Die Vernunft des Orakels
Erstellt von DL-Redaktion am 5. Juni 2014
Die Vernunft des Orakels
Daybreak over ancient precincts of Apollo and Athena, Delphi, Phokis, Greece
Autor: Bruno Preisendörfer
Tina ist überall: Sie fällt von hinten in den Rücken, steht vorne im Weg, hetzt von rechts, eifert von links und breitet sich schamlos in der Mitte aus. Zu Tina gibt es keine Alternative, sie ist das Akronym der Alternativlosigkeit: There Is No Alternative! Die größte Virtuosin des Tina-Prinzips war Baroness Thatcher. Dieses Prinzip war gewissermaßen der Revolver in der Handtasche, den sie herauszog, wann immer ihr jemand in die Quere kam. Mit Tina lässt sich Kritik als Bedenkenträgerei verunglimpfen, Interessenpolitik als Sachzwang darstellen und das Faktische zur Norm erheben: Es ist, was es ist. Wie die Liebe in einem Gedicht von Erich Fried: „Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe.“ Der Philosoph Hegel rief in einer Vorlesung erschrocken aus: „Die Liebe ist der ungeheuerste Widerspruch, den der Verstand nicht lösen kann.“
Für den am 21. April vor 150 Jahren geborenen Soziologen Max Weber „weiß sich der Liebende in den jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt, den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltages“. Und der Sozialanthropologe Ernest Gellner bemerkt nüchtern: „Für die Wahl eines Ehepartners gibt es keine rationalen Kriterien, die sich sinnvoll anwenden ließen. Die Auswahlkriterien sind zu vielfältig und widersprüchlich, um sich formalisieren zu lassen. […] Wie in anderen Zusammenhängen kaschiert auch hier die Berufung auf ein Orakel (in diesem Fall ein internes) die Unmöglichkeit, in komplexen Situationen Entscheidungen auf rationalem Weg herbeizuführen.“
Ganz genauso ist es auf der höchsten Ebene politischer oder ökonomischer Entscheidungen, wie Gellner in seinem Buch „Pflug, Schwert und Buch“ betont: „Die Rationalität, die der Arbeitsteilung korrespondiert, hat unsere Welt verändert, wird sich aber nie auf jene allumfassende und von Natur aus vielsträngigen Optionen erstrecken können, bei denen es um die Entscheidung zwischen unvereinbaren Alternativen geht.“ Eben deshalb halten die Tina-Leute denjenigen, die mit ihren Entscheidungen nicht einverstanden sind, jedes Mal entgegen, es gebe diese Alternativen gar nicht, jedenfalls nicht, wenn man sich den Sachzwängen stelle. Wie sich der Verliebte auf das Orakel des inneren Gefühls beruft, so beruft sich der Entscheider auf das der äußeren Sachzwänge. Und zwar, nach Gellner, mit umso weniger Recht, je höher die Machtebene ist, auf der entschieden wird. „Umfassende Entscheidungen stellen vor Probleme, die zwangsläufig kompliziert sind und bei denen Erfolg oder Misserfolg von vielen verschiedenen und auch von miteinander unvereinbaren Gesichtspunkten abhängen. In Ermangelung eines einheitlichen Kriteriums sind wir gezwungen, uns mit Bewertungsverfahren zufriedenzugeben, die unterhalb der ,rationalen‘ Ebene bleiben.“
Quelle: Le Monde Diplomatique >>>>> weiterlesen
Fotoquelle: Wikipedia – Urheber F. Harbin
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