulo

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Zeitenwende des D-Kapitals

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Mai 2023

Wende in den deutschen Sonderweg

File:2021-08-21 Olaf Scholz 0309.JPG

Eine Zeitenwende ohne Anfang und Ende ähnelt eher einer Zeitungsente !

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Iwan Nikolajew

  1. Prolog

Im Jahr 2022 ruft Bundeskanzler Scholz die „Zeitenwende“ als Reaktion auf den Ukraine-Krieg aus. „Zeitenwende“ heißt konkret Konfrontation mit Rußland und auch mit China.

Deutschland muß sich einen neuen Platz an der Sonne suchen, nachdem die US-Hegemonie zusammengebrochen ist. Doch die „Zeitenwende“ ist bis jetzt nur eine halbe Zeitenwende, widersprüchlich und inkonsequent und spiegelt die Unentschlossenheit des deutschen Imperialismus wider, sich in der multipolaren Weltordnung neu zu positionieren. Das deutsche Kapital fürchtet sich vor der „Zeitenwende“ und verteidigt verzweifelt die untergegangene neoliberale Weltordnung, doch diese kommt nicht mehr zurück.

  1. Vom Ende des Endes der Geschichte

Nach dem Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten rief die Bourgeoisie das „Ende der Geschichte“ aus. Der Sieg des Kapitalismus über die nichtkapitalistischen und nachkapitalistischen bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten sollte ein goldenes Zeitalter hervorbringen, wo „Demokratie“ und „Wohlstand“ gesichert wären. Doch real war diese kapitalistische Epoche eine Epoche der Verelendung. Das Kapital brachte sich tendenziell auf seinen Begriff und produzierte den neoliberalen Weltmarkt. Die Märkte wurden dereguliert und privatisiert. Der bürgerliche Staat griff nur dann ein, wenn der neoliberale Weltmarkt gefährdet war oder sich ein Markt abschottete und damit drohte, den gesamten neoliberalen Weltmarkt zum Einsturz zu bringen. Das Wertgesetz entfaltete sich und regulierte den Weltmarkt unmittelbar. Jedoch konnte sich das Wertgesetz tendenziell nur deswegen auf seinen Begriff hin entwickeln, weil der Weltmarkt auch mit außerökonomischen Mitteln durch den US-Imperialismus garantiert wurde. Die Hegemonie des US-Imperialismus innerhalb der imperialistischen Kette garantierte die relative Einheit des neoliberalen Weltmarktes auch mit außerökonomischen Mitteln und Methoden, erst dadurch konnte sich das Wertgesetz tendenziell auf seinen Begriff bringen und unmittelbar den Weltmarkt regulieren. Das Wertgesetz steht nicht außerhalb der außerökonomischen oder politischen Gewalt, sondern die außerökonomische Gewalt ist das konzentrierte Wertgesetz, welches sich in der außerökonomischen Gewalt verdichtet; der ideelle Gesamtkapitalist, der bürgerliche Staat, ist ein materielles Produkt des Wertgesetzes, kann dieses nicht aufheben, sondern reproduziert konkret-spezifisch in mittelbarer Weise das Wertgesetz in sich selbst. Dies gilt auch für den Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette, welcher die höchste Verdichtung des Wertgesetzes ist, da sich der Hegemon als Ökonomie, wie auch als ideeller Gesamtkapitalist, über alle anderen Kettenglieder der imperialistischen Kette erhebt und erst Recht über die Peripherie. Der Hegemon ist der Schiedsrichter innerhalb der imperialistischen Kette und hat einen weitaus größeren Zugriff auf die Peripherie, als auf die Metropolen der imperialistischen Kette. Die US-Hegemonie konstituierte die relative Einheit des neoliberalen Weltmarktes zu ihrem Vorteil, aber auch graduell abschwächend, zum Vorteil der anderen Kettenglieder der imperialistischen Kette und drückte damit politisch das Gesamtinteresse der imperialistischen Kette gegenüber der Peripherie aus, welche kein Vorteil aus der US-Hegemonie zog und auch niemals Vorteile aus einer imperialistischen Hegemonie ziehen kann. Die US-Hegemonie war das Produkt des zweiten imperialistischen Weltkrieges und in letzter Instanz das Produkt der Großen Krise der dreißiger Jahre, welche sich politisch in den dem zweiten imperialistischen Weltkrieg verdichtete und materialisierte. Erst mit dem zweiten imperialistischen Weltkrieg und durch den zweiten imperialistischen Weltkrieg wurde die Große Krise der dreißiger Jahre überwunden. Das Kapital setzte die Arbeiterklasse weltweit neu zusammen und hob die Produktivkraft der Arbeit auf ein qualitativ höheres Niveau. Die durchschnittliche Akkumulationsbewegung wird durch das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate bestimmt, graduell weniger in den Konjunkturzyklen, aber vor allen in den langen Wellen der Konjunktur. In den kurzfristigen Konjunkturzyklen ist die Akkumulationsbewegung vor allem quantitativ bestimmt, die durchschnittliche Profitrate fällt tendenziell, später auch die Profitmasse und sie steigt tendenziell an, wenn die Entwertung des Kapitals weit fortgeschritten ist und führt zu einem Aufschwung der Akkumulation. Dies alles bei einem mehr oder minder gegebenen Niveau der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte. Historische Krisen des Kapitalismus, wie die Großen Krisen jedoch, sind qualitativ bestimmt. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte geht nicht gleichmäßig vonstatten, sondern in Brüchen und Sprüngen, in gleichzeitiger Ungleichzeitigkeit und stellt eine Schranke für die konjunkturelle Entwertung des Kapitals dar, indem sie verhindert, daß das Kapital sich deutlich entwerten kann. Die Überakkumulation von Kapital kann nicht abgebaut werden, da die kapitalistische Produktivkraft der Arbeit nicht qualitativ gesteigert werden kann, d.h. die Methoden der relativen Mehrwertproduktion reichen nicht aus, um die Profitrate wieder tendenziell steigen zu lassen. Erst mit einer qualitativen Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit kann das Kapital wieder profitabel produzieren, es bedarf eines qualitativen Sprungs in der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkraft, um die Profitrate tendenziell ansteigen zu lassen und dies bedeutet eine qualitative Umwälzung der historischen Form der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, ein neues Akkumulationsregime muß das alte Akkumulationsregime ablösen, eine qualitative Neuzusammensetzung des Kapitals und der Arbeiterklasse ist notwendig. Im Klassenkampf wird die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, bzw. das neue Akkumulationsregime, ausgekämpft, wenn nicht der revolutionäre Bruch mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen überhaupt gelingt. Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse heißt vor allem Kampf auf der Ebene der Fabrik um die Arbeitsorganisation und auf der gesellschaftlichen Ebene der Kampf um die Ausgestaltung des jeweiligen historischen Klassenkompromisses und auf der Ebene des Weltmarktes der Kampf um die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette. Eine historische Krise des Kapitalismus läßt die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette erodieren; die Große Krise hingegen leitet das Finale des Endes des Hegemons ein. Eine negative lange Welle der Konjunktur führt immer zu einer Hegemonialkrise innerhalb der imperialistischen Kette und damit zu einer existentiellen Krise der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, welche sich an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als Revolutionen, Revolten, Bürgerkriege, Kriege, Weltkriege materialisieren. Sollte der Kapitalismus diese existentielle Krise überstehen, entsteht ein neues weltweites Kräftegleichgewicht der sozialen Klassen im Klassenkampf und ein neuer Hegemon übernimmt die Führung in der imperialistischen Kette, damit zieht eine neue relative und temporäre Stabilität im Kapitalismus ein, die Profitrate beginnt tendenziell qualitativ zu steigen, bis zur nächsten negativen langen Welle der Konjunktur, bis wieder die kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit den kapitalistischen Produktivkräften aktiv und deutlich ausgeprägt in Widerspruch sich setzen.

Nur ein Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette garantiert eine stabile Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, ansonsten bleibt sie prekär und widersprüchlich. Es ist nicht so, daß nach dem Untergang eines Hegemons in der imperialistischen Kette, sofort ein neuer Hegemon auftritt und die imperialistische Kette relativ unter sich vereint, d.h. die imperialistische Kette relativ sich selbst vereint, sondern es folgt in der Regel nach dem Untergang eines Hegemons eine Epoche der Zerrissenheit in der imperialistischen Kette, ein Kampf um den Thron des Hegemons, alle gegen alle, jeder gegen jeden. Dieser Kampf um den Thron des Hegemons muß innerhalb der imperialistischen Kette ausgefochten werden, bei Strafe des Untergangs. Eine Metropole, welche nicht versucht sich auf den Thron des Hegemons zu setzten, geht unter, denn dieser Kampf um die Hegemonie ist ein Kampf um die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, ein Kampf um die Neuzusammensetzung des Kapitals auf internationaler Ebene, auf Weltmarktebene, vitalisiert in jeder Metropole die Akkumulationsbedingungen, auch wenn nur eine Metropole sich im Hegemon krönen kann. In der Epoche der Zerrissenheit existiert kein Hegemon, aber desto mehr der Kampf um die Hegemonie, diese Epoche kann länger oder kürzer sein, aber ein Hegemon kann nur durch eine Kette imperialistischer Kriege oder durch einen Weltkrieg gekrönt werden. Doch nicht jeder Weltkrieg löst das Problem der fehlenden Hegemonie, sondern potenziert noch die Epoche der Nicht-Hegemonie. Dann ist ein weiterer Weltkrieg notwendig. Eine erfolgreiche Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse-Neuzusammensetzung des Kapitals realisiert eine qualitative Erhöhung der Produktivraft der Arbeit auf Ebene des Weltmarktes und produziert damit auch einen Hegemon. Es kann nur einen Hegemon geben. Hegemonie, alleinige Weltmacht, kann nicht geteilt werden, sie ist unteilbar. Ein neues Akkumulationsregime entsteht nur unter einem Hegemon. In der Epoche der Zerrissenheit stehen viele Akkumulationsregime im Kampf um die Hegemonie in Konkurrenz zu einander. Doch erst dann, wird ein Akkumulationsmodell daraus, wenn ein Akkumulationsregime alle anderen Akkumulationsregime unter sich subsumiert, wenn eine Metropole sich zur Hegemonialmacht innerhalb der imperialistischen Kette krönen konnte. Eine Hegemonialmacht garantiert eine relativ stabile Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und damit ein bestimmtes internationales Klassengleichgewicht im Klassenkampf.

Der gegenwärtige Untergang des US-Imperialismus als Hegemonialmacht eröffnet eine neue, offene Situation, ein Kampf um die Hegemonie, ein Kampf um die Weltmacht mit allen Mitteln und mit aller Gnadenlosigkeit. Es ändern sich nur die historischen Formen des Kapitalismus, nicht aber der Kapitalismus selbst. Der Kapitalismus lernt nicht dazu, kann nicht dazu lernen, da dieser vom Wertgesetz reguliert wird. Entweder Sozialismus oder Barbarei. Dieses Wort von Rosa Luxemburg bleibt aktuell. Die gegenwärtige Große Krise wird die gleichen Wirkungen zeitigen wie die Große Krise der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, nur in anderen Formen. Eine friedliche Lösung der Verwertungsprobleme des Kapitals im historischen Ausmaß ist nicht möglich. Einen friedlichen Kapitalismus, Imperialismus bzw. Ultra-Imperialismus, kann es nicht geben. Es gibt keine friedliche Koexistenz innerhalb der imperialistischen Kette, wie ebenso in der kapitalistischen Totalität. Einen Kapitalismus ohne Krieg kann es nicht geben, denn der Krieg ist nur die Fortsetzung der Weltmarktkonkurrenz mit andern Mitteln. Im Krieg erreicht das Wertgesetz in seiner politischen Form die höchste Konzentration, transformiert sich in unmittelbare und physische Gewalt. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts schwächte sich die Hegemonie des britischen Imperialismus ab und vor allem der deutsche Imperialismus und der US-Imperialismus stellten die britische Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette in Frage. Diese innerimperialistischen Widersprüche eskalierten im ersten imperialistischen Weltkrieg. Mit dem Ende des ersten imperialistischen Weltkrieges zog der US-Imperialismus mit dem britischen Imperialismus gleich und der deutsche Imperialismus war weit abgeschlagen. Die Hegemonialfrage blieb ungeklärt und verschärfte sich weiter. Der zweite imperialistische Weltkrieg erst klärte die offene Hegemonialfrage. Der US-Imperialismus wurde zum Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette und organisierte den Weltkapitalismus und auch die Sowjetunion als bürokratisch entarteter Arbeiterstaat, welche ein mittelbares Moment des Weltmarktes war, mußte den Kapitalismus und seine Führungsmacht, den US-Imperialismus, in vielen Fragen, vor allem ökonomischen Fragen, akzeptieren. Auch der bürokratisch entartete Arbeiterstaat Sowjetunion war ein Glied im kapitalistischen Weltmarkt, welcher vom US-Imperialismus garantiert wurde. Der US-Imperialismus und der bürokratisch entartete Arbeiterstaat Sowjetunion waren nicht ebenbürtig, sondern nur fast gleichwertig; der US-Imperialismus in der Offensive und der bürokratisch entartete Arbeiterstaat Sowjetunion in der Defensive; der US-Imperialismus zielte auf die Zerstörung der Sowjetunion, die Sowjetunion hingegen suchte die Koexistenz zwischen USA und Sowjetunion, zwischen Kapitalismus und Sozialismus, eine Illusion, welche die materielle Grundlage für den Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in Osteuropa legte.

Eine Hegemonialmacht ist nicht allmächtig, ist keine „Weltregierung“, sondern ist nur deshalb hegemonial, weil sie die Interessen der anderen Weltmarktkonkurrenten ebenso konkret-spezifisch mit ihren eigenen nationalen Interessen integrieren und abgleichen kann, der US-Imperialismus war „Weltpolizist“ vor allem nur deshalb, weil ein „Weltpolizist“ vom Weltkapitalismus gefordert wurde und der US-Imperialismus diese Rolle und Funktion materiell ausfüllen konnte. Ohne einen „Weltpolizisten“ gäbe es keine relative Ordnung im Weltmarkt und die Kosten für jede Bourgeoisie, auch für die periphere Bourgeoisie, wäre höher, wenn kein Hegemon existieren würde. Diese Ordnung des Weltmarktes, diese Weltordnung, ist immer prekär und muß täglich verteidigt werden, daß Vorrecht der Hegemonialmacht wird dieser vom Weltkapital zugewiesen und kann nur dann realisiert werden, wenn auch gleichzeitig die Interessen aller anderen Kettenglieder der imperialistischen Kette berücksichtigt werden. Die Interessen der Hegemonialmacht müssen eine Schnittmenge mit den Interessen der restlichen Kettenglieder der imperialistischen Kette aufweisen und damit mit den Gesamtinteressen der imperialistischen Kette, erst dann ist der konkrete Imperialismus der ideelle Gesamtimperialist-hegemonialer Imperialismus. Der Zusammenbruch des bürokratisch entarteten Arbeiterstaates Sowjetunion, wie auch der anderen bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in Osteuropa, änderten an der Situation nichts. Auch dann wurde der US-Imperialismus nicht allmächtig. Eine Weltmacht ist immer nur relativ Weltmacht und muß mit anderen Großmächten gleichzeitig kooperieren und konkurrieren, ein weltweites relatives Gleichgewicht zwischen Weltmarktkooperation und Weltmarktkonkurrenz finden. Nur eine Hegemonialmacht kann ein Gleichgewicht innerhalb der imperialistischen Kette wahren. So gelang es den wiedererstandenen russischen Imperialismus in die imperialistische Kette zu integrieren und auch die Peripherie, wofür vor allem China steht. Die Ordnung von Teheran und Jalta galt weiter, auch ohne die Sowjetunion als zweite zentrale Garantiemacht. Der bürokratisch entartete Arbeiterstaat Sowjetunion als Garant aller anderen bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in Osteuropa konnte in der Weltmarktkonkurrenz nicht mehr mit der imperialistischen Kette mithalten, während sich der Weltkapitalismus unter Führung der imperialistischen Kette flexibilisierte und dynamisierte, stagnierten die bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten. Verstärkt ab Anfang der 80er Jahre werden verdeckt über die Sicherheitsapparate der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten vermehrt Kontakt zu den Sicherheitsapparaten der Metropolen aufgenommen und unter diesem Einfluß des Imperialismus bewegt sich die Bürokratie der entarteten Arbeiterstaaten langsam auf den Kapitalismus zu, was letztlich zur demokratischen Konterrevolution 1989 in Osteuropa führte und die Sowjetunion ab 1990 in die Agonie stürzen läßt, bis sie sich 1991 auch formal auflöst. Das Ende der Sowjetunion war nicht das Ende von Jalta, bzw. das Ende der Nachkriegsordnung. Auf Basis der Weltordnung von Jalta entwickelte sich der neoliberale Weltmarkt, welcher deutlich vom US-Imperialismus geprägt wurde. Unter der Herrschaft des neoliberalen Weltmarktes integrierte sich der russische Imperialismus in den Weltmarkt, jedoch positionierte sich der russische Imperialismus am Rand des neoliberalen Weltmarktes, während China, als führendes Land der Peripherie, zusammen mit den USA ins Zentrum des neoliberalen Weltmarktes vorrückte und diesen mit absicherte. Die Vorteile des neoliberalen Weltmarktes kamen somit auch dem russischen Imperialismus und China zu Gute. Doch mit der Zeit wurde der vom US-Imperialismus garantierte neoliberale Weltmarkt zur Fessel für die Entwicklung des russischen und chinesischen Kapitals. Will sich das russische und chinesische Kapital entwickeln, muß es mit dem neoliberalen Weltmarkt brechen, d.h. konkret mit dem US-Imperialismus als hegemonialen Imperialismus. Die historische Krise des Kapitalismus seit 1974/1975 konnte der Kapitalismus unter Führung des US-Imperialismus noch verarbeiten, sie war der Anfangspunkt für die neoliberale Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, als ein Versuch, diese historische Krise zu überwinden. Jedoch schlug dieser Versuch fehl, der Kapitalismus konnte nicht mehr zu seinen hohen Akkumulationsraten zurückkehren. Aber es gelang als Nebenprodukt der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse den Kapitalismus soweit zu dynamisieren, daß die bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in die Defensive gingen und schließlich zusammenbrachen. Die Rekapitalisierung Osteuropas eröffnete den Weg in eine neue Phase der neoliberalen Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse weltweit. Später versuchte der US-Imperialismus über Börsen- und Immobilienspekulation die Krise zu bannen, was notwendig fehlschlagen mußte. Die durchschnittliche Bewegung des Kapitals im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate läßt sich nur modifizieren, jedoch nicht aufheben. Das Rückstauen der Krise ist endlich. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts eskalieren langsam die Widersprüche zwischen dem US-Imperialismus und China, wie gleichzeitig auch zwischen dem US-Imperialismus und dem russischen Imperialismus. Während sich das fiktive Kapital am Gesamtkapital des US-Imperialismus zu Lasten der US-Mehrwertproduktion ausdehnte, wurde China zur Weltfabrik, konzentrierte sich die Mehrwertproduktion in China. Der US-Imperialismus wurde zum Importeuer der letzten Instanz und stabilisierte auf diese Weise die imperialistische Kette und auch China. Vor allem China rückte im Gegenzug zum größten Gläubiger des US-Imperialismus auf. Die Verschuldungspyramide des US-Imperialismus stabilisierte zwar kurzfristig den neoliberalen Weltmarkt, doch langfristig destabilisierte sie ihn. Verschulden kann sich der US-Imperialismus nur dann, wenn auch Wert dagegensteht. Doch das Absinken der US-Mehrwertproduktion setzt objektiv eine Grenze für die Verschuldung. Nur der Dollar als Weltgeld ermöglicht dem US-Imperialismus eine höhere Verschuldung, denn der US-Imperialismus kann sich in seiner eigenen Währung verschulden. Der US-Imperialismus hängt am US-Dollar. Doch auch dieser Ausweg ist endlich, denn eine uferlose Verschuldung zerstört auch den US-Dollar als Weltgeld. Der Ausweg für den US-Imperialismus besteht darin, die Verschuldung mit Wert zu unterfüttern und zwar nicht durch die Revitalisierung der US-Mehrwertproduktion, sondern mit außerökonomischen Methoden. Der US-Imperialismus versuchte mit außerökonomischen Methoden seine Defizite in der Mehrwertproduktion auszugleichen, indem die Verschuldung durch außerökonomischen Zwang kompensiert wird. Dieser außerökonomische Zwang, bzw. die außerökonomischen Methoden, zielte auf die Unterfütterung des US-Imperialismus, bzw. des US-Dollars, mit Wert durch den kolonialen Krieg. Da der US-Dollar an das Öl gebunden ist, war es die Politik des US-Imperialismus, dieses Band noch zu festigen, indem direkt und nicht über die Compradorenbourgeoisie vermittelt, das Öl und andere strategische Rohstoffe, unter US-Kontrolle genommen werden. Mit diesem direkten US-Zugriff auf die strategischen Rohstoffe wäre der US-Dollar mit Wert unterfüttert und der Petro-Dollar als Kern des US-Dollars als Weltgeld für lange Zeit gesichert gewesen. Einer weiteren Verschuldung des US-Imperialismus hätte nichts mehr entgegengestanden. Mit der US-Kontrolle über die strategischen Rohstoffe hätte man auch China unter Kontrolle, aber auch abgeschwächt den russischen Imperialismus. Die US-transatlantischen Kolonialkriege richteten sich unmittelbar gegen die Peripherie, aber mittelbar gegen den russischen Imperialismus. Diese Kolonialkriege waren immer auch verdeckte Stellvertreterkriege, um präventiv die US-Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette abzusichern. Es war immer eine Flucht nach vorn, eine Verzweiflungstat und immer auch eine Flucht vor der Krise, vor der Entwertung des Kapitals. Die Spekulationsblase des „New Economy“ Booms der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts platze im Jahr 2000 und riß die Mehrwertproduktion mit sich. Die Antwort war eine Radikalisierung der US-Spekulationspolitik und die offene imperialistische Aggression gegen die Peripherie. Es wurde die expansive Geldpolitik beibehalten und radikalisiert, damit auf höherer Stufenleiter der Spekulation die „New-Economy“ Spekulation durch die Immobilienspekulation ersetzt. Gleichzeitig inszenierte der US-Imperialismus die Terroranschläge in den USA am 11. September 2001, welche die Legitimation für die imperialistische Aggression in Form von Kolonialkriegen lieferten („Krieg gegen den Terrorismus“). Vor allem der Mittlere Osten und Zentralasien sollten in dieser Operation Syriana unter direkter US-Kontrolle, unter Ausschaltung der Compradorenbourgeoisie und der „nationalen“ Bourgeoisie, gebracht werden. Doch diese Kolonialkriege scheiterten, auch weil der russische Imperialismus und China den Widerstand der Peripherie unterstützten. Und mit den US-transatlantischen Kolonialkriegen scheiterte auch der Versuch, über die Immobilienspekulation die Akkumulation zu stabilisieren, denn es gelang nicht, über die Kolonialkriege das US-Kapital mit Wert zu unterfüttern. Die Politik des US-Imperialismus, die Schwäche der US-Mehrwertproduktion mit außerökonomischen Methoden zu kompensieren und die Politik der Immobilienspekulation abzusichern, kam in eine Sackgasse. Im Jahr 2007 brach ein Immobilienfonds zusammen, welcher konkret die notwendige Entwertung des Kapitals einleitete. Das Jahr 2007 wurde zum ersten Krisenjahr der Großen Krise. Aber erst der offene Zusammenbruch der Wall Street im September 2008 machte die ganze Tragweite des Zusammenbruchs der US-Immobilienspekulation transparent. Bis zum September 2008 konnten die Krisentendenzen noch beherrscht werden, denn bis dahin versuchte man die sich anbahnende qualitative Entwertung des Kapitals vermittels außerökonomischen Methoden imperialistischer Expansion zu kompensieren. Im georgisch-südossetischen Krieg im August 2008, wo zum ersten Mal indirekt in Form eines Stellvertreterkrieges der US-Imperialismus und der russische Imperialismus frontal aufeinanderstießen, sollte der russische Imperialismus vor allem im Kaukasus und aus Zentralasien zurückgedrängt werden, damit das US-Kapital die dortigen strategischen Rohstoffe monopolisieren könnte. Schon im Jahr 2008 wurde eine offene Konfrontation zwischen dem US-Imperialismus und dem transatlantischen Imperialismus gegen den russischen Imperialismus einkalkuliert. Dieser transatlantische Stellvertreterkrieg im August 2008 scheiterte jedoch; der russische Imperialismus wurde deutlich unterschätzt. Die Niederlage im Georgien-Stellvertreterkrieg des US-Imperialismus zerschlug die letzte Hoffnung, die kommende Entwertung des Kapitals mit außerökonomischen Methoden zu kompensieren und so brach die Entwertung des Kapitals im September 2008 offen durch. Die Flucht nach vorn des US-Kapitals endete im September 2008 im Zusammenbruch der Wall Street.

Es gelang dem US-Imperialismus und den transatlantischen Metropolen der imperialistischen Kette zwar den neoliberalen Weltmarkt zu stabilisieren, jedoch nur um den Preis einer mangelnden Akkumulationsdynamik. Das neoliberale Akkumulationsmodell begann zu verfaulen und zu verwesen, damit setzte der finale Abstieg des US-Imperialismus als Hegemonialmacht der imperialistischen Kette ein. Während der russische Imperialismus sich immer deutlicher vom neoliberalen Weltmarkt absetzte und China im neoliberalen Weltmarkt eine immer bedeutendere Funktion einnahm und den US-Imperialismus und die transatlantischen Metropolen überflügelte, gelang es dem deutschen Imperialismus in der EU zur dominanten Macht aufzusteigen. In Folge nahmen die Widersprüche innerhalb der imperialistischen Kette zu und deutlicher als je zuvor, beschritt der US-Imperialismus den Weg, die Krise der US-Mehrwertproduktion über außerökonomische Methoden zu lösen, obwohl diese Politik bereits im Jahr 2007 scheiterte. Lediglich die Aggressivität des US-Imperialismus reproduzierte sich auf höherer Stufenleiter, sonst änderte sich an der Politik des US-Imperialismus nichts. Vor dem Beginn der Großen Krise im Jahr 2007 galt Rußland in der Öffentlichkeit dem US-Imperialismus und der transatlantischen Metropolen noch nicht als Feind, eher als überflüssiger Verbündeter, was aber auch heißt, daß verdeckt der russische Imperialismus schon immer als Feind angesehen wurde. Nach dem Beginn der Großen Krise im Jahr 2007 wird immer offener der russische Imperialismus als Feind in den transatlantischen Metropolen kategorisiert. Die Quantität und Qualität der nun folgenden Stellvertreterkriege nimmt zu. Libyen, Syrien, Ukraine, Jemen sind die Brennpunkte, in denen sich die Weltmarktkonkurrenz in politischer Form verdichtet, d.h. konzentriert in Bürgerkrieg und Krieg. Seit dem Jahr 2013 stehen sich vor allem der US-Imperialismus und der russische Imperialismus Aug in Auge gegenüber, vor allem in Syrien und in der Ukraine, immer am Rand des Dritten Weltkrieges. Die Große Krise ist nicht nur eine ökonomische Krise, sondern sie verdoppelt sich in einer politischen Krise, reproduziert sich in einer internationalen politischen Weltkrise. Seit dem Jahr 2013 verschärft sich die internationale Lage deutlich und erreicht im Jahr 2014 mit dem offenen Ausbruch der Ukraine-Krise einen neuen Höhepunkt, bis die Ukraine-Krise im Jahr 2022 mit dem russisch-ukrainischen Krieg gänzlich eskaliert, die Welt dicht vor den Dritten Weltkrieg führt und den letzten Schlag gegen den neoliberalen Weltmarkt führt und damit gegen die US-Hegemonie. Der Ukraine-Krieg beendet auch formal die US-Hegemonie, indem der russische Imperialismus und China aus dem neoliberalen Weltmarkt und seiner neoliberalen Weltordnung ausbrechen. Gäbe es noch eine US-Hegemonie, gäbe es keinen Ukraine-Krieg. Mit dem Ukraine-Krieg beginnt der offene Kampf um die Position des Hegemons innerhalb der imperialistischen Kette, der Weltmarkt muß neu unter den Kettengliedern der imperialistischen Kette aufgeteilt werden, dabei steht jede Metropole mit dem Rücken zur Wand. Es ist ein Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt, verliert der andere. Erst ein Hegemon kann das Nullsummenspiel beenden; dies geht nur, wenn sich eine Metropole im Nullsummenspiel des Kampfes um die Hegemonie als Sieger durchsetzt. Nach dem Ausbruch des russischen Imperialismus und Chinas aus dem neoliberalen Weltmarkt hat auch der US-Imperialismus kein Interesse mehr an diesem und wirft ihn ebenfalls als Ballast ab. Auch dieser Prozess vollzieht sich nicht schlagartig, seit der Präsidentschaft Trump von 2017-2021 wird die US-Politik immer multipolarer, auch wenn sie noch transatlantische Phrasen benutzt. Unter der gegenwärtigen Präsidentschaft Biden wird diese multipolare Politik besonders deutlich, denn mittlerweile führt die USA auch einen offenen Wirtschaftskrieg gegen die transatlantischen Metropolen, wie gegen China und Rußland. Immer mehr gerät der US-Dollar als Weltgeld unter Druck, immer offener wird dem US-Dollar der Krieg erklärt. Brasilien fordert im Zusammenspiel mit China offen die Ablösung des US-Dollar als internationale Währung und seinen Ersatz durch eine rohstoffgestützte Währung der BRCI-Staaten. Dies zeigt auch an, daß der US-Imperialismus nicht mehr seinen Hinterhof unter Kontrolle hat. Die immer offenere Forderung nach Ablösung des US-Dollar als Weltleitwährung zeigt die Schwäche des US-Dollar an, der sich materiell in dem hohen Goldkurs zeigt, denn das Gold soll ein Moment in einer BRCI-gestützten neuen Währung sein. Allein die Diskussion um den US-Dollar als Weltwährung zeigt die Defensive des US-Dollarsystems und die Krise bzw. das Ende der US-Hegemonie an.

Statt um „liberale Weltgesellschaft“ geht es heute im um die „nationale Sicherheit“, bzw. um die Durchsetzung „nationaler Interessen“, real um die Durchsetzung imperialistischer Interessen in der Neuaufteilung des Weltmarktes. Heute sind „nationale Interessen“ immer „nationale Sicherheitsinteressen“. Jedes Kettenglied der imperialistischen Kette richtet sich nach seinen „nationalen Sicherheitsinteressen“ aus und damit gegen die „nationalen Sicherheitsinteressen“ des und der Weltmarktkonkurrenten. Ein Zusammenstoß der „nationalen Sicherheitsinteressen“ ist unter diesen Umständen unvermeidlich. Kampf aller gegen alle, Kampf jeder gegen jeden und wechselnde Allianzen prägen den multipolaren Weltmarkt. Weltmarkt heißt auch immer Weltkrieg. So wie der Weltmarkt im Kapitalismus alternativlos ist, da Kapitalismus immer Weltkapitalismus ist, so ist auch der Weltkrieg alternativlos, es sei denn, es gelingt der Arbeiterklasse diesen im Kampf um den Sturz des Kapitalismus diesen zu verhindern. Der Weltmarkt trägt den Weltkrieg immer in sich, so wie die Wolke den Regen in sich trägt. Ein Kapitalismus ohne Weltmarkt kann nicht existieren, der Weltmarkt ist die höchste Form des Kapitalismus und der Weltkrieg geht um Hegemonie im Weltmarkt. Nur durch Weltkrieg bzw. durch eine Kette von imperialistischen Kriegen, läßt sich die Hegemonie im Weltmarkt erringen und sichern, die ökonomische Weltmarktkonkurrenz reicht dazu allein nicht aus. So wird auch China als Weltfabrik den US-Imperialismus als Hegemonialmacht nicht ablösen können. Immer noch ist China ein Land der Peripherie, trotz des Status als Weltfabrik. China wurde zur Weltfabrik im neoliberalen Weltmarkt, ob China diesen Status im multipolaren Weltmarkt verteidigen kann, bleibt offen. Bisher konnte der US-Imperialismus, welcher in der Mehrwertproduktion im Vergleich zu China ins Hintertreffen geriet, diesen mit politisch-militärischen Methoden kompensieren. Noch haben die USA einen leichten Vorsprung im Bereich der hochentwickelten kapitalistischen Produktivkraft, welche sich auch im militärisch-industriellen Komplex niederschlägt. Trotz der chinesischen Aufrüstung ist im Moment noch das US-Militär stärker als China. Nur der Schutz Chinas durch den russischen Imperialismus, durch seinen „Schutzschirm“ der atomaren Waffen im Sinne einer Abschreckungspolitik, hält bisher die USA vor einem Angriffskrieg gegen China ab. Noch. Die Politik des US-Imperialismus wird immer irrationaler, weil verzweifelt, und ein US-Krieg gegen China liegt in der Luft. Die Taiwan-Frage wird der Anlaß für einen US-Angriff auf China sein. Gemeinsam sind Rußland und China den USA überlegen, wie auch gegenüber einer US-transatlantischen Front. Den transatlantischen Mächten ist es bisher nicht gelungen, Rußland gegen China auszuspielen oder umgekehrt. Im Gegenteil, diese Versuche haben dazu geführt, daß sich Rußland und China enger zusammenschließen und die transatlantischen Metropolen zunehmend in die Defensive drängen. Der deutsche Imperialismus ist von China abhängig, denn China ist nach den USA der größte Exportmarkt des deutschen Kapitals. Durch den deutschen transatlantischen Wirtschaftskrieg gegen den russischen Imperialismus steigt die Bedeutung des chinesischen Marktes noch weiter an. Eine Eskalation der US-chinesischen Widersprüche in einen umfassenden Wirtschaftskrieg oder gar Krieg (Taiwan-Frage) würde zum ansteigenden US-Druck auf das deutsche Kapital führen, den chinesischen Markt aufzugeben, mit drastischen Folgen für den Weltmarktanteil des deutschen Kapitals. Der Verlust des russischen Importmarktes für Energierohstoffe und andere strategische Rohstoffe, Metalle, die für die Umstellung der Energieproduktion auf Elektroenergie notwendig sind und der gleichzeitige Verlust des chinesischen Exportmarktes würden das deutsche Kapital in eine tiefe Krise führen. Gleichzeitig droht auch dann, wenn der deutsche Imperialismus diese US-Konfrontation gegen Rußland und China stützt, ein Wirtschaftskrieg mit den USA, denn die USA schotten sich auch gegen die EU damit auch gegen den deutschen Imperialismus ab. Es droht der Verlust des US-Marktes für das deutsche Kapital. Mit einer radikalen Deflationspolitik/Schockpolitik würde das deutsche Kapital auf den Verlust der zentralen Märkte (Rußland, China, USA) reagieren. Kann aber damit die Verluste nicht kompensieren, denn auch eine wohlfeilere Produktion für den Weltmarkt durch drastische Absenkung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus der Arbeiterklasse durch Zerschlagung der proletarischen Massenorganisationen vermittels Notstand scheitert an den Zollmauern der Weltmarktkonkurrenten, die auch auf den Wirtschaftskrieg zurückgreifen. Unter diesen Umständen kann die Westbindung des deutschen Kapitals nicht auf Dauer aufrechterhalten werden und das deutsche Kapital ist damit objektiv auf seinen alten Sonderweg abgedrängt.

Eine Hegemonialmacht, eine Weltmacht, geht nie friedlich unter, sie erlebt ihren Untergang auf dem Schlachtfeld und reißt die Welt mit sich. In Verzweiflung wird jedes Risiko eingegangen, um den Sturz vom Thron des Hegemons zu entgehen, d.h. die fallende Hegemonialmacht verhält sich immer irrationaler. Dies schlägt sich auch im Überbau nieder. Es breitet sich im Überbau eine irrationale Ideologie aus, welche notwendig ist, um sich gegen den notwendigen Abstieg aus den Höhen der Hegemonie zu wehren. Der untergehende Hegemon schlägt wild um sich, nach innen und nach außen, immer autoritärer; eine irrationale Ideologie erleichtert dies. Je mehr der untergehende Hegemon irrational um sich schlägt, desto schneller vollzieht sich ein Untergang. Je mehr irrationale Methoden angewendet werden, um den Sturz vom Thron des Hegemons zu verhindern, desto rascher ist die Hegemonie verloren.

Die Maßnahme, den russischen Imperialismus aus dem internationalen vom US-Imperialismus gestützten Zahlungssystem SWIFT auszuschließen, führt zum Aufbau eines vom US-Imperialismus unabhängigen internationalen Zahlungssystems; das Einfrieren der russischen Guthaben und die teilweise Enteignung derselben schadet deutlich dem US-Finanzsystem und dem US-Dollar als Weltgeld, denn jede Bourgeoisie wird sehen, daß ihre Guthaben unter dem „Schutz“ des US-Imperialismus nicht sicher sind, und sich einem russisch-chinesischen internationalen Finanzsystem annähern. Vor allem die arabischen Golf-Staaten haben aufgemerkt, welche über das Petro-Dollar-System den US-Dollar erst als Weltgeld stützen. Bisher war das Öl an den US-Dollar gebunden. Nun überlegt Saudi-Arabien auch andere Währungen, unter anderem den chinesischen Yuan, als Transaktionswährung zu nutzten, wie auch seine Investitionen in Richtung China zu intensivieren. Das internationale US-Finanzsystem ruht auf dem US-Dollar als Weltgeld und der US-Dollar als Weltgeld ruht auf dem internationalen US-Finanzsystem. Der US-Dollar als Weltgeld ist organisch mit dem internationalen US-Finanzsystem verbunden. Fällt der US-Dollar als Weltgeld, fällt das internationale US-Finanzsystem, fällt das internationale US-Finanzsystem, fällt auch der US-Dollar als Weltgeld. Die irrationale und kurzsichtige Politik des US-Imperialismus untergräbt objektiv die materiellen Grundlagen der US-Hegemonie, untergräbt den US-Dollar als Weltgeld und ebenso das internationale US-Finanzsystem. Der US-transatlantische antirussische Wirtschaftskrieg ist ein Alarm-Signal für alle Metropolen und auch alle Staaten der Peripherie, daß jedes Guthaben im internationalen US-Finanzsystem Sanktionen zum Opfer fallen, enteignet und eingezogen werden kann. Es kommt dann objektiv zur Flucht aus dem internationalen US-Finanzsystem und zum Aufbau eines russisch-chinesischen internationalen Finanzsystems in Konkurrenz zum internationalen US-Finanzsystem und somit stehen dann der rohstoffgedeckte Rubel und der Petro-Yuan als langfristige Alternative zum US-Dollarsystem gegen den US-Imperialismus. Auf diese Weise breitet sich der multipolare Weltmarkt naturwüchsig aus. Die „Politik der nationalen Sicherheit“ reflektiert konkret-spezifisch den naturwüchsigen Durchbruch des multipolaren Weltmarktes an die Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und ist eine politische Reaktion auf den Entwertungsschub des Kapitals seit Ende 2019. Bis Ende 2019 konnte der morsche neoliberale Weltmarkt am Leben gehalten werden, doch im Herbst 2019 brach der Repromarkt drastisch ein und abermals drohte ein Zusammenbruch des fiktiven Kapitals nach dem Muster vom September 2008. Es gelang kurzfristig der Entwertungsbewegung des fiktiven Kapitals die Spitze zu nehmen, ohne den Entwertungsprozeß aufhalten zu können. Gleichzeitig war das Jahr 2019 das Jahr der weltweiten proletarischen und kleinbürgerlichen Revolten. Der neoliberale Weltmarkt, die neoliberale Zusammensetzung der Arbeiterklasse durch das Kapital, kam an sein Ende und die historische Form des Endes des neoliberalen Akkumulationsmodells fand sich in der „Corona-Krise“.

In der historischen Form der „Corona-Krise“ brach sich die notwendige Entwertung des Kapitals bahn. Die „SARS-Corona-Pandemie“ war das zufällige Moment, welches als Auslöser für die aufgestauten Entwertungsprozesse fungierte. Jedes andere historische Moment hätte die gleiche Wirkung gehabt. Damit war die „SARS-Corona-Pandemie“ ein zufällig notwendiges Moment und gewann die Schlagkraft nur, aufgrund der im Hintergrund und in den Tiefen der kapitalistischen Produktionsweise verborgenen Entwertungstendenzen des Kapitals. In einem stabilen Weltmarkt wäre es zu einer internationalen Zusammenarbeit gekommen. Jedoch in einem stagnierenden Weltmarkt mußte die SARS-Corona-Pandemie zum Auslöser einer Entwertung des Kapitals werden, wie zum Zusammenbruch jeglicher internationaleren Zusammenarbeit. Der SARS-Corona-Virus ist ein Produkt des kapitalistischen Produktionsprozesses und hat seinen Ursprung in der industriellen Produktion von SARS-Viren in Sicherheitslaboren. Ob es ein Unfall war oder vorsätzliche Handlung dieses Virus freizusetzten, bleibt derzeit offen. Jeder bürgerliche Staat fühle sich von einem anderen bürgerlichen Staat angegriffen und reagierte mit militärischen und paramilitärischen Methoden, d.h. jeder bürgerliche Staat sah sich von einem unbekannten biochemischen Kampfstoff angegriffen und rief den Notstand aus. Über den „Corona-Notstand“ wurde drastisch das gesellschaftliche Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse abgesenkt und die Revolten, die das Jahr 2019 prägten, zerschlagen. Die finale Phase der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse in dem neuen Krisenschub der Großen Krise begann mit der „Corona-Krise“ unter dem Dogma der „nationalen Sicherheit“, welches den Durchbruch des multipolaren Weltmarktes ideologisch reflektiert. Das Ende der „Corona-Krise“ ist gleichzeitig der Beginn der Energiekrise und damit des Energienotstandes in der Form und Folge des Ukraine-Krieges. Die „Corona-Krise“ ist nur der Beginn der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, bereitet diese vor, aber erst mit dem Ukraine-Krieg und seinen internationalen ökonomischen und politischen Folgen beginnt die eigentliche Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Während in der „Corona-Krise“ eine deflationäre Tendenz in der Akkumulation vorherrschte und die Lieferketten zerschlug, führte die Normalisierung der Akkumulation ab Sommer 2021 zu inflationären Tendenzen. Doch das Kapital hatte kein Interesse mehr an der Rekonstruktion der neoliberalen Lieferketten. Seit Herbst 2021 begannen die internationalen politischen Spannungen zwischen dem russischen Imperialismus und dem US-Imperialismus und seiner transatlantischen Verbündeten zuzunehmen und eskalierten im Februar 2022 im Ukraine-Krieg. Die Nicht-Rekonstruktion der durch die „Corona-Krise“ zerstörten Lieferketten führte vom Sommer 2021 zu ansteigenden inflationären Tendenzen, welche ab Februar 2022 in Folge des Ukraine-Krieges und seines internationalen Wirtschaftskrieges explodierten und nur langsam zurückgehen, aber auf einem hohen Niveau verbleiben. In der „Corona-Krise“ entwertete sich das Kapital deflationär; in der Ukraine-Krise entwertet sich das Kapital inflationär, aber immer unter dem Schirm eines Notstandes im Namen der „nationalen Sicherheit“. Das Kapital reduzierte den Energieverbrauch und damit die Produktion- auf Kosten der Arbeiterklasse, welche auf Kurzarbeit gesetzt oder in die industrielle Reservearmee transformiert wird; die Arbeiterklasse reduziert den Energieverbrauch, weil die Reallöhne drastisch durch die inflationären Tendenzen sinken. Gleichzeitig werden die Energielieferungen an die Haushalte durch den bürgerlichen Staat ohne Information und Diskussion abgesenkt. Sollte sich dennoch Widerstand regen, stehen Notstandsmaßnahmen bereit, um die Senkung des Energieverbrauchs notfalls auch repressiv zu erzwingen. Der Energienotstand ist nicht offen ausgerufen, doch lauert er immanent im Hintergrund und diktiert die konkrete Politik der Bourgeoisie. Seit der „Corona-Krise“ steht die Verfassung, das Grundgesetz, unter Notstandsvorbehalt, bzw. unter dem Vorbehalt der „nationalen Sicherheit“. Solange die „nationale Sicherheit“ nicht bedroht ist, gilt die Verfassung. Ist die „nationale Sicherheit“ bedroht, ist die Verfassung bedroht, denn sie wird für eine unbestimmte Zeit außer Kraft gesetzt. Der Begriff „nationale Sicherheit“ ist die Generalklausel für die unbestimmte Suspendierung der Verfassung, für die Zerstörung der parlamentarisch-demokratischen Herrschaftsform der Bourgeoisie durch die Bourgeoisie selbst, denn nur diese, die von der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie erkämpft wurde, gibt der proletarischen Selbstorganisierung Raum, mit der sich die Arbeiterklasse ihre Eroberungen im Kapitalismus verteidigen kann. In der gegenwärtigen Phase der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse wird der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) tendenziell gegen die Arbeiterklasse aktiviert, dessen Funktion es ist, die Arbeiterklasse qualitativ zum Verzicht zu zwingen. Unter dem Diktat der „nationalen Sicherheit“ steht die Verfassung unter Notstandsvorbehalt. Jederzeit kann die „nationale Sicherheit“ die verfassungsmäßige parlamentarisch-demokratische Form bürgerlicher Klassenherrschaft brechen. Für die Bourgeoisie ist die parlamentarisch-demokratische Form ihrer Klassenherrschaft nur eine Form unter vielen anderen Formen bürgerlicher Klassenherrschaft, eine Option unter vielen andern Optionen, während für die Arbeiterklasse die parlamentarisch-demokratische Form des bürgerlichen Staates die einzige Form ist, in der die Arbeiterklasse im Kapitalismus sich als Totalität gesellschaftlich notwendig reproduzieren kann. Der Energienotstand ist nur die Fortsetzung des „Corona-Notstandes“ in einer anderen Form und der „Corona-Notstand“ ist nur die erste Phase des Energienotstandes. Hingegen beide politische Formen, die Form des „Corona-Notstandes“ und die Form des Energienotstandes, nur konkret-spezifisch die Entwertung des Kapitals reflektieren und die voneinander geschiedenen Formen nur verschiedene Phasen der Entwertung des Kapitals konkret-spezifisch widerspiegeln. Die Bourgeoisie droht der Arbeiterklasse mit einer „Schockpolitik“, um die Entwertung des Kapitals umzukehren, denn der aufziehende multipolare Weltmarkt bietet derzeit keine stabilen Akkumulationsbedingungen. Eine tendenziell zusammenbrechende internationale Kooperation mangels eines Hegemons destabilisiert den Weltmarkt, das jeweilige nationale Kapital ist auf sich selbst zurückgeworfen und somit kommt sofort das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse ins Visier des Kapitals, es droht eine „Schockpolitik“, eine schlagartige Deflationspolitik. Jedoch kann eine Deflationspolitik nur über einen bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) realisiert werden, der Verzicht der Arbeiterklasse muß massiv erzwungen werden. Im Namen der „nationalen Sicherheit“ marschiert dann die Repression des bürgerlichen Staates gegen die Arbeiterklasse. Eingeleitet wird diese Politik meist über eine Strategie der Spannung, deren Ziel es ist, den „inneren Feind“, wie den „äußeren Feind“ konkret zu bestimmen und die Massenlegitimation für dessen Vernichtung zu besorgen. Zum „Feind“ wird man, wenn man den geforderten Verzicht, den die Arbeiterklasse leisten soll, verweigert. Verzichtsverweigerung ist ein Angriff auf die „nationale Sicherheit“.

Im Energienotstand wird die „Freund/Feind-Kennung“ zentral. Ein Recht auf Opposition gibt es nicht mehr und deshalb muß zuerst die Meinungsfreiheit beseitigt werden. Heute ist Opposition mit „Feind“ gleichgesetzt. Erlaubt ist nur noch Kritik an einzelnen Momenten und dies nur zur Optimierung der vorgegebenen Ziele. Eine Grundsatzkritik kann heute die soziale Existenz gefährden. Immer auch ist eine Einschränkung der Meinungsfreiheit eine Einschränkung der Organisationsfreiheit des Proletariats, denn ohne Meinungsfreiheit ist eine proletarische Organisierung unmöglich und die Organisation ist die stärkste Waffe des Proletariats im Klassenkampf. Der bürgerliche Staat versucht über den Angriff auf die Meinungsfreiheit die Arbeiterklasse zu desorganisieren und damit zu entwaffnen. Das Ziel ist die Atomisierung der Arbeiterklasse und ihre Fesselung des Proletariats als Objekt der Akkumulation, die Verhinderung des Aufstiegs der Arbeiterklasse vom Objekt zum Subjekt der Klassengeschichte. Widerstand gegen die Deflationspolitik ist dann eine Gefahr für die „nationale Sicherheit“, während Deflationspolitik und Schockpolitik diese zu sichern helfen. Die Schockpolitik ist ein politischer Blitzkrieg gegen die Arbeiterklasse und setzt den Notstandsstaat als Exekutionsorgan voraus, welcher das schützende Schild über die Deflationspolitik hält.

Der „innere Feind“ sind konkret proletarische Kerne in der Arbeiterbewegung, welche der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse auf nationaler wie internationaler Ebene innerhalb des multipolaren Weltmarktes im Wege stehen und sich den Anforderungen des multipolaren Weltmarktes gegenüber mindestens passiv, wenn nicht gar aktiv, verwehren und die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse blockieren. Das Kapital ist notfalls bereit, den Widerstand gewaltsam zu brechen. Im Visier hat das Kapital zentral die Gewerkschaften, als zentrale proletarische Massenorganisation zur unmittelbaren Verteidigung des proletarischen Reproduktionsniveaus. Sollten die Gewerkschaften die Neuzusammensetzung des Kapitals- Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse verhindern oder auch nur behindern, droht die offene oder verdeckte Zerschlagung derselben. Gleichzeitig eröffnet man der Gewerkschaftsbürokratie Optionen für einen Einbau in den bürgerlichen Staat und damit den Weg in eine Arbeitsfront. Die Gewerkschaftsbürokratie kapitulierte abermals, wie schon Anfang des 21. Jahrhunderts in der Hartz IV-Frage und in der Frage der Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen. Statt relativer reformistischer Gegenmacht fungieren die von der Gewerkschaftsbürokratie geführten Gewerkschaften immer mehr als Betriebspolizei. Besonders wird dies deutlich, wenn sie unter dem Energienotstand drastische Reallohnverluste akzeptieren. Es gab keinen ernsten Versuch die Reallohnverluste durch die inflationären Tendenzen vermittels Lohnerhöhungen auszugleichen. Die Gewerkschaftsbürokratie erklärte sich für nicht zuständig, denn die inflationären Tendenzen wären Folgen des Ukraine-Krieges und des transatlantischen antirussischen Wirtschaftskrieges und würden nicht in den Zuständigkeitsbereich der Gewerkschaften fallen, sondern in dem Zuständigkeitsbereich der „Politik“, also des bürgerlichen Staates. Jedoch haben die Gewerkschaften ein „politisches Mandat“ und die Aufgabe, die Interessen der Lohnarbeiterklasse auch gegenüber der Politik des bürgerlichen Staates zu verteidigen, erst Recht dann, wenn der bürgerliche Staat einen Wirtschaftskrieg auf dem Rücken der Arbeiterklasse führt, erst Recht dann, wenn der bürgerliche Staat damit riskiert, daß der Wirtschaftskrieg in einen imperialistischen Krieg umschlägt. Objektiv deckt damit die Gewerkschaftsbürokratie den transatlantischen antirussischen Wirtschaftskrieg und akzeptiert so auch die mögliche Eskalation in den Dritten Weltkrieg und gibt die Klasseninteressen des Proletariats dem Kapital preis, fungiert als innere Schiene der Repression des bürgerlichen Klassenstaates. Vom potentiellen „Feind“ des Kapitals schwenken die von der Gewerkschaftsbürokratie geführten Gewerkschaften zur Position des „Freundes“ der Ausbeutung um. Das sichert die materielle Existenz und die Reproduktion der Gewerkschaftsbürokratie ab, eben auf Kosten der materiellen Existenz der Arbeiterklasse.

Die Selbstgleichschaltung ist die höchste Form der Gleichschaltung und die Gewerkschaftsbürokratie steht anderen Akteuren in Nichts nach und ist ein Rückgriff auf bewährte Muster der Geschichte. Im Ersten imperialistischen Weltkrieg realisierte die Gewerkschaftsbürokratie ihre Selbstgleichschaltung mit dem Kapital, die Politik des „Burgfriedens,“ und am Ende der Weimarer Republik und am Anfang des deutschen Faschismus versuchte die Gewerkschaftsbürokratie ebenfalls eine Politik des „Burgfriedens“ und damit der Selbstgleichschaltung zu realisieren, suchte die Koexistenz mit dem deutschen Faschismus, der zielsicher auf den zweiten imperialistischen Weltkrieg zusteuerte. Doch die Selbstgleichschaltung reichte dem deutschen Faschismus nicht aus. Er zerschlug die Gewerkschaften und gründete die Deutsche Arbeitsfront, denn auch die deformierte und entartete Existenz der Gewerkschaften sah er noch als „Gefahr für die nationale Sicherheit“ und als potentielles „Sicherheitsrisiko“. Tabula rasa war dann die Lösung. Die Selbstgleichschaltung muß nicht erfolgreich sein und kann keine Gleichschaltung durch den bürgerlichen Staat verhindern. Bisher reicht dem deutschen Kapital die Selbstgleichschaltung der Gewerkschaften durch die Gewerkschaftsbürokratie. Der korporatistische Block des Modell Deutschland aus Kapital, bürgerlichem Staat und Gewerkschaftsbürokratie funktioniert auch unter den Bedingungen des Energienotstandes und funktionierte auch im „Corona-Notstand,“ ist eine gute materielle Basis für einen Notstand und formuliert einen „nationalen Konsens“ für die Interessen des deutschen Imperialismus. Wer in Opposition zu diesem „nationalen“ Konsens steht, wird zum „inneren Feind“. Es gibt keine Klasseninteressen mehr, sondern nur noch „nationale Interessen“, welche die „nationalen Interessen“ des deutschen Kapitals sind. In der „Nation“ materialisiert sich der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) und dieser verwirklicht sich in einer Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft, in der nur das Kapital in vielfältigen Formen organisiert ist, nicht aber die Arbeiterklasse. Unabhängige Gewerkschaften, wie andere proletarische Massenorganisationen, werden nicht geduldet.

Dies heißt nicht, daß eine Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft oberflächlich uniformiert sein muß. Sie kann auch im zivilen Gewand daherkommen, wie jetzt. Gegenwärtig wird die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft als „Zivilgesellschaft“ formiert. Ein buntes Universum von Ein-Punkt-Bewegungen bzw. Ein-Punkt-Organisationen nach dem Prinzip der Minderheit, dabei werden über „Identitätspolitiken“ immer neue und immer mehr „Minderheiten“ konstruiert. Diese Minderheiten stellen sich als absolut in den Mittelpunkt und verweigern sich der gesellschaftlichen Totalität. Minderheit gegen Minderheit, „Identität gegen „Identität“ stehen sich unversöhnlich gegenüber. Eine kapitalistische Politik der Spaltung, nach dem Prinzip: „Teile und herrsche“, welche die schon vorhandenen Spaltungen noch vertieft und neue erschafft. Das Kleinbürgertum repräsentiert sich in der „Identitätspolitik/Minderheitenpolitik“ und tritt der Arbeiterklasse feindlich entgegen. Das Proletariat organisiert sich, um sein gesellschaftlich notwendiges Reproduktionsniveau zu verteidigen, während sich das immer tiefer gespaltene Kleinbürgertum um die Bourgeoisie scharrt und versucht seine Gunst zu gewinnen, auf Kosten der jeweils anderen „Minderheit“ im Kleinbürgertum und erst Recht auf Kosten der Arbeiterklasse. Umso größer und tiefer die Entzweiung in der bürgerlichen Gesellschaft in „Minderheiten“, desto größer ist die Rolle des bürgerlichen Staates in dieser, denn er vermittelt über sich die relative Einheit der bürgerlichen Gesellschaft. Der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) spaltet die bürgerliche Gesellschaft, damit sie selbst keine relative Einheit herstellen kann, sondern nur vermittelt über den bürgerlichen Ausnahmestaat. Es darf keine politische Kraft neben dem bürgerlichen Ausnahmestaat geben. Für den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) ist eine relative Einheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine große Gefahr, denn sie gibt der bürgerlichen Gesellschaft eine tendenzielle Unabhängigkeit von ihm. Ein Garant für die Existenz des bürgerlichen Ausnahmestaates ist eine eigene soziale und politische Massenbasis, die jedoch gegen den proletarischen Einfluß abgeschirmt werden muß, denn sonst zerbricht sie. Jede unabhängige Organisierung gegen die soziale und politische Massenbasis des bürgerlichen Ausnahmestaates, auch im Kleinbürgertum, muß ebenfalls abgelenkt und zersplittert werden, denn nur dann sind diese Splitter auf den bürgerlichen Ausnahmestaat ausgerichtet. Nur wenn die „Zivilgesellschaft“ um den bürgerlichen Staat konzentriert ist, nicht- unabhängig ist, wird sie vom bürgerlichen Staat akzeptiert und fungiert als der lange verdeckte Arm des bürgerlichen Klassenstaates. Die „NGO`s“ (Nichtregierungsorganisationen) sind verdeckte Staatsorganisationen und/oder verdeckte Organisationen des Kapitals, denn sie werden über den bürgerlichen Staat und/oder vom Kapital (seinen „Stiftungen“) finanziert, auch über Großspenden bzw. Großspenden aufgeteilt über eine Vielzahl von Kleinspenden. Nur die wenigsten Nichtregierungsorganisationen sind wirkliche Nichtregierungsorganisationen und sind nicht nur vom bürgerlichen Staat, sondern auch vom Kapital unabhängig und finanzieren sich aus wirklichen Kleinspenden. Jedoch die überwiegende Mehrheit dieser Nichtregierungsorganisationen werden von der Bourgeoisie finanziert und müssen sich den Entscheidungen der Bourgeoisie unterwerfen, wenn sie ihre soziale Existenz sichern wollen. Auf keinen Fall ist der „NGO-Sektor“ bzw. die „Zivilgesellschaft“ unabhängig und steht auch nicht über den Klassen, sondern ist ein kleinbürgerlicher Sektor, der von der Bourgeoisie geführt wird. Verweigern Nichtregierungsorganisationen den Gehorsam gegenüber der Bourgeoisie, wird die Finanzierung eingestellt und die soziale Existenz ist gefährdet. So ist der staatsnahe und kapitalnahe Sektor der Nichtregierungsorganisationen auf die Gnade der Bourgeoisie angewiesen und das Sprachrohr der Bourgeoisie, aber nicht das Sprachrohr der „Minderheiten“. Die Interessen der „identitären Minderheiten“ werden nur in so weit vertreten, wie es den Interessen der Bourgeoisie nützlich ist, zumindest nicht zuwider verläuft. Auf keinen Fall steht die „Zivilgesellschaft“ für eine Selbstorganisation von unten, also für eine demokratische Selbstorganisation der Massen bzw. für eine Selbstorganisation der Arbeiterklasse, sondern genau entgegengesetzt, für eine Organisierung der Massen von oben und damit eine hierarchische, antidemokratische und autoritäre Organisierung der Massen durch die herrschende Klasse, steht für eine Fremdorganisierung der Massen durch die Bourgeoisie, konkret indirekt über den bürgerlichen Staat und/oder direkt durch das Kapital. In letzter Instanz wird die „Zivilgesellschaft“ durch die Bourgeoisie gesteuert, sie ist für die Bourgeoisie lediglich ein Transformationsriemen mit Stoßrichtung auf das Kleinbürgertum und soll das Kleinbürgertum um die Bourgeoisie gruppieren, damit die bürgerliche Klassenherrschaft gewahrt bleibt. Die Bourgeoisie finanziert ihre „Zivilgesellschaft“ in eigenen Land und unterbindet alle Versuche der Finanzierung der „Zivilgesellschaft“ durch die Weltmarktkonkurrenten, wie auch versucht sie die „Zivilgesellschaft“ der Weltmarktkonkurrenten zu finanzieren, zum Schaden der Weltmarktkonkurrenten. Die „Zivilgesellschaft“ ist eine Waffe des Kapitals im Klassenkampf gegen die Arbeiterklasse und eine Waffe in der Weltmarktkonkurrenz.

Im neoliberalen Akkumulationsmodell verloren die Parteien für das Kapital ihre zentralen Funktionen als Transmissionsriemen zu den Massen und ihre Funktion als Legitimationsbeschaffer. Es erfolgte eine Abkopplung der Bourgeoisie von den Parteien des Parteiensystems und in den Parteien wurde die Parteibasis weiter entmachtet. Immer mehr wurden die Parteien zu Momenten in einer Befehlshierarchie. Die Bourgeoisie spricht über das Parteiensystem einseitig zu den Massen und läßt die Interessen der Massen nicht zu Wort kommen. Die Massen brechen mit den Massenparteien und ziehen sich zurück und verfallen in Apathie. Im neoliberalen Weltmarkt, dessen einzige Garantiemacht der US-Imperialismus war, ist die Apathie der Massen, welche sich in der Ideologie der „Alternativlosigkeit“ aussprach, der zentrale Pfeiler seiner Stabilität und scheinbaren „Alternativlosigkeit“.

Während die Parteien zu einer leeren Hülle verkommen, wo die Massen entwichen sind und eine Massenmobilisierung zum Zwecke der Massenlegitimation des neoliberalen Akkumulationsregimes nicht mehr möglich und von der Bourgeoisie nicht mehr erwünscht ist, sondern nur noch der leere, passive, Akt des Wählens als Folge einer Wählermobilisierung einer kollektiven Einheitspartei, erfolgt die aktive und dynamische Massenlegitimation über die „Zivilgesellschaft“ durch atomisierte und damit in sich eingeschlossene identitäre Minderheiten. Diese „Zivilgesellschaft“ ist zentral auf die bürgerlichen Medien ausgerichtet und die Funktion der bürgerlichen Medien ist es, die Positionen der „Zivilgesellschaft“ an die Massen zu vermitteln, sie als verbindlich darzustellen. Wer von dem neoliberalen und jetzt nationalliberalen Konsens zu weit abrückt, muß Repression durch alle Instanzen der Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft erwarten. Die Kommunikation der herrschenden Klasse mit den unterworfenen Klassen wird immer einseitiger; keine Diskussion mehr, sondern Befehl und Gehorsam. Eine politische Rückkopplung ist nicht mehr vorgesehen, weder im formal noch bestehenden Parteiensystem und erst Recht nicht im Kosmos der Nichtregierungsorganisationen. Es wird zumindest passive Zustimmung erwartet, besser aktive Zustimmung. Über den Kosmos der sogenannten Nichtregierungsorganisationen wird ein System der Zensur eingerichtet, deren Ziel es ist, jede gewichtige Kritik als „Feindhandlung“ zu denunzieren und den gewichtigeren Kritiker als „Feind“. Der „Feind“ soll aus der Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft ausgeschlossen werden. Diskussionen sind ein Ausschlußgrund aus der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft. Meinungsfreiheit auch als Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft wird drastisch beschnitten. Für die Bourgeoisie seht der „innere Feind“ immer mit dem „äußeren Feind“ in der Arena der Weltmarktkonkurrenz in Verbindung. Diese materielle Figur des „äußeren Feindes“ hilft dabei, den „inneren Feind“ zu konstruieren. Die grundsätzliche Kritik einer grundsätzlichen Opposition wird als Hilfe, gar als Verrat zu Gunsten des Weltmarktkonkurrenten bewertet. Es gibt nur noch „Freund“ oder „Feind“, aber nicht mehr Regierung und Opposition. Der „Feind“ muß mit allen Mitteln bekämpft und vernichtet werden. Mit der „Freund/Feind-Kennung wird die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft auf Krieg und Bürgerkrieg ausgerichtet und die Ökonomie auf eine Kriegswirtschaft. Der deutsche Imperialismus orientiert sich immer mehr auf die Epoche vor 1945, welche deutlicher als im sogenannten Kalten Krieg von einer „Freund/Feind-Kennung bestimmt war, denn sie wurde gewaltsamer und auch tödlicher exekutiert als im sogenannten Kalten Krieg. Im sogenannten Kalten Krieg, der Konfrontation des Imperialismus mit den bürokratischen Arbeiterstaaten schützte die Arbeiterklasse noch die parlamentarisch-demokratische Form des bürgerlichen Staates, die derzeit zerfällt und vom Notstand beiseitegeschoben wird. Es wird nicht nur auf vor 1989 zurückgegangen, sondern Schritt für Schritt auf vor 1945. Der offene Zusammenbruch der Ordnung von Jalta und Potsdam mit dem Ukraine-Krieg im Jahr 2022, wirft den Weltmarkt und die internationale Ordnung auf den Stand von vor 1945 zurück (dies unterscheidet qualitativ die internationale Ordnung von 1945 zu 2022; denn Jalta und Potsdam teilten die Welt in zwei Interessensphären zwischen dem Imperialismus und den bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten auf; heute müssen erst einmal die diversen und mannigfaltigen in sich widersprüchlichen imperialistischen Interessensphären definiert und realisiert werden), die internationale Konkurrenz mutiert zur internationalen Feindschaft und innerhalb eines jeden Landes reproduziert sich diese internationale Feindschaft zwischen den imperialistischen Metropolen, zwischen den kapitalistischen Staaten, in einer offenen Feindschaft zwischen Kapital und Arbeiterklasse in der Tendenz zum offenen Klassenkrieg. Es setzt sich eine Tendenz zum bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus).

Mit dem Verfall der parlamentarisch-demokratischen Form des bürgerlichen Staates und der Ablösung durch einen Notstandsstaat verfällt auch die parlamentarisch-demokratische Form der bürgerlichen Klassenjustiz und es breiten sich Tendenzen zu einem Sonderrecht heraus, die auf ein Feindrecht zielen, welches weit über das Strafrecht hinausgeht und das Arbeits- und Sozialrecht zu kontaminieren droht. Dieses Feindrecht baut sich über die Betonung der „Werte“ bzw. „Normen“ auf. Was die „Werte“ sind, wird nicht konkret präzisiert, sie stellen konkret ein abstraktes Bekenntnis zum transatlantischen Kapitalismus unter Führung des US-Imperialismus dar, den sogenannten westlichen Kapitalismus, bzw. den „Westen“ und der deutsche Imperialismus ist ein Teil des „Westens“. Noch zumindest. Denn folglich könnte jeder Imperialismus seine eigenen „Werte und „Normen“ in den Mittelpunkt stellen und sie zur Richtschnur seiner Politik machen. Wesentlich ist, daß die Gesetze nach diesen „Werten“ und „Normen“ interpretiert, ausgelegt, werden sollen, auch die internationalen „Gesetze“ und damit konkret das Völkerrecht. Nach dem Willen der transatlantischen Metropolen stehen die „westlichen Werte und Normen“ höher als das Völkerrecht, welches an diese „Normen und Werte,“ auch durch Uminterpretation, angepaßt werden soll. Es sind die „Normen“ und „Werte“ eines transatlantisch, neoliberalen Kapitalismus, Imperialismus, der mit anderen „Normen“ und „Werten“ des russischen Imperialismus und Chinas in Konkurrenz und Feindschaft steht.

Die Bourgeoisie setzt der Gesetzesnorm eine bestimmte gesellschaftliche Norm voraus. Diese gesellschaftliche Norm ist eine „Wertentscheidung“ in dem Sinne, daß die gesetzliche Norm im Sinne der gesellschaftlichen Norm interpretiert werden muß. Nicht nach dem Gesetz richtet sich zentral die bürgerliche Rechtsprechung, sondern nach den außerhalb des Rechts bestehenden „Normen“ und „Werten“. Wer nicht die neoliberalen oder transatlantischen „Normen“ und „Werte“ vertritt ist in der Defensive bzw. ist von der Rechtspflege ausgeschlossen. Es muß ein stummes Bekenntnis zu den transatlantischen und neoliberalen „Werten“ und „Normen“ abgelegt werden. Nicht die „Tat“ steht im Mittelpunkt der Justiz, sondern der Täter; es geht um die Gesinnung des Täters, um Gesinnungsjustiz, ob der „Täter“ die gerade von der Bourgeoisie geforderten „Normen“ und „Werte“ teilt und aktiv vertritt, oder ob er diese ablehnt. Die neoliberalen, transatlantischen, Werte vergehen im multipolaren Weltmarkt und werden ersetzt durch „nationale Werte“ und „nationale Normen,“ die auf eine „nationale Gesinnung“ abzielen. Es wird die individuelle Gesinnung kriminalisiert, wenn sie im Widerspruch zur „nationalen“ Gesinnung steht. Die Begriffe „Normen“ und „Werte“ stehen für den älteren Begriff der von der herrschenden Klasse organisierten und gewünschten (politischen) Gesinnung. Immer deutlicher wird die politische Gesinnung des Lohnarbeiters zum Maßstab seiner Beurteilung und Verurteilung, auch außerhalb des Strafrechts, z. B. im Arbeits-oder Sozialrecht. Gelingt es nicht einen Lohnarbeiter wegen seiner politischen Gesinnung strafrechtlich zu sanktionieren, so versucht man dies auf der arbeits-oder sozialrechtlichen, bzw. zivilrechtlichen Ebene. Das Feindrecht zielt auf die politische Gesinnung, ist „Täterrecht“, statt Tatrecht, nicht die Tat wird gestraft, sondern die politische Gesinnung des Täters. Dann geht es nicht um ein konkretes Vergehen, sondern um das Motiv und damit um die politische Gesinnung hinter der Tat, bzw. bei dem konkreten Verhalten, welches vom bürgerlichen Staat als Tat gewertet wird. Die vom bürgerlichen Staat eingeforderte korrekte politische Gesinnung („political correctness“) ist ein Moment des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) und dominiert damit auch die Klassenjustiz des bürgerlichen Ausnahmestaates, ist das zentrale Vor-Recht der Rechtsanwendung, zielt zentral auf die Zerstörung der proletarischen Meinungsfreiheit und damit auf die Zerschlagung der proletarischen Organisationsfreiheit. Das Ziel ist die Zerstörung des „inneren“, wie „äußeren Feindes“. Gesinnungsjustiz ist vorverlegter Staatsschutz. Die von der Bourgeoisie geforderte Gesinnung ist die Gesinnung des „Staatsschutzes“ oder auch die Gesinnung der „Staatssicherheit“ im Namen der „nationalen Sicherheit“, welche weit über den „Staatsschutz“ bzw. „Staatssicherheit“ hinausgeht und die gesamte bürgerliche Gesellschaft umfaßt, sich auch in der „Zivilgesellschaft“ materialisiert, wie in einer moralisierenden Politik, die in den bürgerlichen Medien als Maßstab für die „richtige Gesinnung“ ausformuliert wird.

Im Mittelpunkt dieser konkreten Ideologie steht die „Menschheit“ bzw. die „Menschheitsfragen“ derzeit konkret eingefaßt in der Frage des „Klimawandels“. Dahinter verschwinden alle konkreten Alltagsfragen und damit auch die „soziale Frage“, wie die Klassenfrage an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erscheint. Alle anderen Fragen, wie der Ukraine-Krieg werden entweder ignoriert oder in Verbindung mit den „Menschheitsfragen“ gebracht, nicht jedoch mit der Klassenfrage. Die identitäre Minderheitenpolitik zielt auf eine verhältnismäßige Repräsentation im Rahmen der „Menschheitsfragen“. Gemäß der identitären Minderheitenpolitik ist zwar eine „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ausgeschlossen, nicht aber eine „allgemeine Menschenfeindlichkeit“. Eine „allgemeine Menschenfeindlichkeit“ ist durchaus zulässig, wenn sie prozentual nach ihrem Anteil die „Minderheiten“ mit einbezieht. Die „allgemeine Menschenfeindlichkeit“ materialisiert sich im Verzicht der Lohnarbeiterklasse und sie ist korrekt und wünschenswert aus der Sicht des Ideologems des „Klimawandels“, welches das ideologische Symbol auf der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist und konkret-spezifisch die Große Krise des Kapitalismus reflektiert, wenn alle „Minderheiten“ gemäß ihrem Anteil berücksichtigt werden. Dann soll der Verzicht „gerecht“ sein und muß autoritär gegen jeden verteidigt werden, welcher sich übervorteilt sieht. Das Ziel ist es, „allgemeine Menschenfeindlichkeit“ ohne „gruppenbezügliche Menschenfeindlichkeit“ zu exekutieren. Keine „Gruppe von Menschen“ soll bei dem notwendigen Verzicht bevorteilt oder benachteiligt werden. Es ist üblich, daß ganz allgemein von „Überbevölkerung“ gesprochen wird, welche eine Gefahr für das „Klima“ ist und man Abhilfe schaffen müsse; konkret: es wäre unverantwortlich Kinder in die Welt zu setzten, denn diese würden ja unter Umständen später das „Klima“ bedrohen. In neuen ökologischen, „klimafreundlichen“ Formen tauchen die alten Ideologien von Eugenik und Euthanasie wieder auf, ohne formal auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zu zielen, jedoch real ist klar, daß hier wie traditionell abstrakt die Arbeiterklasse gemeint ist, konkret „Leistungseingeschränkte“ aller Art und damit auch Behinderte etc, wie auch international die Peripherie, die eine hohe Bevölkerungsdichte aufweist. Auch hier kehrt man in Deutschland in neuen ökologischen Formen zurück zu einer Zeit vor 1945, bzw. bezieht man sich konkret auf das 1933, wo der deutsche Faschismus sich anschickte Deutschland und die Welt neu zu organisieren. Es geht um eine Selektion zwischen arbeitsfähiger Ware Arbeitskraft von der nicht-arbeitsfähigen Ware Arbeitskraft, deren Ware Arbeitskraft den Wert 0 aufweist und damit keine Ware Arbeitskraft mehr ist, sondern nur noch Übervölkerung. Eine Ware Arbeitskraft, die potentiell keine Ausbeutungsmasse mehr darstellt, ist auch kein Glied mehr in der industriellen Reservearmee, sondern für das Kapital nur noch überflüssig und kann wie alle überschüssige Ware vernichtet werden. Es geht um die Vernichtung überzähligen Menschenmaterials, welches die Akkumulation des Kapitals behindert und damit die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, welche notwendig ist, um die Große Krise zu transzendieren, was notwendig ideologisch verdreht auf der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als „Klimaschutz“ erscheint. „Klimaschutz“ bedeutet konkret unter kapitalistischen Produktionsverhältnisse eben nicht „Schutz des menschlichen Lebens“, sondern Gefährdung des menschlichen Lebens und aus diesem Grunde ist dann „Klimaschutz“ gelebter „Staatsschutz“, realisierte „nationale Sicherheit“. Das „Gutmenschentum“ der moralisierenden Politik führt direkt in die Barbarei und in die „nationale Sicherheit“ des Notstands.

Dem Proletariat geht es nicht um „Klimaschutz“, sondern um Umweltschutz und dies faßt den „Klimaschutz“ mit ein. „Klimaschutz“ ist nur ein Moment des „Umweltschutzes“ und der „Umweltschutz“ geht über den „Klimaschutz“ weithinaus, denn „Umweltschutz“ ist keine nur „ökologische“ Politik, sondern ein Moment proletarischer Klassenpolitik, faßt die sozialen Klassenverhältnisse der kapitalistischen Klassengesellschaft mit ein. Konkret: Auch und vor allem ist Arbeitsschutz konkreter „Umweltschutz“. „Umweltschutz“ und damit auch „Klimaschutz“ beginnt am Arbeitsplatz bzw. Ausbeutungsplatz, in der Produktionssphäre als Urgrund der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. „Umweltschutz“ und damit auch „Klimaschutz“ kann sich nur Sozialismus verwirklichen, nicht aber im Kapitalismus, d.h. „Umweltschutz“ bzw. „Klimaschutz“ ist eine der Formen, in dem die Klassenfrage an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erscheint und verlangt eine antikapitalistische, sozialistische Politik, wenn sie erfolgreich sein soll. Ist eine ökologische Politik nicht in eine proletarische Klassenpolitik eingebettet, wird sie reaktionär, wird eine ökologische Politik zu einer Waffe der Bourgeoisie in seinem Klassenkampf gegen das Proletariat und somit zu einer Frage der „nationalen Sicherheit“.

Der „innere Feind“ der Bourgeoisie teilt sich auf in den „politischen Feind“ und den „sozialen Feind“. Während der „politische Feind“ die Akkumulation durch seinen Widerstand behindert, ist der „soziale Feind,“ die Übervölkerung der „Leistungsgeminderten“ bzw. der nicht mehr ausbeutungsfähigen Ausbeutungsmasse ein Hindernis für die Akkumulation. Bevor das Kapital sich dem „sozialen Feind“ annimmt, muß der „politische Feind“ vernichtet werden, denn der „politische Feind“ ist es, der verhindert, daß der „soziale Feind“ vernichtet wird. Beide Formen des „inneren Feindes“, der „politische Feind“, wie der „soziale Feind“ sind aus Sicht des Kapitals eine „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ und werden entsprechend bekämpft. Wenn es nicht gelingt politisch einen erfolgreichen Widerstand zu organisieren, stürzt sich das Kapital auf den „sozialen Feind“ und statuiert an diesem ein Exempel auch für den „politischen Feind“, denn es wird versucht, durch Säuberung der Betriebe und Drohung mit dieser Praxis, den „politischen Feind“ in den „sozialen Feind“ aufzulösen und ihn damit zu disziplinieren. Hartz IV ist die Waffe des Kapitals, welche unmittelbar den „sozialen Feind“ trifft, aber mittelbar den „politischen Feind“. Mit Hartz IV treten auch Momente des bürgerlichen Ausnahmestaates schon der demokratisch-parlamentarischen Form des bürgerlichen Staates auf. Der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) hat eine Geschichte und kommt nicht über Nacht. Diese Geschichte des bürgerlichen Ausnahmestaates beginnt mit Hartz IV. Hartz IV setzt nur die Potentialität für eine Entwicklung zum bürgerlichen Ausnahmestaat; es führt kein gradliniger Weg von Hartz IV in den bürgerlichen Ausnahmestaat, sondern dieser ist das Ergebnis von Klassenkämpfen. Wenn kein direkter Weg vom Hartz IV-System in den bürgerlichen Ausnahmestaat führt, dann noch ein unebener indirekter Weg. Über die Realisation von Hartz IV betritt die Bourgeoisie den Weg in einen autoritären Kapitalismus, muß den Weg aber nicht zu Ende gehen und kann dies auch nicht ohne weiteres. Ob die Bourgeoisie den Weg in den autoritären Kapitalismus weitergeht oder zum Umkehren gezwungen wird, hängt vom Klassenkampf ab. Eine Defensive des Proletariats beantwortet die Bourgeoisie mit dem bürgerlichen Ausnahmestaat, denn nur in einer Defensive des Proletariats kann die Bourgeoisie das Kleinbürgertum an sich binden und dieses als soziale und politische Massenbasis aktiv nutzen. Das Kleinbürgertum steht objektiv, weil strukturell, der Bourgeoisie näher als der Arbeiterklasse, kann aber in Phasen der proletarischen Offensive als Bündnispartner für die Arbeiterklasse gewonnen werden und marschiert unter der proletarischen Hegemonie dann mit der Arbeiterklasse gegen das Kapital. Grundlage für ein Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Kleinbürgertum ist zuerst eine proletarische Einheitsfront in der Arbeiterklasse selbst, denn das Kleinbürgertum marschiert nur auf der Seite der konkret stärksten Macht. Der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) bedarf verschiedener Ausprägungen der sozialen Massenlegitimation durch das Kleinbürgertum, je nach historischer Form geschieden, um zu existieren. In Phasen der proletarischen Offensive ist dies nicht möglich, da das Kleinbürgertum auf Seiten des Proletariats konzentriert ist. In revolutionären Situationen versucht die Bourgeoisie in den bürgerlichen Ausnahmestaat zu flüchten, ist aber zu schwach diesen zu realisieren, da die soziale und politische Massenunterstützung aus den Reihen des Kleinbürgertums fehlt. In diesen Phasen ist der bürgerliche Ausnahmestaat nur noch seine Karikatur, denn er hängt ohne soziale und politische Massenbasis in der Luft, da das Proletariat in einer revolutionären Phase ihm die kleinbürgerliche soziale und politische Massenunterstützung entzieht. Immer entscheidet der Klassenkampf über den bürgerlichen Ausnahmestaat.

Das Hartz IV-System ist ein Zeichen für die proletarische Defensive und ist ein großer Sieg des Kapitals. Damit hat das Kapital die materielle Grundlage für die Fortsetzung seiner Offensive gelegt und realisiert sich materiell in der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Das Proletariat ist noch weiter in die Defensive gedrängt. Innerhalb des parlamentarisch-demokratisch bürgerlichen Staates wurde ein Sektor des Ausnahmezustandes geschaffen, welcher nur ungenügend vom parlamentarisch-demokratischen bürgerlichen Staat kontrolliert wird und zentral auf bestimmte Segmente der industriellen Reservearmee ausgerichtet ist. Das Ziel ist die Transformation dieser Segmente der industriellen Reservearmee in eine arbeitende Armut; diese Segmente der industriellen Reservearmee sollen in den zweiten prekären Arbeitsmarkt (Verschränkung von Niedriglohn und Niedrigsozialleistungen) mobilisiert werden und als Ausbeutungsmasse für das Kapital dienen und somit die Akkumulation des Kapitals befördern. Dazu wird das Hartz IV-System geschaffen, welches ein Ausnahmesystem ist und dessen Ziel es ist, die im Hartz IV-System konzentrierten Erwerbslosen schutzlos der Ausbeutung des Kapitals zu überantworten.

Dazu wird eine Arbeitspflicht verhängt. Jede Arbeit muß angenommen werden. Es gibt keinen Qualifikationsschutz und keinen Tarifschutz mehr. Nur Arbeit, welche gegen die „guten Sitten“ verstößt, darf abgelehnt werden. Um dies Ziel zu erreichen wird eine Beweislastumkehr eingeführt. Nun muß der Erwerbslose nachweisen, daß die angebotene Arbeit unzumutbar ist und nicht mehr der bürgerliche Staat, was in der Praxis kaum möglich ist. Wird die angebotene Arbeit dennoch abgelehnt, drohen Sanktionen. Diese Sanktionspraxis wurde vom Bundesverfassungsgericht modifiziert, aber nicht beendet. Es darf nur bis zu einem bestimmten Prozentsatz gekürzt werden, nicht jedoch zu einer totalen Kürzung kommen. Die Hartz IV-Apparate können aber ohne weiteres verschiedene Sanktionen auf akkumulieren und diese Kürzungen realisieren. Zudem ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts widersprüchlich und läßt noch tiefere Kürzungen zu. Die Sanktionsfrage wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht eindeutig geklärt, sondern dieser Bereich ist jetzt noch unklarer als vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, was den Druck auf die Erwerbslosen nicht abmildert, sondern sogar noch erhöht. Es kann immer auch jetzt noch geschehen, daß bis in die Obdachlosigkeit sanktioniert werden kann, ausgeschlossen ist dies nicht. Die Waffe der Sanktionen bleibt immer noch scharf und wird auch eingesetzt.

Wenn jede Arbeit angenommen werden muß, werden die von der Gewerkschaft erkämpften Tarifverträge unterlaufen, die relative Tarifautonomie wird tendenziell zerstört, was auf die Reallohnentwicklung der aktiven Arbeiterarmee deutlich zurückschlägt. Mit Hartz IV wird deutlich die industrielle Reservearmee gegen die aktive Arbeiterarmee ausgespielt. Teile und herrsche. Das Hartz IV-System hängt wie ein Bleigewicht an der Reallohnentwicklung des Proletariats und des Kleinbürgertums. Ohne die Zerstörung des Hartz- IV-Systems kann eine nachhaltige Reallohnsicherung oder gar Reallohnerhöhung nicht realisiert werden. Das Hartz IV-System zielt unmittelbar gegen die industrielle Reservearmee, jedoch mittelbar auf die aktive Arbeiterarmee. Über die Institutionalisierung des prekären zweiten Arbeitsmarktes durch das Hartz IV-System wird die Spaltung zwischen Kern- und Randbelegschaften weiter vertieft und als Ganzes das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse abgesenkt, denn die Ware Arbeitskraft wird im Hartz IV-System drastisch entwertet, indem der soziale Schutz der erwerbslosen Ware Arbeitskraft zerstört wird und damit diese dem Kapital schutzlos ausgeliefert wird.

Um den Druck auf die Hartz IV-Bezieher noch zu verstärken, wird zur „sozialen Sippenhaft“ gegriffen. Nicht nur die individuelle erwerbslose Ware Arbeitskraft ist dem Hartz IV-System schutzlos ausgeliefert, sondern auch die „Bedarfsgemeinschaft“. Auch für sie gelten die Regelungen des Hartz IV-Systems. Um die Abhängigkeit des erwerbslosen Lohnarbeiters im Hartz IV-System zu reduzieren oder gar aufzuheben, ist die vom Hartz IV-System bürokratisch konstruierte „Bedarfsgemeinschaft“ ebenfalls verpflichtet, eine Lohnarbeit notfalls im prekären zweiten Arbeitsmarkt aufnehmen. Auch damit endet die Repression nicht. Die „Bedarfsgemeinschaft“ wird mit Hausdurchsuchungen und Razzien von Arbeitsamt kontrolliert, ob kein „Sozialmißbrauch“ stattfindet, dabei werden nicht nur Konten durchleuchtet, sondern die Wohnung kontrolliert und auf Denunziation zurückgegriffen. Es wurden eigene „Ermittlungsdienste“ gegründet oder diese „Ermittlungen“ an Werkschutzunternehmen ausgelagert. Gleichzeitig wird vom Arbeitsamt gegen die Erwerbslosen ein „Profiling“ betrieben und ein soziales und psychologisches Profil angelegt, auf welches auch die Repressionsapparate zurückgreifen können und dem Arbeitsamt das bürokratische Material für die Verhöre der Erwerbslosen liefern, wie auch für die „Schulungen“, welche der Gehirnwäsche dienen, die den Widerstand des atomisierten Erwerbslosen brechen sollen.

Vorgeschaltet werden kann noch ein kommunaler Arbeitseinsatz zur „Arbeitserprobung“. Bei Ablehnung drohen ebenfalls Sanktionen. Diese Arbeitsstellen in dem kommunalen Arbeitsdienst sind keine regulären Arbeitsstellen/Arbeitsplätze und konstituieren kein Arbeitsverhältnis, sondern ein Sozialrechtsverhältnis. Es wird kein Lohn gezahlt, sondern eine Aufwandsentschädigung. Nur die wenigsten Arbeitsgesetze gelten. Es darf kein Betriebsrat gewählt werden. Die Gewerkschaft darf zwar organisieren, aber nicht zu Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen. Eine „demokratische Zwangsarbeit“ zur „Arbeitsgewöhnung“.

Doch bevor man das dunkle Hartz IV-Reich betritt, muß man vollkommen mittellos sein und damit relativ hilflos. Das Vermögen und auch das Vermögen und das Einkommen der „Bedarfsgemeinschaft“ muß aufgebraucht sein. Es findet am Tor von Hartz IV eine Bedürftigkeitsprüfung statt. Hat die „Bedarfsgemeinschaft“ ein zu viel an Einkommen und/oder Vermögen wird der Antrag auf Hartz IV vom Hartz IV-System verworfen. Dies gilt auch für ergänzende Leistungen zum Niedriglohn. Nur bis zu einem bestimmten Niedriglohnsatz wird ergänzendes Arbeitslosengeld II gezahlt. Das Ziel des Hartz IV-Systems ist es, den Vollbezug von Hartz IV zu beenden und in ergänzende Bezüge zum Niedriglohn umzuwandeln. Nur eine Minderheit der Hartz IV-Bezieher traut sich juristisch gegen die Repression zu wehren, der politische Widerstand ist noch geringer. Ohne zumindest juristischen Widerstand hat das Hartz IV-System freie Hand. Die Repression des Hartz IV-Systems wirkt, sie lähmt schon präventiv den proletarischen Widerstand. Kein Kläger-keine Klage, keine Aktion der parlamentarisch-demokratischen Klassenjustiz aus sich selbst heraus. Das Hartz IV-System hat die industrielle Reservearmee und auch die aktive Arbeiterarmee entpolitisiert und weitgehend in die Resignation getrieben.

Hartz IV ist der Notstand gegen die Erwerbslosen und ein Muster für einen Notstand gegen die gesamte Arbeiterklasse und übt einen großen Reiz auf die Bourgeoisie aus, auf nationaler Ebene in gleicher Weise zu verfahren. Der „Corona-Notstand“ war der erste Schritt dahin, der zweite Schritt ist der Energienotstand. Hartz IV für die gesamte bürgerliche Gesellschaft bzw. Hartz IV als „neue Normalität“ für die gesamte bürgerliche Gesellschaft. Der Notstand als „neue Normalität“ der bürgerlichen Gesellschaft. Die Schwäche der Arbeiterklasse provoziert geradezu den Notstand. Je mehr die Bourgeoisie dem Reiz des Notstands verfällt, desto mehr wandelt sie objektiv auf den Spuren des deutschen Sonderweges. Autoritär nach Innen und eine Schaukelpolitik zwischen West und Ost. Beides gehört zusammen. Eine Schaukelpolitik zwischen West und Ost hat zur Bedingung eine autoritäre innere Ausrichtung und eine innere autoritäre Ausrichtung führt zu einer Schaukelpolitik zwischen West und Ost. Die derzeitige Westorientierung des deutschen Imperialismus kommt in den Widerspruch mit der immer autoritärer werdenden inneren Entwicklung und umgekehrt. Mittelfristig wird dieser Widerspruch gelöst werden- in Richtung deutscher Sonderweg, wenn die Arbeiterklasse der deutschen Bourgeoisie nicht den Weg versperrt.

Der „Corona-Notstand“ und der nun nachfolgende Energienotstand hebt die Entpolitisierung der Arbeiterklasse auf ein höheres Niveau. Die Spaltung der Arbeiterklasse und die Spaltung des Kleinbürgertums führen immer mehr zur Resignation und Ohnmachtserfahrungen in der Lohnarbeiterklasse und zersetzt die proletarischen Massenorganisationen. Zum Verzicht bedarf es keiner proletarischen Massenorganisationen, bedarf es keiner Gewerkschaften. Über den „Corona-Notstand“ wurde die Arbeiterklasse zwangsweise und repressiv weiter entpolitisiert, indem die alten noch bestehenden sozialen Beziehungen gekappt und eine neue „Isolations-Normalität“ implantiert wurde. Es setzte sich der „Sachzwang“ bzw. die „Alternativlosigkeit“ als technokratische Momente. Der Notstand war und ist ein „alternativloser Sachzwang“ in den Augen der Bourgeoisie, wenn die multipolare Weltmarktkonkurrenz sich verschärft und gleichzeitig die Defensive der Arbeiterklasse anhält. Am Ukraine-Krieg läßt sich die Zuspitzung der Weltmarktkonkurrenz im multipolaren Weltmarkt ablesen. Der Weltmarkt wird neu verteilt und der Krieg ist ein Mittel in dieser Neuverteilung des Weltmarktes, ebenso der Notstand. Im Ukraine-Krieg fällt auch die Welt von Jalta und Potsdam in Trümmern, die Nachkriegszeit, welche sich aufteilt in die Epochen des sogenannten Kalten Krieges und die Epoche der neoliberalen US-Herrschaft. Mit dem Ukraine-Krieg beginnt die Vorkriegszeit bzw. die Vorkriegszeit zu einem Dritten Weltkrieg, den nur die Arbeiterklasse verhindern kann. Im Ukraine-Krieg konzentriert sich die Entwertung des Kapitals in der durchschnittlichen Bewegung des Kapitals im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Der Ukraine-Krieg und die Entwertung des Kapitals in den inflationären Tendenzen sind keine isolierten Momente und stehen gleichgültig zueinander, sondern sind eine dialektische Einheit; der Ukraine-Krieg ist nur der politische Ausdruck der materiellen Krise der Kapitalakkumulation. Die Große Krise entlädt sich in einer Kette von imperialistischen Kriegen und die imperialistischen Kriege sind der politische Ausdruck der Großen Krise der Akkumulation, welche sich in einem Dritten Weltkrieg konzentrieren könnten. Krieg und Krise sind eine dialektische Einheit. Weltwirtschaftskrise bedeutet Weltwirtschaftskrieg bedeutet (Dritten-) Weltkrieg. Eine Weltwirtschaftskrise, Große Krise, hat einen ökonomischen Beginn, doch später erscheint sie nur noch in politischen Formen und nicht in ökonomischen Formen wie zu Beginn. Konkret. In ökonomischen Formen erschien die Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008, um danach sich in mannigfaltige politische Formen zu mystifizieren. Die materielle Basis all der verschiedenen politischen Krisen ist die Weltwirtschaftskrise seit den Jahren 2007/2008 und die Verschärfung der politischen Krisen reflektiert konkret-spezifisch die Verschärfung der ökonomischen Krise in relativer Autonomie zu dieser. Der potentielle Marsch des deutschen Imperialismus mittelfristig in seinen Sonderweg ist ebenso eine Reaktion auf diese Entwicklung. Die Akkumulationsdynamik des multipolaren Weltmarktes verschiebt sich nach Eurasien, was die transatlantischen Metropolen versuchen zu verhindern und dabei scheitern. Durch den Ukraine-Krieg wird die Welt neu im Sinne des multipolaren Weltmarktes neu geordnet und es entstehen neue Kräfteverhältnisse innerhalb der imperialistischen Kette, welche zu imperialistischen Großräumen führen, welche die zentralen Momente der multipolaren Weltmarktkonkurrenz werden. Hier liegt die materielle Basis für das neuerliche Beschreiten des deutschen Sonderweges. Die „Pax Americana“ verschwindet und weicht einem multipolaren Schlachtfeld, wenn es nicht der Arbeiterklasse gelingt, in die revolutionäre Offensive zu gehen.

  1. Der proletarische Weg

-Generalstreik gegen Krieg und Krise

-Radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, ansetzend an der alltäglichen Sabotage der Ausbeutung (vor allem auch in der Kritischen Infrastruktur) und international organisiert.

-Inflationsausgleich statt Reallohnverzicht und Verarmung durch soziale Transferleistungen

-Arbeiterkontrolle über die Produktion als ersten Schritt zur proletarischen Doppelmacht

-Aufbau proletarischer Hundertschaften gegen die Repression des bürgerlichen Staates und seiner neofaschistischen Organisationen

Iwan Nikolajew Hamburg im Mai 2023 Maulwurf/RS

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Oben       —      Titel des Werks: „Olaf Scholz – August 2021 (Wahlkampf)“

Author Michael Lucan        /       Source   : Own work       /       Date        :    21 August 2021

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2.) von Oben        —       Eine grafische Darstellung von Lock-down während Covid-19

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Unten      —     Pintura de R. Cortés (1855)

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Mai 2023

Ärger in der BBC-Führung, um Boris‘ besten Freund

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Erst flog auf, dass BBC-Chairman Richard Sharp Ex-Premierminister Boris Johnson einen Kredit besorgte. Jetzt räumt er freiwillig seinen Posten.

Falls jemand auf die Idee kommt, gepflegte Mauscheleien beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk kämen nur beim RBB vor, empfiehlt sich der Blick auf die leidgeprüfte BBC. Da musste vergangene Woche der Chairman, also in gewisser Weise der Verwaltungsratsvorsitzende, seinen Hut nehmen. Wobei er diesen Hut monatelang nicht gefunden hat. Denn dass Richard Sharp ein Gefolgsmann von Ex-Premierminister Boris Johnson ist und ihm und seiner Partei einen ganzen Haufen Gefallen getan hatte, war von Anfang an bekannt. Sharp gehört schließlich zu den Großen, was Parteispenden an die Konservativen angeht.

Gestolpert ist Sharp jetzt über einen Kredit von immerhin 800.000 britischen Pfund. Die brauchte allerdings nicht die Partei, sondern der ja immer mal wieder klamme Boris Johnson: Auch in Großbritannien verdient der Premierminister weniger als ein Intendant – und zwar erheblich weniger.

Während Johnson als Premier ein so genanntes „Entitlement“ in Höhe von 164.080 Pfund im Jahr hatte, wurde das Salär von BBC-Chef Tim Davie im September 2021 sogar nochmal von 450.000 auf sagenhafte 525.000 Pfund erhöht. Da können selbst deutsche In­ten­dan­t*in­nen nur von träumen. „Da bekommen sie wohl eher Alpträume und nehmen Abstand“, vermutet die Mitbewohnerin. „Sie wollen schließlich lieber mit ihren Stärken überzeugen.“

Die Regierung wollte an ihm festhalten

Sharp selbst kennt keine Geldprobleme. Er ist ehemaliger Goldman-Sachs-Banker und „independently wealthy“ wie das schön vornehm auf Englisch heißt. Die 160.000 Pfund, die ihm für den Teilzeit(!)job als oberster BBC-Aufseher zustehen, hatte er versprochen für karitative Zwecke zu spenden. Und natürlich verlieh er nicht selbst die Kohle, sondern brachte Johnson mit einem Freund zusammen, der weiterhelfen konnte. Beim Bewerbungsverfahren im Herbst 2020 um den Posten als BBC-Chairman vergaß Sharp dann dummerweise, seine Rolle bei der Nummer mit dem Kredit zu erwähnen. Was ihm im Nachhinein furchtbar leid tut.

Quelle     :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Schweiz + das Russland Öl

Erstellt von DL-Redaktion am 31. März 2023

Die Schweiz überwacht Öl-Sanktionen zu Russland kaum

Quelle      :        INFOsperber CH.

Markus Mugglin /   

Grosse Schweizer Rohstoffhändler zogen sich aus dem Ölgeschäft mit Russland zurück. Eine neue Genfer Firma springt in die Lücke.

Red. Die Nichtregierungsorganisation Public Eye hat soeben die Studie «Die Schweiz und der Handel mit russischem Öl: Ein trügerischer Abschied?» publiziert. Die Studie analysiert die dramatischen Veränderungen auf dem Ölmarkt seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und insbesondere die Folgen für die Schweiz als globalen Hub für den Handel mit russischem Öl. Sie folgt auf mehrere seit dem Krieg von der Organisation publizierten Recherchen. Wir geben im Folgenden die Zusammenfassung der neusten Studie wieder.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine hat die Karten auf dem Ölmarkt neu gemischt. Zur Austrocknung dieser Hauptfinanzierungsquelle des Kremls hat die westliche Welt, darunter die Schweiz, ein historisches Embargo gegen das schwarze Gold aus Russland verhängt. Seit Dezember 2022 ist die Einfuhr dieses Rohöls auf dem Seeweg verboten, und der Handel damit unterliegt in rund 40 Ländern einem Preisdeckel. Diese Massnahmen gelten seit Februar auch für Erdölprodukte. Vor Putins Einmarsch in die Ukraine war Europa der Hauptmarkt für russisches Öl, das laut unseren Schätzungen zu 50 bis 60 Prozent über die Schweiz gehandelt wurde.

Basierend auf exklusiven Insider-Daten und -Aussagen zeigen neue Recherchen, dass dieser Markt neu aufgeteilt und noch undurchsichtiger wurde. Jahrzehntelang waren Trafigura, Vitol, Glencore und Gunvor die Haupthändler von Putins Öl und direkt an vielen russischen Projekten und Unternehmen beteiligt. Seit der Invasion in die Ukraine wurden die Schweizer Rohstoffkonzerne durch russische oder chinesische Staatsunternehmen sowie kleine Händler mit unbekannten Eigentümern ersetzt. Diese neuen «Pop-up»-Firmen operieren meist von Dubai oder Hongkong aus, die keine Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Viele Indizien weisen darauf hin, dass sie dies im Auftrag oder mit Unterstützung von Grossunternehmen tun, die unbemerkt weiter mit russischem Öl handeln wollen.

Public Eye hatte Zugang zu Daten, welche die Entwicklung im ostrussischen Hafen Kozmino zeigen, von wo die Rohölsorte «ESPO» nach Asien exportiert wird. Seit Sommer 2022 sind die grossen Handelshäuser aus der Käufer-Liste verschwunden. Dafür besetzt ein anderes Schweizer Unternehmen nun einen Spitzenplatz: Paramount Energy & Commodities. Zwischen März 2022 und Februar 2023 exportierte das Genfer Unternehmen 10 Millionen Tonnen (72 Millionen Barrel) russisches Rohöl, was etwa acht Tanker pro Monat entspricht.

Kurz nach Kriegsbeginn hatte Public Eye erstmals über die primär in Russland und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion aktive Paramount berichtet. Im Juni 2022 soll die Firma den Handel mit diesen Fässern gemäss Global Witness und Financial Times jedoch der in Dubai registrierten Paramount Energy and Commodities DMCC übertragen haben. Dieses Unternehmen agiert demnach zwar unabhängig von der fast gleichnamigen Genfer Firma, sein Geschäftsführer ist aber Schweizer Staatsbürger.

Der Mechanismus der Preisobergrenze ermöglicht es westlichen Marktteilnehmern (Händlern, Spediteuren, Versicherern), weiter mit russischem Erdöl zu handeln, sofern sie dafür weniger als 60 USD pro Barrel zahlen («price cap») und es an Länder ohne Russland-Sanktionen verkaufen.

Mit den EU-Sanktionen hat der Bundesrat auch diesen Mechanismus übernommen. Anders als die EU, USA und Grossbritannien kontrolliert das in der Schweiz dafür zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) jedoch nicht, ob sich die Unternehmen auch daran halten. Das Seco bestätigte Public Eye vielmehr, dass es weder Audits durchführt noch eine Melde- oder Dokumentationspflicht für solche Transaktionen auferlegt, sondern sich ganz auf den guten Willen der Branche verlässt, sich selbst zu kontrollieren.

Zudem gilt das Schweizer Embargogesetz – im Gegensatz zu den EU- und US-Bestimmungen – nicht für Schweizer Bürger*innen mit Wohnsitz im Ausland. Für global agierende Händler ist diese rechtliche Lücke faktisch eine Einladung, die Sanktionen gegen russisches Öl mit nur kleinen organisatorischen Änderungen ganz legal zu umgehen.

Bald wieder mehr Geschäfte mit russischem Öl?

(mm) Die USA würden die grossen Handelsunternehmen dazu drängen, die Ölgeschäfte mit Russland wieder aufzunehmen, wenn sie dies unter der von der G7 festgelegten Obergrenze von 60 Dollar pro Barrel tun können. Das berichtet die Financial Times. Der Westen zeige sich besorgt über die durch die Sanktionen hervorgerufene Verlagerung des Handels von den traditionellen hin zu wenig bekannten Unternehmen, die häufig alte Schiffe einsetzten und nicht transparent operierten, schreibt die britische Wirtschaftszeitung in ihrer Berichterstattung über den «Commodities Global Summit», der diese Woche in Lausanne stattgefunden hat. Die Vertreter der in der Schweiz domizilierten Trafigura und Vitol erklärten sich dazu bereit, Ölgeschäfte mit Russland unter Einhaltung des Preisdeckels wieder abzuwickeln, sofern die Regierungen und Banken diesen zustimmen würden.  

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Oben      —    Lac Léman

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Xi Jinping in Moskau

Erstellt von DL-Redaktion am 26. März 2023

Eine bessere Welt durch geteilte Zukunft

Putin-Xi meeting (2023).jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Die Begenung von Xi Jinping und Vladimir Putin in Moskau war so spektakulär, dass sie von den parteihörigen Medien nicht unter den Teppich gekehrt werden konnte. Also gab es wilde Spekulationen und Phantasien über das Warum der Begegnung, ohnerichtig hinzuhören oder nachzulesen, was dort wirklich gesagt und getan worden ist. Man krallte sich lieber und wie immer an eigene Vorurteile.

Entgegen der westlichen Behauptung, dass bei dem Treffen das Thema Ukraine kaum oder nur am Rande angesprochen worden sei, haben Xi und Putin eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet und veröffentlicht, wonach die Krise in der Ukraine durch Dialog gelöst werden soll. Putin bekräftigte seine Bereitschaft, so schnell wie möglich einen Dialog mit der Ukraine aufzunehmen, und Xi betonte zum wiederholten Mal,dass er immer für einen Dialog eingetreten ist. Warum schweigen die westlichen Medien über dieses wichtige Ergebnis der Begegnung?

Über das eigentliche Thema der Begegnung schweigen sich die Politik und Medien ganz aus oder äußern sichnur verächtlich: die Friedenspolitik von Xi Jinping. Nachder Ankündigung auf der MünchnerSicherheitskonferenz und der Veröffentlicheung der GSI (Globale Sicherheitsinitiative) am 24. Februar und vo rdem Hintergrund der diplomatischen Vermittlung zwischen Iran und Saudi-Arabien demonstrierte Xi ohne Umschweif die schon deutlich gewordene Multipolarität der Weltordnung im Gegensatz zur Hegemonie der USA. China positioniert sich klar für eine bessere Welt durch eine geteilte Zukunft aller Menschen und Völker.

Anders als die USA, die jedes Problem und jeden Konflikt mit Waffengewalt angegangen und dann jämmerlich gescheitert sind, will China der Menschheit zu einer friedvollen, geteilten Zukunft verhelfen und kann das auch durch Taten belegen. Alle Realisationen im Rahmen der alten und der neuen Seidenstrasse sind friedvoll und zum Nutzen beider Vertragspartner. Die markantesten Beispiele in Europa sind Duisburg und Piräus als zukunftsrächtige Infrastrukturmaßnahmen zum Wohl der lokalen und regionalen Volkswirtschaft.

Sehen wur hier das wirkliche Foto aus Moskau ?

Das ist für China der Lösungsansatz für dieHerausforderungen in unserer Welt und für eine bessere Zukunft durch konzertierte Aktionen einer internationalen Gemeinschaft. „Das gemeinsame Interesse derMenschheit ist eine in Frieden geeinte und nicht geteilte und volatileame Welt“, sagt Xi seit nunmehr zehn Jahren. Und keiner im Westen hörte hin.So nutzt Xi die Bühne in Moskau, um deutlich zumachen, dass China mit befreundeten Staaten einen harmonischen Gegenpol zur Hegemonie der USA und ihrer Vasallen im Weltgeschehen bildet. Dabei ist das Leitmotiv einer Menscheit mit geteilter Zukunft so neu nicht, wenn man an Karl Marx mit seiner Aufforderungdenkt: Bürger aller Länder vereinigt euch! Und die Forderung nach Harmonie ist der chinesischen Kultur seit Konfuzius eigen. Die Gedanken dieser beidenAutoren sind heute Grundsäulen chinesischer Politik. Seit Moskau ist klar, dass die Weltornung nur noch multipolarkonzertiert wird und hoffentlich für eine bessere Welt mitgeteilter Zukunft.

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Oben       —      President of the People’s Republic of China Xi Jinping meets with President of Russia Vladimir Putin at the official welcoming ceremony in the Grand Kremlin Palace in Moscow.

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Vom Seco zu Nestlé:

Erstellt von DL-Redaktion am 18. März 2023

Um die 40’000 Franken pro Sitzung

Lobby-Ablösung gefunden

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von     :    Pascal Sigg /   

Die ehemalige Seco-Direktorin soll in den Nestlé-Verwaltungsrat. Sie hat jahrelang im Dienst des Konzerns lobbyiert.

Ende April soll Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch in den Nestlé-Verwaltungsrat gewählt werden. Ineichen-Fleisch war bis Juli 2022 elf Jahre Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) in Guy Parmelins Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung. Zuvor war sie vier Jahre Schweizer Botschafterin und Delegierte für Handelsabkommen sowie Chefunterhändlerin der Schweiz bei der Welthandelsorganisation (WTO).

Nun soll der Schritt in die Privatwirtschaft folgen. Und der ist lukrativ. Die Zeitung «work» der Gewerkschaft «unia» hat berichtete kürzlich: «Die Nestlé-Verwaltungsrätinnen und -räte haben sich 2022 zu 11 Sitzungen getroffen, die durchschnittlich 2 Stunden und 55 Minuten dauerten. Dafür bekommen sie 280’000 Franken Honorar und 15’000 Franken Spesen im Jahr. Für den Einsitz in einem der Verwaltungsratsausschüsse kommen minimal 70’000 Franken und maximal 300’000 Franken hinzu. Ebenfalls pro Jahr. Zum Vergleich: Das Lohnmaximum für einen 100-Prozent-Job beim Bund liegt bei knapp 400’000 Franken.»

Im Namen der Schweiz in Südamerika für Nestlé lobbyiert

Ineichen-Fleisch kennt Nestlé bereits gut. Denn ihr Seco lobbyierte im Ausland wiederholt für die Interessen des Grosskonzerns – im Namen der Schweizer Eidgenossenschaft. Dies machten letztes Jahr Recherchen der NGO «Public Eye» bekannt (Infosperber berichtete). Ihnen zufolge versuchte das Seco die Regulierung von Nahrungsmitteln in Ländern wie Chile, Peru oder Ecuador im Interesse Nestlés zu beeinflussen. Besonders gut dokumentiert ist die letztlich erfolglose Einflussnahme in Mexiko.

Wegen der grassierenden Fettleibigkeit hatte Mexiko im Herbst 2016 einen «nationalen epidemiologischen Notstand» ausgerufen. Die Zahlen einer Gesundheitsstudie von 2020 zeigten: Unter den fünf- bis elfjährigen Kindern sind 38 Prozent übergewichtig oder gar fettleibig. Und unter den MexikanerInnen ab 20 Jahren sind 74 Prozent zu dick. Über ein Drittel der Erwachsenen ist fettleibig.

Auch in der Schweiz droht Nestlé eine Regulierung

Als Massnahme schlug der Gesundheitsausschuss der mexikanischen Abgeordnetenkammer fünf schwarze Stoppschilder vor, mit dem Schriftzug «Exceso», also «Übermass» – an gesättigten Fetten, an Kalorien, an Salz, an Transfetten, an Zucker. Zudem sollten mit Warnhinweisen versehene Produkte nicht mehr mit Comic-Figuren, Spielzeugen oder Berühmtheiten beworben werden. Dagegen wehrte sich Nestlé mithilfe der offiziellen Schweiz. Doch im Herbst 2020 trat die Regelung trotzdem in Kraft.

Selbst ausströmender Lobbygestank von Lindner FDP und Klöckner CDU konnte Nestle nicht von einen Arrangement mit den-r Politiker-in abhalten.

Seither haben weitere Länder wie Brasilien oder Kolumbien nachgezogen. Und auch in Deutschland und der Schweiz laufen ähnliche Bestrebungen. Die Sprecherin des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) aus Alain Bersets Departement des Innern sagte der SonntagsZeitung (Paywall) kürzlich: «Das BLV hat ebenfalls Pläne für eine Regulierung der an Kinder gerichteten Werbung». Die Behörde habe jahrelang erfolglos versucht, die Produzenten dazu zu bringen, entsprechende Lebensmittel freiweillig gesünder zu machen (Infosperber berichtete).

Ineichen-Fleisch dürfte also wissen, was bei Nestlé auf sie zukommt. Letzten Frühling sagte sie öffentlich über ihre Arbeit im Auftrag der Schweizer BürgerInnen: «Eine Hauptaufgabe meiner letzten elf Jahre als Seco-Direktorin war es, mehr Regulierung abzuwehren.»

Weiterführende Informationen

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Day 2 of the 10th WTO Ministerial Conference, Nairobi, 16 December 2015. Photos may be reproduced provided attribution is given to the WTO and the WTO is informed. Photos: © WTO. Courtesy of Admedia Communication.

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Lob der Umerziehung

Erstellt von DL-Redaktion am 15. März 2023

Angebliche Bevormundung durch Linke

Ein Schlagloch von Robert Misik

Linke Selbstveränderung und Kritik an überholten Lebensformen und Werten ist nicht überheblich. Im Gegenteil: Sie ist ein nobles Anliegen.

Linken wird heute gern vorgeworfen, sie wollten die Menschen „umerziehen“. Der Vorwurf kommt von hartleibigen Konservativen, im Chor mit Rechtsextremen. Es ist ein Vorwurf, der auf subtile Weise ins Mark trifft, weil die Linken darauf ja nicht „Genau, das wollen wir“ antworten können. Schließlich hat der Begriff der „Umerziehung“ einen autoritären Beiklang, es schwingt die totalitäre Konzeption einer „Menschenzüchtung“ mit, oder zumindest deren freundlichere Schwester, der Paternalismus: Wir sind gut, aufgeklärt und liberal, und ihr seid es nicht, weshalb wir euch ein bisschen verbessern müssen, natürlich zu eurem eigenen Vorteil. Der Vorwurf sitzt, weil viele Linke insgeheim das Gefühl haben, dass die Rechten vielleicht irgendwie recht haben könnten.

Tatsächlich ist das nicht völlig falsch, zumindest auf den ersten Blick. Denn die Linken haben sowohl eine große Tradition als auch das Selbstbild, auf der Seite der einfachen Leute zu stehen, die es schwer im Leben haben, nicht mit goldenen Löffeln im Mund geboren oder in verzärtelten Mittelschichtsfamilien aufgewachsen sind, die den Restbeständen einer traditionellen, plebejischen Kultur entstammen, und die, sagen wir es mit einem Modewort, nicht immer vollständig woke sind. Und jetzt kommen die Linken daher und sagen ihnen: Es ist nicht okay, wie ihr seid.

Zumindest haben manche Leute das Gefühl, dass die Linken das von ihnen denken. Stimmt ja auch: Wer den Rassismus, die Engstirnigkeit, die Dominanz traditioneller Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Teilen plebejischer Milieus kennt, der weiß, dass es auch die Quelle von viel Leid ist, des Leids jener, die Diskriminierung, Mobbing oder Tätlichkeiten ausgesetzt sind. All das führt dazu, dass die Linken einerseits auf der Seite der einfachen Leute stehen, andererseits ihnen aber zu verstehen geben, dass sie ihr Verhalten missbilligen. Und dann kommen die Rechten und sagen diesen Gruppen: „Es ist okay, wie ihr seid.“ Es ist nicht verwunderlich, dass einige diese Botschaft lieber hören als Kritik an Lebensstilen und Werthaltungen.

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Bundeswehr in Schulen Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Aber das ist erst der Beginn der Kompliziertheiten. Oft kommt als Ergänzung der Vorwurf, dass die Linken früher noch in der konkreten Lebensrealität des einfachen Volkes verwurzelt waren, ihnen heute aber „von oben“ mit dem Zeigefinger kommen. Nun wollten Sozialisten, Sozialdemokraten und alle anderen Linken schon früher die arbeitenden Klassen einerseits ermächtigen, aber andererseits immer auch verändern. Weltverbesserung und Selbstverbesserung waren stets untrennbar miteinander verbunden. Der Ursprung der Arbeiterbewegung lag oft in Arbeiterbildungsvereinen. Die Idee dahinter war, dass man den ungebildeten, analphabetischen Arbeitern Wissen vermittelt, denn, so hieß die Parole, „Wissen ist Macht“. Mit dem Wissen, Lesen und Schreiben wurden auch Werte vermittelt, die an die Vernunftvorstellungen der Aufklärung angelehnt waren. Die Anführer der Sozialisten legten beispielsweise den männlichen Arbeitern nahe, ihren Wochenlohn nicht prompt am Samstagabend zu versaufen, sie ermahnten sie, ihre Frauen anständig zu behandeln, sie propagierten neue Partnerschaftsmodelle, sie hatten sogar die Frechheit, die Männer aufzufordern, sich gelegentlich um die Kinder zu kümmern, damit die Frauen auch in Parteiversammlungen gehen könnten. Ärger noch: Man erklärte ihnen die Vorteile von Sanitärinstallationen, die Sozialisten druckten in ihren Zeitungen Anleitungen, wie man sich die Zähne putzt, und dass man die Wohnungen nicht nur fegen solle, sondern auch feucht mit dem Mopp wischen. Mit einem Wort: Man hat die Menschen verändern wollen, und niemand wäre damals auf die Idee gekommen, dass daran etwas schlecht sein könnte.

Sozialisten legten den Arbeitern nahe, ihren Wochenlohn nicht zu versaufen und ihre Frauen anständig zu behandeln

Es ist auch gar nichts Schlechtes daran, sich umzumontieren, was ja nichts anderes heißt, als sich zu verändern. Ich bin ein anderer als vor dreißig Jahren – Gott sei Dank. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, war ich zwar auch als zarter Teenager schon ziemlich woke, aber dass bestimmte Verhaltensweisen, auf die ich keine großen Gedanken verschwendete, andere verletzen könnten, habe ich wahrscheinlich erst nach und nach dazugelernt. Mein Freund, der Falter-Chefredakteur Florian Klenk, hat unlängst in einem schönen Text beschrieben, wie ihn Freundinnen und Kolleginnen allmählich zum Feministen umwandelten, und dass das nicht ohne innere Konflikte für ihn abging, weil er sich gelegentlich auch angegriffen gefühlt habe. Selbstredend wird man nicht immerzu völlig nach seinen Werten leben, wir Menschen sind nicht fehlerfrei, ich nenne das selbstironisch meine „Woke-Life-Balance“.

Quelle        :       TAZ-online            >>>>>          weiterlesen    

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Politik, News, Bundesparteitag Die Linke: die neu gewählten Parteivorsitzenden Martin Schirdewan und Janine Wissler

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Unten       —        Autor Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

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DIE ERDE BEBT

Erstellt von DL-Redaktion am 15. März 2023

– UND WAS MACHT ERDOĞAN?

von Ariane Bonzon

Während sich der türkische Präsident mit der Nothilfe sichtlich schwertat, war die Opposition sofort zur Stelle. Sie organisierte schnelle Unterstützung, wo staatliche Stellen versagten, und kritisierte sehr vernehmlich die Baupolitik. Trotzdem könnte der Langzeitherrscher auch diese Katastrophe überstehen.

Am 6. Februar 2022 erschütterten zwei gewaltige Erdbeben die Türkei und Syrien. In zehn türkischen Provinzen und in den vor allem von Kurden besiedelten Regionen in Nordsyrien gab es mehr als 50 000 Tote (Stand 6. März), von denen viele nicht mehr identifiziert werden konnten. Fast 2 Mil­lio­nen Menschen verloren ihr Zuhause, viele blieben mehrere Tage ohne Hilfe. Ganze Stadtviertel sind zerstört, die Bewohner auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Infrastruktur ist in weiten Gebieten schwer beschädigt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht von der „Katastrophe des Jahrhunderts“.

Nach dieser Katastrophe stellt sich allerdings auch die Frage nach der politischen Verantwortung Erdoğans und nach dem diplomatischen Einfluss, den sein Land künftig genießen wird. Wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai haben diese Fragen besonderes Gewicht.

Erdoğan hat allen Grund, eine Niederlage zu fürchten. Denn dann müsste er sich, nach 20 Jahren an der Macht, mitsamt seiner Entourage für zahllose in den letzten zehn Jahren begangene Verletzungen des Rechtsstaats verantworten und mit Anklagen wegen Betrug und Korruption rechnen. „Er­do­ğan weiß, dass er wegen Verrat und Unterschlagung vor dem obersten Gerichtshof landen wird, wenn er verliert“, erklärt Bayram Balci, Politikwissenschaftler am Centre de recherches internationales (Ceri).

Auch wenn der Präsident vor dem 6. Februar in Umfragen hinter den potentiellen Kandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP, Mitte-­links, laizistisch) zurücklag, stand es für ihn gar nicht so schlecht – obwohl klar war, dass Erdoğans großspurige Ankündigungen – 2023 sollte die Türkei zu den zehn stärksten Wirtschaftsmächten der Welt aufsteigen, mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 25 000 US-Dollar pro Einwohner – nicht eintreffen werden.

Alles offen vor den Wahlen

Anfang Oktober 2022 erreichte die Inflation mit über 83 Prozent ihren Höchststand, bei Lebensmitteln stiegen die Preise sogar um 93 Prozent. Im letzten Jahrzehnt ist das BIP um 1903 US-Dollar auf 9327 US-Dollar gesunken, und auf der Weltrangliste der 50 größten Volkswirtschaften stand das Land 2021 auf Platz 19.

Aber der Präsident hatte noch ein paar Trümpfe im Ärmel. Im September 2022 versprach er, 500 000 Sozialwohnungen zu bauen; vier Monate später kündigte er die Erhöhung des Mindestlohns um 50 Prozent an. Damit legte er in den Umfragen ein paar Prozentpunkte zu. Eine weitere populäre Maßnahme war die Abschaffung des Mindestalters für den Renteneintritt. Bisher wurde fast 2 Millionen türkischen Beschäftigten eine Rente auch dann verwehrt, wenn sie die nötigen Beitragsjahre vorweisen konnten.

Erdoğans offensive Außenpolitik im Kaukasus und in Afrika oder die Bombardierung der autonomen Kurdengebiete in Nordsyrien wird auch nur im Westen kritisch gesehen. In der Türkei stößt diese Politik eher auf Zustimmung; auch die Oppositionsparteien sind mit Ausnahme der Demokratischen Partei der Völker (HDP, links, für kurdische Autonomie) dafür.

Konsens besteht auch hinsichtlich der Entscheidung, die Millionen syrischen Flüchtlinge abzuschieben, die einst als „Gäste“ kamen und nun unerwünscht sind.1 Und dass die Türkei erkennbar davon profitiert, dass sie die Sanktionen gegen Russland nicht mitmacht, stellt viele Wählerinnen und Wähler ebenfalls zufrieden. Vor dem 6. Februar war der Wahlausgang zwar keineswegs sicher, aber Erdoğan hatte durchaus eine Chance – zumal im Hohen Wahlausschuss (YSK) vor allem regimefreundliche Richter sitzen und das Fernsehen „fast ausnahmslos unter Kontrolle der Regierung steht“2 .

Und nun? Das zerstörerische Erdbeben hat auch die türkische Gesellschaft erschüttert. 14 Millionen Menschen sind unmittelbar betroffen. Tagelang saß das ganze Land vor dem Fernseher, in dem rund um die Uhr und live über die Such- und Rettungsarbeiten berichtet und zu Spenden und Hilfen aufgerufen wurde. Zwei Tage nach der

Katastrophe sprach der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu in einer nüchternen und sehr ernsten Videoansprache den Opfern seine Anteilnahme aus, prangerte zugleich aber die Inkompetenz der Behörden an und auch die Desinformationskampagnen der Regierung. Am Ende erklärte Kılıçdaroğlu, es gebe einen großen Verantwortlichen für die Katastrophe, und das sei Er­do­ğan: „Zwanzig Jahre lang hat seine Regierung das Land nicht auf ein Erdbeben vorbereitet.“

Dieser Frontalangriff bedeutete eine radikale Wende. Damit brach der CHP-Vorsitzende die ungeschriebene Regel, an die sich seine Partei in der Vergangenheit im Namen der nationalen Einheit bei jedem Attentat und jeder militärischen Auslands­ope­ra­tion gehalten hatte, aber auch bei dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 oder bei der Verfolgung und Verhaftung kurdischer HDP-Abgeordneter in den vergangenen Jahren.

Die Opposition hat sehr rasch auf die Katastrophe reagiert, stellt der Sozialgeograf und Turkologe Jean-François Pérouse fest, der seit 1999 in Istanbul lebt. Sie eröffnete umgehend die Diskussion über den Umgang mit der Krise und das hyperzentralisierte Machtsystem, über die Günstlingswirtschaft und das Schneckentempo der Armee beim Einsatz in den Katastrophengebieten. Der Istanbuler CHP-Bürgermeister Ekrem İmamoğlu fuhr sofort ins Katastrophengebiet. In der schwer betroffenen Region Hatay habe die CHP mit beispielhafter Effizienz geholfen, berichtet Pérouse, und „quasi anstelle des Staats die Infrastruktur wiederhergestellt“.

Auch Selahattin Demirtaş, der frühere Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP3 , der sich seit November 2016 in Edirne in Untersuchungshaft befindet, hat aus dem Gefängnis heraus den Staatspräsidenten für die nationale Katastrophe verantwortlich gemacht. Und darüber hinaus eine Wahlempfehlung für den CHP-Kandidaten Kılıçdaroğlu ausgesprochen. Sollte die kurdische Basis der HDP auf ihren Vorsitzenden hören, könnte das Erdoğans Wahlniederlage besiegeln.

Für den Präsidenten geht es jetzt vor allem darum, von seiner politischen Verantwortung abzulenken und sich als „Retter“ und „Organisationsgenie“ zu inszenieren. Nur wenn ihm das gelingt, kann er noch auf einen Wahlsieg hoffen. Das ist auch das Leitthema von Erdoğans PR-Feldzug, für den er alle staatlichen Ressourcen mobilisiert.

Bei seinem ersten Besuch im Erdbebengebiet sprach er zuerst von der Hand des Schicksals, gegen das der Mensch machtlos sei, und gab lediglich „Lücken“ zu, da man „unmöglich auf so eine Katastrophe vorbereitet sein“ könne. Erst nach drei Wochen, am 27. Februar, hat sich Erdoğan in Adiyaman wegen der verspäteten Rettungseinsätze entschuldigt: „Wegen der verheerenden Auswirkungen der Beben und des schlechten Wetters konnten wir in Adiyaman in den ersten Tagen nicht so arbeiten, wie wir wollten. Dafür bitte ich um Entschuldigung.“

Quelle     :     LE MONDE diplomatie-online

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Oben     —        Aid collected in Eyüpsultan, Istanbul for the 2023 Gaziantep-Kahramanmaraş earthquakes

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Lindner auf Sklavensuche

Erstellt von DL-Redaktion am 11. März 2023

„Oh, wow“ – Deutschland für Fachkräfte unattraktiv

Das hätte ihm jeder sagen können, welcher mit Studenten-innen Kontak hat.

Von:   MOHAMED AMJAHID

Nicht nur Finanzminister Lindner musste es kürzlich erleben: Für die viel beschworenen ausländischen Fachkräfte ist Deutschland kein begehrtes Ziel.

Vor Kurzem stand Finanzminister Christian Lindner von der FDP bei einem Auslandsbesuch in Ghana in einem Hörsaal. Luftig in ein weißes Hemd gekleidet, hielt er in der Hauptstadt Accra einen seiner TED-Talks, ganz locker in den Reihen zwischen den Studierenden. Jemand filmte die Szene.

Lindner fragt in den Saal, wer von den Anwesenden sich vorstellen könne, nach Deutschland zum Arbeiten zu migrieren. Kurze Stille. Null Hände heben sich. Hinter der Kamera flüstert jemand: „Oh, wow“, es folgt ein verlegenes „Okay!“ vom Finanzminister. Dann gehen hier und da ein paar wenige Hände zögerlich doch noch hoch – eher aus Mitleid. Christian Lindner rettet sich mit dem Witz, dass er die Telefonnummern und E-Mail-­Adressen der skeptischen Freiwilligen höchstpersönlich einsammeln werde. Alle lachen.

Oft heißt es ja sinngemäß: Ganz Afrika wolle zu uns nach Deutschland kommen. Eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung, die man an sich kritisch lesen sollte, gibt nun weitere Anhaltspunkte, warum das nicht so ist. Unter den OECD-Ländern ist Deutschland demnach beim Ansehen unter ausländischen Fachkräften, Unternehmen und Start-ups von Platz 12 auf Platz 15 zurückgefallen. Hauptgrund dafür ist, dass andere Länder schlicht viel attraktivere Arbeits- und Lebensbedingungen bieten: Norwegen, Kanada oder Neuseeland zum Beispiel.

In der Studie wurden mehrere Faktoren beachtet: Aufstiegschancen, Höhe des Einkommens und der Steuern, Möglichkeiten für Familienmitglieder oder die Visa-Vergabe. Auf all diesen Feldern bietet Deutschland kein gutes Bild. Schaut man zum Beispiel in die Portale für die Terminvergabe für deutsche Visa-Anträge, herrscht gähnende Leere: Oft sind keine Termine weit und breit zu sehen. Fürs Auswandern nach Deutschland braucht man Geduld, Kontakte, viel Geld und noch mehr Willen. Den bringen aber viele gut ausgebildete Menschen in Sachen Deutschland nicht automatisch mit. An­trag­stel­le­r*in­nen beschweren sich über eine besonders ausgeprägte Bürokratie und ineffiziente Verfahren. Dabei wird ihnen von Finanzministern und Werbebroschüren gesagt, dass Deutschland sie dringend als Fachkräfte brauche. Diese Diskrepanz zwischen Diskurs und Realität kommt bei den Fachkräften selbst offensichtlich nicht gut an.

Arg abgerutscht

Beim Ansehen unter Unternehmen und Start-ups ist Deutschland sogar laut Studie von Platz 6 auf Platz 13 abgerutscht. Hauptgründe hier: die schleppende Digitalisierung mit riesigen Funklöchern und weiter heiß laufenden Faxgeräten in den Ämtern, ein zu hohes Mindestkapital bei Neugründungen und eine „geringe Akzeptanz von Zuwanderer*innen“ in der deutschen Gesellschaft. Für den letzten Punkt gibt es ein akkurateres Wort: Rassismus. Den gibt es auch in Norwegen, Kanada oder Neuseeland, nur hat sich herumgesprochen, dass es in Deutschland besonders bedrückend sei.

Hätte er seinen Zuhörern gesagt das eine Lehr als Hausmeister ausreicht, in Deutschland Finanzminister werden zu können, wäre er wohl im Ansturm untergegangen !

Spricht man zum Beispiel mit bei der deutschen Wirtschaft begehrten Studierenden, For­sche­r*in­nen und Fachkräften an deutschen Hochschulstandorten sind viele Neuankömmlinge wenig begeistert von der gesellschaftlichen Atmosphäre. In Städten wie Dresden oder Tübingen bekommen die neuen Bür­ge­r*in­nen schnell mit, dass dort politisch betrachtet eine rassistische Normalität herrscht. Einige entscheiden sich deswegen bewusst, den Standort zu wechseln. Auch weil hochqualifizierte Fachkräfte sehr mobil sind. Oft genug wandern sie weiter in ein anderes Land. Gut ausgebildete Fachkräfte folgen Entwicklungschancen auf dem eigenen Feld und höheren Löhnen. Wenn es dann noch an Anerkennung und basaler Menschlichkeit im Umgang hapert, dann schreckt das eben viele Menschen ab.

In Deutschland spielen daneben bestimmt auch andere Faktoren eine maßgebliche Rolle, die in der Studie nicht vordergründig auftauchen: Deutschland ist ein sehr deutschsprachiges Land. Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen haben oft keine Lust und noch weniger Zeit, sich in das Mysterium von „der, die, das“ einzuarbeiten. Zwar haben sich in Großstädten wie Berlin oder Frankfurt Räume entwickelt, in denen Englisch die Arbeitssprache ist, dennoch sind ausländische Fachkräfte oft genug mit deutschen Führungskräften konfrontiert, die noch nicht mal Deutsch gut sprechen und teilweise schlechter ausgebildet und qualifiziert sind als die Neuen am Konferenztisch. Dazu kommen konkrete Probleme bei der Wohnungssuche oder bei der Kinderbetreuung, für die man nicht extra nach Deutschland einwandern muss, um zu wissen, wie schlimm es ist.

Die geringe Attraktivität des Standorts Deutschland liegt also am international ramponierten Image. Die spezielle deutsche Willkommenskultur spricht sich herum, und Menschen wenden sich mit einem zusätzlichen Blick auf die konkreten Bedingungen von Deutschland ab. Das wiederum hängt daran, dass sich Menschen mit relativ wenig Aufwand darüber informieren können, wie eine Mehrheitsgesellschaft so tickt. Und viele Yelp-Reviews für Deutschland weisen wenig Sterne auf.

Alles schön vermischen

Quelle        :       TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben       —   Dieses Bild zeigt das Denkmal in Algerien – Lecture hall in Algeria

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Vermitteln, nicht einmischen

Erstellt von DL-Redaktion am 3. März 2023

Die Ukraine ist wichtiges Transitland der Seidenstraße

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Ein Debattenbeitrag von Nora Sausmikat

Chinas lange erwartete „Friedensstrategie“ für den Ukrainekrieg ist zugleich eine Umformung der UN-Charta nach chinesischem Verständnis.

Am 24. Februar, dem Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine, veröffentlichte das Außenministerium der VR China ein Zwölf-Punkte-Papier zu Chinas Position in diesem Aggressionskrieg. Noch kurz nach Beginn der Invasion gab es international die Hoffnung, China könnte seinen Einfluss auf Russland entscheidend für Vermittlungen und Frieden nutzen.

Denn China gilt als Russlands wichtigster Verbündeter. Der Aggressionskrieg gegen die Ukrai­ne ist auch Zeichen eines offenen Kampfes der politischen Systeme. Schon kurz nach dem russischen Überfall bat der ukrainische Botschafter in Japan China um ein Einlenken.

Seit 12 Monaten also wartet die Welt auf Chinas Friedensinitiative – nun erscheint dieses Zwölf-Punkte-Papier.

Was es nicht ist? Es ist keine klare Position des offiziellen Chinas zu dem Aggressionskrieg. Es ist weder eine eindeutige prorussische Stellungnahme noch ein klares „Machtwort“ in Richtung Russland, den Angriffskrieg zu stoppen.

Was es ist? Es ist ein diplomatisches Symbol für die Weltbühne, welches die Zutaten internationaler Diplomatie im chinesischen Sinne auslegt und für die Kriegssituation mit neuer Bedeutung füllt.

China verteidigt seit Langem das Konzept der staatlichen Souveränität, sprich das Recht souveräner Staaten, frei von ausländischer Einmischung zu sein. Dies sei der „Garant für Frieden, Sicherheit und Wohlstand“. Dieses Verständnis „staatlicher Souveränität“ geht jedoch weit über die in der UN-Charta enthaltenen entsprechenden Verbote der unerlaubten Gewaltanwendung und Bewaffnung oder Finanzierung von Rebellenbewegungen hinaus. Für China ist dieser Grundsatz des Völkerrechts gleichbedeutend mit „Nichteinmischung“. Denn China bezeichnet bereits bloße Kommentare zu seiner Innenpolitik – ganz zu schweigen von Kritik an seiner Menschenrechtsbilanz – routinemäßig als eine unzulässige Form der „Einmischung“ in seine staatliche Souveränität. Diese Haltung versucht China auf der Weltbühne der Diplomatie zu etablieren. Das ist höchst gefährlich, speziell wenn es um Verbrechen ­gegen die Menschlichkeit und andere völkerrechtliche Vergehen geht – wie derzeit von Russland in der Ukraine begangen. Eine geschlossene internationale Reaktion auf von Russland begangene Gräueltaten in der Ukraine, die laut Völkerrecht eindeutig gegeben sind, wird so auch seit einem Jahr durch prorussische chinesische Haltung verhindert.

Das Zwölf-Punkte Papier ist eine aus chinesischer Sicht logische Konsequenz der seit 10 Jahren massiv vorgenommenen Umformung universeller Spielregeln auf nationale Befindlichkeiten. Beispiel Menschenrechte: Die Betonung der staatlichen Souveränität, der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und des Rechts auf wirtschaftliche Entwicklung als ein über allen anderen Rechten stehendes Menschenrecht droht das gesamte internationale Menschenrechts­system sowie Normen zu Transparenz und Rechenschaftspflicht zu schwächen. Die Idee von universellen Menschenrechten, die über die nationale Souveränität hinausgehen und die internationale ­Gemeinschaft als Ganzes betreffen, lehnt China ab.

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Im Zwölf-Punkte Papier betont China die Bedeutung der territorialen Souveränität aller Länder. Ein kleiner Unterschied zur staatlichen Souveränität mit großen Folgen. Dies kann heißen, dass dies eine Anerkennung russisch annektierter Gebiete als russisch nach sich zieht. Letztlich können hier auch Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Änderung des Status Taiwans nach sich ziehen. Es kann aber auch heißen – dies ist eher unwahrscheinlich –, dass China den Einmarsch in ein souveränes Land wie die Ukraine am Ende doch noch verurteilt.

Was das Zwölf-Punkte Papier auch ist: ein Angebot Chinas als Vermittler, ein Aufruf zu Dialog und Kompromissen – unter den Prämissen eines umgedeuteten Völkerrechts. China spricht sich für einen Waffenstillstand und die Wiederaufnahme von Friedensgesprächen aus.

Die zwölf Punkte spiegeln darüber hinaus pragmatische Interessen Chinas wider: Lieferketten sollen wieder sicher funktionieren, der eurasische Kontinent muss dafür stabil gehalten werden, und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen soll die Sanktionen gegen Russland stoppen. Dialog und Verhandlungen seien die einzige Lösung, nicht Sanktionen. Es darf nicht vergessen werden: Die Ukraine ist wichtiges Transitland der Seidenstraße und wichtiger Militär- und Getreidelieferant Chinas. Konkret benennt Punkt 9 des Zwölf-Punkte Plans die Getreide-Schwarzmeer-Initiative, die es gelte fortzusetzen.

Quelle    :          TAZ-online           >>>>>       weiterlesen

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Oben       —   Übersicht der wichtigsten Projekte, die im Rahmen der Belt and Road-Initiative vorangetrieben werden und wurden. Quelle: Infrastrukturatlas 2020, Urheber: Appenzeller/Hecher/Sack, Lizenz: CC BY 4.0[102]

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Regierungsbildung in Berlin

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Februar 2023

Es fehlt ein kühner Schachzug

Eiun Debattenbeitrag von Gereon Asmuth

Die rot-grün-rote Koalition leidet weniger am Wahlergebnis als an Franziska Giffey. Für die Nachfolge drängt sich ein Kandidat förmlich auf.

Im Nachwahlberlin geht einiges durcheinander. Da ist zum Beispiel die CDU, die nicht müde wird, den Wahlausgang als Regierungsauftrag für sich zu reklamieren. Dass die Union das so macht – geschenkt. Doch wie viele in der Stadt da mitziehen, irritiert schon.

Klar, die CDU hat zehn Prozentpunkte hinzugewonnen. Das liegt aber vor allem daran, dass sie in den letzten 20 Jahren so tief gesackt war, dass es kaum noch weiter runtergehen konnte. Von ihren glorreichen Zeiten bis zur Jahrtausendwende, als die Partei über Jahrzehnte hinweg in Berlin stabil um die 40 Prozent holte und daraus tatsächlich einen Regierungsanspruch ableiten konnte, bleibt sie meilenweit entfernt. Die Union ist ein Scheinriese.

Tatsächlich weiterhin groß hingegen wäre eine rot-grün-rote Koalition. Klar, sie hat ein paar Prozentpunkte verloren. Aber insgesamt stimmten immer noch 49 Prozent der Ber­li­ne­r:in­nen für das amtierende Regierungsbündnis. Im Abgeordnetenhaus hätte es weiter eine stabile Mehrheit.

Dass sie nicht automatisch als erneute Regierung gesehen wird, sondern als Verliererin, liegt aber nicht nur daran, dass sie 2021 noch stärker war. Es liegt vor allem an dem Bild, das Rot-Grün-Rot in den letzten anderthalb Jahren abgegeben hat.

Und damit wären wir bei Franziska Giffey. Die SPD-Politikerin wäre die perfekte Regierende Bürgermeisterin – wenn sie denn eine Große Koalition führen würde. Als Chefin des linken Dreierbündnisses ist sie jedoch eine Fehlbesetzung. Sie steht für vieles, für eines aber bestimmt nicht: für eine progressive Politik, die die Probleme der Stadt mit links erledigt.

Nun könnte der eigentlich als links geltende und somit für Rot-Grün-Rot stehende SPD-Landesverband ja das Wahlergebnis nutzen, um Giffey aus dem Fokus zu nehmen. Doch dafür müsste die SPD als kleine Partnerin der CDU ins Rote Rathaus verhelfen. Und was daran gut sein soll für Berlin, bleibt schleierhaft.

Das wäre noch abstruser als eine schwarz-grüne Koalition, die von vielen Rechenkünstlern nun als logische Brücke zwischen Innenstadt und Außenbezirken gepriesen wird. Was bitte sollte diese Koalition der Gegensätze denn zustande bringen? Ein paar Radwege für die Innenstadt und Autobahnen für den Rest? Die Preisgabe der Stadt an die Immobilienverwerter, solange wenigstens hier und da eine Solarzelle auf den Dächern thront? Und als Gemeinschaftsprojekt kippen sie mit großem Elan soziale Errungenschaften wie die kostenlosen Kitas?

Also doch weiter so mit Rot-Grün-Rot? Das ist, so absurd das klingt, die einzige Machtoption für Franziska Giffey – weil ihre SPD gut hundert Stimmen mehr als die Grünen bekommen hat. Aber wäre es gut, ein Bündnis fortsetzen, das offensichtlich so nicht harmoniert? Dann kann man die Idee R2G spätestens bei der nächsten Wahl im Jahr 2026 endgültig in die Tonne treten.

Franziska Giffey wäre die perfekte Regierende Bürgermeisterin – wenn sie denn eine große Koalition führen würde.

Wenn es jedoch mehr als berechtigte Kritik an der Performance von Rot-Grün-Rot gibt, aber auch die sich rechnerisch anbietenden Alternativen alles andere als Besserung versprechen, was dann? Dann bleibt immer noch der Versuch, Rot-Grün-Rot mal als inspirierenden Pakt ernst zu nehmen. Mit einer Regierungschef:in, die nicht wie Giffey sichtlich mit dem Projekt fremdelt, sondern mit einer Person, die den Esprit eines solchen Trios ausstrahlen würde, weil Haltung und Projekt im Einklang sind. Der man abnimmt, dass sie rote Socken als Auszeichnung sieht.

Quelle       :       TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben      —    Franziska Giffey and Oleksij Makejew on Pariser Platz in front of Brandenburger Tor with Ukrainian flag.

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Zukunftsfeste Investitionen

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Februar 2023

Und täglich grüßt das Murmeltier…

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Suitbert Cechura

Arbeitsplatzrettung bei Galeria Karstadt-Kaufhof – ein Dauerstress, damit sich Zukunftsinvestitionen rentieren!

Ständig gibt es in Deutschland Entlassungen und damit sehen sich deutsche Gewerkschaftler ständig gefordert, Arbeitsplätze zu retten. Zurzeit ist dies wieder einmal bei Galeria Karstadt-Kaufhof (GKK) der Fall. „Mit der zweiten Insolvenz in Eigenverantwortung innerhalb von zwei Jahren hat die Galeria-Geschäftsleitung bei den rund 17.500 Beschäftigten massive Zukunftsängste ausgelöst“, hieß es aus der Verdi-Gewerkschaft Ende letzten Jahres (ver.di publik, Nr. 8/22). Von der zuständigen Verdi-Kommission hörte man auch, sie habe „viele Ideen, wie die 131 Niederlassungen zukunftsfest werden könnten.“

Da irritiert es auch gar nicht groß, dass das letzte Rettungsprogramm 4.000 Stellen gekostet hat (https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/rene-benko-signa-kaufhaeuser-101.html ). In den Augen der Gewerkschaft heißt das eben, dass auf diese Weise 17.500 Stellen gerettet wurden (https://www.rp-online.de/wirtschaft/warenhauskonzern-verdi-will-mit-galeria-ueber-neuen-tarifvertrag-verhandeln_aid-78655825 ). Und diese Rettungsanstrengungen ziehen sich bereits seit dem Jahr 2000 hin (https://www.manager-magazin.de/unternehmen/handel/galeria-karstadt-kaufhof-wie-aus-konkurrenten-die-kaufhaus-gruppe-galeria-wurde ), mal bei Karstadt, dann bei Kaufhof, wobei im Laufe der Jahre vom GKK-Konzern alle Konkurrenten geschluckt wurden. Dafür wurden immer so viele Arbeitsplätze gerettet, wie die Unternehmen glaubten, für ein lohnendes Geschäft gebrauchen zu können. Das waren übrigens in früheren Zeiten mal einige Hunderttausend…

Das „Unternehmen auf Kurs bringen“

Jetzt ist wieder mal eine Kalkulation nicht aufgegangen und es stehen wieder Arbeitsplätze zur Disposition, damit das nächste Rettungsprogramm an, bei dem klar ist, dass es wieder viele Arbeitnehmer das Einkommen und damit die ökonomische Existenz kosten wird. Denn eins ist in diesem Rettungswesen eine ausgemachte Sache: Beschäftigung gibt es nur dann und zu den Bedingungen, wenn und insofern sich die Investition in Löhne und Gehälter für das Unternehmen lohnt, also bewirkt, dass aus dem investierten Geld mehr Geld wird. Und die Maßstäbe dafür, ob das gelingt, gelten als unverrückbare Sachzwänge, die auch eine Gewerkschaft akzeptieren muss.

So klagt das Unternehmen z.B. über hohe Mieten, die die Gewinnrechnung belasten. Denn dass Immobilienbesitzer aus ihrem Besitz – also aus der Verfügungsmacht über ein Stück Land – einen Gewinn erzielen, ist eine der Bedingungen, dass es überhaupt Beschäftigung im Warenhausbereich gibt. Das Handelsgeschäft muss eben nicht nur die Gewinne der Investoren von GKK erwirtschaften, sondern auch gleich das Gewinninteresse der Immobilienbesitzer befriedigen. Und da trifft es sich gut, dass die Signa-Gruppe von René Benko sowohl Eigentümer von[einigen Immobilien wie auch von Galeria Karstadt-Kaufhof ist. Das gibt ihr die Freiheit, sollte sich das Warenhausgeschäft an einzelnen Orten nicht lohnen, die Immobilien in anderer Weise zu verwerten und zu einer Einnahmequelle zu machen (tagesschau.de, 27.1.21)

Dass die Einkommen und damit die Existenz von Arbeitnehmern an diesen Kalkulationen hängen, ist schlichtweg Fakt. Dagegen haben Gewerkschafter nichts einzuwenden, im Gegenteil, wegen der Abhängigkeit sorgen sie sich in Form von Betriebsräten um nichts anderes als um das Gelingen des Geschäfts und damit um das Aufgehen der Gewinnkalkulation. Dabei behandeln sie die Einkommen ihrer Mitglieder, also der Beschäftigten als eine Masse, die zur Sicherung der Gewinne eingesetzt werden kann. Und so stellen sie bei jeder Rettungsaktion das Einkommen der von ihnen Vertretenen zur Disposition. Insofern unterscheiden sie sich eigentlich nicht von der Geschäftsleitung, der sie immer wieder vorhalten, das Geschäft zu vergeigen. Von der Verdi-Gewerkschaft war z.B. zu hören, Galeria habe eine „motivierte Belegschaft“, die „schon Riesensummen in die Zukunft des Unternehmens investiert“ habe und „die ihr Unternehmen auf Kurs bringen will“ (ver.di publik).

Während das Interesse des Unternehmens, seinen Reichtum zu vermehren, als ein Sachzwang akzeptiert wird, gilt dies für die Arbeitnehmerseite nicht. Dass diese bei der Bestreitung ihres Lebensunterhalts auch mit jeder Menge Sachzwänge – an den Supermarktkassen, Tankstellen oder bei den Mieten … – konfrontiert wird, stellt eine flexible Größe dar, deren Stellenwert jeweils auszutesten ist. Wenn Verdi darauf verweist, dass die Beschäftigten von GKK in der Vergangenheit bereits auf Teile ihres tariflichen Einkommens sowie auf Weihnachts- und Urlaubsgeld verzichtet haben und dies „für eine Galeria-Verkäuferin in Vollzeit einen jährlichen Verlust von rund 5500 Euro bedeute“ (rp-online, 20.10.22), so übt sie damit keineswegs Selbstkritik. Sie will auf diese Weise vielmehr anmahnen, dass die Mitarbeiter mit diesem Verzicht – eigentlich – ein Anrecht auf Weiterbeschäftigung hätten.

Galeria Kaufhof München 1.jpg

Mit ihrem bisherigen Engagement für einen Sanierungstarifvertrag hat die Gewerkschaft ihren Mitgliedern ein solches Anrecht suggeriert, einen einklagbaren Anspruch haben die Beschäftigten damit aber nicht erworben. Das hindert die Gewerkschaft nicht daran, gleich ihre Verhandlungsbereitschaft für einen neuen Tarifvertrag zu bekunden, da Galeria Karstadt-Kaufhof den Sanierungstarifvertrag gekündigt hat. Das fiel dem Unternehmen nicht schwer, denn diese Möglichkeit war bereits mit dem Abschluss des Vertrages von Verdi für den Fall fehlender Gewinnen zugestanden worden. Trotzdem wird diese Kündigung nun tränenreich beklagt.

Zukunftsfeste Investitionen

Bevor ein neuer Tarifvertrag abgeschlossen wird, hat der Gesamtbetriebsrat schon im Rahmen der Arbeitsplatzrettung die Bedingungen für die anstehenden Entlassungen vereinbart: „Für die zu schließenden Häuser hatte Galeria bereits angekündigt, dass es dort betriebsbedingte Kündigungen geben werde. Als Entschädigung wurden zwei Monatsgehälter, aber maximal 7500 Euro mit dem Gesamtbetriebsrat vereinbart.“(https://www.waz.de/wirtschaft/galeria-amtsgericht-essen-eroeffnet-das-insolvenzverfahren-id237519277 )

Verdi will nun mit Galeria über ein „existenzsicherndes Einkommen“ verhandeln. Wo da die Grenze für die Existenzsicherung verläuft, lässt sich nach oben leicht bestimmen: Sie darf das Geschäft von Galeria nicht belasten. Was dies nach unten bedeutet, ist nur schwer auszumachen; schließlich gilt auch Hartz IV oder das neue Bürgergeld als Existenzsicherung. Und schon der letzte Tarifvertrag hatte ja nicht die Existenz der Beschäftigten von GKK gesichert, schließlich wurde die Inflation in keiner Weise ausgeglichen, also der Reallohn gesenkt. Das hieß für die so Bezahlten, dass sie gezwungen waren, sich weiter einzuschränken – in Zeiten, wo allenthalben die Senkung der Lebensstandards, „wegen Putin“, als nationale Pflicht verkündet und von den Gewerkschaften auch ohne große Gegenwehr hingenommen wird (https://www.gew-ansbach.de/data/2022/08/Bernhardt_Schillo_Auch-das-noch-Putin_verarmt_und_spaltet_uns.pdf).

Und so werden dann wohl bald viele nach gesenktem Lohn in die Arbeitslosigkeit entlassen, wobei der abgesenkte Lohn wiederum die Rechengrundlage für das Arbeitslosengeld bildet. So zahlt sich Arbeitsplatzrettung aus – für einen „Investitionsplan, damit die Standorte für die Zukunft ausgerichtet sind“ (ver.di publik)!

Zuerst erschienen im Overton-Magazin

Urheberrecht
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Oben      —   Murmeltier auf dem Mount Dana, Yosemite, Kalifornien, USA.

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Die Sirenen von Mitrovica

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Februar 2023

Vor 15 Jahren erklärte sich das Kosovo für unabhängig.

File:Mitrovica Bridge 2.JPG

Die Brücke über den Ibar in Mitrovica verbindet den albanischen mit dem serbischen Teil der Stadt (Blick nach Norden).

Von Jean-Philipp Baeck

Doch der Konflikt mit Serbien blockiert den Fortschritt. Besuch in einer geteilten Stadt. „Die Löhne sind zu niedrig, Jobs werden noch zu oft über Beziehungen vergeben. Viele werden von Verwandten im Ausland unterstützt“

Wenn Hyrije Neziri von ihrem Alltag erzählt, fallen ihr sofort die Alarmsirenen ein. Noch vor ein paar Wochen heulten sie in ihrer Heimatstadt Mitrovica im Norden des Kosovo immer wieder auf. Sie spielt Handyaufnahmen davon ab. Das erste Video stammt aus dem Sommer, das letzte vom Dezember. Verwackelt zeigen sie einen verängstigen Straßenhund, Fußgänger, die verschüchtert stehenbleiben, den Fluss. Im Hintergrund ist ein ansteigender Ton zu hören, durchdringend, wie bei einem Luftalarm im Krieg.

Doch im Kosovo herrscht kein Krieg mehr. Die Sirenen waren Protestzeichen der serbischsprachigen Bevölkerung, die im nördlichen Teil der Stadt lebt. Bei Neziri wecken sie Erinnerungen. „Die Geräusche lösen eine Traurigkeit in mir aus, die ich nicht in Worte fassen kann“, sagt sie.

Neziri sitzt auf einer Bank auf der Brücke über den Fluss Ibar im Zentrum Mitrovicas. Die 37-Jährige gehört zur albanischsprachigen Mehrheit des Kosovo. Sie ist in Mitrovica geboren und arbeitet bei einer Nichtregierungsorganisation, die sich gegen häusliche und misogyne Gewalt engagiert. Während des Kosovokriegs 1999 floh sie nach Albanien, danach kam sie zurück. Wie Neziri können viele, die die Kriegszeit erlebt haben, die Angst nicht ablegen, dass sich die Gewalt im Kosovo wiederholen könnte.

Von der Brücke aus fällt ihr Blick auf die Hochhäuser im Norden, auf die Schornsteine der Giebeldächer, durch die in diesen Wintertagen der Rauch aus den Holzöfen aufsteigt und sich zu einer unsichtbaren Kuppel formt, die auf der gesamten Region liegt wie ein beißender Schleier.

Die Fahrbahn auf der Brücke wirkt wie ausgestorben. Nur eine ältere Frau schleppt ein paar Einkaufstüten über den Fluss. Für Autos ist die Überfahrt seit über zwei Jahrzehnten blockiert, lange Zeit durch Barrikaden und meterhohe Steinhaufen, mittlerweile durch Betonpoller. Anstatt zu verbinden, teilt die Brücke die Stadt in einen serbisch geprägten Norden und einen albanisch geprägten Süden. Im Süden ragen Minarette der Moscheen zwischen den Wohnhäusern empor, im Norden orthodoxe Kirchen. Hüben duftet es aus Grillstuben nach Qebapa aus Rindfleisch, die für ein paar Euro zu haben sind, drüben locken Cevapcici vom Schwein – die man mit serbischen Dinar bezahlt. Aber alle atmen die gleiche verqualmte Luft.

Immer wieder kam es in den letzten Jahren im Norden Kosovos zu Konflikten, zu Protestaktionen und Straßenblockaden. Manchmal fielen Schüsse. Zuletzt hatten serbisch-nationalistische Aufständische Anfang Januar mit verkeilten Lkws eine Landstraße in Richtung serbischer Grenze dicht gemacht. Auch an der Brücke im Stadtzentrum kommt es immer wieder zu Demonstrationen. Sie wird seit Jahrzehnten von italienischen Carabinieri bewacht, die als Teil der Nato-Friedensmission KFOR im Kosovo stationiert sind. Auch an diesem Tag stehen zwei blau-weiße Landrover-Geländewagen mitten auf der leeren Fahrbahn. „Alles entspannt“, sagt einer der Carabinieri. Er spielt kurz mit einem der Straßenhunde, die sich zu ihnen gesellt haben. „Ein Freund“, sagt er über den braunen Mischling, steigt wieder in den Geländewagen und wartet.

15 Jahre nach der Erklärung der Unabhängigkeit bleibt Kosovo ein geteiltes Land unter dem Schutz der Nato-Truppen. Die Nachwirkungen des Krieges sind noch nicht überwunden. Während in der Hauptstadt Prishtina schicke Cafés, Bars und Nachtclubs für Ablenkung sorgen, bremsen nationalistische Ideen auf allen Seiten weiterhin ein Fortkommen, das sich vor allem die jungen Menschen hier so wünschen.

Für Neziri ist die Begegnung mit den ausländischen Journalisten eine willkommene Abwechslung. Deutsche seien beliebt im Kosovo, „aber vor allem die Amerikaner“, sagt sie und lacht. Bei einem Rundgang durch ihre Stadt zeigt sie die neue Einkaufsmall, nur ein paar Schritte von der Brücke entfernt. Die Leuchtreklame wirbt für Kleidungsgeschäfte, Bowlingbahn und eine Rossmann-Filiale. Schon zwei Straßen weiter werden die Häuser einfacher und verbergen sich hinter hohen, unverputzten Mauern.

Vor einem mehrstöckigen Gebäude hantieren zwei Männer mit einer Pumpe. Aus einem Schlauch aus dem Erdgeschoss sprudelt Wasser auf die lehmige Straße. Tags zuvor war der Fluss nach heftigen Regenfällen über die Ufer getreten, überall kämpfen die Leute gegen die Schäden, schaufeln feuchten Schlamm aus den Kellern. In einer Parkgarage watet ein Mann noch knietief durchs Wasser. In den Tagen nach der Überschwemmung helfen sich hier alle gegenseitig und packen mit an: Serben, Roma, Albaner.

Doch was im Kleinen funktioniert, steht auf großer Bühne auf dem Spiel. Wenn die Idee einer multiethnischen Republik im Kosovo unter internationaler Begleitung nicht gelänge, wäre das ein schlechtes Signal für die Balkanregion, für Nordmazedonien und insbesondere Bosnien, wo es gleichfalls komplizierte ethnische Konstellationen gibt.

Auf dem Papier schützt die Verfassung des Kosovo die Rechte aller Minderheiten, die Sprachen, die Kultur. Auch im Parlament haben die ethnischen Minderheiten Plätze für VertreterInnen. Serbisch ist neben Albanisch zweite Amtssprache.

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15 Jahre Kosovo

Der Staat Am 17. Februar 2008 erklärte die Republik Kosovo ihre Unabhängigkeit – neun Jahre nach dem Ende des Kosovokriegs, bei dem die UÇK, die Befreiungsarmee des Kosovo, für den albanischen Teil der Bevölkerung gegen serbische Streitkräfte kämpfte, die von dem Präsidenten und Kriegsverbrecher Slobodan Milošević angeführt wurden.

Der Krieg Am 24. März 1999 war die Nato unter Führung der USA ohne UN-Mandat in den Krieg eingetreten, bombardierte Ziele in Serbien und unterstützte die UÇK mit der Begründung, weitere Menschenrechtsverletzungen verhindern zu wollen. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligte sich die Bundeswehr an einem Kampfeinsatz im Ausland.

Die Gegenwart Heute sichern Nato-Soldaten den Frieden im Kosovo, aktuell noch 3.800, darunter 70 Soldaten der Bundeswehr.

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In der Praxis aber verstärkt sich das Nebeneinander: Gegen Roma etwa gehört Diskriminierung weiterhin zum Alltag. Die Mehrheit der Kosovo-Albaner dominiert die Institutionen, die serbische Bevölkerungsminderheit isoliert sich in ihren Enklaven. Nicht nur im Nordkosovo wachsen Kinder und Jugendliche auf, die sowohl zu Hause wie in den Schulen nur noch Serbisch lernen. Mit ihren kosovo-albanischen AltersgenossInnen fehlt ihnen die gemeinsame Sprache.

Neziri versteht Serbisch. In der Schulzeit habe sie serbische Freunde gehabt, erzählt sie. Heute nicht mehr. In den letzten Jahren war sie nur noch selten auf der nördlichen Seite. Manchmal spaziere sie den Berg hinauf zum Denkmal für die Arbeiter der Trepča-Mine. Das Monument aus den siebziger Jahren thront über der Stadt und soll daran erinnern, dass serbische und albanische Minenarbeiter während des Zweiten Weltkriegs gemeinsam gegen die deutschen Besatzer kämpften. Es stammt aus einer anderen Zeit, der eines geeinten Jugoslawiens.

Für die Regierung in Prishtina gehören heute auch die Gebiete nördlich des Ibar-Flusses und der Stadt Mitrovica selbstverständlich zum Staatsgebiet. So sehen das aktuell auch über 100 Staaten, die Kosovos Unabhängigkeit anerkennen. Für die Regierung in Belgrad dagegen gehört das Kosovo weiterhin selbstverständlich zu Serbien. Dies findet Unterstützung durch China und Russland. Aber auch die fünf EU-Mitgliedsländer Griechenland, Rumänien, Slowakei, Republik Zypern und Spanien erkennen die Unabhängigkeit des Staates nicht an.

Bei Diskussionen um das Kosovo geht es selten allein nur um die 1,9 Millionen EinwohnerInnen eines Fleckens der Größe Schleswig-Holsteins. Das Land ist Projektionsfläche für globale Konflikte: islamische gegen christliche Religion, Ost gegen West, Russland gegen die Nato.

Knapp 80 Kilometer weiter im Süden liegt das Camp Bondsteel der KFOR-Soldaten. Seit 1999 liegt die US-Militärbasis vor den Toren der Stadt Ferizaj. Hinter einer schwer bewachten Eingangsschleuse erstrecken sich Hangars mit Black-Hawk-Hubschraubern und Militärbaracken über eine Hügelgruppe, so weit das Auge reicht. Für die Soldaten gibt es ein Fitnessstudio, ein Kino und sogar Fastfood-Filialen von Burger King und Subway. Hier im Camp sorgt man sich um den zunehmenden russischen Einfluss in der Region, insbesondere nach dem Überfall auf die Ukraine.

KFOR-Soldaten der US-Armee haben an diesem Tag WissenschaftlerInnen der Universität Prishtina eingeladen. In einem Nebenraum der Kantine spricht einer der Kommunikationswissenschaftler über zunehmende Desinformation und die Schwierigkeit, russische Propaganda zu kontrollieren. Die WissenschaftlerInnen würden sich mehr Kontrolle der Onlinemedien wünschen, die ihrer Meinung nach die serbische Minderheit im Nordkosovo aufhetzten. Die US-Soldaten sind da sehr vorsichtig. Meinungsfreiheit gehöre zu Demokratie, ebenso der Protest, sofern er friedlich bleibe, betonen sie im Gespräch.

Doch immer mehr KosovarInnen sind der großen Politik und der noch größeren Ideologien überdrüssig. Fragt man Neziri, was sie bedrückt, erzählt sie von Alltagsproblemen. „Die Löhne sind zu niedrig, Jobs werden noch zu oft über Beziehungen vergeben.“ Nach wie vor herrscht eine hohe Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent im Land und Investoren scheuen unsichere Gegenden. „Viele werden von Verwandten im Ausland unterstützt“, sagt Neziri. Auch ihre Geschwister leben mittlerweile in der Schweiz, Kanada und Deutschland. Sie sehne sich danach, sie zu besuchen, sagt Neziri, und fühle sich im Kosovo eingeengt.

So geht es den meisten Menschen hier: Sie warten auf die Visa-Liberalisierung. Die soll nun spätestens Anfang 2024 kommen. KosovarInnen könnten sich dann ohne Visum 90 Tage pro Jahr in der EU aufhalten – so wie es für die BürgerInnen aller ihrer Nachbarländer seit Jahren möglich ist.

Neziri hat den Konflikt satt, der ihr täglich auf der Brücke ein paar Minuten von ihrer Wohnung entfernt ins Auge springt. „Ich verstehe nicht, warum wir nicht einfach friedlich zusammenleben können“, sagt sie.

Milica Andrić Rakić blickt von der anderen Seite des Flusses auf die Brücke, die Stadt und den Konflikt. „In den letzten zwei Jahren hat sich die Lage langsam verschlechtert und der Nationalismus hat zugenommen“, sagt Andrić Rakić. Die junge Frau hat als Journalistin gearbeitet und ist bei der NGO New Social Initiative, die sich für die Teilhabe der serbischen Community im Kosovo einsetzt. Andrić Rakić wohnt im Nordteil von Mitrovica. Der Weg zu ihr führt zu Fuß über die zentrale Brücke, vorbei an den Carabinieri, den Straßenhunden und den Blockadepollern.

Quelle          :         TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben      —    Die Brücke über den Ibar in Mitrovica verbindet den albanischen mit dem serbischen Teil der Stadt (Blick nach Norden).

Author Julian Nyča            /       Source      :      Own work       /    Date       :    8 August 2013, 09:29:15

This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.

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Unten      —       Bridge over the Ibar, which divides the city in two. (2009)

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Ein Leben nach Corona

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Februar 2023

Politikprofessor denunziert Kriegsangst als «Krankheit»

Die Institutionen der Politik werden alle nur von  kleinen Sekretären besetzt.

Quelle      :        INFO Sperber CH.

German Foreign Policy /   

Wer vor der Gefahr einer Ausweitung des Ukraine-Kriegs warnt, hat in Deutschland einen schweren Stand.

Der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause, rechnet damit, dass NATO-Staaten in absehbarer Zeit Kampfjets an die Ukraine liefern. Mit Blick darauf sei «Eskalationsbereitschaft» angesagt, nicht «Eskalationsphobie», erklärt Krause, der auch dem Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik angehört, des militärpolitischen Strategiezentrums der Bundesregierung.

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine haben deutsche Politiker und Medien immer wieder Kriegsangst zu stigmatisieren versucht. In einem aktuellen Medienbeitrag heisst es über Furcht vor dem Übergreifen des Krieges auf die Bundesrepublik: «Panikmache müsste … strafbar sein.»

«90 Sekunden vor Mitternacht»

Unterdessen hat UN-Generalsekretär António Guterres vor einer Ausweitung des Ukraine-Kriegs zu einem «grösseren Krieg» gewarnt.  Vor der UN-Generalversammlung konstatierte er, die «Doomsday Clock» («Weltuntergangsuhr»), mit der Wissenschaftler die Nähe zu einer von Menschen herbeigeführten apokalyptischen Katastrophe darzustellen suchen, stehe seit kurzem auf 90 Sekunden vor Mitternacht – ein Punkt, den sie nicht einmal in den härtesten Phasen des Kalten Kriegs erreicht habe.

Ursache seien neben der drohenden Klimakatastrophe nukleare Gefahren und vor allem der Ukraine-Krieg.[1] «Die Aussichten auf Frieden verschlechtern sich weiter», warnte Guterres, «die Wahrscheinlichkeit weiterer Eskalation und Blutvergiessens steigt weiter.» Er fuhr ausdrücklich fort: «Ich fürchte, die Welt schlafwandelt nicht in einen grösseren Krieg, sie bewegt sich mit weit geöffneten Augen in ihn hinein.» Der UN-Generalsekretär forderte eindringlich zum Gegensteuern auf: «Wir müssen härter für den Frieden arbeiten – überall.»

«Der Dritte Weltkrieg»

Schon vor rund einem Monat hatte Papst Franziskus ebenfalls eindringlich vor einem grossen Krieg gewarnt. Franziskus äusserte sich in seiner traditionellen Neujahrsansprache, die er wie jedes Jahr vor den beim Vatikan akkreditierten Diplomaten aus aller Welt hielt und die als aussenpolitische Grundsatzrede des Papstes gilt, zu den zahlreichen aktuellen Konflikten – von Syrien über den israelisch-palästinensischen Konflikt, den Bürgerkrieg in Myanmar und die Spannungen und Unruhen etwa in Peru und Haiti bis zu den Kriegen in der Sahelzone sowie in weiteren Ländern Afrikas.

Für kleine Gäste – lange Tische ?

Zwar beträfen die zahlreichen Kriege und Konflikte jeweils «nur bestimmte Gebiete des Planeten unmittelbar»; doch bezögen sie, sei man ehrlich, «im Grunde genommen alle mit ein». «Das beste und jüngste Beispiel dafür» sei «der Krieg in der Ukraine mit seiner Spur von Tod und Zerstörung, mit den Angriffen auf die zivile Infrastruktur, bei denen Menschen nicht nur durch Bomben und Gewalt, sondern auch durch Hunger und Kälte ihr Leben verlieren.» Der Papst urteilte über die gegenwärtige Lage: «Heute ist der Dritte Weltkrieg in einer globalisierten Welt im Gang».[2]

«Panikmache müsste strafbar sein»

Während der UN-Generalsekretär und der Papst vor der Ausweitung des Ukraine-Kriegs bis hin zu einem Dritten Weltkrieg warnen, werden in Deutschland nun erneut Forderungen lauter, sich von der Kriegsgefahr nicht abschrecken zu lassen. Das ist nicht neu. Nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn behauptete die damalige stellvertretende Leiterin des European Union Institute for Security Studies, Florence Gaub, die Furcht vor dem Weltkrieg sei «genau, was Putin erreichen will»: «Nicht die Bombe, sondern die Angst vor der Bombe ist die Waffe.» Daher dürfe man sie nicht zulassen.[3] Anfang Mai sagte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, befragt, ob er nicht einen Atomkrieg fürchte: «Ich habe keine Angst.»[4] Ende vergangenen Jahres erklärte Carlo Masala, Professor an der Münchner Universität der Bundeswehr, in einer Talkshow, «Angst vor einer Eskalation» durch Russland zu haben sei «ein bisschen paradox»: «Da stehen wir mit unserer Angst auf der falschen Seite.»[5] Am Wochenende brüstete sich ein Autor im Springer-Blatt «Die Welt»: «Corona, Weltkriegsgefahr und Klimawandel machen mir keine Angst». «Vertreter aus SPD und Grünen» wollten der Bevölkerung jedoch Furcht einjagen: «Deren Panikmache müsste … strafbar sein.»[6]

Kriegsangst als «Krankheit»

In einem aktuellen Zeitungsbeitrag bezeichnet nun ein deutscher Politikprofessor die Angst vor einer unkontrollierten Eskalation des Ukraine-Kriegs als eine «deutsche Krankheit». Wie der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause, in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» erklärt, sei damit zu rechnen, dass es in absehbarer Zeit zur Gründung eines «westlichen Konsortium[s] zur Lieferung von Kampfjets» an die Ukraine komme – «denn ohne Luftunterstützung werden die Ukrainer nicht zu jener beweglichen Kriegführung in der Lage sein, die notwendig ist, um die russischen Truppen zu vertreiben».[7] Zur Lieferung von Kampfjets hat der Militärhistoriker Sönke Neitzel, eher als Hardliner bekannt, unlängst geurteilt, liefere der Westen sie, dann erreiche der Krieg «eine ganz neue Eskalationsstufe». Neitzel warnt offen, dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gehe es bei der Forderung nach Kampfflugzeugen darum, «die Nato in diesen Krieg hineinzuziehen».[8]

«Eskalationsphobie»

Mit Blick auf Warnungen wie diese erklärt Krause, der dem Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik angehört, des militärpolitischen Strategiezentrums der Bundesregierung: «Die Deutschen leiden unter einer Krankheit, die man als Eskalationsphobie bezeichnen muss.»[9] «Eskalationsbereitschaft» habe sich immer wieder als «erfolgreich» erwiesen, so beispielsweise im Kalten Krieg. Deshalb müsse man auch heute «den Ukrainern neue Mittel der Kriegführung zur Verfügung» stellen. Weil Bundeskanzler Olaf Scholz sich kürzlich nicht für die rasche Lieferung von Kampfjets ausgesprochen hat, wirft Krause ihm vor, sich «in stiller Pflege der Eskalationsphobie» zu üben.

Furcht vor dem Weltkrieg

Die Furcht vor einer Eskalation des Ukraine-Kriegs, die Krause als «Eskalationsphobie» denunziert, ist in der deutschen Bevölkerung verbreitet. Im Oktober zeigte eine Umfrage, dass 59 Prozent der Bevölkerung Angst vor einem Dritten Weltkrieg haben. Am geringsten ausgeprägt ist die Weltkriegsangst mit jeweils 51 Prozent bei Menschen mit monatlichem Durchschnittseinkommen von 4000 Euro oder mehr und bei Wählern von Bündnis 90/Die Grünen.[10]

FUSSNOTEN:
[1] Secretary-General’s briefing to the General Assembly on Priorities for 2023. un.org, 06.02.2023.
[2] «Papst spricht vor Diplomaten vom dritten Weltkrieg». tagesspiegel.de, 09.01.2023.
[3] S. dazu Ukrainisch Roulette.
[4] «Merz: Habe keine Angst vor Atomkrieg». n-tv.de, 02.05.2022.
[5] Thomas Fritz: «Militärexperte Carlo Masala wundert sich bei «Maybrit Illner» über merkwürdige Angst im Westen». web.de, 09.12.2022.
[6] Harald Martenstein: «Wer wenig Angst hat, gilt in dieser Gesellschaft schnell als politischer Aussenseiter». welt.de, 05.02.2023.
[7] Joachim Krause: «Eskalationsphobie – eine deutsche Krankheit». «Frankfurter Allgemeine Zeitung», 07.02.2023.
[8] Dimitri Blinski: Sönke Neitzel: «Es geht Selenskyj darum, die Nato in diesen Krieg hineinzuziehen». stern.de, 27.01.2023.
[9] Joachim Krause: «Eskalationsphobie – eine deutsche Krankheit». «Frankfurter Allgemeine Zeitung», 07.02.2023.
[10] Oliver Stock: «Mehrheit der Deutschen hat Angst vor Drittem Weltkrieg». focus.de, 21.10.2022.

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Grafikquellen        :

Oben      —    (Nova York – EUA, 20/09/2022) Palavras do Secretário-Geral da Organização das Nações Unidas, Excelentíssimo Senhor Antônio Guterres. Foto: Isac Nóbrega/PR

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Politische Werbung:

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Februar 2023

Post und Parteien missachten Stopp-Kleber

Selbst dort wo Bullen sonst friedlich weiden – sehen wir schon Ballons aus China

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Pascal Sigg / 

Vor Wahlen fluten Flyer von Parteien Briefkästen, die Werbung ablehnen. Nun fordert der Konsumentenschutz gesetzliche Klarheit.

Ein an vielen Briefkästen angebrachter Kleber sagt deutlich: «Stopp! Bitte keine Werbung!» Doch auch derart markierte Briefkästen wurden in den vergangenen Tagen und Wochen mit politischer Werbung eingedeckt.

So zum Beispiel in der Stadt Zürich. Weil Kantons- und Regierungsratswahlen anstehen, machen viele Parteien mittels Flyern auf die eigenen KandidatInnen aufmerksam – und werben auch da, wo Werbung ausdrücklich unerwünscht ist.

«Wahlflyer gelten für uns nicht als Werbung»

«Ja, die Flyer gehen auch in Briefkästen mit dem Kleber», schreibt zum Beispiel die Stadtzürcher FDP auf Infosperber-Anfrage. Auch SP und Alternative Liste (AL) bestätigen, dass sie auch da flyern, wo das eigentlich niemand will. Die SVP antwortete nicht auf die Infosperber-Anfrage. Und vonseiten der Grünen hiess es bloss, man verstehe nicht, was die Fragen sollen.

Die Parteien beteuern unisono, dass sie nichts Verbotenes tun. «Wahlflyer gelten für uns nicht als Werbung», schreibt die AL. Die FDP schreibt: «Viele Leute wissen nicht, dass Wahlwerbung nicht als Werbung im eigentlichen Sinn gilt.»

Die Parteien berufen sich dabei allerdings nicht etwa auf ein Gesetz. Die AL schreibt zum Beispiel: «Wir halten uns damit an die Regeln der Schweizerischen Post.» Die «Post» betrachtet Versände politischer Parteien nämlich nicht als Werbung, sondern als sogenannte «offizielle Sendungen». Auch mit «Sendungen von überparteilichen Komitees, die in einem konkreten Zusammenhang mit bevorstehenden Wahlen und Abstimmungen stehen», darf die Post nach eigenem Befinden auch mit Leuten Geld verdienen, welche bei diesem Geschäft ausdrücklich nicht mitmachen wollen.

Die Rechtfertigung dafür lautet: Bei diesen Sendungen handle es sich gar nicht um Werbung im eigentlichen Sinn. So schreibt zum Beispiel die FDP: «Wahlwerbung dient als Information der Bevölkerung.» Und von der SP heisst es: «Eine direkte Demokratie lebt schlussendlich von möglichst gut informierten Bürgerinnen und Bürgern.»

Post erfindet ein Kundenbedürfnis

Dies sehen allerdings nicht alle Bürgerinnen und Bürger so. Ein Zuhörer schrieb der Sendung «SRF Espresso» im Herbst 2019: «Ob für ein Produkt oder eine Wählerstimme geworben wird: Es ist auch Werbung für mich. Was da im Briefkasten steckt, ist in der Regel nichts anderes, als das, was auf den Plakaten steht, die mir überall begegnen. Da muss ich nicht noch extra etwas im Briefkasten haben.»

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Auf Infosperber-Anfrage findet die Post gleichwohl, sie erfülle ein Bedürfnis der briefkastenkleberanbringenden Schweizer Bevölkerung: Die Praxis entspreche «dem Bedürfnis der werbekritischen Kundinnen und Kunden, zwar keine unadressierten Werbesendungen zu erhalten, dabei aber nicht generell auf unadressierte Sendungen verzichten zu müssen, die für sie wichtig oder interessant sind.»

Lauterkeitskommission will nicht für eigene Richtlinien zuständig sein

Zudem verweist die Post auf die Richtlinien der Lauterkeitskommission (C.4, Ziff.4). Doch auf Infosperber-Anfrage nach den gesetzlichen Grundlagen der genannten Praxis will die Lauterkeitskommission nichts mit diesem Teil der eigenen Richtlinien zu tun haben. Ihre Tätigkeit beschränke sich nämlich auf die kommerzielle Kommunikation. «Auch das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), welches die zentrale gesetzliche Grundlage betreffend unlauterem Verhalten bildet, findet nur Anwendung auf Sachverhalte, welche einen Einfluss auf den Wirtschaftswettbewerb haben», schreibt Geschäftsführer Marc Schwenninger.

Datenschützer: Überwiegendes öffentliches Interesse «denkbar»

Neben dem UWG könnte im vorliegenden Fall auch das Datenschutzgesetz zur Anwendung kommen. Aus dem Büro des Eidgenössichen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) heisst es auf Infosperber-Anfrage: «Wer einen «Bitte keine Werbung!»-Kleber auf dem Briefkasten anbringt, äussert dadurch seinen ausdrücklichen Willen, keine physische Werbung im Briefkasten erhalten zu wollen.» Man gehe davon aus, dass dies auch politische Werbung beinhalte. Eine Bearbeitung von Personendaten, wie einer Wohnadresse, gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen sei zulässig. Allerdings nur sofern ein Rechtfertigungsgrund wie überwiegendes öffentliches Interesse geltend gemacht werden könne. Im Kanton Bern ist dies beispielsweise gesetzlich geregelt (Art. 48 des Gesetzes über die politischen Rechte des Kantons Bern). Ohne gesetzliche Grundlage sei es in einer Interessenabwägung im vorliegenden Fall «denkbar, dass das öffentliche Interesse an einer politischen Meinungsbildung durch Wahlwerbung das Interesse der Einzelperson, keine Wahlwerbung zu erhalten, überwiegt.»

Konsumentenschutz fordert gesetzliche Regelung

In Abwesenheit einer klaren gesetzlichen Grundlage für das eigene Ignorieren der Stopp-Kleber verweist die Post – welche mit jeder dieser Sendungen Geld verdient – auch noch auf eine «Absprache mit dem Konsumentenschutz». Die Stiftung für Konsumentenschutz, welche entsprechende Kleber verkauft, bestätigt auf Infosperber-Anfrage ein Abkommen.

Doch sie schreibt auch: «Leider fehlt bislang eine gesetzliche Regelung. Grundsätzlich fordert der Konsumentenschutz, dass eine Präzisierung betreffend adressierten und unadressierten Postsendungen in das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) aufgenommen wird, was das Parlament bei der letzten Revision nicht für nötig befunden hat. Eine solche Regelung müsste sich an einem wirksamen Schutz der Konsumentinnen und Konsumenten und den heutigen Begebenheiten orientieren.» Bei der letzten Revision des UWG habe das Parlament absichtlich auf eine Lösung verzichtet. Obschon der Konsumentenschutz ausdrücklich eine gesetzliche Regelung für «unadressierte Werbung» gefordert hatte.

Im März 2020 reichte GLP-Nationalrätin Katja Christ zwar eine Motion für eine «Opt-In-Lösung» für unadressierte Werbesendungen ein. Sie forderte, dass Werbung künftig nur erhalten würde, wer dies explizit möchte. Doch der Bundesrat war dagegen und auch der Ständerat lehnte den Vorstoss ab. Zudem hätte auch diese Lösung Sendungen politischer Parteien ausdrücklich ausgenommen.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —     Miriam Meyer vom Aufstand der Letzten Generation wird nach Ballon-Aktion am Flughafen BER festgenommen, Berlin-Schönefeld, 25.02.22 The rebellion of the last generations is blocking ports and airports to force the drafting of a law against food waste and an agricultural turnaround so that food security is maintained despite the climate crisis. Berlin-Schoenefeld 02/25/22

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Ästhetisierung der Politik

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Januar 2023

Quasi-faschistische Meta-Politik als Anti-Politik?

File:Alex Jones DC Press Conference 2018.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :    Jonathan Eibisch

Im Folgenden Beitrag wird der von manchen Journalist*innen gelegentlich aufgeworfenen Frage nachgegangen, ob sich der rechte Mob anarchistischen Praktiken und Motiven bedient und es sich damit um eine Anti-Politik im anarchistischen Sinne handeln würde.

Am 09.01. stürmten tausende aufgebrachte Anhänger*innen von Jair Bolsonaro das Kongress-Gebäude in Brasilia. Sein Rivale Lula da Silva, der bereits 2003 bis 2011 Präsident war, hatte den Faschisten im zweiten Wahlgang mit äusserst knappem Vorsprung abgelöst. Bolsonaro – beziehungsweise seinem politischen Netzwerk – war es in den Jahren zuvor wie nur Trump gelungen, ein Bündnis aus Unternehmern, Militärs und Evangelikalen zu schmieden. Insbesondere Letztere waren entscheidend dafür, die Aufmerksamkeit armer Favela-Bewohner*innen vom sozialen Elend auf jenseitige Heilsversprechen zu lenken und damit Stimmen für die Reaktionären generieren. Auch der Wahlkampf verlief äusserst schmutzig, wobei die Polarisierung der Gesellschaft das grösste südamerikanische Land zu einem Pulverfass werden liess. So blockierten etwa unzählige LKW-Fahrer, die Bolsonaro unterstützen, den Verkehr – ein spürbarerer und kostspieligerer Protest als jede Latschdemo, auf der noch so viel Unmut herausgerufen wird…Abgesehen davon, dass die Einsetzung der neuen Regierung in Brasilien am 01.01. geschah, wiederholt der aufgebrachte Mob gewissermassen den Sturm auf das Kapitol in Washington DC, der zwei Jahre zuvor, am 06.01.2021 stattgefunden hatte. Wer sich erinnert: Irgendwie hatte es die Polizei nicht wirklich geschafft, die wütenden Rechtsradikalen davon abzubringen, in das Regierungsgebäude zu stürmen, dort Einrichtungsgegenstände zu zertrümmern und die heiligen Symbole des Staates zu schänden. Selbiges geschah in Brasilien, nur eben nicht unter blau-rot-weissen Farben, sondern mit grün-gelben.Wer erinnert sich noch an den seltsamen Q-Anon-Schamenen „Jake Angeli“? Was uns in besseren Zeiten ein lautes Lachen aus dem Hals locken sollte, verbreitet sich via Internet wie Gift in die Rest-Herzen und -Hirne verängstigter und verblödeter politischer Idiot*innen. Und das auch in der BRD. So haben auch wir unsere paranoiden und narzisstischen Propagandist*innen des Wahnsinnes, wie Attila Hildmann und den von ihm mitgetragenen „Sturm auf den Reichstag“ am 29.08.2020 gegen die vermeintliche „Corona-Diktatur“.

Manche Lesende werden sich daraufhin irritiert fragen: Was ist denn da los? Staats-Verachtung, Parlaments-Besudelung, direkte Aktionen – ja haben wir es hierbei etwa Anarchist*innen zu tun? Die Antwort lautet nein. Und gleichzeitig stimmt es, dass die neue Rechte ihre aufgehetzten Ultras zum eigenmächtigen Handeln anstachelt, welches damit nicht mehr als Markenzeichen des Anarchismus schlechthin gelten kann. Selbstbestimmung ist allerdings etwas anderes: Denn das scheinbar kopflose Handeln der Vigilant*innen unterliegt gleichwohl einer gewissen Steuerung der Affekte durch für sie mitverantwortliche Verschwörungsprediger wie Alex Jones oder die zahlreichen bekannten oder anonymen rechte Influencer und Hetzer.

Faschisten kopieren, wo sie können und instrumentalisieren, was immer sie unter die Finger kriegen, für ihre Zwecke. Und das nicht erst seit der Ära der von einigen Medien so bezeichneten „Anti-Politiker“ wie Trump und Bolsonaro, die sich selbst als underdogs im politischen Establishment inszenieren, während sie aggressive Protagonisten der besitzenden und herrschenden Klassen sind. Aufgrund der ökologischen Katastrophe, sozialen Verelendung, schwindenden Kapitalverwertung und Gleichheitsforderungen verschiedener Minderheitsgruppen, verliert das um seinen Status bangende Bürgertum im Rechtspopulismus seine Contenance, wie wir weltweit sehen.

So lässt sich also fragen, ob es bei diesen Entwicklungen tatsächlich um eine Anti-Politik von Rechtsaussen handelt, wie ab und zu verschiedene Journalist*innen es formulieren. Immerhin werden unliebsame, aber dennoch zuvor als legitim erachtete, politische Verfahren, Institutionen und Symbole mit Füssen getreten. Demokratischen Politiker*innen wird respektlos begegnet, wenn ihnen nicht direkt mit dem Galgen gedroht wird (eine insbesondere in Sachsen ausgeprägte, verrohte Sitte).

Die Distanzierung geschieht ebenso kognitiv wie emotional. Geglaubt wird an einen bunten Flickenteppich aus allen möglichen Verschwörungsmythen und Stammtischparolen, während wirre Germanen-Sekten und Reichsbürger-Stämme aus dem Boden spriessen, wo man gehofft hat, zumindest ein Quäntchen mehr Geschichtsbewusstsein zu finden. Da ist auch – wie etwa bei Alexander Dugin – die Rede von einer Neugründung der Gesellschaft. Nur eben, dass diese enorm homogen und rassistisch, anti-modern und militaristisch, homophob und queer-feindlich sein soll. Eine klare Ständegesellschaft mit autokratischem Staat für das 21. Jahrhundert erstrebt das Bündnis der Reaktionären.

Doch eine Annahme, hierbei bestünden irgendwie Parallelen zum Anarchismus, kann nur treffen, wer sich nicht mit diesem beschäftigt. Vor allem verbleiben solcherlei Annahmen in einem liberal-demokratischen Verständnis von Politik, welches sich aber als völlig unzulänglich erweist, um gesellschaftliche Entwicklungen in Umbruchszeiten adäquat zu erfassen. Abgesehen von der Adaption anarchistischer Praktiken und Narrative durch Rechtspopulist*innen seit dem sogenannten „Anarcho-Kapitalismus“ bis hin zum verkorksten „National-Anarchismus“, handelt es sich bei Quasi-Faschismus und Anarchismus um grundlegende Gegensätze.

Und in dieser Rolle bezieht sich der Anarchismus selbstredend nicht auf die bestehende parlamentarische Demokratie oder will die bürgerliche Gesellschaft oder den liberalen Kapitalismus verteidigen, sondern die soziale Revolution gegen den Faschismus ins Feld führen. Dies bedeutet eine Kritik an verstaatlichter Politik zu üben und zu praktizieren, während zugleich im Streben nach Autonomie andere Beziehungen und Institutionen aufgebaut werden. Dazu gilt es sich bisweilen notgedrungen auch auf das politische Terrain zu begeben – aber mit aller gebotenen Skepsis ihm gegenüber. Dies ist die anarchistische (Anti-)Politik. Aus rechtspopulistischer Sicht tritt sie für einen „Great Reset“ ein, der allerdings durch organisierte und entschiedene soziale Bewegungen umgesetzt wird, statt das er das geheime Werk vermeintlicher Welteliten wäre.

Mit der quasi-faschistischen Meta-Politik dagegen soll ja in keiner Weise Politik als vermachtetes Terrain mit extrem ungleich verteilten Machtressourcen problematisiert, geschweige denn abgeschafft werden. Den konformistischen Rebell*innen geht es vielmehr darum, nach unten zu treten, die eigenen Privilegien mit Gewalt zu verteidigen und Schwächere (ob Migrant*innen, arme oder queere Menschen, Klimaschützer*innen, Feministinnen oder kritische Intellektuelle) gänzlich aus der Politik auszuschliessen. Keine institutionell vermittelte, sondern direkte politische Herrschaft ist das Ziel. Mit dem Quasi-Faschismus soll also durch Politik umso mehr Staatlichkeit – als zentralisierendes, autoritäres und hierarchisches Prinzip – in alle gesellschaftlichen Bereiche durchgesetzt werden. Meta-Politik wird daher zwar vom aufgehetzten Fussvolk durchgeprügelt, nicht aber durch die Bewohnenden eines Landes im demokratischen Sinne. Dabei definiert sich das Fussvolk der herrschenden Ordnung – trotz strategisch platzierter Quoten-Schwarzen, -Frauen, -Schwulen – im Wesentlichen nach ethnischer Zugehörigkeit und hegemonialer Untertanenkultur.

Anhänger*innen quasi-faschistischer Meta-Politik zielen daher auf die Ästhetisierung der Politik und ihre Vertiefung in alle gesellschaftliche Bereiche ab. Sie wollen Staatlichkeit total machen, um in ihrer menschlichen Verkommenheit und Entfremdung zumindest einen geringen Anteil an der politischen Herrschaft zu erhalten. Mit anarchistischer Anti-Politik soll der Politik dagegen vor allem etwas entgegengesetzt werden, um diese auf ihr Terrain zu verweisen und in anderen Bereichen gesellschaftliche Transformation anzustrengen: In den Individuen, dem Soziale, der Ökonomie, Gemeinschaften, Kultur, Ethik oder Utopie werden Bezugspunkte gesucht, wie Gesellschaft sonst verändert und gestaltet werden kann. Durch quasi-faschistische Meta-Politik mutiert staatliche Politik dagegen zum grausamen Selbstzweck – und offenbart damit das ihr innewohnende Monster kratós, die nackte Staatsgewalt, welche Souveränität aus sich selbst heraus schöpft. Durchgreifen, durchregieren, durch-reglementieren soll sie, koste es, was es wolle.

Auch wenn Reflexe in diese Richtung verständlich sind, ist es leider keine Lösung, sich darüber erschrocken in kapitalistischen Konsummöglichkeiten, romantischen Subkulturen, intellektueller Schöngeistigkeit oder exzessiver Weltflucht zu verlieren. Vielmehr gilt es, sich aktiv zur Wehr zu setzen und Orientierung für die Möglichkeiten einer libertär-sozialistische Gesellschaftsform zu gewinnen. Aus diesem Grund ist der Anarchismus nicht apolitisch oder unpolitisch, sondern eben (anti-)politisch. Weil sie Positionen beziehen, sind Anarchist*innen in der Lage in Widersprüchen zu handeln.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —    Der Radiomoderator und Verschwörungstheoretiker Alex Jones an einer Pressekonferenz in Washington D. C., März 2018.

Author Jaredlholt       /   Source     :    O10 April 2018, 09:49:2510 April 2018, 09:49:25wn work        / Date     :

 

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Ein verpatzter Putsch

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Januar 2023

Die brasilianischen Unruhestifter gehören vor Gericht

Wenn aber die Demokratie kaum ein anderes Gesicht zeigt als die Militärdiktatur ?

Ein Debattenbeitrag von Gabi Fürst

Klar muss dabei sein, dass es nicht um Vergeltung geht, sondern um Maßnahmen einer Demokratie. Millionen Brasilianer haben ganz offensichtlich die schwierige Zeit der Militärdiktatur vergessen.

In einem politischen Umfeld, das bereits für die brasilianische Demokratie vermint ist, sind die Fragen im Moment vielfältig, aber eine davon sticht klar heraus: Werden all diese Leute, die in Brasília an den gewalttätigen Unruhen beteiligt gewesen sind, und diejenigen, die sie gesponsert haben, zur Verantwortung gezogen? Wird es eine gerichtliche Verfolgung geben? Von der Antwort hängt die Zukunft Brasiliens ab.

Millionen Brasilianer haben ganz offensichtlich die schwierige Zeit der Militärdiktatur vergessen und sehnen sich nach einer Rückkehr des Militärs an die Macht. Dieser Eindruck entsteht bei den Demonstrationen und den landesweiten Lagern vor Militärstützpunkten. Nicht zuletzt hatte Präsident Jair Bolsonaro einen erheblichen Anteil der Kabinettssitze an Offiziere vergeben, für die er unverhohlenen Respekt empfindet.

In einer beispiellosen Initiative sammelte eine Gruppe, die sich selbst den Namen „Gegen den Putsch“ gab, in den sozialen Medien binnen eines Tages über eine Million Klicks. Follower identifizierten anhand von Fotografien zahlreiche Täter, die an der Stürmung des Kongresses beteiligt waren. Auch brasilianische Zeitungen bemühten sich um eine gemeinsame Suche nach den gewalttätigen Unruhestiftern im Regierungsviertel.

Die Rädelsführer kommen offenbar aus einem rechtsextremistischen Milieu, sind weiße Menschen, die der Mittelklasse angehören. In Brasilien sind über die Hälfte der Bevölkerung Schwarze Menschen. Wenn von Armut die Rede ist, geht es nahezu ausschließlich um PoC. Gerade sie machen indes nur einen kleinen Teil der Verdächtigen aus, die die Polizei inzwischen identifizieren konnte. Viele trugen T-Shirts der brasilianischen Fußballmannschaft, Kleidung in den Farben der brasilianischen Flagge oder sie hüllten sich gleich in die Flagge ein. Sie nennen sich Patrioten und treten offen für einen Militärputsch ein, um die Regierung des neu vereidigten Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und seiner Arbeiterpartei (PT) zu stürzen. Zahlreiche Militärs auch in höheren Rängen solidarisierten sich bereits öffentlich mit dem Protest gegen Lula.

Der Politikwissenschaftler Rafael Cortez von dem Beratungsunternehmen Tendencias in São Paulo rechnet mit massivem öffentlichem Druck für eine gerichtliche Verfolgung der Unruhestifter. Die Räumung der Camps, die seit drei Monaten vor den Militärstützpunkten stehen, ist ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung, auch wenn es noch immer an verschiedenen Orten im Land zu gewaltsamen Demonstrationen kommt. Cortez erkennt jedoch eine Dezentralisierung der Proteste und generell eine Verringerung der organisierten Aktionen.

Mit der ohnehin tiefen sozialen Ungleichheit ist Brasilien mit einem weiteren ideologisch-politischen Problem konfrontiert. Die Diskussion zieht sich durch Institutionen bis hin auf die Straße. Sie bestimmt entscheidend den alltäglichen Diskurs, wobei die große Zahl von Waffen in den Händen von Zivilisten besonders problematisch ist. Die Zahl der Gewalttaten war während des Wahlkampfs im letzten Jahr erneut gestiegen.

Ungeachtet der zahlreichen Verhafteten und des großen Drucks weiter Teile der Bevölkerung, die Übeltäter vor Gericht zu bringen, kommt es landesweit immer wieder zu Protestaktionen von Anhängern Bolsonaros. Parallelen zu der Kapitol Erstürmung in Washington vor zwei Jahren liegen auf der Hand. Doch das offensichtliche Déjà-vu sollte nicht den Blick dafür trüben, dass es auch klare Unterschiede gibt. So fand der Sturm auf das Kapitol vor der Vereidigung von Joe Biden als US-Präsident statt, wohingegen die Amtsübergabe am Neujahrstag an Lula da Silva friedlich ablief und er bereits brasilianischer Präsident war, bevor die Aktion begann. Im Unterschied zu Trump verurteilte Bolsonaro die Gewalt, wobei er wie Trump die Wahl seines Nachfolgers nicht anerkennen wollte. Die Unruhen im brasilianischen Regierungsviertel fanden an einem Sonntag statt, als die Büros leer waren. Außer dass einige Journalisten leichte Verletzungen davontrugen, kam niemand zu Schaden. Dementgegen starben in Washington fünf Menschen, Hunderte wurden verletzt.

Unisono verurteilten zahlreiche Staaten den Angriff der Bolsonaro-Anhänger auf das Kongresse Baude, auf den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichtshof. Die ausdrückliche internationale Solidarität mit der demokratisch gewählten Regierung Lula da Silvas ist ein wichtiges Signal an die Antidemokraten in Brasilien.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben     —      Pascal ThibautVerifizierter Account

Grafikquelle: Verlinkung mit Twitter 

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Unten        —       Protesto Fora Bolsonaro em Campinas em 29.05.2021. O protesto partiu do Largo do Rosário, atravessando a Av. Francisco Glicélio, pela Av. Dr. Moraes Sales e pela Rua Irmã Serafina.

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Stiftung-Vergesellschaftung?

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Januar 2023

Die Zukunft der Stahlindustrie

Quelle       :        Scharf  —  Links

von Helmut Born

In SoZ 11/22 hat Hanno Raußendorff die Broschüre zur Zukunft der Stahlindustrie von Christian Leye, MdB, und Ulrike Eiffler, Mitglied des Sprecher:innenrates der Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft, vorgestellt. Darin plädieren beide für die Bildung einer Stahlstiftung, nach dem Vorbild der saarländischen Industriestiftung.

Diese Position geht zurück auf eine alte Debatte in der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen, im Gefolge der Krise, in der sich Thyssen-Krupp bis 2020 befand. Inzwischen hat es bedeutende Umstrukturierungen, bis hin zu Betriebsschließungen, und eine wirtschaftliche Belebung in der Stahlindustrie gegeben. Das hat dazu geführt, dass der Konzern nun wieder deutliche Gewinne ausweist. Was bleibt, ist der Umbau auf eine auf Wasserstoff basierende Produktion, damit auch die Stahlindustrie einen Beitrag zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes leistet.

Die Stahlindustrie gehört, neben der Chemie- und Energieindustrie, zu den Bereichen, die einen sehr hohen Beitrag zur Klimaerwärmung leisten. Die Umstrukturierung der Stahlindustrie findet mit staatlicher Unterstützung statt, sonst würde es diesen Umbau nicht geben. Zumindest ist das die Erzählung der Konzernspitze und auch der IG Metall. Die Frage, wie in Zukunft die Stahlindustrie in Deutschland aussehen soll, bleibt also auf der Tagesordnung, und damit auch die Frage der Eigentumsverhältnisse.

Utopie oder reale Möglichkeit?

In einem Debattenbeitrag zu dieser Diskussion haben mehrere Mitglieder der Antikapitalistischen Linken (AKL) in NRW eine andere Position vertreten, nämlich die nach Vergesellschaftung der Stahlindustrie. Sie knüpfen damit an eine alte Debatte in der IG Metall an, die schon in ihrem Stahlmanifest von 1985 die Vergesellschaftung forderte. Die Vergesellschaftung sollte u.a. dem Zweck dienen, die Arbeitsplätze zu erhalten, ist doch der Arbeitsplatzabbau in der Stahlindustrie besonders heftig – von 288000 im Jahr 1980 bis auf 80000 heute.
Aber in der IG Metall hat sich der Wind gedreht, in der letzten Stahlkrise, die eigentlich eher als Krise von Thyssen-Krupp bezeichnet werden müsste, hat die Gewerkschaft nur noch eine Beteiligung des Landes NRW gefordert.
Demgegenüber vertreten die Autoren des genannten Debattenbeitrags weiterhin die Forderung nach Vergesellschaftung der Stahlindustrie, da Stahl auch in Zukunft für viele gesellschaftlich wichtige Produkte wie Gleise, Züge, Busse, Fahrräder, den Wohnungsbau usw. gebraucht wird. Erforderlich sei eine Ausrichtung auf sozialökologische Unternehmensziele, die sowohl den Interessen der Belegschaften nach sicheren Arbeitsplätzen als auch den ökologischen Erfordernissen entspricht. Es wird weniger Ressourcenverbrauch, mehr Recycling und eine reduzierte, wasserstoffbasierte Produktion mit Beschränkung auf die gesellschaftlich wichtigen Bereiche gefordert. Sie soll nicht weiter den Profierwartungen der Konzerne unterworfen werden, sondern den gesellschaftlichen Erfordernissen entsprechen.

Welche Form der Vergesellschaftung?

In ihrem Beitrag umschreiben die Autoren ihre Vorstellung der Vergesellschaftung wie folgt:
»Vergesellschaftung bedeutet für uns keineswegs nur den einfachen Ersatz von privatem Kapital durch öffentliche Mittel bzw. Anteilseigner. Erreicht werden muss auch die Demokratisierung von Management und Entscheidungsstrukturen. In welcher Form dies erreicht wird, wird in den Betrieben demokratisch entschieden werden müssen. Praktisch kann das auf ein betriebliches Rätesystem hinauslaufen. Die Beschränkung der Produktion auf gesellschaftlich relevante Güter und die damit verbundene Abschaffung der kapitalistischen Überproduktion erfordern ebenfalls eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Kurzfristig würde das die Einführung der 4-Tage-Woche bedeuten. Die Sicherung der Arbeitsplätze und die parallel nötige Dekarbonisierung verlangen einen mittelfristigen Prozess, in dem die sozialen und die ökologischen Ziele statt Profitinteressen absolute Priorität haben.«

Hochofen 5 Landschaftspark Duisburg Nord Abend 2013.jpg

Im Gegensatz zu einer Stiftung bedeutet eine solche Vergesellschaftung unter der Kontrolle der Belegschaften einen Bruch mit den kapitalistischen Mechanismen. Eine Stiftung lässt es kaum zu, dass eine demokratische Kontrolle der Belegschaft gewährleistet ist. Hier entscheidet der Stiftungsvorstand, wohin die Investitionen fließen sollen. Das zeigt sich auch im Saarland, wo es maximal bessere Mitbestimmungsmöglichkeiten von Betriebsräten und Gewerkschaften gibt. Auch hier gibt es einen massiven Arbeitsplatzabbau und keine Senkung der wöchentlichen Arbeitszeit zum Erhalt der Arbeitsplätze.
Der entscheidende Unterschied ist: Die Vergesellschaftung von Betrieben unter der Kontrolle der Belegschaften stößt die Tür zu einer Wirtschaft auf, die nicht der Profitmaximierung, sondern der Befriedigung gesellschaftlicher Interessen dient.

Erstveröffentlich in SoZ 1/23

https://www.sozonline.de/2023/01/die-zukunft-der-stahlindustrie/

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Januar 2023

Intendanz des MDR : – Neues aus der Strippenkiste

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Für die MDR-Intendantin Karola Wille wird eine Nachfolge gesucht. Und schon werden gewisse personelle Zusammenhänge eklatant relevant. Neues vom Bauernschrank der Medienpolitik.

Wir sprachen ja neulich von Mittweida, der Metropole mit Wetter und einer medial geprägten Ingenieurshochschule. Irgendwie scheint die sächsische Kleinstadt ein echter Hotspot zu sein. Denn was wird aus ehemaligen medienpolitischen Strippenziehern, die zwischendurch noch mal ein paar Kröten als Vorstand der Deutschen Bundesbank verdienen durften? Sie werden Honorarprofessoren in Mittweida.

Womit wir bei Johannes Beermann wären. Der CDU-Schrank aus Emsdetten war von 2008 bis 2014 Chef der Sächsischen Staatskanzlei und damit der dunkle Fürst der Medienpolitik im Osten. 2014 wurde er zum Dank auf den Sachsen zustehenden Platz im Bundesbank-Vorstand entsorg…, nee: entsandt.

Doch zum Jahresende war auch damit Schluss. „Damit endet meine letzte öffentliche amtliche Funktion“, schreibt Beermann in einem artig formulierten Dankschreiben. Und dann kommt ein Satz, der wunderschön ist und viel verrät. Weil er nicht stimmt. „Ich bin sehr dankbar, dass ich meinem Land mehr als dreißig Jahre an verschiedenen Stellen dienen durfte“, schreibt Beermann. „Jetzt ist es aber auch genug.“

Dr. Johannes Beermann.jpg

Die Verschiebung der CDU Partei-Clan-Trolle. Irgendwo findet sich immer ein Plätzchen zum Taschen füllen. 

„Du hast n Auftrag, und zwar nicht stulle über Menschen zu schreiben“, ruft die Mitbewohnerin. Ja, denkste! Als Beermann noch grobmotorisch Medienpolitik machte, war immer Stimmung in der Bude und Sachsens Glanz im MDR Programm. Legendär, wie er anno 2011 den damaligen Chef der Leipziger Volkszeitung Bernd Hilder mal eben zum Intendanten machen wollte. Weil der Rundfunkrat aber plötzlich mal in seine Satzung geschaut hatte und da drin stand, dass er nicht aus Dresden ferngesteuert wird, fiel Hilder krachend durch.

Strippenzieherei ist spannend

Beermann hat aber auch ganz andere Seiten. Bei Branchendiskussionen mit ostdeutschen TV-Produzent*innen schlüpfte der damalige Staatskanzlist wie selbstverständlich in die Assistenzrolle und hüpfte mit dem Saalmikro durch die Reihen. In Mittweida wird er nun nicht-amtlich und nur als Honorar-Professor tätig, für „Public Affairs and Finance“.

Quelle      :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Wer Oben sitzt weiß alles

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Dezember 2022

Was können wir von pandemischen Abstandskultur für den Umgang mit der Öko-Katastrophe lernen?

Die Oben sitzenden wollen belehren da sie glauben alles zu wissen und zu können.  

Quelle        :     Berliner Gazette

Von          :    Kilian Jörg

Die Welt steht in Flammen, real und virtuell. Was läge näher als Weltflucht? Eskapismus – dieses tendenziell unpolitische, reaktionäre und verantwortungslose Verhalten – ist in Zeiten des Umbruchs immer wieder zu beobachten gewesen. Nichts Neues im Westen, also? Der Autor Kilian Jörg schlägt vor, sich nicht mit Diagnosen des Zeitgeists zu begnügen, sondern die Frage nach den politischen Lektionen zu stellen.

Die letzten Jahre haben einen Boom des politischen Aktivismus erlebt: Die Ungerechtigkeit der Welt wird wieder vermehrt in ihren rassistischen, sexistischen und ökologisch katastrophalen Problemzusammenhängen erfasst und mannigfaltig auf den Straßen, in den Wäldern und Zeitungen, auf den Messen und Social Media-Plattformen skandiert und bekämpft. Gleichzeitig macht sich ein großes Bedürfnis nach Rückzug und Desinvolvierung aus der rasenden, hypervernetzten Welt des Desasterkapitalismus bemerkbar, welches wohl seinen stärksten Ausdruck in der euphorischen Überaffirmation des sogenannten Social Distancing in der ersten pandemisch bedingten Lockdownphase 2020 erlebt hat: Landflucht, Rückzug, Nicht-Berührbar-Sein-Wollen und ein oftmals strenges Sich-Raushalten aus den als falsch erkannten Diskursen haben zum ersten Mal landläufig eine positive, gar progressive Konnotation erfahren.

Hierin besteht eine Grundspannung der aktivistischen Gegenwart: Die Welt ist eine vielfache, beinahe unüberschaubare Katastrophe und es gilt unbedingt etwas an ihr zu ändern. Gleichzeitig muss man seine Angriffsfläche mit Bedacht wählen und von ganz vielen Dingen wegschauen, um an einer Stelle überhaupt produktiv handeln zu können. Um etwas zu ändern, muss man von viel anderem wegsehen – denn das Zuviel lähmt zu leicht.

Sich-Raushalten?

Traditionellerweise wird Sich-Raushalten als reaktionärer Eskapismus und bürgerlicher Defaitismus verstanden. „Wie kannst Du im Angesicht der Lage nur untätig bleiben?“ Eine progressive Affirmation der Desinvolvierung fehlt in den meisten aktivistischen Kontexten, weswegen Burnout, Erschöpfung und Zersetzung so oft zum Problem werden. Es mag zur Zeit des Ausnahmezustandes während der Covid-19-Pandemie gar nicht richtig aufgefallen sein, bedarf meines Erachtens aber umso mehr einer gründlichen, theoretischen Nachbetrachtung: Zum ersten Mal war Sich-Raushalten und Zuhause-Bleiben die progressive Tugend der Stunde.

Wann wird eine kompromisslos und unabdingbar vorpreschende Haltung zum Problem? Wieviel Filterarbeit und Blasenbildung braucht ein effizienter Aktivismus? Und wann und wie kann Sich-Raushalten nicht als stillschweigendes Einlenken mit der furchtbaren Norm, sondern als notwendiges Fokussieren und Konzentrieren der Kräfte für den Kampf um Veränderung verstanden werden?

Grundannahme einer hier tentativ skizzierten Ethik einer „Neuen Vorsicht“ ist, dass es das Bedürfnis nach Desinvolvierung stets und in egal welchem politischen Lager gibt, es bislang aber noch kaum gelungen ist, dieses Bedürfnis auf einen progressiv-emanzipatorischen Begriff zu bringen.

Neue Vorsicht

Neue Vorsicht. – Lasst uns nicht mehr so viel an Strafen, Tadeln und Bessern denken! Eine*n Einzelne*n werden wir selten verändern; und wenn es uns gelingen sollte, so ist vielleicht unbesehens auch Etwas mitgelungen: wir sind durch sie* verändert worden! Sehen wir vielmehr zu, dass unser eigener Einfluss auf alles Kommende ihren* Einfluss aufwiegt und überwiegt! Ringen wir nicht im directen Kampfe! – und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben wir uns selber um so höher! Geben wir unserm Vorbilde immer leuchtendere Farben! Verdunkeln wir die Andere*n durch unser Licht! Nein! Wir wollen nicht um ihretwillen selber dunkler werden, gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber bei Seite! Sehen wir weg!“

In diesem Aphorismus Friedrich Nietzsches aus der Fröhlichen Wissenschaft (§ 321 – gegendert von mir)drückt sich eine Intuition einer progressiven Desinvolvierung aus, der ich in diesem Essay nachgehen möchte.

Einer Haltung der Vorsicht und des Wegsehens werden in klassisch linkem Politikverständnis leicht reaktionäre und eskapistische Tendenzen vorgehalten. Diese Art von negativ verstandener Vorsicht wird mit privilegierter Zurückgezogenheit, Borniertheit und der Unfähigkeit assoziiert, aus sich selbst herauszukommen. Dem entgegen stellt man den Wagemut des Aktivisten, der aus der eigenen Komfortblase und der eigenen sicheren Umgebung ohne Rücksicht auf Verluste heraus prescht, um die Ungerechtigkeit der Welt zu bekämpfen. Der Aktivist in diesem Beispiel ist nicht mit Genderstern angeführt, um auf den meines Erachtens maskulinistischen Heldenpathos in dieser Konfrontationslogik hinzuweisen – wobei ich selbstverständlich damit nicht ausschließen will, dass auch weiblich gelesene Personen diese Art von Maskulinums performen können (oder teilweise sogar sollen).

Doch auch jenseits einer solchen feministischen Kritik an einer konfrontativen Aktivismus Logik ist noch etwas dran an der Gefahr, aufgrund einer Haltung der Vorsicht und des Vorzugs der Desinvolvierung in eine Art bürgerlichen Eskapismus abzurutschen, der sich den Problemen der Welt nicht (mehr) stellen möchte und also in eine privilegierte Komfortblase flüchtet. Die Wahrnehmung wird dann selektiv und baut auf einem Ausblenden der Strukturen auf, die den eigenen Komfort auf der Ausbeutung von anderen basieren lässt.

Alte und Neue Vorsicht

Zum Zweck der analytischen Abgrenzung möchte ich diese Art Vorsicht tentativ als „Alte Vorsicht“ bezeichnen und von der „Neuen Vorsicht“ abgrenzen, wobei die Adjektive „neu“ und „alt“ nicht so sehr als eine zeitliche Abfolgenordnung verstanden werden sollen, sondern eher als eine Unterscheidung der Einstellung gegenüber Neuem bzw. Altem. Ich glaube nicht, dass es die hier so bezeichnete „Alte Vorsicht“ zeitlich eher gab als die Neue. Vielmehr denke ich, dass beide Varianten in fast allen Haltungen der Vorsicht angelegt und stets latent vorhanden sind – es handelt sich immer um einen Balanceakt zwischen ihnen, was ein Nachdenken über sie so leicht ambivalent und explosiv macht.

Keine der beiden Vorsichten existiert jemals in Reinform – die Distinktion ist also bloß eine analytische. Die „Alte Vorsicht“ wird demnach als solche bezeichnet, weil sie das Alte und Bestehende akzeptiert und eskapistisch bejaht, während eine dem entgegengestellte „Neue Vorsicht“ versucht, den Rückzug und die Desinvolvierung dahingehend zu nützen, um einen feineren Geschmack für die latenten Potenziale zur Erneuerung zu entwickeln.

Diese Potenziale finden sich nämlich, wie diverse Theoretiker*innen des Minoritäten in der Folge von Gilles Deleuze und Felix Guattari argumentieren, zumeist außerhalb des Bereich des in der majoritären Ordnung Sichtbaren, weswegen eine Haltung der Vorsicht gegenüber dem Zuviel an sichtbaren (Ungerechtigkeiten) notwendig wird. Man kann den ganzen Tag und die ganze Nacht damit verbringen, sich über jeden problematischen Twitter-Post aufzuregen, der einer* angezeigt wird – doch ändern wird dies nichts an der problematischen Ordnung der Welt.

Vorsicht in einer anderen Natur

Die „Alte Vorsicht“ kann im klassischen Philosophiekanon mit diversen Positionen assoziiert werden, unter anderem jener der antiken Traditionen der Stoa oder der Kyniker, in modernen Texten besonders mit jenen von Kierkegaard und Schopenhauer. Schnell zusammengefasst, um nicht zu sehr in diese Denkgeschichte weißer Männer abzudriften, lässt sich die Tendenz der „Alten Vorsicht“ mit einer Ausrichtung des Lebens im Einklang mit den vorgefundenen Umständen (oftmals: „der Natur“) identifizieren. Ziel ist die Entwicklung einer Art Gelassenheit gegenüber diesen vorgefundenen Umständen, die man nicht ändern kann. Man zuckt die Achseln gegenüber der Schlechtigkeit der Welt und zieht sich in die Komfortblase einer stoischen Ruhe zurück. Das Problem an der Haltung der „Alten Vorsicht“ wäre aus aktivistischer Perspektive demnach, dass man sich durch eine als statisch und unveränderlich definierte „Natur“ der Dinge die Umstände der eigenen Lebensweise diktieren lässt und man also reaktionär in dem Maße wird, wie man sich an die vorgegebenen und sichtbaren Seins-Umstände anpasst.

Wohingegen dieser Traditionslinie einer Alten Vorsicht im Kanon viel Raum zugestanden wird, ist einer anderen Vorsicht, die innerhalb dieser „Natur“ Potenziale zur Veränderung und Erneuerung sucht, wenig Theoriebildung gewidmet. Deswegen konnte sie Nietzsche wohl auch als „Neue Vorsicht“ bezeichnen.

Diese „Neue Vorsicht“ zeichnet sich meines Erachtens durch einen radikal veränderten – und nicht mehr modernen – Begriff von „Natur“ aus. Zu lange wurde im abendländischen Kanon „Natur“ als etwas dem Menschen Äußeres verstanden – etwas, dem man entweder seinen* Willen aufzwingen muss oder dem man sich defätistisch fügen muss. Doch spätestens in einem Zeitalter der Katastrophen, wie Isabelle Stengers das vom „Einbrechen des Ökologischen“ gekennzeichnete Anthropozän nennt, ist dieser moderne Begriff der „Natur“ an seine semantischen Grenzen gestoßen. Die scharfe Trennung zwischen menschlicher Kultur und äußerer Natur ist in der Zeit des Ozonloch oder des Klimawandel hinfällig geworden: Unsere Kulturen haben massiven Einfluss auf das, was wir „Natur“ nannten und die jeweilig spezifische “Natur“ hat einen wesentlichen Einfluss auf die Bildung von „Kultur“. Wir Menschen können uns nicht mehr als der Natur Äußeres begreifen. „Wir verteidigen nicht die Natur, wir sind die Natur, die sich verteidigt“ –in diesem aktivistischen Slogan, der ursprünglich aus den französischen „ZADs“ stammt, drückt sich dieses neue politische Verhältnis am bisher klarsten aus.

In dieser neuen politischen Gemengelage nimmt auch die Vorsicht einen neuen und für die Neuerung oder Veränderung wesentlichen Platz ein. Entgegen einer „Alten Vorsicht“ kultiviert eine „Neue Vorsicht“ das Wegsehen und In-die-Blase-Gehen dann nicht als Selbstzweck einer ethischen Beruhigung und Befriedigung, sondern um die Veränderungs- wie Gefahrenpotentiale der sogenannten Natur, von der man sich nicht mehr abgrenzen kann, besser schmecken zu können. Diese Art von „Neuer Vorsicht“ blendet bewusst und gekonnt die allerorts sichtbaren Seins-Zustände aus, um sich für das Werden der Welt mitgestaltend zu sensibilisieren.

Das Virus zersetzt die Natur-Kultur-Dichotomie

Meine These ist, dass im Zuge der Pandemie-bedingten Lockdowns der letzten Jahre ein Vorzeichenwechsel entstanden ist, der die Entwicklung einer solchen Ethik der Neuen Vorsicht gleichzeitig notwendig und möglich macht. Das Virus verdeutlicht am vielleicht klarsten, dass die Natur auch in unserem Inneren ist. Die Kultur-Natur-Dichotomie hält dem mikrobiellen Bereich keine Sekunde stand und in Zeiten einer Pandemie merken wir plötzlich alle, dass alle unsere kulturellen Institutionen stets unter dem Einfluss der sogenannten „Natur“ stehen: gänzlich neue soziale Gepflogenheiten und Selbstverständlichkeiten mussten sich aufgrund der Pandemie entwickeln.

Der Begriff des „Social Distancing“ konnte sich während der Pandemie trotz seiner seltsamen antisozialen Konnotationen deshalb so breit durchsetzen, weil er ein bislang auf linker Seite eher moralisch verfemtes Bedürfnis nach Abstandskultur auf einen majoritären Begriff gebracht hat, der plötzlich progressiv und emanzipatorisch konnotiert war. Zum ersten Mal konnte man sich distanzieren und raushalten, ohne vom nagenden schlechten Gewissen heimgesucht zu werden. Plötzlich stand man auf der moralisch guten Seite, wenn man sich raushielt.

Niemand hat Politiker-innen gerufen – die Schwachköpfe fühlen sich berufen.

Weil die Natur im landläufigen Verständnis intuitiv als etwas Äußeres verstanden wurde, puschte man sich, wie der Stroh männische Aktivist am Anfang dieses Kapitels, zu oft in die permanente Aktion gegen das Schlechte in der Welt und konnte dem Bedürfnis nach Rückzug kaum Positives abgewinnen. Auch noch während der Pandemie verzweifelten linke Denker*innen älterer Schule, wie Giorgio Agamben, über diesen Verlust der für sie als politisch unumgänglich betrachteten Nähe-Involvierung, während jüngere, Queer-Denker*innen, wie Eva von Redecker, darin die Utopie eines „solidarischen Distanzgebens“ sahen.

Wenn die Natur hingegen stets in mannigfaltiger Weise auch in uns vorhanden ist, bedarf es einer vorsichtigen Filterarbeit, den richtigen Impulsen und Potentialen zu folgen. Vieles nicht sehen, um das produktive Chaos der Welt zu spüren und mit ihm plural, vielfältig, kreativ und gleichzeitig vorsichtig spielen zu können.

Freilich liegt auch in dieser neuen Haltung die Gefahr einer moralisierenden Normierung, wie wir in der Corona-Krise und ihrem sozialen Ergebnis einer extremen Polarisierung in zwei verfeindete (und gleichermaßen auf komplexitätsfeindliche Slogans verkürzte) Lager bereits bezeugen mussten. Doch gerade in der Kultivierung (anstatt eben der Moralisierung) einer Neuen Vorsicht und Abstandskultur auch noch lange nach der Covid-19-Pandemie liegt ein wesentliches politisches Potenzial, dem rasenden Stillstand unserer spätkapitalistischen Welt zu entkommen und im Zeitalter der Katastrophen der Komplexität der Lage gerecht zu werden.

Das Streben nach Wegsehen und (sicherer) Blase ist kein bloß reaktionäres und rechtes. Besonders in Zeiten von extremen Umweltkatastrophen und globaler Vernetzung, in der uns die Schreckensnachrichten der Gegenwart in eine Art schockierte Dauerlähmung bringen können, entpuppt sich eine Neue Vorsicht als wichtige Übung zur Bewahrung eines kühlen Kopfes und guten Geschmacks, um nicht bloß den majoritären Affektstimuli und ihren vorgegebenen Handlungsschemata hilflos ausgeliefert zu sein. Neue Vorsicht wird dann zu einer zentralen Voraussetzung für das Beibehalten von nachhaltiger Solidarität und Handlungsfähigkeit.

Anm. d. Red.: Mehr zu dieser hier skizzierten Neuen Vorsicht findet sich im jüngst erschienen Buch des Autors „Neue Vorsicht – Philosophie des Abstands im Zeitalter der Katastrophen.“

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Dieses Werk ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Keine Bearbeitung 3.0 Unported Lizenzvertrag lizenziert. Um die Lizenz anzusehen, gehen Sie bitte auf creativecommons.org oder schicken Sie einen Brief an Creative Commons, 171 Second Street, Suite 300, San Francisco, California 94105, USA.

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Reportage aus Rhein-Main

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Dezember 2022

Ganz unten im System

Von Sascha Lübbe

Länder, in denen migrantische Arbeiter auf Baustellen prekär beschäftigt werden, müssen boykottiert werden? Am besten fängt man mit Deutschland an.

Die Männer, die das System am Laufen halten, leben am Rande der Stadt. Abgeschieden, in einem Areal zwischen Bahngleisen und Autobahn, in einem vierstöckigen Betonbau hinter einem Zaun. Wäscheständer hängen vor den Balkonen. Klappstühle stehen vor den Eingängen. Darauf: Männer in Jogginghosen und Flipflops, die meisten um die 30 Jahre alt.

Mehrere Hundert Arbeiter leben in der Unterkunft im Rhein-Main-Gebiet, genauer soll man es nicht schreiben, sagen sie. Aus Angst vor dem Vermieter. „Șerpărie“, nennen sie das Wohnheim, rumänisch für „Slum“. Ein trauriger Ort. Dabei würde das System ohne Männer wie diese kollabieren. Ohne sie ginge nichts auf dem deutschen Bau.

Ein Samstagnachmittag im Oktober. In einem der Zimmer sitzen drei Männer auf ihren Betten. Die Köpfe rasiert, die Schultern breit. Drei kräftige Gestalten in einem viel zu engen Raum. Es riecht nach Essen und Seife. Ein großer Topf Nudeln dampft auf dem Tisch. Einer der Männer hat einen vollen Wäscheständer quer über sein Bett gestellt, sich selbst danebengequetscht. Auf dem Kühlschrank flimmert ein Fernseher, rumänischer Sender, der Ton ist ausgestellt.

„Feierabend“, sagt einer der Männer, fingert eine Bierdose aus einer Plastiktüte und stellt sie auf den Tisch. Er trägt ein blaues T-Shirt und beige Shorts, seine Füße stecken in Badeschlappen. Er bietet einem, wie alle hier, sofort das Du an. Fabiu soll er heißen. Seinen wirklichen Namen will er nicht nennen, aus Angst vor seinem Chef.

Fabiu ist ein sperriger Typ mit kratziger Stimme und herausforderndem Blick. Er arbeitet als Maurer, lebt seit fast zehn Jahren in Deutschland. „Sklaverei“ ist das erste Wort, das ihm einfällt, spricht man ihn auf seine Arbeit hier an. „Scheiße“ das zweite.

„Du wirst nicht so gut bezahlt wie die Deutschen“, sagt er. „Du hast nicht die gleichen Rechte.“

Fabiu wird betrogen, und das gleich mehrfach. Lohnabrechnungen und Stundenzettel, die er vorlegt, belegen das. Dass er nur einen Teil des Lohnes auf sein Konto überwiesen, den Rest bar bekommt, damit kann er noch leben. Er ist 47, denkt nicht an die Rente, hat kein Problem mit Schwarzarbeit. 2.500 Euro bekommt er hier pro Monat im Schnitt, gut 1.500 mehr als in Rumänien.

Was ihn wirklich wurmt: Dass sein Chef ihm und seinen Kollegen kein Urlaubsgeld zahlt. Dass ihm einige seiner alten Chefs keine Arbeitsverträge gegeben und ihn nicht bei der Krankenkasse angemeldet haben – und er jetzt, weil man gesetzlich zur Versicherung verpflichtet ist, 4.000 Euro Schulden bei der Kasse hat. Dass er die jungen Arbeiter auf den Baustellen einweisen muss, Typen um die 18, frisch aus Rumänien, keine Ahnung von nichts. Alles muss er ihnen erklären, sagt Fabiu, und bekommt dafür gerade mal 2 Euro pro Stunde mehr als sie.

Fabiu, 47, Maurer aus Rumänien:  „Du hast nicht die gleichen Rechte. Jeder nutzt dich aus, wie er kann“

Und dann die Stimmung auf dem Bau. Es gab diesen Tag, letztes Jahr im Herbst, da sei seine Geduld am Ende gewesen, sagt Fabiu. Die schwere Arbeit, der ewige Druck, das ewige Hetzen. Er ging einfach heim. Sein Chef behauptete daraufhin, er habe ein Baugerät beschädigt, und weigerte sich, den ausstehenden Lohn zu zahlen. 1.700 Euro. Fabiu wartet darauf, immer noch.

„Auf dem Bau“, sagt er, „jeder nutzt dich aus, wie er kann.“

Deutsche Po­li­ti­ke­r:in­nen verweisen gern auf die prekären Bedingungen, unter denen migrantische Arbeiter auf Baustellen im Ausland beschäftigt sind. Vor allem jetzt, zur Fußball-WM in Katar. Dabei gibt es auch hierzulande gravierende Missstände auf dem Bau. Die Situation ist sicher nicht mit der in Katar vergleichbar, wo die migrantischen Arbeiter vollkommen rechtlos sind, wo ihnen Pässe entzogen werden und wo mehrere Tausend von ihnen gestorben sind. Aber auch auf deutschen Baustellen werden Menschen ausgebeutet. Und das seit Jahren.

Das Baugewerbe in Deutschland galt dabei lange als boomende Branche. Die Nachfrage war groß, die Auftragsbücher der Unternehmen waren voll. Inzwischen ist das Gewerbe aufgrund des Ukrainekriegs und der gestiegenen Materialkosten ins Straucheln geraten. Die Bundesregierung hält an ihrem Ziel, 400.000 Wohnungen pro Jahr zu bauen, aber weiterhin fest. Nur: Wer soll die eigentlich bauen?

191.000 offene Stellen verzeichnete die Baubranche im ersten Quartal dieses Jahres. Dabei hatte der Arbeitskräftemangel den Bau schon vor Jahren erreicht. Und wie in der Pflege und der Landwirtschaft setzte man auch hier früh auf Arbeitskräfte aus dem Ausland.

Zuerst kamen die Polen. Sie haben sich inzwischen „hochgearbeitet“, man findet sie kaum noch im besonders anstrengenden Rohbau, viele arbeiten heute im Innenausbau, installieren Elektrik oder Sanitäranlagen. Dann kamen die Rumänen, heute eine der größten Gruppen auf dem Bau, aber auch Bulgaren, Kroaten und Serben. Inzwischen hat sich der Kreis weiter nach Osten ausgedehnt, außerhalb der EU. Es kommen Arbeiter aus der Türkei, Moldawien, Aserbaidschan und Georgien.

Fast 200.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Ausländer arbeiten heute im deutschen Bauhauptgewerbe. In einigen Berufszweigen, etwa im Hoch-, Aus- und Trockenbau, machen sie gut die Hälfte der Beschäftigten aus. Hinzu kommen diejenigen, die keine Arbeitsverträge haben, die nicht offiziell registriert sind.

Fabiu ist kein Einzelfall. Im deutschen Baugewerbe ist ein krakenartiges Geflecht aus teils kriminellen Firmen entstanden; eine Schattenwelt, in der die Grenze zwischen Legalität und Illegalität verschwimmt. Die taz hat für diesen Artikel mit Gewerkschaftsvertretern, Sozialarbeitern, Arbeitgebern und mehreren osteuropäischen Arbeitern gesprochen. Sie geben Einblicke in ein System, das über Abhängigkeit und Angst funktioniert; ein System, bei dem die Leidtragenden ganz unten stehen.

Was macht das mit diesen Menschen, die ihre Familien zurücklassen, um hier in Deutschland Geld zu verdienen? Die hier moderne Wohnungen bauen, in denen sie nie leben, funkelnde Shopping Malls, die sie nie betreten werden? Die stattdessen zu dritt in Zimmern mit zwanzig Quadratmetern hausen, sich mit neun anderen Männern eine Toilette und eine Küche teilen?

Fabiu lebt seit sechs Jahren in diesem Heim, in diesem Zimmer im Rhein-Main-Gebiet. Bis hierher war es ein weiter Weg, mit vielen Brüchen.

Er beginnt in einem Dorf im Nordosten Rumäniens, eine der ärmsten Regionen des Landes. Die Wende 1989 bedeutete für Fabius Familie eine radikale Zäsur. Der Vater, Verwalter bei einer sozialistischen Genossenschaft, schlug sich fortan als Klempner durch. Die Mutter, Vizebürgermeisterin im Dorf, als Bibliothekarin. Es war ein Abstieg; für sie und die Menschen um sie herum. Das Land taumelte, allein in der Industrie brach die Hälfte der Arbeitsplätze weg.

Anfang der Neunziger setzte dann die erste Migrationswelle ein. Die Menschen gingen nach Israel, in die Türkei, andere bauten Ölförderanlagen im Irak. Später zog es die meisten nach Westeuropa. Wenn er heute zu Besuch in der Heimat ist, sagt Fabiu, sehe er dort keine bekannten Gesichter mehr.

Fabiu selbst hielt länger durch. Er hatte eine Ausbildung als Maurer gemacht, fand immer noch Jobs auf Baustellen. 2013 aber, die Folgen der Finanzkrise hatten Rumänien schwer gezeichnet, sah auch er keine Zukunft mehr im Land. 100 Euro zahlte er einem rumänischen Vermittler, der brachte ihn nach Deutschland. Seitdem hat er Wohnkomplexe in Frankfurt, Berlin und Stuttgart gebaut.

Inzwischen arbeitet er auf einer Großbaustelle. Fundamente betonieren, Wände hochziehen. Schwere körperliche Arbeit. Zehn Stunden pro Tag, samstags nochmal mindestens fünf. Ein Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz, mehr als acht Stunden pro Tag müssten in der Regel innerhalb von sechs Monaten ausgeglichen werden. Fabiu kennt das Gesetz nicht. Alle Kollegen würden so viel arbeiten, sagt er. „Normal.“

Fabius Alltag hier besteht aus Arbeit, dann kommt lange nichts. Weil der Bau kaum Zeit und Energie für anderes lässt. Nach Feierabend nochmal kurz zu Penny, dann Brötchen für den nächsten Tag schmieren, duschen, halb zehn ins Bett.

Über die Deutschen sagt er: „Ich komme mit denen in Berührung. Aber ich trinke kein Bier mit ihnen.“

Man bleibt unter sich. Es ist einer der Gründe, warum Fabiu in diesem Heim, in diesem Zimmer lebt. 330 Euro zahle er dafür, sagt er, 600 wären es für eine Einraumwohnung in der Stadt. Viel Geld. Und er wäre dann auf sich gestellt, abgeschnitten von seiner Community.

Hier aber teilt er sich das Zimmer mit zwei Männern, die kommen aus demselben Ort wie er, arbeiten für dieselbe Firma. Und wenn man doch mal Ärger mit dem Chef hat, sagt Fabiu, muss man nur in die „Kneipe“ gehen, sich umhören. „Zwei, drei Tage und man hat einen neuen Job.“

Die „Kneipe“, das ist der Mittelpunkt des Lagers, ein kleiner Laden am Kopf des Areals. Wodka- und Kornflaschen stehen hinter der Kasse im Regal. Es gibt Wein und Bier, Käse, Wurst und Konservendosen. Vor dem Laden steht ein langer Tisch mit einer Bank, der Kneipenbereich.

Inzwischen ist es Sonntag, später Nachmittag. Aus einer Boom Box schallt rumänischer Pop. Die Box gehört einem betrunkenen Mann Mitte 40, er sitzt auf der Bank vor dem Laden, steht immer wieder auf, um mitzusingen.

Fabiu sitzt mit zwei anderen Arbeitern ein paar Meter weiter, an einem anderen Tisch, vor ihnen leere Bierflaschen. Fabiu nippt an einer Flasche Korn. Er trägt dasselbe Shirt wie gestern, sein Gesicht ist gerötet, die Stimme schwer.

Immer wieder kommen Männer vorbei, grüßen kurz, man gibt sich die Hand. Einige haben Angelruten dabei, andere kommen vom Pilze sammeln im Park. Der Umgang ist freundlich, fast herzlich. Der unbeschwerte Eindruck täuscht leicht darüber hinweg: Es ist eine Parade tragischer Biografien.

Da ist der 34-Jährige mit dem kantigen Gesicht. Aufgewachsen in einem rumänischen Waisenhaus. Hier in Deutschland hat jemand seinen Ausweis geklaut, eröffnete eine Baufirma damit, schloss 20 Handyverträge ab. Jetzt hat der Mann 10.000 Euro Schulden.

Da ist der 62-Jährige mit dem Rollator. Mit 22 verließ er Rumänien, arbeitete in der Sowjetunion, in Israel und Ägypten. Seit 15 Jahren ist er in Deutschland, arbeitete für etwa 20 Firmen. Meistens zehn Stunden pro Tag, offiziell war er immer nur vier angestellt. Jetzt ist er krank, keiner will ihn mehr. Er bekommt Arbeitslosengeld II. Demnächst wird er in Frührente gehen.

Da ist der 32-jährige Eisenflechter. Drei Bandscheibenvorfälle hatte er. Drei Mal sagte sein Chef, er solle beim Arzt nicht sagen, dass es ein Arbeitsunfall war. Drei Mal bekam er kein Krankengeld, niemand kümmerte sich. „Ich verstehe, dass wir Söldner sind“, sagt der Mann. „Aber im Krieg lässt man doch auch keine Verletzten zurück.“

Eisenflechter mit Bandscheibenvorfall, 32:   „Ich verstehe, dass wir Söldner sind. Aber im Krieg lässt man keine Verletzten zurück“

Fragt man diese Männer, warum sie sich das antun, fremd in diesem Land, unter Deutschen und doch isoliert, mit schlechterer Arbeit und viel mieser bezahlt, ist die Antwort immer dieselbe: Die Kinder sollen es einmal besser haben als sie. Sie sollen studieren, sich ein Leben aufbauen in der Heimat.

Auch Fabiu hat Familie. Einen Sohn, eine Tochter, 16 und 15 Jahre alt. Sie sind zu Hause bei der Mutter, die als Verkäuferin in einem Kiosk arbeitet. 300 Euro verdiene sie dabei, sagt er; wenig, selbst für rumänische Verhältnisse. Sie telefonieren täglich. Zwei Mal im Jahr besucht er sie, meist für vier Wochen. Und er schickt Geld, 1.500 Euro pro Monat. Damit bezahlen sie unter anderem das Internat der Kinder.

Wie seine Frau das findet, sie mit den Kindern in Rumänien und er hier? Sie sei froh, wenn er zwischendurch zu Hause ist, sagt Fabiu. Und traurig, wenn er wieder geht. Aber sie könne es verstehen. „Gute Frau“, sagt er. „Herz am selben Fleck wie ich.“

Plötzlich wird es laut vor der Kneipe, eine Flasche zerbricht. Der Betrunkene mit der Boombox ist schwankend aufgestanden, vor ihm steht ein Mann in schwarzem T-Shirt, größer und kräftiger als er. Der Mann schreit den Betrunkenen an, dann schlägt er zu, der Betrunkene geht zu Boden. Der Mann in schwarz dreht sich um, kommt auf Fabius Tisch zugelaufen, er greift zwei Bierflaschen, schlägt sie routiniert gegeneinander, als habe er das schon unzählige Male getan, um mit den abgebrochenen Flaschenhälsen wieder auf den Betrunkenen loszugehen. Ein paar Männer gehen dazwischen. Es gelingt ihnen, ihn abzudrängen.

Szenen wie diese seien hier die Ausnahme, erklären Fabiu und die anderen ruhig. In der Regel seien die Menschen von der Arbeit zu erschöpft, um aufeinander loszugehen. Diese Woche aber habe es geregnet, die Männer mussten zeitweilig zu Hause bleiben.

Es ist eine raue Welt; eine, in der man sich behaupten muss, um nicht unterzugehen. Sei es im Wohnheim oder auch bei der Arbeit, im Umgang mit den Chefs. 300 Euro Energiekostenpauschale stehen Fabiu als Arbeiter zu, 250 hat er von seinem Chef bekommen. Immerhin. Aber auch nur, weil er gefragt hat. „Du musst ein bisschen Deutsch verstehen, bisschen aggressiv sprechen“, sagt Fabiu, „sonst kriegst du von denen gar nichts.“

In einem türkischen Café, keine zehn Minuten von Fabius Arbeiterheim entfernt, sitzt so ein Mann, der manchmal gar nichts kriegt. Einer, dem Fabius Durchsetzungskraft fehlt. Über den sie hier sagen: „Alle werden betrogen. Aber wenn du wie er bist, betrügt man dich noch mehr.“

Adrian. 49 Jahre alt, vom Leben gebeugte Schultern, runder Kopf, die Augen wässrig-grün. Auch er kommt aus Rumänien. Auch er heißt eigentlich anders.

Auch Adrian lebte lange in dem Heim. Im Frühjahr flog er raus. Die Nachbarn hätten zu laut Musik gehört, sagt er, und hätten es ihm in die Schuhe geschoben. Adrian sei im Vollsuff ins falsche Zimmer gelaufen, sagen ehemalige Kollegen, der Hausmeister wollte ihn raushaben.

Und Adrian wollte keinen Ärger. Er schlief zunächst in dem kleinen Gärtchen am Bahnhof, inzwischen übernachtet er in einer Notunterkunft. Er hatte vorher schon ein Alkoholproblem, auf der Straße fing er an, exzessiv zu trinken. Wenn Adrian von seinem Leben erzählt, verheddert er sich oft in den Jahren. In seiner Erzählung tauchen auf: das Ingenieursstudium in seiner Heimatstadt Suceava, seine Zeit als Taxifahrer. Die Zeit im Westen: Küchenhilfe in Italien, Erntehelfer in Niedersachsen, dann tingelte er mit einem Zirkus durch Deutschland, ein Foto auf seinem Handy zeigt ihn lächelnd vor zwei Kamelen. Über einen rumänischen Bekannten landete er schließlich auf dem Bau.

Wie um sich selbst zu vergewissern, zieht er einen Ordner mit Plastikfolien aus seinem Rucksack, sein Anker, der Beweis, das es wirklich ein Leben gab vor seinem jetzigen. Eine Kopie seines Abschlusszeugnisses ist darin, und die Geburtsurkunde seiner Tochter.

Fragt man Adrian nach einem Bild von ihr, muss er mit seinem Handy auf ihre Facebook-Seite gehen. Eine Frau um die 18, sie sieht ein bisschen aus wie Scarlett Johansson. Ein eigenes Bild hat er nicht. Ein zweites Foto auf ihrem Profil zeigt sie vor einem Haus. „Mein Haus“, sagt Adrian. Jetzt wohnen die Tochter, seine Ex-Frau und ihr neuer Mann darin. Der Mann hat inzwischen ein Kind mit der Frau. Und will nicht, dass Adrian Kontakt zu seiner Tochter hat. Adrian wiederum will keinen Ärger und akzeptiert es.

Adrians Geschichte ist die Geschichte eines Mannes, der für seine Familie ins Ausland ging. Und sie dabei verlor. Der studiert hatte und ohne handwerkliche Ausbildung in das Baumetier hineingerutscht ist. Ein Mann im falschen Leben.

Sein letzter Chef schuldet ihm noch Geld. Einen Stundenlohn von 12 Euro hatten sie mündlich abgemacht, sagt Adrian. Teilt man das Geld, das er bekommen hat, durch die Anzahl der geleisteten Stunden, kommt man auf einen Stundenlohn von 6,40 Euro. Lohnabrechnungen des ehemaligen Arbeitgebers und ausgefüllte Stundenzettel belegen das.

Warum er nichts gesagt hat? Er habe gehofft, dass das restliche Geld noch kommt, sagt Adrian. Und hatte Angst, dass er gar nichts kriegt, wenn er den Mund aufmacht: „Ich will keinen Ärger“, sagt Adrian. „Ich bin ja fremd in diesem Land.“

Der deutsche Bau ist kein rechtsfreier Raum. Es gibt den gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro, er gilt, seitdem der Branchenmindestlohn Ende letzten Jahres auslief. Und es gibt das Arbeitszeitgesetz, es regelt, wie lange jemand arbeiten darf.

Und doch arbeiten hier Männer wie Fabiu und Adrian, die ständig Überstunden machen. Die schwarz beziehungsweise nur teilweise ausbezahlt werden. Mitunter auch Männer, deren Wohnsituation vom Wohlwollen ihrer Chefs abhängt. Die beschaffen oftmals nämlich auch Zimmer für ihre Arbeiter, weil diese sich nicht auf dem Wohnungsmarkt auskennen. Wer sich dann beschwert, riskiert, nicht nur den Job, sondern auch das Dach über dem Kopf zu verlieren. Viele bleiben da lieber still.

Man kann sich das System Bau dabei wie eine Pyramide vorstellen. Ganz unten stehen die Arbeiter. Darüber kommen die sogenannten Subunternehmen. Baufirmen, meist mit Sitz in Deutschland, die häufig von Menschen mit türkischem oder serbischem Migrationshintergrund geführt werden. Sie sind es, die die Löhne schwarz oder auch gar nicht zahlen. Sie sind es, die unbequemen Arbeitern mitunter drohen, sie aus den Wohnungen zu werfen. Der Zoll spricht von einer Form der organisierten Kriminalität, mit einem Schwerpunkt im Rhein-Main-Gebiet.

Es ist schwer, an diese Menschen heranzukommen. Die Arbeiter wollen keine Namen nennen. Selbst Sozialarbeiter-innen, die die Arbeiter betreuen und regelmäßig mit den Firmen zu tun haben, wollen lieber keinen Kontakt herstellen.

Doch es gibt noch einen anderen Weg, sich den höheren Ebenen des Systems zu nähern. Damit das System Bau durchgängig läuft, braucht es Menschen, die es mit Nachschub versorgen, mit neuen Arbeitskräften. Menschen wie Sorin.

Sorin ist ein rundlicher Mann Anfang 50 mit hellen blauen Augen, die freundlich schauen, einen aber aufmerksam taxieren. Sein Deutsch ist deutlich besser als das der Bauarbeiter. Er stimmt einem Treffen nur unter der Bedingung zu, anonym zu bleiben, auch er heißt eigentlich anders. Wir treffen uns in einem Café am Frankfurter Hauptbahnhof.

Auch Sorin stammt aus Rumänien, 1991 ging er nach Deutschland. Weil er mit seiner Ausbildung als Glasbläser hier nicht weit kam, heuerte er auf dem Bau als Maurer an, arbeitete für verschiedene Firmen überall im Land. 2015 wurde er Personaler bei einem großen Subunternehmen, seitdem besorgt er Dokumente für die Arbeiter, hilft bei Anmeldungen auf dem Amt.

Doch Sorin hat noch einen anderen Job. Weil er schon so lange in Deutschland lebt, viele Leute kennt, fährt er nach Feierabend manchmal mit seinem BMW vor die Arbeiterheime, auch vor das von Fabiu. Er spricht dort mit den Menschen, die noch nicht lange im Land sind, die kein Wort Deutsch sprechen; Menschen, die nicht gut genug vernetzt sind, um allein Fuß zu fassen in dem Metier.

Er bringt sie dann mit den richtigen Männern in Kontakt. Mit Subunternehmen, die neue Arbeiter suchen. Ein „Vermittler“, auch wenn er dieses Wort nicht mag. Der Frage, für viele Firmen er das macht, weicht er aus.

Wie er das sieht, Menschen in ein System zu schleusen, von dem man weiß, dass sie dort betrogen werden? Sorin lässt einen auflaufen. Er würde nur an Firmen vermitteln, die ihre Arbeiter korrekt auszahlen, sagt er. Und dass er für die Vermittlung kein Geld nehme. Beides kann man getrost bezweifeln.

Dann sagt er: „Die Subunternehmen haben keine andere Wahl, als ihre Arbeiter zu betrügen.“ Und spricht von mafiaartigen Strukturen, bei denen das meiste Geld ganz oben in der Pyramide sitzt. Bei den deutschen Generalunternehmen: Renommierte deutsche Firmen, oftmals Familienunternehmen.

Sie sind es, die bei Ausschreibungen miteinander konkurrieren, auch bei denen der öffentlichen Hand. Um dabei ein möglichst günstiges Angebot abgeben zu können, gliedern viele die Arbeiten an günstige Subunternehmen aus – und entledigen sich damit auch ein stückweit der Verantwortung. Betrug, ungemeldete Arbeitsunfälle, falsch erfasste Arbeitszeiten – all das fällt in den Bereich der Subunternehmen. Die Generalunternehmen haften nur für den Mindestlohn.

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Politik auf Provinzniveau

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Dezember 2022

Der Ampel-Ausfall nach Niedersachsen

Ampelmännchen Scholz mit der roten Laterne als Schlusslicht ?

Von Albrecht von Lucke

Am 9. Oktober, dem Tag der Niedersachsen-Wahl, ging nicht nur das kleine Superwahljahr 2022 mit insgesamt vier Landtagswahlen zu Ende, sondern auch eine Ära – die der großen Koalitionen. Was 2005 mit der ersten Merkel-Regierung begann und bald 20 Jahre prägen sollte, endete in Hannover mit der nun „abgewählten“ letzten GroKo. Heute wissen wir, was wir dieser schwarz-roten Ära alles verdanken: Aus Krise wurde Katastrophe, in ökologischer Hinsicht, aber auch energie- und exportpolitisch. Was von 16 Jahren Merkel in erster Linie bleibt, sind ökonomische Abhängigkeiten von den Autokratien in Russland und China sowie verschenkte Jahre, was die ökologische Wende anbelangt.

Und doch spricht inzwischen einiges dafür, dass man die GroKo schon bald wieder herbeisehnen könnte – und zwar aufgrund ihrer Nachlassverwalterin. Denn wie sich die Ampel-Koalition nach nicht einmal einem Jahr präsentiert, ist ein Desaster: Über Wochen herrschte Hauen und Stechen, vor allem zwischen FDP und Grünen, während sich der Kanzler viel zu lange in Passivität erging – bis er dann am 17. Oktober sein „Machtwort“ sprach. Doch indem Olaf Scholz den Weiterbetrieb dreier AKWs per ordre de mufti (und der Gewaltenteilung zum Trotz[1]) anordnete, stellt er faktisch das Gegenteil unter Beweis: nämlich seine Ohnmacht in Form fehlender argumentativer Autorität und Führungsstärke.

Tatsächlich ist ein derartiger Gebrauch der Richtlinienkompetenz in schriftlicher Form in der Geschichte der Republik präzedenzlos. Helmut Schmidt, Olaf Scholz‘ großes Vorbild, war stolz darauf, diese Macht nie eingesetzt zu haben, weil er argumentativ überzeugende Kompromisse zwischen den Koalitionspartnern schmieden konnte. Und Angela Merkel musste in den 16 Jahren ihrer Regentschaft nur einmal auf ihre Richtlinienkompetenz verweisen, ohne sie letztlich einzusetzen – und das in einer weit dramatischeren Situation und der vielleicht größten Krise ihrer Kanzlerschaft, nämlich im Streit mit CSU-Chef Horst Seehofer um die von ihm geforderte Zurückweisung von Flüchtlingen an der deutschen Grenze.[2]

Dagegen musste Olaf Scholz schon jetzt, nach nicht einmal einem Jahr im Kanzleramt, sein schärfstes Schwert zücken. Das bereits zeigt, dass wir es mit einem immensen Autoritätsverlust an der Spitze der Ampel zu tun haben.

Das bedeutet zwar noch nicht die Kernschmelze dieser Koalition, doch der AKW-Streit bringt nicht nur ein personelles Kommunikations- und Führungsproblem zum Ausdruck, sondern er verweist auch auf ein noch fundamentaleres, in der Struktur der Koalition angelegtes Problem. Da es sich bei der Ampel um die erste Dreierverbindung auf Bundesebene mit Partnern aus konträren Lagern handelt, haben wir es schon von ihrer Anlage her mit der fragilsten Koalition in der jüngeren Geschichte der Republik zu tun – und das fatalerweise in der größten Krise dieses Landes. Denn die historische Zäsur des 24. Februars, der Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, hat alles verändert und den Koalitionsvertrag in weiten Teilen zur Makulatur gemacht. Das gilt in erster Linie für die Energiefrage, denn mit dem Wegfall billigen russischen Gases fehlt die immer schon eingepreiste Brückentechnologie als die entscheidende Grundvoraussetzung für die sozial-ökologische Transformation. Zugleich tritt damit die Frage der energetischen Versorgungssicherheit für Wirtschaft und Gesellschaft in den Mittelpunkt staatlichen Handelns.

FDP: Opposition in der Regierung

Die drei Parteien der Ampel und vor allem ihre zentralen Akteure – Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner – haben dieser fundamentalen energiepolitischen Zäsur jedoch nie wirklich und gemeinsam Rechnung getragen und sich auf eine neue Geschäftsgrundlage dieser Koalition verständigt, die der veränderten Lage gerecht würde. Insofern ist es keineswegs zufällig, dass jetzt die Energiefrage – und speziell das Problem der Atomkraft – zum Knackpunkt der Ampel geworden ist. Ein, so die Ironie der Geschichte, letztes Erbe Angela Merkels, die nach langen Irrungen und Wirrungen 2011 den Wieder-Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen hatte.

Bis heute fehlt der Ampel hier eine klare, einheitliche Position als gemeinsame Basis, auf die sich alle Partner verständigen könnten. Eine Koalition kann jedoch nur dann funktionieren, wenn es ihr gelingt, eine Win-win-Situation für alle herzustellen. In der Ampel ist das Gegenteil der Fall: Obwohl sie zu Beginn vollmundig einen neuen „politischen Stil“ und eine „Kultur des Respekts“ versprach, spielt inzwischen jeder auf eigene Rechnung – und auf Kosten der Koalitionspartner.

Das gilt vor allem für die FDP. Ihr strategisches Geschäftsmodell bestand von Anfang an in dem Versuch, sich als das liberale Korrektiv, als „die einzige liberale Partei der Mitte“ (Lindner) gegen die beiden „linken Parteien“ in der Koalition zu profilieren, um auf diese Weise bürgerliche Wählerinnen und Wähler nicht an die Union zu verlieren. Und nach der verheerenden Niederlage der FDP in Niedersachsen, der vierten in diesem Jahr, hat die Partei diesen Kurs noch radikalisiert. Man müsse verhindern, „dass linke Projekte in dieser Koalition umgesetzt werden“, so Generalsekretär Bijan Djir-Sarai in der Berliner Runde. Es gehe daher darum, so FDP-Chef Lindner, „wie wir die Positionslichter der FDP anschalten“.

Tatsächlich handelt es sich für die FDP um eine existenzielle Frage. Denn bei den vier Landtagswahlen dieses Jahres hat sie ihre Ergebnisse fast halbiert. Doch während sich die Grünen in Reaktion auf den 24. Februar in zentralen Fragen massiv bewegt haben, hält die FDP unerbittlich an ihren Positionen im Koalitionsvertrag fest, insbesondere an der Einhaltung der Schuldenbremse.

Dabei sieht das Grundgesetz in Artikel 109 Absatz 3 explizit eine Ausnahme vor – und zwar „für außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“. Putins Krieg gegen die Ukraine mit seinen immensen Auswirkungen nicht nur auf die Energieversorgung ist zweifellos ein solcher Fall. Der verfassungsrechtlich saubere Weg wäre es daher, eine solche Ausnahme auch zu erklären – stattdessen legt Lindner immer neue Schattenhaushalte an, indem er neue Schulden einfach als Sondervermögen deklariert.

Hier zeigt sich das ganze Dilemma der FDP und damit der gesamten Koalition. Offensichtlich sieht Lindner gar keine andere Möglichkeit, als dieser Pfadabhängigkeit weiter zu folgen, die da lautet: Keine Konzessionen an die neue Lage, sondern Konfrontationskurs gegen die Mitkoalitionäre – was am Ende das Machtwort des Kanzlers zur Folge hatte.

Kollektives Führungsversagen

Allerdings war dieses Machtwort keineswegs nur die Schuld der FDP, sondern Ausdruck kollektiven Kommunikations- und Führungsversagens – in erster Linie des Kanzlers, aber auch der Grünen. Naiv war bereits deren Vorstellung, man könne einen Parteitag abhalten und dort einen bindenden Beschluss in der Atompolitik fassen, obwohl in der Koalition noch gar keine Einigung darüber erzielt worden war. Wer auf diese Weise eine ohnehin hoch aggressive, da absolut in der Defensive befindliche FDP nach der Devise „Friss oder stirb“ behandelt, läuft Gefahr, dieser regelrecht ins Messer zu laufen. Und genau das ist geschehen: Da die FDP zu einer Anerkennung des grünen Parteitagsbeschlusses nicht bereit war, musste am Ende der Kanzler entscheiden. Und er entschied, wie er entschieden hat – zu Lasten der Grünen. Und zwar aus einem entscheidenden Grund, nämlich um nicht am Ende selbst den Schwarzen Peter zugeschoben zu bekommen und derjenige gewesen zu sein, der ein weiteres Laufen der AKWs verhindert hat.

File:Ampel Beschimpfung.svg

Denn darin besteht das inhaltliche Versagen der Grünen: Es ist ihnen nicht gelungen, der Bevölkerung plausibel zu erklären, warum das AKW im Emsland nicht wenigstens im Streckbetrieb weiterlaufen sollte, also ohne Bestellung neuer Brennstäbe, während gleichzeitig ausgesprochen dreckige Kohlekraftwerke reaktiviert werden müssen. Zumal auch Frankreich, das jetzt Deutschland mit Gas aushilft, erwartet, dass es seinerseits Solidarität bei der Stromversorgung erfährt. Erschwerend kommt nämlich hinzu, dass noch niemand sagen kann, wie es am Ende dieses Winters um die Stromversorgung bestellt sein wird, ob es möglicherweise gar zu Blackouts kommt. Klar ist nur, dass die Angst in der Bevölkerung und die Wut über steigende Strompreise immer größer werden. Insofern muss man den Grünen denVorwurf machen, dass sie die gesellschaftliche Realität auf dem Parteitag nicht hinreichend zur Kenntnis genommen haben. Dabei war dieser passenderweise mit dem dazu regelrecht auffordernden Titel überschrieben: „Wenn unsere Welt in Frage steht“. Genau diese Infragestellung der eigenen Weltsicht fand jedoch nicht wirklich statt.

Quelle       :           Blätter-online         >>>>>         weiterlesen

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Dezember 2022

Lieber Schamflüge und Extra-Scheine für die Lieben

Rote Flagge II.svg

Kolumne von Fatma Aydemir

Es ist ja nicht so, dass Scham allzu oft in der Geschichte für Fortschritt gesorgt hätte.

Das Jahr 2022 war für mich das Jahr des Zugfahrens und damit anders als die beiden Pandemiejahre zuvor. Zum einen saß ich selbst ständig in Zügen auf dem Weg zu Lesungen überall im Land. Die Geschichten von Zügen, die plötzlich und stundenlang in der Pampa stehen bleiben, vom Warten auf Anschlüsse in kalten Bahnhofshallen mit abmontierten Sitzbänken, vom Frust über das beschränkte Angebot (Wasser und Currywurst) im Bordbistro, von durch Waggons fliegenden Beleidigungen wegen der Aufforderung, eine Maske zu tragen, erspare ich Ihnen jetzt mal. Es saßen zum anderen nämlich auch die Menschen, denen ich begegnete, viel häufiger in Zügen, wie sie bei jeder Gelegenheit stolz verkündeten.

„Es ist einfach unverantwortlich angesichts des Klimas zu fliegen,“ sagte mir etwa eine Mutter, kurz bevor sie allein mit ihrem 3-Jährigen in den Zug stieg, um eine 20-stündige Reise mit fünf Umstiegen nach Südeuropa anzutreten. Respekt, dachte ich mir. Natürlich hat sie Recht, doch gehört neben einem ökologischen Bewusstsein nicht auch sehr viel körperliche und mentale Kraft dazu, einen Koffer, fünf Essenspakete und eine 15 Kilo schwere Nervensäge einen Tag lang von Zug zu Zug zu schleppen? Wie lange muss ein Urlaub sein, damit er nicht allein dem Erholen von solch einer Anreise dient? Wer hat überhaupt so viel Zeit?

Wie können Staatsbetriebe funktionieren wenn in den Spitzen von Verwaltungen die Typen aus den Clan Parteien sitzen und von dort die gleichen Schnarch Geräusche wie aus  den Regierungen zu hören sind? Die Räder sind schon vor 60 Jahren nicht rund gelaufen.

Mittlerweile empfehlen ja auch Institutionen, die zu Vorträgen ins Ausland einladen, ihren Gästen, besser den Zug zu nehmen. So fällt mir erst auf, welche innereuropäischen Strecken gut angebunden sind. Von Berlin nach London etwa kommt man anscheinend schon in zwölf Stunden mit zwei Umstiegen. Kann man durchaus machen (daumendrückend, dass der deutsche Teil der Zugreise auch pünktlich losgeht und nicht irgendwo lahmliegt). Allerdings liegt der Gesamtpreis der Zugverbindung bei mittelfristiger Buchung ziemlich genau beim doppelten Preis des Hin-und-Rückflugs mit Ryanair, jeweils in eineinhalb Stunden. Auf Einladung zu einer Konferenz kann man sich den Luxus bestenfalls vom Gastgeber bezahlen lassen. Wer allerdings mit Kind und Kegel eine private Reise plant, müsste ein enormes Budget haben und noch dazu ein sehr großes Herz – fürs Klima, für gelangweilte Kinder und insbesondere für England.

Natürlich ist Flugscham nichts Neues, sie scheint nur von Jahr zu Jahr präsenter zu werden, ohne dass wirklich politische Konsequenzen daraus folgen. Okay, es wäre toll, wenn wir alle ganz individuell unsere CO2-Fußabdrücke minimierten, während Industrie und Handel die Erde fröhlich weiter verpesten. Aber wäre es nicht noch toller, wenn es günstiger käme, klimafreundlich zu verreisen? Wenn Zugreisende mehr Urlaubstage bekämen, weil sie mehr Zeit für die Reise aufbringen müssen, und diese Reisen halb so viel kosten würden wie der Billigflieger, und nicht umgekehrt? Andernfalls bleibt klimafreundliches Reisen allein Distinktionsmerkmal einer aufgeklärten Schicht, der es anscheinend an Ressourcen wie Zeit und Geld sowieso nicht mangelt. Und eben Geduld, wo immer die Deutsche Bahn involviert ist.

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten     —   Ebenhausen, nach dem Eisenbahnunfall am 2022-02-14 mussten die Fahrgäste wegen des steilen Bahndamms über Leitern evakuiert werden. Der Versatz der Wagenkästen zeigt, dass mindestens einer der Wagen entgleist ist. Foto mit freundlicher Erlaubnis der Pressestelle der Bayerischen Polizei.

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Kalküle des Kanzlers

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Dezember 2022

Wenn die Ampel in Europa führen will, sollte sie das dialektisch angehen: Macht heißt Machtverzicht

File:Ampel Beschimpfung.svg

Von Stefan Reinecke

Man kann ein Jahr Ampel-Regierung, ihre Erfolge und Fehler, in drei Bildern fixieren. Zweimal sehen wir Olaf Scholz, einmal Emmanuel Macron. Diese Szenen markieren mal Entschlossenheit und Weitblick, mal Kurzsichtigkeit und Egoismus.

Den ersten Auftritt hat der Kanzler drei Tage nach Putins Überfall auf die Ukraine. Die Zeitenwende-Rede von Scholz war ein Coup. Selbst die SPD-Fraktion stand überrumpelt vor vollendeten Tatsachen. Die Ansage war: Deutschland unterstützt die umfassendsten Sanktionen, die es je gab, liefert Waffen an Kiew und bricht mit dem Verbot, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Und: Die Bundeswehr wird mit 100 Milliarden Euro aufgerüstet.

Das war ein geschickter Schachzug. Noch drei Wochen zuvor hatte die SPD Nord Stream 2 sowie die Sonderbeziehungen zu Moskau eisern verteidigt. Paris und Washington bemängelten schon lange den schmalen deutschen Militäretat. Außenpolitisch verschaffte die Zeitenwende-Rede das, was die Ampel unbedingt brauchte – Luft.

Innenpolitisch deklarierten Scholz und FDP-Chef Christian Lindner die 100 Milliarden als Nebenhaushalt. Das war ein Taschenspielertrick – aber effektiv. Mit der wackeligen Behauptung, dieses Sondervermögen müsse unbedingt im Grundgesetz verankert werden, wozu es eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag brauchte, hievte man die Union mit ins Boot und rettete zudem den Frieden in der Koalition. Die Aufrüstung der Bundeswehr aus den laufenden Haushalten zu zahlen, hätte zu einem Ringkampf mit Finanzminister Lindner geführt, dem die Schuldenbremse heilig ist. Die Gelder für Sozialreformen und Klimainvestitionen wären knapp geworden, die SPD-Linken rebellisch und die Grünen schlecht gelaunt.

Das Urteil wird kritischer ausfallen, wenn die Reform des Beschaffungswesens misslingt und das Geld versickert. Doch ohne die trickreiche Zeitenwende wäre die Regierung außen- und innenpolitisch bewegungsunfähig gewesen und vermutlich früh gescheitert. Die Zeitenwende ist ein Beispiel für effektive Machtpolitik. Sie zeigt, wie man sich aus einer defensiven, bedrängten Lage befreien kann: mit einem Überraschungsmoment und Risikobereitschaft, mit Tempo und einer gehörigen Prise Arroganz.

Ebenso überraschend wie die trommelwirbelhafte Zeitenwende war, was dann geschah: Nicht so viel. Scholz hielt keine zackigen Kriegsreden, war bei Waffenlieferungen vorsichtig und betrieb das schlagzeilenarme Geschäft, „blockfreie“ Länder zu umwerben, die weder zum Westen noch zu der autoritären Achse Moskau-Peking gehören. Die Botschaft war: So viele Sanktionen und Di­plomatie wie möglich, so viel Militär und Waffen wie nötig. Alle Aufrufe, mehr schwere Waffen zu liefern, ließ der Kanzler an sich abperlen.

Im Rückblick erscheint dieser Streit unbedeutender als viele glaubten. Das Gros der Waffen kommt aus den USA. Deutschland liefert Waffen, weniger als Großbritannien und viel mehr als Frankreich und Italien. Als Scholz im Spätsommer bei einem Fototermin seine Hand vertraulich auf einen Panzer legte, war das eine Art Schlussbild.

Das Kalkül des Kanzlers folgte einem innenpolitischen und einem außenpolitischen Motiv. Die Mehrheit der Deutschen ist nicht stramm für mehr Waffenlieferungen. Fast 70 Prozent der Deutschen sind gegen eine militärische Führungsrolle in Europa. Gegenüber dem Grünen Anton Hofreiter und CDU-Chef Friedrich Merz wirkte Scholz bedächtig und für Skeptiker vertrauenerweckend. Hätte die Ampel unisono so geredet wie die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, wäre eine Repräsentationslücke entstanden. Der Streit der Ampel über Waffenlieferungen, der als Schwäche erschien, war im Grunde das Gegenteil: ein wirksames Mittel, den Widerstand gegen die Zumutungen der Sanktionen und das deutsche Engagement für die Ukraine einzuhegen.

Die militärische Zurückhaltung hatte auch eine außenpolitische Botschaft: Berlin meidet Alleingänge und spielt weiter die Rolle als soft power. Der 24. Februar hat Europa verwandelt. Die russische Bedrohung wird Osteuropa mehr an den Westen binden. Deutschland wird für Osteuropa wichtiger – und umgekehrt. Das kann die Tektonik der EU verändern. Berlin wächst durch die Mittellage Macht zu – eine Rolle, die im 20. Jahrhundert eine Bedingung der deutsche Katastrophengeschichte war. Deutschlands Rolle – zu klein, um Europa zu beherrschen und zu groß, um ein Spieler unter anderen zu sein – erfordert besondere Besonnenheit. Die Vorsicht bei Waffenlieferungen, die in Osteuropa hart kritisiert wurde, sollte auch den Anschein vermeiden, dass Deutschland Europa wirtschaftlich, politisch, auch noch militärisch dominieren kann.

Aber das ist nicht das ganze Tableau. Das dritte Bild zeigt Emmanuel Macron im Oktober auf dem EU-Gipfel in Brüssel. Freundlich lächelnd kritisiert er, dass sich Deutschland in Europa isoliere. Das sei nicht gut. Die EU müsse erhalten bleiben „und Deutschland dazugehören“. Es passiert nicht oft, dass der französische Präsident – indirekt, aber doch deutlich – vor einem EU-Austritt Deutschlands warnt. Dexit? Wie das?

Im Koalitionsvertrag der Ampel kommt Europa fast auf jeder Seite vor. „Als größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen“, heißt es dort feierlich. Die Realität sieht anders aus. Scholz hat im deutsch-französischen Verhältnis für einen Temperatursturz gesorgt. In seiner Europa-Rede in Prag wurde die Beziehung zu Paris mit keinem Wort erwähnt. Manche EU-Staaten – auch Frankreich – wollen Schulden machen, um die Krise abzufedern. Scholz trat als Widergänger von Altkanzlerin Angela Merkel auf: Monsieur Non. Dann flog der Kanzler ohne Macron nach China. In der EU hörten viele die Botschaft: Deutschland first, Europa second. Die Liste ist noch länger.

Das sind keine diplomatischen Ungeschicklichkeiten, die in Krisen halt passieren. Berlin setzt in der EU brachial eigene wirtschaftliche Interessen durch. Das Kalkül des Kanzlers, erst die deutsche Industrie, dann der Rest, erkennt man in Rom und Paris, in Warschau und Tallinn.

Der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte, war der „Doppel-Wumms“, mit dem Scholz ohne jede Absprache in Brüssel und Paris die heimische Wählerschaft und Industrie beglückte. Das 200-Milliarden-Paket sollte ein Befreiungsschlag sein – aus einer Falle, die die Ampel selbst mitgebaut hatte. Seit dem 24. Februar war absehbar, dass das russische Gas versiegen würde. Die Ampel vergeudete viel Zeit mit der Gas­umlage, um acht Monate später hektisch im nationalen Alleingang einen teuren Gaspreisdeckel zu präsentieren.

Die Wut in Europa auf Berlin ist nachvollziehbar. Die EU-Kommission schlug im März gemeinsame Gasankäufe vor, Berlin winkte ab. Und gegen Deutschland, die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, geht in der EU nichts. Der solvente Exportweltmeister Deutschland konnte sich dieses Nein leisten, weil er alle Konkurrenten auf der Jagd nach Gas überbieten kann. Dabei war Deutschland mit seiner extremen Abhängigkeit von russischem Gas ein wesentlicher Treiber der Krise. Das allein wäre ein ausreichender Grund gewesen, in der EU nicht so egoman aufzutreten.

Wenn die Ampel in Europa führen will, sollte sie das dialektisch angehen: Macht heißt Machtverzicht

All das ist kein Zufall, sondern Ergebnis des Wirtschaftsmodells Deutschland. Der Politikwissenschaftler Martin Höpner schreibt in einer scharfen Kritik des deutschen Exportnationalismus: „Eine gute Außenpolitik bedeutete für Deutschland: billige Energieversorgung sicherstellen (Russland); die Märkte für die deutschen Ausfuhren erschließen und offenhalten (China); dafür sorgen, dass das Ausland ohne Murren die eigenen Leistungsbilanz- und Sparüberschüsse absorbiert (weltweit).“ Dieses Modell ist wegen Russland und China nun in einer doppelten Krise. Um so vehementer scheint man die Exportweltmeisterschaft zu verteidigen. Dafür braucht die deutsche Industrie billiges Gas – und die Ampel zahlt.

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Unten        —   Olaf Scholz, Politiker (SPD) – Zur Zeit Vizekanzler und Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem ist er Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl 2021. Hier während einer SPD-Wahlkampfveranstaltung im August 2021 in München. Titel des Werks: „Olaf Scholz – August 2021 (Wahlkampf)“

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Balla, Balla um die FIFA

Erstellt von DL-Redaktion am 22. November 2022

Die Grenzen der Vielfalt

Niemand von der FIFA wollte doch den Scheichs das Fliegen unter ihren Talaren beibringen und das Fußball spielen erst recht nicht !

Ein Debattenbeitrag von Daniel Bax

„Diversität“ ist das Schlagwort der Stunde, und alle setzen heute auf Vielfalt. Das gängige Verständnis von Diversität greift dabei aber oft viel zu kurz. Auch Angehörige von Minderheiten können rassistisch, sexistisch, nur auf ihren Vorteil bedacht sein.

Die neue britische Regierung ist so vielfältig wie keine vor ihr. Vier Mi­nis­te­r*in­nen im Kabinett von Rishi Sunak, darunter zwei Frauen, sind „People of Color“ – also Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft gemeinhin nicht als „Weiße“ wahrgenommen werden: Innenministerin Suella Braverman und Handelsministerin Kemi Badenoch. Premier Rishi Sunak selbst bezeichnet sich als „stolzen „Hindu“ und zelebriert seinen Glauben öffentlich, indem er Hindu-Tempel besucht oder zum Lichterfest Diwali vor der Tür von Downing Street 10 demonstrativ die obligatorischen Öllampen und Kerzen anzündet.

Minderheiten sind in seinem Kabinett sichtbar repräsentiert. Ihre Interessen vertritt seine Regierung deswegen aber noch lange nicht. Im Gegenteil: Die beiden „Women of Color“ in seinem Kabinett zählen zum rechten Rand der Partei und sind als Scharfmacherinnen bekannt. Die indisch-tamilischstämmige Braverman und die in Nigeria geborene Badenoch sind beide Brexit-Hardliner*innen, ihre liebsten Feindbilder lauten „Wokeness“ und „Migration“. Badenoch wurde durch ihren Kampf gegen Gender-Toiletten bekannt, Braverman durch Tiraden gegen Diversity-Trainings und Geflüchtete. Im Parlament wettert sie gegen „Guardian-lesende, Tofu-essende Woketari“. Ihr größter „Traum“, bekannte Braverman jüngst, sei die Schlagzeile, dass Asylsuchende aus Großbritannien per Flugzeug nach Ruanda abgeschoben würden. Sie unterstrich ihre Aussage mit einer Handbewegung, die ein abhebendes Flugzeug nachahmte, und einem seligen Lächeln.

Die britische Regierung für ihre Diversität zu feiern wäre deshalb voreilig. Politisch hält sich diese Vielfalt in Grenzen, die nach rechts offen sind. Ökonomisch vertritt Premier Sunak die Interessen der oberen Zehntausend, denen er als Multimillionär selbst angehört. Und kulturell teilt er den Habitus vieler britischer Tories. Sunak ist zudem der reichste Politiker, der je das Amt eines britischen Premiers bekleidet hat: ein Aspekt, der viel mehr Beachtung verdient hätte. Seine Selbstinszenierung als Hindu soll davon ablenken und Bodenständigkeit vermitteln. Damit hat er Erfolg. Denn ein oberflächliches Verständnis von „Vielfalt“, das politische, ökonomische und kulturelle Aspekte ausblendet und sich an Äußerlichkeiten festmacht, ist weit verbreitet.

Po­li­ti­ke­r*in­nen wie Braverman, Badenoch und Sunak werden von rassismuskritischen Linken gerne als „Token“ bezeichnet – als Feigenblätter für eine Politik, die ansonsten auf Ausgrenzung setzt. Aber auch das greift zu kurz. Denn auch Angehörige von Minderheiten können rassistisch, sexistisch und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein. In Braverman, Badenoch und Sunak haben sie ihre idealen Re­prä­sen­tan­t*in­nen gefunden.

Die Sklavenarbeiter der FIFA weisen auf die demokratischen Niedriglöhne der Politiker hin !

Unsere Gesellschaften werden vielfältiger, und das spiegelt sich zwangsläufig auch in vielen Institutionen wider. Um neue Zielgruppen zu erreichen, werben Unternehmen mit „diversen“ Models für sich – wobei das meist heißt, dass diese sich aufgrund ihrer Hautfarben und anderer körperlicher Merkmale unterscheiden. Medien rücken „diverse“ Mo­de­ra­to­r*in­nen und Jour­na­lis­t*in­nen in den Vordergrund oder vor die Kamera, um sich ein modernes Antlitz zu geben, und Parteien besetzen ihre Gremien entsprechend strategisch um. An den gesellschaftlichen Strukturen, die bestimmte Gruppen ausschließen, ändert sich dadurch noch nichts. „Diversität“ wird heute auch viel zu häufig auf Geschlecht und ethnische Herkunft, Religion und sexuelle Orientierung reduziert. Klassische Kategorien wie soziale Herkunft, Bildung und Einkommen geraten so aus dem Blick.

Gerade Konservative waren auf dem Gebiet symbolischer Gesten oft Vorreiter und ihrer Konkurrenz damit häufig einen Schritt voraus. Es waren die britischen Tories, die mit Margaret Thatcher erstmals eine Frau an die Spitze des Staates brachten, und die Unionsparteien stellten in Deutschland die erste Kanzlerin. Es war der Republikaner George W. Bush, der die ersten beiden schwarzen Au­ßen­mi­nis­te­r*in­nen in der Geschichte der USA nominierte. Und es war der rechte Populist Boris Johnson, dessen Kabinette so divers waren wie keine vor ihm und der damit die Karrieren seiner Nach­fol­ge­r*in­nen beförderte. Wenn linke Politiker ihre Kabinette so strategisch besetzen, müssen sie sich oft vorwerfen lassen, sie würden „Identitätspolitik“ betreiben und Gruppeninteressen berücksichtigen. Als Kanadas Premier Justin Trudeau gefragt wurde, warum sein Kabinett zur Hälfte aus Frauen bestand, sagte er: „Weil es 2015 ist.“ Das war kein Statement, sondern bloß eine Feststellung.

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Kolumne: Fernsicht – USA

Erstellt von DL-Redaktion am 19. November 2022

Ich hätte genauso für Micky Maus stimmen können

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Suchen unsere Politikbanausen nun die Sonne, Mond und den Mars ab, ob es denn dort etwas Brauchbares zu plündern gibt, wenn diese Erde doch Untergeht, werden die Zerstörer bald von dannen ziehen.

Von   :   Laurie Roja

Mit den Optionen, die zur Wahl standen, wurde die Demokratie verhöhnt.  So habe ich bei dieser Wahl nicht mitgewählt.

Ich habe mich seit 2004 (damals noch als nai­ve 21-Jährige) an keiner Wahl mehr beteiligt, obwohl ich als US-Bürgerin das Recht dazu hätte. Mein Radikalismus gebot mir, mich aus Prinzip nicht an Wahlen zu beteiligen. Ich lehnte das Zweiparteiensystem ab, das Wäh­le­r*in­nen nur die Entscheidung zwischen zwei Gruppen der herrschenden Klasse lässt, die nichts anderes sind als riesige internationale korrupte Netzwerke.

Eigentlich wollte ich es dieses Jahr aber anders machen. In Versuchung wurde ich geführt, weil in Florida viele der jüngst strittigen Themen im Mittelpunkt standen. Ich habe den Stimmzettel und die Kan­di­da­t*in­nen sorgfältig studiert. Am Ende blieb keine ernsthafte Kan­di­da­t*in und kein Referendum übrig, das ich nachdrücklich unterstützen konnte. Die einzige Ausnahme war die Kandidatin der Socialist Workers Party in Florida, Rachele Fruit. Aber das würde sich so oder so wie ein Protestvotum anfühlen, da hätte ich meine Stimme auch Micky Maus geben können.

Die Warnung vor einem Zerbrechen der Demokratie hören wir immer dann, wenn Parteien unsicher oder unzufrieden mit den Ergebnissen sind. Im Vorfeld der Wahl bestanden die De­mo­kra­t*in­nen darauf, dass es bei dieser Abstimmung um die Demokratie selbst gehe. Man solle den Gegnern der Demokratie eine Niederlage verpassen. Aber mit den Optionen, die zur Wahl standen, wurde die Demokratie verhöhnt.

Die Ergebnisse der Zwischenwahlen brachten aber keine klare Entscheidung. Nichts hat sich wirklich geändert. Die Bedrohung durch eine „rote Welle“ der Republikaner materialisierte sich nicht (Florida war eine Ausnahme, aber es wurde erwartet, dass DeSantis & Co siegen würden). Und Donald Trump, der eigentliche Verlierer der Zwischenwahlen, tritt 2024 erneut an und bleibt Favorit für die Nominierung der Republikaner. Die Demokraten haben es nicht geschafft, jemanden herbeizuzaubern, der „Sleepy Joe“ als Kandidat für 2024 ersetzen könnte. Die Pattsituation zwischen den beiden Parteien dauert an, während sich die Erschöpfung durch die Kulturkriege, die panischen Warnungen vor Faschismus oder vor der Wokeness einschleicht.

Die Bedrohung der Demokratie wächst, da die Befürchtungen, Trump könnte ins Weiße Haus zurückkehren, neue Nahrung erhalten. Die Furcht vor Trump wird vom FBI und den Demokraten missbraucht, um grundlegende Verfassungsrechte auf Meinungsfreiheit und das Recht auf Privatsphäre anzugreifen. Wird die Linke diesem Weg, Trump als Rechtfertigung für die Einschränkung von Verfassungsrechten zu benutzen, mitgehen? Wird die Linke die Bedenken der Arbeiterklasse und der Sozialisten ignorieren, dass ihre Rechte und Privilegien das nächste Ziel dieser neuen Maßnahmen gegen Trump sein werden? Angesichts der drohenden Rezession und der sich verschlechternden Arbeitsbedingungen vermute ich, dass sich die Lage für die Demokratie und die Arbeiterklasse nur noch verschärfen wird, wenn der Kampf um die Präsidentschaft 2024 wieder entbrennt.

Quelle        :         TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Kolumne-Wir retten die Welt

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Oktober 2022

Fitzek? King? Pah. So geht echter Thriller

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Eine Kolumne von Bernhard Pötter

Ratlos steht unser Sohn vor dem Bücherregal im Wohnzimmer. „Kannst du mir ein gutes Buch empfehlen?“, fragt er. Mal sehen: „Die Farm der Tiere“ hat er schon gelesen, den „Großen Gatsby“ in der Schule durchgenudelt. Bill Bryson ist lustig, aber ihm ist nach Spannung. Für Karl May ist der 18-Jährige eindeutig zu alt und zu jung.

Und für meinen Favoriten, der leider nicht die Frankfurter Buchmesse dominiert hat, hat er nur Lachen übrig. Dabei ist es der Mega-Thriller: 333 Seiten pure Spannung, Drama, Intrigen, Wahnsinn. Jedes Kapitel voller Skandale. Lehrreich, fesselnd, deprimierend. Der Stil trocken, distanziert, die Akteure gefangen, verstrickt, zynisch. Man weint und lacht und staunt. Was Spannung angeht, können Sebastian Fitzek und Steven King hier noch viel lernen. Dieser Knaller kommt von Michael Jakob und Jan C. Steckel, zwei bislang nur Eingeweihten bekannte Thriller-Autoren, die im Nebenjob als Forscher an den Thinktanks Ecologic Institute und Mercator Institut MCC arbeiten. Der schockierende Titel: „The Political Economy of Coal – Obstacles to Clean Energy Transitions“.

Ich merke schon: Allein der Titel lässt Ihr Herz schneller pumpen und Ihre Stirn schweißnass werden: Ganz großer Krimistoff über einen Energiezombie. WissenschaftlerInnen aus 15 Ländern schreiben über den Ausstieg (oder auch nicht) aus der Kohle. Wir gruseln uns also vor Planungsbürokraten in China, die unnötige Kohlekraftwerke bauen, nur um den Plan zu erfüllen. Uns stockt der Atem, wenn die deutsche Kohlekommission die geplanten 20 Milliarden Euro Subventionen heimlich verdoppelt. Fassungslos lesen wir, wie in Indonesien Militärs zu Kohlebaronen werden, um ihre Pfründen zu sichern. Staunend lernen wir, wie in Chile der neoliberalste Kapitalismus die Energiewende voranbringt, weil es nur ums Geld geht – und die Erneuerbaren unschlagbar billig sind.

Das Genre ist eindeutig True Crime. Korruption, Verfilzung von Politik und Wirtschaft, Geld und Macht Hand in Hand. Verschwörungstheorien werden wahr, aber dann auch wieder nicht – denn es kann logisch sein, im falschen System unökologisch zu handeln. Dann ist der Weltuntergang ziemlich banal. Und all das sauber recherchiert, wissenschaftlich gegengecheckt und mit Fußnoten abgesichert.

Quelle       :       TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —  Plakat „Doppelleben – Der Film“

Verfasser DWolfsperger      /      Quelle    :   Eigene Arbeit      /      Datum    :    1. August 2012

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

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Unten        —       Церемония открытия газопровода «Северный поток».

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Faschismus in Europa

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Oktober 2022

Die Scheu vor dem F-Wort

Datei:Centrodestra Quirinale 2022.jpg

Ein Schlagloch von Georg Diez

Faschismus beim Namen zu nennen ist Teil des Kampfes gegen ihn. Heute erobert er keine Länder mehr, sondern setzt auf Angst und Ausgrenzung.

Lange gab es eine Scheu, das F-Wort zu verwenden. Es war eine Art von Aberglauben dabei: Wenn man das Wort sagte, würde es real werden; besser also, so ging das magische Denken, wenn man nichts sagte, dann konnte auch nicht passieren. Die Scheu gibt es immer noch, in den Medien, in der Politik, in privaten Konversationen. Und die Frage ist, wen man eigentlich schützen will, wenn man es vermeidet, Faschisten Faschisten zu nennen.

Anders gesagt: Was ist der Schaden, publizistisch oder politisch, sehr viel genauer und klarer zu sein in der Analyse dessen, was gerade an ­Faschismus in Europa passiert, von Schweden bis Italien, Polen, Ungarn, Frankreich und andernorts? Apropos Schaden: Man sollte Faschisten auf keinen Fall zu ihrem Wahlsieg gratulieren, wie es Kanzler Scholz gerade getan hat im Fall der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni.

Wann trägt er seine persönliche Gratulation in Rom vor ?

Das ist ein fataler Versuch, Ideologie mit den Mitteln der Politik zu immunisieren, und führt nur dazu, Faschismus zu normalisieren. Als meine Tochter den Gratulations-Tweet von Scholz sah, schrieb sie mir: Der hat doch einen Schaden, kann man doch nicht machen. Ich finde das sehr präzise und prägnant formuliert.

Faschismus ist in vielem eine schleichende Krankheit, sie nistet sich ein, sie verbreitet sich langsam, sie verändert die Gesellschaft im Ton, im Tun, im Opportunismus auch, in der Gefälligkeit derer, die die neue Normalität mitmachen. Auch wenn man miteinander arbeiten muss, wie im Fall von Scholz, sollte man jede Gelegenheit nutzen, die Unterschiede zwischen Demokraten und Faschisten deutlich zu machen.

Nicht länger expansiv, sondern kontraktiv

Und dabei hilft ein Blick zurück. Der historische Faschismus – in Deutschland und Italien etwa in den 1920er und 1930er Jahren – zeichnete sich unter anderem durch die Verherrlichung einer mythologischen Vergangenheit aus, die Propaganda von „wir“ gegen „die“, einen Antiintellektualismus, den hierarchischen Führerkult, eine Opferrhetorik, die Rede von Sicherheit und Ordnung, von Arbeit und Disziplin; das führte zu einem Weltkrieg und der Ermordung von sechs Millionen Juden.

Der Faschismus heute ist anders, und langsam zeigen sich seine neuen Züge. Der Faschismus braucht etwa keine Eroberungen mehr – in Deutschland und Italien in den 1930ern waren diese geopolitischen Raubzüge Kolonialverbrechen mit Verspätung.

Politiker machte schon immer auf Politische Schleimer-Innen. Nichts im Kopf aber immer ein Stück   …..   in der Hand.

Heute ist der Faschismus nicht expansiv, sondern kontraktiv, das Land zieht sich zusammen, es schützt sich, merkantilistisch durch eine Handelspolitik, die nationalen Egoismus an die erste Stelle setzt – in Italien heißt das Wirtschaftsministerium nun „Ministerium der Unternehmen und des Made in Italy“, das Landwirtschaftsministerium trägt in seinem Namen die „Souveränität über Lebensmittel“.

Die Nation also als Schutzraum vor der Gegenwart – und jedes Individuum Teil eines größeren Ganzen. Denn Faschismus war immer eine Ideologie, die den ganzen Menschen wollte – er bedeutet eine Dominanz des Lebens über das Leben. Es gibt keine Trennung von privatem und öffentlichem Ich im Faschismus, sondern es gibt nur das eine Subjekt, das zum Volk gehört. Damit ist eine wesentliche Errungenschaft und Vereinbarung der liberalen Demokratie aufgehoben – die individuelle Freiheit als Grundlage der öffentlichen Ordnung.

Auf Angst und Ausgrenzung setzende Rhetorik

Der Faschismus ist, obwohl Faschisten immer von Sicherheit und Ordnung reden, das Gegenteil dieser Ordnung. Die Rhetorik ist eine von Angst und Ausgrenzung, die Programme beschreiben eine bedrohte Ordnung und formulieren simplifizierende Lösungsversprechen. Zentral für den Faschismus ist es, die Komplexität der Welt radikal zu reduzieren. Das funktioniert am besten, wenn man auf Emotionen setzt statt auf Rationalität. Die faschistische Ordnung ist damit eine grundsätzlich andere.

Sie wird verordnet, sie will sittlich oder im Fall von Italien christlich sein: Moral geht vor Recht. Eine prototypisch faschistische Maßnahme etwa ist das, was die neue Regierung in Schweden gerade vorhat, ein rechtes Bündnis, das nur an der Macht ist, weil die faschistische Partei der Schwedendemokraten sie unterstützt: Menschen ohne schwedischen Pass droht die Abschiebung, wenn sie, wie es heißt, einen „mangelhaften Lebenswandel“ pflegen oder sich „in einer Weise verhalten, die der Bevölkerung missfällt“.

Quelle        :      TAZ-online         >>>>>     weiterlesen

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Oben      —      Mitte-Rechts-Koalition im Quirinalspalast

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Linker Protest von rechts?

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Oktober 2022

Neues von der deutschen Protestkultur:

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Johannes Schillo

„Unser Land zuerst!“ Mit solchen Parolen ist es angeblich der AfD gelungen, die Zuständigkeit für die soziale Frage den Linken abzuknöpfen und sich als antimilitaristische Kraft aufzubauen.

Seit Anfang des Jahres kursiert wieder eine Erkenntnis – mit der Extremismus- & Totalitarismustheoretiker seit ewigen Zeiten aufwarten –, dass sich nämlich die Extreme links und rechts berühren. Ja, dass sie nicht nur übereinstimmen, sondern auch übereinkommen, ihr radikales Untergraben von „liberaler Demokratie“ und „offener Gesellschaft“ als Gemeinschaftswerk zu betreiben.

So konstruieren aufmerksame Zeitgenossen unter Anleitung von Innenministerium und Verfassungsschutz eine Linie vom letzten coronaren Querdenkertum hin zu einer neuen Querfront gegen Krieg und Kriegskosten. Und die Vision einer antikapitalistischen „Revolution von rechts“ wird wieder ausgegraben – ein politische Schimäre, wie der Sozialwissenschaftler Norbert Wohlfahrt ebenfalls Anfang des Jahres im Interview (Scharf links, 11.2.2022) darlegte.

Erstaunlich auch: Die soziale Frage, die jahrzehntelang im „rheinischen Kapitalismus“ und in der bundesdeutschen Errungenschaft einer „sozialen Marktwirtschaft“ verschwunden war, ist wieder da, wieder hier. Doch sie klingelt nicht an Deiner Tür, liebe Linkspartei, sondern bei den rechten Gegenspielern, wobei die ja sowieso mit Putin im Bunde sein sollen, auf dessen Konto auch nach allgemeiner Auffassung (https://www.heise.de/tp/features/Verarmung-und-Spaltung-neuerdings-nur-durch-Putin-7216949.html) die soziale Spaltung und Verarmung im Lande gehen.

Ein Novum: Parteien nutzen Unzufriedenheit!

Die niedersächsische Landtagswahl vom 9. Oktober mit einem zweistelligen AfD-Ergebnis hat wieder einigen Stoff geliefert, um das rechte Lager als die Kraft zu identifizieren, die den sozialen Protest betreut. Hat der legendäre kleine Mann, der stets verlor und nie gewann (wie der Sänger singt), jetzt also jemand gefunden, der sich wirklich um ihn kümmert? Fühlt er sich hier nun endlich (zusammen mit seiner kleinen Frau) ernst genommen – statt bei einer Linkspartei, die, mit internen Querelen und Lifestyle-Fragen befasst, ihm nichts zu bieten hat?

Die banalen Mitteilungen zur Wählerbewegung und -motivation geben das zwar nicht direkt her, wie Gerd Wiegel in der Jungen Welt (12.10.22) resümierte: „Es sind mehrheitlich nicht in erster Linie Menschen, die aktuell sozialen Abstieg erleben, die ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben.“ Aber dass sich der angesagte Abwärtstrend bei der AfD jetzt auch noch im Fall der notorisch zerstrittenen niedersächsischen Abteilung einfach umkehrt, gehört sich gar nicht. Vor allem, wo der Bürger in der letzten Zeit genügend Aufklärung von oben über die extremistische Einstufung dieser Mannschaft erhalten hatte!

„In der Krise mobilisiert die Rechte die Unzufriedenen im Land. Sie hat die soziale Frage gekapert. Dabei hat sie überhaupt keine Antwort,“ stellte taz-Journalist Erik Peters im Blick auf die letzten Proteste fest, zu denen die AfD etwa in Berlin oder in den neuen Bundesländern mobilisierte, und Peter Nowak kommentierte nach der Landtagswahl bei Telepolis (https://www.heise.de/tp/features/AfD-Phaenomen-Wie-ein-scheinbar-zerstrittener-Haufen-von-Protestwahlen-profitiert-7291751.html) zustimmend diese „Zustandsbeschreibung“.

„Die Protestierenden in fünfstelliger Zahl“ hätten Nowak zufolge eigentlich bei der Linken auflaufen müssen, seien aber dort nicht „zu finden gewesen, sondern bei der AfD. Es gibt objektive Gründe im Spätkapitalismus, die zu einer massiven Schwächung der gesellschaftlichen Linken weltweit führte[n]. Hier liegt auch der Grund, dass von einer Proteststimmung die Rechten profitieren.“ Na ja, so viel Neues hat der Spätestkapitalismus auch nicht zu bieten, dass er beständig Krisen produziert, wusste auch schon Karl Marx. Wenn die Linke hier versagt, dann liegt der Grund wohl eher bei ihr als im System.

Dass der Zulauf zum Rechtspopulismus mit sozialen Notlagen zu tun haben könnte, lassen auch die Leitmedien in gewissem Rahmen gelten. Dabei wird natürlich den Rechten schwerster Missbrauch ehrenwerter Anliegen vorgeworfen. Die FAZ (10.10.22) kreidete z.B. der AfD nach ihrem Wahlerfolg an, dass sie „Profiteur der Energiekrise“ ist, „die Frustrierte an die Wahlurne treibt“, und legte, tiefer bohrend, gleich damit nach, die populistische Partei wisse sich eben „um die, denen es nur um Protest geht, zu kümmern“. So ist auch mal wieder der Topos vom populistisch angereizten „Wutbürger“, der eigentlich grundlos, aus einer affektiven Verstimmung heraus, gegen „die da oben“ anstinkt, in Umlauf gebracht.

Wo ist der nationale Nutzen?

Was stimmt: Die AfD protestiert gegen den aktuellen Kurs der Bundesregierung. Sie ist die einzige parlamentarische Kraft, die in Opposition zum NATO-Kurs der Ampel-Regierung geht. Das ist ja das Trostlose an der neuen deutschen Protestkultur, dass der heiße Herbst eher wie die Herstellung einer nationalen Einheitsfront daher kommt. „Wir“ stehen gemeinsam füreinander ein – und die Forderungen konzentrieren sich darauf, dass „die da oben“ auch ihren Beitrag leisten, so könnte man die Stoßrichtung der letzten Demos vom 22. Oktober zusammenfassen (https://www.heise.de/tp/features/Heisser-Herbst-oder-nationale-Einheitsfront-7317017.html), eben „Solidarisch durch die Krise“, wie die zentrale Parole hieß.

Die AfD macht natürlich die obligatorische Verurteilung Russlands mit (siehe das „Positionspapier der AfD-Bundestagsfraktion zum Russland-Ukraine-Krieg“ https://afdbundestag.de/positionspapier-ukraine-krieg/), apropos „völkerrechtswidriger Angriffskrieg Russlands, den wir scharf verurteilen“. Dass Deutschland als europäische Führungsmacht, als Aufsichtsmacht über globale Konflikte, befugt ist, in Gewaltaffären Recht zu- und abzusprechen, leuchtet der AfD selbstverständlich ein. Sie entwickelt das sogar weiter – mit einem Moment von nationalem Größenwahn – zur Rolle des Vermittlers, der zwischen, ja über den streitenden Parteien im Ukrainekrieg zur Regelung weltpolitischer Affären schreiten soll. Bismarcks Kalauer vom „ehrlichen Makler“ lässt grüßen! Und Bismarck mit seinem geradlinigen preußischen Militarismus ist ja auch ein expliziter Bezugspunkt der AfD, wenn sie sich etwa im Deutschen Bundestag zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen äußert.

Aber trotzdem hat die Partei was gegen diesen Krieg und gegen die Kosten, die er der Nation aufbürdet: Hier ist „nicht der Krieg, sondern sein unzureichender Ertrag für die deutsche Sache, welche auch immer, das Problem“, wie der Gegenstandpunkt formulierte (https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/deutschland-will-den-krieg). So kann die AfD sich auch mit lautem Protest für wirkliche Inflationsbekämpfung und solide Haushaltsführung zu Wort melden und auf vielfältige Nöte der Bürgerschaft hinweisen.

Das muss man konstatieren, wobei aber in einem grundsätzlichen Punkt Klarheit herrschen sollte: Die AfD hat weder die soziale Frage „gekapert“, sie also anderen entwendet und für sich vereinnahmt, noch ist ihr Manko, dass sie überhaupt keine Antworten auf die drängenden Zeitfragen anzubieten hätte. Was sich hier zu Wort meldet, ist ein rechtsradikales Programm, das mit seinen eigenen Inhalten in der demokratischen Parteienkonkurrenz antritt, Gemeinsamkeiten mit dem konservativen Lager aufweist und sich von der Linken entschieden abgrenzt. Dabei ist ebenfalls zu konzedieren, dass es in der deutschen Linkspartei – siehe Sahra Wagenknecht – Positionen gibt, die nationale Erfolgsmaßstäbe und -wege attraktiv finden und hier auf ihre Art Anschluss suchen. Aktuell liegt dazu ein Beitrag über „Wagenknechts Abrechnung mit den Linken“ vor, der im Gegenstandpunkt Nr. 3/22 erschienen ist (https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/sahra-wagenknechts-abrechnung-den-linken).

Nähere Auskunft zum rechten Aufschwung gibt auch die Reihe „Gestalten der Faschisierung“ des Argument-Verlags, in der jetzt ein neuer Band (https://argument.de/produkt/hoecke-i-deutsche-arbeit-preussischer-staat/) erschienen ist, der sich mit Björn Höcke befasst, dem AfD-Fraktionsvorsitzenden im Thüringer Landtag und Gründer des einflussreichen „Flügels“ der Partei, der 2020 nominell aufgelöst wurde.

Höcke gilt ja auch als besonderer Treiber einer Antikriegsstimmung und Putinfreundschaft im Lande, als graue Eminenz der AfD, so dass jetzt im Blick auf seine Partei die Thüringer SPD-Abgeordnete Dorothea Marx härteste Konsequenzen fordert (https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100065694/spd-politikerin-marx-fordert-afd-verbot-die-zeit-ist-reif-.html): „Für mich ist die Zeit reif, dass das Bundesverfassungsgericht über ein AfD-Verbot, zumindest in Thüringen, entscheidet.“

Deutsche Arbeit & preußischer Staat“

In der Argument-Reihe hat Wolfgang Veiglhuber unter dem Titel „Volksgemeinschaft und ‚solidarischer Patriotismus‘“ Höckes Weltbild analysiert. Der Durchgang durch dessen Programmpunkte wird ins Gesamtbild der AfD eingeordnet, wobei sich zeigt, dass hier kein extremistischer Außenseiter agiert. Von Höcke werden nur in provokativer Form die nationalen Konsequenzen aus der Verteidigung „unserer“ Marktwirtschaft gezogen, wie sie überhaupt bei den Alternativdeutschen und auch bei anderen Parteigängern dieser Wirtschaftsordnung üblich ist. Speziell zeigen sich hier zwei Punkte:

  • Höcke kennt erstens – im Einklang mit seiner Partei – keine soziale Frage, sondern nur eine nationale. Die Volksgemeinschaft ist das Sorgeobjekt; sie gilt es, gegen innere Verfallserscheinungen und auswärtige Bedrohungen zu verteidigen. „Solidarität“ – das neue Schlagwort für Opfer- und Verzichtsbereitschaft – wird dafür, dem demokratischen Brauch folgend, adaptiert und als Attribut dem Patriotismus zugeordnet. Die vorstaatliche, völkische oder blutsmäßige Identität eines in seiner Heimat verhafteten Menschenhaufens, der sich über den Fortpflanzungstrieb von Vati und Mutti beständig reproduziert, ist der Ausgangspunkt der Sorge. Wenn hier soziale Nöte zu entdecken sind, werden sie aufgegriffen und gegen (angebliche) Nutznießer oder Anstifter aus dem Ausland zum Anliegen eines nationalen Widerstandsakts gemacht. Dann muss z.B. unsere soziale Marktwirtschaft gegen einen (angelsächsischen) Kapitalismus verteidigt werden, der mit der Globalisierung zu uns herüberschwappt, sich dabei durch einen „raffenden“ Charakter auszeichnet und unsere „Realwirtschaft“ in eine Art „Zinsknechtschaft“ nehmen will. Dann muss z.B. der „Verantwortungsraum“ unserer Solidargemeinschaft eingegrenzt, d.h. die migrantische Population vom Leistungsbezug bei den Sozialkassen ausgegrenzt werden.

  • Es stimmt also zweitens auch nicht, was bereits die letztgenannten Beispiele deutlich machen, dass die Partei „überhaupt keine Antwort“ anzubieten hätte, wie mit den Missständen im Lande umzugehen wäre. Von der Notwendigkeit einer bundesweiten Inflationsbekämpfung bis zur Aufhebung des baden-württembergischen Nachtangelverbots kann sie mit tausend guten Vorschlägen aufwarten. Veiglhuber geht dem Sammelsurium von ordnungs-, wirtschafts- und sozialpolitischen Konzepten nach, das sich, wie bei demokratischen Parteien üblich, gar nicht groß um Konsistenz zu bemühen braucht. Hauptsache, man dokumentiert die eigene (potenzielle) Tatkraft! Und wenn man die grundsätzliche Linie wissen will, der sich die vielen guten Ideen verdanken, ist die Partei überhaupt nicht um eine Antwort verlegen: Es geht ihr um die Erneuerung der nationalen Sittlichkeit im Lande. Höcke z.B. will einen grundlegenden sittlich-moralischen Wandel – weg von einem „dekadenten westlichen Lebensstil“.

Wem das als Parteiprofil zu wenig oder zu allgemein ist, der sollte sich daran erinnern, dass auch ein Kanzler Kohl einmal mit dem Programm antrat, dem Land eine „geistig-moralische Wende“ zu verordnen. Bei Höcke wird die Erneuerung der nationalen Sittlichkeit richtig brutal ausbuchstabiert – mit ihren antimaterialistischen Konsequenzen und ihrer Propaganda einer „bodenständigen Bescheidenheit“. O-Ton Höcke: „Unsere ‚Klage um Deutschland‘ dreht sich nicht primär darum, dass der Wohlstand zurückgeht, sondern vor allem darum, dass unser Volk seine Seele und Heimat verliert“; der Mann „will keine neue Armut herbeisehnen, aber etwas mehr Bescheidenheit und Orientierung an immateriellen Werten wären heilsam für uns.“

Veiglhuber fasst zusammen: „Moral, Sittlichkeit und Bescheidenheit statt eines guten Lebens für alle. Höcke legt ein völkisch-nationalistisches Wertetableau vor, in dem die Lohnabhängigen unter Hintanstellung der eigenen materiellen Interessen als Dienstkräfte von Volk und Vaterland fungieren sollen, eine nahezu klassische faschistische Perspektive.“ In diesem Resümee darf man allerdings das Wörtchen „nahezu“ nicht überlesen. Natürlich ist in Höckes Äußerungen allenthalben eine gewisse Nähe zur NS-Vergangenheit zu erkennen – zur Deutschen Arbeitsfront, zur Idee einer „organischen“ Marktwirtschaft, zum NS-Winterhilfswerk, zur Verteufelung der „globalen Geldeliten“ (Höcke), zur Anklage vielfältiger Dekadenzerscheinungen.

Aber damit ist die Sache nicht erledigt. Eine Nähe besteht genauso zur Verteidigung unserer – über alle Kritik erhabenen – Idee einer Soziale Marktwirtschaft, wie sie in den demokratischen Parteien anzutreffen ist; und wo nur noch der Einwand zugelassen ist, dass sich die wirtschaftliche Praxis nicht ganz auf der Höhe dieser hehren Idee bewegt, was auch bei Demokraten durchaus mit der Schuldzuweisung an auswärtige Kräfte verbunden werden kann, die den Anstrengungen deutscher Politiker zuwiderlaufen. Veiglhuber kommt immer wieder auf solche Übereinstimmungen zu sprechen und thematisiert auch den strukturellen Zusammenhang. So hält er bei Gelegenheit fest, dass die Äußerungen des Scharfmachers Höcke gar nicht apart rechts sind, sondern schlichtweg deutsche „Staatsideologie“.

Gestohlen haben die Alternativdeutschen also wohl eher bei den regierenden „Altparteien“, die sie sonst verteufeln! Populismus eben, wie er im Buche steht.

Zuerst bei Telepolis erschienen.

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Oben       —      Rechte Tasche – linke Tasche – übrig blieb die leere Flasche /  Screenshot  YOUTUBE

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Unten        —       Jacek Wesołowski „GELD MACHT FREI“

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USA und ihre Demokratie

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Oktober 2022

Demokratie in den USA im Eimer

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

In einem bemerkenswert offenen Artikel in einem US-Portal wird ausführlich der Niedergang der US-Demokratie dargestellt. Dabei geht es weniger um den Verfall der Demokratie und ihrer Glaubwürdigkeit weltweit, als um die Gründe dafür im eigenen Land.

Die Folge dieses Verfalls ist die Schwächung der US-Führungsrolle weltweit. Der gebetsmühlenartige Vortrag einer regelbasierten internationalen Ordnung ist unglaubwürdig, wenn im eigenen Land wichtige Entscheidung von Parteilichkeit geprägt sind und Institutionen sich gegenseitig blockieren. Hier sind die USA zuallererst gefordert, der Welt demokratische Stabilität und Zuverlässigkeit zu beweisen. Solange dieser Beweis nicht nachhaltig erbracht ist, sind die USA für eine internationale Führerschaft nicht legitimiert.

Bei der Achterbahnfahrt der US-Politik seit Bush II ist es umso erstaunlicher, dass unsere Politiker, und allen voran unsere Aussenministerin, geradezu blindwütig die von der Mehrheit der Amerikaner selbst bezweifelte internationale, US-Interessen dienende Ordnung nachplappern. Dabei rangieren die USA erst auf Platz 26 im jüngsten Democracy Index.

Wahrlich kein Musterbeispiel für die Welt! Vielmehr müssen die US-Politiker erst einmal den Amerikanern zuhören und herausfinden, warum und wie diese von der in den USA praktizierten Demokratie frustriert sind. Auch bei uns haben nach einer Erhebung des Pew survey nur 14 Prozent der Befragten Zutrauen zur US-Demokratie, auch nicht gerade beruhigend.

Die pathetische Rhetorik von Biden ist solange Schall und Rauch, wie die USA ihre Demokratie im eigenen Land nicht von Grund auf erneuern. Dazu muss das Volk viel mehr einbezogen werden, das Wahlrecht muss vereinfacht, der Einfluss von Geld in der Politik unterbunden und Bildung und Gesundheitswesen müssen allen Menschen zugänglich sein. Nicht zuletzt muss die Verfassung aus dem 18. Jahrhundert an die heutige Zeit angepasst werden, um das Regieren und die Gewaltenteilung glaubwürdig zu betreiben.

Stolz auf was 10

Heute wird mangels an sich nötiger demokratischer Entscheidungen vielfach per Dekret regiert mit der Folge, dass ein Präsident von heute Entscheidungen eines Vorgängers mir nichts, dir nichts wieder aufheben und somit eine Disruption der Politik im Inland und Ausland bewirken kann. Trump war da ein besonders makabreres Beispiel. Kein Wunder also, dass besonders die Menschen in den mit den USA verbündeten Ländern sehr skeptisch und wenig optimistisch bezüglich der heutigen US-Demokratie sind, solange die USA eine echte Demokratie nicht als Eckpfeiler ihrer internationalen Politik betreiben.

Das aber bedeutet, dass die USA auf jede America-First-Attitüde verzichten müssen. Jeder Mensch und jedes Volk verdient zunächst Respekt und bei gemeinsamen Projekten eine Behandlung auf Augenhöhe bei einem angemessenen Interessenausgleich. Und das beginnt damit, dass die US-Politik die Rechte seiner eigenen Bevölkerung respektiert und schützt. Täglich wird uns vorgeführt, dass die selbstherrlich gelobte und als Basis unserer westlichen Werte gepriesene US-Demokratie ihr Versprechen nicht einlöst, das Leben der eigenen Bevölkerung zu verbessern, ganz zu schweigen von anderen Ländern. Wir brauchen dringend eine ehrlichere und überzeugendere Ideologie, wenn wir unsere Probleme global überwinden wollen. Solange die Demokratie in den USA im Eimer ist, kommen wir keinen Schritt weiter.

Urheberrecht
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Oben      —   Außenmauern der Ex-US-Botschaft-Taleghani-Straße-Teheran

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Deutschlands Absturz :

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Oktober 2022

Scholz, Baerbock, Habeck und das neue deutsche Elend

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Friedens-Unfähigkeit der Regierung, Realitätsverweigerung, Arroganz, Bürgerferne – und gleichgeschaltete Massenmedien.

Deutschland im Herbst: kurz vor dem Absturz in große Not. Mit Kanzler Scholz voran, dem Bademeister im Schuldensumpf[1], Vergangenheitsbewältiger ohne Cum-Ex-Erinnerung[2] und auch angesichts der Gegenwartsgefahren ziemlich einfallslos. Mit einer Außenministerin Baerbock am Bein, selbsternannte Fachfrau für Völkerrecht, zumindest aber für Lügengeschichten und exzessiven Russenhass, die sich zum Sicherheits-Hochrisiko in Europa entwickelt.[3] Und mit Wirtschaftsminister Habeck geschlagen, einem von jeglicher Sachkenntnis freien Schwadroneur[4], der über „Mondpreise“ für US-Fracking-Gas jammert und bei den Amis „führend dienern“ will[5] (oder so ähnlich).

Bereiten wir uns also auf das winterliche Leben im Mehrfamilien-Wohnschlafzimmer vor und auf die per Fahrraddynamo zu betreibende Elektroheizung. Das bürgerferne Berliner Regime mit Fascho-Odeur, ohne Selbstzweifel und engagiert in kriegerischer Wumms-Politik, setzt längst die Nachrichtensendungen von ARD, Deutschlandradio und ZDF als erfolgreiche Verbal-Artillerie ein.[6] Ihr allabendliches Trommelfeuer auf die Intelligenz des Publikums ballert dessen Leidensbereitschaft und Russophobie herbei. So erklärt sich die bedingungslose grün-deutsche Hingabe an das neonazistische Regime in Kiew. Öffentlich-rechtswidriger Programmauftrag: Unser täglicher Schulterschluss mit SS-Kamerad Selenskyj[7].

Auf den korrupten Selbstherrscher in Kiew lassen Tagesschau & Co. nichts kommen: Russischsprachige Bücher und russische Musik verbieten[8][9], den Ost-Ukrainern den Gebrauch ihrer Muttersprache untersagen[10], kritische Fernsehsender dicht machen[11], rassistische Sprüche kloppen[12], die Oppositionsparteien verbieten[13] , politische Gegner entführen und foltern lassen[14]: Selenskyj darf sowas. Darüber verlieren öffentlich-rechtliche Qualitätsjournalisten kein Wort in ihren „hochinformativen“ Nachrichtensendungen. Der Mafioso im Kiewer Präsidentenamt gilt ihnen als Ehrenmann. Seine Off-shore-Millionen sind für die Tagesschau aber tabu.

Charakterloser Journalismus

Die braune Brühe in und aus der Ukraine wird von den Redakteuren sorgfältig übergangen, die aus Hamburg gelieferte Tagesschau hat das Filtern auf allen Ebenen längst zur Perfektion entwickelt.

Als sich mehrere NDR-Redakteure darüber beschwerten, dass es in der NDR-Berichterstattung in Kiel einen „politischen Filter“ (zugunsten der CDU-Landesregierung) gebe, war das Mediengetöse groß[15] – als ob da etwas Außergewöhnliches aufgedeckt worden wäre. Dabei belegen kritisch-unabhängige Autoren außerhalb des Dunstkreises der Konzernmedien und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bereits seit vielen Jahren zweifelsfrei, dass der „Qualitätsjournalismus“ politisch abhängig ist, daher auch weitestgehend gleichgeschaltet: Er verletzt das Interesse breiter Bevölkerungsteile, er pervertiert die Meinungsbildungsfreiheit und begeht damit tagtäglich ideellen Verfassungsbruch.

Im NDR unternahm man nach Bekanntwerden der Kieler Kritik, was man in vergleichbaren Fällen immer tut: Man prüft mit eigens ausgesuchten „Gutachtern“ im Hinterzimmer die einzelnen Vorwürfe und verständigt sich auf das übliche Ergebnis: Da ist nichts gewesen.[16] Was angeblich oder tatsächlich zu kritisieren war, wird dem kollektiven Gedächtnisverlust anheimgeben, die Zeit heilt alle Wunden. Die zu Aufpassern bestellten Mitglieder in den Rundfunkgremien spielen mit – wer sich querlegt, gefährdet seinen Platz im Kasperletheater oder wird als Pups im Parfümladen erachtet.

Solche Verfahrens- und Verhaltensweisen sind systemkonform. Sie gaukeln der Öffentlichkeit vor, Rundfunk und Fernsehen hierzulande seien sauber und funktionierten bei der Kontrolle des Gemeinwesens und seiner Führung einwandfrei. Das täuscht darüber hinweg, dass die Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens geradezu standardmäßig „politisch gefiltert“ sind; was täglich in Hamburg-Lokstedt passiert, kann nicht (wie in Kiel) als untypischer Betriebsunfall deklariert werden.

Die Redaktion ARD-aktuell hat Negativbeispiele in Hülle und Fülle im Archiv, insbesondere aus der Auslandsberichterstattung. Seit dem Maidan-Putsch 2014 ist die Tagesschau bekannt dafür, dass ihre Ukraine-Berichterstattung entgegen der gesetzlichen (=staatsvertraglichen) Objektivitätspflicht ausschließlich dem Interesse des „Wertewestens“ dient. Die Redaktion ist nicht die Bohne um Objektivität bemüht, nicht einmal um Neutralität. Sie arbeitet hochgradig parteiisch. Ihr zentrales Instrumentarium: Weglassen wesentlicher Informationen, unsachliche Akzentuierung, einfließende und/oder getarnte Falschnachrichten, Manipulation von Fakten und Aussagen. Das reicht von Falschdarstellungen über das Pogrom im Gewerkschaftshaus in Odessa, über die uferlose Korruption des Regimes in Kiew bis zum Ignorieren des Massenmords an 14000 Ostukrainern, gemeinschaftlich begangen von den neonazistischen Asow-Freikorps und der regulären ukrainischen Armee.

Der Krieg eskaliert –

und damit das Manipulieren und Fälschen bis zum Exzess, Nachrichten ohne Benennung von Ross und Reiter, aktuellstes Beispiel:

„Teile der Krim-Brücke eingestürzt“[17]

meldet die Tagesschau, verweist auf einen „Brand auf der Brücke“ und sagt nicht sofort, was Sache ist: Dass die ukrainischen Machthaber schon vor dem Krieg Pläne schmiedeten, diese Lebensader der Krim abzuschneiden, die Brücke zum russischen Festland zu zerstören. Schweigt sich natürlich darüber aus, welche Folgen dieser Gewaltakt haben muss: eine weitere Eskalation des Kriegsgeschehens.

Ganz anders die Nachrichten in den bewussten Medien. Putin habe wiederholt unterstrichen,

„dass auf Angriffe auf russisches Territorium mit allen Mitteln reagiert werde und hinzugefügt: ‚Das ist kein Bluff.‘ Wenn er jetzt nicht reagiert, würde er sich als schwach und ängstlich zeigen.“[18]

Den Kontext zu Ereignissen darzustellen, Nachrichten damit verständlicher und einer sachgerechten Urteilsbildung dienlich zu machen, ist für ARD-aktuell längst kein journalistisches Muss mehr. Die verantwortungslose Haltung der Merkel-Regierung gegenüber dem völkerrechtlich verankerten „Minsk-II-Abkommen“ wurde von der Tagesschau ebenso devot übergangen wie die Tatsache, dass USA, NATO und EU seit Jahren die Ukraine auf einen Krieg gegen Russland orientierten – unter Einsatz ihrer Geheimdienste und Söldner. Und dass sie das Land mit Unmengen Waffen belieferten, es finanzierten und seine Soldaten und uniformierten Hitler- und Bandera-Fans trainierten. Damit sorgte auch die ARD-aktuell dafür, dass der Durchschnittszuschauer die verbrecherischen Umtriebe der wertewestlichen Regierungen nicht als Mitursache für den Krieg in der Ostukraine begreifen konnte.

Dieser Hintergrund erhellt, warum es so problemlos gelang, die Mehrheit der Bundesbürger gegen Russland aufzuwiegeln und die seit Jahresbeginn gigantischen westlichen Waffenlieferungen als Beitrag zur Herbeiführung des Friedens (!) zu verkaufen – als ob es nicht längst ein Verbot von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete gäbe; es ist im Grundgesetz bereits in der Präambel verankert.[19]

Treffend beschrieben:

„Die Medien zeigen uns die Welt – allerdings nicht wie in einem Spiegel, sondern unvermeidlich als von ihnen erzeugte Welt, als Ergebnis eines höchst eigensinnigen Auswahl- und Produktionsprozesses. Diesen Prozess selbst zeigen sie aber nicht: Weder die Filter noch die Zutaten noch die ‚geheimen‘ Künste ihres Handwerks … wer keine Sensibilität dafür entwickelt, über welche Themen er lediglich hinweg hastet und bei welchen er ungebührlich verweilt, weiß am Ende nichts Verlässliches von der Welt, die ihm da gezeigt wurde. Und ist doch überzeugt, sie mit eigenen Augen gesehen zu haben.“[20]

Filter und Zutaten setzt die Tagesschau gelegentlich so übermäßig und wider jede Logik ein, dass der kritische Zuschauer zweifelt, ob den Redakteuren noch etwas Rest-Verstand geblieben ist. Beispielsweise bei der Berichterstattung über den Beschuss des Atomkraftwerks Saporischschja: Obwohl das AKW von russischen Truppen besetzt ist, erweckte ARD-aktuell – unisono mit Selenskyj und seiner medialen Entourage im Westen – den Anschein, als hätten die Russen selbst auf das AKW geschossen.[21]

Wer auch dabei an die zuverlässig russophob hechelnde Moskauer Korrespondentin Ina Ruck als Autorin denkt, irrt: ARD-aktuell hatte eigens für diese schräge Nummer die Lateinamerika-Korrespondentin Xenia Böttcher in die Ukraine gekarrt. Deren Qualifikation für wahrheitswidrige Meinungsmache und reaktionären Gossenjournalismus ist längst nachgewiesen, speziell mit ihren abfälligen und irreführenden Berichten über Venezuela.[22]

Filtern, filtern: Die EU beschloss kürzlich eine weitere Finanzhilfe von 5 Milliarden Euro für die Ukraine. Das Selenskyj-Regime wies das als ungenügend zurück.

Jetzt will die Ukraine der EU schon vorschreiben, wie viel Geld sie aus Brüssel bekommt“[23]

empörte sich der Blogger Eric Bonse. Und was berichtete die Tagesschau über den Skandal?

Nichts.

Durchgeknallt

Als der ukrainische Staatschef am 6. Oktober die NATO aufforderte, präventiv Atomwaffen gegen Russland einzusetzen, verschwieg ARD-aktuell in ihren Hauptsendungen sogar diesen verbalen Amoklauf Selenskyjs. Sie brachte nur eine Erwähnung im Kleingedruckten, auf tagesschau.de[24]; dort allerdings gleich zusammen mit einer abwiegelnden Bemerkung aus dem Umfeld des Kiewer Koksbruders: Selenskyj habe sich nicht auf die Gegenwart bezogen, sondern den Kriegsbeginn im Februar 2022 gemeint. Solche Beispiele machen die Kriegsberichterstattung der ARD-aktuell als Propaganda-Mix kenntlich, gefiltert nach NATO-Interessen und denen einer deutschen Regierung, die ihre Handlungsgrenzen von Washington definieren lässt.

Wie oft schon haben wir und ungezählte andere Beschwerdeführer darauf hingewiesen, dass die ARD-aktuell damit gegen den Staatsvertrag verstößt, speziell gegen den Auftrag,

„… die internationale Zusammenarbeit zu fördern, für die Friedenssicherung einzutreten …  unabhängig und sachlich zu sein …“

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/dc/Tagesschau_logoen_2013-07-11_13-56.jpg

und damit den „anerkannten journalistischen Grundsätzen zu entsprechen“[25]? Es muss dennoch immer und immer wieder daran erinnert werden. Bis es – vielleicht – eines schönen Tages doch noch dazu führt, dass Politiker und Rundfunkräte Konsequenzen ziehen.

Welch arroganter Zynismus drückt sich in dieser salvatorischen ARD-aktuell-Klausel aus:

„Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.“[26]

Warum sendet die Redaktion dann nur Informationen von westlichen Nachrichtenagenturen, nicht aber von russischen? Warum beteiligt sich die ARD-aktuell an der informationellen Selbst-Kastration und protestiert nicht gegen die verfassungswidrige Zensur, die im Verbot russischer Medien in der EU gipfelt?[27]

Vom einstigen Bundeskanzler und verdienten Friedensnobelpreisträger Willy Brandt stammt der viel zitierte Satz:

„Ohne Frieden ist alles nichts.“[28]

Brandt setzte sich bekanntlich mit unbeirrbarem Verständigungswillen und schließlich erfolgreich für eine Aussöhnung mit dem Osten ein, gegen den ausdrücklichen Willen der britischen und der US-Besatzer in Deutschland. Demgegenüber erweist sich Kanzler Scholz als unglaubwürdiger Opportunist. Anfang März hatte er noch verkündet:

„Jeder weitere Tag, den der Krieg fortgesetzt wird, führt zu Zerstörung von Infrastruktur und Menschenleben … – auf beiden Seiten. Das muss unbedingt verhindert werden … Es geht darum, dass die Diplomatie wieder eine Chance bekommt“[29]

Doch schon im Mai war er auf die Seite der Kriegsförderer gewechselt:

„Ernsthaft über Frieden verhandeln wird Putin jedoch nur, wenn er merkt, dass er die Verteidigung der Ukraine nicht brechen kann“.[30]

Der Wählerwille zählt nicht

Für Scholz sind demnach Verhandlungsabsichten derzeit illusorisch. De facto stützt er damit den US-gesteuerten Scharfmacher Selenskyj; der ließ Verhandlungen mit Präsident Putin per Gesetz verbieten. Scholz‘ kriegerische Durchhalte-Politik stellt eine Verhöhnung des Mehrheitswillens seiner Mitbürger dar. Die stimmen zu 77 Prozent für sofortige Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland.[31]

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Scholz, rechtslastiger „Seeheimer“ mit gewaltbeschönigender Vergangenheit[32], berauscht sich lieber an der tödlichen Effizienz des deutschen Mordwerkzeugs, das inzwischen massenhaft in die Ukraine geschafft wird.[33] Wie solche Spezialdemokraten eben sind: Sie bedenken die Neonazis in der Ukraine mit Weihrauch, Gold und Vernichtungswaffen – in der Heilserwartung auf den Endsieg. Unter Beifall unserer Rüstungsbarone und gierigen Hyänen, die auf Anteile an der Beute von russischen Ressourcen lauern.

Doppelstandards, Opportunismus und Amoral des Kanzlers drücken sich auch in seiner Reise nach Riad aus. Dort kaufte er Öl und sagte im Gegenzug Waffenlieferungen zu. Auf dass die Saudis ihren völkerrechtswidrigen Krieg im Jemen fortsetzen können, der bereits mehr als 400 000 Menschenleben gefordert hat[34] und noch weit fürchterlicher wütet als der Krieg in der Ukraine. Das Rüstungsgeschäft mit Saudi-Arabien widerspricht übrigens dem Koalitionsvertrag mit den Grünen, aber die sind zwecks Machterhalt schon umgefallen.[35]

Die Grünen haben längst ihren Frieden mit dem Krieg gemacht.

Filtern, filtern, filtern: Als sich nach Alice Schwarzer weitere deutsche Prominente wie Richard David Precht, Juli Zeh und Ranga Yogeshwar im Juni öffentlich für Friedensverhandlungen im Ukraine-Konflikt einsetzten[36], brachte die ARD-aktuell das wiederum nur in ihrer diskreten Internet-Nische Tagesschau.de, nicht aber in ihren TV-Abendsendungen. Spitzenmeldung war dort vielmehr ein gerade beschlossenes „Gesetz zur Selbstbestimmung“, das den Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Geschlecht und Vornamen selbst festzulegen.[37]

Am 2. Oktober appellierte Papst Franziskus an den Präsidenten der Ukraine, „für ernsthafte Friedensvorschläge offen zu sein.“ Kein Wort davon in den Hauptsendungen der ARD-aktuell. Die enthielten stattdessen Jubelmeldungen über weitere deutsche Waffenlieferungen.[38]

Wie verkommen inzwischen die deutsche Diskussionskultur in Friedensfragen ist, dank des Einflusses der Massenmedien, zeigt sich am Umgang mit dem Friedens-Vorschlag des US-Milliardärs Elon Musk. ARD-aktuell tat ihn als „provokante“ Äußerung ab.[39] Und fügte ihm den Kommentar der neonazistischen Dreckschleuder Andrij Melnyk hinzu, Ex-Botschafter der Ukraine in Deutschland:

„Verpiss dich (im englischen Original: Fuck off), ist meine sehr diplomatische Antwort an dich, Elon Musk“.

Friedensaktivisten diffamiert ARD-aktuell, indem sie eine Nähe zu AfD-Mitgliedern, „Verschwörungstheoretikern“ und „Corona-Leugnern“ andeutet, als hätten die kein Recht, sich für den Frieden einzusetzen.[40] John Pilger, weltweit bekannter australischer Journalist und Friedensaktivist:

Wir leben in einer Mediengesellschaft, in der wir einer tückischen und unaufhörlichen Gehirnwäsche unterzogen werden … entsprechend den Bedürfnissen und Lügen staatlicher und unternehmerischer Macht.“[41]

Die Sowjets zogen vor 32 Jahren in Freundschaft aus Deutschland ab. Die westlichen Besatzer jedoch blieben. Heute sollen wir die Russen wieder als Feinde betrachten, die Amis hingegen noch immer als Freunde. Trotz milliardenschwerer Besatzungskosten, Missbrauchs ihrer Garnison Ramstein für weltweite Drohnenmorde und der Garnison Büchel als Atombombenlager, trotz NSA-Bespitzelung, CIA-geheimdienstlicher Unterwanderung, Zwang zur Selbstzerstörung unserer Wirtschaft zum Nutzen der US-amerikanischen und trotz fortwährender politischer Bevormundung.[42] Die Bundesregierung, voran der dienernde Vizekanzler Habeck, legt Wert darauf, unter den Amis „Partner in Leadership“ zu sein.[43]

Vom berühmten linken Schriftsteller Franz Jung („Der Weg nach unten“)[44] ist überliefert, dass er Hitler in einem Münchner Wirtshaus anschrie: „Dir ham’s ins Hirn g’schissen und vergessen, abzuziehen!“ Jung überlebte in der Emigration.

Deutschland im Herbst: Der quer durchs Land gehegte Wunsch nach Frieden hat keinen politischen Marktwert. Er prägt auch nicht unsere Massenmedien. Dabei ist der Absturz in die wirtschaftliche und soziale Katastrophe schon in Sichtweite. Er wäre vermeidbar, denn eine der Nordstream-2-Röhren ist noch intakt: Die Amis haben sie nicht getroffen. Doch die USA beherrschen unser Land und verhindern Signale nach Moskau, die der Verstand geböte. Die westeuropäisch-russische Zusammenarbeit wird sich dennoch eines Tages durchsetzen – gegen ein imperiales System, das nur mit Sanktionen und Militär aufrechterhalten wird und nicht einmal mehr ein Viertel der Menschheit repräsentiert.

Quellen:

[1] https://www.cicero.de/innenpolitik/interview-mit-ex-spd-politiker-torsten-teichert-die-linke-scholz-spd
[2] https://www.welt.de/politik/deutschland/video240581355/Cum-Ex-Skandal-Olaf-Scholz-kann-sich-nicht-erinnern.html
[3] https://www.tichyseinblick.de/meinungen/annalena-baerbock-sicherheitsrisiko-europa/
[4] http://blauerbote.com/2022/10/06/habeck-versteht-nicht-warum-us-fluessiggas-so-viel-teurer-ist-als-russisches-pipelinegas%EF%BB%BF/
[5] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/habeck-zu-ukraine-krieg-deutschland-muss-dienend-fuehren-17870492.html
[6] https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-1095747.html
[7] https://www.anti-spiegel.ru/2022/mit-aufnaeher-der-waffen-ss-selensky-besucht-isium/
[8] https://leserbriefe.info/?p=229993
[9] https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/kulturmeldung-ukraine-verbietet-russische-musik-100.html
[10] https://uepo.de/2022/01/28/sprachpolitik-ukraine-bekaempft-russische-sprache-per-gesetz
[11] https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/ukraine-schaltet-prorussische-tv-sender-ab-100.html
[12] https://weltwoche.ch/daily/wolodymyr-selenskyjs-juengste-forderung-sperrt-alle-russen-in-ihrem-land-ein-und-aus-der-eu-ertoent-beifall/
[13] https://weltwoche.ch/daily/wolodymyr-selenskyj-hat-in-der-ukraine-praktisch-alle-parteien-verboten-und-konzentriert-seine-medienmacht-kritik-im-westen-fehlanzeige/
[14] https://sicht-vom-hochblauen.de/ein-verraeter-weniger-selenskyj-beaufsichtigt-eine-kampagne-der-ermordung-entfuehrung-und-folterung-politischer-oppositioneller-von-max-blumenthal-und-esha-krishnaswamy/
[15] https://uebermedien.de/76092/hier-wird-ein-bild-gezeichnet-was-nicht-das-wahre-bild-des-ndr-ist/
[16] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/schleswig-holstein_magazin/Kein-Beleg-fuer-politischen-Filter-beim-NDR-in-Kiel,shmag97670.html
[17] https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-samstag-195.html
[18] https://overton-magazin.de/krass-konkret/anschlag-auf-die-krimbruecke/
[19] http://ruestungsexport-info.de/ruestung-recht/grundgesetz-ruestungsexport.html
[20] https://www.suhrkamp.de/buch/thomas-meyer-die-unbelangbaren-t-9783518126929
[21] https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-1072447.html
[22] https://amerika21.de/analyse/224027/venezuela-manipulation-mit-staatsvertrag
[23] https://lostineu.eu/neues-vom-wirtschaftskrieg-129-bruessel-rechnet-mit-blackouts/
[24] https://dailycaller.com/2022/10/06/zelensky-pre-emptive-nato-strikes-russia-putin-nukes/
[25] https://www.ndr.de/der_ndr/zahlen_und_daten/staatsvertrag202.pdf
[26] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-frontverlauf-ratifizierung-annexion-101.html
[27]  https://www.infosperber.ch/medien/russische-sender-verboten-ein-fragwuerdiger-eu-entscheid/
[28] https://www.wissen57.de/willy-brandt-ohne-frieden-ist-alles-nichts.html
[29] https://www.rnd.de/politik/krieg-in-der-ukraine-olaf-scholz-betont-wir-werden-nicht-militaerisch-eingreifen-TC27KRJRGFCVJJKZMEF4MJZISA.html
[30] https://www.merkur.de/politik/ukraine-news-krieg-russland-deutschland-soeder-scholz-reaktionen-politil-waffenlieferungen-zr-91569626.html
[31] https://overton-magazin.de/krass-konkret/umfrage-mehrheit-der-deutschen-will-dass-der-westen-friedensverhandlungen-anstoesst/
[32] https://kritisches-netzwerk.de/forum/polizeigewalt-beim-g20-gipfel-hamburg-2017-keine-einzige-anklage
[33] https://kriegsgebiet.com/2022/10/07/keine-kriegspartei-scholz-lobt-deutsche-waffen-in-der-ukraine-sie-waren-bei-der-gegenoffensive-besonders-effektiv/
[34] https://www.domradio.de/artikel/jemen-krieg-fordert-bislang-fast-400000-todesopfer
[35] https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/monitor/videosextern/ruestungsexporte-nach-saudi-arabien-oel-statt-menschenrechte-100.html
[36] https://www.tagesschau.de/inland/offener-brief-ukraine-verhandlung-101.html
[37] https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-51943.html
[38] https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-53521.html
[39] https://www.tagesschau.de/inland/regional/nordrheinwestfalen/wdr-story-50907.html
[40] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/proteste-153.html
[41] http://johnpilger.com/articles/silencing-the-lambs-how-propaganda-works-
[42] https://www.youtube.com/watch?v=t3ZJJTQxMhM
[43] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/deutsche-einheit/bush-fordert-ein-ungeteiltes-europa-403522
[44] https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-buch-meines-lebens-franz-jung-der-weg-nach-unten-100.html

Anmerkung der Autoren: Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Grafikquellen          :

Oben     —   Aktivist*innen von Extinction Rebellion spielen Koalitionsverhandlungen von SPD, Grüne und FDP (vlnr Christian Lindner, Olaf Scholz, Analena Baerbock, Robert Habeck)

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Menschen in der Arbeitswelt

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Oktober 2022

Die Jungen sollten noch viel weniger arbeiten!

Von Nicole Opitz

Unsere Eltern konnten sich von ihrer Lohnarbeit vielleicht mal ein Reihenhaus kaufen – das ist vorbei. Liebe Ältere, zeigt mal mehr Solidarität.

Es war vielleicht in der 6. Klasse, da schrieb eine meiner Lehrer:in­nen an die Tafel: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ – „Was glaubt ihr, wie alt das Zitat ist?“, fragte die Lehrkraft. Ich erinnere mich daran, wie erstaunt wir waren, dass das Zitat von Sokrates stammt und 2.000 Jahre alt ist. Ich wünschte, ich könnte erzählen, dass wir danach die Beine auf den Tisch gelegt haben. Aber der Unterricht ging ganz normal weiter.

Das Zitat von Sokrates geht dieser Tage auch durch die Kommentarspalten der taz, denn vergangene Woche schrieb eine Kollegin an der gleichen Stelle, dass die „Jungen“ nicht mehr arbeiten wollen und meinte damit vor allem Millennials – also Menschen, die um die Jahrtausendwende geboren wurden. Sie wollten Freizeit, Freiheit, Homeoffice und dazu noch flexible Arbeitszeiten.

Das Echo auf den Text war groß – Wut, Verwunderung und Zuspruch, es war alles dabei. Am Mittwoch gab es auf dem Forum Reddit vier Subreddits zum Thema mit mehr als 900 Kommentaren. Ich glaube, dass im Sokrates-Zitat der Kern dessen steckt, woran viele schier verzweifeln: Manchen Boomern fehlt der Perspektivwechsel. Die Lebensrealität aus der Jugend der Älteren ist nicht vergleichbar mit der gegenwärtigen Wirklichkeit. Anders gesagt: Das Arbeitsmodell aus dem 20. Jahrhundert passt nicht zum Leben des 21. Jahrhunderts. Trotzdem läuft es seit Jahrzehnten irgendwie gleich mit der 40-Stunden-Woche, aber auf die komme ich später nochmal zurück.

Unsere Eltern konnten sich von ihrer Lohnarbeit vielleicht mal ein Reihenhaus kaufen. Für mich ist das so schwer vorstellbar, ich hämmere es mehrmals in die Tastatur, weil meine Finger „Wohnung“ statt „Reihenhaus“ tippen. Dabei können sich viele Millennials auch keine Wohnung leisten. Der Begriff Millennial an sich ist übrigens nicht unproblematisch, weil ich da als vergleichsweise privilegierte weiße Journalistin genauso drunter falle wie eine schwarze Person, die im strukturell rassistischen Deutschland ganz anderen Herausforderungen gegenübersteht.

Warum gibt es eigentlich die 40-Stunden-Woche noch?

Laut Statistik verdient dieses Konstrukt „Millennial“ zwar mehr als die Menschen in allen Generationen vor ihm – gestiegene Lebenshaltungskosten und die Inflation sorgen aber dafür, dass Millennials durchschnittlich weniger davon haben. In den USA sind Boomer laut Business Insider zehn Mal so reich wie die Generation Jahrtausendwende.

Viele fragen sich: Warum Überstunden machen für einen Job, der uns nicht mehr geben kann, was unsere Eltern wollten? Zudem wissen wir inzwischen, dass zu viel Lohnarbeit krank macht – laut dem DAK-Gesundheitsreport haben 8,6 Millionen Menschen ein erhöhtes Herzinfarkt-Risiko durch eine psychische Erkrankung oder arbeitsbedingten Stress.

 

Im Jahr 2021 machten Ar­beit­neh­me­r-in­nen laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linken etwa 1,3 Milliarden Überstunden. Etwa 700 Millionen davon wurden nicht bezahlt – und Betriebe profitieren davon mit einem zweistelligen Milliardenbetrag. Besonders profitieren sie von Arbeitnehmer-innen, die befristet angestellt sind. Im Homeoffice sammeln die meisten etwa vier Überstunden pro Woche, im Büro „nur“ 2,7. Auch unter den vielen Überstunden leiden Beschäftigte: So schreibt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin davon, dass „die Variabilität der Arbeitszeit als ungünstig für die Gesundheit von Beschäftigten zu bewerten“ sei. Und: „Die Arbeit findet dann häufig zu ungünstigen Zeiten statt, worunter auch die soziale Strukturierung des Lebens leiden kann.“

Anders gesagt: Der Kinoabend mit Freun­d-in­nen wird verschoben, weil etwas auf der Arbeit nicht ohne Überstunden funktioniert. Viele machen das nicht mehr mit, einige Jour­na­lis­t:in­nen schreiben schon über „quiet quitting“, einen angeblichen Trend, bei dem die Ar­beit­neh­me­r-in­nen nicht mehr machen als von ihnen verlangt wird. Für mich klingt allein schon die Bezeichnung nach Arbeitgeber-innen-Perspektive. Warum sollte es denn nicht okay sein, wenn man nicht mehr Aufgaben macht als bezahlt werden?

Ich glaube nicht daran, dass sich unablässig produktiv arbeiten lässt. Das Gehirn braucht Pausen. Und: Arbeit kann Sinn schaffen, für manche Menschen sogar Lebenssinn sein, sie muss es aber nicht. Für viele ist es einfach der Weg, die in den letzten Jahren gestiegenen Lebenskosten zu bezahlen, und dafür macht man nicht alles mit, was Ar­beit­ge­be­r-in­nen von einem wollen. Sie arbeiten, um zu leben, nicht umgekehrt.

Zumal Fachkräftemangel herrscht und die Verhandlungsposition junger, einigermaßen okay ausgebildeter Menschen so gut ist wie seit Jahren nicht mehr. Hat uns der Kapitalismus nicht gelehrt, dass das Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen? Na also: deal with it!

Quelle        :       TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Early 20th Century German illustration from 1902 Jugend Magazine publication from Austria

  

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Unten        —    Ein altes französisches Ehepaar, M. und Mme. Baloux aus Brieulles-sur-Bar, Frankreich, seit vier Jahren unter deutscher Besatzung, begrüßt Soldaten der 308. und 166. Infanterie bei ihrer Ankunft während des amerikanischen Vormarsches. Nation WWI Museum Bildunterschrift: „Offizielle A.E.F.-Fotos, die vom Signal Corps aufgenommen wurden: „Mitglieder der Kompanie I, des Dreihundertachtundachtzigsten Regiments Infanterie, der siebenundsiebzigsten Division und der Kompanie I, Einhundertsechsundsechzigstes Regiment Infanterie (ehemals Vierte Ohio Infanterie), Zweiundvierzigste Division, werden von Herrn und Frau Baloux, einem alten Ehepaar, das vier Jahre lang gefangen war, befragt. Von links nach rechts: Philip Tanger von der siebenundsiebzigsten Division und Allen Floyd von der zweiundvierzigsten Division. Brieulles sur Bar [sic], Ardennen, Frankreich. 6. November 1918.“

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KOLUMNE Fernsicht-Polen

Erstellt von DL-Redaktion am 24. September 2022

Kann ein illiberales Land Europa an die Hand nehmen?

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Von    :     Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz

Wir hätten auf die Polen hören sollen“, sagt uns ein deutscher Journalist in einem Berliner Café. Solche Formulierungen sind in letzter Zeit alltäglich geworden.

Ursula von der Leyen, die Chefin der Europäischen Kommission, hat sich ähnlich geäußert und auch die finnische Regierungschefin Sanna Marin.

Worte der Reue werden gegenüber Warschau und anderen Ländern laut, die vor Moskaus Expansionspolitik gewarnt hatten. Dabei geht es nicht nur um das russische Gas, sondern auch um die Würdigung der dunklen Erfahrung des russischen Imperialismus, der in Polen und anderen Ländern der Region seit 300 Jahren präsent ist.

Trotz der dramatischen Situation fällt es uns schwer, nicht eine gewisse Genugtuung darüber zu empfinden, dass endlich die osteuropäische Sichtweise berücksichtigt wird. Nur dass die Angelegenheit im Falle Polens besonders heikel ist. Kann ein illiberales Land die Richtung in der EU-Politik vorgeben? Bis vor Kurzem nahmen Warschau und Budapest zwar schon eine Führungsrolle ein – allerdings nur für den illiberalen Populismus. Vor allem Budapest erregte die Aufmerksamkeit als Vorhut dieser populistischen Revolution. Gideon Rachman hat in seinem Buch „The Age of the Strongman“ darauf hingewiesen, dass Victor Orbán unter nichtliberalen Politikern einer der prominentesten ist.

Aber die Situation hat in letzter Zeit verändert. Polen befand sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine in einer neuen geopolitischen Situation. Die geopolitische Schwäche, die jahrhundertelang in der Nähe zu Russland bestand, erwies sich plötzlich als Stärke, denn hier konnte ein Waffenversandzentrum für die Ukrainer geschaffen werden.

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Zudem haben Warschau und Budapest in den letzten Monaten unterschiedliche Posi­tio­nen eingenommen. Während Viktor Orbán Sympathien für den russischen Präsidenten zeigt, findet sich Jaroslaw Kaczyński im Lager seiner schärfsten Kritiker wieder. Und die polnische Gesellschaft hat Millionen von Flüchtlingen unter ihrem Dach aufgenommen.

Vielleicht lohnt es sich, für eine Weile vom „business as usual“ abzuweichen

Ist es nicht mehr angebracht, Polen zu kritisieren? Hat sich die Regierung in Warschau nun ein Alibi verschafft, um populistische Macht auszuüben, die Unabhängigkeit der Justiz und der öffentlichen Medien zu zerstören?

Für Menschen wie uns, die die letzten Jahre damit verbracht haben, zu analysieren, was mit Polen nach 2015 passiert ist und warum die Wähler beschlossen haben, den Weg, den unser Land 1989 eingeschlagen hat, zu verlassen, ist diese Veränderung zu ernst, als dass wir uns nicht gründlich damit beschäftigen sollten. Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Kritik an Polen kein Ende nahm. Sowohl die Euro­päi­sche Kommission als auch der Straßburger Gerichtshof haben daraufhin gehandelt. Nun scheinen viele Menschen und Ins­titu­tio­nen in rätselhaftes Schweigen zu verfallen.

Quelle       :       TAZ-online        >>>>>         weiterlesen 

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Strafe muss sein

Erstellt von DL-Redaktion am 22. September 2022

Hartz IV heißt bald Bürgergeld

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Von Minh Schredle

Mit hanebüchenen Behauptungen über Hartz IV hetzen Medien wie die „Bild“-Zeitung die Armen gegen die Ärmsten auf. Auch das neue Bürgergeld ändert nichts daran, dass Erwerbslose einem zynischen Disziplinierungs- und Zwangssystem ausgesetzt bleiben, das schikaniert statt zu helfen.

Arbeitsethos und Armutsverachtung haben hierzulande eine lange Tradition. Ein mustergültiges Exempel findet sich in den „Reden an die deutsche Nation“. In dem 1808 erschienenen Werk belehrt der Philosoph und Erzieher Johann Gottlieb Fichte: „Man erkundige sich nur näher nach den Personen, die durch ehrloses Betragen sich auszeichnen! Immer wird man finden, dass sie nicht arbeiten gelernt haben oder die Arbeit scheuen.“ Bei anderer Gelegenheit formulierte Fichte die Blaupause für einen neoliberalen Glaubenssatz. „Jeder muss von seiner Arbeit leben können, heißt der aufgestellte Grundsatz. Das Lebenkönnen ist sonach durch die Arbeit bedingt, und es gibt kein solches Recht, wo die Bedingung nicht erfüllt worden.“ In geistiger Kontinuität dazu verteidigte der ehemalige Bundesarbeits- und -sozialminister Franz Müntefering (SPD) die Hartz-IV-Reformen 2006 gegen interne Kritik seiner Partei auf einer Fraktionssitzung: „Wer arbeitet, soll etwas zu essen haben, wer nicht arbeitet, braucht nichts zu essen.“

Dass die Drohung durchaus ernst gemeint war, zeigte die Sanktionspraxis gegen Erwerbslose, durch die existenzsichernde Regelsätze für Hartz-IV-Bezieher:innen 14 Jahre lang auf Null gekürzt werden konnten – ehe das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 5. November 2021 feststellte, dass sich ein solches Vorgehen nicht mit dem Grundgesetz vereinen lässt.

Zwar billigten die Richter:innen in Karlsruhe, dass der Gesetzgeber „erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen“ könne. Bei Kürzungen „existenzsichernder Leistungen, fehlen der bedürftigen Person allerdings Mittel, die sie benötigt, um die Bedarfe zu decken, die ihr eine menschenwürdige Existenz ermöglichen“. Unverhältnismäßig erschienen dem Gericht daher Sanktionen, die den als Grundsicherung konzipierten Regelsatz um mehr als 30 Prozent reduzierten. Zudem bemängelten die Richter:innen, dass zum Zeitpunkt des Urteils keine wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit der Sanktionspraxis vorlag.

Sanktionen wirken – aber nicht wie beabsichtigt

Auch ohne wissenschaftlich gestützte Erkenntnisse war das Bundesverfassungsgericht allerdings überzeugt: Eine „Leistungsminderung in Höhe von 30 % des Regelbedarfs ist im Ergebnis eine generelle Eignung zur Erreichung ihres Zieles, durch Mitwirkung die Hilfebedürftigkeit zu überwinden, nicht abzusprechen“, da sich der Gesetzgeber auf die plausible Annahme „einer abschreckenden ex ante-Wirkung“ (also Vorab-Wirkung) stützen könne. Doch nicht immer ist das Bauchgefühl berechtigt. So wurde am 12. September dieses Jahres die erste und bislang einzige Studie zum Effekt der Hartz-IV-Kürzungen präsentiert. „Sanktionen haben eine Wirkung“, kommentiert Helena Steinhaus das Ergebnis, „aber nicht die beabsichtigte.“

Der Verein Sanktionsfrei, dem die Sozialaktivistin Steinhaus vorsitzt, hat das Berliner Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung mit der Untersuchung „HartzPlus“ beauftragt. Über den Zeitraum von drei Jahren, von Februar 2019 bis Februar 2022, wurden die 585 an der Studie teilnehmenden Hartz-IV-Bezieher:innen in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine bekam zugesagt, bei allen Sanktionen einen bedingungslosen finanziellen Ausgleich aus der Vereinskasse von Sanktionsfrei zu erhalten; die andere erhielt keinerlei Kompensation. Im Ergebnis sei laut Steinhaus festzustellen, dass Sanktionen „keinen positiven Effekt auf die Kooperationsbereitschaft“ hätten, dass sie nicht dabei helfen würden, Menschen wieder in Arbeit zu bringen, sondern „im Gegenteil: Die stärkste Wirkung, die von Sanktionen ausgeht, ist Einschüchterung und Stigmatisierung“. Allein die Androhung, das Existenzminimum zu kürzen, „verstärkt bei den Betroffenen ein Gefühl von Ausweglosigkeit und Isolation und kann auch Krankheiten verursachen“.

Eine anonymisierte Person, die an der Studie teilgenommen hat, schildert ihre Erlebnisse: „Mir geht es nicht gut mit dem Druck, der vom Jobcenter ausgeübt wird, mit den Drohungen, die da auch teilweise kommen, mir geht es mit alledem überhaupt nicht gut. Und, ich versuche das mit psychotherapeutischer Hilfe aufzufangen.“ Zwar gibt es auch Hartz-IV-Bezieher:innen, die die Arbeit der Job-Center als Hilfe empfinden. Allerdings berichten die befragten Personen laut Studie „häufiger über einschränkende als über unterstützende Erfahrungen“ und dass sie sich der Behörde „in hohem Maße ausgeliefert“ fühlen würden. Die Untersuchung gelangt zu dem Schluss: „Das psychosoziale Wohlbefinden wird durch das System ‚Hartz IV‘ beeinträchtigt und das ganz unabhängig davon, ob Sanktionen erfolgen oder diese finanziell ausgeglichen werden.“

„Tiefschwarze Rohrstockpädagogik“

Vor dem Hintergrund von Sanktionen, die ihr Ziel einer Wiedereingliederung in die Arbeitswelt verfehlen, erscheint der Umgang mit Erwerbslosen in der Bundesrepublik weniger als Unterstützung denn als Schikane. Kürzungen des Existenzminimums bezeichnet Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, als „tiefschwarze Rohrstockpädagogik“, die abgeschafft gehöre. Der Soziallobbyist hatte vor dem Kabinettsbeschluss der Bundesregierung zum Bürgergeld betont, es gehe „ganz grundsätzlich um die Frage, wie geht diese Gesellschaft, dieser ungeheuer reiche Staat, mit seinen Ärmsten um“. Und dabei müsse klar sein: „Wenn die Bundesregierung jetzt beim Label Bürgergeld zu kurz springt, werden für viele Jahre alle Chancen vertan sein, zu einer echten Reform zu kommen.“

Quelle         :        KONTEXT-Wochenzeitung-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben      —      Mehr als 2.000 Teilnehmer demonstrieren für ein Bedingungsloses Grundeinkommen auf der BGE-Demonstration am 14. September 2013 in Berlin

Basic Income Demonstration in Berlin

Author stanjourdan from Paris, France
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Unten       —   Das neue Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer (1896)

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Queen – Trauer auf Twitter

Erstellt von DL-Redaktion am 21. September 2022

Die Queen ist ein Relikt, das für eine alte Ordnung und durch Geburt festgelegte Hierarchien steht.

Ähnlich dem Kölschen Karneval nur ohne Kamelle 

Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Traurig, wie viele sich offenbar danach zurücksehnen. In diesem Moment können die Privilegien eines Einzelnen ihn nicht mehr aus der Schlange mit allen anderen freikaufen.

The Queen and the Royals are not my cup of tea. Sie sind mir etwa so gleichgültig wie ich ihnen, nur kriege ich leider mehr über sie mit. Diese Haltung hab ich wohl von meinen kroatischen Verwandten. Mein Lieblingsonkel etwa kommentiert die Tode berühmter Menschen, die gesund ins hohe Alter kamen, immer nur mit einem Satz: „Ein gesegnetes Leben.“ Bei der Queen fügte er mit einem Augenbrauenziehen den folgenden hinzu: „Vor dem Tod sind alle gleich.“ Als ich versuche, mit ihm über die Queen zu reden, sagt er: „Sie würde über mich auch nicht reden und schon gar nicht weinen.“

Es ist die Selbstbezogenheit eines alten Mannes, der jahrzehntelang darum gekämpft hat, sich ein wenig Status und Besitz zu erarbeiten, bis sein Körper zu müde für fast alles wurde und er nur noch schildkrötenartig im Schatten an seinem Esstisch sitzt. Ich mag seinen sturen Stolz. Und selten waren mir die Briten so fremd wie in diesen Tagen.

Vor dem Tod sind alle gleich, das ist auch der Satz, den ich automatisch denke, als ich die Nachricht vom Tod der Queen lese, weil er der Satz ist, den meine alten Verwandten nach dem Tod der Reichen und Berühmten immer sagen. Und wie sie ihn sagen! Ich sehe, wie sie leise aufatmen in solchen Momenten, vor allem, wenn jemand mit gesunden 96 Jahren stirbt. Es ist das Aufatmen von Menschen, die immer in der zweiten, dritten oder vierten Reihe standen, weil es ihn wirklich gibt, diesen Moment, in dem die unvorstellbaren Privilegien eines Einzelnen ihn nicht mehr aus der Schlange mit allen anderen freikaufen können.

Durch das Sterben der Queen wurde aber auch schnell klar: Vor dem Tod sind alle gleich, doch nach dem Tod sind wir es wieder nicht. Über Tage zieht sich das Trauern, eine der längsten Warteschlangen in der Geschichte der Wartschlangen, um der Queen die letzte Ehre zu erweisen, die mediale Dauerpräsenz, die darin gipfelte, das königliche Begräbnis auf ARD und ZDF zu senden, als wollte man selbst für eine Zusammenlegung der beiden plädieren. Tagelang. Abschied von der Queen, die Queen als junge Frau, die Queen als Königin, nichts als Überhöhung – man nannte es Würdigung.

Ich finde kollektives Trauern auf Twitter ohnehin schwierig, die digitale Trauerpalette von „R.I.P. (mit Foto darunter)“ bis hin zu „Mein unvergesslicher Moment mit der Queen … (bestenfalls Foto darunter)“ ist mir peinlich. Nie bin ich mir und sind mir andere fremder, als wenn auf Twitter getrauert wird. Nach dem Tod der Queen aber krochen royale Tiefenschürfer aus den Löchern, sie prahlten mit ihren Titelkenntnissen, korrigierten die Fernsehmoderatorinnen, wenn sie höfische Namen falsch übersetzten, kommentierten stundenlang die stundenlangen Fernsehübertragungen, als ginge sie das alles wirklich etwas an. Freunde des Hofes einigten sich meist schnell auf den Hass gegen Meghan (Herzogin von Sussex, nicht mehr Markle), weil die Queen sie angeblich nicht ertragen habe. Einige Schwarze, die es nicht ertrugen, wie man die Schattenseiten des Commonwealth zurückstellte, wurden als pietätlos gescholten, sie ließen die Queen nicht in Ruhe sterben.

Welch Schande das Scheiben spiegeln, viele der anwesenden Politiker-innen mussten doch ihr Gesicht zeigen.

Müssen sie das wirklich? Wenn es um Pietät geht, wo bleibt sie bei den namenlosen Opfern der Geschichte? Wer erweist deren Familien die letzte Ehre? Warum ist es für viele so unerträglich, wenn Menschen schreien: Ihr trauert um die Privilegiertesten, während täglich Menschen sterben, die euch gleichgültig sind? Nein, so ein Aufschrei sei zu billig, zu plakativ! Als wäre das königliche Protokoll nicht plakativ und als hätten Menschen nicht trotz allem das Recht, die Welt, wie sie ist, von Grund auf infrage zu stellen.

Feuilletonisten schreiben dann schnell mal einen Text über die populistischen Züge der Monarchiekritik. Besserwisserei sei das. Ich frage mich, wie solche Leute sich das 21. Jahrhundert vorstellen und ob es in ihren Augen okay war, dass im letzten Jahrhundert einige Besserwisser es geschafft haben, die absolutistischen Herrscher zu stürzen und der Demokratie den Weg zu ebnen? Ist es nicht ein legitimer Wunsch, dass man im 21. Jahrhundert den nächsten Schritt gehen und auch die konstitutionelle Monarchie beendet sehen möchte? Im aktuellen Geschäftsjahr erhielt das britische Königshaus 86,3 Millionen Pfund – man muss sich das nicht leisten wollen.

Quelle        :       TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —       Königin Elizabeth II Beerdigung 19 09 2022-69.jpg

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Queen Begräbnis :

Erstellt von DL-Redaktion am 21. September 2022

„Die Welt nimmt Abschied“

Datei:Queen Elizabeth II Funeral 19 09 2022-87 (52369805294).jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :    Eckhard Mieder

Milliarden Menschen schauen zu, raunen die Kommentatoren. (Und denken im Stillen: Und hören meine Stimme.)

Acht junge Männer braucht der Sarg zum Tragen, hin und her zwischen Lafette und Abtei, zwischen Leichenwagen und Kapelle.

Sie haben die schwerste Aufgabe, neben der Last, Trauer zu tragen im rhythmischen Schritt-fürSchritt; das Bärenfell auf dem Kopf sind sie

zeitweilig los, es wird von zweien ihresgleichen eingesammelt und gestapelt wie ein Kissen mit Orden vor dem Bauch dahingetragen.

In ihren Kostümen, Uniformen genannt, paradiert die halbe Armee Britanniens; ein schwarzes Gesicht wird gezeigt, ein paar Frauen.

Musik wie in Basel um vier Uhr morgens am Montag nach Aschermittwoch wenn Tausende Trommler und Pfeifer den „Morgenstraich“ erklingen lassen.

Milliarden Menschen schauen zu, raunen die Kommentatoren, abgesehen von den Millionen Menschen die gestorben sind (oder geblendet)

in den Kolonien, in den Ländern des Empire, als Sklaven, als Söldner; zwei Kinder sehen vor ihren Augen die Uroma in der Erde verschwinden.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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London. / James Boyes (CC BY 2.0)

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Jetzt hilft nur Transparenz

Erstellt von DL-Redaktion am 16. September 2022

Angola befindet sich nach den fragwürdigen Wahlen in einer gefährlichen Phase.

Deutsch: Blick über den Osten Luandas, Angola, im Hintergrund die Halbinsel Restinga Português: Vista do leste de Luanda, com a península da Restinga ao fundo.

Ein Debattenbeitrag von Jakob Hensing

Nur noch die Offenlegung aller Ergebnisse kann die Lage entschärfen. Das schlechte Ergebnis der MPLA ist Ausdruck einer tiefen Frustration der gebildeten Bevölkerungsschichten.

Angola steht angesichts eines umstrittenen Wahlausgangs Ende August am Scheideweg. Ein Aufbruch des seit der Unabhängigkeit von Portugal 1975 ununterbrochen von der Volksbewegung für die Befreiung Angolas (MPLA) regierten Landes in eine neue Ära der Mehrparteiendemokratie ist ebenso möglich wie ein Rückfall in autokratische Repression. Internationale Akteure haben auf den Ausgang begrenzten Einfluss, sollten sich aber dennoch klar für die Einhaltung absoluter demokratischer Mindeststandards positionieren.

Wie im Vorfeld von vielen Be­ob­ach­te­r*in­nen prognostiziert, ist die MPLA bei den Wahlen erheblich unter Druck geraten. Laut offiziellem Ergebnis konnte sie zwar mit 51,17 Prozent gerade noch die absolute Mehrheit erringen und ihrem Parteiführer João Lourenço eine weitere Amtszeit als Präsident bescheren. Das Ergebnis wird jedoch von der unterlegenen Opposition um Adalberto Costa Júnior (UNITA) angefochten.

Diese Entwicklungen haben auch über die Landesgrenzen hinaus Relevanz: Als einer der größten afrikanischen Ölexporteure ist das Land eine bedeutende Regionalmacht; auch Deutschland bezeichnet Angola als „strategischen Partner“. Zudem dürften andere dominierende Parteien im südlichen Afrika wie der ANC in Südafrika, Frelimo in Mosambik oder SWAPO in Namibia die Kontroverse aufmerksam verfolgen und daraus ihre Schlüsse für den Umgang mit politischen Herausforderern im jeweils eigenen Land ziehen.

Vor allem dank der angolanischen Zivilgesellschaft gibt es diesmal für die Einordnung der seitens UNITA vorgebrachten Beschwerden eine bessere Grundlage als noch bei den ebenfalls umstrittenen vorherigen Wahlen 2017. Neben Belegen für diverse lokale Unregelmäßigkeiten verbreiteten Ak­ti­vis­t*in­nen vielfach Fotos der obligatorischen Ergebnisaushänge direkt an den einzelnen Wahllokalen. Diese deuten stark darauf hin, dass die MPLA vor allem in der Hauptstadt Luanda und anderen größeren Städten deutlich unterlegen war. Zumindest für Luanda spiegelt sich dies auch im offiziellen Ergebnis wider. Dies allein ist eine beachtliche Entwicklung, da die MPLA historisch stark in diesen urbanen Zentren verankert ist. Die UNITA hingegen konnte sich erst bei diesen Wahlen wirklich vom Image einer Rebellenarmee lösen, die sich im bis 2002 anhaltenden Konflikt oft als Vertreterin des Hinterlands inszenierte und zeitweise erhebliche Teile des Territoriums kontrollierte.

Das schlechte Ergebnis der MPLA vor allem in Luanda ist Ausdruck einer tiefen Frustration gerade in gebildeten Bevölkerungsschichten darüber, dass die Partei den Ressourcenreichtum des Landes kaum in breite Wohlstandsgewinne umgemünzt hat. Daran änderten auch massive In­fra­struk­tur­in­ves­ti­tionen und ein durch hohe Ölpreise begünstigtes Strohfeuer des Wirtschaftswachstums in den ersten Jahren nach Ende des Bürgerkriegs nichts. Stattdessen eskalierte die Konzentration des Reichtums in den Händen einer kleinen Gruppe politisch vernetzter Personen, die diesen zudem vor allem in der Hauptstadt oft ostentativ zur Schau stellen.

Dass die MPLA in der ländlichen Peripherie, wo die zivilgesellschaftliche Beobachtung weniger engmaschig war, Erfolge erzielt haben könnte, ist nicht ausgeschlossen. Dass diese aber ausgereicht haben sollten, um die Verluste in den bevölkerungsreichen Städten auszugleichen, wird von vielen Ver­tre­te­r*in­nen in Opposition und Zivilgesellschaft in Frage gestellt. Bezeichnenderweise hat die nationale Wahlkommission CNE lediglich Ergebnisse auf Provinzebene veröffentlicht.

Die Wahlbeobachtungsmissionen der Gemeinschaft portugiesischsprachiger Länder (CPLP), der Afrikanischen Union und der Entwicklungsgemeinschaft für das südliche Afrika (SADC) sowie andere internationale Akteure sind bisher um klare Worte verlegen. Es ist richtig, die Wirkung der eigenen Kommunikation vor Ort sorgfältig abzuwägen – eine allzu lautstarke Positionierung des Auslands ist nicht immer das richtige Mittel. Bedenklich ist aber, dass etwa seitens des früheren portugiesischen Vizepremiers Paulo Portas, der vor Ort als Wahlbeobachter fungierte, der Fokus bereits auf mögliche Verhandlungen zwischen MPLA und UNITA gerichtet wird. Solche Signale bedrohen das ohnehin fragile Vertrauen in den demokratischen Prozess. Die bloße Herstellung von Transparenz und schlüssige Aufbereitung des Wahlergebnisses darf nicht politische Verhandlungssache werden.

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Oben     —     Blick über den Osten Luandas, Angola, im Hintergrund die Halbinsel RestingaPortuguês: Vista do leste de Luanda, com a península da Restinga ao fundo.

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Unten        —     Straßen und Gebäude von Luanda. Foto von Fabio Vanin, Luanda, 2013.

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von DL-Redaktion am 16. September 2022

Wenn auf einen Seitenwechsel ein Seitenwechsel folgt

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Eine Kolumne von Stefen Grimberg

Ulrich Wilhelm war früher Regierungssprecher, später BR-Intendant. Jetzt ist er „ein bisschen Verleger“ der „FAZ“.

Seitenwechsel werden in Deutschland gerne argwöhnisch beäugt. „Schuster*in, bleib bei deinen Leisten“ ist das Motto. Problematisch wird das bei Menschen, die keinen richtigen Beruf haben. Zu dieser Spezies gehören zum Beispiel Politiker*innen. Die müssen am Ende der Laufbahn etwas werden, Spar­kas­sen­prä­si­den­t*in, Auf­sichts­rä­t*in oder Pu­tin­ver­ste­he­r-in.

Wenn es ganz schlimm kommt, wird so eineR dann öffentlich-rechtliche Inten­dan­t*in. „Hä, wieso das offizielle Personalaustauschprogramm Seitenwechsel der Bundesregierung von 2004 sieht’s doch vor?“, meint die Mitbewohnerin. „Das PAP-Ziel heißt, ‚bestehende Grenzen zwischen den Sektoren abzubauen und Wissenstransfer zu ermöglichen.‘“

Merkels ehemaliger Regierungssprecher Ulrich Wilhelm hat zwar an dem Programm nicht teilgenommen, wäre aber ein prima PAP-Praktikant. Das „lächelnde Fallbeil“, wie ihn diese Zeitung mal nannte, wurde aus der Regierung heraus Intendant des Bayerischen Rundfunks. Dort exekutierte er das zur BR-DNA wie das Hofbräuhaus zu München gehörende „Bayern first“ und ging dem Rest der ARD mächtig auf den Wecker.

Zum Glück war das eine Zeit knapp vor dem Verschwörungsgeraune von den Staatsmedien. Auch de facto von der katholischen Kirche geführte Gremien wie der BR-Rundfunkrat oder üppige Dienstwagen-Zulassungen gingen damals noch voll in Ordnung. Und Wilhelm war klug genug, rechtzeitig wieder weg zu sein. Nach zwei Amtszeiten, in denen er den BR gekonnt digital umkrempelte, machte er im Januar 2021 die Biege.

Hochgradig untertrieben

Aber Wilhelm wäre nicht Wilhelm, hätte er nicht gleich den nächsten Ganzseitenumbruch vollführt. Wohl kein Blatt legt sich schon so lange, zäh und ausdauernd mit den Öffentlich-Rechtlichen an wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Und wer hatte diese Woche Dienstag in der Anmeldeschlange beim Zeitungsverleger-Kongress was zu lächeln? Ulrich Wilhelm natürlich, schließlich ist er jetzt auch „ein bisschen Verleger“, wie er selbst sagt.

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Oben     —    Plakat „Doppelleben – Der Film“

Verfasser DWolfsperger         /          Quelle     :     Eigene Arbeit      /      Datum    :  1. August 2012

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

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Unten      —     Am Ende geht man nackt,BR,BR im Gespräch,Bayerischer Rundfunk,Franken-Tatort,Intendant BR,Preview,Tatort,Ulrich Wilhelm

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Es gibt noch Hoffnung

Erstellt von DL-Redaktion am 8. September 2022

Den ersten Entwurf einer neuen Verfassung haben die Chilenen abgelehnt.

Hommage an Michelle Bachelet von Circus Amok

Ein Debattenbeitrag  von Nicolas Guzman

 Aber die verlorene Abstimmung ist nur der Auftakt des verfassungsgebenden Prozesses. Im Jahr 2020 stimmten fast 80 Prozent der chilenischen Wähler für eine Änderung der Verfassung.

Das Ergebnis der Volksabstimmung in Chile zur vorgeschlagenen neuen Verfassung hat alle überrascht. Selbst die Gegner des Textes hätten nie gedacht, dass das Ergebnis so klar sein würde: Zwei von drei Wählern stimmten gegen den Entwurf.

So endete ein Prozess – oder wenigstens dessen erste Phase -, der im Oktober 2019 mit einer der wichtigsten sozialen Bewegungen in der Geschichte Chiles begann. Das Land möge demokratischere Strukturen erhalten, war der Wunsch, denen mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit folgen sollten, um das neoliberale System zu beenden, das noch durch die Diktatur Augusto Pinochets geprägt war.

Im Jahr 2020, ein Jahr nach den Protesten, stimmten fast 80 Prozent der chilenischen Wähler für eine Änderung der Verfassung, für die ein demokratisch gewählter Verfassungskonvent einen Entwurf erarbeiten sollte. Der Konvent setzte sich aus Repräsentanten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen zusammen, unter ihnen Feministinnen, Mitglieder der LGBTQ-Community, politisch Unabhängige und Indigene.

Der vom Verfassungskonvent nach zwölfmonatiger Arbeit vorgeschlagene Text konnte die Mehrheit der Chilenen jedoch nicht überzeugen. Warum? Das ist eine Frage, die zu beantworten einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Man muss bedenken, dass der Vorschlag eine Reihe von einschneidenden strukturellen Veränderungen beinhaltete: Rechtsstaatlichkeit, die Entprivatisierung der Wasserversorgung, die Anerkennung der indigenen Völker, das Recht auf Abtreibung und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen.

Doch es lassen sich bereits einige Faktoren erkennen, die das verheerende Ergebnis für die Unterstützer der Verfassungsänderung beeinflusst haben könnten.

Zunächst einmal war das Plebiszit die erste Wahl seit zehn Jahren, für die eine Wahlpflicht galt. Und die Linke hat nicht verstanden, dass angesichts einer Pflicht, wählen zu gehen, die Wählerschaft für die Volksabstimmung nicht die gleiche sein würde wie jene, die vor einigen Monaten den linken, liberalen, grünen und feministischen Kandidaten Gabriel Boric ins Präsidentenamt gebracht hat.

Zudem fällt es großen Teilen der Bevölkerung schwer, eine Verbindung zu sogenannten fortschrittlichen Themen aufzubauen, während ihr Land in einer Migrationskrise steckt, die Inflationsrate mehr als 13 Prozent erreicht und die Kriminalitätsrate hoch ist; Probleme, die seit Jahren keine Regierung in den Griff bekommen hat. Und das alles zusätzlich zu sich ständig verschärfenden internationalen Krisen.

Elisa Loncón, Repräsentantin des Mapuche-­Volkes und ehemalige Präsidentin des Verfassungskonvents, sagte, dass „die Niederlage auf individuellen und kollektiven Fehlern beruht“. Es gab Schuldzuweisungen an Andersdenkende, es fehlte an Debatten und manchmal trübte das Machtstreben einiger Konventsmitglieder das Verständnis für die anstehende Aufgabe.

Con Lula y Chávez en cola

Die rechten Parteien in Chile, die im Verfassungskonvent weniger als ein Drittel der Mitglieder stellten, erwiesen sich der Aufgabe ebenfalls nicht gewachsen. Im Gegenteil: Viele von ihnen, wenn nicht sogar die meisten, wollten schlicht den Prozess diskreditieren und die Debatte behindern. Schlimmer noch, sie produzierten Fake News, verbreiteten Lügen in den sozialen Medien und schürten Ängste.

Chile war ein deutliches Beispiel dafür, wie gefährlich Fake News während politischer Kampagnen sein können, die ohne Rücksicht auf die Folgen für das Land in Umlauf gesetzt werden. In den vergangenen Monaten kursierten in Chile so viele von ihnen, dass die Befürworter des Verfassungsvorschlages nicht in der Lage waren, auf alle Falschinformationen zu reagieren und eine klare Botschaft im Hinblick auf ihre tatsächlichen Vorschläge zu vermitteln.

Doch es ist nicht alles verloren. Die Chilenen lehnten den Vorschlag mehrheitlich ab, wollen aber eine neue Verfassung: Die Pinochet-­Verfassung ist für sie inakzeptabel. Chile hat in den vergangenen Jahren einige Fortschritte gemacht. Das Land versteht, dass es sich modernisieren muss, um die künftigen Herausforderungen meistern zu können.

Quelle         :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben       —  Hommage an Michelle Bachelet von Circus Amok von David Shankbone, New York City

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Eine Wurzel für Revolution

Erstellt von DL-Redaktion am 7. August 2022

Wie sich die Linke wieder in der Arbeiter-innenklasse verankern kann

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von    :   Lotta D. Classe  –   ajourmag.ch

Rein in die Gewerkschaften? Oder eine Kampagne gegen Klassismus und Diskriminierung von Armutsbetroffenen? Und wie passt Klassenpolitik mit Antirassismus und Feminismus zusammen? Die kommunistische Gruppe Angry Workers aus London meint: wir müssen uns wieder im Alltag der Arbeiter:innen-Klasse verwurzeln. Während sechs Jahren haben sie in der Londoner Lebensmittelbranche und Logistik gearbeitet und versucht, Selbstorganisation, Solidarität und Kämpfe in der Klasse zu stärken. Über ihre Praxis haben sie das Buch «Class Power. Über Produktion und Aufstand» geschrieben.

Wir schreiben das Jahr 2014. Einige Londoner Aktivist:innen aus linksradikalen und feministischen Gruppen packen ihre sieben Sachen und ziehen in den proletarisch und migrantisch geprägten Stadtteil Greenford in West-London – weitab der hippen Quartiere und der linken Szene. Inspiriert von den Kämpfen migrantischer Arbeiter:innen in der norditalienischen Logistikbranche suchen sie sich Jobs in der Logistik- und in der Lebensmittelbranche. Sie schliessen sich zur Gruppe Angry Workers zusammen, um als Revolutionäre in der Arbeiter:innen-Klasse, konkret in den Betrieben und Quartieren, Wurzeln zu schlagen. Den Ort ihrer Agitation wählen sie nach strategischen Gesichtspunkten: Greenford liegt im sogenannten Westlichen Korridor, der für die logistische Erschliessung Londons unverzichtbar ist. Dort liegt der grösste Flughafen Europas, der Heathrow Airport. Dieser stellt Londons globale Anbindung sicher. Und er ist der mutmasslich grösste Arbeitsplatz Grossbritanniens. Am Flughafen arbeiten um die 80’000 Menschen. Weitere 10’000 schuften in den umliegenden Lagerhäusern. In Greenford und dem nahegelegenen Perivale arbeiten weitere 15’000 in Lagerhäusern, 40’000 im (re-industrialisierten) Industriegebiet Park Royal. Die wichtigsten Industrien sind Warendistribution und Lebensmittelverarbeitung.

Für die Angry Workers war die Region aus mehreren Gründen strategisch vielversprechend: Die Nahrungsmittelindustrie und die Logistikbranche gehören zu den wichtigsten und wachsenden Branchen Grossbritanniens. In der Region gibt es eine beachtliche Konzentration industrieller und logistischer Arbeitsplätze. Die dort schuftenden Arbeiter:innen sind an einem strategisch elementaren Punkt im kapitalistischen Produktionsnetzwerk. Sie verfügen folglich über viel strategische Macht. Denn 60 Prozent aller Lebensmittel für die acht Millionen Einwohner:innen Londons werden im Westlichen Korridor abgefertigt, verpackt und verarbeitet. Trotz dieser für eine klassenkämpferische Linke interessante Konstellation interessiert sich laut den Angry Workers die Linke Londons – bestehend aus Corbyn-Fans, einer akademisch geprägten Linken und eingesessenen trotzkistischen Organisationen – kaum für den Stadtteil und seine Bewohner:innen.

Der strategisch machtvollen Position steht allerdings eine subjektive Machtlosigkeit und organisatorische Schwäche gegenüber. In Greenford wohnt und arbeitet ein multinationales Prekariat. Die Behauptung Westeuropa sei eine postindustrielle Gesellschaft offenbart sich hier als Gerede. Taylorisierte Arbeitsprozesse sind weit verbreitet, das Arbeitstempo hoch, die Monotonie zermürbend. Die Manager spielen verschiedene Geschlechter und migrantische Gruppen gegeneinander aus. Greenfords Arbeiter:innenklasse ist grossteils aus Südasien und Osteuropa migriert. Dass das Migrationsregime und die kapitalistischen Arbeitsmärkte zusammenhängen ist hier offensichtlich: Migrantische Arbeiter:innen müssen etwa bestimmte Bedingungen erfüllen, um den Aufenthaltsstatus nicht zu verlieren. Das verursacht grossen Stress und macht sie erpressbar. Daher muss eine erfolgreiche Klassenpolitik stets intersektional sein und die politischen Spaltungen der Klasse sowie Diskriminierungen entlang von race und gender ernst nehmen. Weitverbreitet sind zudem «Null-Stunden-Verträge». Das heisst, Arbeiter:innen haben keine garantierten Arbeitsstunden und sie wissen nie, ob ihr Lohn bis ans Monatsende reichen wird. Das Management instrumentalisiert dies und bemüht sich, einen Wettbewerb unter den prekären Arbeitskräften zu entfesseln. Die Arbeitsverhältnisse und Managementformen in Greenford sind also beispielhaft für einen wachsenden Teil des Proletariats Grossbritanniens (und darüber hinaus). Daher, so die Überlegung der Angry Workers, ist es umso wichtiger, wirkmächtigen Gegenstrategien zu finden, die diesem Teil der Arbeiter:innen-Klasse Erfolge ermöglichen.

Solidaritätsnetzwerk und Zeitung

Wie gehen die Angry Workers vor? Wichtige Mittel ihrer Organisierung sind ein Solidaritätsnetzwerk und eine eigene Zeitung. Diese spielen zusammen: beim Verteilen der Zeitungen kommt man ins Gespräch, im Solidaritätsnetzwerk sucht man gemeinsam nach Lösungen. Die Zeitung berichtet darüber. Das Solidaritätsnetzwerk nimmt zudem den Alltag jenseits der Lohnarbeit in den Blick. Denn insbesondere migrantische Arbeiter:innen sind in den alltäglichen Gängeleien von Behörden und Bossen vereinzelt. Das Solidaritätsnetzwerk will mit gegenseitiger Hilfe und direkter Aktion dazu befähigen, selbst Lösungen zu finden bei Problemen mit Vermieter:innen, Arbeitsämtern, Einwanderungsbehörden oder bei rassistischer und sexistischer Gewalt (ähnliche Initiativen gibt es hierzulande auch in Zürich und Basel). Es geht also darum die Selbstorganisation innerhalb der Klasse zu stärken – als Gegenmodell zum Expertenwissen von Anwält:innen, Gewerkschaftsfunktionär:innen und Journalist:innen sowie als Antwort auf die Ausnützung der misslichen Lage von Migrant:innen durch mittelständische migrantische «Community Leaders».

Wie ist das Solidaritätsnetzwerk organisiert? Mit Plakaten, in der Zeitung und durch Gespräche rufen die Angry Workers zu regelmässigen Arbeiter:innen-Versammlungen in einem leicht zugänglichen Ort (z. B. Fast-Food-Restaurant) auf. Parallel dazu haben sie eine «Soli-Netzwerk-Telefonnummer» und eine Rechtsberatung eingerichtet. Vor allem Migrant:innen (meist Männer, aber auch einige Frauen) melden sich oder kommen zu den Versammlungen. Sie befinden sich oft in sehr schwierigen Situationen, kennen ihre Rechte nicht und waren abhängig von Leuten aus ihrer «Community». Wie sie in ihrem Buch beschreiben, gelang es den Angry Workers nicht wirklich, aus der «Dienstleister-Rolle» herauszukommen. Auch wenn die Kontakte bestehen blieben, beteiligten sich Arbeiter:innen selten aktiv. Einige Erfolge gab es dennoch: Etwa im Fall einer Lagerarbeiterin aus Punjab, die von einem «Ratgeber für Visumsfragen» aus ihrer «Community» gefälschte Papiere für einen Visumsantrag erhielt. Letzterer weigerte sich dann das Geld zurückzuzahlen. Erst als eine grössere Gruppe von Arbeiter:innen mit Flugblättern und Plakaten sein Büro aufsuchte, gab er nach und zahlte der Arbeiterin ihr Geld zurück. Im Fall einiger ungarischer Lagerarbeiterinnen gelang es, ausstehende Urlaubsgelder einzutreiben – ebenfalls indem mehrere Arbeiter:innen gemeinsam das Büro der Leiharbeitsfirma aufsuchten und Druck machten.

In Kontakt mit der lokalen Arbeiter:innenschaft kommen die Angry Workers auch beim Verteilen ihrer Zeitung «Workers Wild West». Diese umfasst Berichte von Arbeiter:innen über ihre Arbeitssituation und ihre Kämpfe. Zudem berichtet die Zeitung über die Aktivitäten des Solidaritätsnetzwerks und Arbeitskämpfe weltweit. Dabei analysieren sie die Stärke und Schwächen der jeweiligen Kämpfe. Die Zeitung veröffentlichen sie zwei bis drei Mal im Jahr – jeweils 2’000 Exemplare. Diese verteilen sie allerdings nicht auf der Strasse, sondern gezielt an die Arbeiter:innen spezifischer Betriebe, um mit diesen ins Gespräch zu kommen.

Militante Untersuchung

Die Angry Workers beleben eine sozialrevolutionäre Praxisform wieder, die in weiten Teilen der Linken verlorengegangen ist: Die sogenannte militante Untersuchung oder Arbeiter:innen-Untersuchung. Zum einen geht es darum, den Alltag von Arbeiter:innen zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen – am Arbeitsplatz und darüber hinaus. Sie schliessen dabei an frühere Diskussionen dissidenter marxistischer Strömungen an – etwa die Analysen der Johnson-Forest-Tendency aus den USA, der französischen Gruppe Socialisme ou Barbarie und des italienischen Operaismus. Bei der Arbeiter:innen-Untersuchung geht es darum, die eigene Politik nicht einzig auf alte, dicke Wälzer bärtiger Männer abzustützen, sondern aus dem Alltag der arbeitenden Klasse und den dort manifesten Widersprüchen heraus zu entwickeln. Nicht aus Mitleid mit den «harten Schicksalen», nicht aus liberaler Empörung über das Scheitern der Meritokratie und auch nicht aus rein wissenschaftlichem Interesse. Sondern aus der strategischen Überlegung, dass die Arbeiter:innenklasse dank ihrer Stellung im Kapitalismus das kreative Potential, das nötige Produktionswissen und die strategische Macht hat, eine Revolution anzustossen, durchzusetzen und am Leben zu erhalten. Aber auch aus der ethischen Haltung heraus, dass die Linke an der Seite der Verlierer:innen des Kapitalismus stehen muss.

Zum anderen ist die Arbeiter:innen-Untersuchung ein Mittel der Agitation, um sich in der Klasse zu verankern, um die Bedingungen für Klassenkämpfe zu untersuchen, mit kollektiven Kampfformen zu experimentieren und solidarische Beziehungen in der Klasse aufzubauen. Inspiriert wurden sie von der Renaissance des Syndikalismus und neuer Debatten um Basisorganisierung. Sie setzten sich daher mit der Diskussion um das Organizing-Konzept «Deep Organizing» und den erfolgreichen, militanten Kämpfen der Basisgewerkschaft SI COBAS in der norditalienischen Logistik auseinander.

Arbeiter:innen-Untersuchungen führten die Angry Workers beispielsweise in eine Lebensmittelfabrik und in ein Verteilzentrum eines grossen Detailhändlers. Das Ziel war dabei, Produktionswissen zu sammeln und unter den Arbeiter:innen zu verallgemeinern sowie herauszufinden, wo im Produktionsprozess potenziell die Macht der Arbeiter:innen liegt. Welche Abteilungen können den Produktionsprozess am stärksten beeinflussen oder stören? Wo gibt es ein Zusammengehörigkeitsgefühl? Welche Rolle spielen Maschinen im Produktionsprozess? Zentral war aber auch, die politischen Spaltungen in der Klasse zu analysieren: Wie sind die Machtbeziehungen am Arbeitsplatz? Welche Techniken nutzen die Manager und Vorgesetzten, um die Produktivität hochzuschrauben? Welche Hierarchien in der Belegschaft schaffen sie? Diese Fragen dienen keiner reinen Theoriearbeit. Sie sind begleitet vom Versuch, informelle Bewegungen der Klasse zu befördern: Welche Kampfformen versprechen Erfolg, eine Unterschriftensammlung oder doch eher ein Bummelstreik? Welche Forderungen sind aufzustellen? Wie wirken sich die Spaltungen unter den Beschäftigten, z.B. zwischen verschiedenen Nationalitäten oder zwischen Temporären und Festangestellten aus?

Durch diese im Alltag verankerte Analyse vermeiden sie rein formal-abstrakte, soziologische Definitionen der Arbeiter:innen-Klasse ebenso wie das antiquierte, stereotype Bild vom Facharbeiter im Blaumann. Beide sind politisch wenig nützlich. Stattdessen entwickeln die Angry Workers ein hochaufgelöstes Bild der Klasse, das auch das Zusammenspiel von Migrationsregime, betrieblichen Hierarchien und Geschlechterordnung beachtet. Sie arbeiten systematisch heraus, wie Hierarchien unter den Arbeiter:innen entstehen, wie diese durch das Management geschaffen oder instrumentalisiert werden für ihre Teile-und-Herrsche-Strategie. So werden verschiedene migrantische Gruppen im Betrieb oft gegeneinander ausgespielt. Manager setzten gezielt Vorarbeiter:innen aus einer spezifischen migrantischen Gruppe ein, sodass Arbeiter:innen aus derselben Gruppe in einen Loyalitätskonflikt geraten: Ethnizität und Klasse konkurrenzieren sich hier und werden instrumentalisiert, um die Belegschaft zu spalten. Oft setzen die Manager auch auf erst seit kurzem migrierte Arbeiter:innen, weil diese ihre Rechte noch nicht gut kennen, sich sprachlich weniger gut wehren können, illegalisiert sind oder für ihren Aufenthaltsstatus auf eine Arbeitsstelle angewiesen sind.

Wichtig ist auch der Graben zwischen Festangestellten und Temporären. Als Arbeiter:innen sich in einem Getränkelager gegen die Streichung einer Überstunden-Prämie wehrten, bot das Management einigen Temporären eine Festanstellung an und durchbrach so die Solidarität unter den Arbeiter:innen. Die Festangestellten erhielten die Prämie weiterhin und wirkten als Streikbrecher:innen. Später stellte das Unternehmen über eine andere Firma neue Temporäre an, die über den Überstunden-Konflikt nichts wussten. Auch das Geschlecht ist zentral. Frauen sind nicht nur von Mehrfachbelastung betroffen, sie werden auch in der Lohnarbeit benachteiligt. Sie erhalten tiefere Löhne, auch weil sie systematisch in vermeintlich «unqualifizierte» Positionen eingeteilt werden. Oft ist diese Zuteilung komplett willkürlich. Denn auch hochspezialisierte Tätigkeiten, die lange Erfahrung benötigen, gelten als «unqualifiziert», wenn sie etwa an einem Fliessband erfolgen. Männer hingegen, die alle zwei Sekunden einen Knopf an einer Maschine bedienen, gelten als «angelernt» und sind dadurch in einer höheren Lohnkategorie. Erschwerend kommt für Frauen hinzu, dass sie Belästigungen und Übergriffen durch Arbeiter und Vorgesetzte ausgesetzt sind.

Die militante Untersuchung soll aber auch Arbeiter:innen vernetzen, solidarische Kontakte und Produktionswissen ausbilden helfen und Kampferfahrung und -erfolge ermöglichen. An diesen Zielen gemessen, könnte man einwenden, haben die Angry Workers wenig Spektakuläres erreicht. Es gelang ihnen zwar, dass Arbeiter:innen in der Lebensmittelfabrik, in der sie länger arbeiteten, wieder übers Streiken sprachen, ja während Lohnverhandlungen sogar damit drohten. Erstmals tauschten sich Arbeiter:innen aus den verschiedenen Fabriken des Lebensmittelunternehmens aus. Mit ihrer Präsenz zeigten die Angry Workers zudem auf, dass es Arbeitskolleg:innen gab, die bereit waren, gegen das Management praktisch vorzugehen. Doch viel weiter gingen die konkreten Resultate nicht. Ihre Klassenpolitik brachte keine schnellen Erfolge. Klar wird: so eine Praxis braucht Zeit, Geduld und Durchhaltevermögen – als Freizeit-Aktivismus ist das nicht zu haben.

Strategisches Denken zurückgewinnen

Interessant am Buch sind auch die Bemühungen der Angry Workers, Antworten auf die Strategielosigkeit der Linken zu finden. Sie diagnostizieren, dass die revolutionäre Linken die Frage nach der Revolution mit vagen Visionen von Multitude, Generalstreik oder Aufstand umschifft. Ihre Organisierungsarbeit wollen sie nicht als Selbstzweck verstanden wissen, sondern als Aufbauprozess für eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation. Dass zwischen alltäglichen Kämpfen und Revolution eine grosse Kluft besteht, ist ihnen bewusst. Daher versuchen sie zumindest eine konzeptuelle, strategische Brücke zu schlagen. Wie eine Übernahme der Produktionsmittel und der gesellschaftlichen Macht durch die Ausgebeuteten aussehen könnte, wollen die Angry Workers möglichst konkret durchdenken. Dass diese «Simulationsübung» holzschnittartig ausfällt, ist nicht verwunderlich. Sie zeigt aber auf, wie wichtig es ist, sich nicht vom «There-is-no-Alternative»-Denken einnehmen zu lassen und das strategische Denken aufzugeben.

Am Beispiel der USA blicken die Angry Workers auf die Kämpfe der letzten Jahre zurück und sprechen drei Klassensegmente an, die – etwas überspitzt – drei Kampfformen wählten: erstens die marginalisierten Proletarier:innen und die Massenproteste und Riots nach dem Mord an George Floyd, zweitens die Massenarbeiter:innen in der kleinen Streikwelle während des Covid-Lockdowns und des Striketober 2021 und drittens die Proteste der Tech- und Wissens-Arbeiter:innen bei Google und Co. Daran machen sie drei Elemente fest, die – wenn sie zusammenkommen – einen revolutionären Prozess ausmachen können: Erstens, eine «massenhafte proletarische Gewalt gegen die Staatsgewalt und die Sprengung des privaten Rahmens durch das Zusammenkommen auf Strassen und Plätzen», zweitens die «kollektive produktive Macht» der Arbeiter:innen, drittens das «widerständige Produzentenwissen» der Wissensarbeiter:innen. Wie sie betonen, spiegelt sich diese Dreiteilung auch geographisch, auf globaler Ebene, symbolisiert durch die Fabriken in Shenzen, die IT-Büros im Silicon Valley und die proletarischen Viertel in Lagos. Das Problem sehen die Angry Workers in der Trennung der drei Klassensegmente, die bisweilen auch von Gewerkschaften oder der Linken reproduziert werden. «Was wir brauchen», schliessen sie daraus, «ist ein direkter Austausch zwischen marginalisierten Proletarier:innen, Massenarbeiter:innen und Wissensarbeiter:innen, die als Teil einer Klassenbewegung ihre Aufgabe der gesellschaftlichen Transformation erkennen und dabei materielle Spaltungen und Wissenshierarchien innerhalb der Klasse überwinden.»

Eine zentrale Gefahr für jeden revolutionären Prozesse diskutieren sie am hypothetischen Beispiel eines Arbeiter:innen-Aufstandes in Grossbritannien. Aufständischen Gebieten droht, dass sie sich materiell nicht reproduzieren können, also das Essen ausgeht oder die Materialien für die industrielle Produktion versiegen, weil sie vom Weltmarkt abgeschottet werden. Um dies zu verhindern, fokussieren sie auf die «Zentren der [ökonomischen] Macht», auf die «Getreidekammern, Fabriken, Häfen und Kraftwerke», wie sie schreiben. Die Angry Workers betonen daher, dass ein erfolgreicher Arbeiter:innen-Aufstand die essenziellen Industrien – etwa Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung, Energieproduktion, Wasserversorgung, Transport, Kommunikation etc. – übernehmen, verteidigen und transformieren muss. Daher denken sie, dass eine «aktive Minderheit» von 30 bis 40 % des Proletariats als produktiver, materieller Kern den Aufstand tragen muss. Parallel zu diesem produktiven Aufstand müssten grössere, kollektivistische «Haushaltseinheiten» eingerichtet werden – zum Beispiel in ehemaligen Hotels oder Bürogebäuden – in denen dann Güter verteilt, Haus- und Care-Arbeit gemeinsam organisiert wird und politische Entscheidungen gefällt werden.

Hier stellt sich allerdings die Frage, ob die Angry Workers nicht die Vernetztheit, die sie ja grundsätzlich bedenken und die Abhängigkeit von Technologie unterschätzen. Wie einige Marxist:innen anhand des Marxschen Maschinenfragments behaupteten, ist der gegenwärtige Kapitalismus dadurch geprägt, dass Technologie und der Einsatz von Wissen zur eigentlichen Triebfeder kapitalistischer Produktion geworden sind, während die Arbeiter:innen zu Wächter:innen des Herstellungsprozess werden. Weniger der Einsatz physischer Arbeitskraft stellt den Produktionsprozess sicher, sondern die korrekte Anwendung wissenschaftlichen Wissens, ein hochtechnologisierter Maschinenpark sowie Fehlerbehebung und -prävention. Kurzum: Wenn in zahlreichen Industrien und in der Logistik Computertechnologie und Internet-Vernetzung ein integraler Bestandteil eines funktionierenden Maschinenparks ist, besteht nicht die Gefahr, dass ein fehlendes Software-Update, ein gekappter Breitbandanschluss oder das Fehlen weniger Spezialist:innen die Güterproduktion und -verteilung komplett lahmlegen kann? Welches ist also die Rolle von Technologie und Wissen in einer Revolution?

Ein zweiter Punkt: Gelingt ein lokaler Aufstand, braucht es nicht mehr als «Getreidekammern, Fabriken, Häfen und Kraftwerke»? Wir werden weiterhin ältere, behinderte und erkrankte Menschen pflegen, Kinder betreuen usw. usf. Die Gesellschaft reproduziert sich nicht nur mit materiellen Gütern, sie bedarf Tätigkeiten des Pflegens und Sorgens und die sozialen Beziehungen, die sich dadurch ausbilden und vertiefen. Eine wahrhafte soziale Revolution muss die Spaltung der Klasse in unbezahlte Reproduktionsarbeiter:innen und Lohnarbeiter:innen hinter sich lassen. Den Bereich der sozialen Reproduktion haben die Angry Workers zwar nicht vergessen. Sie analysieren die Haushalte in Greenford, behandeln deren Probleme im Solidaritätsnetzwerk und betonen, dass es in einer Phase der Transformation ebenso wichtig ist, Zentren der kollektivierten sozialen Reproduktion zu schaffen wie die essenziellen Industrien zu übernehmen. Doch müsste sich diese strategische Bedeutung nicht stärker in der Organisierungspraxis zeigen? Und ergeben sich hier nicht vielversprechende Möglichkeiten für eine Allianz mit der feministischen Bewegung?

Basis-Initiativen könnten daher danach fragen, wie die Organisierung am Arbeitsplatz mit Vernetzungen und Gegenstrukturen in der Sphäre der sozialen Reproduktion verschaltet werden können. Interessant wäre es, die Methoden der Arbeiter:innen-Untersuchung und Basisorganisierung auf die soziale Reproduktion anzuwenden: Wie ist die Haus- und Care-Arbeit in diesem oder jenem Gebiet organisiert? Wo findet sie statt, wer leistet sie? Welche kollektiven Arbeitsformen existieren bereits, wo finden sie statt und wie könnten diese verallgemeinert werden? In Community-Center könnte mit der Kollektivierung von Reproduktionsarbeit experimentiert werden (z. B. Essenszubereitung, Sorge-Arbeiten, Selbst-Sorge-Gruppen). Wenn man sich die kapitalistische Ökonomie als Verkettung von Arbeitsschritten vorstellt und die soziale Reproduktion am Anfang dieser Kette steht (Arbeitskräfte herstellen und erhalten) ist zudem zu fragen: Wo ist die Abhängigkeit kapitalistischer Unternehmen von einer reibungslosen Reproduktion der Arbeitskräfte besonders hoch, wo liegt also strategische Macht im Bereich der sozialen Reproduktion? Und für den Bereich des Wohnens: Wie kann organisatorische Macht aufgebaut werden, um Wohnraum mittels direkter Aktionen zu vergesellschaften? Hier ergeben sich also Anschlussmöglichkeiten für eine revolutionäre Stadtteilarbeit (vgl. das Buch «Revolutionäre Stadtteilarbeit» und die Gruppe ROSA), welche die soziale Reproduktion in einem Quartier in den Fokus nimmt.

Einen «Masterplan» für Basisorganisierung können die Angry Workers auch nicht vorlegen. Sie sehen ihre Organisierung als Versuch, als Experiment, um die wahrgenommene Alternativlosigkeit in der Linken zu überwinden. Ihr Ziel bleibt dabei die politische Organisierung der Klasse, also eine Klassenpolitik, die sich nicht an einer abstrakten Vorstellung der Lohnabhängigen-Klasse orientiert, sondern im täglichen Leben und Kämpfen der Arbeiter:innenklasse eingebettet ist. Sie streben keine formale Organisation an, der Menschen beitreten können, um dann nichts mehr zu unternehmen. Vielmehr stellen sie sich eine Organisierung vor, die aus vielen lokalen Kollektiven besteht, die auf der Selbstorganisation der Klasse aufbauen und sich über die radikale gesellschaftliche Veränderung austauschen.

Das Buch der Angry Workers ist absolut lesenswert! Aus den vielen dichten Beschreibungen lernen wir ungemein viel über die Lebensbedingungen der Arbeiter:innenklasse West-Londons und ihre Einbettung in die lokalen und globalen Supply-Chains. Man fragt sich sogleich, wie denn die Logistik-Cluster in der eigenen Region organisiert sind, wo der Fertig-Food im Detailhändler herkommt und wieso die Linke so wenig darüber weiss. Was das Buch von vielen akademischen oder journalistischen Schreibübungen – ja selbst von manchen Gesprächen unter Genoss:innen – unterscheidet: Stets spricht aus ihren Untersuchungen ein ehrliches, menschliches Interesse am Alltag der Menschen und der unbändige Wille, die herrschenden Verhältnisse nicht hinzunehmen.

Das Buch ist eine Einladung, jegliches rein instrumentelles oder sozialkaritatives Verhältnis zum Proletariat zu überwinden und eine Quelle für eigene Organisierungsprojekte. Inspirierend ist zudem, wie diese Kommunist:innen direkte, solidarische – auch freundschaftliche – Beziehungen mit anderen Arbeiter:innen aufbauen, mit ihnen Kampferfahrungen und Wissen sammeln und dies mit strategischen Überlegungen für eine andere Welt kombinieren. Diese kommunistische Zärtlichkeit gegenüber der Klasse ist in den gegenwärtig düsteren Zeiten nötiger denn je.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben     —  Demonstration an der Universiät von Wisconsin, USA. / 

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Unten       —       Proteste am 10. März

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Von Menschen und Wölfen

Erstellt von DL-Redaktion am 6. August 2022

Wer als Arbeitgeber „wir“ sagt, lügt schamlos

So sehen wir deutsche Arbeitgeber-Innen im Internationalen Geschäftsleben.

Von Helmut Höge

Der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall Stefan Wolf fordert, das Renteneintrittsalter auf 70 anzuheben und zugleich die Wochenarbeitszeit zu verlängern. „Wir werden länger und mehr arbeiten müssen“, so drohte er.

Wenn jemand „wir“ sagt – und ein ganzes Volk meint –, dann lügt er schamlos oder hat keine Ahnung vom Sozialen. „Wir“ leben in nachgesellschaftlichen Projektwelten, und die in Na­tio­nen zusammengefalteten „Völker“ sind nichts als „Sandhaufen“, wie der Ethnologe Claude Lévi-Strauss sagte. Oder mit den Worten des Gesamtmetall-Präsidenten Wolf: „Es zählen nur noch die harten globalen Standortfaktoren.“

Sein „wir“ könnte allerdings auch ein angemaßter Pluralis Majestatis sein, der den Klassenunterschied verdecken soll, von oben nach unten, also von den „Arbeitgebern“, die befehlen – nämlich den anderen, die ihnen als „Lohnabhängige“ gehorchen.

Der Jurist Stefan Wolf, verpaart mit einem amerikanischen „Musicalstar“, ist Vorstandsvorsitzender eines schwäbischen Automobilzulieferer­betriebs. Daneben vertritt er seit Corona die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elek­tro­industrie. Und als wäre seine obige Forderung nicht schon schlimm genug, forderte er auch noch gleich den Bau neuer Atomkraftwerke. Ohne AKWs und längere Lebensarbeitszeiten sei „das System mittelfristig nicht mehr finanzierbar“. Mit dem „System“ meint er den deutschen Kapitalismus-Parlamentarismus und eigentlich die ganze globale US-dominierte Wirtschaft, zu dessen Profiteuren er gehört.

Als der SS-Untersturmführer und Präsident der BRD-Industrie Dr. jur. Hanns Martin Schleyer längere Arbeitszeiten und mehr AKWs forderte, wobei er ebenfalls von „uns“ sprach und damit alle Westdeutschen meinte, wurde er 1977 entführt und ermordet. Heute ist die Situation eine andere: Es gibt keine sozialistischen Staaten mehr und keine linke Bewegung in Deutschland oder sonst wo, sondern eher populistische rechte Bewegungen und territorial übergriffige Potentaten. Das lässt allerlei dumme, asoziale Forderungen aufkommen.

Dieser social turn begann gleich nach Auflösung der Sowjetunion, wobei die gesamte materielle Substanz etwa der DDR (Unternehmen, Immobilien, Äcker und Wälder, ja sogar ihre Zirkustiere) in den Besitz der westdeutschen Treuhandanstalt gelangte. Zu ihrem Präsidenten berief man den Vorstandsvorsitzenden des Stahlkonzerns Hoesch, Dr. jur. Detlev Rohwedder. Ein halbes Jahr später wurde er – angeblich von Linksextremisten (der RAF) – erschossen.

Weil er über „seine“ Treuhandmanager und die anderen in das DDR-Gebiet eingefallenen ­Businessmen beziehungsweise Schnäppchenjäger schimpfte: „Die benehmen sich schlimmer als Kolonialoffiziere“, gibt es aber auch den Verdacht, dass dieser Sozialdemokrat wegen seiner noch fast menschenfreundlichen Privatisierungspolitik umgebracht wurde. Seine CDU-Nachfolgerin, die Hamburger Bankierstochter Birgit Breuel, war jedenfalls reaktionär und einfältig genug, um den Schmutzjob unbeschadet zu überstehen.

Die Wölfe der Treuhand wickelten ab

Ich registrierte damals eine Namensmagie im ausgehenden 20. Jahrhundert: In der Treuhand­anstalt und ihren Nachfolgeorganisationen arbeiteten auffallend viele Manager, die Wolf oder Fuchs hießen (Wolf Schöde, Günter Wolf, Dr. Fuchs und so weiter), während unter ihren Gegnern in den zum Verkauf oder zur Abwicklung vorgesehenen großen Ostbetrieben merkwürdig viele Betriebsratsvorsitzende Gottlieb oder Lammfromm hießen, einer sogar Feige. Diese Namensmagie, die auch für alle nach Raubtieren benannten Waffensysteme der Naziwehrmacht und der Bundeswehr gilt, obwaltet anscheinend auch heute noch im Führungskreis des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall: Neben Dr. Wolf sind das unter anderen Wolf Matthias Mang und Wolfram Hatz.

Unter den Menschen finden wir gefährlichere Wölfe

Früher war es allerdings unabdingbar, dass Manager in Führungspositionen gedient haben mussten. Selbst bei der Zeit intervenierte der ehemalige Wehrmachtsleutnant Helmut Schmidt noch, als die Redaktionen seiner Meinung nach zu viele Wehrdienstverweigerer einstellten. Inzwischen dürfen die „Wölfe“ jedoch ruhig ungedient und schwul sein und die Waffen ihrer Firmen von halbstarken Ukrainern testen lassen.

Was ist nun aber von den Wolf’schen Forderungen zu halten? Wenn sie nicht von oben kämen, wäre ich dafür! Als Selbstständiger habe ich weder bezahlten Urlaub noch arbeitsfreie Wochenenden und kann auch mit 75 und einer Rente von 220 Euro im Monat keine Ruhe geben. Ich will das auch gar nicht. Früher wurde ich an Sonntagen regelmäßig depressiv, weil die Leute nicht arbeiteten, sondern sich in scheußlichen Freizeitdress zwängten, joggten und in Fitnesscentern abstrampelten oder laute Musik hörten, soffen, rumgröhlten und an Bäume pissten. Infolge der Automatisierung und Computerisierung hat die sportliche Betätigung nach Feierabend, verbunden mit Tittitainment-Angeboten von oben, schier pandemische Ausmaße angenommen.

Quelle       :       TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —   Angela Merkel (spätere Kanzlerin) in Amerika, beim Rosenmontagsfest in Düsseldorf 2003. Foto und Skulptur von Jacques Tilly.

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Wir Verarmen-dank Putin?

Erstellt von DL-Redaktion am 6. August 2022

Neuigkeiten von den Freunden der Armen

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Wer lässt sie Hungern und Frieren ? 

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Johannes Schillo

„Ungleichheit tötet“ – hieß es Anfang des Jahres im Oxfam-Bericht, der das Elend der globalisierten Marktwirtschaft ins Visier nahm.

Friedhelm Hengsbach wies jüngst in einem Kommentar (https://overton-magazin.de/buchempfehlungen/ungleichheit-toetet/) auf die Befunde des Reports hin, demzufolge „163 Millionen Menschen mehr als vor der Pandemie seit Anfang?2020 zusätzlich in eine Armutslage abgerutscht“ sind. Oxfam hatte ihn Ende Januar 2022 vorgelegt. Einen Monat später, mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine und der nachfolgenden „Zeitenwende“ in Deutschland, hat sich der Blick aufs Elend in der Welt verändert: Es ist nicht mehr marktwirtschaftlich hausgemacht, sondern kennt einen persönlichen Verursacher, einen Mann, der in Moskau residiert.

„Russlands Machthaber Wladimir Putin will die westlichen Demokratien destabilisieren und spalten. Wir rufen alle Bu?rgerinnen und Bu?rger auf: Treten wir dieser zerstörerischen Strategie durch unseren Zusammenhalt gemeinsam entgegen!“ Das kommt nicht vom Verteidigungsministerium, so heißt es vielmehr im neuesten Aufruf „Fu?r Solidarität und Zusammenhalt jetzt!“, initiiert von der DGB-Gewerkschaft Verdi (https://www.verdi.de/themen/politik-wirtschaft/++co++950107b4-0f2d-11ed-99f1-001a4a16012a). Mit drastischen Worten benennt der Arbeitnehmerverein die „gewaltigen Aufgaben, vor denen die Menschheit derzeit steht“, und fordert entsprechende Konsequenzen. Vor allem die „Inflation mit dramatisch steigenden Preisen fu?r Energie und Lebensmittel und höchst unsozialen Folgen“ wird beklagt, also die Verarmung der Bevölkerung im kommenden Winter – und darüber hinaus.

Dieses Szenario vom Hungern und Frieren ist nicht neu, es wird ja auch von der Politik offiziell angesagt und gleichzeitig mir trostreichen Vorschlägen flankiert. Darauf bezieht sich die Gewerkschaftsinitiative ganz treuherzig: „Wir brauchen umgehend ein zielgenaues und wirksames Entlastungspaket fu?r die, die bereits heute fast zwei Drittel ihres Einkommens fu?r Lebensmittel, Energie und Miete aufbringen mu?ssen. Gute Vorschläge dazu liegen bereits vor. Sie mu?ssen jetzt politisch umgesetzt und gegenfinanziert werden von denen, die das leisten können und womöglich sogar von den diversen Krisen profitieren.“

Sozialer Frieden versus zunehmende Kriegsmüdigkeit!

Am Tag der Veröffentlichung, dem 1. August, konnte Verdi stolz vermelden, dass prominente Vertreter aus Freier Wohlfahrtspflege, Gewerkschaften, Kirche, Wissenschaft und Kultur den Aufruf unterstützen und gemeinsam zur Solidarität mit den Schwächsten der Gesellschaft aufrufen. Zwar ist von denjenigen, die sich in dieser Wirtschaftsordnung an erster Stelle was leisten können – weil sie zu deren Profiteuren gehören –, keiner unter den Erstunterzeichnern, aber dafür ist CDU-Minister Laumann von der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft dabei, somit eine nicht ganz einflusslose Stimme aus der Politik.

Für Verdi ist das ein Erfolg – und möglicher Weise sammelt die Gewerkschaft ja auch noch weitere Unterschriften von Hinz und Kunz ein. Doch mit diesem allerbreitesten Konsens fangen die Probleme der Initiative gleich an.

1. Volksgemeinschaft

An wen richtet sich der Aufruf eigentlich? An uns alle, das liegt auf der Hand! Aber ist das die Aufgabe einer Gewerkschaft, sich allgemein an ein Publikum zu wenden und zu guten Taten zu ermuntern? War da nicht etwas Spezielles mit dieser Organisation – mit einem Zusammenschluss, der einst mit kämpferischem Elan als Interessenvertretung für bestimmte Leute gegründet wurde, deren Interessen regelmäßig unter die Räder kommen?

Selbst das DGB-Grundsatzprogramm weiß in seiner Präambel noch etwas von der Notwendigkeit zu vermelden, dass „man durch Zusammenhalt wirksame Gegenmacht gegen Arbeitgeber- und Kapitalmacht zu schaffen“ habe. Aber das gilt für die gewerkschaftliche Brauchtumspflege, für schwungvolle Reden am 1. Mai eventuell, nicht für nationale Notstandslagen. Da hat der Dachverband der deutschen Gewerkschaften gleich eine Woche nach Beginn des Ukrainekriegs klare Verhältnisse geschaffen und, wie die Analyse des Gegenstandpunkt festhält, „das proletarische Einverständnis mit der Zeitenwende … verkündet“ (https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/leistung-deutschen-gewerkschaft-kriegszeiten): Der DGB-Aufruf kommt daher als „eine Ermunterung an die Regierung, den Krieg zu beenden und den Frieden einkehren zu lassen, indem sie genau den militärischen und diplomatischen Kurs fährt, auf den sie die Nation längst eingeschworen hat.“

Der Gegenstandpunkt weist auch darauf hin, dass diese Loyalitätserklärung insofern bemerkenswert ist, als sich hier immerhin Gewerkschaften zu Wort melden; also Vereine, die sich ja seit ihrer Gründung als Teil einer internationalen Bewegung verstehen, „zu deren Ethos der Einspruch gegen Krieg gehört, und die – zwar in denkbar höflicher Zurückhaltung, aber immerhin explizit – daran erinnern, was ihre Klientel im Krieg überhaupt ist: Hauptleidtragende eben.“ (Im DGB-Aufruf vom Jahresanfang hieß es: Die „Hauptleidtragenden sind die Zivilbevölkerung und viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer…“)

Dass es welche gibt, die die Lasten zu tragen haben, und andere, die – „womöglich“ (!) – von diesem Lastentragen profitieren, klingt zwar bei Verdi ganz am Rande an. Aber das ist gleich wieder vergessen im Blick auf das Große Ganze. Denn jetzt soll gelten: In der Stunde der Not steht das Volk zusammen. Deutschland kennt keine Klassen, Parteien und Konfessionen mehr, rivalisierende Wohlfahrtsverbände ziehen an einem Strang und Wirtschaftsforscher sehen das genau so wie alle anderen: Die Preissteigerungen kommen, bei elementaren Bedürfnissen wird es Einschränkungen geben, prekäre Verhältnisse breiten sich aus – aber da müssen „wir“ durch. Das muss doch zu schaffen sein, wenn selbst der Kulturrat mit unterschreibt, somit an seine Leute appelliert, für gute Stimmung zu sorgen. Und die Kirchen werden natürlich das Ihre beitragen und Gebete zum Himmel schicken, dass es nur so kracht.

2. Feindbild

Aber bei der Beschwörung eines gemeinschaftlichen Geistes, einer völkischen Gemeinschaft, die in Opferbereitschaft zutiefst verbunden ist (solange es nur gerecht zugeht!), bleibt es nicht. Der neue Aufruf weiß schon noch von einem Gegensatz, den es auf dem Globus gibt. Nein, natürlich nicht den von Kapital und Arbeit, von oben und unten, von nationalen Führungen und ihrem Fußvolk, sondern den von guten und schlechten Nationen bzw. ihren Führern. Hier redet der Aufruf Klartext: Wir müssen zusammenstehen, um der „zerstörerischen Strategie“ Putins entgegenzutreten. Das ist die Parole fürs Hinterland.

Durchhalten ist jetzt angesagt, um Deutschland in seinem Wirtschaftskrieg zu unterstützen, der laut Außenministerin Baerbock darauf angelegt ist, Russland zu „ruinieren“. Wachstumseinbruch, Produktionsausfälle, Entlassungen, Verarmung – dass soll drüben beim Iwan passieren, je mehr um so besser. Das müssen „wir“ konsequent weiter verfolgen. Eventuelle Schäden, die hier bei uns anfallen, sind der Preis, der dafür zu zahlen ist. Die deutsche Bevölkerung muss die Lektion lernen, dass sie die Heimatfront in diesem Kriegsgeschehen stellt. Und was in Russland gerade passieren soll, dass die Folgen des westlichen Sanktionsregimes die politische Herrschaft destabilisieren und spalten, darf auf keinen Fall bei uns eintreten.

Politik und Mainstream-Medien beschwören hierzulande ja schon die Gefahren, die der Republik im Herbst drohen. Protest gegen Krieg, Aufrüstung und Verelendung soll man sich demnach als ein „Werk des Rechtsextremismus“ vorstellen (https://overton-magazin.de/krass-konkret/antimilitarismus-und-volksaufstaende-von-rechts/). Bevor noch der erste Pflasterstein geflogen kommt, steht die Republik also schon in Hab-Acht-Stellung. Und alle Verantwortlichen wissen: Wer jetzt noch gegen die nationale Formierung die Klappe aufmacht, ist im Grunde ein Fall für die Extremismusbekämpfung.

3. Wohlstand und Notstand

Eine Sache geht in der Einschwörung aufs Szenario vom heißen Herbst bzw. kalten Winter ebenfalls unter: das heimische „Armutsproblem“, die legendäre soziale Frage, die in der sozialen Marktwirtschaft längst ausgestorben war, mit der Finanzkrise und der rotgrünen Armutsberichterstattung dann aber wieder öffentliche Anerkennung erlangte. Seitdem ist Armutsforschung, die zeitnahe Beobachtung des sozialen Elends und die Suche nach Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen, eine anerkannte Disziplin.

Dass hier kontinuierlich Bericht erstattet, das aktuelle Ausmaß nachgezählt und das darin liegende Gefahrenpotenzial ermittelt wird, gehört mittlerweile zu guten Ton der Republik. So legt der Paritätische Wohlfahrtsverband pflichtgemäß jedes Jahr seinen Armutsbericht vor, der dann in der Öffentlichkeit anerkennend aufgenommen wird. Im Sommer dieses Jahres war es aber anders, wie Suitbert Cechura in seinem Beitrag „Akzeptiertes Elend“ in der Jungen Welt am 3. August ausführlich dargelegt hat.

Der Bericht wurde dieses Mal ganz forsch zurückgewiesen. Als Stein des Anstoßes galt gleich die erste und zentrale Aussage des Sozialverbandes, dass die Armut im Lande bereits vor Beginn des Ukrainekriegs ein Rekordhoch erreicht hat: „Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der aktuellen Inflation mit einer weiteren Verschärfung der Lage…“ (Der Paritätische – Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege, Armutsbericht 2022: https://www.der-paritaetische.de.)

„Rechnet mit“ ist gut! Die Politik verkündet ja offiziell, dass es so kommen wird. Apropos Rechnen ist aber etwas anderes interessant: Armut ist für die Statistik eine rechnerische Definitionsfrage; in der EU fallen diejenigenn unter die offizielle Armutsgrenze, die nur Zweidrittel des mittleren Einkommens erzielen. Nun kann die Sozialstatistik diesen Wert auf verschiedene Weise berechnen – je nachdem, ob sie vom Durchschnittswert oder vom Median ausgeht. In ersterem Fall, der alle Einkommen zusammenaddiert, würde das eine höheres „Normaleinkommen“ ergeben, somit auch eine höhere Zahl an Armutsbevölkerung. So haben die EU-Statistiker sich an der Stelle kluger Weise für die zweite Lösung entschieden, für den Median, der nur die untere Hälfte als Bezugsgröße hat. Der Armutsbericht des Paritätischen ist so ehrlich, über diese Rechnungsweise aufzuklären: „Der erste Armutsbericht der Bundesregierung aus dem Jahre 2001 wies noch beide Armutsquoten aus, die mit dem arithmetischen Mittel und die mit dem Median errechnete, und tatsächlich lag die erstere (10,2 Prozent) deutlich höher als die letztere (6,2 Prozent). Seitdem wird nur noch der Median ausgewiesen.“ (Armutsbericht)

Übrigens gelten entsprechend der EU-Konvention Menschen, die nur über 60 Prozent des so errechneten mittleren Einkommens verfügen, bloß als „armutsgefährdet“. Was ebenfalls eine bemerkenswerte definitorische Leistung darstellt (vgl. https://www.heise.de/tp/features/Warum-die-Armutsdefinition-den-Blick-auf-die-Realitaet-verzerrt-6345411.html)! Der betreffende Personenkreis ist demnach nicht wirklich, sondern nur möglicherweise später einmal arm. Aber das muss man dem Paritätischen lassen: dieser üblichen Betrachtungsweise möchte er sich nicht anschließen. Er beharrt angesichts der Höhe der Beträge, die diesen Menschen zur Verfügung stehen, darauf, dass sie arm sind.

Das ging als ernsthaft vorgetragene Sorge bisher durch. In diesem Jahr hat aber der besagte Armutsbericht im „Qalitätsjournalismus“ Einspruch, ja direkte Ablehnung ausgelöst. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob der Befund überhaupt zutrifft und ob es nicht auch andere Sichtweisen gibt. Dass das „Durchschnittseinkommen nach einem komplizierten Verfahren als Pro-Kopf-Einkommen ermittelt“ wird (WAZ, 14.7.2022), wurde dem Publikum gleich im Blick darauf mitgeteilt, dass hier mit statistischen Tricks gearbeitet wird.

Dann mischten sich auch noch Fachleute ein, so vom (arbeitgebernahen) Institut der deutschen Wirtschaft (IW), und das Publikum erfuhr von den grundlegenden Schwierigkeiten, soziale Daten zu erfassen. Die SZ hatte ebenfalls Experten auf ihrer Seite und stellte schon in den Überschriften klar, worauf man bei den Meldungen zur Armutslage zu achten habe: „Wer wirklich arm ist – 13,8 Millionen Arme in Deutschland – diese Zahl hat kürzlich das Land aufgeschreckt. Doch stimmt sie überhaupt?“ (SZ, 15.7.2022)

Um den Zweifel zu untermauern ließ das Blatt mehrere Koryphäen aufmarschieren, u.a. einen Menschen aus dem Caritasverband, also der konfessionellen Konkurrenz des Paritätischen. Der wechselte gleich das Thema und fragte, ob solche Alarmmeldungen nicht das Gespräch mit den politisch Verantwortlichen erschweren würden. Denen darf man ja nicht zu kritisch begegnen, will man mit ihnen im Geschäft bleiben! Die Experten, die WAZ und SZ aufboten, passten dagegen mit ihren moderaten Tönen besser zur neuen Lage. Erstaunlich nur: Sie schürten Zweifel an der Zählweise, indem sie, wie Cechuras Analyse im Einzelnen darlegt, den Unterschied zwischen Median und Mittelwert verdrehten und in ihren Beispielen stets die Rechnungsweise des Mittelwerts zur Beweisführung bemühten. Das statistische Verfahren, auf das sich der inkriminierte Armutsbericht stützt, geht dagegen vom Median aus, mit dem gerade die ärmere Hälfte der Bevölkerung von der reicheren abgegrenzt wird.

Verleihung Hans-Böckler-Preis der Stadt Köln 2021 an Lisa Herzog und Konrad Gilges-3741.jpg

Volksgemeinschaft – Müsste sich ein Gewerkschaftsführer nicht schämen von seinen Staat  i. Auftrag verabschiedet zu werden? Hoffmann sitzt in Aufsichtsräten mehrerer Unternehmen, unter anderem der Bayer AG.

So war es dann für die SZ klar, dass solche Armutsberichterstattung schon vom Ausgangspunkt her ein schiefes Bild unserer Gesellschaft zeichnet, in der es so schlimm doch gar nicht zugeht: „Die Definition geht auf eine EU-Konvention zurück, sie ist verbreitet, aber durchaus umstritten. So bliebe die Zahl der Armen gleich, auch wenn sich plötzlich für alle das Einkommen verdoppeln würde. Überspitzt gesagt: Unter lauter Filetessern ist das Schnitzel auf dem Teller ein Beleg für Armut. Gleichzeitig würde die Armut abnehmen, wenn Gutverdiener einen wirtschaftlichen Einbruch erleiden würden, ohne dass die Niedrigverdiener auch nur einen Cent mehr in der Tasche hätten. Was zählt, ist die Ungleichheit.“ Das Volk von Filetessern soll sich also nicht so haben!

Im nationalen Gemeinschaftsgefühl vereint

Der letzte Hinweis der SZ stimmt natürlich: Es geht um Ungleichheit, um relative Armut. Es geht ja gerade um den Ausschluss von Reichtum, der vorhanden ist, aber nicht in den Händen derer, die ihn erarbeitet haben, sondern bei denen, die als Privateigentümer der Produktionsmittel über den Ertrag dieser wunderbaren Wirtschaftsordnung verfügen. Als Ideologe der Marktwirtschaft will der SZ-Autor allerdings nicht gesehen werden, sondern eher als einer, der sich wirklich um das Los der Armen kümmert: „Die Debatte um Armut wird hitzig geführt. Wer die Datengrundlage infrage stellt, gilt schnell als Mitglied einer neoliberalen Teufelsgruppe, als Verharmloser von Armut, die es ja gibt. Armut ist ein Problem in Deutschland. Und sie wächst durch die Preissteigerungen… Doch nur wer die Armen zielgenau benennt, kann ihnen auch zielgenau helfen, etwa Obdachlosen oder Alleinerziehenden – statt Geld über Senioren auszuschütten, die in ihrem Haus trotz magerer Rente ganz gut zurechtkommen.“

Wenn um die zielgenaue Erfassung des Anwachsens von Armut an der einen oder anderen Stelle gestritten wird, ist eins klar: Es geht gar nicht um Ursachenforschung und die Beseitigung von Armut, sondern um den gerechten Umgang mit ihr und um die Frage, was den Betroffenen jeweils zuzumuten ist. Die Wohlfahrtsverbände kennen sich da aus, für sie ist die ständig existierende Armut die Geschäftsgrundlage, da sie überwiegend im Auftrag des Staates und mit dessen Bezahlung die Betreuungsleistungen für die Betroffenen erbringen. Der Verweis auf wachsende Armut ist daher auch immer das Anmahnen zusätzlicher Leistungen für die Klientel, die man betreut.

Wie Cechura in seiner Analyse des neuesten Armutsdiskurses der Republik festhält, ist aber selbst dieses wohlmeinende Anmahnen einer Sozialfürsorge jetzt ungehörig. In einer Zeit, in der allen Bürgern eine Verarmung offiziell mit allen einschlägigen Durchhalteparolen und Warnungen vor „Kriegsmüdigkeit“ angesagt wird, ist offenbar der Verweis auf die steigende Zahl der Armen, die es auch ohne „Putins Krieg“ gibt, unangebracht. Das stört das feststehende Putin-Feindbild! Putin – und nicht die Ungleichheit – tötet schließlich systematisch Menschen auf dem Globus, wie die jüngsten westlichen Einlassungen zum Welthungerproblem (https://www.jungewelt.de/artikel/430674.ukrainekrieg-welthunger-als-waffe.html) noch einmal klargestellt haben.

Man soll die wachsende Armut eben nicht als Produkt dieser Gesellschaft, sondern als Ergebnis einer nationalen Notlage betrachten, die von auswärts verschuldet wurde. Das deutsche Volk soll das Hungern und Frieren als Herausforderung ans Gemeinschaftsgefühl nehmen und nur noch den Feind im Äußern kennen. Es soll unabhängig von der sozialen Stellung zusammenstehen und Verzicht üben. Und wer das noch nicht aus den Nachrichten wusste und die Reden von Scholz oder Habeck verpasst hat, bekommt es jetzt noch mal schriftlich von der Gewerkschaft und darf, wenn er einen Namen hat, unterschreiben.

Zuerst beim Overton-Magazin Krass & Konkret erschienen.

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Oben     —    Franz Müntefering (l.) und Gerhard Schröder (r.) bei der Abschlusskundgebung im Bundestagswahlkampf 2005 in Frankfurt am Main

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Viel Geschrei um nichts?

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Juli 2022

Das Larifari um das neue Bürgergeld

File:Die Linke Grundrecht Grundeinkommen BGE Berlin 2013.jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

In dem derzeitigen und unwürdigen Gezänk um das neue Bürgergeld (BG) in der sich selbst so bezeichnenden ‚Fortschrittskoalition‘ bedarf es einiger Klärungen, damit die Normalbürgerinnen verstehen, worum es eigentlich und im Detail geht.

Grundsätzlich geht es um die überfällige Reform der seit 17 Jahren praktizierten Grundsicherung (GS). Diese gibt es als GS für Arbeitssuchende (GSfA) (SGB II) und als GS im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiA) (SGB XII). Obwohl es sich um zwei völlig unterschiedliche Zielgruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebensumständen handelt, gilt für beide ein gemeinsamer Regelsatz. Gesetzliche Grundlage dafür ist das Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG). Die Ermittlung steht seit Einführung der GS wegen staatlicher Willkür und Berechnungstricks in der Kritik. Ein elemntarer Unterschied zwischen der GSfA und der GSiA geht in der derzeitigen Diskussion auch in unserer Gesellschaft völlig unter. Die GSfA – früher das Arbeitslosengeld II und heute umgangssprachlich Hartz 4 – ist für arbeitsfähige Menschen, die für eine gewisse, also mehr oder weniger begrenzte Zeit auf Arbeitssuche sind. Für diese Menschen wird gerne das Fordern und Fördern postuliert, bzw. dass Hart 4 kein Ruhekissen ist. Betagte GSiA-Empfänger hingegen brauchen ein sicheres Polster, um ihr Alter in Würde verbringen zu können. Da gibt es nichts zu fordern, da geht es um verantwortungsvolle Hilfe in der Not.

Und da tun sich wahre Abgründe zwischen der FDP-Ansicht zum Bürgergeld und dem Rest der ‚Fortschrittskoalition‘ und allen Sozialverbänden auf. Die SPD hat sich zwar noch nicht auf die Details des Heils des BG festgelegt, strebt aber deutliche Erhöhungen und neue Methoden der Berechnung an. Sinnvoll wäre es in diesem Zusammenhang, die Regelsätze für GSfA und GSiA getrennt zu berechnen, weil die jeweiligen Bedärfe und Lebensumstände so unterschiedlich sind. Die derzeit unwürdige Perspektive für den Lebensabend von Millionen Menschen, die wegen ihres Alters und oft auch ihrer Gesundheit keine Arbeit mehr aufnehmen können, muss in unserem reichen Land und im Interesse des Wohles unserer Gesellschaft zukunftssicher verbessert werden.

Die FDP kümmert sich mit schönen Worten und Wendungen scheinbar nur um die Menschen im arbeitsfähigen Alter. Für die soll GS/BG ‚aufstiegsorientierter‘ werden. Das von ihr vorgeschlagene Wundermittel ist die Abschaffung der ‚Kalten Progression‘ statt Anhebung der Regelsätze. Davon aber würden gerade die Gutverdiener profitieren, um die es beim BG gar nicht geht. Nach den Regeln der Kunst und der Meinung von Experten würde eine Einmalzahlung von z.B. 600 € 90% der Bevölkerung besser helfen als der Wegfall der kalten Progression. Und es kann auch nicht darum gehen, die finanzielle Selbstständigkeit zu ermöglichen.

http://www.archiv-grundeinkommen.de/material/pk/PK-6-finanzierbarL-v.jpg

Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Ältere auf Sozialhilfe angewiesen sind, muss Schluss sein mit dem Larifari um das neue Bürgergeld. Alle Karten müssen auf den Tisch mit allen darum herum, die mit Sachverstand und Herz mitzuentscheiden haben: die Ministerien und die Betroffenen, vertreten durch Sozialverbände. Sozialpolitische Ignoranz darf die dringend nötige Reform der GS nicht blockieren.

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Source Die Linke

Author stanjourdan from Paris, France

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Grundzüge des Bürgergeldes

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Juli 2022

Arbeitsminister Heil hat Grundzüge des „Bürgergeldes“ vorgestellt

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Harald Thomé 

Diese Woche hat Arbeitsminister Heil die ersten Grundzüge der Änderungen beim Bürgergeld vorgestellt. Den Gesetzesentwurf allerdings noch nicht. Die Stichworte, aus denen durchaus einiges herauszulesen ist, habe ich für die Tachelesseite zusammengefasst (Stand 20.07.2022):

Eckpunkte der Bürgergeldreform

Existenzsicherung: Wohnen, Vermögen, Einkommensanrechnung

  • Karenzzeit für Wohnen: Höherer Schutz von selbst genutztem Eigentum / Angemessenheitsfiktion von Unterkunfts- und Heizkosten für zwei Jahre
  • Karenzzeit für Vermögen: Schonvermögen von 60.000 € für eine Person zzgl. 30.000 € für jede weitere Person in den ersten zwei Jahren
  • Erhöhung das Schonvermögen von 15.000 € nach Karenzzeit pro Person in BG
  • Weiterer Schonvermögensbetrag für Altersvorsorge
  • Genereller Schutz von Kfz
  • Höhere Freibeträge für die Ausbildungsvergütung oder den Nebenjob bei Schülern, Studenten und Auszubildende von 520 €/mtl.
  • Umstellung der Anrechnung des Einkommens auf Ehrenamt und Aufwandsentschädigung auf kalenderjährliche Berücksichtigung, orientiert am Steuerrecht

Eingliederung in Arbeit

  • Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt soll stärker auf Vertrauen und Augenhöhe beruhen
  • Statt Eingliederungsvereinbarung gemeinsam erarbeiteter „Kooperationsplan“, bei Differenzen ist ein  Schlichtungsmechanismus geplant
  • Bei Menschen, mit mehreren schwerwiegenden Problemen, die keine Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt aufnehmen können, soll ein Coaching Standardinstrument werden

Sanktionen und Arbeitsmarkteingliederung

  • In den ersten sechs Monaten des Bürgergeldbezuges keine Sanktionen, solange gilt eine sogenannte „Vertrauenszeit“.
  • Danach sind Sanktionen zulässig, Begrenzt auf höchstens 30 % des Regelsatzes
  • Termine im Jobcenter bleiben Pflicht, sollen aber flexibler formlos möglich werden
  • Entfristung des Sozialen Arbeitsmarkt (§ 16i-Maßnahmen)

Mehr Qualifizierung

  • Abschaffung des Vermittlungsvorrangs, stattdessen Aus- und Weiterbildungen
  • Zukünftig dreijährige Berufsausbildung
  • Förderung des Erwerbes von arbeitsmarktbezogenen Grundkenntnissen  (zB. Lese-, Mathe- und IT-Fertigkeiten)
  • Weiterbildungsgeld von 150 € im Monat
  • Bei Teilnahme an Maßnahmen, zB. Sprachkurs, Zahlung Bürgergeldbonus von 75 € im Monat.
  • nach Ende der Weiterbildung Anspruch auf drei Monate ALG I
  • Abschaffung der Pflicht zur Inanspruchnahme der vorgezogenen Altersrente
  • keine Rausnahme älterer Arbeitsloser aus Arbeitslosenstatistik

Weniger Bürokratie

  • Digitale Anträge sollen möglich sein
  • Bagatellgrenze von 50 Euro für Rückforderungen
  • Bei Reha kein Übergangsgeld, stattdessen weiterhin Bürgergeld
  • Abschaffung der Regelungen zur Ortsabwesenheit
  • Anrechnungsfreistellung von Mutterschaftsgeld

Regelsätze

Neubemessung der Regelsätze, sobald die dafür notwendigen Berechnungen abgeschlossen sind

Die Eckpunkte der Bürgergeldreform können auch hier nachgelesen werden: https://t1p.de/hgctm.

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Hintergrundmaterial: Internes Infopapier des BMAS zu den Eckpunkten des Bürgergeldes

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Anmerkungen zu den Bürgergeldreformen an Politik und Betroffene

Ich kann und möchte mir ein paar Anmerkungen zur Bürgergeldreform nicht verkneifen. Natürlich sind viele Regelungen in die richtige Richtung gehend. Tatsächlich befindet sich das Arbeitslosensicherungssystem mit der Abschaffung des Vermittlungsvorranges zur Förderung der Aus- und Weiterbildung im Umbruch, vom Überfordern zum Fördern. Bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts waren noch 100 % Sanktionen bis zur absoluten Existenzvernichtung möglich, derzeit haben wir das Sanktionsmoratorium, später dann Sanktionen, die, im Verhältnis zu vorher, moderater sind.
Aber es soll noch Sanktionen geben und die Regelleistungen absolut unzureichend bleiben. Millionen von Menschen, wie die Hartz IV-Beziehenden, die Altersrentner*innen und die Geflüchteten können ihre Existenz durch Inflation und Preissteigerungen nicht mehr sicherstellen. Wir haben eine Situation, die offen verfassungswidrig ist, ich verweise wieder einmal auf das BVerfG selbst:

„Der Gesetzgeber hat … Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht“ (BVerfG 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 ua, Rn. 140) und „ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten“ (BVerfG 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 ua, Rn. 144).

Viele haben es probiert- aber Schröder und Gabriel haben immer blockiert ?

Diese Situation ist nicht ausreichend mit der Einmalzahlung abgedeckt, hier muss jetzt deutlich mehr passieren. Politik und Verwaltung wissen, dass die Musterverfahren vom VDK und SOVD zum BVerfG Jahre dauern bis sie zur Entscheidung gebracht werden. Es nützt jetzt und in den nächsten Monaten den Menschen nichts, wenn das BVerfG in im besten Fall zwei Jahren feststellt, dass die Hilfepakete zu gering und verfassungswidrig waren.
Sollte die FDP weiter blocken, könnten trotzdem jetzt sofort verschiedene Punkte getan werden. Diese voran stellen möchte ich aber die konkrete Forderung um Anhebung der Regelleistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens um 200 EUR monatlich!

Des Weiteren könnte sofort geändert werden:

  • 1. Herausnahme der Haushaltsenergie aus den Regelleistungen, Aufnahme der Haushaltsenergie zusätzlich zu den KdU und Heizung (siehe https://t1p.de/bz7t)
  1. Wiedereinführung einmaliger Beihilfen, so wie es das BVerfG selbst fordert (BVerfG 23.7.2014 – 1 BvL 10/12, Rn 116) und durch Weisung zu § 21 Abs. 6 SGB II aus dem Hause des BMAS und der BA blockiert werden.
  2. Einführung eines Aufrechnungsmoratoriums:im SGB II gibt es eine Vielzahl von Kürzungen /Aufrechnung der sowieso unzureichenden Regelbedarfe, diese Kürzungen müssen für einen Zeitraum von mind. zwei Jahre ausgesetzt werden. Die bis 2011 geltende Rechtslage: die Regelleistung stellt das Existenzminimum da und darf nicht gekürzt werden (§ 51 SGB I) ist wieder anzuwenden, bzw. die Kürzungsregeln in der Existenzsicherung sind rauszunehmen (mehr unter https://t1p.de/f6ur9, Thomé NL 19/2021, Nr. 2).
  3. Aussetzen aller Kürzungen bei den Unterkunfts- und Heizkosten. Nach § 22 Abs. 1 S. 2 und 3 SGB II können Unterkunfts- und Heizkosten gekürzt werden. Im Jahr 2020 lag die sog. Wohnkostenlücke bei rd. 450.000 Haushalten durchschnittlich bei 87 EUR pro gekürztem Haushalt, in einzelnen Städten/Kreisen lagen die Kürzungen bei bis zu 234,84 EUR monatlich (siehe https://t1p.de/q2o8). Für das Jahr 2021 sind noch keine Zahlen bekannt. Diese Kürzungen des Existenzminimums müssen unverzüglich aufhören, daher ist hier auch ein KdU – Moratorium umzusetzen.
  4. Maßnahmen zur Abwendung von Energiearmut.Dann müssen Regelungen zum Thema gestiegene Energiepreise gefunden werden, Tacheles hat dazu im April schon konkrete Vorschläge an Herrn Heil gemacht: https://t1p.de/zxvc2Diese sind unfreundlicherweise von Herrn Heil bis heute unbeantwortet geblieben.

Als letztes möchte ich mahnend an die Millionen von Rentner*Innen erinnern, die meisten können noch nicht mal arbeiten gehen, um etwas dazu zu verdienen. Hier müssen schnell umfassende Verbesserungen gefunden  werden.

Wenn ich bei den Worten des Kanzlers bleibe „Wir lassen die Bürgerinnen und Bürger nicht alleine“ ist jetzt dringender Handlungsbedarf, denn es werden Millionen Menschen in der schlimmsten Krise in der Nachkriegszeit weitgehend alleine gelassen.

Hier ist jetzt und heute ganz viel zu tun. Ideen liegen auf dem Tisch.

Und an diejenigen, die es betrifft: damit was getan wird, muss Druck gemacht werden. Auf der Straße, vor Parteibüros und vor Energieversorgern, nur dann bewegt sich etwas. UND diesen Druck zu machen, kann und darf nicht zusammen mit Rassist*innen, Reichsbürger*innen, Nazis und Antisemit*innen gemeinsam geschehen. Diese sehnen grade einen „heißen Herbst“ herbei.
Hier muss die Parole sein, auf keinen Fall gemeinsam mit diesen auf die Straße zu gehen!

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Oben     —     Bundesminister Hubertus Heil während einer Plenarsitzung des Deutschen Bundestages am 2. Juli 2020 in Berlin.

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Die Geschmeidigen mit 40

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Juli 2022

„Was Frau Baerbock aufwärmt, ist sehr konservativ“

Das Interview mit Nora Bossong führte Peter Unfried.

Die Schriftstellerin Nora Bossong über die Generation der 40-Jährigen – Christian Lindner, Annalena Baerbock – und ihren gehetzten Versuch, alles nebeneinander hinzukriegen.

taz am wochenende: Sie haben früher an linke Utopien geglaubt, heute nicht mehr. Was hat Sie umdenken lassen, Frau Bossong?

Nora Bossong: Ich stand mal einem aktivistischen Künstler nah, der für seine Utopien gefeiert wird. Diese Zeit hat mich extrem ernüchtert. Natürlich ist es schwierig, von einem narzisstischen Utopievermarkter auf Utopien als solche zu schließen. Aber ich habe selten so viel Zynismus und Ausnutzung anderer erlebt wie in dieser Zeit, als ich da hinter die Kulissen blickte.

In unseren linksliberalen Milieus galt das realitätsferne Feiern von Utopien bis eben noch als ein Zeichen von moralischer Exzellenz. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ist ein Bruch unserer Zeit. Welche Utopien sollten gerade die 40-Jährigen schleunigst vergessen, über die Sie ein Buch geschrieben haben?

Grundsätzlich glaube ich eher, dass man sehr früh verzagt ist, was die Umsetzung von Wandel angeht. Dass man zu schnell klein beigegeben hat, zu angepasst war, also nicht genügend rebelliert hat gegen die Älteren, oder die, die am „Weiter so“ interessiert waren.

Wie kommt das?

Es hat vor allem auch an einem Mangel an Fantasie gelegen. Das ist mir gestern durch den Kopf gegangen, als ich mal wieder „Die Enden der Parabel“ von Thomas Pynchon las, bei dem die Fantasie wirklich überbordend ist. Das Buch hat eine unfassbare Vorstellungskraft. Ein einziger LSD-Rausch! Die Literatur von heute hat im Vergleich dazu den Fantasie-Überschuss eingehegt. Wenn man das auf die Politik überträgt, dann ist man vielleicht auch hier versucht, eine glatte Oberfläche zu schaffen.

In Ihrem Buch „Die Geschmeidigen“ analysieren Sie, dass jene 40-Jährigen, die jetzt in der ersten Reihe stehen oder dahin drängen, einerseits kompromissbereiter und fantasieloser daherkommen als klassische 68er- und Boomer-Politiker, sich andererseits aber für die Größten halten. Ich denke da sofort an Christian Lindner, Jahrgang 1979, und Annalena Baerbock, Jahrgang 1980.

Juni 2021

Also, was diese Jüngeren in der Regierung auf jeden Fall nicht auszeichnet, ist ein Übermaß an Demut. Sie sind nicht mehr superjung, aber für eine politische Spitzenposition schon sehr jung, und sie glauben, dass sie die Dinge viel besser können als die Leute, die noch vor ihnen und altersmäßig über ihnen stehen. Das ist natürlich eine gewisse Anmaßung, aber im Auftritt viel sanfter, als es die 68er waren. Die haben sich überhaupt nicht angepasst, sondern den offenen Zwist mit der Nazigeneration vor sich eröffnet. Die Klimajugend hat jetzt wieder ähnliche Narrative, auch von der Wortwahl her. Ich saß neulich auf diesem Podium mit Olaf Scholz, bei dem Luisa Neubauer einen Nazivergleich des Kanzlers herauszuhören meinte. Das scheint mir viel über Neubauer zu sagen, weil sie gar keine andere Zeit als Vergleichsmöglichkeit in Erwägung zu ziehen scheint.

Mit welcher Zeit hat Scholz denn Ihrer Deutung nach die schwarzgekleideten Aktivisten verglichen?

Ich glaube, er hat die 70er gemeint, also die Linksradikalen, die dann ja auch zur Zersplitterung der Linken geführt haben. Jedenfalls agieren die in den 80ern Geborenen anders als die Klimajugend. Natürlich sind sie alle unterschiedlich, aber es eint sie ein gewisser Pragmatismus und dass sie auf eine leisere und scheinbar angepasste Art und Weise das Zepter zu übernehmen versuchen. Da wird keine Palastrevolte angezettelt; es ist eher so ein Wegnicken der Älteren.

Teile dieser Alterskohorte sind international ausgebildet, haben liberale und solvente Eltern, die sie gefördert haben, und bekamen den Eindruck vermittelt, dass die ganze Welt ihnen offensteht.

Ja, aber sie haben auch ein gehetztes Leben, weil sie in einer Spirale der Übererfüllung von unterschiedlichen Anforderungen sind. Da ist ja Anne Spiegel …

… die kurzzeitige Familienministerin der Grünen, Jahrgang 1980 …

… ein, in Anführungszeichen, gutes Beispiel. Eine Politikerin, die versucht hat, familiär wie beruflich Dinge überzuerfüllen, Großfamilie und diverse Spitzenpositionen in der Politik, in einer Phase ihres Lebens, in der alles so auf Kante genäht ist, dass es nur funktionieren kann, wenn nicht irgendein Schicksalsschlag dazwischenkommt.

Dann kam der Schlaganfall ihres Mannes.

Es hätte auch irgendwas anderes sein können. Vielleicht ist es ja das, was man als die Utopie der 40-Jährigen bezeichnen könnte: Die Übererfüllung von allen Möglichkeiten, die uns das Leben bietet. Das Problem ist, dass man in diesem Modus der Übererfüllung nicht mehr sagen kann: Ich schaffe das alles jetzt nicht mehr. Denn dann müsste man sich das Scheitern dieser Utopie eingestehen.

Man muss als um 1980 geborene neue Mittelschicht verstehen, dass man alle Möglichkeiten hat, aber nicht alle gleichzeitig haben kann?

Ich glaube nicht, dass man alle Möglichkeiten hat. Man sollte vielleicht besser verstehen, dass eine Möglichkeit sich nur realisieren lässt zuungunsten anderer Möglichkeiten. Die 40-Jährigen sind eine Generation, die politisch sehr kompromissfähig ist, aber überhaupt nicht, was die eigene Selbstverwirklichung angeht.

Da gilt der Verzicht appellativ und das Gerede von „Weniger ist mehr“ gerade bei den Grünen überhaupt nicht.

Es soll immer alles gehen, und das Mittel ist Optimierung. Genau dadurch macht die Generation sich aber das Leben auch extrem schwer.

Also entweder Spitzenpolitiker oder Spitzeneltern?

Nach dem Rücktritt von Anne Spiegel flammte kurz in den sozialen Medien eine Diskussion über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf. Ich finde es gut und wichtig, darüber zu reden. Nur weiß ich nicht, ob man das unbedingt anhand von politischem Spitzenpersonal diskutieren sollte oder vielleicht besser anhand der Pflegerin mit zwei Nebenjobs? Als Annalena Baerbock im Wahlkampf sinngemäß sagte, wenn sie Kanzlerin sei, werde es Momente geben, in denen sie bei ihren Kindern sein werde und nicht im Kanzleramt; das hat nicht dazu geführt, dass ich unbedingt gewillt war, sie zu wählen.

Nein? Einigen Leuten ging das Herz auf.

Ich dachte, es ist natürlich total schön, dass sie bei ihren Kindern sein will, aber wenn es hart auf hart kommt, hätte ich gern die Kanzlerin im Amt. Letztlich sagt der Satz vor allem etwas darüber, wie leicht Frauen in Deutschland als Rabenmütter abgestempelt werden. Dem wollte sie, glaube ich, zuvorkommen.

Sie gehören zu den wenigen linksliberalen Frauen, die die Außenministerin nicht als Rollenmodell einer emanzipatorischen Politikerin feiern. Im Tagesspiegel haben Sie ihr eine „reaktionäre“ identitätspolitische Zuspitzung auf das eigene Erleben als Frau und Mutter attestiert, weil sie eine Aufforderung zum „Härtetest“ mit täglichem Wodkatrinken von Russlands Außenminister mit den Worten ablehnte: „Ich habe zwei Kinder geboren.“

Die Argumentation ist, als ob ich sagen würde: Ich habe Geburtswehen überstanden, deswegen bin ich eine gute Schriftstellerin. Oder deswegen bin ich top in Sicherheitspolitik.

Wenn Kinderkriegen ein Kriterium politischer Qualifikation sei, sagten Sie, „dann wäre ja Magda Goebbels eine ganz starke Politikerin gewesen“. Was Annalena Baerbocks Verteidiger sehr empörte, weil sie mit dem Satz irrelevante Männlichkeitsgesten entlarvt habe. Wie sehen Sie das inzwischen?

Sie hat unpassende Männlichkeitsgesten ja nur durch ebenso unpassende Weiblichkeitsgesten ersetzt. Das Biologische kommt da in einem Maße wieder in einen politischen Kontext rein, in dem es wirklich nichts zu suchen hat. Es freut mich für Frau Baerbock, dass sie zwei Kinder hat. Punkt. Aber das ist keine Qualifikation für ihr Amt als Außenministerin, genauso wenig wie es eine Disqualifikation von Angela Merkel war, dass sie keine Kinder hat, wie das anfangs aus reaktionären Kreisen gegen sie angeführt wurde. Was Frau Baerbock hier wieder aufwärmt, ist genau das Gleiche. Sie tut nur so, als wäre es progressiv, weil sie von links zu kommen scheint. Aber es ist sehr, sehr konservativ.

Wen fanden Sie denn bei Ihren Treffen mit den Spitzenpolitikern dieser Generation am interessantesten, sei es nun positiv oder negativ?

Sehr gut klar kam ich mit Katja Kipping, die Spitzenpolitikerin war, aber eben nicht mehr an der Spitze der Linkspartei steht. Bei ihr hat mir die Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung sehr imponiert, ihre nicht aufgesetzte Normalität und intellektuelle Neugier. Kipping war auch die einzige Politikerin, die mir Fragen gestellt hat, anstatt nur meine Fragen zu beantworten.

Was ist mit unserem Finanzminister? Er könnte doch ein Role Model sein für 40-Jährige, die auf verdrucksten Sozialdemokratismus und grünes Gouvernantentum allergisch reagieren – und erst Recht auf Lindner-Hass?

Christian Lindner kenne ich, seit er FDP-Generalsekretär war. Also, ich hasse ihn nicht. Aber mir fällt schon auf, dass er sehr viel Hass auf sich zieht, stärker als andere Politiker in gleichrangigen Positionen. Was ihn wiederum eint, beispielsweise auch mit Baerbock, ist eine bestimmte Art der Performance, die sich etwa auf dem Viererselfie mit Wissing und Habeck kurz nach der Wahl zeigt. Selbstvermarktung, Selbstbewusstsein, und, wie die FAZ schrieb: Strategie hat Ideologie abgelöst – und die Kellner den Koch.

Emmanuel Macron, Jahrgang 1977, gefällt Ihnen besser als Lindner?

Literarische Bildung hat für Macron einen Stellenwert. Ich glaube, das wird in der deutschen Politik von fast allen unterschätzt. Und dann sind sie überrascht, wie toll Habeck reden kann.

Sie zitieren in Ihrem Buch einen pompösen Satz von Christian Lindner. Er sagt über seine Generation: „Was manchen möglicherweise fehlt, das ist die charakterliche Härte, wie sie die Generation der Kriegsteilnehmer besaß.“

Der Satz wurde bei der Autorisierung noch ein bisschen zugespitzt. Gerhart Baum …

… sozialliberaler FDP-Grande und Lindners Nemesis …

… war ja bei meiner Buchpremiere. Danach sagte er: „Na ja, die Härte, die hat er ja, der Lindner. Und den Krieg jetzt auch.“

Die „ausgestellte Authentizität meiner Generation“, schreiben Sie, „verhindert wirkliche Tiefe“. Was meinen Sie damit?

Wenn Andreas Scheuer oder Dorothee Bär oder wegen mir auch Christian Lindner uns über soziale Medien mitnehmen, um ihnen am Sonntagnachmittag zuzugucken, wie sie Fahrrad fahren oder angeln, dann tun sie so, als ließen sie uns ganz nah ran. Aber es ist natürlich eine vollkommen kontrollierte Oberflächendarstellung.

Ist das denn bei Vizekanzler Robert Habeck anders?

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —      deutscher Schriftsteller de:Nora Bossong beim Erlanger Poetenfest 2015

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Typisch für Deutschland

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Juli 2022

Der deutsche Sozialstaat ist festanstellungssüchtig

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Die haarsträubende Ausschreibung eines Jobcenters in Kaiserslautern offenbart die typisch deutsche Ablehnung der Selbstständigkeit. Auch die Gesetzeslage passt dazu – und muss geändert werden.

Ein Jobcenter in Kaiserslautern sucht Fachleute für Weiterbildungmaßnahmen zur Eingliederung in den deutschen Arbeitsmarkt »für Menschen mit hauptsächlich migrationsbedingten Hemmnissen«. So weit, so gut.

Ziel der Maßnahmen ist die erfolgreiche »Vermittlung und anschließende Stabilisierung der versicherungspflichtigen Beschäftigung, sowie Aufklärung über Selbständigkeit in Deutschland«. Das ist natürlich großartig, weil die Digitalisierung und eigentlich das ganze 21. Jahrhundert mit seinen Errungenschaften und Problemen neue Arbeitsformen, neue Flexibilität und neue Denkweisen erfordern.

Das Jobcenter Kaiserslautern hat dafür eine Ausschreibung veröffentlicht . Sie besteht aus zwölf PDFs mit teilweise über zwanzig Seiten sowie einer AIDF-Datei, eine Spezialdatei zur Öffnung eines Java-basierten Ausschreibungstools einer Privatfirma. Die Dokumente sind inzwischen in der vierten Version veröffentlicht, alle sind immer noch online, sodass ein Konvolut von jetzt zweiundfünfzig Dateien die Ausschreibung samt ihrer Geschichte umreißt. Das ist vorteilhaft, so wird man bei der Betrachtung bereits auf die deutsche Arbeitsbürokratie eingestimmt. Und die birgt, versteckt auf Seite 21 von 23 im Dokument Vergabeunterlagen/Version3/B_Leistungsbeschreibung_Stand_06.07.2022.pdf , eine granatenhafte Amtszumutung der Sonderklasse. Diese Zumutung betrifft in erster Linie Selbstständige, in zweiter Linie aber das ganze Land samt der kommenden Generationen. Und das ist leider keine Übertreibung. Denn im Abschnitt »Inhalte der Maßnahme und deren Qualitätsstandards« hat das Jobcenter Kaiserslautern formuliert:

»Die Selbständigkeit als Alternative zu einem regulären Arbeitsverhältnis soll während der Maßnahme sehr kritisch betrachtet werden. … Hierbei sollen die Nachteile der Selbständigkeit deutlich hervorgehoben werden … Insgesamt ist verstärkt auf die negativen Seiten der Selbständigkeit einzugehen. Ggfs. können während der Maßnahme zur Verdeutlichung der Nachteile Gastredner hinzugezogen werden, die von ihren negativen Erfahrungen mit der Selbständigkeit berichten.«

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Zum Thema „Deutscher Behörden-Wahnsinn“ weiter lesen :

Peter-Prinzip – Wikipedia

Wäre das eine einzelne, missglückte (und inzwischen geänderte) Passage, könnte man immer noch empört sein. Man könnte über einen eventuellen chauvinistischen oder gar rassistischen Unterton diskutieren, der migrantischen Personen prinzipiell die Selbstständigkeit madig machen will. Leider aber ist das nicht bloß eine bestürzende Formulierung, zum Glück entdeckt von der unternehmerischen Aktivistin Catharina Bruns . Es handelt sich vielmehr um einen Moment, in dem eine selten unverklausuliert geäußerte, aber allgegenwärtige deutsche Haltung offenbar wird: die Ablehnung der Selbstständigkeit durch weite Teile des Staatsapparats und auch eines Teils der Öffentlichkeit.

Deutschland ist das angestellteste Land der Welt, jedenfalls, was die Geisteshaltung angeht. Zur regelrechten Verachtung der Selbstständigen durch Teile der Politik und der Verwaltung kommen die verschiedenen politischen Ablehnungserzählungen. Konservative sehen oft nur in erfolgreichen Selbstständigen wertvolle Mitglieder der Gesellschaft, Linke bringen oft genug Verächtlichkeit und Misstrauen gegen unternehmerisches Handeln mit. Als selbstständige Person kann man ohne größere Schwierigkeiten gleichzeitig von denen einen als Schnorrer und von den anderen als Ausbeuter gebrandmarkt werden. Selbstständigkeit und erst recht Soloselbständigkeit erscheint zu vielen Leuten in Deutschland immer noch als irgendwie unseriös oder gar als Faulenzertum. Und wer öffentlich zugibt, als selbstständige Person auch mal schwierige Phasen gehabt zu haben, wird zuverlässig mit Häme überschüttet.

Quelle        :      Spiegel-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —   Eingang zum Jobcenter Region Hannover an der Vahrenwalder Straße 145 in Hannover. Die Einrichtung ist mittwochs geschlossen …

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Löhne+Wirtschaftswachstum

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Juli 2022

Mythos namens Lohn-Preis-Spirale

Entwicklung der Nominal- und Reallöhne in Deutschland[1]

Von  :  Marcel Fratzscher

Lassen steigende Löhne Unternehmen pleitegehen? Im Gegenteil! Das deutsche Wirtschaftsmodell beruht auf gut bezahlter Arbeit.

Das Schreckgespenst der Lohn-Preis-Spirale ist in aller Munde. Überzogene Lohnforderungen der Beschäftigten, so die Befürchtung, könnten Unternehmen auf Jahre hinaus zu hohen Preissteigerungen zwingen, was zu einer schädlich hohen Inflation und im Extremfall sogar zu einer anhaltenden Stagflation (eine hohe Inflation bei gleichzeitig geringem Wachstum) führe. Was ist dran an diesem Mythos? Ein nüchterner Blick auf die derzeitige Realität zeigt eher das gegenteilige Bild: Die Lohn­ent­wicklung ist schwach, die Inflation wird von den Unternehmen und durch importierte Energie getrieben. Somit würde auch die konzertierte Aktion der Bundesregierung scheitern, wenn es ihr primäres Ziel wäre, Beschäftigte zu Lohnverzicht zu drängen.

Eine Lohn-Preis-Spirale kann unter zwei Voraussetzungen entstehen: Zum einen, wenn Beschäftigte und Gewerkschaften so große Macht in den Verhandlungen mit den Ar­beit­ge­be­r*in­nen haben, dass sie Löhne und Arbeitsbedingungen praktisch diktieren können. Die zweite Bedingung: Beschäftigte und Gewerkschaften orientieren sich bei ihren heutigen Lohnforderungen an der Inflation von gestern und nicht an einer für die Zukunft realistischen Inflationsrate. Wenn beide Bedingungen zutreffen, dann können Lohnerhöhungen die Zahlungsfähigkeit oder -willigkeit der Unternehmen übersteigen, sodass diese die höheren Lohnkosten in Form gestiegener Preise an die Kon­su­men­t*in­nen weitergeben.

Das wiederum könnte die Lohnerhöhungen weiter befeuern und zu einer exzessiven Inflation führen. Ein solches Koordinationsproblem zwischen Ar­beit­ge­be­r*in­nen und Ar­beit­neh­me­r*in­nen kann dann meist nur die Zentralbank brechen, die mit einer massiven Zinserhöhung die Wirtschaft in eine Rezession zwingt, mit enormen wirtschaftlichen und sozialen Folgen wie Unternehmenspleiten und hoher Arbeitslosigkeit.

Vielmehr eine Preis-Preis-Spirale

Nie jedoch waren die Voraussetzungen für eine Lohn-Preis-Spirale in Deutschland in den letzten 70 Jahren weniger gegeben als heute. Die realen Löhne und damit die Kaufkraft der Einkommen dürften mit durchschnittlichen Lohnerhöhungen von 4 bis 5 Prozent und einer Inflation von über 7 Prozent in diesem Jahr deutlich sinken. Vieles spricht dafür, dass die Lohnentwicklung eher zu schwach als zu stark ist. Denn einige große Unternehmen in Deutschland fahren hohe Gewinne ein und schütten Dividenden aus.

Das Wachstum der Produktivität ist weiterhin robust und der Anstieg der Lohnstückkosten eher moderat. Es scheint also, dass zumindest in manchen Branchen die Unternehmen das größte Stück des Kuchens für sich beanspruchen und ihre Beschäftigen zum Verzicht drängen.

Somit ist die Lohn-Preis-Spirale nicht mehr als ein Mythos. Mit einem moralischen Unterton, der implizit Beschäftigten und Gewerkschaften die Verantwortung für die hohe Inflation gibt. Was heute existiert, ist vielmehr eine Preis-Preis-Spirale, bei der sich die über die Energiekosten importierte Inflation und von Unternehmen bestimmte Konsumentenpreise gegenseitig verstärken. Wenn überhaupt, dann könnte in Zukunft eine Preis-Lohn-Spirale entstehen, wenn denn die Löhne so stark steigen sollten, dass sie die Inflation der Konsumentenpreise übertreffen.

Nun befürchten Kritiker*innen, die Gewerkschaften könnten den Bogen in den kommenden Jahren überspannen. Aber dies ist eher unwahrscheinlich, auch weil die Macht der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen hat. Weniger als die Hälfte aller Beschäftigten sind heute über Tarifverträge abgedeckt. Zudem haben Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise der 2000er Jahre und nach der globalen Finanzkrise 2008 durchaus bewiesen, dass sie ihren Beitrag zur Bewältigung von Krisen zu leisten bereit sind.

Lohnerhöhungen können aus einer gesamtwirtschaftlichen Sicht zu stark, aber auch zu schwach sein. Denn je stärker die Kaufkraft schrumpft, desto höher ist auch der Schaden für die Wirtschaft. Umgekehrt können zu starke Lohnerhöhungen zu Beschäftigungsverlusten und Arbeitslosigkeit führen. Dies zeigt, dass langfristig die Interessen der Ar­beit­ge­be­r*in­nen und Ar­beit­neh­me­r*in­nen nicht gegeneinander stehen können.

Quelle        :       TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben       —      Entwicklung der Nominal- und Reallöhne in Deutschland[1]

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St. Tropez oder Malle?

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Juli 2022

Urlaubschaos – die Früchte freien Unternehmertums

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :  Suitbert Cechura

Das liebe Geld sorgt für die richtige Verteilung. Einfach Ferien planen und dann klappt das? Von wegen! Auch die besten Wochen im Jahr sind Gegenstand von vielen Geschäftemachern. Und die haben ihre eigenen Kalkulationen.

Kaum auszudenken, was wäre, wenn man nicht nur seinen Urlaub, sondern auch seine Urlaubswünsche anmelden müsste und dann mitgeteilt bekäme, ob sie sich realisieren liessen oder man umplanen müsse. Das wäre ja dann Plan-Wirtschaft! Gut deshalb, dass wir Marktwirtschaft haben. Da können sich die Bürger im Lande jeden Tag über ihre Vorzüge freuen. Zwar muss man auch in dieser Gesellschaft anmelden, wann man Urlaub zu nehmen gedenkt und bekommt mitgeteilt, ob sich die Urlaubswünsche mit den betrieblichen Abläufen vereinbaren lassen oder nicht. Aber wohin es geht, wie man seinen Urlaub zu gestalten gedenkt, bleibt ganz der eigenen Initiative und der eigenen Planung und Umsetzung überlassen – und den auf Gewinn ausgerichteten Reiseangeboten natürlich. Das kennzeichnet eben eine freiheitliche Gesellschaft.

St. Tropez oder Malle? Das liebe Geld sorgt für die richtige Verteilung

Um seinen Urlaub zu planen, muss man nicht mehr umständlich in ein Reisebüro gehen. Schliesslich läuft heute alles ganz einfach über das Internet mit einer Vielzahl von Urlaubsangeboten. Da steht einem die ganze Welt offen, von der Arktis bis zur Antarktis, vom Eismeer bis zum Sonnenstrand. Der Markt sorgt dafür, dass es für jeden das passende Angebot gibt, wobei sich das Passen vor allem auf den Geldbeutel bezieht. Das grenzt den Kreis der Urlaubswünsche gehörig ein. Doch wer geschickt plant, kann auch da für sich das Passende finden. Schliesslich soll doch der Preis dafür sorgen, dass alles dorthin kommt, wo es gebraucht wird, so die Weisheit der Volkswirtschaftslehre.

Die Orte, wohin alle wollen, wie Cap Antibes bei St. Tropez oder die Bahamas, sind natürlich sehr teuer, schliesslich sind die Plätze dort sehr knapp. Und da, wo auch das weniger einkommenstarke Volk hin will, sind die Preise niedriger, wie an den Massenstränden auf Mallorca. Deshalb ballt sich alles an den billigen Stränden und sind die teureren nicht so überlaufen, wie jeder aus eigener Erfahrung weiss. Wer also entsprechend auswählt, kann also das für seinen Geldbeutel passende buchen. Die Bestätigung bekommt der Kunde auch per mail.

Für die Anreise zum Flughafen hat der Kunde ebenfalls freie Wahl: Mit dem eigenen Auto, dann hat er es weitgehend in der eigenen Hand, wie schnell er zum Flughafen kommt, es sei denn, er kommt in einen Stau. Für einen Parkplatz ist gesorgt, dafür muss man halt nur eine Stange Geld bezahlen für die Dauer des Urlaubs. Eine Alternative ist der Öffentliche Nahverkehr, der gerade zu Zeiten des Neun-Euro-Tickets sich grosser Beliebtheit erfreut und viel genutzt wird. Da ist es mit der Pünktlichkeit aber so eine Sache, und man findet sich wieder im engen Kontakt zu seinen Mitmenschen. Die dritte Alternative bietet das freie Unternehmertum in Form des Taxis. Die relativ hohen Kosten verdanken sich allerdings nicht der Bezahlung der Fahrer.

Am Flughafen: Das fängt ja gut an!

Der Flughafen selber ist ein wahrer Marktplatz und Hort des Unternehmertums, die sich dort zuhauf tummeln. Da ist zum einen die Flughafengesellschaft, die ihr Geschäft damit verdient, dass sie Fluggesellschaften Schalter vermietet zum Einchecken und zur Gepäckaufgabe und zum Starten und Landen ihrer Flieger. Zudem bietet sie eine ganze Reihe von Läden an, die dem Kunden die Wartezeit im Flughafen überbrücken helfen. Denn davon hat der Kunde dank des guten Services der Geschäftsleute, die sich alle um ihn bemühen, sehr viel. Er kann schon vor dem Urlaub Geld ausgeben und Händler glücklich machen!

Denn das Einchecken und die Aufgabe des Gepäcks nimmt viel Zeit in Anspruch, vor allem deshalb, weil auch die Flugunternehmen planen und kostenbewusst handeln. Das hat dazu geführt, dass sie in Zeiten der Pandemie viele ihrer werten Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt oder gleich entlassen haben. Zwar war abzusehen, dass mit dem Abklingen der Pandemie die Reisetätigkeit wieder zunehmen würde, aber das geht ja im Kapitalismus gar nicht: Bereits Leute einzustellen, obwohl noch nicht geflogen wird. Das kostet schliesslich nur und bringt nichts ein. Also wurde erst mit der Personalakquise begonnen, als die Urlauber in die Flughäfen strömten. Für den Engpass an den Schaltern ist den Unternehmen daher nichts vorzuwerfen, war doch in der Kürze der Zeit leider, leider nicht ausreichend qualifiziertes Personal zu bekommen.

Die Sicherheitsüberprüfung der Fluggäste vor dem Besteigen der Flieger ist eigentlich ein hoheitlicher Akt und damit Sache der Polizei. Aber auch im öffentlichen Dienst ist man kostenbewusst und hat daher diesen Bereich privatisiert, sprich zu einem Geschäft gemacht. Dadurch sollten die Kosten vor allem am Personal gesenkt werden, unterliegen die Mitarbeiter dort doch damit nicht mehr den Tarifen des öffentlichen Dienstes und gehören damit zum Billiglohnsektor. Auch hier bewährt sich das Geschäft am Dienst am Kunden durch den besonderen Service, den verbeamtete natürlich nie erbringen könnten.

Dies zeigt sich vor allem zurzeit in den langen Wartezeiten an den Schaltern. Schliesslich konnten auch die Sicherheitsfirmen nicht einfach Leute bezahlen, wo die noch gar nichts zu tun hatten. Als es dann wieder viel zu tun gab, waren wieder einmal gar keine Leute mit entsprechender Qualifikation zu finden. Das ist selbstverständlich weder der Privatisierung anzulasten noch den Sicherheitsfirmen. Es haben sich ja alle bemüht, und gegen den Sachzwang von fehlenden Fachkräften ist nun mal nichts zu machen.

Überbuchte Flüge? So sichern die Airlines ihr Geschäft

Dies alles beschert den Kunden in Erinnerung bleibende, einzigartige Erlebnisse. Da könnten sie sich glatt den Urlaub sparen. Denn auch wenn man es durch die Prozeduren des Eincheckens, der Aufgabe des Gepäcks und den Sicherheitsschleusen geschafft hat, ist es nicht sicher, ob der Flug nicht doch gecancelt wird. Denn als gute Geschäftsleute und Diener an der Kundschaft haben die Fluggesellschaften mehr Tickets verkauft, als sie wirklich bedienen können. Hier fehlt es an Personal, dort sind Flieger nicht ausgelastet und werden daher zusammengelegt. So kommt es, dass eine Menge Flüge abgesagt werden müssen. Da wird eben nicht einfach nach Plan verfahren, sondern an dieser Stelle erweist sich die Flexibilität des freien Unternehmertums.

Als kundenorientierte Dienstleister lassen die Fluggesellschaften ihre gestrandeten Fluggäste allerdings nicht allein. So können diese statt in einem Urlaubshotel eine Nacht oder mehr am Flughafen in einer Unterkunft verbringen, und das gelegentlich sogar auf Kosten der Fluggesellschaft. Wann wird man schon so verwöhnt? Auch kann man Flüge kostenlos umbuchen und erhält so die Möglichkeit, noch ganz andere Flughäfen kennenzulernen, weil der andere Flug verschiedene Umsteigemöglichkeiten bietet und das Flugerlebnis nicht unerheblich und ganz ohne Kosten für den Kunden verlängert.

Obgleich sich alle um die Kunden bemühen, kann man es natürlich nicht allen Leuten Recht machen. Es gibt halt immer wieder Menschen, die mit diesem umfangreichen Service nicht zufrieden sind, sich beschweren wollen oder gar Schadenersatz anmelden. Doch dank der umfangreichen Förderung der Privatisierung durch die rot-grüne Regierung unter Kanzler Schröder vor gut 20 Jahren ist Deutschland keine Service-Wüste mehr: So gut wie alle Unternehmen sind bemüht, sich durch Call-Center die Kunden vom Hals zu halten.

Bei Anrufen werden diese mit Musik lange unterhalten, können viel Zeit in Warteschleifen verbringen und sich freuen, wenn sie einmal einen lebendigen Menschen und nicht einen Sprachcomputer erreichen. Aber auch diese sind oft nur beschränkt auskunftsfähig. Die Mitarbeiter in den Call-Centern sind in der Regel sehr freundlich und bemüht und stets bereit, die Beschwerde oder die Schadenersatzforderung anzuhören, darüber entscheiden können sie leider nicht. Das heisst allerdings nicht, dass die Unternehmen diese Beschwerden oder Forderungen nicht ernst nehmen. Für die Prüfung nehmen sie sich ganz viel Zeit, so dass sich vieles von alleine regelt. Sie ersparen damit so manchem den Gang zum Rechtsanwalt oder zum Gericht.

Wer nicht am Schalter drängelt, hat verloren

Wer meint, sich dennoch die Mühe machen zu müssen, für den gibt es schon von Seiten der Presse viele hilfreiche Tipps. Schliesslich ist der Kunde beweispflichtig, dass er auch ausreichend früh am Flughafen war und nicht er schuld am versäumten Flieger ist. Also soll er alles dokumentieren, was relevant sein könnte: Wann er am Flughafen eingetroffen ist, dass er sich sofort in die Schlange am Schalter der Fluggesellschaft eingereiht hat, auch versucht hat, sich vorzudrängen, als sich abzeichnete, dass der Flieger weg sein könnte ohne ihn. Die Zeit an der Sicherheitskontrolle und auch wann ihn die Absage des Fluges erreicht hat, ist ebenfalls von Gewicht. Damit bekommen die Urlaubsfotos von Beginn an eine viel grössere Bedeutung, und so mancher entdeckt durch diese Aktivitäten ein ganz neues Hobby.

Wer dies alles beachtet hat, hat viel erlebt, aber damit noch keine Garantie, dass auch der Schaden – will man das Ganze denn als solches betrachten – ersetzt wird. Sicher ist jedenfalls eins: Einfach eine Reise anmelden und sie dann auch durchführen, das wäre wirklich zu einfach, wer würde denn dann daran verdienen? Und das wäre ja dann auch eine Art Plan-Wirtschaft. Was bekanntlich in unserem schönen Deutschland nun wirklich zum Chaos führen würde.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben     —  Luftaufnahme von Saint-Tropez

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Es rumpelt überall !!

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Juli 2022

Desolate Lage der Deutschen Bahn

Nun sind wir wieder dort, wo versagende Politiker ihr Gnadenbrot fressen – fraßen

Von Arno Luik

Die Deutsche Bahn ist heute in viel schlechterem Zustand als vor 20 Jahren. Es müsste massiv investiert werden – an anderen Stellen als geplant.

Nach über 15 Jahren habe ich meine Bahncard abbestellt. Ich mag nicht mehr Zug fahren in Deutschland, obwohl ich gerne Zug fahre – dort, wo Profis am Werk sind. Zum Beispiel in der Schweiz, in Österreich oder in den Niederlanden. Gerade als das 9-Euro-Ticket eingeführt wurde, sperrte die Bahn meine Heimatstrecke für gut zwei Wochen. Ein Lokführer sagte zu mir: „Wer dieses Billigangebot erfunden hat, der hat gezeigt, wie es um die Bahn steht: Sie ist am Ende. Dieses Ticket ist Werbung für das Auto.“

Das mag polemisch klingen. Aber anders als der Grüne Anton Hofreiter, der glaubt, dass dieses Ticket „den Leuten den Nahverkehr schmackhaft“ macht, ist doch sehr wahrscheinlich, dass der Ärger überwiegt. In den Metropolen zeigt dieses Angebot, wie die Verantwortlichen seit Jahrzehnten hätten agieren können, wäre es ihnen ernst gewesen mit dem Ziel, mehr Verkehr auf der Schiene und mehr Güter. Dem Klima zuliebe.

In Windeseile schafft es Kanzler Olaf Scholz, 100 Milliarden Euro für eine Aufrüstung ohnegleichen freizugeben. Mit dem gleichen Willen könnte er dafür sorgen, dass die Bahn – sie ist ja zu 100 Prozent im Staatsbesitz – sofort das tut, was den Zugverkehr nachhaltig attraktiv machen würde: ein übersichtliches, günstiges und vor allem familienfreundliches Tarifsystem zu schaffen und diese irren Schnäppchen-, Sonder-, Spar-, Superspartarife zu entsorgen.

Musste nicht der ehemalige Chef des Kanzleramt Ronald Po-falla seine Platz im Berliner -Amt räumen um die vorgegebene Geschwindigkeit von Merkel einzuhalten? 

Die Bahn dazu verpflichten, wieder menschenfreundliche Bahnhöfe zu bauen, das Klassensystem in den großen Bahnhöfen abzuschaffen, wo die Privilegierten ihre Lounges haben, der Plebs aber auf schäbige, zugige, verdreckte Wartebänke verbannt wird. Aber halt, hat vor ein paar Tagen nicht der pfälzische Minister für Weinbau a. D. und jetzige Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) gemeinsam mit Bahn-Chef Richard Lutz erklärt, dass nun alles besser werde?

Dass diese Bahn „unerlässlich auch für die Klimaziele der Regierung“ sei? Nur: Was Wissing da sagte, das sagten schon sämtliche Bahnchefs und Verkehrsminister vor ihm. Stattdessen kamen Zugverspätungen, überfüllte Züge, alte Ersatzzüge, Züge, die einfach nicht fahren und trotzdem in keiner Verspätungsstatistik stehen. Bahninterner Spott: „Der einzige Zug, der in Deutschland pünktlich losfährt, ist der Rosenmontagszug.“

Geschäfte in 140 Ländern

Ich habe auch keine Lust mehr, mit meiner Bahncard einem Konzern einen Vorschuss zu gewähren, der systematisch zig Milliarden Steuergelder verbrennt und unökologisch agiert. Und der, anstatt sich um die Kundschaft daheim zu kümmern, alles Mögliche in aller Welt unternimmt: Malawi, Curaçao, Mongolei, Moldawien, Kirgisien – viele Seiten könnte man hier mit Ländernamen füllen, die vielleicht nicht einmal Leuten im Berliner Bahnhochhaus bekannt sind.

In 140 Ländern ist die Deutsche Bahn AG mit Bussen, Flugzeugen, Schiffen, Lkws, Krankenwagen, Elektroautos unterwegs. Mit rund 800 Gesellschaften, Firmen und Firmenbeteiligungen agiert sie rund um den Globus. Für wen? Wozu? Diese Deutsche Bahn AG ist seit 20 Jahren, seit dem unheilvollen Agieren des damaligen Bahnchefs Hartmut Mehdorn, keine Deutsche Bahn mehr. Sie ist nur noch ein Anhängsel in einem Reich, über dem die Sonne nie untergeht.

Wer in Katar das Streckennetz ausbaut, in Dubai mit Lufttaxis experimentiert, wer Biogasbusse in Dänemark fahren lässt, wer Marktführer im Schiffsverkehr zwischen China und den USA ist und einer der größten Luftfrachtunternehmer der Welt – hat der noch Lust und Zeit, Züge von Itzelberg nach Mergelstetten zu organisieren? Kümmert der sich gern um marode Brücken, die im ganzen Land die ICEs zum Langsamfahren zwingen? Nein. Und deshalb rumpelt es überall.

Gut die Hälfte des DB-Konzernumsatzes stammt heute aus Auslandsgeschäften. Viel Geld wird da bewegt, der Gewinn aber ist gering. Mehr als 10 Milliarden Euro gingen für diese Auslands­einsätze drauf, Investitionen, die sich nicht amortisieren. Investitionen, gegen die sich, manchmal, Menschen wehren. Ganz aktuell: In Mexiko beteiligt sich der Staatskonzern an dem gigantischen Bahnprojekt „Tren Maya“, einer Trasse von über 1.500 Kilometern – auch quer durch Regenwälder.

Dort lebende Nachfahren der Maya kämpfen gegen den Bau, sie fürchten, dass der Zug das sensible Ökosystem gefährdet, ihre Lebensgrundlagen zerstört und sie dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Das ist dieselbe Bahn, die sich hierzulande als Zeichen der Umweltliebe grüne Streifen auf die ICEs klebt.

Mit 35 Milliarden Euro verschuldet

Dieses Bahnversagen ist natürlich ein Staatsversagen. Schuldig sind die Köpfe im Kanzleramt und ihre Verkehrsminister. Sie ließen es zu, dass der größte deutsche Staatskonzern ein Staat im Staat wurde. Und zu einer Geldvernichtungsmaschine: Mit 35 Milliarden Euro ist die Bahn AG derzeit in den Miesen, faktisch also pleite. Sogar dem Verkehrsminister ist jetzt klar: „So wie es ist, kann es nicht bleiben.“ Sagt er. Aber: Wird es besser? Wird es endlich gut mit dieser Bahn?

Die meisten der aktuellen Verheißungen sind ohne Bezug zur Realität. Seit 1994, seit der staatlich organisierte Zerfall mit jener Bahnreform begann, die als Ziel Börsengang und Privatisierung hatte, wurde gespart an Menschen, Material, Reparaturen, Investitionen. Heute fehlt es an allem: an Gleisen, an Lokomotiven, an Zügen, an Personal. Und an Know-how.

Abgestellt und nie wieder abgeholt?

Wie hoffnungslos die Lage ist, zeigt sich an einer Zahl: Um auf den Standard der Schweiz zu kommen, müsste das Bahnnetz augenblicklich um 25.000 Kilometer erweitert werden – ein Ding der Unmöglichkeit. Wo früher Gleise und Rangierbahnhöfe waren, stehen heute Einkaufszentren, Büro- und Wohngebäude. Oder gar nichts, aber irgendetwas Unschönes wird schon noch kommen.

25.000 Brücken hat die Bahn, im Durchschnitt sind sie knapp 75 Jahre alt, 12.000 sind schon über 100 Jahre im Einsatz. Viele von ihnen wurden so wenig gepflegt, dass man sie abreißen und komplett erneuern muss – mindestens 2.000 Bauwerke. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind über 100 Städte vom Fernverkehrsnetz abgehängt worden, Mittel- und Großstädte wie etwa Chemnitz, Heilbronn, Bremerhaven.

100 Städte abgehängt

Für 17 Millionen Menschen wurde durch dieses Abkoppeln das Bahnfahren erschwert und unattraktiv. Wie soll das bloß klappen – etwa das Versprechen, dass viele Städte bald im Halbstundentakt angefahren werden? Die wolkigen Worte der Verantwortlichen sind schön, die Zahlen sind es nicht: Hatte die Bahn 1994 über 130.000 Weichen und Kreuzungen, sind es heute um die 70.000. Aber jede rausgerissene Weiche heißt: weniger Überhol- und Ausweichmöglichkeiten. Heißt: Verspätungen.

Heißt: Frust bei den Kunden. Betrug die Netzlänge 1994 noch über 40.000 Kilometer, sind es heute bloß noch rund 33.000 Kilometer. Diesen Raubbau spüren die Wartenden an den Bahnsteigen, die Gestrandeten im Nirgendwo, die Verspäteten im ICE, vor dem ein Güterzug schleicht. Wie soll das also gehen – runter mit den Waren von den Lastwagen, rauf auf die Schiene?

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Oben     —     Karikatur von Gerhard Mester zum Thema Energiespeicher und Konkurrenzbedingungen Erneuerbarer Energien.

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Linke noch Mitgliederpartei?

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Juni 2022

DIE LINKE vor der Zerreißprobe

File:DIE LINKE Bundesparteitag 10. Mai 2014-2.jpg

Viel Geschrei und Niemand mehr da ?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Edith Bartelmus-Scholich

Knapp vier Wochen vor dem Parteitag in Erfurt zeichnet sich ab, dass die Partei DIE LINKE an einem entscheidenden Wendepunkt steht. Nach acht Wahlniederlagen in Folge, jahrelangem Streit zwischen den Parteiflügeln und mitten in der größten Austrittswelle seit der Gründung der Partei sollen in Erfurt die Weichen neu gestellt werden. Allerdings gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen wohin die Reise für DIE LINKE gehen soll.

Die wichtigste Frage: Bleibt DIE LINKE eine Friedenspartei?

Schon zur Bundestagswahl aber besonders zu den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein (1,7%) und in Nordrhein-Westfalen (2,1%) konnte DIE LINKE ihre Positionen in der Außen- und Verteidigungspolitik schlecht vermitteln. Sowohl bei der Evakuierung von Ortskräften aus Afghanistan als auch bei der Unterstützung der ukrainischen Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg, wurden die politischen Grundsätze an denen DIE LINKE sich orientiert, wenn sie Auslandseinsätze der Bundeswehr oder Waffenlieferungen ablehnt, auch von vielen linksorientierten Menschen nicht mehr verstanden. Die Zeiten, als Friedenspolitik Millionen Menschen in Deutschland politisierte, sind lange vorbei. Die junge Generation von Linken bezieht sich eher auf die Menschenrechtsproblematik, wenn sie internationale Politik diskutiert. Es ist eine Aufgabe der Partei DIE LINKE, den scheinbaren Gegensatz zwischen Friedenspolitik und Menschenrechtspolitik aufzulösen. Da sie dies versäumt hat, eröffnet sie den bürgerlichen Medien die Möglichkeit, auch Menschen aus der gesellschaftlichen Linken gegen die Friedenspolitik der Partei in Stellung zu bringen.

Der Zweifel an den friedenspolitischen Grundsätzen der Partei reicht weit bis in ihre Mitgliedschaft. Aus den Wahlniederlagen zieht ein Teil der FunktionsträgerInnen den Schluss, dass die friedenspolitischen Grundsätze der Partei nicht mehr zeitgemäß, vermittelbar und haltbar sind. Einerseits stehen diese Positionen der Teilnahme an einer Bundesregierung entgegen. Andererseits sind sie ein Stück der DNA der Partei. Seit PDS-Zeiten wurden sie immer wieder von der Mitgliedschaft verteidigt.

Auf dem Parteitag entscheidet sich, ob die friedenspolitischen Grundsätze der Partei weiter Bestand haben. Es liegt ein Leitantrag (L03) des Parteivorstands vor, der eine Neupositionierung vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine vornimmt. Dieser Antrag ist hoch umstritten. Es wurden dazu mehrere Ersetzungsanträge gestellt. Der Reformflügel der Partei möchte eine flexible Außenpolitik durchsetzen. Ein weiterer Ersetzungsantrag (1) möchte die friedenspolitischen Grundsätze des Erfurter Programms erhalten und korrigiert nur die Einschätzung der Rolle Russlands. Hinter diesem Antrag versammeln sich Linke aus allen Landesverbänden und jenseits strömungspolitischer Auseinandersetzungen.

Sollte in dieser zentralen Frage der programmatische Konsens des Erfurter Programm „entsorgt“ werden, dann droht der LINKEN die Spaltung. Viele Mitglieder wollen nicht in einer Partei bleiben, die die Bezeichnung Friedenspartei nicht mehr verdient.

Der alles überlagernde Streit: Wie wird DIE LINKE wirkmächtig?

Der Parteitag findet unter den Zeichen einer großen Ernüchterung statt. 2007 als DIE LINKE durch die Fusion aus Linkspartei.PDS und WASG entstand, strömten sehr unterschiedliche Linke in die neue Partei. Allen gemeinsam war die Vorstellung, dass schon die Schaffung einer bundespolitisch relevanten linken Partei zur politischen Wirkmächtigkeit führen würde. Im Laufe der Jahre wurde allerdings klar, dass es nicht reicht, Linke unterschiedlicher Strömungen in einer Partei zu vereinigen. Eine linke Partei braucht auch eine gemeinsame Vision und eine gemeinsame Strategie.

Es ist der LINKEN in 15 Jahren nicht gelungen diese gemeinsame Vision und diese gemeinsame Strategie zu entwickeln. Ansätze dazu waren vorhanden, z.B. mit dem strategischen Ansatz der verbindenden Klassenpolitik, wurden aber stets von einer Minderheit in der Partei nicht anerkannt. In den Jahren nach dem Göttinger Parteitag 2012 scheute sich die Partei, Fragen konsequent zu klären. In Folge dessen trat sie zunehmend vielstimmig nach außen auf und verlor ihr Profil.

Nun geht es nicht mehr anders, als die brennenden Fragen zu klären. Ein ‚Weiter so‘, vielstimmig und ohne klares Profil, wird mit großer Sicherheit zum Ausscheiden aus dem Bundestag führen. Damit würde sich dann auch die Partei erledigen. Denn die bundespolitische Relevanz ist immer noch die fragile Geschäftsgrundlage zwischen den unterschiedlichen Flügeln der Partei.

Auf die strategische Frage, wie DIE LINKE am besten politisch wirkmächtig wird, gibt es sehr unterschiedliche Antworten. Der sozialkonservative Parteiflügel um Wagenknecht möchte eine populistische Parlamentspartei mit nationalem Fokus und inhaltlich eine SPD 2.0. In dieser Partei sollen „herausragende, populäre Persönlichkeiten“ die entscheidende Rolle spielen. Der Reformflügel der Partei setzt auf eine zentralisierte Parlamentspartei, die in Regierungen wirksam wird. Inhaltlich soll DIE LINKE eine Partei der linken Mitte wie in Thüringen werden. Der linke Flügel der Partei möchte eine Parlamentspartei als Bündnispartnerin sozialer Bewegungen und auch dort aktiv und verankert. Inhaltlich soll DIE LINKE ein ökosozialistisches Profil erhalten.

Da keiner der drei Flügel eine Mehrheit auf dem Parteitag haben wird, entscheiden sich Profil und Parteikonzept durch die jeweilige Bündniskonstellation. Sowohl der sozialkonservative Flügel als auch der linke Flügel sind in der Vergangenheit jeweils ein Bündnis mit Teilen des Reformflügels eingegangen. Beide Bündnisse, ob in der Fraktion oder im Parteivorstand, haben nicht zu einer Klärung des Profils der Partei beigetragen. Die Spannung in den jeweiligen Bündnissen konnte nicht produktiv gemacht werden.

Nicht grüner als die Grünen?

Die Ergebnisse der Landtagswahl in NRW haben gezeigt: Alle Wahlen nach 2019 waren Klimawahlen. Das wundert nicht, denn inzwischen wissen große Teile der Bevölkerung, dass Erderhitzung, Umweltzerstörung, Artensterben und der übermäßige Verbrauch natürlicher Ressourcen ihr eigenes Leben bereits beeinträchtigt und das ihrer Kinder und Enkel definitiv gefährdet. DIE LINKE. NRW hatte wie schon die Bundespartei zur Bundestagswahl ihre Kernkompetenz als Partei der sozialen Gerechtigkeit in den Mittelpunkt des Wahlkampfs gestellt. Nur hat die Frage der sozialen Gerechtigkeit bei dieser Landtagswahl kaum jemanden interessiert. Vor der Wahl beurteilte die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ihre wirtschaftliche Lage als gut und unter den fünf meistgenannten, wahlentscheidenden Gründen kam weder soziale Gerechtigkeit noch Wohnen vor. Die Kampagne lief ins Leere.

Nun hat DIE LINKE bereits politische Antworten auf den Klimawandel gegeben. Die soziale und die ökologische Frage werden als verbunden betrachtet. Es ist keine soziale Gerechtigkeit denkbar ohne die Klimafolgen politischen Handelns zu berücksichtigen und andererseits ist keine Klimapolitik zielführend ohne soziale Gerechtigkeit. Es ist aber noch nicht gelungen, diesen politischen Lösungsansatz erfolgreich zu kommunizieren. Das liegt auch daran, dass es genau hier immer wieder Querschläge des sozialkonservativen Parteiflügels gibt. Dort hat man nicht begriffen, dass die Klimafrage als Gattungsfrage (nach Rudi Dutschke) die Klassenfrage überwölbt. Praktisch bedeutet das, eine linke Partei wird scheitern, wenn sie dieser Erkenntnis nicht Rechnung trägt.

Wen vertritt DIE LINKE eigentlich?

Ein Schauplatz innerparteilicher Auseinandersetzung ist die Frage, an wen sich die Stellvertreterpolitik, die die Partei betreibt, richtet. Der sozialkonservative Flügel nimmt die Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten nicht zur Kenntnis. Reformer und linker Flügel haben hingegen realisiert, dass nur noch eine Minderheit der Arbeitsverhältnisse sozialversicherungspflichtige Vollzeitstellen sind und dass Erwerbsbiographien heute später beginnen und oft unterbrochen werden. Grundsätzlich gilt: die Klasse der Lohnabhängigen ist heute anders zusammengesetzt als noch vor einigen Jahrzehnten. Die Klasse ist weiblicher, migrantischer, gebildeter und viele Lohnabhängige leben prekär. Viele Mitglieder dieser zerklüfteten Klasse werden zusätzlich benachteiligt und unterdrückt, weil sie Minderheiten angehören. Der Kampf gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie u.ä. ist dabei ganz überwiegend der Kampf von Lohnabhängigen gegen mehrfache Unterdrückung. Eine linke Partei muss diese mehrfache Unterdrückung anerkennen und die Betroffenen in ihren Kämpfen unterstützen. Der sozialkonservative Flügel mit seinem nationalen Fokus und der Zustimmung zu einer deutschen Leitkultur (Wagenknecht) trägt mit seinen Vorschlägen zur Spaltung der Klasse bei.

DIE LINKE ist eine feministische Partei. Ach, wirklich?

Am 15. April wurde DIE LINKE mit einem uneingelösten Anspruch konfrontiert. Die Linksjugend ging mit weit reichenden Anschuldigungen zu sexuellen Übergriffen und Sexismus an die Öffentlichkeit. Unter dem Hashtag #linkemetoo konnten sich Betroffene melden. Innerhalb weniger Stunden gingen über 50 Meldungen aus allen Landesverbänden ein. Seitdem versuchen Parteivorstand und Landesverbände das Problem zu bearbeiten. Es wurden Awareness-Strukturen eingerichtet, ein Verhaltenskodex ausgearbeitet und dem Parteitag auch Anträge zur Änderung der Satzung vorgelegt.

Aber nicht die ganze Partei arbeitet an der Bewältigung des Problems. Im Landesverband Hessen herrscht die Zurückweisung politischer Verantwortung vor. Betroffenen, die sich gemeldet haben, werden Klagen angedroht. FunktionsträgerInnen solidarisieren sich öffentlich mit Beschuldigten.

Teile der Partei halten die Anschuldigungen gegen männliche Leistungsträger für aus der Luft gegriffen. Es wird von einer antideutschen Verschwörung gegen ‚alles, was links und gut ist‘, geraunt. Als Bestätigung dieser Verschwörungstheorie dient, dass nicht nur Anschuldigungen gegen Janine Wissler, sondern auch im letzten Jahr gegen Michael Prütz und neuerdings gegen den Monchi, den Sänger von Feine Sahne Fischfilet, erhoben wurden.

Dem Parteitag stellt sich also zusätzlich die Aufgabe, die Partei aus dem Sumpf von #linkemetoo herauszuholen. Versagt er dabei, wird DIE LINKE für junge Menschen und für Feministinnen unannehmbar.

Das Ende der Mitgliederpartei?

Dem Parteitag liegen viele Anträge zur Satzung vor. Antragsteller sind vor allem der Parteivorstand und Benjamin-Immanuel Hoff. Fast alle Anträge zielen dahin die Mitgliederrechte einzuschränken. So sollen Antragsrechte auf Parteitagen begrenzt werden. Die Mitglieder des Bundesausschusses sollen nicht mehr Delegierte mit beratender Stimme auf Parteitagen sein. Der Parteivorstand will sich ein Durchgriffsrecht gegenüber Landes- und Kreisverbänden sichern und deren Beschlüsse aufheben können, wenn er sie als „offensichtlich satzungs- oder gesetzeswidrig“ einstuft. Der Ältestenrat soll künftig entsprechend der Amtszeit des Parteivorstands berufen werden. Damit stellt sich jeder neue Parteivorstand den Ältestenrat nach seinem Gusto zusammen. Kritische Stimmen wird man dann künftig wohl nicht mehr in diesem Gremium finden.

Parteitages der Partei DIE LINKE 2019, Bonn.2.jpg

Offenbar möchte der Parteivorstand die Vielstimmigkeit der Partei dort beschneiden, wo sie ohnehin keine Reichweite hat, nämlich beim einfachen Parteimitglied statt bei den prominenten, reichweitenstarken Mandats- und FunktionstägerInnen. Die Partei soll zentralisiert werden. Die Mitgliedschaft soll sich in eine neue Rolle einfinden, als Maschine zur Umsetzung von Kampagnen von oben, als fleissige, stille ArbeiterInnen.

Dazu passt die Parteitagsregie. Ein völlig mit Anträgen und Wahlen überfrachteter Parteitag soll nicht arbeiten und entscheiden, sondern stundenlang den Reden prominenter GenossInnen lauschen.

Und Wahlen finden auch noch statt…

Vor dem Parteitag gibt es Anzeichen, dass die bisherigen Bündnisse fortgesetzt werden sollen.

Die verbliebene Vorsitzende, Janine Wissler, will wieder zur Wahl antreten. Wissler wird vom linken Parteiflügel getragen. Sie tritt im Team mit Martin Schirdewan, dem Vorsitzenden der Fraktion im Europaparlament an. Schirdewan ist Reformer aus Thüringen und holte seinerseits Benjamin Hoff als Kandidaten zum Stellvertreter ins Team. Als Bundesgeschäftsführer will Janis Ehling von der Bewegungslinken kandidieren. Das „Team Janine“ steht für ein ‚Weiter so‘ in der Partei. Das Bündnis zwischen der Bewegungslinken und den Reformern aus Thüringen erzeugt keine produktive Spannung. Wenn nicht ein Partner dieses Bündnisses seine politischenZiele aufgibt, wird man sich gegenseitig blockieren.

Neben Janine Wissler bewirbt sich die niedersächsische Landesvorsitzende MdB Heidi Reichinnek für den Vorsitz. Reichinnek steht der Gruppe der Reformer um Dietmar Bartsch nahe. Sie gehört in der Fraktion zum Bündnis der AnhängerInnen von Bartsch mit den AnhängerInnen von Wagenknecht. In Niedersachsen befindet sie sich im Bündnis mit den AnhängerInnen von Diether Dehm. Reichinnek tritt an um #linkemetoo zu einem guten Abschluss zu bringen. Allerdings hat sie weder als Landesvorsitzende in Niedersachsen noch in ihrer Rolle als frauenpolitische Sprecherin der Fraktion bisher Anstalten unternommen Genossinnen vor Sexismus zu schützen.

Reichinek kandidiert nicht in einem Team, wird aber zweifellos ein Bündnis mit MdB Sören Pellmann, einem Mitbewerber um den Vorsitz, eingehen, sollten beide gewählt werden. Pellmann gehört zum sozialkonservativen Flügel und wurde von Wagenknecht für den Vorsitz vorgeschlagen. Ihm ist zuzurechnen, dass die Partei überhaupt noch im Bundestag vertreten ist, denn er hat das notwendige dritte Direktmandat in Leipzig erkämpft.

Werden Reichinnek und Pellmann als Vorsitzende gewählt, dann gibt es kein ‚Weiter so‘, sondern eine Erneuerung durch „Rückbesinnung“. Genau dieses Einlegen des Rückwärtsgangs hat der sozialkonservative Flügel in einem Aufruf zum Parteitag gefordert (2).

Edith Bartelmus-Scholich, 31.05.2022

(1) http://scharf-links.de/90.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=80097&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=80c03db6dd

(2) https://www.populaere-linke.de/

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Oben     —     Bundesparteitag DIE LINKE Mai 2014 in Berlin, Velodrom

Author  :       Blömke/Kosinsky/Tschöpe

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Unten       —        Parteitag der Linkspartei in Bonn. 2. Tagung des 6. Parteitages der Partei DIE LINKE, 22. und 23. Februar 2019, Bonn.

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LNKE – Transformation

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Mai 2022

Die Linke muss lernen, bürgerlich zu denken

Parteitages der Partei DIE LINKE 2019, Bonn.2.jpg

Linke Verhaltenspolitik gibt vor, für Minderheiten zu sprechen – ist aber in Wahrheit partikularistisch und paternalistisch.

Von            Holger Marcks, Felix Zimmermann

Wenn die Linke wieder auf die Füße kommen will, sollte sie sich für eine Republik der sozialen Demokratien einsetzen. Diese lässt sich aber nur bürgerlich denken.

Die Linke läuft auf Autopilot. Sie kann die Krisen unserer Zeit benennen, Antworten hat sie aber nicht. Zumindest keine, die breite Schichten mitnehmen – Voraussetzung für nachhaltigen Wandel. Im Gegenteil: Obwohl die Entfremdung der Linken von den unteren Klassen seit Jahren diskutiert wird, zeigen sich kaum Konsequenzen. Allenfalls bekommt man ein Mehr von dem serviert, was in die Sackgasse geführt hat.

Sicher, die Linke beteuert universale Werte. Tatsächlich aber schlafwandelt sie in den Partikularismus. Die Praxen der Identitätspolitik – gefeiert vor allem von privilegierten Milieus – sind nur ein Ausdruck davon. Die Ignoranz der Linken gegenüber der Realität hat eine lange Vorgeschichte. In sie eingebogen ist man mit der Abkehr vom Republikanismus. Nimmt man diesen aber wieder mit ins Boot, lösen sich einige vermeintliche Widersprüche, die zu Glaubenssätzen geronnen sind, in Wohlgefallen auf.

Seit 150 Jahren grenzt sich die sozialistische Linke von allem Bürgerlichen ab. Was damit eigentlich gemeint sein soll, außer einem diffusen Bekenntnis zur revolutionären Gesinnung, weiß schon lange keiner mehr. Immerhin ist der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, der die liberalen Freiheiten eher unterspült als verteidigt, weit davon entfernt, noch irgendwie bürgerlich zu sein. Und dass die Linke, die zu einer bildungsbürgerlichen Veranstaltung geraten ist, das Proletariat repräsentiert, lässt sich auch nicht gerade sagen.

Abgrenzung von der Bürgerlichkeit ist durch den Wandel der Linken zu einer toten Chiffre geworden. Sie ist antibürgerlich, ohne proletarisch zu sein; proproletarisch und doch zutiefst bürgerlich. Doch nicht erst neuerdings, sondern bereits im historischen Vorlauf hat sich die Linke mit jener wohlfeilen Freund-Feind-Verortung ein Bein gestellt. Der vermeintliche Dualismus zwischen bürgerlicher und proletarischer Welt, er war von Beginn an ein identitärer Verschluss, der die politische Fantasie lähmte.

Denn mit dem seit der Kommune kolportierten Generalverdacht gegen die bürgerliche Republik, bloß politische Form zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen zu sein, blieb das Verhältnis der Linken zur Machbarkeit der Geschichte ein entfremdetes. Der Sozialismus, der in monarchistischen Zeiten aufkam, verpasste so die Chance, sich weiterzuentwickeln. Vom Schwindel der „Volksrepubliken“ mal abgesehen, blieb eine wirkliche Aneignung der Republik durch die Arbeiterbewegung aus – und damit eine sozialistische Perspektive der Demokratisierung.

So versandete man entweder in den gegebenen Institutionen oder zielte auf einen radikalen Ordnungsbruch, der die Überwindung des Kapitalismus magisch regelt. Bis heute geht der Linken eine politische Dialektik ab, welche die bürgerliche Republik aufnimmt und über ihre imaginierten Grenzen hinaustreibt. Eine sozialistische Bürgerlichkeit würde einen Ausbruch aus dieser konzeptionellen Sackgasse erlauben. Dafür hätte die Linke aber den Republikanismus wiederzuentdecken. Sie müsste sozialrepublikanisch denken.

Der falsche Mythos von 1871

Tatsächlich gingen sozialistische und liberale Ideen einst Hand in Hand, vom Republikanismus umfasst. Erst mit der Kommune kam es ab 1871 zum Bruch mit dem republikanischen Erbe der Arbeiterbewegung, in der man sich bis dato als „Bürger“ grüßte. Marxisten wie Anarchisten sahen in ihr den Prototyp einer proletarischen Revolution, niedergeschlagen durch die bürgerliche Reaktion. Dabei war die auf Wahlen basierende Kommune vor allem ein republikanisches Projekt – mit sozialistischem Impetus.

Zerschlagen wurde also vielmehr die Perspektive eines sozialen Republikanismus – mit dem einsetzenden Revolutionsmythos gleich doppelt. Auf den antiliberalen Pfad gerutscht, laboriert die Linke bis heute an einem Missverständnis. Repräsentative Demokratie als Ausdruck eines bürgerlichen Liberalismus abzulehnen, ist nicht Fortschritt, sondern Rückschritt. Im Fall des autoritären Sozialismus mag das klar sein. Aber es gilt auch für dessen Gegenmodell, das in der heutigen Linken Raum gegriffen hat: die Basisdemokratie.

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Alles müsse anders, heißt es da. Horizontal statt vertikal. Die eigentliche Herausforderung wird in dieser eindimensionalen Gegenüberstellung jedoch verkannt: dass die Demokratie von der politischen Sphäre auf die sozialen Sphären zu übertragen ist, die ja noch immer feudal funktionieren. Mit basisdemokratischen Ansätzen, die vielen vorschweben, ist das aber nicht zu machen. Am Ende ist eine horizontale Ordnung sogar exkludierender – und durch die Basis selbst noch weniger zu steuern. Basisdemokratie muss man sich eben leisten können. Zum einen. Zum anderen lassen entsprechende Strukturen keine funktionale Differenzierung zu, die eine moderne, komplexe Gesellschaft verlangt. Zielführender wäre es, die politische Bürgerschaft um soziale Bürgerschaften zu ergänzen: die Vervielfältigung von repräsentativer Demokratie. Wenn die Linke, aber auch die Demokratie ihren Kinderschuhen entwachsen will, müssten sie sozusagen diagonal denken.

Was also ist das Modell des sozialen Fortschritts? Traditionell kreist diese Debatte um die Pole von Reform und Revolution: eine Gegenüberstellung, die von Anfang an eine trügerische Orientierung war. Denn sie basierte radikalerseits auf der schematischen Vorstellung, dass auf die bürgerliche Revolution notwendigerweise eine zweite, eine soziale Revolution folgen würde, die die liberale Gesellschaftsformation wieder aufhebt. Der Übergang zur neuen Gesellschaft war so nur als radikaler Ordnungsbruch denkbar.

Ironischerweise wurde damit dem sozialistischen Transformationsprozess selbst der Boden entzogen. Denn mit empirischer Verlässlichkeit führten revolutionäre Bewegungen – wenn sie nicht autoritär entgleisten – immer wieder zu reaktionären Backslashs, die sich auch aus der Verunsicherung großer Teile der Bevölkerung speisten. Die Formierung einer neuen Gesellschaft aus einem relativ inklusiven Kapitalismus heraus erfordert eben ein weit höheres Maß an Ordnungssicherheit als die Überwindung der superexklusiven Feudalbeziehungen.

Die Erweiterung der politischen Demokratie um soziale Demokratien umgeht das. Mit Verfassungsmäßigkeiten in den sozialen Sphären würde die Transformation am Bestehenden anknüpfen, ohne bloß Reformismus zu sein. Ansätze für solch eine Konstitutionalisierung des Sozialen bestehen in den kollektiven Rechten und Verfassungselementen, wie wir sie im Bereich der Arbeit kennen. Sie ließen sich nicht nur zur Wirtschaftsdemokratie ausbauen, sondern auch auf die Bereiche des Wohnens, des Verbrauchs und der Vorsorge übertragen. So eine fortgesetzte Wiederholung des republikanischen Gründungsmoments stünde für eine soziale Transformation der Politik. Denkt man sich Sozialismus als Verfassungsfrage, könnten Repräsentationen des Sozialen in das Gehäuse der Republik einströmen. Solche Mikrorevolutionen könnten für eine sukzessive Verdichtung des Systems hin zu einer Republik der sozialen Demokratien sorgen. Es wäre die Entfeudalisierung der sozialen Sphären. Dafür müsste die Linke gerade im Sozialen aber bürgerlich denken.

Quelle         :         Der Freitag-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben       —     Parteitag der Linkspartei in Bonn. 2. Tagung des 6. Parteitages der Partei DIE LINKE, 22. und 23. Februar 2019, Bonn.

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CIA hostet Daten in den USA

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Mai 2022

Zensus 2022: US-Unternehmen mit Nähe zum World Economic Forum

Nürnberg führte 1449 eine Volkszählung durch

Von:      Thomas Pritzl

Zensus 2022 schickt Daten von 10 Millionen Deutschen an Firma in den USA

Offene Türen für Interessenkonflikte

Präsidentin ist „Young Global Leader“ im World Economic Forum / Rechtschef hat CIA-Drähte

Das statistische Bundesamt nutzt einen US-Dienst zur „Zensus 2022“ Volkszählung und übermittelt personenbezogene Daten von 10 Millionen Deutschen an das „Content Deliver Network“ Cloudflarle in San Francisco. Die Einbindung eines externen Webdienstleisters zur Verarbeitung von Daten außerhalb der EU erwähnt die Datenschutzerklärung des Zensus nicht.

Cloudflarles Umgang mit Daten erfolgt zwar nach dem EU-U.S. Datenschutzrahmenabkommen, jedoch hat sich das Unternehmen selbst zertifiziert. „Zu den von uns erfassten Informationen gehören Kundenname, E-Mail-Adressen, IP-Adressen, Rechnungsinformationen und Telefonnummern“, so Cloudflalre. Diese würden generell nicht weitergegeben.

Wie wenig die Selbstzertifizierung wert ist, zeigte im Februar 2017. Da wurde bekannt, dass Tausende von Passwörtern und privaten Nachrichten von Cloudflarle in Suchmaschinen auffindbar waren: 4,3 Millionen Domains waren betroffen. Beweise, dass die Daten absichtlich abgegriffen wurden, gab es nicht. Es bestand aber auch keine Möglichkeit, dies herauszufinden.

Bedenklich ist auch die Nähe des Managements zur US-Regierung bzw. dem World Economic Forum (WEF). So ist die Mitbegründerin und Präsidentin des Cybersicherheitsunternehmens Michelle Zatlyn erst seit wenigen Monaten Mitglied der „Young Global Leaders“ im WEF. Douglas Kramer leitet seit 2016 die Rechts-, Richtlinien- und Sicherheitsteams.

Craig Kielburger 2.jpg

Zuvor war er unter Präsident Obama Anwalt des Weißen Hauses, Berater in der Kartellabteilung und Beirat der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit. Die koordiniert alle Aktivitäten im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit der Vereinigten Staaten und gilt als CIA-Tarnorganisation. Kramer ist auch lebenslanges Mitglied im „Council on Foreign Relations“.

Angesichts dieser personellen Verflechtungen dürften die Türen für Interessenkonflikte im Umgang mit den Daten der Zensus 2022 Volkszählung offen stehen. Auf die Frage, warum das Statistische Bundesamt das Unternehmen aus San Francisco ausgewählt hat, hieß es lapidar: In Europa gebe es keinen vergleichbaren Anbieter.

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Grafikquellen       :

Oben        —      Johann Adam Delsenbach – scanned by Finanzer from the copper plate

Bridge over Pegnitz in Nuremberg („Barfüßer-„, later „Museumsbrücke“), colored copper engraving Original Name: Die Anno 1700. neu erbaute Brücken über dem Pegnitz-Fluß zu Nürnberg

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Unten         —          Craig Kielburger

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Wolken aus Zement:

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Mai 2022

“Smarte” Infrastrukturen als Geister des grünen Kapitalismus

15. Oktober... bereit für Madagaskar. - Flickr - belgische Schokolade.jpg

Quelle        :     Berliner Gazette

Von     :     Christoph Marischka

Ein Streifzug durch Technologieparks in Deutschland offenbart: Wie die Wolken am Himmel befinden sich die urbanen Infrastrukturen der sogenannten „Cloud“ in ständiger Transformation. Anders jedoch als die Wolken am Himmel hinterlassen sie jedoch eine immobile Materialität: versiegelte Flächen und Beton, sowie ein undurchschaubares Geflecht an privaten Besitzverhältnissen, wie der Autor und Aktivist Christoph Marischka in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” zu denken gibt.

Die Wolken am Himmel wirken auf uns schwerelos, fluide oder gar immateriell, wobei wir wissen, dass dies nicht wahr ist: Sie bestehen aus riesigen Mengen Wasser und bergen Differenziale in teilweise katastrophischem Ausmaß. Davon unbenommen gilt auch die digitale „Cloud“ irgendwie als immateriell oder zumindest lightweight und energiesparend. Diese Assoziation erscheint als Voraussetzung, dass Digitalisierung und Informationalisierung kontrafaktisch, aber teilweise erfolgreich, als nachhaltig beworben werden. Ein Unfall des Wissens, von dem ein Set von Akteur*innen – auch mit rein finanziellen Interessen – profitiert.

Die hier beschriebenen und verallgemeinerten Beobachtungen gehen auf umherschweifende Besichtigungen zurück – insbesondere von Rechenzentren und Technologieparks in Westdeutschland, darunter Stuttgart, Frankfurt/Offenbach, Bochum, Paderborn und Hannover Ende 2021/Anfang 2022 sowie den unmittelbaren Auseinandersetzungen um das „Cyber Valley“ in und v.a. um Tübingen in den drei vorangegangenen Jahren.

Das materielle Zentrum

Wir wissen eigentlich, dass die „Cloud“ aus Rohstoffen gebaut ist und diese fortwährend verbraucht. Sie gilt als „kritische Infrastruktur“ und wird mit öffentlichen Mitteln gesichert, während sie private Gewinne produziert. Ihre materielle Realisierung geht einher mit massiven Verschiebungen des Eigentums und einer dieselbewölkten Logistik von Erde und Zement.

So wird Zement offensichtlich gebraucht, um die Rechen- und Datenzentren selbst zu bauen – die zunehmend als Orte der städtischen wie ländlichen Gentrification und Verdrängung in Erscheinung treten. Sie benötigen Flächen und zumindest eine gewisse Nähe zu logistischen, administrativen und/oder finanziellen Knotenpunkten, sogenannten Hubs. Sie basieren auf einer kontinuierlichen Stromversorgung, die nicht nur unternehmerisch, sondern zunehmend für die öffentlichen Infrastrukturen kritisch ist. Die Rechen- und Datenzentren speisen sich gerne aus lokalen, regenerativen Energiequellen und fördern diese, erfordern aber auch eine nationale Absicherung der Stromversorgung mit Gas oder Atomkraftwerken sowie eine Versorgung der Notstromaggregate mit Diesel.

Wo auch immer diese Rechen- und Datenzentren gebaut werden, wird der Asphalt von verschiedenen Richtungen aufgerissen, werden Kabel verlegt und wieder begraben. Und andersherum: Wo auch immer neue Autobahnen oder Zugverbindungen gebaut werden, werden auch Breitbandverbindungen verlegt. Neue Knotenpunkte entstehen jenseits der alten Städte. Diese Städte expandieren und investieren. Sie investieren in neue Kraftwerke, Straßen, Fahrradwege und Jogging-Strecken, welche den Raum zwischen landwirtschaftlich genutzten Flächen, Technologieparks und gleichzeitig entstandenen Wohngebieten erschließen und restrukturieren.

Das unmittelbare Vorfeld

Was die Wolken im Himmel tatsächlich mit ihren imaginierten Entsprechungen am Boden gemein haben ist deren Fluidität – die schiere Unmöglichkeit, ihre sich beständig ändernden Grenzen zu definieren.

Während uns die Rechen- und Datenzentren zunächst als räumlich klar von der Umwelt abgegrenzte und eingezäunte Territorien mit wenig, diskretem Personal und somit als praktisch autark erscheinen, erfordern sie doch anhalte Wartung, Schutz und Versorgung mit Betriebsstoffen. Obgleich davon vieles automatisiert ist, braucht es Menschen, die den Zugang, den Wareneingang und die Müllentsorgung kontrollieren; Dienstleister, die Rasen mähen, Insekten bekämpfen, die Flure sauber halten, Nahrung und Betriebsstoffe liefern und mehr oder wenig kontinuierlich Hardware austauschen.

Die Unternehmen, welche für den Unterhalt und die Verwaltung der Rechen- und Datenzentren zuständig sind, befinden sich meist in deren – mehr oder weniger unmittelbaren – Nähe. Manchmal bilden sie auch räumlich das unmittelbare Vorfeld der Rechenzentren in sehr einfachen Bürogebäuden diesseits des Stacheldrahtes und der gut gesicherten Zugänge zum Rechenzentrum selbst.

Diese Vorhöfe der Rechenzentren bestehen aus einem typischen Mix an Unternehmen, zumindest was ihre Präsenz auf Schildern an der Einfahrt und den Parkplätzen angeht. Ein oder zwei von ihnen wurden konkret als Betreiber des jeweiligen Rechenzentrums gegründet, drei bis fünf international tätige Unternehmen wie Bosch, Siemens, Atos und Spie sind für einzelne, aber für Außenstehende schwer abzugrenzende Aspekte des Betriebs zuständig und eine vergleichbare Anzahl namenloser lokaler Unternehmen für die Sicherheit, das Personalwesen oder was auch immer. Manchmal gibt es dann auch noch Schilder oder zumindest einzelne Parkplätze, welche die Präsenz eines der bekannten Weltunternehmen wie Microsoft oder google proklamieren, die auch in der Verwaltung von Daten und Datenzentren aktiv sind. Die Geschäftsbeziehungen und Besitzverhältnisse zwischen diesen Konzernen, welche die „Cloud“ letztlich konstituieren, sind wie die inneren Strukturen der Wolken am Himmel allenfalls zu erahnen – und in ständiger Transformation begriffen.

In anderen Fällen bilden diese Vorhöfe den Kern eines nahe gelegenen Technologie-Parks, der meist erst kurz zuvor am Rande der alten Städte auf der grünen Wiese errichtet wurde und Anlass war zum Ausbau bestehender Verkehrs-Infrastrukturen aus öffentlichen Mitteln. Auch hier finden sich meist ein kleineres Kraftwerk und neue Wind- oder Solarfelder in der Umgebung. Wie schon bei älteren Gewerbegebieten, ging auch deren Errichtung mit der Privatisierung und Umverteilung von Land, der Zerstörung von Ökosystemen und Baumaßnahmen einher. Wie auch die älteren Gewerbegebiete ist ihr Bau eine treibende Kraft bei der Ausdehnung des Urbanen, der Versiegelung von Flächen und der Transformation der vorherrschenden oder auch nur möglichen Formen der Einkommensgenerierung.

Die unterstellte Präferenz der vermeintlich jungen und gut bezahlten Arbeitskräfte im Tech-Sektor für lokal und biologisch angebaute Produkte steht jedenfalls zumindest in einem Spannungsverhältnis zum Raum und den Chancen, die ihre modernen Fabriken dem Anbau von Lebensmitteln lassen. Vielleicht sind aber auch diese Vorlieben ein Mythos, denn um die Mittagszeit werden die Technologieparks durch Schwärme von Fahrzeugen geflutet, welche Fast-Food aller Art in die Büros liefern. Bäckereien und Restaurants gibt es dort nämlich nur selten und wenige, von Bioläden ganz zu schweigen. Obwohl meist gut an den öffentlichen Nahverkehr angebunden, scheinen zu jedem Technologiepark auch größere Parkhäuser zu gehören.

Wolkenstädte

Vor Ort erwecken diese Orte oft einen ganz anderen Eindruck als ihre Internetauftritte in der Cloud, wo sie modern, dynamisch, prosperierend und bevölkert dargestellt werden. Sozusagen in der ersten Reihe, nahe den Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs, finden sich tatsächlich oft einigermaßen repräsentative Gebäude, auf denen Fahnen neben dem Haupteingängen, die Logos von bekannten Firmen tragen – die gar nicht wirklich präsent sind. Die Cafeterien im Eingangsbereich sind meist verwaist, und stattdessen neben der ungenutzten Theke einfache Snack-Automaten aufgestellt. Selbst der Empfang ist oft schon verlassen oder mit schlecht bezahltem und billig uniformiertem Personal irgendeiner Sicherheitsfirma besetzt.

Oft stehen in diesen Gebäuden ganze Etagen leer oder werden von überregional tätigen Dienstleistern ausgestattet und tage- bis monateweise untervermietet. Die dauerhaftesten Mieter dieser Gebäude sind oft jene öffentlich geförderten Unternehmen, welche für das Management und die Promotion des jeweiligen Standorts selbst zuständig sind oder im Auftrag irgendwelcher lokalen Netzwerke aus öffentlicher Gewerbeförderung und Gewerbeverbänden die vor Ort zugleich präsente und absente (fluide?) Startup-Szene unterstützen sollen.

Nochmal anders sieht es in der zweiten und der dritten Reihe dieser High-Tech-Gewerbegebiete aus, wo die minderwertige Bausubstanz der schnell errichteten Gebäude sofort auffällt, obwohl sie meist noch recht neu sind. Die Briefkästen offenbaren eine große Zahl von Firmen, deren Präsenz eher übergangsweisen Charakter hat. Oft gibt es Briefkästen von Anwalts-Kanzleien oder Steuerberatungen, auf denen gleich ein Dutzend Unternehmen durch teilweise von Hand beschriftete Aufkleber genannt sind.

Das Vermächtnis der „Cloud“

Angesichts der Ausmaße dieser Technologie-“Parks“ und der „Ökosysteme“, die sie hervorbringen sollen, kann es trotzdem sein, dass dort jeweils tausende Menschen in hunderten verschiedenen Firmen arbeiten, von denen vielleicht etwa die Hälfte tatsächlich so viel mit IT zu tun haben, wie das Standort-Marketing behauptet. Diese Unternehmen entwickeln die Dienstleistungen und Technologien zur Verarbeitung von Daten, wie sie die Cloud einerseits möglich macht und andererseits erfordert. Ein großer Teil basiert auf den Erwartungen zukünftiger Profite durch die weitere Digitalisierung und „smarte“ Städte.

Von den meisten wird man niemals etwas hören und viele von ihnen werden in dem explizit „disruptiven“ Umfeld auch nicht lange existieren. Manche werden von größeren Playern eingekauft werden – was dann weniger das Personal oder den Standort, als die Patente einschließt. Einzelne werden vielleicht – zwischendurch – Erfolg haben und wachsen. Sie können dann die leer stehenden Flure und Büros in den Nachbargebäuden mieten. Aber wachsende Unternehmen wollen kaufen und bauen, und sie werden dabei von der Politik unterstützt, die ihre „Leuchttürme“ und “Champions“ in der Stadt bzw. Region behalten will.

Dies erklärt zumindest in Teilen die Tendenz dieser „Ökosysteme“, sich räumlich auszudehnen, während in anderen Ecken der Zerfall längst eingesetzt hat. Wie die Wolken am Himmel befinden sie sich in ständiger Transformation; ihre Auflösung ist absehbar. Anders als die Wolken am Himmel werden sie eine immobile Materialität hinterlassen, versiegelte Flächen und Beton, sowie ein undurchschaubares Geflecht an privaten Besitzverhältnissen. Wie die Parkhäuser im Herzen dieser Ökosysteme, so sind sie selbst nur zu verstehen durch eine politisch forcierte Umverteilung und Inwertsetzung von Fläche – und die billige Verfügbarkeit von Zement. Und wenn die nächste Disruption ein Netzwerk ohne Knoten, Sondermüll der Urbanisierung hinterlässt, wird sie womöglich trotzdem eine Erfolgsgeschichte sein: Move fast and break things – Let‘s go to Mars.

Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englische Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de

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KOLUMNE FERNSICHT – USA

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Mai 2022

Ein Hillbilly, der keiner ist, aber damit hausieren geht

Der Hatfield Clan eine typische Hillbilly Familie aus der Gründerzeit

Von Brenda Wilson

In den Vereinigten Staaten werden verschiedene archetypische Charaktere gern romantisiert. Der Cowboy ist ein Beispiel, der Gangster, der Blues man – und der Hillbilly.

Kein Wunder, dass der Schriftsteller J. D. Vance sich entschloss, seine anglo-schottische Herkunft, die er mit vielen Hillbillys teilt, in politisches Kapital umzuwandeln. Der Autor des Bestsellers „In den Vereinigten Staaten werden verschiedene archetypische Charaktere gern romantisiert. Der Cowboy ist ein Beispiel, der Gangster, der Bluesman – und der Hillbilly. Kein Wunder, dass der Schriftsteller J. D. Vance sich entschloss, seine anglo-schottische Herkunft, die er mit vielen Hillbillys teilt, in politisches Kapital umzuwandeln. Der Autor des Bestsellers „Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“ kandidiert im November für den Senat. Aber auf Vances angebliche Wurzeln fielen nur wenige herein. Er verbrachte zwar als Kind die Sommer in den Appalachen, aber aufgewachsen ist er in Middletown, Ohio, einer kleinen Stahlarbeiterstadt nördlich von Cincinnati.. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“ kandidiert im November für den Senat. Aber auf Vances angebliche Wurzeln fielen nur wenige herein. Er verbrachte zwar als Kind die Sommer in den Appalachen, aber aufgewachsen ist er in Middletown, Ohio, einer kleinen Stahlarbeiterstadt nördlich von Cincinnati.

Die Appalachen sind eine Bergkette, die sich von New York bis hinab in die Südstaaten zieht. Dieses Gebiet ist von Armut geprägt, und seine Bevölkerung wird stereotypisch als rückwärtsgewandt und ungebildet charakterisiert. Ich verbrachte die Sommer meiner Kindheit dort und kam später als junge Reporterin mit bangem Gefühl zurück. Aber ich stellte fest, dass die Menschen in den Appalachen offen und dankbar waren, dass sich jemand für sie interessierte. Sie ließen keine Zweifel aufkommen, wie sehr es ihnen missfiel, vom Rest des Landes von oben herab betrachtet zu werden. Auch J. D. Vance wirft dies „der Elite“ vor – einem verallgemeinernden Begriff für Gutverdienende mit Hochschulausbildung. Dabei ist er selbst ein Investment-Manager mit einem Jura-Abschluss der Universität Yale.

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Vances inzwischen auch verfilmtes Buch „Hillbilly-Elegie“ ist eine ungeschönte Saga von Gewalt, Armut und Drogenmissbrauch in einer Bevölkerungsgruppe, die im zurückliegenden Jahrzehnt von Opiatabhängigkeit wie von einer Plage heimgesucht wurde, während die Industrie verfiel. Vances autobiografische Beschreibung wurde von weißen Autoren und Experten, die oft selbst aus der Region stammen, kritisiert, weil sie eher persönlichem Fehlverhalten – Trägheit, Abhängigkeit von Sozialhilfe – und der regionalen Kultur die Schuld zuweist als den strukturellen und wirtschaftlichen Bedingungen. Vance erschien auf der Bildfläche, just als das Land jene Leute zu verstehen versuchte, die mit ihrer Wut und Verbitterung, ihrem Glauben an Trumps offensichtliche Lügen und ihrer Aggressivität ein Rätsel für Republikaner wie Demokraten darstellten. Sie bildeten die Basis für die Niederlage Hillary Clintons, die Trumps Unterstützer als „Bedauernswerte“ abqualifizierte.

Quelle          :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Der Hatfield-Clan der Hatfield-McCoy-Fehde.

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Der digitale Kolonialismus:

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Mai 2022

Westliche Tech-Konzerne sparen Milliarden im globalen Süden

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Mahnmal gegen Kolonialismus Hannover 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von     :     

Durch unfaire Gesetze sparen Facebook, Google und Microsoft im globalen Süden massenhaft Steuern. Mit dem Geld ließen sich innerhalb von drei Jahren 1,7 Millionen Krankenpfleger-Innen in 20 Ländern beschäftigen. Teil 3 unserer Serie über digitalen Kolonialismus.

Link zur englischen Version. Link zur Serie.


20 Länder des globalen Südens könnten allein von Facebook, Google und Microsoft fast 2,8 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen verlieren – umgerechnet rund 2,7 Milliarden Euro. Das geht aus einer von ActionAid im Jahr 2020 durchgeführten Untersuchung hervor. Grund sind unfaire globale Steuervorschriften.

Die besagten 2,8 Milliarden US-Dollar an Steuern reichen aus, um in diesen 20 Ländern innerhalb von drei Jahren 1,7 Millionen Krankenpfleger:innen zu beschäftigen. Damit würde ein von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) benanntes Ziel von 40 Krankenpfleger:innen pro 10.000 Einwohner:innen in diesen Ländern erreicht. Unter anderem Indien, Bangladesch, Kenia, Südafrika sind einige der Länder, die in der ActionAid-Studie genannt werden.

Die Untersuchung zeigte, dass Facebook (heute: Meta), Google und Microsoft die Steuerschlupflöcher in den ärmsten Ländern ausnutzen, um Steuern zu vermeiden. Demnach würden allein diese drei Konzerne im Fall einer gerechteren Steuerregelung 2,8 Milliarden US-Dollar mehr zahlen müssen. ActionAid wurde 1972 gegründet und ist eine „globale Vereinigung, die sich für eine Welt ohne Armut und Ungerechtigkeit einsetzt“.

ActionAid: „Nur die Spitze des Eisbergs“

Als der Bericht erschien, zeigte gerade die Covid-19-Pandemie, dass Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt mehr Mittel benötigen. Die Pandemie habe die dringende Notwendigkeit gezeigt, Steuersysteme zu reformieren, sagte Alex Cobham, CEO des Tax Justice Network, in einer Erklärung an das Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP). Er reagierte damit auf den von ActionAid veröffentlichten Bericht. Während die Covid-Pandemie zur Schließung lokaler Unternehmen und zum Verlust der Existenzgrundlage in der ganzen Welt geführt hat, verzeichnen die Tech-Giganten steigende Einnahmen. Berichten zufolge erwirtschafteten Facebook, Google, Apple, Microsoft und Amazon im Jahr 2021 bei einem Umsatz von 1,4 Billionen US-Dollar zusammen mehr als 320 Milliarden US-Dollar Gewinn.

Der Umfang der von diesen Unternehmen im globalen Süden erwirtschafteten Einnahmen spiegelt sich jedoch nicht in der Höhe der Steuern wider. Die besagten 2,8 Milliarden US-Dollar sind laut ActionAid „nur die Spitze des Eisbergs“. Einem anderen Bericht von ActionAid zufolge, der 2021 veröffentlicht wurde, könnten Indien, Brasilien und Indonesien mehr als die 3,8 Milliarden US-Dollar jährlich an Steuerausfällen verlieren, wenn man Alphabet, Amazon, Facebook, Microsoft und Apple betrachtet.

Größte Lücken unter anderem in Indien, Indonesien, Brasilien

Die Zahlen im ActionAid-Bericht 2020 beruhen auf Modellrechnungen und Schätzungen. Derzeit sind die multinationalen Unternehmen gesetzlich nicht verpflichtet, öffentlich darzulegen, wie viele Steuern sie in einigen Entwicklungsländern zahlen. Die Methode zur Berechnung der Steuerlücke in Höhe von 2,8 Mrd. US-Dollar basierte auf dem Anteil der weltweiten Gewinne der drei Tech-Giganten im Verhältnis zu ihrer Nutzendenzahl. Sie wurde entsprechend dem Pro-Kopf-BIP (Bruttoinlandsprodukt) der 20 in dem Bericht untersuchten Länder angepasst. Nach Angaben von ActionAid sind Indien, Indonesien, Brasilien, Nigeria und Bangladesch die Länder mit der höchsten Steuerlücke.

ActionAid behauptet, dass mit den 2,8 Milliarden US-Dollar in den 20 untersuchten Ländern Asiens, Afrikas und Südamerikas 770.649 Hebammen, 729.010 Krankenschwestern oder 879.899 Schullehrer bezahlt werden könnten – und zwar jährlich. Wären die Steuern weltweit fairer gestaltet, könnten laut ActionAid allein von Alphabet genug Gelder eingenommen werden, um in diesen 20 Ländern 244.360 Krankenpfleger:innen zu beschäftigen, was die öffentliche Gesundheitsfürsorge für Covid-19 verändern würde.

Bedarf an globalen Reformen

Bei der Besteuerung der digitalen Wirtschaft gibt es mehrere Herausforderungen. Laut David Archer, einem Sprecher von ActionAid, seien die Steuersysteme in den Ländern des globalen Südens veraltet. So könnten die großen Tech-Konzerne ihre Gewinne in Steueroasen verschieben. Eine weitere große Herausforderung bei der Besteuerung der digitalen Wirtschaft bestehe darin, „genau festzustellen, wo die Gewinne gemacht werden.“ Unternehmen wie Google oder Facebook-Mutter Meta könnten zum Beispiel Einnahmen von indischen Nutzer:innen generieren könnten, ohne physisch vor Ort zu sein. Auf diese Weise könnten die Konzerne leicht gegen die Zahlung von Unternehmenssteuern in diesen Ländern argumentieren.

Auch in den sogenannten westlichen Ländern wird viel über die Notwendigkeit einer besseren Steuerregelung diskutiert, um Steuerhinterziehung durch Tech-Giganten zu bekämpfen. Im ActionAid-Bericht aus dem Jahr 2021 heißt es, dass den OECD-, G7- und EU-Ländern jährlich 27,97 Milliarden US-Dollar, 20,77 Milliarden US-Dollar beziehungsweise 7,92 Milliarden US-Dollar entgehen. In der Folge haben Länder wie Großbritannien, Italien und Frankreich auf ihrer jeweiligen nationalen Ebene digitale Steuergesetze eingeführt. Diese Länder sind erfolgreicher darin, Tech-Konzerne zur Zahlung höherer Steuern zu bewegen.

So haben beispielsweise Unternehmen wie Facebook, Google, Amazon und Apple ihre Steuerstreitigkeiten mit den französischen Steuerbehörden beigelegt. Google hat Berichten zufolge 1 Milliarde Euro an die französischen Behörden gezahlt, um eine Steuerprüfung zu beenden. Facebook erklärte sich bereit, 106 Millionen Euro als Steuernachzahlung an Frankreich zu leisten. Die Länder des globalen Südens hinken jedoch weit hinterher, wenn es darum geht, die Tech-Giganten zu zwingen, ihren Anteil an den Steuern zu zahlen.

Auf dem Spiel stünden Milliarden

Nach den geltenden Gesetzen in mehreren Ländern des Globalen Südens müssen die Technologieunternehmen nicht offenlegen, wie viel Steuern sie zahlen, daher ist in dieser Hinsicht sehr wenig bekannt. Laut Archer könnten „Milliarden auf dem Spiel stehen“.

Einzelne Länder haben ihrerseits versucht, gegen Steuervermeidung durch die großen Tech-Konzerne vorzugehen. Nigeria zum Beispiel versucht es auf zwei Arten. Erstens wird auf jede digitale Dienstleistung eine indirekte Mehrwertsteuer (VAT) erhoben. Diese ist seit 2019 Teil des nigerianischen Finanzgesetzes. Der zweite Ansatz besteht darin, diese Unternehmen auf den von ihnen erwirtschafteten Gewinn zu besteuern. Beide Ansätze haben jedoch ihre Probleme.

Laut Mustapha Ndajiwo, Gründer des African Centre for Tax and Governance (ACTG) in Nigeria, sind diese komplexen Vorschriften nicht einfach umzusetzen. Zum Ansatz der indirekten Steuern sagt er: „Die Unternehmen können die Steuern sofort auf den Verbraucher:innen abwälzen.“ Ndajiwo bezeichnete jedoch die Besteuerung von Gewinnen als das „Hauptproblem“, da dieser Ansatz noch immer nicht das Problem der Gewinnverlagerung in Steueroasen angeht.

Indien führte 2020 eine „Google-Steuer“ ein

Indien ist mit einem ähnlichen Problem konfrontiert. Indien führte im April 2020 eine Ausgleichsabgabe ein, die vereinfachend „Google-Steuer“ bezeichnet wird. Im Rahmen dieser Steuer müssen Werbetreibende, die auf Plattformen wie Google und Facebook tätig sind, eine Abgabe von 6 Prozent abführen, bevor sie Zahlungen an diese Plattformen leisten. Die besagte Abgabe wird auch dann erhoben, wenn sowohl der Werbetreibende als auch die Plattform ihren Sitz nicht in Indien haben. Entscheidend ist allein, dass die Werbung in Indien sichtbar ist.

Es gab jedoch Befürchtungen, dass diese Plattformen „die Kosten auf die Kund:innen abwälzen könnten“, so Neeru Ahuja, Partner bei Deloitte India. Und es überrascht nicht, dass Google angekündigt hat, im Jahr 2021 die Last der besagten Abgabe auf die Kund:innen abzuwälzen, die ihre in Indien sichtbaren Anzeigen bei Google schalten.

Befürchtung von Vergeltungszöllen der USA

Das African Tax Administration Forum (ATAF) mit Sitz in Südafrika arbeitet an der Einführung einer Digitalsteuer. Bislang hat es fast 38 Länder in Afrika in Steuerfragen unterstützt. Das ATAF arbeitet auch mit der Afrikanischen Union zusammen.

„Aus Gesprächen mit unseren Mitgliedern wissen wir, dass einige andere afrikanische Länder die Einführung einer Steuer auf digitale Dienstleistungen erwägen“, sagt Logan Wort, Geschäftsführer der ATAF. Da die Länder jedoch die Einführung der Digitalsteuer in Erwägung ziehen, befürchten sie, dass die USA Vergeltungsmaßnahmen ergreifen könnten. „Einige Mitglieder sind jedoch besorgt über mögliche Vergeltungsmaßnahmen der USA gegen sie“, so Logan Wort gegenüber der Deutschen Welle. „Das könnte zur Verhängung von Zöllen auf Exporte aus diesen Ländern in die USA führen.“

Diese Befürchtungen sind berechtigt. Nachdem Frankreich 2019 die Einführung einer Digitalsteuer in Erwägung gezogen hatte, kündigten die USA eine Strafsteuer dagegen an. Die neue US-Regierung unter Joe Biden hat sich jedoch kürzlich darauf geeinigt, dass Tech-Unternehmen einen größeren Anteil ihrer Einnahmen in den Ländern zahlen sollten, in denen sie tätig sind.

OECD – ein „Club der reichen Nationen“

David Archer betonte die Bedeutung eines globalen Steuersystems, als er den im Jahr 2020 veröffentlichten Bericht von Action Aid kommentierte. Er behauptete jedoch, dass die OECD-Länder das größte Hindernis auf dem Weg zu diesem Ziel darstellen. „Es ist ein Club reicher Nationen, die sich nicht so sehr um die Bedürfnisse der Entwicklungsländer kümmern“.

Außenministerin Karin Kneissl nimmt am Ministerial Council Meeting der OECD in Paris teil. (27619529467).jpg

OECD – Club der Habgierigen ?

Im Oktober 2021 schloss die OECD nach jahrelangen Verhandlungen ein Abkommen zur Reform der internationalen Steuervorschriften ab. Dem Abkommen haben 136 Länder und Gerichtsbarkeiten weltweit zugestimmt, die mehr als 90 Prozent des globalen BIP repräsentieren. Laut der OECD-Website würden die eingeführten Reformen „sicherstellen, dass multinationale Unternehmen (MNU) ab 2023 einem Mindeststeuersatz von 15 Prozent unterliegen“.

Das besagte Abkommen sieht außerdem ein Reformpaket mit zwei Säulen vor. Die erste Säule soll eine gerechtere Verteilung der Besteuerungsrechte für Gewinne in Höhe von mehr als 125 Milliarden US-Dollar gewährleisten. Das soll funktionieren, indem die Besteuerungsrechte auf die Länder mit den größten multinationalen Unternehmen (MNU) verteilt werden. Nach diesen Reformen würden die Besteuerungsrechte in den Ländern entstehen, in denen die Einkünfte erwirtschaftet werden – auch wenn ein multinationales Unternehmen in diesem Land keine physische Präsenz hat. Im Rahmen der zweiten Säule wird ein globaler Mindestkörperschaftssteuersatz von 15 Prozent für Unternehmen mit einem Umsatz von über 750 Millionen Euro eingeführt.

ActionAid: „Mindeststeuersatz zwischen 25 und 30 Prozent“

Das Abkommen wurde jedoch von ActionAid heftig kritisiert. Im Jahr 2021 unterstützte ActionAid Nigeria die Entscheidung der nigerianischen Regierung, das besagte Abkommen nicht zu unterzeichnen. Sie kritisierte den Steuersatz von 15 Prozent im Rahmen des neuen Abkommens als zu niedrig. In einer von ActionAid Nigeria im Juli 2021 veröffentlichten Erklärung hieß es: „Nigeria hat Regeln und Vorschriften mit einer Körperschaftssteuer von 30 Prozent für große und multinationale Unternehmen aufgestellt. Der durchschnittliche Körperschaftssteuersatz für afrikanische Länder liegt bei 28 Prozent. Der Mindestkörperschaftssteuersatz von 15 Prozent ist jedoch zu niedrig und daher unzureichend, um den Wettlauf nach unten zu stoppen.“

ActionAid sagte: „Um einen moderaten Stand zu erreichen, braucht Nigeria, wie die meisten anderen afrikanischen Länder, einen globalen Mindeststeuersatz von 25 bis 30 Prozent.“

ActionAid kritisierte auch „Verhandlungen, die von reichen Ländern zu ihrem Vorteil geführt werden“. Es kritisierte die Aufforderung des besagten OECD-Deals an alle Länder, die einseitigen oder nationalen Steuergesetze zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft abzuschaffen oder zurückzunehmen. „Es ist grundlegend unfair, von den Ländern des globalen Südens zu verlangen, dass sie ihre einseitige Besteuerung der digitalen Wirtschaft aufgeben, um ein Abkommen umzusetzen, das sie nicht mit ausgehandelt haben, zumal sie davon nur am Rande profitieren werden.“

Picketty: „ein riesiger Betrug“

ActionAid kritisierte auch, dass das Abkommen frühestens 2023 in Kraft treten würde und dass die erste Überprüfung der Regeln im Rahmen des Abkommens erst 2030 stattfinden könnte. In der Erklärung wird auf die Dringlichkeit des Bedarfs an Mitteln für bessere Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt hingewiesen: „Die Einnahmen werden im globalen Süden dringend benötigt, um die Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie zu bewältigen und Armut und Ungleichheit zu bekämpfen.“ Unternehmen, die in der digitalen Wirtschaft tätig sind, müssten gezwungen werden, ihren fairen Anteil an Steuern zu zahlen.

Auch der Ökonom Dr. Thomas Picketty, Autor des Buches „Capital“ und Mitglied der ICRICT (Independent Commission for the Reform of International Corporate Taxation), kritisierte bereits 2019 die damals laufenden globalen Steuerverhandlungen. Er bezeichnete den neuen Plan für ein globales Steuersystem als „enormen Betrug“ und forderte einen Mindestkörperschaftssteuersatz von 25 Prozent.

Entgegen der landläufigen Meinung ist der globale Mindeststeuersatz von 15 Prozent ein großer Rückschritt. Bis 1980 betrugen die „Körperschaftssteuersätze weltweit im Durchschnitt 40,11 Prozent„. Bis 1990 lagen die weltweiten Körperschaftssteuersätze für Länder mit niedrigem, hohem und mittlerem Einkommen fast durchgängig zwischen 39 Prozent und 45 Prozent. Seitdem sind die Sätze drastisch und kontinuierlich gesunken. Im Jahr 2018 lag der Steuersatz für Länder mit hohem Einkommen bei fast 22 Prozent, für Länder mit mittlerem Einkommen bei 24 Prozent und für Länder mit niedrigem Einkommen bei 29 Prozent. Der Steuersatz von 15 Prozent im Rahmen des neuen Abkommens setzt den globalen Unternehmenssteuersatz gefährlich niedrig an, insbesondere für Länder mit niedrigem Einkommen, die die höchsten Steuern zahlen müssen.

Kolonialismus gestern und heute

In der heutigen digitalen Wirtschaft erzielen multinationale Unternehmen immense Einnahmen aus dem globalen Süden. Diese Unternehmen tun dies jedoch, ohne den ihnen zustehenden Anteil an Steuern an die Länder zu zahlen. Das führt zu enormen Einkommensverlusten. Durch Steuervermeidung wird den Ländern des globalen Südens Reichtum entzogen, während sie gleichzeitig die Ressourcen dieser Länder aufbrauchen und ausbeuten. Diese Art der Ausbeutung erinnert an die Kolonialzeit, als der Reichtum in ähnlicher Weise direkt ausgebeutet wurde und die kolonisierten Länder arm gemacht hat.

Die besagten 2,8 Milliarden US-Dollar Verlust aufgrund von Steuervermeidung durch die Tech-Konzerne sind nur ein sehr kleiner Teil der Gesamtverluste. Nach Angaben der OECD beläuft sich der Wert der jährlichen Steuervermeidungsverluste in Afrika auf 50 bis 80 Milliarden US-Dollar. Dieser Betrag übersteigt sogar den Wert der Entwicklungshilfe, die Afrika jährlich erhält.

Im Jahr 2019 belief sich die Hilfe für Afrika aus den Ländern des Entwicklungshilfeausschusses (DAC) auf insgesamt fast 49 Milliarden US-Dollar. Das DAC ist ein internationales Komitee, das unter der Schirmherrschaft der OECD steht und sich aus den USA und den meisten Ländern der Europäischen Union zusammensetzt. Nach Angaben der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Afrika (UNECA) ist der Wert der durch Steuerhinterziehung in Afrika verursachten Verluste mit rund 89 Mrd. US-Dollar sogar noch höher.

Aufruf zu einer Änderung des globalen Steuersystems

ActionAid bezeichnete das neue OECD-Abkommen als „enttäuschend“ und forderte „umfassendere Reformen der internationalen Steuerpraktiken und -verträge“. Laut ActionAid würden nur solche Reformen den Ländern des globalen Südens eine gleichberechtigte Stimme am Verhandlungstisch mit den reicheren Ländern geben.

In einer Erklärung, die nach dem 2020-Bericht veröffentlicht wurde, heißt es weiter, dass die Regierungen im globalen Süden dieses Geld dringend benötigen, um öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und sozialen Schutz für die Milliarden von Menschen zu finanzieren, die von der Covid-19-Pandemie betroffen sind.

Weiter heißt es: „Angesichts der dringenden Bedürfnisse von Frauen und jungen Menschen, die von Covid-19, Hunger und Arbeitslosigkeit betroffen sind, sollten die Regierungen Maßnahmen ergreifen, um Tech-Unternehmen zu besteuern, anstatt sich auf ein globales Abkommen zu einigen“. Diese Steuern sollten laut ActionAid progressiv sein und auf die enormen Gewinne der Tech-Giganten abzielen, um sicherzustellen, dass die Kosten nicht auf die Nutzer:innen abgewälzt werden.


Digitaler Kolonialismus

Dieser Artikel ist Teil einer Reihe über digitalen Kolonialismus. Wir werden verschiedene Themen behandeln, die mit der Dominanz einer Handvoll mächtiger Länder und großer Technologieunternehmen im digitalen Raum des globalen Südens zusammenhängen. In den letzten Jahren haben Wissenschaftlerinnen und Aktivisten zunehmend darüber geschrieben, wie diese Handvoll Firmen digitale Technologien nutzen, um eine sozio-politische und wirtschaftliche Vorherrschaft zu erlangen, die die Souveränität und die lokale Regierungsführung in den Ländern des globalen Südens untergräbt.

Einige Wissenschaftler bezeichnen dieses Phänomen als digitalen Kolonialismus. Sie argumentieren, dass sich zwar die Art und Weise, das Ausmaß und die Kontexte geändert haben mögen, die dem Kolonialismus zugrunde liegende Funktion des Aufbaus von Imperien, der Wertschöpfung, der Ausbeutung von Arbeitskräften und der Aneignung jedoch dieselbe geblieben ist.

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Oben     —       Inscription on the memorial against colonialism at Bertha-von-Suttner-Platz in Hannover: „This monument was erected by the Nazis in 1935. It stood for the glorification of colonialism and the master race. For us, however, it is a reminder – in accordance with the Charter of Human Rights – to stand up for the equal rights of all peoples, people and races.“

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Das Lieferkettengesetz

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Mai 2022

Wenn Lieferketten zu Fußfesseln werden

Elektronische Fußfessel in Kalifornien, USA

Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Wie jubelte unsere Wirtschaft im Westen, als vor 40 Jahren China langsam die Tore öffnete und eben jene Drecksarbeiten auch noch billig erledigte, die man im eigenen Land nicht haben wollte oder die mit unbequemen gesetzlichen Auflagen verbunden waren. Mit der Zeit entdeckte man dann dort noch das Marktpotential und verlagerte Produktionen und Vertriebe in das „Reich der Mitte“ mit dem Ziel der eigenen Gewinnmaximierung. Um die Vorgänge und Entwicklungen in China kümmerte man sich wenig, wenn überhaupt, solange das Geld in der eigenen Kasse klingelte.

Aus der ursprünglich vernünftigen japanischen Idee der Just-in-time-Anlieferung entwickelten insbesondere die USA internationale Lieferketten, die prompt den Rost-Belt im eigenen Land vergrößerten und das Land in von der eigenen Großindustrie kontrollierte Abhängigkeiten führte. Obwohl dies eigentlich den Planungsregeln eines ordentlichen Kaufmanns widersprach, schlossen sich unsere Unternehmen der Idee der globalen Lieferketten an, weil es in der westlichen Welt nur noch um Preis und Gewinn ging. So begab man sich sehenden Auges auch hier in Abhängigkeiten aller Art, von den Rohstoffen über Produkte und Vorprodukte bis hin zu Lebensmitteln, Medikamenten und Medizinprodukten.

Und dann kam Corona und wirbelte die weltweit praktizierten Wirtschaftspraktiken tüchtig durcheinander bzw. legte ihre Absurdität offen. Es fehlte plötzlich an den einfachsten Produkten, und angesehene Politiker scheuten sich nicht, sich z.B. durch Beziehungseinkäufe von Masken auch noch unsittlich zu bereichern. Durch das weltweit unterschiedliche Corona-Geschehen kommt es jetzt auch noch zu der abstrusen Situation, dass die „Werkstatt der Welt“ durch Corona und entsprechende Gesundheitsmaßnahmen dort ins Stottern geraten ist mit der Folge, dass die Wirtschaft bei uns durch Lieferausfälle ins Mark getroffen wird.

Jetzt endlich plant die EU ein Lieferkettengesetz, um das globale Liefersystem nachhaltiger und weniger anfällig bei Unwägbarkeiten zu machen. Das kann aber nur gelingen, wenn man auch das „Reich der Mitte“ respektvoll einbezieht, zumal China mit dem Seidenstraßenprojekt seit jahrzehnten vormacht, wie man gerade zwischen China und Europa sinnvoll Waren und Initiativen austauschen kann, ohne Krieg und Sanktionen. Dagegen ist die vom Westen einseitige und im Wesentlichen kapitalgetriebene, globale Lieferkettenpolitik gescheitert, weil man sich blind und geldgierig auf eine einzige Lieferquelle konzentriert hat. In dieser Situation der sich aufdrängenden Veränderungen kann es nicht darum gehen, die selbst gewählte Lieferquelle für global begründete Störungen veranwortlich zu machen oder dafür gar zu sanktionieren. Nein, wir müssen im Westen wieder sinnvoll jene Verantwortungen übernehmen, die unsere Wirtschaft begründeten und stark gemacht haben. Wer jetzt noch immer nicht einsieht, dass die bisher praktizierten Lieferketten zu bedrohlichen Fußfesseln mutiert sind und dabei nicht die eigene Verantwortlichkeit sieht oder sie gar verleugnet, ist für eine verantwortliche Rolle in Politk und Wirtschaft nicht qualifiziert. Wir befinden uns tatsächlich in einer Zeitenwende und sind alle gefordert, uns aktiv für ein Gelingen einzubringen.

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Oben     —     Elektronische Fußfessel in Kalifornien, USA

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Die Leberwurst-Diplomatie

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Mai 2022

Botschafter der Ukraine in Deutschland

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Ist es nicht einfacher sich als beleidigte Leberwurst zu verstecken – als sich in der Ukraine zu einer Blutwurst machen zu lassen ?

Von Tobias Schulze

Andrij Melnyk hat Olaf Scholz als beleidigte Leberwurst bezeichnet. Der Diplomat teilt aus, denn Krawall zieht immer – sogar in Kriegszeiten.

Melnyk mal wieder. Diesmal hat der ukrainische Botschafter den Bundeskanzler als „beleidigte Leberwurst“ tituliert, was aus seinem Repertoire der Herabwürdigungen zwar längst nicht mehr als Außerordentlichkeit heraussticht, ihm aber doch wieder eine ordentliche Reichweite einbrachte. Die dpa verschickte das Zitat am Dienstag um 3 Uhr morgens in einer eigenen Meldung an die Redaktionen des Landes. Auf Twitter landete das Stichwort Leberwurst am Vormittag auf Platz 1 der Trend-Themen.

Die Wortmeldungen des Andrij Melnyk nutzen sich in der Aufmerksamkeitsökonomie nicht ab, so vorhersehbar sie mittlerweile auch sind. Zum Public Diplomathat er sich seit Beginn des Krieges entwickelt, zum Botschafter mit dem vielleicht größten Bekanntheitsgrad in der Geschichte der Bundesrepublik. Es ist der Bruch mit den Erwartungen, der ihn als O-Ton-Geber so interessant macht. Krawall zieht immer. Krawall von einem, der qua Amt doch eigentlich jeden Krawall großflächig umfahren sollte, zieht umso mehr.

Die Reibungsenergie entsteht aber nicht allein dadurch, dass ein Diplomat undiplomatisch auftritt. Hinzu kommt, dass Melnyks Posten doch eigentlich große Sympathie zuteilwird. Beispielhaft abzulesen war das an den Standing Ovations, die ihm der Bundestag bei seiner Sondersitzung am 27. Februar beinahe geschlossen widmete. Ihm, dem Botschafter als Repräsentanten des angegriffenen Staates.

Künstler und Werk

Im krassen Gegensatz dazu steht die Antipathie, die sich gegen die Person Melnyk richtet, weil er nicht wie erwartet dankbar zurückgrüßt, sondern eben unentwegt austeilt. Weil sich die Person vom Posten ähnlich schwer trennen lässt wie der Künstler vom Werk, entsteht unweigerlich eine Dissonanz. Wie umgehen damit? In Fragen der Leberwurstigkeit des Bundeskanzlers und ähnlichen Zusammenhängen könnte es mit einer gelassenen Gleichgültigkeit funktionieren.

Es ist zwar fraglich, ob seine Polterei der ukrainischen Regierung dabei hilft, ihre Ziele in Deutschland zu erreichen. Natürlich, sagen die einen: Nur durch maximalen Druck sei die Bundesregierung zu echter Solidarität zu bewegen. Zur Zusage schwerer Waffen hat sie sich dieser Lesart zufolge nur durchgerungen, weil Melnyk im Zusammenspiel mit dem Trio Hofreiter/Roth/Strack-Zimmermann so schön rücksichtslos auf die Pauke haute.

Demgegenüber steht die naheliegende Vermutung, dass in der öffentlichen Meinung die Antipathie gegen die Person auch auf ihr Anliegen übergreifen könnte, vielleicht geschieht das sogar schon.

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Sind nicht genau dieses typische Ränkespiele in der Politik, wo es heißt:? „Und willst du nicht mein Bruder sein – dann schlag ich dir den Schädel ein!  Das ist Politik und nichts anderes !!

Gleichzeitig stützt er die Argumentation seiner Kontrahenten zuweilen eher, als dass er sie widerlegt. Als die Bundesregierung noch der Meinung war, keine schweren Waffen liefern zu können, weil unter anderem nicht genügend Munition aufzutreiben sei, war noch von Ausflüchten die Rede. Seitdem sie dann doch die Lieferung von Gepard-Panzern ankündigte, beklagt sich Melnyk darüber, dass die Bundesregierung noch nicht genügend Munition aufgetrieben habe. Konsistent ist das nun nicht gerade.

Nationalhelden und Opfer

Aber gut: Für wie erfolgversprechend sie den Kurs ihres Botschafters hält, muss die ukrainische Regierung entscheiden; in der deutschen Debatte über die Unterstützung der Ukraine sollten andere Aspekte den Ausschlag geben als die Manieren des Andrij Melnyk.

Schwieriger ist es mit der Gleichgültigkeit, wenn sich der Diplomat geschichtspolitisch betätigt. Den ukrainischen Nationalisten Stephan Bandera verklärt er, Kritik daran weist er brüsk zurück. „Weder die Russen noch die Deutschen haben das Recht zu bestimmen, wen die Ukrainer als Helden verehren“, schrieb er Anfang April zum Beispiel in Richtung des Süddeutsche-Autors Heribert Prantl. „Lasst uns in Ruhe mit euren Belehrungen.“

Quelle      :           TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —   (Der Arm von) Olaf Scholz, Politiker (SPD) – Zur Zeit Vizekanzler und Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem ist er Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl 2021. Hier während einer SPD-Wahlkampfveranstaltung im August 2021 in München. Titel des Werks: „Olaf Scholz – August 2021 (Wahlkampf)“

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1. Mai – Feiertag

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Mai 2022

Der Tag der Klassenversöhnung

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Suitbert Cechura

Feiertage gelten für die meisten Menschen als etwas Positives: An diesem Tag muss man nicht arbeiten und kann sich endlich einmal um eigene Interessen oder die Familie kümmern. Deshalb ist der Anlass für die Feier, dem der Tag gelten soll, den meisten Menschen eher gleichgültig. Schließlich muss man nicht gläubig sein, um den Himmelfahrtstag oder Fronleichnam zu feiern. So begegnen die Mehrzahl der Menschen auch dem ersten Mai – dem Tag der Arbeit. Ein seltsamer Feiertag – denn was wird da gefeiert?

Der Tag der Arbeit“

So lautet der Titel für diesen Feiertag, der in diesem Jahr bedauerlicher Weise auf einen Sonntag fällt und somit keine zusätzliche Freizeit verschafft. Der Titel ist eigentlich falsch, denn gefeiert wird ja nicht die Arbeit. Wie soll das auch gehen? Arbeit ist schließlich überwiegend Anstrengung und Belastung. Auch wird nicht jede Arbeit gefeiert. Der Tag der Arbeit gilt nicht der Hausarbeit oder der Gartenarbeit, sondern der Lohnarbeit, von der eigentlich keiner mehr reden will. Denn Lohnarbeit verweist auf die Abhängigkeit derer, die von ihrer Arbeit leben müssen, weil sie im Wesentlichen über nichts anderes verfügen als über sich selbst. Sie sind also arm, weil sie kein Kapital besitzen, auch wenn niemand das so sehen will. Und weil alles in dieser Gesellschaft Eigentum und Geschäftsmittel ist, sind diejenigen, die nur über sich als Eigentum verfügen, gezwungen, sich als Arbeitskraft zu verkaufen, um an Geld für den Lebensunterhalt zu kommen. Dieses Zwangsverhältnis zu feiern ist natürlich absurd und so werden viele Anstrengungen unternommen, dieses Verhältnis schön zu reden. Da ist nicht mehr vom Gegensatz von Kapital und Arbeit die Rede, obgleich für Unternehmen der Lohn eine Kost darstellt, der den Gewinn beschränkt und daher gering zu halten ist. Vielmehr heißt es schon seit langem Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Eine seltsame Ausdrucksweise für ein Tauschverhältnis. So soll der Arbeitgeber etwas geben und dafür auch noch bezahlen und der Arbeitnehmer etwas bekommen und das gleich doppelt – Arbeit und Geld. Da steht die Welt auf dem Kopf. Schließlich gibt der Arbeitnehmer seine Arbeitskraft zur freien Verfügung an den Arbeitgeber, der sie so in Anspruch nimmt, dass sie ihm mehr bringt als das, was sie kostet. Beschäftigung muss sich schließlich lohnen und findet nur statt, wenn eine Rendite absehbar ist.

Um aus einem Abhängigkeitsverhältnis einen Feiertag zu machen, muss schon einiges passieren: „In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der 1.Mai ab 1933 durch die Nationalsozialisten zum gesetzlichen Feiertag. Das Reichsgesetz vom 10. April 1933 benannte ihn als ´Tag der nationalen Arbeit`.“ (Wikipedia) Gewürdigt wird mit dem Feiertag die Leistung, die Arbeiter und Angestellte für die Nation erbringen. Sie stehen zwar im Dienst eines Unternehmers und arbeiten für dessen Gewinn, aber der Staat profitiert immer auch vom Geschäftemachen seiner Wirtschaft durch Steuern und ist von daher interessiert an dessen Wachstum. Dafür braucht es eine billige und willige Arbeiterklasse. Dieser Dienst wird an diesem Tag gewürdigt. Heute würde eher von Respekt gesprochen, den sie mit ihrer Leistung verdienen und für den sie sich nichts kaufen können.

Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse“

Auch dieser Titel wird dem 1.Mai zugeschrieben. Der verweist auf die Geschichte: „Anfang 1886 rief die nordamerikanische Arbeiterbewegung zur Durchsetzung des Achtstundentags zum Generalstreik am 1.Mai auf – in Anlehnung an die Massendemonstration am 1.Mai 1856 in Australien, welche ebenfalls den Achtstundentag forderte.“(Wikipedia)

Kämpfen am ersten Mai will heutzutage niemand. Zudem ist ein Generalstreik zur Erzwingung irgendwelcher Forderungen in Deutschland verboten und würde nicht zu einer Feier, sondern zu einem Einsatz der Polizei führen. Dabei haben sich die Gründe für einen Kampf seit über mehr als 150 Jahren nicht geändert. Vielfach wird die Klage über die Schwierigkeit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie geführt, womit zum Ausdruck kommt, dass die Zeit für das Verdienen des Lebensunterhalts kaum Zeit für die Familie lässt und auch heute die Frage der Arbeitszeit und ihrer Beschränkung aktuell ist. Auch der Lohn wird immer wieder von der Inflation aufgefressen und erfordert eine ständige Korrektur, die ohne Auseinandersetzung mit den Unternehmen nicht zu haben ist. Als lohnabhängig Beschäftigter wird man diese Probleme offenbar nie los. Somit spricht einiges für dessen Beseitigung.

Die Mehrzahl der Beschäftigten nutzt den freien Tag für sich und ist auf den Kundgebungen nicht zu entdecken. Schließlich schafft die gefeierte Arbeit den Grund für das Erholungsbedürfnis, dem die meisten Bürger an diesem Tag nachgehen. Gründe für einen Kampf gibt es nach wie vor, doch dazu ist ein Feiertag wenig geeignet. Statt für eine Erhöhung des Lohns und eine Verkürzung des Arbeitstags einzutreten, verlängern viele Beschäftigte ihren Arbeitstag durch Überstunden oder Annahme eines Zweitjobs. Mehr Geld und weniger Zeit für das eigene Leben ist die Form, in der viele mit den durch die Lohnarbeit erzwungenen Verhältnissen sich arrangieren.

Gewerkschaften in Deutschland haben alles andere am 1.Mai vor, als Politik oder Unternehmen durch Demonstrationen oder Streik unter Druck zu setzen. An einem Feiertag kann man ja auch schlecht streiken, da fällt die Arbeit sowieso flach. Für sie ist der Feiertag nicht nur die Anerkennung der Leistungen der Arbeiter für die Nation, sondern auch der Beweis für die Anerkennung der Gewerkschaft als ihre politische Vertretung. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass am 1. Mai neben Gewerkschaftsvertretern auch immer Politiker reden und für ihre Parteien werben dürfen. Für die Gewerkschaft ist aus der Notlage von Lohnarbeitern längst eine positive Grundlage geworden. Weil Arbeitnehmer abhängig sind vom Gang des Geschäfts, sie nur zu einem Einkommen kommen, wenn das Geschäft lohnend ist. Und das nicht nur in einem Unternehmen, sondern in der gesamten Wirtschaft. Die Gewerkschaft hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, mit für den Erfolg der Wirtschaft zu sorgen. Ihre Sorge gilt dem Erfolg der Nation, zu dessen Mitgestaltung sie sich herausgefordert fühlt.

Tag der Arbeit ? Was die wohl am Morgen geraucht haben ?

GEMainsam Zukunft gestalten“

…heißt deshalb auch die Parole des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seiner Mitgliedsgewerkschaften. Das Motto lässt schon keinen Zweifel darauf aufkommen, hier gäbe es so etwas wie einen Gegensatz zur Wirtschaft oder Politik. Von daher ist nicht von höheren Löhnen als Ausgleich für die gestiegene Inflation oder ähnlichem die Rede, sondern sieht sie sich in der Gemeinschaft mit Unternehmern und Politikern in der Pflicht, für Frieden in der Welt und den Erfolg der deutschen Wirtschaft zu sorgen: „Und selten war ein Motto passender: Denn nicht nur die friedliche Zukunft Europas steht derzeit auf dem Spiel, wir müssen auch für eine gerechtere Zukunft kämpfen. Unsere Arbeitswelt steht aktuell vor tiefgreifenden Veränderungen – egal ob beim Klimaschutz, der Digitalisierung oder Globalisierung. Ein gigantischer Strukturwandel, der nur gemeinsam mit den Millionen Beschäftigten gestaltet werden kann: sozial, ökologisch, nachhaltig und demokratisch.“ (IGBCE 22.4.22) Sorgen bereitet diesen Arbeiterpolitikern die friedliche Zukunft Europas. Stellt sich nur die Frage, wieso in der Zukunft? Beteiligt sich Europa doch schon heute sehr