Flegel der Gert
gegen Alzheimer in der Politik – Gert Flegelskamp in seiern un-nachahmlichen Art
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NachDenkSeiten
Die Nachdenkseiten – Veröffentlichungen von Albrecht Müller und Wolfgang Lieb – der Weg zu einer Gegenöffentlichkeit
Wie ist es denn vielen Kriegerwitwen nach den letzten Krieg ergangangen – welche auf den Staat hoffen mussten? Wurden nicht viele Witwen in die Prostitution getrieben um die Kinder ernähren zu können?
Von Ulrike Herrmann
Für viele ist die Hinterbliebenenrente eine Aufstockung für den Lebensunterhalt. Eine Kürzung würde nur eins bedeuten: verschärfte Altersarmut.
Über die Rente wird permanent diskutiert, aber ein Thema blieb bisher relativ unbeachtet: die Witwenrente. Doch nun hat die Chefin der Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer eine Reform vorgeschlagen, die darauf hinauslaufen würde, die Witwenrenten langfristig zu kürzen.
Konkret stellt sich Schnitzer vor, dass es zu einem „Rentensplitting“ kommt. Dabei werden die Rentenansprüche der Ehepartner hälftig geteilt – und zwar nur die Ansprüche, die tatsächlich während der Ehe erworben wurden. Frühere Beiträge werden nicht berücksichtigt. Wenn dann ein Partner stirbt, erhält der Hinterbliebene diese Hälfte sowie die eigenen Ansprüche, die vor der Ehe entstanden sind.
Auch jetzt ist ein Rentensplitting schon möglich, aber Schnitzer schlägt vor, dass es verpflichtend wird. Faktisch würden damit die Witwenrenten gekürzt, denn bisher erhalten Hinterbliebene im Normalfall 55 bis 60 Prozent der Rente ihres verstorbenen Partners – plus die eigene Rente. Allerdings sind konkrete Berechnungen schwierig, wie groß die Nachtteile tatsächlich wären, weil derzeit das eigene Einkommen des Hinterbliebenen bei der Witwenrente berücksichtigt wird.
Selbst wenn es zu dieser Reform käme, würde sie nicht sofort greifen. Stattdessen soll es lange Übergangsfristen geben, damit sich alle Arbeitnehmer auf die künftigen Realitäten einstellen können. Die heutigen Rentner müssten also nicht fürchten, dass sie plötzlich ein Teil ihres Einkommens verlieren.
Auf den ersten Blick wirkt es charmant, wenn nicht alle Beitragszahler dafür aufkommen müssten, dass einzelne Ehepartner lieber zu Hause bleiben und nicht arbeiten. Dabei wird jedoch übersehen, dass nur eine Minderheit der Hinterbliebenen nie erwerbstätig war. 2022 bezogen etwa 5,3 Millionen Menschen eine Witwenrente, wovon aber nur etwa 1,2 Millionen keine eigenen Rentenansprüche hatten. Der Rest hat früher gearbeitet – und erhält die Witwenrente zusätzlich.
Rentenkassen benötigen mehr Geld
Diese Zusatzgelder werden dringend gebraucht, damit die alten Menschen überhaupt über die Runden kommen: 2022 erhielten Männer, die auch eine Witwerrente erhielten, im Schnitt 1.717 Euro netto. Frauen mit eigener Rente und Witwenrente bekamen monatlich 1.573 Euro ausgezahlt.
Unsere Autorin redet mit fremden, einsamen Menschen. Tage danach beklagt sich ein italienischer Freund auch über Einsamkeit – wegen Berlusconi.
Haben Sie auch nicht gemerkt, oder? Dass gerade die Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ zu Ende ging, meine ich. Sie fand ohne große Öffentlichkeit, von Montag bis Freitag statt, um für das Problem zu sensibilisieren, das laut Bundesfamilienministerium besonders häufig junge Erwachsene und sehr alte Menschen, meist Frauen, betrifft: einen empfundenen Mangel an sozialen Beziehungen zu anderen Menschen.
Von der Website der Aktionswoche geriet ich auf eine Mitmachseite, auf der man einen „Ort der Gemeinsamkeit“ eintragen konnte, um sich einsamen Menschen als Gegenüber zur Verfügung zu stellen. Kurz dachte ich an unseren Küchentisch, der wie geschaffen ist für ausufernde Gespräche und ebenso ausufernde Mahlzeiten – der eben aber auch ein Ort des familiären Chaos ist. Ein Flyer zur Aktionswoche zeigt einen älteren Mann allein beim Essen: „Einsamkeit sitzt mit am Tisch“, so der Slogan.
Ich versuchte mir unseren Küchentisch verwaist vorzustellen, ohne das ganze Gerümpel und das laute Durcheinanderreden drum herum – es gelang mir nicht. Interessant, wie gut Verdrängung funktioniert. Dabei hatte ich mich doch erst letzte Woche mit Kind eins auf Klassenfahrt, Kind zwei und dem Mann ständig auf Achse durchaus mal einsam gefühlt – allerdings nur sehr punktuell, weil es mich eben traurig macht, alleine zu essen.
Echte Einsamkeit aber ist fies, sie macht gleichzeitig mürbe und bedürftig; das merke ich, wenn ich den verwitweten Onkel am Telefon habe oder der alleinstehenden älteren Frau aus der Straße begegne, die nach einem freundlichen „Wie geht’s?“ gar nicht mehr aufhört zu reden.
Klagen über Einsamkeit
Der Mitarbeiter meiner Friseurin hat unlängst gekündigt – er war, so erzählte sie, genervt von den älteren Herrschaften, für die das Waschen, Schneiden, Legen, Föhnen der Höhepunkt ihrer Woche ist. Friseursalons sind auch Orte gegen Einsamkeit, allerdings nur für diejenigen, die es sich leisten können, sie regelmäßig aufzusuchen.
Wer es sich nicht leisten kann, sich temporär auf Inseln der (wenn auch kommerziellen) menschlichen Interaktion zu flüchten, verwelkt in der eigenen Wohnung und lauert auf Kontaktaufnahmen von außen – und sei es nur der Paketbote, der eine Sendung für den Nachbarn dalassen will.
Am Dienstag klagte auch mein italienischer Freund überraschend über Einsamkeit. Erst war ich etwas besorgt, schließlich entstand unser Kontakt während des ersten Coronalockdowns, als wir, deprimiert und sozialer Kontakte außerhalb der eigenen vier Wände bedürftig, uns regelmäßig digital zu unterhalten anfingen.
Einsam dürfte der Cavaliere nicht gewesen sein
Job verloren? Freundin weg? – Nein, präzisierte er, es sei politische Einsamkeit, die ihn plage. Nicht nur er, ganz Italien fühle sich wie verwaist, nachdem der ewige „Cavaliere“ das Zeitliche gesegnet hatte: „Mein ganzes Leben lang war Silvio Berlusconi immer da“, barmte er. – Ganz Italien in Trauer und Einsamkeit?
Nun ja. Ich erinnerte ihn dezent an das Buch in seinem Rücken, das er mir bei anderer Gelegenheit einmal gezeigt hatte. „L’odore dei soldi“ (Der Geruch des Geldes), das den zweifelhaften Quellen von Berlusconis immensem Reichtum nachspürt, fand 2001 mehr als 300.000 LeserInnen in Italien. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass es Berlusconi nur dank seiner engen Kontakte zur sizilianischen Mafia gelungen sei, seine Firma Fininvest aufzubauen.
Das Jahrhundertbeben vom 6. Februar 2023 im Süden der Türkei und im Norden Syriens kannte weder Grenzen noch Nationalitäten. Es machte keinen Unterschied zwischen türkischen und syrischen Staatsbürgern, zwischen Einheimischen, Geflüchteten und Binnenvertriebenen, zwischen Türken, Arabern und Kurden.
Die Unterschiede, die bei der Bewältigung der Katastrophe und im Umgang mit den Betroffenen zutage treten, sind menschengemacht. Zunächst schienen Opfer und Helfer zusammenzurücken. Rettungsteams aus Dutzenden Ländern strömten in die Türkei, syrische Vereine in Europa sammelten Geld- und Sachspenden. Die internationale Solidarität half, politische Gräben zu überwinden. Nach Monaten der Feindseligkeiten empfing der türkische Außenminister seinen griechischen Amtskollegen im Erdbebengebiet, aller territorialen Streitigkeiten zum Trotz. Die seit mehr als dreißig Jahren geschlossene türkische Grenze nach Armenien wurde für die Erdbebenhilfe des Nachbarlandes geöffnet, obwohl beide Länder nicht einmal diplomatische Beziehungen unterhalten. Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi telefonierte zum ersten Mal überhaupt mit Syriens Machthaber Bashar al-Assad, Jordanien schickte erstmals seit 2011 seinen Außenminister nach Damaskus.
Aber kann das Erdbeben auch die in der Südtürkei und in Nordsyrien verlaufenden Konfliktlinien aufbrechen? Kann es die verhärteten Fronten zwischen den Kriegsparteien im Syrienkonflikt aufweichen? Und wird es die humanitäre Not in den Vordergrund rücken – egal, wer die Bedürftigen sind und wo sie leben? Es sieht nicht danach aus. Immer wieder werden Hilfskonvois, die innerhalb Syriens von einem Einflussgebiet in ein anderes fahren wollen, blockiert. Nach zwölf Jahren Kriegswirtschaft steht an jedem Checkpoint eine Miliz oder Armeeeinheit, die sich bereichert und einen Teil der Lieferung für ihre eigenen Leute beansprucht. Mal fordert das Regime 40 von 100 Diesellastwagen für sich, mal verlangen extremistische Gruppen 40 Prozent der Güter, mal müssen sämtliche Hinweise auf die kurdische Herkunft der Ladung entfernt werden.
Hilfe über innersyrische Konfliktlinien hinweg gestaltet sich deshalb mühsam, sinnvoller ist die Unterstützung über die Türkei – auch aus geographischen Gründen, schließlich liegen die am schwersten vom Erdbeben betroffenen Gebiete direkt an der syrisch-türkischen Grenze.
Die Führungen in Ankara und Damaskus versuchen jedoch, die Krise für sich zu nutzen. Recep Tayyip Erdoğan will wiedergewählt, Assad rehabilitiert werden – der türkische Präsident kämpft im Inneren, Syriens Machthaber nach außen. Ihr Krisenmanagement zielt deshalb darauf ab, die eigene Position zu stärken, was am besten auf Kosten des jeweils anderen geht. Kein Schulterschluss in der Not, sondern Machterhalt um jeden Preis.
Die Rolle der westlichen Sanktionen
Während Erdoğan die interne Kritik an seiner Führung rechtzeitig vor den anstehenden türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen mit der Verhängung des Ausnahmezustands zum Schweigen bringen möchte, bemüht sich Assad um Normalisierung. Ausführlich berichten syrische Staatsmedien über Solidaritätsbekundungen und Hilfslieferungen aus dem Ausland – stets verbunden mit dem Hinweis, dass westliche Sanktionen die Versorgung der Erdbebenopfer behindern würden. Die Botschaft an die Syrerinnen und Syrer ist klar: Seht her, wir sind nicht allein, nur die Amerikaner und Europäer wollen uns zerstören.
Die Realität ist jedoch eine andere. Anders als im Irak in den 1990er Jahren gibt es im Falle Syriens keine umfassenden UN-Sanktionen, sondern nur Beschränkungen seitens der EU und der USA. Das Regime kann also mit Dutzenden anderen Ländern handeln, die Rohstoff- und Warenimporte aus Russland, Iran und China sicherten Assad in den vergangenen Jahren das Überleben. Für Europäer und Amerikaner ging es 2011 darum, ein Zeichen gegen die brutale Niederschlagung der Proteste zu setzen. Sie verhängten zwei Arten von Sanktionen – gegen Individuen und gegen Sektoren. Die einen zielen gegen mehrere Hundert Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen, die Assads Machtzirkel und dem Sicherheitsapparat nahestehen und für dessen Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich sind oder davon profitieren. Sie schränken den Handlungsspielraum der herrschenden Elite durchaus ein, auch wenn sie das Verhalten des Regimes insgesamt kaum beeinflussen können.
Die sektoralen Sanktionen betreffen bestimmte Wirtschaftsbereiche wie die Öl- und Gasindustrie, das Bankensystem, den Kraftwerksbau, Informationstechnologie zur Internet- und Telefonüberwachung sowie Militär- und Luxusgüter. Sie haben durchaus unbeabsichtigte negative Auswirkungen auf die Bevölkerung, vor allem im Zahlungsverkehr und bei der Energieversorgung. Deshalb sollten sie in Absprache mit der syrischen Zivilgesellschaft regelmäßig angepasst werden. Landwirtschaftliche Produkte, humanitäre Hilfe sowie Medikamente und medizinische Ausrüstung unterliegen dagegen keinen Sanktionen.
Experten verschiedener Institutionen fordern eine effektivere Umsetzung der gezielten Sanktionen, um die sektoralen Beschränkungen zum Teil aufheben zu können.[1] Denn während das Regime die Sanktionen umgeht, indem es Briefkastenfirmen mit komplexen Eigentumsverhältnissen schafft und Frachtschiffe umbenennt, leiden kleine bis mittlere Unternehmen sowie die Zivilbevölkerung unter den pauschalen Einfuhrverboten. Smart sanctions müssten Assads Schlupflöcher und Umgehungsinstrumente ins Visier nehmen, statt ganze Sektoren lahmzulegen, heißt es in den Berichten. Ein Beispiel ist der Finanzmarkt: Aus Angst vor westlichen Strafmaßnahmen lassen Banken häufig keinerlei Transaktionen mit Syrienbezug zu, selbst Spenden für die Erdbebenopfer verzögerten sich, wenn bei Überweisungen das Stichwort „Syrien“ angegeben werde, melden Hilfsvereine. Diese „Übererfüllung“ von Sanktionen schadet vor allem der notleidenden Bevölkerung und Nichtregierungsorganisationen.
Die darüber hinaus gehenden amerikanischen Bestimmungen im Rahmen des sogenannten Caesar Syria Civilian Protection Act, die seit 2020 in Kraft sind und sich gegen Dritte richten, die mit regimenahen Unternehmen oder Institutionen Geschäfte machen oder in Regimegebieten investieren wollen, wurden kurz nach dem Erdbeben für sechs Monate aufgehoben. Eine Geste des guten Willens seitens des US-Finanzministeriums, die Banken, Speditionen, Versicherungsgesellschaften sowie Fracht- und Logistikfirmen die Sicherheit gibt, für ihre Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Erdbebenkatastrophe nicht bestraft zu werden.
Hilfsmaßnahmen für die syrischen Opfer werden folglich nicht von westlichen Sanktionen verhindert, sondern vom Regime erschwert. Seit Jahren leiden die Menschen unter der Misswirtschaft und den mafiösen Strukturen des Assad-Regimes sowie den Folgen der jahrelangen Zerstörung durch die syrische und russische Luftwaffe. Transparency International erklärte Syrien Anfang des Jahres zum korruptesten Land des Nahen Ostens. Eine generelle Aufhebung der Sanktionen würde deshalb keineswegs zu einer besseren Versorgung der Menschen führen, sondern die klientelistischen Strukturen des Regimes stärken.
Endet Assads diplomatische Isolation?
In Wirklichkeit sind es die USA und die EU – allen voran Deutschland –, die die Menschen in den Regimegebieten seit zwölf Jahren über die Hilfsprogramme der Vereinten Nationen versorgen. Diese von Assad zum eigenen Machterhalt instrumentalisierte milliardenschwere humanitäre Hilfe will das Regime nun um weitere Millionen für die Erdbebenopfer aufstocken. Es besteht darauf, dass internationale Unterstützungsangebote mit Damaskus koordiniert werden, was bedeutet, dass nicht nach Bedürftigkeit, sondern nach Loyalität verteilt wird. „Was ihr nach Damaskus schickt, ist für uns verloren“, warnte ein Helfer im Norden per Videobotschaft.
Dennoch unterstützen viele Länder das Assad-Regime direkt – nicht nur enge Verbündete wie Russland, Iran, die Hisbollah und China oder arabische Nachbarn auf Versöhnungskurs wie Irak, Libanon, Oman, Algerien und, allen voran, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Assad bereits im März 2022 zum Staatsbesuch empfingen. Auch bislang zögerliche Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien und Katar schickten Hilfe, sogar Italien flog humanitäre Güter über Beirut ein. Manche Regierung scheint die Erdbebenkatastrophe als Feigenblatt nutzen zu wollen, um den Gesprächsfaden mit dem syrischen Regime nach Jahren der Funkstille wieder aufzunehmen. Wer seine Beziehungen mit Damaskus ohnehin normalisieren wollte, hat jetzt eine günstige Gelegenheit.
Auch die Tatsache, dass die UN selbst bei einer Tragödie dieses Ausmaßes darauf bestehen, alles mit dem syrischen Regime zu regeln, hat Assads Position international gestärkt. Statt Nothilfe – etwa in Form von Baggern, Bergungsgerät, Generatoren, Treibstoff, Zelten und Wasseraufbereitung – von Anfang an großzügig und ohne das übliche bürokratische Prozedere über den zunächst einzigen Grenzüberhang Bab al-Hawa nach Nordsyrien zu lassen, dauerte es vier Tage, bis der erste UN-Konvoi mit regulärer humanitärer Hilfe die Menschen erreichte. Weitere Übergänge in Bab al-Salam und al-Rai passierten die UN-Lastwagen erst, als Assad eine Woche nach dem Beben ihrer dreimonatigen Nutzung zustimmte. Dabei kontrolliert nicht das Regime diese Grenzposten, sondern die oppositionelle Syrische Nationale Armee (SNA), Erdoğans islamistische Söldner, die in dem türkisch besetzten Gebiet zwischen Afrin und Jarablus als verlängerter Arm Ankaras fungieren. Aber weil das Assad-Regime formal der offizielle Vertreter Syriens bei den Vereinten Nationen ist, sprechen UN-Funktionäre stets in Damaskus vor – auch wenn es um humanitäre Hilfe für oppositionelle Regionen geht.
So erschien Assad mit seiner Zustimmung auf einmal als großzügiger Retter in der Not – und das, obwohl er nichts von „seiner“ Hilfe abgeben musste, sondern nur erlaubt hatte, die vom Westen finanzierte UN-Unterstützung auch seinen Landsleuten in Nord-Aleppo zugute kommen zu lassen. Für das Regime offenbar ein lohnendes Zugeständnis: ein wenig mehr UN-Hilfe für die „Terroristen“ in Nordsyrien, dafür aber die internationale Erkenntnis, dass es sich lohnt, mit Assad zu reden. Nach tagelanger Kritik an ihrer Arbeit fühlten sich die Vereinten Nationen in ihrer Strategie der Einbindung bestätigt.
Entscheidend für die Zukunft der Erdbebengebiete in Syrien wird sein, wie sich das Verhältnis zwischen Ankara und Damaskus entwickelt. Hält Erdoğan an der Besatzung Nordsyriens fest? Oder zieht er seine Truppen aus den zum Teil schwer zerstörten Gebieten ab und überlässt seine oppositionellen Statthalter ihrem Schicksal bzw. Assad? Wird er das Gebiet der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES) – vereinfachend als kurdische Selbstverwaltung oder Rojava bezeichnet – weiter mit Drohnen und Artillerie angreifen lassen, um das PKK-nahe kurdische Autonomieprojekt zu zerstören? Oder einigt er sich lieber mit Assad auf eine schleichende Übernahme der Region durch das Regime? Und was wird aus den Millionen syrischen Geflüchteten in der Türkei? Wohin sollte die Regierung in Ankara sie zurückschicken, wenn auf der syrischen Seite der Grenze schon jetzt Millionen Menschen kein festes Dach über dem Kopf haben? Erdoğans Plan, in den türkisch besetzten Gebieten entlang der Grenze Unterkünfte für zurückkehrende Syrerinnen und Syrer zu bauen, hat sich durch das Erdbeben erledigt – die türkische Baubranche wird in nächster Zeit mit dem Wiederaufbau in der Südtürkei beschäftigt sein.
Oben — Im Uhrzeigersinn von oben links: Eingestürzte Gebäude in der Provinz Hatay (zwei Bilder), Rettungsaktionen in Nordwestsyrien, die japanische Flagge auf Halbmast vor der Botschaft in Ankara und eine Zeltstadt in Kahramanmaraş
Wer ist größerer Infektionstreiber, die Coronale aka Berlinale oder Karneval? Gleichzeitig dreht Söder frei und das Morden in der Ukraine geht weiter.
Die Coronale geht in die zweite Woche. Die Berlinale meine ich natürlich, auf der eine Coronaparty nach der anderen gefeiert wird: Bussi, Bussi, wer will noch mal, wer hat noch nicht? Hier ist meine Kippe, da mein Glas und dort mein Schnodder – Virenschleudern aller Länder, vereinigt euch! Oder frei nach Wilhelm Busch: „Dass sie von dem Aerosole / eine Portion sich hole / wofür sie besonders schwärmt / wenn die Krankheit aufgewärmt.“
Unsere Berlinalefreundin war bei meiner Frau zu Besuch, ich bin so lange in meine kleine Wohnung zurückgezogen, die meine ukrainischen Gäste nach zehn Monaten hier wiederum Richtung Dnipro verlassen haben. Für sie kein guter Zeitpunkt, dem jedoch praktische Zwänge zugrundeliegen. Doch für mich kam diese Ringtauschmöglichkeit gerade zur rechten Zeit, denn ich war leider einmal mehr Corona-positiv. Da wollte ich die beiden Damen natürlich nicht anstecken. Das sollen sie schon bitte selbst tun, dafür sind die Berliner Filmfestspiele schließlich da.
Am Montag und Dienstag wetteiferte das Festival noch in harter Konkurrenz mit dem Karneval. Dessen aufgrund vieler Freiluftveranstaltungen geringeres Infektionspotenzial macht er locker durch Masse wett. Wo sich Millionen Bützchen geben, fällt auch für Freund Covid sein ungesundes Scherflein ab.
Am Aschermittwoch war dann alles vorbei. Freigetestet hatte ich mich am Vortag, nun drehte in Passau ein Volkstribun frei: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder zog beim politischen Aschermittwoch der CSU fett vom Leder. Im Angesicht von 74.000 Alkoholtoten im Jahr („Bavarian way of life“) warnte er vor der Legalisierung von Cannabis und der düsteren „Woke-Wolke“, die „unseren weiß-blauen Himmel zu verdunkeln droht“.
Höhnender Volkstribun
Die Ampel-Koalition verhöhnte er als „schlechteste Regierung, die Deutschland je hatte“, was im Umkehrschluss ja implizit nur heißen kann: „Unter Adolf war nicht alles schlecht“, so wie ich es in meiner Jugend selbst noch häufig von Älteren zu hören bekam. Solche NS-Zombies hatte ich nämlich auch als Lehrer, bevorzugt für Geschichte. „Den Bock zum Gärtner machen“, würde man das heute nennen, damals war es Normalität.
Während hier gefeiert wurde, wurde woanders gestorben. Vor allem in den Erdbebenregionen in der Türkei und in Syrien, sowie in der Ukraine. Hier war die große Frage zum am 24. Februar sich erstmals jährenden Überfall Russlands: Was fällt den Russen „zur Feier“ dieses Tages wohl ganz besonders Fieses ein?
Denn ein symbolträchtiges Datum wie das einjährige Jubiläum ihres Terrorangriffs lassen sie üblicherweise nicht ungenutzt verstreichen. Schließlich stehen in Dnipro und anderswo noch immer ein paar Wohnhäuser, und die gut geschmierte Mordmaschinerie läuft bei solchen Gelegenheiten stets auf besonders hohen Touren; es wirkt, als begingen Mörder ihre Silvesterparty mit einem todbringenden Feuerwerk.
Die Hoffnung auf einen raschen Sturz des iranischen Regimes hat sich nicht erfüllt. Im US-Bürger Reza Pahlavi suchen manche jetzt ihren Kronprinzen.
Die Hoffnung so vieler, es werde kurzfristig zu einem Sturz des Regimes in Iran kommen, hat sich nicht erfüllt. Gleichwohl ist nichts wie zuvor; die Proteste haben das Land verändert, neue Allianzen der Solidarität hervorgebracht, die Bedeutung der Frauen unauslöschlich auf den Mauern verzeichnet. Über eine von Wut und Schmerz zerklüftete Landschaft wird sich keine Ruhe senken.
Der entscheidende Hebel zum Sturz des Regimes wäre allerdings die Beteiligung jener breiten Bevölkerungskreise, die sich der Bewegung bisher nicht anschließen mochten. Das sind keineswegs nur Loyalisten, die durch Jobs und Vergünstigungen vom System profitieren. Abseits steht auch, wer Zweifel daran hegt, ob die eigenen Bedürfnisse nach einem Umsturz bessere Berücksichtigung fänden. Und natürlich gibt es auch Opportunisten: Sie warten auf deutliche Anzeichen für einen Zerfall des Machtapparats. Etwa die Superreichen; sie verlachen Islam und Geistlichkeit und sorgen sich einzig darum, wohin sie ihr Vermögen transferieren könnten.
Aber dann sind da – und dies ist vielleicht das Wichtigste – die Konservativ-Religiösen und jene, die ihren Glauben gegen staatlichen Missbrauch verteidigen. Begegnungen mit ihnen haben mich am meisten über Iran gelehrt. Doch diese Menschen werden leicht übersehen, unter anderem weil die Diaspora zu diesen Kreisen weniger Verbindungen hat. Eine Bekannte, die dem Milieu familiär verbunden ist, schrieb mir unlängst aus Iran, der Streit um Orientierung habe sich tief in die privaten Verhältnisse eingegraben; die Polarisierung bringe Verwandte gegeneinander auf.
Im Text einer iranischen taz-Autorin begegnete mir am selben Tag folgender Satz: „Der Islam ist seit 1.400 Jahren ein Zwang in Iran.“ Ungewollt wird hier herabgesetzt, was geehrt werden soll. Der Philosoph Ramin Jahanbegloo, der in Delhi lehrt, schrieb einmal, es sei „eine der kulturellen Katastrophen der iranischen Gesellschaft“, die drei Schichten ihrer geistig-moralischen Substanz immer neu gegeneinander auszuspielen, nämlich vorislamisches Persertum, schiitische Identität und Modernismus. Das legt die Schlussfolgerung nahe: In einer Revolution, die das Verhängnis von 1979 nicht mit anderen Vorzeichen wiederholt, müssen all diese Identitätsschichten aufgehoben sein, in einer gewiss schwierigen Balance.
Die Herrschenden der Islamischen Republik zu „Fremden“ zu erklären, die gegen das Volk Krieg führen, macht es eher schwer, das Beharrungsvermögen des Machtapparats zu verstehen. Auf Demonstrationen hierzulande begegnete mir in Gesprächen öfter die Redewendung vom Krebsgeschwür: das Regime ein Tumor, der herausgeschnitten werden müsse; dann werde der Volkskörper gesund. Das gute Volk – darin liegt die Sehnsucht nach einem Kollektiv, das Identifikation erlaubt, aber auch ein Abspalten von Schuld: Die Gesellschaft ist frei von Verantwortung für das, was seit 1979 geschehen ist.
Diese Sicht ist mir in Iran nie begegnet. Eher hörte ich Klagen, wie sehr Moral und Anstand gelitten hätten und wie das staatliche Vorbild schäbiger, strafloser Korruptheit Nachahmer zeuge. Aus diesem Wissen speist sich übrigens die Angst, in einer Umbruchsituation könnten offene Rechnungen in nächster Nachbarschaft durch Selbstjustiz beglichen werden.
Die Aktivistinnen der Diaspora und ihre Unterstützer haben getan, was sie konnten, um Solidarität zu mobilisieren – in der westlichen Welt. Aber die Fähigkeit dieses Teils der Welt, Geschehnisse außerhalb zu beeinflussen, wird überschätzt. Zum Vergleich: Die EU vermochte es durch ein Jahr koordinierter Sanktionen nicht, Putin so zu schwächen, dass er wenigstens an den Verhandlungstisch kommt.
Um die Verurteilten in Teheran vor dem Henker zu retten, bräuchte es politischen Druck aus Indien, China, aus muslimischen Ländern. Ich höre, wie manche bitter auflachen – und ich teile die Bitterkeit. Aber so sind die Weltverhältnisse, jedenfalls in Bezug auf Iran. Dem Westen ist es auch nicht gelungen, das Teheraner Nuklearprogramm einzudämmen, obwohl dazu die Chance bestanden hätte. Trump setzte lieber auf maximum pressure und verhob sich daran. Nun deutet der israelische Angriff auf eine Militäranlage in Iran eine neue Phase an; sie dürfte den zivilen Aufstand eher erschweren, denn das Regime weiß solche Angriffe für sich zu nutzen.
Eine inklusive Erinnerung, die den Widerstand gegen zwei Folterregime unterschiedlicher Natur integrieren könnte, hat sich im Exil wenig entwickelt. Die Schah-Ära wird im heutigen Blick geschönt; es gibt Enkel, die ihrem Großvater nicht glauben wollen, dass er in einem Schah-Gefängnis saß. Nur vor diesem Hintergrund ist erklärlich, dass der Sohn des 1979 gestürzten Monarchen nun zur starken Figur innerhalb einer provisorischen Auslandsführung zu geraten scheint. Fast eine halbe Million Unterzeichner haben den US-Bürger Reza Pahlavi, der sich von seinen Anhängern „Kronprinz“ nennen lässt, zu ihrem Repräsentanten erklärt.
Zum ersten Mal bekommen queere Opfer der Naziverfolgung beim Gedenken im Bundestag Aufmerksamkeit. Überlebende gibt es heute nicht mehr.
In der Gedenkstunde im Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus, die zuerst 1996 unter Bundespräsident Roman Herzog stattfand, wurden von Anfang an auch Homosexuelle in einer Aufzählung der Opfergruppen erwähnt. Eine eigene Aufmerksamkeit wurde sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten bislang indes verweigert.
Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ließ im Januar 2019 mitteilen, er stehe „der Aufteilung des Gedenkens in einzelne Opfergruppen […] aus grundsätzlichen Erwägungen skeptisch gegenüber“. Tatsächlich gab es bereits eigene Gedenkstunden für Zwangsarbeiter*innen, behinderte Menschen, Roma und Sinti.
Hoffnung auf ein besonderes Gedenken kam erst mit dem Regierungswechsel in Berlin auf. Bereits im November 2021 schrieb die neue Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, dass unser Anliegen „besondere Berücksichtigung finden“ würde und bestätigte dies im Juni 2022. Ein respektvoller Dialog begann, wobei es auch in unserem Interesse war, dass dies eine offizielle Veranstaltung des Bundestags bleiben würde mit Anwesenheitspflicht für alle Abgeordneten.
Da es heute keine Überlebenden mehr gibt, die selbst hätten berichten können, entstand die Idee, die Geschichten zweier Opfer vorlesen zu lassen, wofür die offen lesbische Kabarettistin Maren Kroymann und der offen schwule Schauspieler Jannik Schümann gewonnen werden konnten. Beide stehen auch für unterschiedliche Generationen. Bei Mary Pünjer (1904–1942) wird deutlich, dass auch lesbische Frauen in der NS-Zeit verfolgt wurden, auch wenn es keinen eigenen Strafparagrafen gegen sie gab.
Zweimal vom gleichen Richter verurteilt
Mary Pünjer wurde als „Asoziale“ verhaftet und ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht, obwohl sie auch als Jüdin hätte deportiert werden können. Dem KZ-Arzt Friedrich Mennecke war es jedoch wichtig, ihre „Unheilbarkeit“ als „Lesbierin“ als Grund anzugeben, um sie in der „Heil- und Pflegeanstalt Bernburg“ vergasen zu lassen. Gleichwohl liegen keine eigenen Aussagen von Mary Pünjer über ihr Lesbischsein vor.
Karl Gorath (1912–2003) wird 1934 im Alter von 22 Jahren nach Paragraf 175 verurteilt. Eine erneute Verhaftung vier Jahre später führt zuerst zu einer Zuchthausstrafe und anschließend, weil er als „Wiederholungstäter“ galt, ins KZ Neuengamme. Von dort aus wird er 1943 nach Auschwitz deportiert und überlebt die NS-Zeit nur knapp. Unfassbarerweise wird er bereits 1947 erneut vom gleichen Richter verurteilt, der ihn schon während der NS-Zeit schuldig gesprochen hatte.
1989, im Alter von 77 Jahren, fährt Karl Gorath mit uns, einer offen schwulen Gruppe aus Norddeutschland, ins „Staatliche Museum Auschwitz“, um vor allem herauszufinden, ob seine beiden jungen polnischen Liebhaber und Mitgefangenen überlebt hatten. Die offiziellen Stellen lassen ihn damals glauben, dass sie umgekommen waren, obwohl einer der beiden bis 1989 sogar noch Führungen in Auschwitz leitete.
Der 27. Januar ist auch eine Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die sowjetrussische Armee 1945. 2005 haben die Vereinten Nationen dieses Datum zum „Internationalen Holocaust-Gedenktag“ erklärt. Obwohl die Gedenkstunde im Bundestag an alle Opfer des Nazi-Terrors erinnern möchte, bleibt dieser Zusammenhang bedeutsam.
Paragraf 175 galt bis 1994
Von Anfang an war es ein Anliegen unserer Petition, weit über unsere Gruppe der „Betroffenen“ hinaus um Unterstützung zu werben. So gehörten auch mehrere Holocaust-Überlebende zu unseren Unterzeichner*innen, wie Ruth Weiss (*1924) und auch Rozette Kats (*1942), die als kleines Kind bei einem niederländischen Ehepaar überlebte, bei dem ihre Eltern sie vor ihrer Deportation nach Auschwitz zurückgelassen hatten.
Rozette Kats wird gleich im Anschluss an Bundestagspräsidentin Bas als Erste reden, auch um deutlich zu machen, dass ein Verstecken der eigenen Identität immer schrecklich ist. Zweifellos können in 60 Minuten nicht alle wichtigen Aspekte dargestellt werden. Jedoch erstmals seit 1996 wird durch den abschließenden Beitrag von Klaus Schirdewahn (*1947), der 1964 als 17-Jähriger nach Paragraf 175 verhaftet worden war, deutlich, wie die Verfolgung einer Opfergruppe auch nach Kriegsende andauerte.
Oben — January 27 2012, Holocaust Remembrance Day. 100 years ago, Raoul Wallenberg was born. Memorial Ceremony at the Raoul Wallenberg Square in Stockholm with Holocaust survivors. Mr Eskil Franck, Director of the Living History Forum, Kofi Annan and Per Westerberg. Participants: Crown Princess Victoria and Prince Daniel, Nina Lagergren, Georg Klein and Hédi Fried, among others.
….. Nicht alle Tassen im Schrank ? – Würde man eher bei vielen Politikern erwarten
Von : Konstantin Nowotny
Wenn in Deutschland extreme Taten begangen werden, ist oft von psychisch kranken Einzeltätern die Rede. Was aber, wenn nicht die Täter*innen krank sind, sondern das System? Sehnen sich die Täter nach demselben? Danach, in einer imaginierten Zukunft zu den Gewinnern zu gehören?
Im Oktober 2019 werden in Deutschland zwei Menschen ermordet. Ein 27-jähriger Mann wollte in Halle an der Saale eine Synagoge stürmen, scheiterte und brachte anschließend zwei Menschen um. Der Attentäter veröffentlichte zuvor ein umfassendes Pamphlet voller rassistischer und antisemitischer Gedanken. Er glaubte an eine jüdische Weltverschwörung. Er hasste unter anderem auch den Feminismus, war sich aber sicher, dass hinter allem, was ihm sein Leben erschwert, letztlich die Juden steckten.
Krank. Der „fanatisch-ideologische Einzeltäter“ habe sich als „Teil“ eines rechtsextremen Netzwerks „verstanden“, argumentierte die Staatsanwaltschaft. Ein forensischer Psychiater bescheinigte dem Täter später nach dreimaliger Befragung eine „komplexe Persönlichkeitsstörung mit autistischen Zügen“. Im vergangenen Dezember nahm der Täter nach knapp zwei Jahren Haft in der JVA Burg zwei Geiseln und versuchte zu fliehen. Er scheiterte.
Im Februar 2020 werden in Deutschland neun Menschen ermordet. Bevor der 43-jährige Täter in einer Shishabar um sich schoss, veröffentlichte er einen Text, gesättigt mit rassistischen und antisemitischen Ideologien. Er glaubte an einen Rassenkrieg, der bevorstehe oder bereits im Gange sei. Und er glaubte daran, dass Geheimdienste mitverantwortlich dafür seien, dass ihn keine Frau liebe.
Krank. Der Terrorismusexperte Peter Neumann sprach von einem „massiv psychisch gestörten Einzeltäter“. Krankheit und Ideologie seien beim Täter „untrennbar miteinander verschmolzen“, zudem fehle ihm die Fähigkeit, sich mit seiner „krankhaft verformten Weltsicht“ auseinanderzusetzen, urteilte ein forensisch-psychiatrisches Gutachten.
„Untrennbar verschmolzen“, „krankhaft verformte Weltsicht“: Sind Rassismus und Antisemitismus nun eine Weltsicht oder eine Krankheit? Geht das eine aus dem anderen hervor?
Noch keine hundert Jahre ist es her, dass die Theoretiker*innen der Frankfurter Schule sich in ihren „Studien zum autoritären Charakter“ der Frage widmeten, warum Menschen faschistischen Ideologien verfallen. Mit Blick auf den Nationalsozialismus fragten sich die Forscher*innen, warum Menschen Lust aufs Töten verspüren, sich als Teil eines mächtigen Kollektivs verstehen wollen, warum sie mörderische Befehle geben und ausführen. Die Studien offenbarten, wie viele Menschen insgeheim daran glaubten, dass an ihrem individuellen Schicksal ganz konkrete Personen und keine „überindividuellen“ Strukturen schuld sind. Das nütze den „falschen Propheten“ der herrschenden Klasse, argumentierten die Autor*innen: Statt dass sich der Ärger über persönliche Missstände gegen das System richtet, glauben die Leute lieber, ihr Nachbar sei schuld am eigenen Elend.
Die Studien waren nicht unumstritten, aber einflussreich. Jüngst wurden sie wieder öfter diskutiert – etwa im Band „Konformistische Rebellen“ aus dem Jahr 2020 –, weil die falschen Propheten in Form von autoritären Bewegungen wieder erstarken. Weil es wieder Mächtige gibt, die sagen, dass am Weltelend nicht falsche Strukturen schuld sind, sondern falsche Menschen.
Von Sozialpsychologie, vom Zusammenhang zwischen Charakter und Erziehung, Gesellschaft und Ideologie wollten nach Hanau und Halle aber nur wenige etwas wissen. Zu unangenehm sind die Fragen, die eine solche Analyse provoziert. Leben wir etwa in einer Welt, die systematisch potenzielle Mörder hervorbringt?
Nein, das kann nicht sein. Komfortabler: Die Täter sind irre, gestört, autistisch, narzisstisch, schizophren oder paranoid oder paranoid-schizophren; bedauerliche Einzelfälle in einer tragischen, aber losen Reihe; braun verblüht kranke Pflänzchen auf einer ansonsten intakten Wiese. „Es reicht nicht, einen Anschlag wie den in Halle zu verurteilen – und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am ersten Jahrestag des Attentats. Man müsse „die Motive ergründen, die Hintergründe solcher Taten aufklären“. Die „Ergründung“ sah in etwa so aus: Der Täter war einzeln und krank, so wie alle anderen, die Krankes tun.
Selbst wenn die potenziellen Mörder in Kollektiven auftreten, sind es irgendwie doch Einzelfälle. Eine „dreistellige Anzahl von Verschwiegenheitserklärungen“ sollen die Ermittler*innen bei einer Gruppe von 25 Festgenommenen gefunden haben, die sie der sogenannten Reichsbürgerbewegung zuordnen. Eine Gruppe, bestehend aus ehemaligen Soldaten, Polizisten, Juristen, AfD-Mitgliedern, Neonazis und weiteren Personen hatte einen Putsch geplant, angeführt von einem Adligen. Sie verfügten über Kampferfahrung, Waffen und Geld. Der Adlige selbst schwang zuvor große Reden darüber, dass die Juden Kriege und Revolutionen anzettelten. Seine Gefolgschaft fand das überzeugend. Teile der Gruppe glaubten an die sogenannte QAnon-Theorie, nach der unter anderem Juden Teil einer blutrünstigen Weltverschwörung seien. Auch der Attentäter von Hanau glaubte das wie laut Studien etwa 15 Prozent aller Amerikaner*innen.
Krank. Reichsbürger seien „psychisch auffällig“, kommentierte der prominente Jurist und Spiegel-Kolumnist Thomas Fischer nach der Razzia. Er gab aber Entwarnung: „Deutschland drohte weder ein Staatsstreich noch ein Putsch.“ So sahen es viele. Eine Reporterin der Welt sprach auf Twitter von „verstrahlten Reichsbürger-Rentnern“ und wunderte sich über die „äußerst eigenartigen Hysterie“ rund um den Fall. Der ehemalige Innenminister Otto Schily gestand, er habe zwar „keine Erkenntnisse über Organisationsgrad und Gefahrenpotenzial“ der Reichsbürger-Bewegung, halte sie aber dennoch für eine „eher skurrile Spinner-Truppe“, die keine reale Gefahr darstelle. Das reimte sich mit den Deutungen ordinärer Faschisten: Von einer „Seifenoper“ rund um einen Staatsstreich, geplant von einem „Häuflein“, sprach Björn Höcke am Tag nach dem Zugriff. Ein Häuflein: Etwa 23.000 Menschen umfasst laut Bundesverfassungsschutz das „Personenpotenzial von Reichsbürgern und Selbstverwaltern“. Gerade einmal 5 Prozent gelten für die Behörden als „rechtsextrem“, fand die Süddeutsche Zeitung heraus. Und der Rest? „Nur“ verrückt?
Psychische Krankheiten fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen in einer bestimmten Gesellschaft, in einem bestimmten Zustand. Der Kulturtheoretiker Mark Fisher erklärte so unter anderem, warum Millionen Menschen unserer Zeit depressiv werden: Das Erodieren der staatlichen Vorsorgenetze – Rentensystem, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Bildungssystem – mache Menschen unsicher, nervös und auf lange Sicht krank. „Depression ist die Schattenseite unserer Wirtschaftskultur, sie ist, was passiert, wenn der magische Voluntarismus auf eingeschränkte Möglichkeiten stößt.“ Diejenigen, die das System am Laufen halten wollen, so Fisher, hätten ein Interesse daran, dass psychische Krankheiten Privatsache bleiben. Sie sollen nicht politisch thematisiert werden, damit keiner auf die Idee kommt, dass irgendetwas faul sein könnte.
„Magischen Voluntarismus“ nannte Fisher den Glauben, dass man sich nur genug anstrengen müsse, um seine Ziele zu erreichen. In der Realität finden sich die meisten, die in diesem Glauben erzogen wurden, in einem System wieder, dass davon lebt, dass es einigen ohne erkennbaren Grund schlechter und anderen besser geht. Ist es denkbar, dass sich der Ärger darüber, die Aggression, nicht nur nach innen richten kann wie bei der Depression, sondern auch nach außen, gegen andere, vermeintlich Schuldige?
Kurz nachdem Joseph Ratzinger die Nachfolge von Karol Wojtyła auf dem päpstlichen Thron angetreten hatte, unternahm er seine erste Pilgerreise nach Polen, dem Land seines „großen Vorgängers“, wie er es ausdrückte.
Als Journalisten beobachteten wir damals, inwieweit die Polen, die daran gewöhnt waren, ihren Landsmann auf dem Heiligen Stuhl zu sehen, einen Deutschen als seinen Nachfolger akzeptieren würden.
Natürlich wurde Ratzinger als Papst in Polen nie so behandelt wie Wojtyła. Zwar mangelte es nicht an Ehrungen, aber man betrachtete ihn nicht als Nachfolger, sondern allenfalls als Stellvertreter. Ratzinger wirkte kein bisschen wie der Showman Wojtyła, der die kollektiven Emotionen der Gläubigen wie ein Berufspolitiker lenkte. Fotos von ihm mit der Brille von Bono von U2 gingen um die Welt. Ein solcher Moment in der Karriere von Benedikt XVI., dem todernsten Geistlichen aus Marktl, wäre unvorstellbar.
Heute ist der Ton, in dem über den einen und den anderen Papst gesprochen wird, in unserem Land hingegen auffallend ähnlich. Polen wird mehr denn je von der Empörung über die Missbrauchsskandale der Kirche erschüttert. Wenn sich vor nicht allzu langer Zeit mehr als 90 Prozent der Bevölkerung als Katholiken bezeichneten, geben heute nur noch 42 Prozent der Befragten an, ihren Glauben regelmäßig zu praktizieren. Die Unterlassungssünden beider Päpste sind für die Zeitgenossen schwer zu akzeptieren, und so finden sie sich Jahre später an der gleichen Stelle wieder.
Viele Tausende von Gläubige aus aller Welt nahmen dennoch an der Beerdigung von Benedikt XVI. teil. Auf die Frage, was ihnen an seinem Charakter wichtig war, antworten sie oft, dass es sich um theologische Schriften handelt. Ob dies auch aus polnischer Sicht der Fall ist, darf bezweifelt werden, denn die Polen kennen die Schriften Ratzingers kaum. Allerdings ist aus hiesiger Sicht vor allem die Diskussion über die christliche Theologie des Holocaust interessant, der Ratzinger viele Jahre seines Lebens gewidmet hat, noch bevor er Papst wurde.
Während seiner Pilgerreise 2006 gab es nur einen einzigen Ort, an dem Benedikt XVI. nicht in die Fußstapfen von Johannes Paul II. trat: das ehemalige deutsche Nazi-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Viele Menschen erinnern sich noch gut an die Bilder dieses Besuchs und besonders an den Regenbogen, der erschien, als er seine Predigt hielt.
Das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 als DIE LINKE mit 4,9 Prozent nur durch ihre drei Direktmandate in den Bundestag einzog, hat der Partei auferlegt nach den Ursachen ihres Abstiegs zu suchen und die Weichen neu zu stellen.
Diese Aufgaben hat sie nur ungenügend erledigt und im Laufe des Jahres 2022 hat sich ihre Lage noch verschlimmert. Während sie von Wahlniederlage zu Wahlniederlage taumelte (LTW Schleswig-Holstein 1,7%, Saarland 2,9 %, NRW 2,1%, Niedersachsen 2,7%), verließen die Mitglieder zu tausenden die Partei. Diese ist nun außerhalb der Parlamente vielerorts kaum noch handlungsfähig. Der Bundesparteitag im Juni musste sich neben der linken Existenzfrage von Krieg und Frieden mit Sexismus und sexuellen Übergriffen vornehmlich gegen Frauen beschäftigen. Bei beiden Themenblöcken wurden Beschlüsse gefasst, die eine Minderheit nicht zufriedenstellen. Und diese Minderheit um Sahra Wagenknecht erwägt seitdem ein eigenes sozialkonservatives Parteiprojekt zu starten. Gleichzeitig kündigen sich schon jetzt Wahlniederlagen im Jahr 2023 an. DIE LINKE.Hessen wird heute zur Landtagswahl im Herbst 2023 mit 1,5% umgefragt.
Wieso die Spaltung droht
Von Anfang an war DIE LINKE als plurale Partei konzipiert worden. Nur so war gesichert, bundesweit parlamentarisch wirksam zu werden. Und das war das eigentliche Ziel der Fusion aus Linkspartei.PDS und WASG. Zwei Partner, die aufgrund unterschiedlicher eigener Schwächen allein den Einzug in den Bundestag eher verfehlen würden, erreichten dieses Ziel gemeinsam. Von Anfang an waren die Differenzen in dem politischen Zweckbündnis hinderlich für einen nachhaltigen Erfolg. Dennoch konnten zunächst tragfähige Kompromisse zwischen den Parteiflügeln mit ihren unterschiedlichen strategischen und taktischen Ansätzen geschlossen werden. Heute ist das praktisch unmöglich geworden.
Die Zeit nach 2007 war politisch anspruchsvoll. Auf die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, von der DIE LINKE noch profitieren konnte, folgte ein weltweiter Rechtsruck, der sich in Deutschland auch am Aufstieg der AfD festmachen lässt. Gleichzeitig nimmt mit dem Klimawandel, dem Artensterben und der Erschöpfung vieler Rohstoffe eine planetare Krise Fahrt auf, die von einer linken Partei völlig neue Antworten verlangt. Und zuletzt ist nach vier Jahrzehnten Neoliberalismus der Widerstand der gesellschaftlich progressiven Kräfte enorm geschwächt.
Auf diese Problemstellungen hätte die Partei Antworten finden müssen. Doch dies misslang. Auf dem Parteitag 2012 in Göttingen stand die Partei vor der Spaltung. Angesichts von strategischen und taktischen Differenzen sahen sich viele um die Hoffnungen, die sie mit dem Projekt verbunden hatten, betrogen und die Bereitschaft alte Gewissheiten auf den Prüfstand zu stellen um neue tragfähige Lösungen zu erarbeiten, war nicht mehr gegeben. In einem langwierigen und kleinschrittigen Prozess erarbeitete sich die Parteispitze aus Bernd Riexinger und Katja Kipping eine Mehrheit für eine sozial-ökologische Politik auf Basis der verbindenden Klassenpolitik. Da aber eine Minderheit die Neuausrichtung ablehnte, kam es in der Folge vor allem in Wahlkämpfen ständig zu Kompromissen auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners. Gleichzeitig hatte „das Trauma von Göttingen“ für die Partei negative Auswirkungen: Strittige Themen wurden nicht mehr offen innerparteilich diskutiert und Mehrheitsentscheidungen wurden in der politischen Praxis oft nicht mehr durchgesetzt.
In den zehn Jahren nach dem Göttinger Parteitag entwickelten sich die Flügel der Partei an den praktischen politischen Herausforderungen auseinander. Dabei wurden tiefgreifende Spaltungslinien sichtbar.
2015 und 2016 gab die Mehrheit der Partei eine internationalistische, inkludierende Antwort auf die „Flüchtlingskrise“. Wagenknecht stellte dem eine nationalistische, exkludierende Position entgegen. Darauf folgte seit 2017 und 2018 eine Sammlung zunächst als „Team Sahra“ und dann als „AUFSTEHEN“ um Druck aufzubauen und eine Veränderung der Beschlüsse zu erreichen. Dabei formierte sich um Wagenknecht ein sozialkonservativer Flügel, der sich nicht nur gegen die Migrationspolitik wendet, sondern auch die verbindende Klassenpolitik und die sozial-ökologische Transformation ablehnt. Wagenknecht schloss die Formierung dieses Flügels 2021 mit ihrer Streitschrift „Die Selbstgerechten“ ab. In dieser stellt sie ein Programm um die zentralen Werte Nation, Leitkultur und Leistungsgesellschaft vor und schlägt eine Klassenzusammenarbeit zwischen den leistenden Teilen der Arbeiterschaft und den leistenden Teilen der nationalen Bourgeoisie vor. Sie offenbart ein geschlossen rechtes Weltbild. Sie hat vor der Herausforderung des weltweiten Rechtsrucks kapituliert. Sie bedient rechte Narrative und schlägt politische Lösungen vor, für die sie Beifall aus der AfD erhält. Sie holt sich Zustimmung nicht in der Partei oder der gesellschaftlichen Linken sondern aus rechten Protestbewegungen.
Die Idee des sozialkonservativen Flügels ein eigenes Parteiprojekt zu starten, ist nur folgerichtig. Formelkompromisse um den sozialkonservativen Flügel um jeden Preis in der Partei zu halten, sind nicht zielführend, denn DIE LINKE muss mit einem klaren, zukukunftsweisenden Programm auftreten, will sie überleben.
Krieg, Verarmung, Klimawandel: Die Weichen neu stellen
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat linke Gewissheiten erschüttert. DIE LINKE steht vor der Aufgabe sich als Friedenspartei neu aufzustellen und rasch zu konsolidieren. Dazu muss sie Pazifismus und Antimilitarismus – beide unverzichtbar – neu ausbuchstabieren. Ihre Friedenspolitik muss die Lohnabhängigen, die unter einem Krieg leiden oder in diesen hineingezwungen werden, gleichermaßen berücksichtigen. Sie muss sich zudem gegen kriegführende Eliten und Profiteure eines Krieges richten. Dafür braucht es grundsätzliche, praktikable und in Maßen flexible politische Vorschläge. Am Anfang eines solchen zielgerichteten Prozesses muss zwingend eine breite innerparteiliche Debatte stehen.
Wer und wo sind die Weichensteller-Innen ? Sahra ?
Die Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln werden tiefgreifende Folgen für die Gesellschaft haben: Die Anzahl der Armen wird deutlich steigen, viele Haushalte werden Not leiden. Es wird zu viel mehr Strom- und Gassperren kommen als bisher und auch der Anteil der Obdachlosen wird zunehmen. Auch Menschen, die sich bisher zur Mittelschicht zählen, werden verarmen. Es war daher richtig, dass DIE LINKE im Herbst 2021 zu Protesten aufgerufen hat. Es gibt aber sehr zu denken, dass sie nur wenige Betroffene mobilisieren konnte. Sie muss sich überlegen mit welchen niederschwelligen Angeboten sie ärmere Menschen noch aktivieren kann. Vielleicht sollte sie die Facette der Kümmerer-Partei wieder mehr pflegen? Gleichzeitig benötigt sie politische Lösungen, die Armut wirksam verhindern. Hier hat die Mitgliedschaft der Parteispitze eine Entscheidung abgenommen: Im Herbst 2021 sprach sich eine deutliche Mehrheit (57%) der Mitglieder in einem Mitgliederentscheid dafür aus ein emanzipatorisches Grundeinkommen in das Programm aufzunehmen.
Die von den Grünen verantwortete Klima- und Umweltpolitik der Bundesregierung ist ein Desaster. Durch langfristige Bindungen an fossile Energieträger werden mehr klimaschädliche Emissionen erzeugt werden, als mit dem 1,5°-Ziel verträglich sind. Die Grünen haben alle Wahlversprechen zum Erhalt des Dorfes Lützerath gebrochen. Die Braunkohle unter dem Dorf darf abgebaggert werden, obwohl sie nicht zur Versorgungssicherheit benötigt wird. Bereits auf dem Gelände stehende Windkraftanlagen werden abgebrochen und verschrottet. Die Stimmung in der Klimagerechtigkeitsbewegung ist von Ernüchterung und Wut geprägt. DIE LINKE hat bereits ein weit gehendes Programm für einen sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft entwickelt. Sie muss es jetzt konkretisieren und offensiv gegen die Illusion eines „grünen Kapitalismus“ vertreten. Damit stellt sie sich auch der bedeutendsten Herausforderung der Zukunft: Das Klima erträglich halten, damit der Planet nicht noch mehr geschädigt wird und damit die Folgen der Erderwärmung auch für den ärmeren Teil der Bevölkerung erträglich bleiben.
Radikale, emanzipatorische Realpolitik
Bald nach der Bundestagswahl 2021 erstellte die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Analyse für DIE LINKE. Im Ergebnis bleibt danach festzuhalten, dass sich die potentiellen WählerInnen von der Partei vor allem die organische Verbindung von sozialer und ökologischer Politik wünschen. Weiterhin sagte eine Mehrheit der Befragten, DIE LINKE solle stärker antikapitalistisch auftreten.
Die multiple Krise des Kapitalismus erfordert einen Bruch mit dem System. Viele Menschen wissen das, kaum jemand hat allerdings eine Vorstellung wie so etwas funktionieren kann. Dieses Spannungsverhältnis lähmt. Will DIE LINKE erfolgreicher werden, muss sie an den Problemen der Menschen vor Ort ansetzen und gleichzeitig sowohl glaubwürdiger als auch radikaler werden. Sie sollte sich dabei vor appellatorischen Auftritten und vor Stellvertreterpolitik hüten. Statt dessen soll sie Politik nicht für sondern mit den Lohnabhängigen machen. Das geht auf jeder Ebene und in jedem Umfang. Es erfordert Offenheit und den Mut praktische politische Lösungen mit den Betroffenen und vor Ort zu erarbeiten.
DIE LINKE muss dabei die Werte, die sie für sich reklamiert, in der Partei und in ihrer praktischen politischen Arbeit mindestens auffindbar machen. Niemand nimmt einer Partei das Ziel einer solidarischen Gesellschaft ab, wenn nicht einmal in der Partei der Umgang solidarisch ist. Wer die Wirtschaft demokratisieren will, aber sich mit innerparteilicher Demokratie schwer tut, wird unglaubwürdig. Und, wer sich als feministische Partei versteht, aber Sexismus, Übergriffe und Antifeminismus duldet, erst recht.
Das kommende Jahr wird für DIE LINKE darüber entscheiden, ob sie als bundespolitische Kraft auch nach 2025 erhalten bleibt. So sehr es eine linke Partei in den Parlamenten braucht, so wenig wird das ein Selbstläufer. Das immerwährende „Weiter so“, der Zweckoptimismus und die Scheu politische und organisatorische Entscheidungen zu treffen, hat die Partei an den Rand des Abgrunds gebracht. Die nächste Halbherzigkeit führt in die politische Bedeutungslosigkeit.
Edith Bartelmus-Scholich, 30.12.2022
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Oben — Politik, News, Bundesparteitag Die Linke: die neu gewählten Parteivorsitzenden Martin Schirdewan und Janine Wissler
Steffen Prößdorf
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Das Vereinigte Königreich scheint das schwächste Glied der Kette der westlichen Industrieländer zu bilden. (Zweiter Teil einer Serie zum derzeitigen Krisenschub)
Ohne Brexit wäre das nicht passiert. Die Häme, mit der Deutschlands Presse den wirtschaftlichen Niedergang Großbritanniens begleitet, wird kaum noch übertüncht. Kaum ein Bericht über die zunehmenden finanziellen und konjunkturellen Turbulenzen auf den Britischen Inseln, der nicht Ökonomen1 oder Zentralbanker2 zitieren würde, die dies auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zurückführten. Nördlich des Ärmelkanals drohe eine lang anhaltende Rezession,3 in deren Folge die britische Wirtschaft von ihren europäischen Konkurrenten abgehängt werde,4 während Großbritannien zunehmend ins Abseits gerate,5 so der pessimistische Tenor der deutschsprachigen Wirtschaftspresse.
Und da ist vieles schlicht wahr dran. Vielen Lohnabhängigen auf den Britischen Inseln droht tatsächlich der soziale Absturz. Mitte November veröffentlichte das Office of Budget Responsibility (OBR – Büro für Haushaltsverantwortung beim britischen Finanzministerium) eine langfristige Wirtschaftsprognose für die kommenden Jahre,6 die es in sich hatte: Demnach stehe der Bevölkerung Großbritanniens bis Ende 2024 ein Rückgang des Lebensstandards um sieben Prozent bevor, was den größten Einbruch seit dem Beginn der Erfassung des entsprechenden statistischen Materials in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts bilden würde.7 Die frei verfügbaren Haushaltseinkommen sollen schon im Fiskaljahr 2022/23 laut dem OBR um 4,3 Prozent zurückgehen – dies ist ebenfalls ein historischer Negativrekord.8 Die Wohlstandsgewinne der letzten acht Jahre sollen hierbei revidiert werden.
Mehrere Faktoren tragen zu dieser sich anbahnenden sozialen Krisis bei: Die von steigenden Energie- und Nahrungspreisen angetriebene Inflation im Vereinigten Königreich ist mit 11,4 Prozent (Oktober 2022) besonders hoch,9 während das Land sich auf eine besonders lange Rezession einstellen muss, in deren Verlauf laut Prognosen des OBR rund 500 000 Lohnabhängige arbeitslos werden dürften und die Arbeitslosenquote von 3,5 auf 4,9 Prozent ansteigen soll. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Großbritanniens soll bis 2024 um zwei Prozent schrumpfen, wobei das Vorkrisenniveau des BIP, das am Vorabend der Pandemie Anfang 2020 erfasst wurde, selbst Ende 2024 nicht erreicht werden soll.
Die Bank of England spricht inzwischen von der „längsten Rezession seit den 30er“ Jahren des 20. Jahrhunderts.10 Die konjunkturelle Vollbremsung setzte auf den Britischen Inseln eigentlich schon im vergangenen August ein, als das BIP leicht um 0,3 Prozent zurückging.11 Im gesamten dritten Quartal 2022 erfuhr Großbritannien eine Kontraktion der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent.12 Zudem soll die Inflation trotz der Zinswende der Notenbank mittelfristig hoch bleiben: auf 7,4 Prozent wird die Teuerungsrate für das kommende Jahr geschätzt.
Zu dem inflations- und rezessionsbedingten Rückgang der realen Einkommen kommen die Folgen der Krise im Finanzsektor und auf dem Immobilienmarkt, sowie der Fallout der geldpolitischen Wende der Notenbank. Viele Hauskäufer und Hypothekennehmer sehen sich mit zusätzlichen finanziellen Belastungen aufgrund der rasch steigenden Zinsen konfrontiert, während der reale Wert ihrer Häuser aufgrund fallender Preise und hoher Inflation rasch zurückgeht. Der prognostizierte durchschnittliche Preisverfall von zehn Prozent bei Immobilien dürfte aufgrund der Inflationsdynamik von mehr als elf Prozent zu einem reellen Wertverlust von rund 25 Prozent binnen der kommenden zwei Krisenjahre führen.13
Als zusätzlicher Inflationstreiber fungiert die schwache britische Währung, die in den vergangenen Monaten gegenüber dem US-Dollar als der Weltleitwährung, in der ein Großteil des Rohstoff- und Energiehandels abgewickelt wird, abwertete, da die US-Notenbank ihre Zinswende rasch vorantreibt.14 Anfang 2022 stand das Pfund noch bei 1,36 Dollar, während es Ende September nur noch 1,08 Dollar waren. Erst nach der Verkündung eines haushaltspolitischen Sparkurses durch London im Oktober stabilisierte sich die britische Währung bei derzeit 1,22 Dollar. Der aufwertende US-Dollar führt somit zum Inflationsimport in Großbritannien, das kaum über eine nennenswerte Exportindustrie verfügt, die von einer schwachen Währung profitieren könnte, was Londons Währungshüter ebenfalls zur „Straffung“ der Geldpolitik nötigt.
Die Erhöhung des Leitzinses auf drei Prozent durch die Bank of England Anfang November,15 der noch weitere restriktive Zinsschritte zur Eindämmung der zweistelligen Inflation folgen sollen,16 lässt wiederum die Zinsen für Kredite und Hypotheken in die Höhe schießen, während viele Kredit- und Hypothekennehmer mit schwindenden Einnahmen konfrontiert sind. Rund zwei Millionen Hauskäufer werden in den kommenden zwei Krisenjahren sich mit höheren Hypothekenkosten konfrontiert sehen, was zu Notverkäufen von Eigentumshäusern und weiterem Preisdruck auf dem Immobilienmarkt führen wird. Zudem laufen viele kreditfinanzierte Unterstützungsmaßnahmen und Konjunkturprogramme der Regierung aus, während die neue Administration von Premier Rishi Sunak Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen implementiert, um das britische Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen.
Auf 55 Milliarden Pfund summieren sich die Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen der britischen Regierung, die sogar eine Ausweitung des Spitzensteuersatzes durch die konservative Administration vorsehen: Die Schwelle des Spitzensteuersatzes wird von 150.000 auf 125.140 Pfund Jahreseinkommen sinken.17 Die Summe des Sparpakets entspricht übrigens dem bisherigen jährlichen Haushaltsdefizit Londons, wobei 30 Milliarden Pfund durch Ausgabenkürzungen eingespart und 25 Milliarden durch höhere Steuern eingenommen werden sollen.18 Mit dem Austeritätskurs soll überdies eine Haushaltskrise verhindert werden, die laut Prognosen des OBR in den kommenden Jahren drohen würde, sollte der bisherige Kurs der schuldenfinanzierten, aktiven Konjunkturpolitik fortgesetzt werden. Ab 2026 wäre demnach das britische Haushaltsdefizit auf mehr als 100 Milliarden Pfund angeschwollen.
Die meisten Austeritätsmaßnahmen sollen ohnehin erst nach den „allgemeinen Wahlen 2024“ wirksam werden, was von Politikern der oppositionellen Sozialdemokraten (Labour) als eine „Falle“ interpretiert worden sei, bemerkte die Financial Times (FT).19 Zudem gibt es eine Ausnahme vom Austeritätskurs: die Subventionierung der Energiepreise, die Verbrauchern einen Preisdeckel garantieren soll, wurde beibehalten, was die öffentliche Verschuldung im November auf 13,5 Milliarden Pfund, 4,4 Milliarden Pfund mehr als Vorjahresmonat, erhöhte.20
Dennoch stellt dieses Sparpaket mitsamt seinen Steuererhöhungen einen fundamentalen Politikwechsel dar, da die vorherige, kurzlebige Regierung unter der glücklosen Premierministerin Liz Truss noch ein umfassendes Steuersenkungsprogramm umsetzen wollte.21 Die Steuersenkungen, insbesondere für Reiche und Konzerne, sollten zu Mindereinnahmen von 45 Milliarden Pfund führen. Truss wollte noch im vergangenen September gar den Spitzensteuersatz gänzlich abschaffen. Nun, rund drei Monate später, werden Steuererhöhungen von 55 Milliarden Pfund von London beschlossen. Der größte Steuersenkungsplan sei 50 Jahren, so die FT über die haushaltspolitischen Pläne von Liz Tuss, werde nun abgelöst von der „größten Steuererhöhung seit 30 Jahren“ unter Premier Sunak.
Das Heimatland des Neoliberalismus verabschiedet sich somit von der Politik der Steuersenkungen und der berüchtigten Doktrin der Trickle-Down-Economics, wonach Mehreinnahmen für Konzerne und Reiche letztendlich auch zur Mittel- und Unterschicht „durchsickern“ würden. Stattdessen steigt die Steuerrate laut OBR auf 37,1 Prozent des britischen BIP, was einen Nachkriegsrekord darstellen werde. Und es waren eben auch letztendlich die „Märkte“, die das Ende dieser in den Zentren des Weltsystems üblichen Krisenpolitik signalisierten, bei der bislang Regierungen einen jeden Krisenschub mit schuldenfinanzierten Krisenmaßnahmen und expansiver Geldpolitik abfangen konnten.
Innerhalb von „sieben Tagen, die Großbritannien erschütterten“, wie es die FT formulierte,22 ist London Ende September zu der drastischen haushaltspolitischen Kehrtwende förmlich genötigt worden. Der britische Markt für Staatsanleihen geriet in Reaktion auf die Steuersenkungen der Regierung Truss in schwere Turbulenzen, die erste Anzeichen einer „finanziellen Kernschmelze“ (FT), also eines Zusammenbruchs des Finanzsystems, aufwiesen. Die Zinsen für britische Staatsanleihen explodierten förmlich binnen weniger Tage, von 3,5 auf fünf Prozent bei 30-jährigen Bonds, was Ausdruck der fallenden Anleihekurse ist. Und die Kurse brachen nur deswegen ein, weil kaum noch Nachfrage nach britischen Bonds bestand, da es vielen Marktteilnehmern nicht klar war, wie London die Steuersenkungen angesichts der rasch anschwellenden öffentlichen Schuldenlast finanzieren könnte.
In seiner 21-jährigen Karriere habe er keine solch dramatische Situation erlebt, klagte ein Fondsmanager gegenüber der FT, da es zeitweise schlicht unmöglich gewesen sei, Käufer für britische Staatsanleihen, für die sogenannten Gilts, zu finden. Selbst während der Finanzkrise von 2008 habe es „immer einen Markt für Gilts“ gegeben. Um die aufkommende „Marktpanik“ (FT) zu ersticken, musste die Bank of England einschreiten und – mitten in einer Phase zweistelliger Inflation – für 65 Milliarden Pfund britische Staatsanleihen aufkaufen, also letztendlich Geld drucken. Dieses „Liquiditätsprogramm“ der britischen Notenbank wurde erst Mitte Oktober, nach der haushaltspolitischen Wende Londons, beendet.23 Der neue Sparhaushalt dient somit auch dem Zweck, den Markt für Gilts zu stabilisieren, da hier eine „G7-Ökonomie“ von einer Marktpanik erfasst worden sei, so die FT. So etwas war bisher eher aus dem globalen Süden oder aus der südlichen Peripherie der EU bekannt, etwa aus Hellas, Spanien oder Portugal am Beginn der Eurokrise. Nun kriecht die Krise in die Zentren des Weltsystems.
Die Märkte für Staatsanleihen sind für gewöhnlich sterbenslangweilig,24 da sie als „sichere Bank“ angesehen werden, wo institutionelle Anleger wie Versicherungen oder Pensionsfonds langfristig Geld sicher anlegen wollen. Und es waren gerade viele britische Pensionsfonds, die aufgrund des Finanzbebens auf dem Anleihemarkt zunehmend unter Druck gerieten.25 Bei einem Crash des Anleihemarktes sind es nicht einfach ein paar Spekulanten, die ihr Geld verlieren – es stehen dann Millionen von Altersbezügen einer ganzen Generation Lohnabhängiger im Feuer. Die Schockwellen einer ausgewachsenen Krise auf dem Anleihemarkt würden somit nicht nur die Finanzsphäre, sondern – vermittels Nachfrageeinbruch und Kreditklemme – die gesamte Ökonomie erschüttern.
Und deswegen ist die abrupte haushaltspolitische Kehrtwende Londons, bei der Mitte Oktober fast alle Steuersenkungen revidiert worden sind, wohl tatsächlich als ein Versuch zu interpretieren, die aufgewühlten „Märkte zu beruhigen“, die kaum noch britische Schuldtitel erwerben wollten, wie es US-Medien in aller Offenheit formulierten.26 Dabei scheinen diese „Beruhigungspillen“ auch bitter nötig zu sein, angesichts des rasant wachsenden britischen Schuldenbergs.27 Die Schuldenlast des britischen Staates entspricht derzeit knapp 101,9 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung Großbritanniens, während es vor Ausbruch der Pandemie nur 84,4 Prozent waren. Das Vereinigte Königreich weist eine höhere Staatsschuldenlast auf als der EU-Durchschnitt, der bei 86 Prozent des BIP liegt. Selbst Frankreich und Spanien haben mit 113 und 116 Prozent nur eine geringfügig höhere Schuldenlast zu schultern.
Die kostspieligen Krisenmaßnahmen Londons nach Ausbruch der Pandemie und des Kriegs in der Ukraine gehen nun mit einer Rezession einher, die den Schuldenberg in Relation zur schrumpfenden Wirtschaftskraft anwachsen lässt. Deswegen ist es fraglich, ob die „Sparpakete“ Londons tatsächlich dazu beitragen können, die öffentliche Verschuldung abzubauen. Volkswirtschaften sind nämlich keine „schwäbischen Hausfrauen“. Sparprogramme führen zu Nachfrageeinbrüchen, die in Rezessionen münden können, was die Schuldenlast gegenüber dem sinkenden BIP schwerer wiegen lässt. Zudem führt Austerität zu sinkenden Steuereinnahmen und steigenden Sozialausgaben – etwa Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld. Aus der Eurokrise ist das Phänomen des regelrechten „in den Bankrott Sparens“ hinlänglich bekannt, das der damalige deutsche Finanzminister Schäuble in seinem Sparsadismus an Griechenland vorexerzierte.
Was sich nun im Vereinigten Königreich voll manifestiert, ist schlicht die grundlegende Krisenfalle28 bürgerlicher Politik, der kein systemimmanenter Ausweg der Krisenverzögerung mehr offen zu stehen scheint. Großbritannien kann zwischen zwei Wegen in die weitere Krisenentfaltung lavieren: London kann Schäuble nacheifern und den deflationären Weg von Sparprogrammen beschreiben, die letztendlich mit zum skizzierten „in die Pleite Sparen“ führen können, oder die britische Regierung nötigt die Notenbank, weiter frisches Geld zu drucken durch den Aufkauf britische Staatsanleihen, was die derzeitige Inflation in eine Hyperinflation umschlagen ließe.
Die neoliberale Ära des schuldenfinanzierten Zombie-Kapitalismus29 geht nun auch an der Themse zu Ende. Der große Unterschied zu der Tragödie in Südeuropa – das während der Eurokrise von Berlin nahezu in den sozialen Kollaps getrieben30 wurde – besteht darin, dass mit Großbritannien nun ein Zentrumsland, ein G7-Staat, sich mit dem vollen Durchbruch der Krisendynamik konfrontiert sieht. Die Weltkrise des Kapitals,31 die in den vergangenen Dekaden schon weite Teile der Peripherie des Weltsystems verwüstete,32 scheint somit endgültig in den Zentren angekommen zu sein. Und sie wird sich zuvorderst ganz konkret in dem eingangs erwähnten „Sinken des Lebensstandards“ der Lohnabhängigen manifestieren, dem gegenüber auch die aktuelle Streikbewegung auf den Britischen Inseln33 machtlos sein wird, solange sie keine antikapitalistische, transformatorische Perspektive34 entwickelt.
Großbritannien ist tatsächlich durch den Brexit zum gewissermaßen schwächsten Glied der Zentrumsstaaten im erodierenden spätkapitalistischen Weltsystem geworden. Italien, das für gewöhnlich als der große Krisenkandidat Europas gehandelt wird, weist zwar einen größeren Schuldenberg in Höhe von 150 Prozent des BIP als das Vereinigte Königreich auf. Doch kann Rom bei seinen Stabilisierungsbemühungen auf die Ressourcen der EZB und der Eurozone bauen, solange Berlin ein fundamentales Interesse an der Beibehaltung der europäischen Gemeinschaftswährung hat. Allein die Größe des europäischen Währungsraums sorgt dafür, dass dieser längere Zeit stabil bleiben und Krisenerschütterungen eher absorbieren kann als isolierte Volkswirtschaften.
London hat nach dem Brexit nur noch die Bank of England und ein BIP, das nur rund 19 Prozent desjenigen der EU umfasst – und das reicht nicht, um mittelfristig nicht zu einer zweiten Türkei zu verkommen, wo die Inflation schon bald dreistellig werden könnte.35 Und dennoch dürfte auch die eingangs erwähnte, deutsche Schadenfreude bald verhallen. Großbritannien geht nur voran, es mag als erstes westliches Zentrumsland fallen, doch die Krise wird sich unweigerlich auch in den restlichen Zentren voll manifestieren.
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Ein Hintergrund zu den jüngsten Angriffen des türkischen Staates gegen die kurdische Selbstverwaltungsregion Rojava.
Die Zeit scheint günstig für einen neuen Angriffskrieg des Nato-Partners Türkei. Den ungeklärten Bombenanschlag von Istanbul ausnutzend,1 greift die türkische Luftwaffe seit Tagen die Rojava genannten kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Nordsyrien an. Duzende von Menschen sind den Luftschlägen zum Opfer gefallen.2 Inzwischen drohen türkische Stellen offen damit, eine neue Offensive gegen Rojava zu starken – es wäre, nach der Invasion Afrins 2018 und dem Landraub im Oktober 2019, der dritte Angriffskrieg des türkischen Staates gegen die selbstverwaltete Region.
Die Türkei beitreibt dabei – unter Tolerierung oder gar mit Unterstützung des Westens und Berlins3 – eine Politik der ethnischen Säuberungen,4 bei der Hunderttausende von Kurden vertrieben werden, um diese Pufferregion mit islamistischen, syrischen Milizen zu besiedeln. Zudem hat Ankara immer wider betont, dass die syrischen Flüchtlinge, die derzeit in der Türkei leben, in diese eroberten und von Islamisten kontrollierten Gebiete abgeschoben werden sollen. Die Türkei will somit Rojava gänzlich zerschlagen, Nordsyrien erobern und ethnisch säubern, um diese Region als eine „Abschiebezone“ für Flüchtlinge zu betreiben.
Die jüngsten Angriffe gegen Rojava bilden dabei nur die aktuelle Eskalationsphase des ohnehin andauernden, türkischen Krieges gegen die kurdische Freiheitsbewegung, der in der westlichen Öffentlichkeit – insbesondere beim engen türkischen Partner Deutschland – verbissen ignoriert wird. Die Streitkräfte der Türkei sind tief in den Nordirak vorgestoßen, wo sie gegen die Rückzugsgebiete der kurdischen Guerilla PKK vorgehen. Hierbei soll die türkische Armee Massenvernichtungswaffen, vor allem Giftgas einsetzen, während sie die Überlebenden des Genozids des „Islamischen Staates“ an den Jesiden in ihren Flüchtlingslagern und Dörfern angreift (Näheres hierzu in der kommenden Konkret, 12/2022).
Bombenanschlag in Istanbul – viele Frage offen.
Schon der Bombenanschlag von Istanbul, bei dem Mitte November sechs Menschen ums Leben kamen, wirft erhebliche Fragen auf. Die PKK und die syrischen Kurden haben sich von diesem Terroranschlag klar distanziert. Laut jüngsten Berichten soll es sich bei der mutmaßlichen Attentäterin, die der Öffentlichkeit präsentiert wurde, um die Schwester eines hochrangigen Kommandanten der syrischen Miliz SNA handeln, die maßgeblich von der Türkei unterstützt wird.5 Diese Milizen üben faktisch die Kontrolle vor Ort in den türkisch besetzten Regionen Nordsyriens aus.
Die türkische Oppositionspartei HDP sprach von dem Hintergrund dieser evidenten Ungereimtheiten von „Duzenden von unbeantworteten Fragen und Inkonsistenzen“.6 Hierdurch entstehe der Eindruck, dass der Terroranschlag dazu diene, die türkischen „Attacken und die Kriegspolitik“ gegen Rojava zu legitimieren, so HDP Sprecherinnen.
Geopolitische Schaukelpolitik Erdogans
Die geopolitische Konstellation ist derzeit günstig für Erdogan, um eine neue Runde ethnischer Säuberungen zu entfachen. Die Türkei ist ein wichtiger Faktor beim Krieg um die Ukraine, wo Erdogan bei seinem geopolitischen Balanceakt mit Moskau und dem Westen kooperiert und auf beiden Seiten der Front zu profitieren versucht.7 Die Türkei, die Drohnen an Kiew liefert, will mit Russland energiepolitisch Zusammenarbeiten, um zu einer regionalen Energiedrehscheibe aufzusteigen. Ankara ist auch Garantiegeber des Getreideabkommens in der Ukraine. Kurz vor der aktuellen Eskalation hat die Türkei sogar die Beziehungen zu Israel normalisiert.
Drei Hände voll Öl für ein Halleluja
Der Westen und Moskau „brauchen“ Erdogan schlicht angesichts des Krieges im Osten, während Berlin als traditioneller Verbündeter des türkischen Regimes ohnehin kaum Druck auf Erdogan ausüben wird. Erdogan nutzt somit die ihm gegebenen geopolitischen Machthebel, um seine imperialistische Politik vorantreiben zu können. Die Luftangriffe der Türkei gegen Rojava wären ohne die Zustimmung sowohl Russlands wie der Nato und der USA schlich nicht möglich.
Antikurdische Kooperation zwischen Teheran und Ankara?
Faktisch findet derzeit eine mörderische – inoffizielle? – Kooperation zwischen den Regimes in Ankara und Teheran statt, die sich gegen die kurdischen Minderheiten in der Region richtet.8 Während die türkische Luftwaffe Rojava bombardiert und die Armee Erdogans im Nordirak ihren schmutzigen Krieg führt, greifen die Truppen des Iran ziele in der kurdischen Region des Nordostirak an,9 um die kurdische Bewegung im Iran zu schwächen. Die Kurden Irans bilden das Rückgrat der Massenproteste, die eine revolutionäre Stimmung in der „Islamischen Republik“ aufkommen ließen. Zudem häufen sich in den sozialen Medien Berichte,10 wonach die iranischen Revolutionsgarden in den kurdischen Gebieten des Iran regelrechte Massaker verüben würden,11 um der Aufstandsbewegung im Mullah-Staat das Genick zu brechen. Auch aus dem Iran sickern Berichte über Gaseinsätze gegen Demonstranten durch.12
Beide autoritären Regime sind derzeit aufgrund zunehmender innenpolitischer Instabilität in ihrem Bemühen vereint, die kurdische Befreiungsbewegung zu vernichten, da deren poststaatliche, auf Emanzipation und Frauenbefreiung abzielende Perspektive auch auf die Bevölkerung dieser Staaten ausstrahlt. Die Parole „Frau, Leben, Freiheit“, unter der die Aufstandsbewegung des Iran kämpft, ist gerade von kurdischen Feministinnen geprägt worden. Und auch die Herrschaft Erdogans und seiner islamischen AKP in der Türkei ist angesichts einer schweren Wirtschaftskrise und einer Inflation von mehr als 80 Prozent13 alles andere als stabil. Die äußere Expansion dient somit Ankara als Ventil, um innere Spannungen zu überbrücken.
USA in Syrien
Eine neue Runde ethnischer Säuberungen, bei denen die westlichen Partner wie gewohnt wegsehen würden, ist genau das, was Erdogan innenpolitisch braucht. Wie prekär die Lage der syrischen Kurden ist, macht allein der Umstand deutlich, dass es faktisch die USA sind, die einem erneuten Angriffskrieg Erdogans im Weg stehen. Immer noch hat Washington Truppen in Nordostsyrien stationiert, die gemeinsam mit den kurdischen Kräften den, von der Türkei mitunter offen unterstützten „Islamischen Staat“ besiegten.
Nordsyriensyrien ist faktisch aufgeteilt in eine türkische Besatzungszone in Idlib und Afrin, in eine russische Einflusssphäre im Westen und um Aleppo, sowie die restlichen Selbstverwaltungsgebiete der Kurden im Osten, wo US-Truppen präsent sind. Ohne Tolerierung durch Washingtons kann aber Erdogan nicht darauf hoffen, einen neuen Eroberungszug in Rojava zu führen. Zugleich sind Ankara und Teheran auch in dem geopolitischen Ziel vereint, die im Anstieg begriffene, abgetakelte Hegemonialmacht USA aus der Region zu verdrängen, um den eigenen imperialen Ambitionen freien Lauf lassen zu können.
Der dritte Verrat?
Hierzu etwas Hintergrund: Diese Aufteilung Nordsyriens in Einflusssphären etablierte sich im Gefolge des syrischen Bürgerkrieges, als das Assad-Regime sich nur mittels der militärischen Intervention Russlands an der Macht halten konnte. Die Reste der Aufstandsbewegung gegen Assad, die im Verlauf des Bürgerkrieges zunehmend von islamistischen Kräften dominiert wurde, finden sich in den türkischen Besatzungsgebieten. Der erste syrische Eroberungszug der Soldateska Erdogans gegen das Kanton Afrin erfolgte 2018 mit der Zustimmung Putins, da diese nordsyrische Selbstverwaltungsregion sich in der russischen Einflusssphäre Syriens befand.14 Im Gegenzug dafür Erhielt Moskau zusagen über Pipelinedeals, den Bau von russischen Atomreaktoren und Waffenkäufe. Den Preis für diesen dreckigen imperialistischen Deal mussten somit die Kurden zahlen, die aus Afrin, übrigens unter Zustimmung Merkels,15 vertrieben wurden.
Schland brauch kein Öl – wir ziehen andere Waffen
Den zweiten Verrat an den Kurden Syriens beging der rechtspopulistische US-Präsident Donald Trump, der im Oktober 2019 ebenfalls Erdogan grünes Licht für einen weiteren Einmarsch in Rojava gab.16 Die Preisgabe der Kurden Syriens durch Washingtons erfolgte übrigens nur wenige Wochen, nachdem diese unter hohen Verlusten die syrische Stadt Rakka eingenommen haben, die als letzte Bastion und Hauptstadt des „Kalifats“ des „Islamischen Staates“ in Syrien firmierte.
Es stellt sich somit aktuell die Frage, ob der Selbstverwaltung in Rojava nun ein dritter Verrat bevorsteht – diesmal durch die Biden-Administration, die sich vor allem auf den Krieg in der Ukraine konzentriert und dort einen Großteil ihrer Ressourcen fließen lässt. Ehemalige US-Generäle beklagen inzwischen offen zunehmende Engpässe bei der Versorgung mit Waffensystemen und vor allem Munition.17 Erdogan hat somit auch in dieser Hinsicht einen idealen Zeitpunkt für seine imperialistische Aggression gewählt.
Annalena? Abgetaucht!
Übrigens: Auf Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock, die eigentlich eine „feministische Außenpolitik“ führen wollte, sollten kurdische Feministinnen ohnehin nicht zählen.18 Deutschland hat – schon seit dem türkischen Genozid an des Armeniern im Ersten Weltkrieg19 – eine lange, blutige Tradition der Kooperation mit dem türkischen Staat. Seit dem Ausbruch der aktuellen türkischen Terrorkampagne gegen Rovaja ist die Außenministerin, die sich gerne mit den Parolen der kurdischen Freiheitsbewegung schmückt,20 bei diesem Konflikt schlicht abgetaucht.
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Der russische Präsident Wladimir Putin und der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan und der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi bei der Eröffnung der Blue Stream Gaspipeline
Seit Jahren investieren EU-Institutionen in die Überwachungsinfrastruktur von Staaten in Nordafrika und im Nahen Osten. Dabei haben sie versäumt, vorweg Risikoabschätzungen für Menschen- und Freiheitsrechte vorzunehmen, kritisieren Menschenrechtsorganisationen. Die EU-Bürgerbeauftragte leitet jetzt eine Untersuchung gegen Frontex und den Europäischen Ausländischen Dienst ein.
Die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly stellt die EU-Grenzagentur Frontex und den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) zur Rede. Die Behörden sollen Auskunft darüber geben, inwiefern sie bei der Ausfuhr von Überwachungstechnologie auch die Risiken und Folgen für die Menschenrechte abschätzen. Auslöser für die Anfang Oktober eröffnete Untersuchung gab die Beschwerde von sechs Menschenrechtsorganisationen, darunter Privacy International, Access Now, Sea-Watch und die Internationale Liga für Menschenrechte.
Die Organisationen kritisieren, dass in den meisten Fällen von Überwachungstransfers aus der EU keine solche Abschätzungen vorgenommen wurden. Sie berufen sich dabei auf Dokumente, die sie im September 2019 bei Frontex, dem EAD und weiteren EU-Institutionen angefragt haben. Die Abschätzungen seien notwendig, um Missbrauch durch autokratische Regime und ernsthafte Verletzungen von Menschen- und Freiheitsrechten zu verhindern.
„Überwachungstechnologien und drakonische Cyberkriminalitäts-Gesetze sind der Kern des wachsenden digitalen Autoritarismus im Nahen Osten und in Nordafrika“, sagt Marwa Fatafta, bei Access Now zuständig für die Regionen. „Die EU sollte diesen Trend nicht finanziell unterstützen.“
Menschenrechtsverstöße im Zusammenhang mit EU-Kooperationen
Übersetzung : Schießt sie nieder – die Flüchtlings Jäger der Europa-Agentur
Der EAD habe es ebenfalls versäumt, im Rahmen von zivilen Missionen Menschenrechtsabschätzungen vorzunehmen. In Jordanien habe der EAD beispielsweise dabei geholfen, ein Cyberkriminalitätsgesetz zu entwickeln. Dieses wurde inzwischen dafür eingesetzt, Journalist:innen und Aktivist:innen festzunehmen und zu inhaftieren. Das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte bezeichnete das als Versuch, dissidente Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Der Beschwerde zufolge sind die EU-Institutionen dazu verpflichtet, die Abschätzungen vorzunehmen. Auf der Website der EU-Bürgerbeauftragten heißt es dazu, ein Missstand in der Verwaltungstätigkeit liege dann vor, wenn Institutionen gegen EU-Recht, die Prinzipien guter Verwaltung oder die Menschenrechte verstoßen. Dass sie sich nun mit einem Fragenkatalog an Frontex und den EAD wendet, belegt zumindest, dass die Vorwürfe der Menschenrechtsorganisationen nicht ganz unbegründet sind.
Frontex und EAD haben jetzt bis Ende Dezember Zeit, die Fragen zu beantworten. Falls sich die Vorwürfe der Menschenrechtsorganisationen dann als zutreffend erweisen sollten, kann O’Reilly Vorschläge an die EU-Institutionen herantragen, um den Missstand zu beseitigen. Im November 2021 hatte sie auf dieselbe Beschwerde hin bereits Fragen zu Überwachungsexporten und der Rolle der Menschenrechte dabei an die Europäische Kommission gestellt.
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Oben — Kolonel Vicenzo Sicuso, commandant van vliegbasis Sigonella van de Aeronautica Militare, praatte het gezelschap bij over de immense uitdagingen waarvoor Sicilië zich ziet gesteld. Volgens de Italiaan staan zijn eilandgenoten welwillend tegenover de komst van de vluchtelingen, maar is er wel dringend behoefte aan meer hotspots, locaties voor registratie en opvang.
Die österreichischen Sicherheitsbehörden haben im Fall Lisa-Maria Kellermayr die Gefahrenlage offenbar lange unterschätzt. Umso mehr ist nun zu hoffen, dass der Tod der Ärztin endlich zu einem Umdenken führt. Ein Kommentar.
Vor genau einer Woche wurde Lisa-Maria Kellermayr leblos in ihren Praxisräumen aufgefunden. Der Suizid der Ärztin hat eine intensive Debatte um die fatalen Folgen von Gewalt und Hetze im Netz ausgelöst. Vor allem die österreichischen Polizeibehörden müssen sich fragen lassen, warum sie die Attacken aus dem Querdenker:innen-Milieu nicht ausreichend ernst nahmen, sondern vielmehr herunterspielten.
Umso mehr aber ist nun zu hoffen, dass der Tod Kellermayrs nicht nur die Landespolizeidirektion Oberösterreich zum Umdenken bewegt. Denn der Fall offenbart geradezu exemplarisch ein dreifaches polizeiliches Versagen: Erstens haben die Sicherheitsbehörden das Problem im Vorfeld offenkundig nicht nur verharmlost, sondern ihre Ermittlungen zweitens auch nur mit wenig Engagement betrieben. Und drittens versuchten sie, allzu kritische Nachfragen nach einem möglichen Fehlverhalten abzuwürgen.
Öffentliche Diskreditierung
In den zurückliegenden Monaten hatte sich Kellermayr immer wieder öffentlich für Corona-Infizierte und -Maßnahmen eingesetzt. Aus diesem Grund hatten Querdenker:innen und rechte Verschwörungsgläubige die Ärztin attackiert – mit dem Ziel, sie mundtot zu machen oder gar zu vernichten. Was Kellermayr erlebt habe, sei „gezielter Terror von radikalen Impfgegnern und Rechtsextremen“ gewesen, so die österreichische Journalistin Ingrid Brodnig.
Trotz der massiven Angriffe ließ sich Kellermayr nicht einschüchtern. Stattdessen suchte sie Hilfe bei der Polizei und erstattete Anzeige. Als Kellermayr Morddrohungen erhielt, richtete sie sich an die Öffentlichkeit. Daraufhin wurde sie vom Leiter der Pressestelle der Landespolizeidirektion Oberösterreich, David Furtner, öffentlich diskreditiert. Er behauptete, Kellermayr wolle sich profilieren und „über die Medien das eigene Fortkommen“ fördern.
Auch nach Kellermayrs Tod verteidigen die zuständigen Polizeibehörden ihr Handeln: Seit November 2021 habe man die Ärztin polizeilich beraten, heißt es in einer Stellungnahme. Es sei „zu zahlreichen weiteren Kontaktaufnahmen und Gesprächen“ gekommen, dabei seien „alle gesetzlich möglichen Maßnahmen“ ausgeschöpft worden. Ebenso betont Österreichs Innenminister Gerhard Karner (ÖVP), „ein reflexartiges und generelles Schlechtreden der Polizistinnen und Polizisten und der Polizeiarbeit in unserem Land ist […] völlig unangebracht und unzulässig.“
Ermittlungen liefen ins Leere
Kellermayr hat sich nach eigenen Angaben vor allem selbst um ihre Sicherheit kümmern müssen. So habe sie unter anderem für Sicherheitstüren und -fenster sowie einen sicheren Rückzugsraum in ihrer Praxis rund 100.000 Euro bezahlt, wie sie auf ihrer Internetseite schrieb. Ende Juni entschied sie sich schließlich, ihre Praxis zu schließen, weil die Ermittlungen der oberösterreichischen Polizei nicht vorankämen und sie sich zunehmend unsicher fühle.
Zuvor hatte die Landespolizeidirektion gegenüber Kellermayr erklärt, dass sie den Absender ihrer Hass-Mails nicht ermitteln konnte, weil deren Spuren sich im Darknet verlören. Doch was der Polizei nicht gelang, schaffte die Hacktivistin Ornella Al-Lami aus Deutschland innerhalb weniger Stunden. Unter dem Pseudonym „Nella“ kontaktierte sie Kellermayr über Twitter, um die Ermittlungen privat zu unterstützen. Am 29. Juni vermeldete „Nella“, dass sie den möglichen Kreis an Tätern stark eingrenzen konnte, die Spur führte unter anderem zu einem einschlägig bekannten Rechtsextremen in Berlin.
Statt mit der Hacktivistin zu kooperieren, versuchte die oberösterreichischen Polizei daraufhin, deren Recherchen in Verruf zu bringen. Die Staatsanwaltschaft erklärte, dass sie bei Tatverdächtigen aus Deutschland nicht zuständig sei. Man habe Namen an die deutschen Behörden übermittelt.
Fehlender Aufklärungswille
Auf Kritik und Nachfragen reagierte die Landespolizeidirektion Oberösterreich nervös. So erhielt sie bereits im Mai eine Presseanfrage der ZDF-Journalistin Julia Klaus und ging in „Abwehrhaltung“: Laut polizeilicher Akten widme „sich der journalistische Fragesteller weniger dem Täter“, sondern sei vielmehr „bestrebt ein mögliches Polizeiversagen herbeizureden.“
Und erst vor wenigen Tagen hatte der Programmierer Fabian Pimminger den oberösterreichischen Polizeisprecher Furtner auf Twitter für dessen öffentliche Aussagen vor dem Tod der Ärztin kritisiert. Furtner hatte ihm daraufhin von seinem Anwalt eine Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung zukommen lassen. Inzwischen ist es zu einer außergerichtlichen Einigung gekommen.
Der Fall Kellermayr steht exemplarisch dafür, wie im Netz und von polizeilicher Seite mit Hass im Netz umgegangen wird. „Der Tod von Lisa-Maria Kellermayr ist kein Alarmsignal. Er ist die Konsequenz daraus, dass Alarmsignale ständig überhört werden“, schreibt der Journalist Christian Vooren zutreffend auf Twitter.
Und die Serie der Alarmsignale setzt sich fort. Erst vor wenigen Tagen deaktivierten unter anderem die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl und der Anwalt Chan-jo Jun ihre Twitter-Konten, um der zunehmenden Hetze in ihren Kanälen zu entkommen. „Eine furchtbare, dramatische Entwicklung“, kritisiert der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) diese Entwicklung, die Plattform und die Behörden versagten darin, „Demokratie und Meinungsfreiheit zu schützen“.
Der Tod von Lisa-Maria Kellermayr sollte uns daher vor allem eines verdeutlichen: Solange wir als Gesellschaft Hass nicht entschieden begegnen, solange können Querdenker:innen und Verschwörungsgläubige weiter ungehindert im Netz und auf der Straße hetzen – und die Schadenfreude über die Opfer ihrer Gewalt kundtun.
Fühlst du dich antriebslos oder bist in einer scheinbar ausweglosen Situation? Unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 findest du zu jeder Tags- und Nachtzeit Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen, welche Form der Therapie dir helfen könnte. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen bietet die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention.
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Die Sorge der Menschen ist nicht, eines Tages abgehängt zu werden, sondern in Zukunft abgehängt zu bleiben
Wer hätte so nicht gedacht? Die Boote mit Politikern zu füllen und auf die Reise schicken.
Von Paulina Fröhlich und Florian Ranft
Rund 13 Millionen Menschen leben in strukturschwachen Regionen. Ihre Situation und Expertise sollten bei der großen Transformation eine Rolle spielen.
Der Begriff „Diversität“ steht im politischen Diskurs für einen bewussten und respektvollen Umgang mit Verschiedenheit und Individualität. Für die völkische AfD ist er ein Graus. Deutlich wird dies unter anderem an einem Beitrag in ihrem Mitgliedermagazin aus dem vergangenen Sommer. Dieser ist zynisch betitelt mit „Diversität bei Autos erhalten!“ Zusammengefasst lautet die Kernbotschaft sinngemäß: „Die Großstadt Berlin gibt Geld aus, das sie nicht hat, für sinnlosen und fiesen Klimaschutz, der nichts bringt, außer dass die Armen verarmen. Wählt die AfD, damit ihr weiter Diesel und Benziner fahren könnt.“
In dem kurzen Artikel sind die Spaltungsversuche einfach zu erkennen: (Groß-)Stadt versus Land, Reich versus Arm, Klimaschutz versus Freiheit. Diese Lesart der Klimapolitik mag bei der Kernklientel der Rechtspopulisten funktionieren. Diese Erzählung vom vermeintlichen Gegensatz zwischen scheinbar linksgrüner Stadt- und scheinbar konservativer Landbevölkerung passt zur Politik der einfachen Antworten der Rechtspopulist:innen. Sie darf sich aber nicht in anderen politischen Lagern breitmachen, denn sie gefährdet ein zentrales Ziel: die Bekämpfung sozialer Ungleichheiten im Rahmen der Klimapolitik.
Eine Befragung der ARD zeigte: „81 Prozent der Deutschen sehen sehr großen oder großen Handlungsbedarf beim Klimaschutz – über Alters- und Parteigrenzen hinweg.“ Auch in extrem strukturschwachen Regionen Deutschlands, in Ost und West, ganz gleich ob Stadt oder Land, stehen Umweltthemen weit oben auf der Liste der Themen, die die Menschen für wichtig halten.
Im Rahmen der Studie „Die Übergangenen – strukturschwach & erfahrungsstark“ führten wir in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung über 200 Haustürgespräche im Ruhrgebiet, Vorpommern-Greifswald, im Regionalverband Saarbrücken und Bitterfeld-Wolfen. Auf die Frage, was die großen Herausforderungen der Zukunft sind, nahmen Umwelt- und Klima den zweiten Platz ein, knapp hinter sozialen Herausforderungen.
Während Sorgen rund um die Klimakrise die Menschen sehr beschäftigen, bleibt ein Thema noch wichtiger: soziale Verwerfungen und Schieflagen. Vor allem dann, wenn man das direkte Lebensumfeld der Menschen aus strukturschwachen Räumen in den Blick nimmt. Nach den konkreten regionalbezogenen Zukunftssorgen gefragt, wird der Klimaschutz kaum noch genannt. Mit beispiellosen Abstand rangieren die Antworten auf Platz eins, die mit „Abgehängtsein“ zusammengefasst werden können („keine Nahversorgung“, „kein Nahverkehr“, „stark verschuldet“). Auffällig war bei den Befragungen außerdem, dass die Menschen nicht die Sorge davor haben, eines Tages abgehängt zu werden, sondern in Zukunft abgehängt zu bleiben.
Da helfen dann auch keine Thinktanks weiter, wenn in die Tanks nur Gedanken eingefüllt werden, welche spinnende Politiker erlauben.
Menschen in strukturschwachen Regionen ist die Bedeutung des bevorstehenden sozial-ökologischen Wandels durchaus bewusst. Unsicherheit besteht jedoch darüber, ob sie Benachteiligte oder Profiteur:innen des Umbruchs sein werden. Die Menschen erwarten nicht einfach eine Bewältigung des Klimawandels, sondern eine sozial verträgliche Bewältigung des Klimawandels. Der Blick in die Zukunft ist geprägt durch die Erfahrungen der Vergangenheit und diese sind nicht rosig. Politische Versprechen und wirtschaftliche Aussichten gingen zu häufig nicht auf. Viele leiden unter dem Eindruck, übergangen worden zu sein. Das Vertrauen in die politischen Repräsentant:innen ist durch Skepsis geprägt. Die Hälfte der Befragten winkt kategorisch ab bei der Frage, welche Partei oder welche:r Politiker:in sich denn wirklich um die Sorgen der Menschen kümmere.
Diese Ergebnisse könnten erst einmal hoffnungslos stimmen. Müssen sie aber nicht. Denn auch wenn das Vertrauen in Politiker:innen marode ist, glaubt die Mehrheit der Befragten, dass die Demokratie den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel meistern kann. Mit der neu gewählten Ampelregierung bietet sich die historische Chance, das Ruder bei der Klimapolitik noch rechtzeitig herumzureißen, und zum anderen die Gelegenheit, strukturschwache Räume zu Gestalter:innen des Wandels zu machen. Dafür braucht es Geld, Gestaltungsmacht und Gehör. So würden die Versäumnisse der Vergangenheit, die strukturschwache Räume mit zu dem gemacht haben, was sie heute sind, nicht wiederholt und das Vertrauen in demokratische Prozesse und politische Repräsentant:innen gestärkt.
Oben — Während der von Frontex geführten Operation Triton im südlichen Mittelmeer rettet das irische Flaggschiff LÉ Eithne Menschen von einem überfüllten Boot, 15. Juni 2015
Unten — Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.
In dem Maße, wie Kolonien verloren gingen, kamen Kinder dazu. Die Queen hat die Royal Family zum Zentrum der britischen Monarchie gemacht.
Was macht die Queen zur Queen? Elizabeth II. feiert dieser Tage ihr 70. Thronjubiläum, das sogenannte Platin-Jubiläum, und Großbritannien zelebriert damit eine tausendjährige fast ungebrochene royale Geschichte. Aber zwischen 1952 und 2022 liegen Welten. 1952 war die Queen das Oberhaupt eines Empire. Heute ist sie das Oberhaupt einer Familie.
In dem Maße, wie Kolonien verloren gingen, kamen Kinder dazu. Seit ihrer Krönung trägt sie den Titel „Elisabeth die Zweite, von Gottes Gnaden Königin des Vereinigten Königreiches Großbritannien und Nordirland und ihrer anderen Königreiche und Territorien, Oberhaupt des Commonwealth, Verteidigerin des Glaubens“. 1953 umspannten all diese Territorien den halben Erdball – ein Weltreich, aber nach den Mühen des Zweiten Weltkrieges und dem Verlust der größten Kolonie Indien ein bereits im Niedergang begriffenes. Die britische Öffentlichkeit erhoffte sich von der neuen Königin, die zum Zeitpunkt des Todes ihres Vaters erst 25 Jahre alt war, einen neuen Schwung und eine zweite Blüte.
„Wollt Ihr geloben und schwören, über die Völker des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland, Kanada, Australien, Neuseeland, der Südafrikanischen Union, Pakistan und Ceylon und Eurer Besitzungen sowie der andern ihnen gehörenden Territorien gemäß ihrer Gesetze und Gebräuche zu herrschen?“, fragte der Erzbischof von Canterbury die mittlerweile 27-jährige Prinzessin bei ihrer Krönung am 2. Juni 1953 – zu den vielen Merkwürdigkeiten des Platin-Jubiläums gehört, dass es genau 69 Jahre nach ihrer Krönung begangen wird, nicht 70. „Ich gelobe, dies zu tun“, antwortete die frischgebackene Queen.
Von ihrer Familie war damals überhaupt nicht die Rede. Prinzessin Elizabeth Alexandra Mary of York war auch überhaupt nicht als Queen vorgesehen, als sie am 21. April 1926 um 2.40 Uhr in der Nacht per Kaiserschnitt zur Welt kam. Ihr Vater war damals bloß der jüngere Bruder des Thronfolgers Edward. Der aber dankte 1936 nach wenigen Monaten als König wieder ab, weil ihm seine Heirat mit einer geschiedenen US-Amerikanerin wichtiger war als die Rolle des Königs. So wurde aus Elizabeths Vater Ende 1936 unverhofft König George VI., und seine älteste Tochter wurde im Alter von zehn Jahren plötzlich die Nummer eins in der Nachfolge. Und niemand konnte damals ahnen, wie schnell die kommen würde.
Das Empire zerbröselte bereits ab 1947, als Britisch-Indien unabhängig wurde und zerfiel. Nach Elizabeths Thronfolge ging es in Afrika und Arabien weiter. Ab den 1970er Jahren war das Empire praktisch Geschichte. Die letzte Landkolonie Britisch-Honduras wurde 1981 als Belize unabhängig. Es verbleiben einige verstreute Inselbesitztümer.
Das Empire ist geschrumpft, die Familie gewachsen. Prinz Charles kam 1948 auf die Welt, Princess Anne 1950. Es folgten Andrew 1960 und Edward 1964. Anne heiratete erstmals 1973, Charles erstmals 1981, Andrew 1986 – all diese Ehen wurden später geschieden, aber die Familie pflanzt sich bis heute munter weiter fort. Die Queen ist inzwischen zwölffache Urgroßmutter, Charles fünffacher Großvater.
In ihren ersten drei Jahrzehnten prägten die Dramen und Konflikte der Dekolonisierung das Wirken der Queen. Es wurden Kriege geführt, manche Kolonialgebiete gingen eigene Wege, andere blieben der Königin verbunden. Rhodesien erklärte sich als weißer Siedlerstaat unabhängig für und musste 1979 wieder zurück unter britische Fittiche geholt werden, um eine geordnete Übergabe an die schwarze Unabhängigkeitsbewegung unter dem Namen Simbabwe zu ermöglichen. Hongkong wurde 1984 der Volksrepublik China versprochen, 1997 wurde dies vollzogen. Damit fand die Entkolonisierung ihren Abschluss.
Nicht zufällig waren die 1980er Jahre das Jahrzehnt, in dem der wahrnehmbare Fokus des royalen Geschehens sich von der Verwaltung von Territorien auf die Verwaltung von Familienangehörigen verlagerte. Die Krisen der Dekolonisierung wurden in den 1990er Jahren endgültig von Familienkrisen abgelöst, biografisch passend zum ungefähren Eintritt der Queen in das Rentenalter. Zwischen Hongkongs Übergabe an China am 1. Juli 1997 und dem Unfalltod von Prinzessin Diana am 31. August 1997 liegen chronologisch keine zwei Monate, aber diese beiden Ereignisse sind die beiden zentralen Seiten einer Zeitenwende.
Kinder statt Kolonien – für diese natürliche Evolution stehen die 70 Jahre Queen. Frühere Königinnen, vor allem Queen Victoria, Kaiserin von Indien, stellten den imperialen Anspruch an erste Stelle ihres Wirkens. Elizabeth II. hat als erste die Royal Family als Familie inszeniert, angefangen mit einer großangelegten TV-Dokumentation 1969 und weitergeführt durch die endlos ausufernde Beschäftigung der Öffentlichkeit mit Klatsch und Tratsch aus den Palästen.
Die Royal Family ist die faktische Erbin des Empire. Das britische Weltreich wurde zu seinen Glanzzeiten offiziell als eine harmonische Völkerfamilie präsentiert, deren Völker wie kleine Kinder großzuziehen seien. Noch in den 1980er Jahren lernte man im Schulunterricht, die ehemaligen Kolonien hätten ihre Unabhängigkeit dem Umstand zu verdanken, dass sie dank des Empire britische Freiheitswerte verinnerlicht hätten. Klar: um sich zu entkolonisieren, muss man vorher Kolonie gewesen sein, aber aus Sicht der Untertanen der Krone sah die Realität doch etwas anders aus. Heute sind Rassismus, Ausbeutung und Gewalt ins Zentrum der Beschäftigung mit dem Empire gerückt. Familienmetaphern hingegen werden da angewandt, wo sie hingehören: in der Familie. Und da aber mit seifenopernfüllender Konsequenz.
Neun – Euro-Ticket, AfD und Twitter: Ein Thron für Elon Musk welcher mit Börsenkäufen Jo-Jo spielt. Doch er ist nicht der einzige, der aktuell für ordentlichen Wirbel sorgt. Gleich wie – Huldvoll von der Tanke, gesyirgewärmte Gewächshäuser und die Weltherrschaft neu gedacht.
taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?
Friedrich Küppersbusch: Jogi Löw möchte wieder einen Club trainieren.
Zur Tanke. Ab Juni soll auch der Sprit verbilligt werden. Die Mineralölkonzerne werden mit 3,15 Milliarden Euro subventioniert, die ÖPNV-Kundschaft mit 2,5 Milliarden Euro. Also werde ich an Bushalten huldvoll grüßen. Wenn da jemand steht. Falls es da eine gibt.
Erst will Elon Musk Twitter, dann wieder nicht. Nun feilscht er um den Preis. Erklärungen von Twitter-Chef Parag Agrawal kommentiert Musk gerne mal mit einem Kothaufen-Emoji. Welchen Emoji hat Musk verdient?
Einen Thron. Für den eigenen Sitz im Weltsicherheitsrat, den ein Staat von der Größe Musks beanspruchen kann. Nationale Gesetze – etwa Umweltbedenken beim Teslawerk Brandenburg – hebelt er aus; für die Ukraine sind seine Space-X-Satellitendaten kriegsentscheidend. Mit Börsenkursen und einer globalen Währung kann er Jojo spielen und per Tweet sucht er „Hardcore-Anwälte […] echte Straßenkämpfer“, die ihn gegen eine Anschuldigung wegen sexueller Belästigung verteidigen. Verglichen mit Old-School-Despoten hält Musk sich nicht mehr damit auf, irgendeine hergelaufene Nation zu regieren. Weltherrschaft neu gedacht.
Die Chatverläufe der Whatsapp-Gruppe der AfD-Bundestagsfraktion wurden geleakt, die Schadenfreude ist groß. Erkenntnisgewinn: Die AfD ist queerfeindlich, zerhackt sich gegenseitig und hegt Umsturzpläne. Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie sehr überrascht Sie das?
8,8 natürlich. Dabei schwanke ich noch, ob es sensationell naiv war, im hackfreundlichen Whatsapp herumzubraunen – oder sensationell dreist, die eigene Radikalität für normal null zu halten. Inzwischen haben sie auf Telegram umgeschult. Den beobachtenden Verfassungsschutz wird die „Umsturzrhetorik“ interessieren, doch alarmierend sind auch die steten Betteleien um „Führung“, Ansagen, klare Befehle. Die entscheidende Täuschung der AfD ist ein schier anarchischer Auftritt, der am Ende nix ist als der Schrei nach Entmündigung, nach Autorität.
Ich hab per Brief gewählt; die Partei, die mir am wenigsten kriegstreiberisch erscheint. Viele wählten so nach Bundestrend: Die SpitzenkandidatInnen waren sehr unbekannt, ziemlich unbekannt und eine Bayerin. Wer nicht wählt, sieht keine ausreichende Alternative, oder findet den prognostizierten Ausgang okay, oder traut dem Land keine Antworten auf die Sorgen zu. Die liegen derzeit eindeutig nicht in Düsseldorf.
Über Deutschland fegten am Wochenende Starkregen, Hagel und Orkanböen. Wie schützten Sie sich vor dem Sturm?
Ich mied Paderborn und Lippstadt, wo gar Tornados wüteten. Das wurde stündlich im WDR durchgesagt, nachdem er das Eifelhochwasser verschlafen hatte.
In Island gibt eine Supermarktkette allen über 60-Jährigen jeden Dienstag einen Rabatt von 10 Prozent – als Maßnahme gegen die Inflation. Wie sinnvoll ist das?
Die Türen zur Regionalbahn gehen auf. Wenige steigen aus, viele wollen rein. Es geht langsam voran. Als ich meinen Koffer die Stufen hochgezogen habe, verstehe ich, warum. Eine Frau steht seelenruhig im Weg, schaut sich um, ruft nach „Zoe“ oder „Chloe“, die sich anscheinend bereits im Zug befindet, und ignoriert dabei geflissentlich die Einsteigenden, die sich verrenken, um an ihr vorbeizukommen.
„Könnten Sie bitte einen halben Schritt zurücktreten, dann könnten wir alle problemlos einsteigen?“, frage ich höflich. Aus dem Habitus der Frau schließe ich, dass sie gut verdient und vermutlich studiert hat. Eine bürgerliche Person. Ich erwarte also die zivilisierte Antwort: „Pardon, sicher, gern.“ Stattdessen erfahre ich von ihr, dass sie eine Tochter hat. Die hier irgendwo rumturnt. Na dann! Es gelingt mir, meinen Koffer vorsichtig um sie herum zu bugsieren, weil sie sich immer noch keinen Zentimeter bewegt, wieso auch, und denke an Anja Maiers genialen Buchtitel „Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter“. Da schiebt die Premium-Mutter beherzt nach: „Keine Panik!“
Hysterisierung des Gegenübers war einst eine beliebte Taktik, Frauen zum Schweigen zu bringen. Denn die Hysterie ist, wie ihr Name schon sagt, als Frauenkrankheit beschrieben worden. Es war eine Errungenschaft gesellschaftlicher Emanzipationsbewegungen, dass nun auch Männer als hysterisch diagnostiziert werden konnten. Der sowjetische Staatsapparat machte sich das zunutze, um den politischen Widerstand von Dissidenten zu diskreditieren. Man sperrte sie als „Hysteriker“ kurzerhand in die Psychiatrie.
Heute machen sich auch privilegierte Frauen in der Regionalbahn die patriarchale Taktik der Hysterisierung zunutze, um ihr Verhalten gegen Kritik zu immunisieren, stelle ich, nun endlich sitzend, bei mir fest. Und da muss ich auch gleich an Olaf Scholz, Jürgen Habermas und diverse Edelfedern denken. Sie alle benutzen dieser Tage gern das Wort „schrill“, um all jene als nicht ganz zurechnungsfähig zu markieren, die argumentieren, dass man die Ukrainer aus politischen und ethischen Gründen mit schweren Waffen versorgen sollte. Dass Habermas, der Theoretiker der demokratischen Öffentlichkeit, sich nun des billigen Hysterisierungstricks bedient, ist traurig.
In der Süddeutschen Zeitung, in der er sich jetzt über „schrille“ Meinungsäußerungen mokiert, las man zwölf Tage vor Kriegsbeginn die Überschrift: „Warum warnen die USA so panisch vor Krieg? Schrille Botschaften Richtung Moskau.“ Heute wissen wir alle, dass die Frage falsch gestellt war. Die Regierung Biden war weder „panisch“ noch „schrill“, sie litt genauso wenig an Hysterie wie die laut Süddeutscher „in Sachen Hysterie nicht gerade zurückhaltende britische Regierung“. Amerikaner und Briten warnten vor etwas, das inzwischen exakt so eingetreten ist.
Strategische Partnerschaft versus bellizistische Außenpolitik. Brigadegeneral und Sicherheitsberater von Kanzlerin Angela Merkel, General Vad a.D., kritisiert die derzeitige deutsche Außenpolitik harsch.
In dem u.a. Interview bei n-tv vom 04.03.2022 wendet er sich entschieden gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine: Solche Lieferungen seien potenziell ein „Weg in den Dritten Weltkrieg“.
Zur Anklage gegen Putin wegen völkerrechtswidrigen Vorgehens gibt er zu Bedenken:
„So völkerrechtswidrig und furchtbar der Ukraine-Krieg auch sei, er stehe doch in einer Kette vergleichbarer Kriege jüngeren Datums. Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan – so neu ist das alles nicht“.
Zur Kritik an der Annexion der Krim durch Putin beklagt er einen einseitigen Blickwinkel:
„Doch für die Amerikaner gilt bis heute die Monroe-Doktrin, die besagt, dass auf dem amerikanischen Kontinent keine Interventionen fremder Mächte geduldet werden. Und die Karibik ist sicherlich auch eine Einflusssphäre.“
Zu den wahrlich entsetzlichen zivilen Opfern sagt er am Beispiel des Irak-Krieges von 2003:
In diesem Krieg – dem Irakkrieg von 2003 – und während der darauf folgenden Besetzung des Landes – seien Hunderttausende von Zivilisten getötet worden. „Damit verglichen, fällt Putin nicht aus dem Rahmen.“
Er fordert Diplomatie: „Wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen.“ (Link zum Artikel.
Strategische Partnerschaft versus feministische Aussenpolitik
Bemerkenswert ist, dass zahlreiche Generäle – Vad ist wahrlich nicht der Einzige- schwerste Bedenken gegen die aktuelle deutsche Politik erheben – gegen deren Positionen. Obwohl sie ja wahrlich „vom Fach sind“ (für die Massstäbe Deutschlands, nicht für meine)und viele Jahre die Sicherheitspolitik Deutschlands mitbestimmt haben (Stichwort: strategische Partnerschaft), werden ihre Positionen nicht gehört oder gar diskutiert .Die deutsche Aussen- und Verteidigungspolitik, die stolz das Attribut „feministisch“ vorangestellt hat, ruft unisono „Waffen, Waffen, Waffen“.
Mit der Zugabe „feministisch“ ist ja das Versprechen verbunden, Missstände jedweder Art, nicht nur auf Frauen bezogen aufzuspüren und im praktischen Handeln zu beseitigen. Vor allem beseitigt die feministische deutsche Politik aber erst einmal und zwar fundamental eine Diskussion mit den Positionen alternativ denkender Generäle. Diese bringen nun allerdings keine Quengeleien über Marginalien wie veraltete Taschenlampen in der Truppe ein und schütteln auch nur intern den Kopf über Ministerin Lamprecht, die sich beklagt, dass sie nun die Rangabzeichen der Soldaten lernen müsse. Nein, es geht um den Dritten Weltkrieg. Es geht um Überlegungen von höchster Besorgnis getragen, dass diese herrschende Politik geradewegs in den Abgrund führt, und das ist der Dritte Weltkrieg, so sinngemäss Vad.
Deutschland von Putin unterwandert
Aber wahrscheinlich löst sich alles ganz anders auf: Putin hat über viele Jahre schon Deutschland unterwandert, wie wir in den letzten Wochen lernen durften: Siehe Gerhard Schröder, auch Steinmeier, wenn auch die Ukraine nun etwas ausfällig geworden ist (Der Chefredakteur der NZZ hat sich allerdings kürzlich und gewissermassen „zeitgemäss“ in einem Kommentar ganz auf die Seite der Ukraine geschlagen). Ministerpräsidentin Manuela Schwesig ist schon gestellt. In der Bildzeitung wurde sie dieser Tage (13.04.2022) grossseitig als Marionette – von Putin geführt – dargestellt.. Auch Angela Merkel ist bereits in die Schusslinie geraten – da kommt bestimmt noch was. Und ist nicht General Vad Sicherheitsberater von Frau Merkel gewesen? Da haben wir schon ein Indiz.
Indizien allerdings sind Hinweise, aber nicht selbst beweiskräftig. Ich aber kann nun den ultimativen Beweis anführen. Man schaue mal, was General Vad im Interview sagt. Und nun vergleiche man das mal mit den Äusserungen von Ministerin Baerbock! So, was fällt auf? Der erzählt etwas völlig Anderes.
Also, sag ich doch, da haben wir es oder besser, da haben wir ihn. Diese satirische Einlage zum Schluss sei entschuldigt, leider ist es eine Realsatire.
Aber auch andere Generäle und hochrangige deutsche Diplomaten melden sich mit ähnlichen Einwänden wie Brigadegeneral Vad zu Wort. Es ist die Warnung vor dem Dritten Weltkrieg. Diese scheint allerdings an einer wertebasierten = feministischen deutschen Politik abzuprallen, die ja mit diesem Label versehen, von Haus aus das Monopol für das Gute und Gerechte gepachtet hat. Nicht einmal ein Austausch ist – ganz der Logik des feministischen Ansatzes folgend, dann darüber nötig. Monopol ist nun einmal Monopol. Es darf und muss sogleich gehandelt werden – und wie ist auch klar: Waffen, Waffen, Waffen.
Folgt man den hier angeführten Generälen, ist das der Weg in den Abgrund, dieses Mal allerdings mit edlem Label. Stopp:. Bei genauerer Hinsicht und ein wenig Geschichtskenntnis wird man feststellen, das war schon immer so. Und so heisst – ein Waffengang wurde mit einem edlem label versehen. Das ist also nicht das Alleinstellungsmerkmal, – allerdings und zugebenermassen das label „feministisch“ schon.
Auch andere Generäle schlagen Alarm
1. Harald Kujat
Er ist der General der Generäle Deutschlands a.D. , General der Luftwaffe, Inspektor der Luftwaffe, Sicherheitsberater mehrerer Kanzler, langjähriger Vorsitzender des NATO-Russland- Rates: Er sagt seit vielen Jahren, wir müssen sehen, dass auch Putin Sicherheitsinteressen hat. Kujat stand für das Modell „strategische Partnerschaft“ mit Russland und hat immer betont, dass es um einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen gehe. Und Vieles mehr – einfach „Harald Kujat“ googlen.
2. Kai Achim Schönbach
Marinechef und Inspektor der Marine musste im Januar 2022 den Dienst quittieren.
Er hatte gesagt: “ Was Russlands Präsident Wladimir Putin wirklich wolle, sei „Respekt auf Augenhöhe“, sagte der Vizeadmiral. „Es ist leicht, ihm den Respekt zu geben, den er will – und den er wahrscheinlich auch verdient.“ (Tagesschau 24, 23.1.12022)
Es gibt und gab immer politische Schachköpfe in der Welt, welche größer sein wollten !
Dazu Harald Kujat: „Die Kritik an der Art der Formulierungen Schönbachs sei gerade in einer „aufgeheizten Situation“ zwar verständlich. Im Kern habe dieser aber die amerikanische Position wiedergegeben und damit die des „engsten Verbündeten“ Deutschlands.
Mit Blick auf die derzeit angespannte Lage sagte Kujat: „Es muss doch unser Interesse sein, zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen, zu deeskalieren und auch zu einer Entspannung zu kommen mit Russland und natürlich immer unter Berücksichtigung auch der Sicherheitsinteressen der Ukraine. Das ist doch völlig klar.“ Es könne nicht sein, „dass wir immer nur von Krieg reden und nicht davon, wie ein Krieg verhindert werden kann.“ (tagesschau24, 23.01.2022).
3. Ex-Diplomaten und -Generale rufen zu „Neuanfang im Verhältnis zu Russland“ auf
In dem Aufruf vom 05.12.2021 heisst es u.a.:
„Ziel muss es sein,Russland und auch die NATO wieder aus einem konfrontativen Kurs herauszuführen“.
„Die NATO sollte aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken“.
„Es müssen mithin win-win-Situationen geschaffen werden, die die derzeitige Blockade überwinden. Dazu gehört die Anerkennung der Sicherheitsinteressen beider Seiten“.
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Für eine Nacht wirkt Tel Aviv wie eine Szene aus der Serie „Der Report der Magd“. Was den Täter trieb, ist Frustration und blinder Hass.
Zur Zeit des letzten Terrorattentats in Tel Aviv saß ich – gar nicht weit entfernt – mit zwei Freunden in einem Lokal – einer bayerischen Kneipe im Zentrum der Stadt. Plötzlich bemerkten wir, wie die Leute in dem Restaurant anfingen, besorgt auf ihre Handys zu starren. Es dauerte nur wenige Minuten, bis auch schon die Sirenen der Polizei- und Krankenwagen zu hören waren. Die Leute fingen an, das Lokal zu verlassen.
Wir blieben zwar, verzogen uns aber in die Bar im Keller und stellten uns vor, dort so sicher wie in einem Bunker zu sein, der uns vor der Wirklichkeit draußen, die uns zu diesem Zeitpunkt ein wenig verrückt und absurd erschien, schützen würde. Als ich das Lokal verließ, um mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren, sah die Stadt aus wie ein dystopisches Gelände; wie eine Szene aus der Serie „Der Report der Magd“: Überall Polizei und Sondereinheiten; die Straßen wie ausgestorben.
Die ganze Nacht über durchkämmten Sicherheitskräfte Straßen und Hinterhöfe auf der Suche nach dem Attentäter, der auf der Flucht war. Sie fanden ihn Stunden später und erschossen ihn auf der Stelle. Raad Fathi Hasem aus dem Flüchtlingslager Dschenin hat drei junge Männer, die im Ilka-Pub Bier tranken, erschossen und sechs weitere Menschen verletzt. Was wollte er damit erreichen?
Der für seine linke Haltung bekannte Gideon Levy schrieb in der Tageszeitung Ha’aretz, dass Hasem und viele wie er in einer Realität ohne jeden Sinn, unter Besatzung aufgewachsen sind. Seine Tat bringe in erster Linie seine Frustration darüber zum Ausdruck, dass er nicht so leben kann wie die Leute in der Ilka-Bar. Wie üblich stieß der Text von Levy auf großen Unmut und Widerspruch.
Es lässt sich schwerlich darüber streiten, dass Israel 1948 Hunderttausende Palästinenser vertrieben hat und 1967 das Westjordanland militärisch besetzte. Ebenso schwerlich lässt sich über das schreckliche Leid streiten, das den Palästinensern in all den Jahren seit 1948 bis heute angetan wurde. Aber es scheint, dass die sogenannte Palästinenserfrage heute unter dem Einfluss und der Kontrolle von Gruppen steht, die auf innerpalästinensischer Ebene politische und militärische Macht gewinnen wollen. Die Attentate auf israelisch-jüdische Zivilisten dienen den Interessen dieser Gruppen, die im internen Machtkampf damit punkten können. Ein Teil der Täter der jüngsten Anschläge identifizierte sich mit dem IS. Andere mit der islamistischen Hamas. Sie haben nicht unbedingt das Ende der Besatzung zum Ziel.
Oben — Eine Illustration von Ariel Sharon und Adolf Hitler, die sich küssen, mit dem Titel „Ariel Sharons geheime Liebe“. Es wurde von Carlos Latuff erstellt.
Es gibt immer mehr Menschen, die ihr ganzes Leben im Katastrophenmodus verbracht haben. Das Versprechen eines Übergangs zu einer “grünen” Welt mag da wie eine eskapistische Droge wirken, aber der Kater ist unvermeidlich und es bleibt uns nichts anderes übrig, als kollektive Heilungsprozesse in Gang zu setzen, argumentiert die Forscherin Irina Velicu in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism”.
“Die Produktion aller Kriegsmittel, nicht nur der Krieg selbst, sollte vollständig verboten werden. Es ist völlig absurd (und auch heuchlerisch), den Tabakanbau fortzusetzen, wenn erklärtermaßen niemand die Absicht hat, zu rauchen.” (Nicholas Georgescu-Roegen, 1975)
Wer sich als grüner Staatsbürger/ grüne Staatsbürgerin versteht, für den gibt es Bildungsmaterial in Hülle und Fülle, vor allem in einer entpolitisierten Form. Doch mündige Bürger*innen scheinen im Angesicht des nuklearen Terrors ohnmächtig zu werden. Das stört diejenigen nicht weiter, deren abenteuerliches Exil auf einem anderen Planeten bereits in Planung ist. Ein weiterer Krieg lässt uns weniger an die “ferne Klima-Apokalypse” und eher an die “Hier und Jetzt”-Zeitlupenkatastrophen denken. Der russisch-ukrainische Krieg als Teil des industriellen Komplexes moderner Gesellschaften wirft Licht auf die Frage, wie und warum sich Ressourcenkonflikte auf dem ganzen Planeten vermehren und welche Auswirkungen es hat, wenn wir wieder lernen, in einer “Bombenkultur” zu leben.
Als Nekro-Industrie ist der Krieg auch die profitabelste Form der Marktsteuerung, bei der Waffen ebenso wie Gemetzel als Ware verkauft werden. Zusammen mit Pandemien wird der aktuelle russisch-ukrainische Krieg eine geopolitische Verschiebung mit sich bringen, bei der sich Kriegs- und Gesundheitsindustrie gegenseitig befeuern. Epidemien und psychische Gesundheitsprobleme werden die kapitalistische Maschinerie in Schwung bringen. Die Intensivierung aller Formen des Ressourcenextraktivismus ist eine Vorbedingung: Der “grüne” Übergang verwandelt sich fast über Nacht in ein “braunes” Extraktivismus-Unternehmen, da Öl und Kohle ein Comeback feiern.
Neue Schocktherapien, zukünftige Traumata
Mit dem Aufkommen neuer “Schocktherapien” wird deutlich, dass diese Politik alles andere als demokratisch ist. Welche demokratische, gar humane Legitimation könnte es für Atomwaffen mit geringer Reichweite geben? Was können wir sonst noch von diesem Übergang zu einem zunehmend heißen Kalten Krieg erwarten? Unterdrückung und Traumata können neue Bindungen und Gemeinschaften schaffen: aber zuerst brechen sie Menschen. Mit der Entfaltung solcher Schocks entstehen neue Traumata, die mehr als nur Worte erfordern, um die verschiedenen intersektionalen Ungerechtigkeiten auszudrücken, die unsere Herzen und Köpfe in naher Zukunft beschäftigen werden.
Die Schocktherapien der post-“kommunistischen” Übergänge sollten in ein paar Jahrzehnten enden: Können wir ihr Weiterleben bereits an den Wurzeln der aktuellen Ereignisse wiedererkennen? Die post-“kommunistische” Generation, die ich kenne, hat die meiste Zeit ihres Lebens mit dem Gefühl des Verlustes gelebt: Zu den verschiedenen kulturellen Stigmata kam hinzu, dass sie sich jeden Tag als Verlierer*innen fühlten, pleite und gebrochen, dennoch unermüdlich. Sie wussten nicht mehr, woran sie glauben und was sie tun sollten. Es fehlte ihnen mehr als sie besaßen: Energie, Geld, Wissen, Respekt. Oft vergaßen sie die unsichtbare Faust der Übergangsideologie, die ihnen einhämmerte sie seien selbst Schuld an den eigenen Unzulänglichkeiten. Dies im Hinterkopf, sollten wir nicht vergessen, dass es immer auf die Sichtweise ankommt. Wie blicken wir auf Armut, Wirbelstürme oder Kriege? Ideologie wählt auch uns aus, sie folgt dem Geruch unserer Privilegien oder unserer Verwundbarkeit. Manche Menschen haben den größten Teil ihres Lebens bereits im Katastrophenmodus verbracht – ob unter dem Joch vergessener Kaisern bis hin zu modernen Unternehmen – viele Menschen erleben täglich Raubbau. Die Gewöhnung an diese Art von “Pech” oder an allgegenwärtige Traumata ist eine Art von Trägheit, die sich von selbst einstellt.
Ein Beispiel dafür: Der Ruin der Republik Moldau, ein bitterarmes Nicht-EU-Land, das aktuell sehr viele Flüchtende aus der Ukraine aufnimmt. In der Zeit des anhaltenden Verlustes nach dem Afghanistan-Krieg wurden die Moldauer*innen zu Menschenfleisch in Privatarmeen, zu Wirtschaftsmigrant*innen, die unter Stressstörungen leiden, und zu Nationalist*innen. Doch diese Traumata scheinen die geopolitische Denkweise des gegenwärtigen russisch-ukrainischen Krieges – eines Krieges, der auf der Schockdoktrin und ihrem Katastrophenkapitalismus beruht – nicht weiter zu rühren.
Als Maria Todorova über den Diskurs des türkischen “Jochs” in Osteuropa schrieb, stellte sie nicht nur eine Frage über leicht entflammbare Emotionen, die Menschen bewegen, wenn sie “zu den Waffen gerufen” werden: Für sie war es auch wichtig zu betonen, dass Europas “Geschenk” an die Welt der Nationalismus war. Wenn Gesellschaften nach Versöhnung dursten, aber Kriege andauern, kann die Weigerung, zu handeln, durch die Verpflichtung motiviert sein, sich um einen breiteren kollektiven Raum der Sinngebung zu kümmern, sich die Zeit zu nehmen, um zu erkennen, was von den neuen homogenen Gemeinschaften der Opfer und Täter*innen wieder einmal ausgelassen werden könnte. Die Einordnung des Balkans in diese “globale Kolonialität” oder “Nekropolitik” ist noch nicht abgeschlossen.
“Wir befinden uns in einem psychologischen Krieg”: Die Giftstoffe des letzten Übergangs
Toxizität ist mehr als eine Verschmutzung, die die physische Gesundheit beeinträchtigt: Sie liegt in der Luft der alltäglichen Konflikte, die durch Strukturanpassungsprojekte, Sparprogramme, “Mega-Entwicklung” oder industriellen Abbau und Landraub gekennzeichnet sind. Die intime Toxizität kann in der Art und Weise beobachtet werden, wie die Menschen soziale Techniken der Kontrolle wie Täuschung, Manipulation, Demütigung und verschiedene Missbräuche erleben. Bei der genauen Planung solcher Projekte ist als Vorbedingung für Ungerechtigkeit bereits eine Inszenierung der menschlichen Natur als ausbeutbar am Werk. Die Entscheidungsträger*innen treten in einen Dialog mit den Menschen als Repräsentant*innen bestimmter sozialer Kategorien, die bereits etablierte Interessen reproduzieren: Angeblich kann ein Bergmann nur wünschen, in einem Bergwerk zu arbeiten, unabhängig von seinen Traumata. Die Unterdrückung wird auf diese Weise durch Ideologie unsichtbar gemacht. Daher wurde das “Licht” am Ende des Tunnels des post-“kommunistischen” Übergangs von den Eliten als Fortschritt angesehen. Für die meisten anderen war es nur ein weiteres “Loch” im Boden.
Es mag den Anschein haben, dass extraktivistische Projekte, sobald sie abgewehrt sind, keine Bedrohung mehr darstellen. Sie können als lokale Siege gefeiert werden oder sogar nationalistische Projekte aufblähen. Doch aus Sicht der kapitalistischen globalen Märkte schafft der Prozess des “Beinahe-Abbaus” einer Mine das richtige Klima für zukünftige Investitionen. Ungerechtigkeit im Bereich der Umwelt führt oft zu Konflikten, wenn sie “Individuen und ihren Gemeinschaften die Fähigkeit nimmt, voll zu funktionieren, durch schlechte Gesundheit, Zerstörung der wirtschaftlichen und kulturellen Lebensgrundlagen, allgemeine Umweltbedrohungen und politische Ausgrenzung”, so David Schlosberg und David Carruthers. Anti-Bergbau-Bewegungen in Osteuropa wie “Rettet Rosia Montana” in Siebenbürgen warten darauf, dass der “tatsächliche Schaden” eintritt, und bezeugen, dass ländliche Gemeinschaften mit Landraub und einem langsamen Verschwinden der Gemeinschaft, täglichen psychologischen Schäden und der Disqualifizierung als politische Akteure konfrontiert sind. Ihr Trauma besteht in der täglichen Erfahrung von Ungewissheit, Unsicherheit, Angst oder Furcht – eine Wunde, die Beziehungen in Familien und Freundschaften zerreißt.
Die Initiative “Rettet Roșia Montană” ist in der Tat eine Bewegung, die als historisches Schlachtfeld verschiedener Imperialismen auch versteckte ideologische Spannungen in sich birgt. Der älteste dokumentierte Ort Rumäniens, der den umfangreichsten und technisch vielfältigsten Bergbaukomplex der Welt beherbergt, der auf die römische Besatzung zurückgeht – all dies hat dazu beigetragen, eine Gegenbewegung zu schaffen, die die rumänische Politik radikalisiert hat. Dank eines langen und intensiven Prozesses transnationaler zivilgesellschaftlicher Mobilisierungen ist Roșia nun UNESCO-Weltkulturerbe. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Sieg in den laufenden Prozessen und dem zukünftigen Druck der Börsen von Bedeutung sein wird. Die Last der generationenübergreifenden Traumata bleibt auf den Schultern derjenigen, die sich geweigert haben, ihre Heimat zu verlassen. Die Bewohnerin von Rosia Montana, Niculina-Lucretia, erzählte mir 2008 in einem persönlichen informellen Gespräch ihre Geschichte des Kampfes auf poetische Weise:
Unser sind diese Berge, steinig, fruchtbar und grau Wir haben sie in den Himmel gehievt um ihren Magen aus Gold und Eisen zu öffnen Wir haben gemeinsam unter Regen und Schnee gelitten Wir haben ihr riesiges Becken geöffnet und ihre Schönheit besungen Wir kennen ihre Seelen und Stürme, besser als jeder andere …
Unendliche Übergänge, Trauma und Heilung
“Eine Wirtschaftsordnung, in der die unnachhaltige, schlecht gemanagte Plünderung von Ressourcen nicht als Verlust des BIP, sondern als produktives Wachstum betrachtet wird, hat etwas Perverses.” (Rob Nixon, 2011)
Wenn Sie ein Land des Ostens oder des Südens sind, machen Sie sich bereit, neue “grüne” Investitionen kommen auf Sie zu! Ich bin absichtlich zynisch, um die Logik des Kapitals zu veranschaulichen: eine schlechte Werbung für ein weiteres “billiges” Produkt für die Utopie des Massenkonsums. Solange die gesellschaftliche Lizenz zum Abbau erteilt wird, ohne die sozialen und ökologischen Kosten auch nur einzubeziehen, wird jeder Abbau von Rohstoffen, auch von Lithium, nur die Profite einiger weniger “klug” Aufgestellter steigern. Die neuen Konflikte z.B. in Serbien, Kasachstan und der Ukraine werden zu sichtbaren Illustrationen des Extraktivismus als einer Nekro-Industrie, die durch die Logik des Krieges angeheizt wird, wobei Oligarchen sich gegenseitig mit den Körpern gewöhnlicher Menschen bekämpfen. Europa ist dicht besiedelt. Wenn ländliche Regionen zur Zielscheibe eines neuen Extraktivismus werden, kann es zu immer mehr Konflikten kommen.
Zumindest vor dem russisch-ukrainischen Krieg hatten einige wirklich gehofft, dass die “Ökologisierung” der Wirtschaft ein vernünftiger Ausweg aus dem miserablen neoliberalen Übergang sein würde. Von welchen Gefahren ist jetzt die Rede, wenn der “grüne” Kapitalismus als neues Allheilmittel verkauft wird? Wie kann man kritisch bleiben, wenn er versucht, Waffen und Atomkraft in der gleichen Logik des Krieges, in den gleichen elenden “Fabriken” für billige Arbeitskräfte massenhaft als “grün” zu vermarkten? “Es ist eine Katastrophe, entspann dich!”, meint der Physiker in Ian McEwans Roman “Solar” (2010) ironisch: Die Produktion läuft gut. Der Ökomodernismus wird in die Ideologie des kapitalistischen Wachstums als neues Opium der Fortgeschrittenen integriert. Das macht die “Katastrophen” politisch, nicht nur traumatisch.
“Ein kollektives Trauma ist ein Schlag gegen das Grundgewebe des sozialen Lebens, der die Bande, die die Menschen zusammenhalten, beschädigt und das vorherrschende Gefühl der Gemeinsamkeit beeinträchtigt. … es ist eine Form von Schock … eine allmähliche Erkenntnis, dass die Gemeinschaft nicht mehr als wirksame Quelle der Unterstützung existiert und dass ein wichtiger Teil des Selbst verschwunden ist. Ich existiere weiter, wenn auch beschädigt und vielleicht sogar dauerhaft verändert.” (Kai T. Erikson, 1976)
Als ultimatives kollektives Trauma, das alle anderen intersektionalen historischen Traumata vereint, ist das Klimatrauma eine tiefe Wunde des politischen Körpers, eine Wunde absurder Kriege und anderer extremer Ereignisse, wobei Kinder und Jugendliche bereits jetzt am meisten leiden. Es ist längst überfällig, die Ursachen solcher Traumata anzugehen. Vor neuen Prinzipien der Gerechtigkeit braucht die menschliche Zivilisation eine radikale “dekoloniale Heilung” wie Rosalva Aída Hernández Castillo vorschlägt. Eine solche Pädagogik kann bereits in den vielfältigen Praktiken von Gemeinschaften gefunden werden, die ihre historischen Traumata ernst nehmen: Mütter der “desaparecidos” in Mexiko, die sich dem Justizsystem entgegenstellen, die nie aufgeben, nach ihren Kindern zu suchen, die tote Körper annehmen, um Trauerrituale zu erfüllen, die sie dazu bringen, den Tod mit Liebe zum Leben zu akzeptieren. Schwarze Gemeinschaften führen den Blues als Überlebensmechanismus auf, “eine autobiografische Chronik der persönlichen Katastrophe (…) eine fast tragische, fast komische Lyrik.” wie Ralph Ellison schreibt. Viele Wissenschaftler*innen weisen auf die zentrale Bedeutung kollektiver, selbstorganisierter Bemühungen zur Förderung radikaler Heilung hin, ein langfristiger Prozess, an dem bewusst gearbeitet werden muss, wobei landgestützte und “anonyme” Gedenktechniken von zentraler Bedeutung sind.
Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur “After Extractivism”-Textreihe der Berliner Gazette; die englische Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.
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Es ist gerade mal wieder nicht leicht, sich den Medien zu entziehen. Ein Plädoyer für gelegentliche Schweigeminuten.
«Apfel ist zurück. Läden in St. Petersburg wieder eröffnet.» Das kann man dank dem Übersetzungsprogramm in einer dortigen Zeitung lesen. Eigentlich verrückt! Alles ist so weit weg und, wenn man will, ist es schmerzhaft nah. Gleich hier vor der Nase. Man könnte sogar mit eigenen Sanktionen eingreifen. Man könnte in einem Restaurant in Moskau zum Schaden des Betreibers einen grossen Tisch reservieren und gleichzeitig anstatt Gastrokritik auch noch Kriegsinformationen deponieren, wie das angeblich fleissig getan wird. Und doch hat man keine Ahnung, weiss eigentlich nichts, aber gerade deshalb will man lesen und hören und sehen, und wenn man auf der Strasse Bekannte trifft, bleibt man stehen. Wer hätte das gedacht, dass wir das noch erleben müssen? Die Gespräche kreisen alles ein, kreisen auch um sich selbst und geben erschreckende Übereinstimmungen preis. Sind wir schon wieder alle gleicher Meinung? Irgendwo hinter dem unstillbaren Durst nach immer mehr Information versteckt sich auch schon die Hoffnung auf einen Etappensieg unserer Wahrheit. Der Tyrannensturz steht wohl kaum kurz bevor, aber auch einen kleineren Einbruch im Reich des Bösen nähmen wir gerne zur Kenntnis.
Man hört sich sogar die unmöglichsten, in die Weite des Alls hinausgestellten Fragen an: Was wird Russland als Nächstes tun? Was denken die Russen? Was denken die Russinnen? Genau das fragt die Journalistin aus Zürich die Expertin in Berlin und man schaltet es noch immer nicht aus, dieses Radio, das angeblich so viel weiss und überhaupt nichts kann, auch niemandem hilft, man hört sich alles immer weiter an, wieder und wieder und man schaut zu, wie der Reporter der BBC zwei edel gestylte Damen fragt:
Unterstützen Sie die Politik Ihrer Regierung?
Klar, natürlich, lautet die Antwort.
Voll und ganz?, hakt der Reporter nach.
Ja, 100%!
Nein! 200%!, wird nachgedoppelt.
Aber man erschrickt. Hat man nicht eben Fremdscham empfunden? Ist man selbst schon so parteiisch verstrickt, dass einen die beiden bedauernswert ignoranten Russinnen beschämen?
Diese sogenannte Operation, bitte sehr, das ist ein unmenschlicher Krieg!, will man schreien. Aber man macht den Fernseher auch nicht aus, wenn eine Reporterin mitten in den Trümmern zwischen eingestürzten Häusern einer offensichtlich erschöpften, älteren Frau ein riesiges Mikrophon vor den Mund hält. Da gibt es kein Entkommen: Die arme Frau muss antworten. Es muss ausgesprochen werden, was jeder sieht. The show must go on! Diese gebärdet sich zwar nicht überall so menschenverachtend wie auf CNN, wo auf ihre hypnotische Wirkung zusammengeschnipselte Bildsignale eher wenig mit Berichterstattung zu tun haben. Trotzdem: Meist ist es peinlich, Zeuge sein zu müssen, und es kann nur als harter Schicksalsschlag bewertet werden, dass man sich jetzt auch noch gezwungen sieht, für die anstehende Aufrüstung Verständnis aufzubringen. Auch gilt es wieder Kriegsverbrechen zur Kenntnis zu nehmen, obschon man doch erst noch gerade der Ansicht war, dass es Kriegsverbrechen nicht geben kann, weil jeder Krieg an sich schon ein Verbrechen ist. Aber jetzt wägt man wieder ab, vergleicht, weiss sich im Recht und hört sich weiter alles an.
Da wird einem doch tatsächlich mitgeteilt, der rapide ansteigende Absatz von ukrainischen Fahnen sei ein Ausdruck von Solidarität. So viel weiss man in der Fahnenfabrik und die Reporterin wiederholt es noch dreimal, ohne dass man auf den Aus-Knopf gedrückt hätte.
Auch die unsäglichsten Satzfragen hört man sich an, obschon die so oft klingen, als hätte sich der Fragesteller eben gerade auf Wikipedia ein bisschen zum Thema kundig gemacht, um sich auch selber einbringen zu können. Dabei möchte man ja eigentlich nur hören, dass Schweigeminuten auch ihren Wert hätten, dass sich nämlich das Wesentliche nicht fassen lässt, dass die Widersprüche nicht aufzulösen sind und dass es Medienschaffende gibt, die nicht alle ins gleich Horn blasen. Natürlich soll man die Leute nicht an ihren Worten aufhängen, aber von dem, was sie tun, gibt es nur diese wie Lawinen auf uns einstürzenden Bilder, die man nicht unter einen Hut bringen kann und die mit den vielen Worten so oft rein gar nichts zu tun haben.
Steht man am Herd und dreht das Gas auf, fragt man sich, wie kann das überhaupt noch fliessen und was bedeuten all diese Sanktionen und diese Drohungen, wenn man doch weiter munter Handel treibt? Was denkt die Mutter mit ihrem Kind auf der Flucht, wenn sie an einer Grenze Nothilfe bekommt und gleichzeitig erfährt, dass der Spender auch weiter jenes Gas kauft, dessen Erlös diesen Krieg erst möglich machte? Man bringt es einfach nicht unter einen Hut. Aber selbstgerecht ist man stolz, beim Lesen der Prawda oder bei Russia Today die Propaganda zu entlarven – dagegen, dass auch hier alles verstrickt ist, dass mir westliche Technologie die östliche Falschmeldung übersetzt, dass Gut und Böse einmal mehr nicht mehr zu trennen sind, dagegen etwas tun kann man nicht.
Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.
Die Hetze und das stets schlechte Gerede über China werden schier unerträglich. Die Olympischen Winterspiele scheinen da ein willkommener Anlass, jede Kleinigkeit negativ zu bewerten. Das aber beweist nur, dass die westlichen Medien und auch einige Sportler «ein oberflächliches, negatives Bild von China» haben. Und das sagt ein Schweizer Jesuit, der seit über 20 Jahren in China lebt und arbeitet. In seinem Institut in Macau gibt er ungehindert Kurse zu Kontemplation und Führungsethik und Lügen oder Unterwürfigkeit darf man ihm sicher nicht unterstellen. Er fragt sich ganz nüchtern, warum die Chinesen nicht stolz sein sollen, auf das, was sie erreicht haben?
Kein anderes Land auf der Welt hat es geschafft, in nur 40 Jahren im ganzen Land die Armut zu überwinden und die Lebensbedingungen aller breit und massiv verbessert zu haben. Und das in einem Land mit 1,4 Mrd. Einwohnern! Wir sehen nur durch unsere westliche Brille, dass und wie die chinesische Regierung „so hart“ durchgreift, übersehen aber geflissentlich die riesige Dimension und die Folgen, die das Problem der Pandemie in China aber auch für unsere Wirtschaft haben. Bei aller Strenge steht das chinesische Volk schon aus Selbstschutzgründen voll hinter seiner Regierung. Wer zu bequem ist, sich mit der Geschichte und Ethik von China, seiner Kultur und seinen Menschen ehrlich zu befassen, der schweige besser, als seine Vorurteile an Nichtigkeiten auszulassen, wie z.B. an den Wintersportanlagen wegen deren Größe und Lage, weil es zu kalt ist oder weil einem das Essen nicht passt..
Und dann natürlich und immer wieder Tibet und die Uiguren, die selbst ohne Zusammenhang immer wieder in Sachen Menschenrechte bemüht werden. „Dummheit ist nicht «wenig wissen», auch nicht «wenig wissen wollen», Dummheit ist «glauben, genug zu wissen»“ (Konfuzius). Wissen wir wirklich genug, um in einen ehrlichen Diskurs darüber mit China einzutreten? Und ebenso wie wir keinem erlauben, sich in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen, dürfen auch wir uns nicht in solche anderer einmischen, es sei denn, sie hätten transnationale Auswirkungen mit eigenem Schaden.
Allzu viele von den Menschen haben nichts gesehen und be-ver-urteilen alles.
Die ganze Hypokrisie mit China ist umso grotesker, wenn man sieht, wie gerne und eng unsere Wirtschaft mit der in China zusammenarbeitet, obwohl sie ihren Turbo-Kapitalismus in China nicht durchsetzen konnte. Seit 1954 ist China der Protagonist friedlicher Koexistenz und der Gemeinwohlorientierung. Es duldet keine Fremdbestimmung auf politischer wie wirtschaftlicher Ebene. Oberstes Ziel ist das Wohl des Volkes und nicht der Eigennutz eines Wirtschaftsunternehmens. Und das besonders seit 1949 mit der komunistischen Revolution und der sozialistischen Politik chinesischer Prägung seitdem.
Etwas überraschen schloss der Kommentator der ZDF-Übetragung der Eröffnung der Winterspiele mit dem Zitat von Konfuzius: „An einem edlen Pferd schätzt man nicht seine Kraft, sondern seinen Charakter.“ Ahnte er vielleicht, dass China „in Bezug auf Umsetzung von moralischen Prinzipien in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen“ wird?Der Schweizer Jesuit kann im da sicherlich aus seiner Erklärungsnot helfen.
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Ein- und Ausreise polnischer Pflegekräfte während der Pandemie
Von Wolfgang Erbe
Zur Frage der Ausbeutung ausländischer Pflegekräfte während der Pandemie
500 Euro die Woche, Kost und Logis frei, und ein freier Tag pro Woche. Was hätten wir nur ohne Milena und Aneta gemacht? In ein Heim wollte meine Mutter nicht, aber mit über 90 Jahren brauchte sie Hilfe, bei allem.
Die Damen aus Polen, beide Ende Fünfzig, ihre Kinder erwachsen und aus dem Haus, wechselten einander im Rhythmus von fünf oder sechs Wochen in der Betreuung ab.
Sie besorgten den Haushalt, kauften ein, bereiteten die Mahlzeiten – Milena ist eine exzellente Köchin – machten die Wäsche und halfen meiner Mutter beim Waschen, beim Anziehen und schoben sie im Rollstuhl auf Spazierfahrt. Und waren liebevolle, großartige Gesellschafterinnen.
Im Souterrain des Bungalow hatten sie ihr Zimmer und schliefen offenbar mit aufgerichtetem Ohr und waren zur Stelle, wenn ihre Patientin nachts zur Toilette tappte.
Und dann war Pandemie. Mitte März 2020 verkündete Innenminister Seehofer, die Grenze sei dicht. Wer weder Bundesbürger sei noch als Ausländer dauerhaft in Deutschland lebe, dürfe nur noch aus „triftigem Grund“ einreisen – etwa als Berufspendler.
Milena war in Polen und sollte Aneta in zwei Wochen ablösen. Was war zu tun?
Nach Schätzungen arbeiten 200.000 bis 300.000 Osteuropäerinnen in Deutschland als häusliche Pflegekräfte, vermutlich zu neunzig Prozent schwarz. Private Kleinbusse für einen Fahrer und acht Passagiere verkehren wöchentlich zwischen den wichtigsten Zentren beider Länder. Der Bus sammelt acht Fahrgäste in Polen ein und setzt sie an ihren jeweiligen Bestimmungsorten innerhalb eines bestimmten Umkreises in Deutschland ab. Wer zu- letzt abgesetzt wird, ist dann schon mal acht, neun Stunden unterwegs. Der Fahrer übernachtet in seinem Bus und fährt am Morgen dieselben Stationen wieder an, um die heimkehrenden Kräfte aufzunehmen.
Auf Milena und Aneta wartete hinter der Grenze immer die Dame, die ihnen den Job vermittelt hatte, um 50 Euro für jede Woche abzufordern.
Würde man Milena einreisen lassen? Würde Polen sie überhaupt ausreisen lassen?
Auf der Site des Ministeriums fand ich den Vordruck der Bescheinigung für Berufspendler. Als Firmenadresse gab ich Namen und Wohnort meiner Mutter an, in das Feld für den Stempel des deutschen Unternehmens setzte ich meine Unterschrift und schickte Milena das Formblatt per Mail.
Sie kam. Und wir hatten zu viert einen sehr fröhlichen Abend. Die polnischen Grenzbeamten hatten weder sie noch die übrigen Mitreisenden kontrolliert. Der Bus wurde durchgewinkt. Und wurde auf deutsche Seite wieder durchgewinkt.
Anderntags, früh um sechs Uhr holte der Bus Aneta ab. Nachmittags rief sie von daheim in Polen an. Unmittelbar vor der Grenze seien die Passagiere ausgestiegen, Koffer und Tasche blieben im Bus. Zu acht gingen sie zu Fuß über die Grenze und wurden angewiesen, sich 14 Tage in häusliche Quarantäne zu begeben.
Der Busfahrer – mit acht Koffern und acht Taschen an Bord – gab an, nur Waren aufgenommen, ohne dabei persönliche Kontakte gehabt zu haben, weshalb er nicht in Quarantäne musste. Er durfte passieren und nahm anschließend seine Mitreisenden wieder auf. Ganz offen, ganz reibungslos, auch beim nächsten Schichtwechsel.
Im Mai 2020 wurden die Grenzkontrollen gelockert, im Juni aufgehoben.
In den Nachrichten wurde nicht berichtet, dass es während der knapp drei Monate beim Schichtwechsel Hunderttausender ausländischer Pflegekräfte Probleme gegeben habe. Ob die Grenzbeamten nur überfordert waren oder sich gar höheren Werten verpflichtet fühlten, ist nicht bekannt.
BADEN-WÜRTTEMBERG
Landesregierung hält an Rückforderungen von Corona-Soforthilfe fest
Von Wolfgang Erbe
Das Land Baden-Württemberg hat im ersten Lockdown, der vom 17. März bis 4. Mai 2020 dauerte, insgesamt 2,1 Mrd. Euro als Soforthilfe an Selbstständige und Kleinbetriebe ausgezahlt, um diese vor dem Ruin zu bewahren.
Jetzt droht Insolvenz! und die Arbeitslosikeit der Beschäftigten!
Durch die Schocktherapien, die in “kommunistischen” Regimen nach 1989 zur Anwendung kamen, wurden zahllose Arbeitnehmer*innen zur Abwanderung nach Griechenland gezwungen. Hier wurden sie für die Wirtschaft des Landes unverzichtbar. Doch durch die Sparmaßnahmen der Troika, die Griechenland Ende der 2000er Jahre auferlegt wurden, kam es zu einer erneuten Vertreibung. Die Forscherin Tsvetelina Hristova denkt über die Folgen nach.
Meine Mutter lebt jetzt in der Heimatstadt von Heidi Klum, einer kleinen westdeutschen Stadt im ehemaligen industriellen Herzen des Dritten Reiches. An dem Tag, an dem ich sie dort zum ersten Mal besuche, sagt sie: “In der Nähe des Bahnhofs gibt es ein Souvlaki-Lokal, lass uns hingehen und ein Souvlaki essen.” Man kann die Aufregung und die Nostalgie in ihrer Stimme hören. Sie spricht mit der Kellnerin Eleni in perfektem Griechisch, überglücklich, dass sie sich wieder wie in ihrer zweiten Heimat Athen fühlen kann. Sie ist froh, dass sie sich wieder in der Lage fühlt, zu kommunizieren und ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken.
Seit ihrer Übersiedlung nach Deutschland hatte sie monatelang darunter gelitten, durch eine neue Sprache, die sie kaum spricht, eingeschränkt zu sein. Ihre nostalgischen Erinnerungen bringen sie zu dem Zeitpunkt zurück, als ich sie als Teenager zum ersten Mal in Athen besuchte, in dem Haus, in dem sie als Putzfrau und Köchin lebte. Sie erinnert sich, wie ihre Arbeitgeber uns beide zu einem Souvlaki-Laden mitnahmen und wie viel besser das Essen dort schmeckte.
Meine Mutter ist mit der Krise gewandert, ein treuer Begleiter, der sie nie allein lässt. Anfang der 1990er Jahre, inmitten einer zusammenbrechenden Wirtschaft nach 1989 und einer chaotischen Trennung von meinem Vater, gab sie ihren Job als Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft (ihre Hände rochen immer nach Fetakäse) und ihr Nomadendasein in den Häusern von Verwandten auf und zog nach Griechenland.
Flucht aus Ruinen
Der Zusammenbruch der Wirtschaft beschreibt kaum die Jahre der Verwirrung, der Unsicherheit und des Elends, die Millionen von Menschen im “ehemaligen Osten” durchlebten. Die Arbeitnehmer erhielten ihre Löhne und am Ende desselben Tages hatte die außer Kontrolle geratene Inflation ihren Wert um die Hälfte reduziert. Die erzwungene Zerschlagung von Industrien, die Privatisierung von Staatsvermögen und die Umgestaltung politischer und wirtschaftlicher Strukturen hinterließen Industriestädte wie meine in Trümmern – im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Risse in den Fabriken, Schlaglöcher in den Straßen, Flecken in der Kleidung, Eltern, die illegal die Grenzen nach Griechenland und Italien überquerten, um als Hafenarbeiter und Putzfrauen zu arbeiten – das waren die greifbaren Auswirkungen des Übergangs nach 1989, die nach wie vor abgetan und fehlinterpretiert werden als eine lokale korrupte Version des Kapitalismus oder als der Eifer der Menschen, in die “freie” Welt zu fliehen.
Sie überquerte die Grenze “durch den Wald”, schlief auf Pappkartons, lebte in Häusern, die sie putzte, einem Arbeitsplatz, der rund um die Uhr besetzt war, und einem sicheren Zufluchtsort vor der Polizei, weigerte sich nervös, in der Öffentlichkeit Bulgarisch zu sprechen, aus Angst, abgeschoben zu werden, versuchte, griechisch auszusehen, und lernte schließlich, Griechenland zu lieben. Nach etwa 10 Jahren war ihr Griechisch perfekt, ihre Dokumente waren geordnet und sie diskutierte leidenschaftlich über die lokale Politik, schätzte die griechische Kultur und kochte griechisches Essen.
Im Jahr 2015, als sie Athen verließ, kämpfte Syriza gegen die von der Troika auferlegten Sparmaßnahmen. Das Leben wurde für die Menschen dort immer härter. Sie putzte ein paar Häuser. Sie hatte sich mit ihren Arbeitgebern angefreundet, sie verbrachten die Ferien zusammen, gingen auf Konzerte, sprachen über das Leben, diskutierten über griechische Politik und Musik, halfen sich gegenseitig. Als die Lage schwieriger wurde, bot sie ihnen Preisnachlässe an und sagte, sie wisse, dass das Leben hart sei und wolle sich solidarisch zeigen. Ihre Arbeitszeiten wurden reduziert und ihr Lohn wurde gekürzt.
Krisendéjà-vu
Sie sagte, sie wisse, dass es für die Griech*innen schwer sei. Die Krise hat sie getroffen. Sie mussten auf Ausgaben verzichten. Aber während ihre Wahl darin bestand, die Stunden und Besuche ihrer Reinigungskraft zu reduzieren oder auf einen Urlaub im Ausland zu verzichten, musste sie auf einen Besuch in Bulgarien verzichten und sich Sorgen machen, ob sie die Miete bezahlen konnte. Man teilte ihr mit, dass man ihre Kranken- und Sozialversicherung nicht mehr übernehmen könne, weil man befürchtete, dass die Ausgaben für eine Reinigungskraft in den Steuerunterlagen als Luxusausgaben eingestuft würden. So musste sie wieder zu den Tagen zurückkehren, an denen sie ihre Rente und Krankenversicherung aufbrauchen oder hungern und die Versicherung selbst bezahlen musste.
Im Jahr 2016, nachdem Syriza die Auseinandersetzung mit der Troika und den Kernländern der EU verloren hatte, veröffentlichte Jacobin eine Analyse der groß angelegten Privatisierung, die auf die Niederlage folgte. Der von der griechischen linksradikalen Akademikerin Eleni Portaliou verfasste Text beginnt mit einer Einleitung des politischen Theoretikers Stathis Kouvelakis. Darin beschreibt er das Griechenland aufgezwungene wirtschaftliche Experiment als vergleichbar mit den Schocktherapien, die in der postsozialistischen oder postkolonialen Welt verordnet wurden – aber als weniger akzeptabel für ein Mitglied des Clubs:
Der folgende Artikel konzentriert sich auf einen der wichtigsten Aspekte des laufenden Experiments in dem Land: die Auferlegung eines Modells der “Akkumulation durch Enteignung”, nicht für ein Land des Globalen Südens oder Osteuropas, sondern für ein Mitglied der Eurozone seit ihrer Gründung und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft seit den frühen 1980er Jahren.
Zu dieser Zeit verloren Bulgar*innen und Albaner*innen, die aufgrund des Prozesses der Akkumulation durch Enteignung in den Jahren nach 1989 nach Griechenland eingewandert waren, ihre Arbeit und kehrten entweder in ihre Heimat zurück oder zogen weiter nach Westen. Ihre Krisen und die Krisen der Menschen aus der ehemaligen UdSSR und der “Dritten Welt” hatten sich in billige Arbeitskräfte verwandelt, die die griechische Landwirtschaft, das Baugewerbe und die Reproduktionsarbeit jahrelang am Leben erhielten. Das jahrzehntelange Leben als Migrant, das schließlich zu einem gewissen Zugehörigkeitsgefühl geführt hatte, wurde wieder in Stücke gerissen. Es waren die Arbeitsplätze, die Bulgaren und Albaner innehatten – Niedriglöhne, prekäre Arbeitsverhältnisse, Selbstständige -, die als erste wegfielen.
Akkumulation durch Enteignung
Diese Industrien, die Migrant*innen am meisten willkommen heißen, sind wie die Beutel von Beuteltieren – sie stoßen die, die sie beherbergen, bei den ersten Anzeichen einer Krise aus. Migrant*innen lassen sich leicht auslöschen und ersetzen, denn “sie haben dort nie hingehört”.
Mehr noch, die Bedeutung der Krisen der Übergänge nach 1989 wird durch die Leichtigkeit ausgelöscht, mit der die ständige Vertreibung auch eine Methode zur Unsichtbarmachung der anhaltenden Auswirkungen von Privatisierung und Austerität im postsozialistischen Osten ist. Menschen ziehen weg und werden unsichtbar. Sie verschwinden aus den Statistiken. Ihre Armut wird verdrängt, genauso wie ihre Arbeitskraft leicht über die Grenzen hinweg konvertierbar ist – die Wirtschaft braucht immer einen Rücken, der hebt, und Hände, die putzen.
Kouvelakis’ Einführung, die im Gegensatz zu David Harvey die Akkumulation durch Enteignung als einen Prozess betrachtet, der geografisch und zeitlich auf die Peripherie der kapitalistischen Welt beschränkt ist, zeigt einen anderen Weg auf, bei dem die Folgen der Krisen nach 1989 ausgelöscht werden: Krise und Austerität werden naturalisiert und normalisiert als etwas, das bestimmten Teilen der Welt innewohnt. Aber sie schleichen sich an, wandern weiter und werden in den Körpern der Migranten akkumuliert. Die Krise klammert sich an den nie abgeschlossenen Prozess des Werdens und der Zugehörigkeit, an die Gesten, Worte und Gesichter, die sich Migranten aneignen, an die Geschmäcker, Lieben und Enttäuschungen und setzt ihn fort.
Nachdem meine Mutter die bulgarische “postkommunistische” Krise aufgesogen hat, trägt sie nun auch die griechische Krise in sich. Sie trägt die Wunden des Verlustes und die Sehnsucht nach einem Ort, der sich reinigen lässt, aber nicht bewohnt wird. Ich denke an Menschen wie meine Mutter, die im Schweiße ihres Angesichts jede Krise aufsaugen und weiterziehen, vergessen und ausgelöscht. Und ich denke an die Amnesie und Ablehnung, die die Geschichte der kapitalistischen Krisen schreibt. Diese Amnesie schreibt Regionen ab, die durch die Ausplünderung des Kapitalismus ruiniert wurden, und schreibt dann die Körper ab, die den Schmerz und die Verzweiflung der Ruinen, die sie hinterlassen, ansammeln.
Ich frage mich, wie viele albanische und bulgarische Herzen den Schmerz der griechischen Krise anderswohin getragen haben, in andere Häuser, die sie putzen, und andere Länder, in denen sie schuften. Und ich frage mich, ob der Schmerz ihrer eigenen Städte, die durch den postkommunistischen Übergang zerstört und ausgeweidet wurden, jemals mit ihrem Schweiß herabgetropft ist und auf den Straßen von Athen eine Spur hinterlassen hat. Und wenn ja, wie würde die Landkarte der Solidarität aussehen, wenn sie die Verluste, Traumata und Hoffnungen des “postsozialistischen” Raums einbeziehen würde?
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Ein Ausblick über Bergisch Gladbach in Richtung Bergisch Gladbach-Herkenrath (Norden), aufgenommen am 12.10.2005 aus dem Marienkrankenhaus Bergisch Gladbach (katholisches Krankenhaus im Stadtzentrum). – Blick über Bergisch Gladbach nach Bergisch Gladbach-Herkenrath (Norden), Aufgenommen am 12.10.2005 aus dem Marienkrankenhaus Bergisch Gladbach.
Von Peter Schwarz – Aktivist Amnesty International
Ich wende mich an die Redaktion von Demokratisch- Links, da Medien in Deutschland schweigen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte zur Geschichte des Bundespräsidialamtes und seines Umgangs mit der Nazivergangenheit leitender Mitarbeiter: »Hinter den Fassaden des Staates liegt vieles noch im dunkeln.«
Ich finde, dass dieses Thema Menschenrechtsverletzungen in Deutschland auf die Agenda der Sondierungsgespräche gehören.
Zwar sind wir schnell dabei, Drittstaaten für Menschenrechtsverletzungen zu Recht anzuprangern, im eigenen Lager schauen wir aber allzu gerne einfach weg. Schrieb der FDP Abgeordnete Kaulitz zur Causa Assange.
Viele Menschen in Deutschland waren so wie ich neben der Verabreichung von Medikamenten über Jahre hinweg psychologischer Folter und systematischer Verfahrensfehler ausgesetzt. Die Betroffene kommen sich vor, als wäre sie in früheren dunkleren Zeiten von Deutschland. Eine Erniedrigung, Entrechtung und Enteignung, obwohl es die Ethik und Moral verletzt.
Wir haben die UN-Behindertenrechtskonvention, das Grundgesetz, Menschenrechte! Aber was nutzen uns die schönsten Gesetze, wenn sich Behörden einfach nicht daranhalten und dies auch keinerlei Folgen für sie hat?
Betroffene finden keine Anwälte, Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof weigert sich Beschwerden anzunehmen bzw. sinnvoll damit zu beschäftigen.
Falsches Medikamentieren in der Psychiatrie | Odyssee – Wissen im SWR
Mediathek zur kompletten Sendung seltsamen Krankheiten auf der Spur ab 29:40 der kompletten SWR Sendung
Anmoderation von Dennis Willms:
In der Psychiatrie ist es oft besonders schwer die richtige Diagnose zu stellen, und die richtigen Therapien anzuwenden. Auch dort werden Anzeichen von Störungen teils nicht erkannt oder falsch gedeutet. Wenn eine psychische Krise durch eine Störung der Gehirnfunktion verursacht wird, dann behandelt man Medikamentös mit Psychopharmaka. Wenn es sich aber nur um eine psychische Ausnahmesituation oder Auffälligkeit handelt, dann reicht vielleicht eine Therapie ohne Medikamente aus.
Wir lernen jetzt Peter Schwarz kennen, bei dem dieser letztere Behutsame Zugang vielleicht völlig gereicht hätte, der aber Opfer einer völlig überzogenen Behandlung mit Psychopharmaka wurde.
Dr. Dr. Schlimme und Dr. Martin Zinkler bestätigten und monierten in diesem Film den Missbrauch in Psychiatrien.
Dr. Jan E. SCHLIMME – Verfasser Berliner Manifest – prangert die Missstände in Psychiatrien an, es werden Medikamente trotz schwerer Nebenwirkungen zu häufig und hoch dosiert zulange gegeben. „In der Psychiatrie wurden in den letzten 10 Jahren unheimlich viel Medikamente verschrieben und es werden immer mehr, obwohl wir wissen, welche Nebenwirkungen diese Medikamente haben. Auch in besonders schweren Krisen ist es wichtig zu wissen, wenn ich Medikamente einsetze, dass diese zunächst einmal hilft, dass ich das aber nicht auf Dauer für die nächsten Jahre machen kann und das muss ich dem demjenigen auch vermitteln; als Behandler muss ich darauf achten, dass die Medikamente auch wieder reduziert und möglicherweise auch ganz herausgenommen werden.
Es kommt viel häufiger vor als wir wissen.
Der Fall ist für ihn, ein Fall für zu viel Medizin in der Psychiatrie
Moderator Willms: Eins ist klar, man muss die richtige Diagnose. Nur dann kann ein Patient auch richtig therapiert werden.
Die Psychiatrie in Heidenheim bekam eine lobende Erwähnung in 2021 durch die Weltgesundheitsorganisation. Dr. Martin Zinkler verhalf mir in 2018 aus der Falle. Er hatte in meinem Fall Haltung und Rückgrat bewiesen. Er erhielt im Mai 2021eine lobende Erwähnung seiner Einrichtung durch die Weltgesundheitsorganisation. Die WHO hatte am 10. Juni neue Leitlinien für die weltweite psychosoziale Versorgung veröffentlicht, es wurden 50 beispielhafte Einrichtungen genannt. Nur eine davon liegt in Deutschland und es war die psychiatrische Klinik in Heidenheim.
Bundestagsabgeordnete der Grünen Rüffer schilderte es in ihrer Rede November 2020 im deutschen Bundestag:
„Der Genfer Fachausschuss, der über die Umsetzung der Menschenrechts Konvention in den Mitgliedstaaten wacht, fordert eindeutig, alle Formen der ersetzenden Entscheidung abzuschaffen und ein System der unterstützenden Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen.“
Ich vermisse die Handlungen und Taten, wenn im Bundestag über derartige Praktiken öffentlich gesprochen wurde. Wir haben die UN-Behindertenrechtskonvention, das Grundgesetz, Menschenrechte! Aber was nutzen uns die schönsten Gesetze, wenn sich Behörden einfach nicht daranhalten und dies auch keinerlei Folgen für sie hat? Schön und gut, dass mir MdB Birkwald eine schöne Antwort zuschickt, und das war`s dann?
Wer schweigt und wegsieht macht mit!
Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist dem Grundgesetz verpflichtet, sowie – als UN-Mitglied – der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, aber was nutzen Gesetze, wenn sie nicht eiungehalten werden.
Missbrauch verursacht neben all dem menschlichen Leid auch große finanzielle Mittel, sowohl aus den Sozialkassen wie auch Steuergelder.
Sie, als zukünftige Regierungsmitglieder, sind doch – wie jede/r Einzelne von uns- als demokratisch gesinnter Mensch und aus humanistischer Gesinnung heraus- verpflichtet gegen Verbrechen der Menschlichkeit aufzustehen und aktiv zu sein!
Ich hoffe, dass sich die neue Bundesregierung stark für die Einhaltungen von Rechtsstaatlichkeiten einsetzt und Menschenrechtsverletzungen nicht nur weltweit ahndet – auch in Deutschland! Die Einhaltung der UN- Behindertenrechtskonvention bitte auf die Agenda der Sondierungsgespräche setzen!
Antworten von Frau Bärbock und Herr Lindner und verschiedene Aussagen von Ärzten und einem Bundestagsabgeordneten der Linksfraktion
File:Charleroi – station Janson – Les psy – 01.jpg
Created: 11 July 2015
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Unten — Estocada of delirium. Oil on canvas. 31.5 x 39.37 inches. (January 2013).Pictorial Virtualism. Estocada de delirio. Óleo sobre lienzo. 80 cm x 100 cm. (Enero 2013).Virtualismo Pictórico.
CDU und CSU sind in einem so desolaten Zustand, dass sie keinesfalls regieren sollten. Eine Erneuerung steht an – aber bitte in der Opposition.
Es ist ein wahres Trauerspiel, das die Union seit Sonntagabend aufführt. Kanzlerkandidat Armin Laschet klammert sich verzweifelt an die Hoffnung auf eine Jamaika-Koalition, um seine politische Karriere zu retten. CSU-Chef Markus Söder demontiert Laschet, was das Zeug hält. Und im Hintergrund laufen sich die Spahns, Röttgens und Merzens bereits warm, um die CDU zu übernehmen. Es hat etwas Selbstzerstörerisches, was da gerade zu beobachten ist.
Dabei wird jeden Tag klarer: Die Union gehört in die Opposition. Sie hat die Bundestagswahl verloren, die SPD liegt anderthalb Prozentpunkte vorne und hat deutlich zugelegt, CDU und CSU dagegen sind eingebrochen. Und der übergroße Teil der Bevölkerung will Laschet laut Umfragen nicht als Kanzler.
Natürlich kann grundsätzlich auch der Zweitplatzierte den Kanzler stellen; bei Brandt (1969) und Schmidt (1976 und 1980) war das der Fall. Aber die Union ist in so schlechter Verfassung, dass man ihr die Geschicke dieses Landes schon allein deshalb nicht anvertrauen mag. Seitdem Angela Merkel ihren Abschied angekündigt an, kreist die CDU um sich selbst. Das Kanzleramt aber ist nicht der richtige Platz für eine Selbsthilfegruppe.
Nach 16 Jahren Kanzlerschaft ist die CDU, wie der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher es nennt, eine „erschöpfte Partei“. Sie ist personell in desolatem Zustand, auch wenn es in der Generation nach Merkel und Laschet Talente wie Jens Spahn oder Daniel Günther gibt. Inhaltlich ist die CDU ausgehöhlt und gespalten, zuletzt haben das zwei Wahlen zum Parteivorsitz, die eigentlich 50:50 ausgingen, und die brutale Auseinandersetzung um die Kanzlerkandidatur deutlich gezeigt. Im Wahlkampf hat die CDU kein Thema gefunden, am Ende zauberte sie verzweifelt eine Rote-Socken-Kampagne hervor, um zumindest die Kernklientel zu mobilisieren.
Die Späne einer Verzwergten CDU
Nun ist durchaus möglich, dass die CDU in der Opposition nach rechts rückt und sich vielleicht auch im Zusammenspiel mit der AfD radikalisiert. Während etwas mehr konservatives Profil nicht Union nach Merkelschaden würde, weil es die Unterschiede zwischen den Parteien klarer macht, politischen Disput entfacht und damit der Demokratie eher nutzt als schadet, wäre ein anderer Weg gefährlich: das Abbiegen auf einen populistischen Kurs oder gar eine Annäherung an die AfD.
Dagegen sprechen zwei Ergebnisse des Wahlabends: Zum einen hat Hans-Georg Maaßen, der Ex-Verfassungsschutzchef und CDU-Rechtsaußen, den Kampf um ein Direktmandat in Südthüringen deutlich verloren und damit gezeigt, dass ein Anbiederungskurs an die AfD für die CDU nicht erfolgreich ist. Zum anderen wurde wieder einmal klar, dass die Bundestagswahl in der Mitte gewonnen wird. Die Union hat auch deshalb so derbe verloren, weil sich Wähler:innen, die Merkel neu an die CDU gebunden hatte, von dieser abwandten. Und sie orientierten sich in der großen Mehrheit eben nicht nach rechts, sondern votierten für SPD und die Grünen.
Hatte hier ein Huhn gegackert als Snowden in Russland Asyl fand ?
Von Barbara Oertel
Viel zu wenig unternimmt Europa gegen die Menschenrechtsverletzungen in Belarus. Nun droht auch noch die schleichende Eingemeindung durch Russland.
Die gängige Redewendung in Belarus: „Wer nicht gesessen hat, ist kein/e Belarusse/in“, beschreibt sehr treffend die Tragödie, die sich direkt vor der Haustür der EU abspielt. Innerhalb eines Jahres und damit seit dem 9. August 2020, dem Tag der gefälschten Präsidentenwahl, hat Staatschef Alexander Lukaschenko die einstige Sowjetrepublik in ein großes Gefängnis verwandelt.
Jüngstes Beispiel für seinen perfiden Rachefeldzug gegen Kritiker*innen ist das Urteil gegen Maria Kolesnikowa vom Montag dieser Woche. Elf Jahre soll die bekannte Oppositionspolitikerin in einem Straflager absitzen. Planung eines Umsturzes und Extremismus lauten die abstrusen Vorwürfe, die zum Synonym für die tatsächliche oder vermeintliche Beteiligung an Protesten geworden sind und dafür herhalten müssen, unbequeme Geister hinter Gitter zu bringen.
Die belarussische Menschenrechtsorganisation Wjasna listet 659 politische Gefangene. Und täglich werden es mehr
Dass es erst dieser drakonischen Haftstrafe für eine Prominente bedurfte, um die Causa Belarus kurzzeitig wieder auf die Tagesordnung zu setzen, spricht Bände. Denn Kolesnikowa ist „nur“ ein Fall von vielen. 659 politische Gefangene sind derzeit bei der belarussischen Menschenrechtsorganisation Wjasna (Frühling) gelistet, und täglich werden es mehr.
Doch die Qualen und die Pein all dieser mutigen Menschen, die gefoltert, gebrochen und ihrer Würde beraubt werden, ist nicht einmal mehr eine Kurzmeldung wert. Hinzu kommen noch all jene Belaruss*innen, die im Ausland Zuflucht gesucht haben und dort einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Der Westen hat wiederholt Sanktionen gegen Belarus verhängt – der schärfste Pfeil im Köcher.
Lukaschenko zu Putins Füßen
Und es mangelt auch nicht an Solidaritätsbekundungen – wie in dieser Woche zahlreichen Statements von Politiker*innen, auch in Deutschland, zu entnehmen war. Zweifellos: Die Forderung nach einer sofortigen Freilassung aller politischen Gefangenen ist die einzig richtige. Sie dürfte jedoch in Minsk ungehört verhallen und in Deutschland im allgemeinen Wahlkampfgetümmel untergehen. Außenpolitik war noch nie ein entscheidendes Feld, um bei Wähler*innen zu punkten.
Und Belarus ist derzeit vor allem dann ein Thema, wenn es darum geht, sich vor Geflüchteten, die Lukaschenko an der EU-Außengrenze in konzertierten Aktionen „abkippen“ lässt, zu schützen. So wird Europa schwersten Menschenrechtsverletzungen in Belarus wohl auch weiterhin tatenlos zusehen. Parallel dazu vollzieht sich eine Entwicklung, die scheinbar kaum noch aufzuhalten ist und die Belaruss*innen zu „Gefangenen zwischen zwei Diktaturen“ macht, wie die britische Times anmerkte.
wir möchten fragen, wann denn nun Herr Steinmeier und Frau Merkel mit der gewohnt theatralischen Leichenbittermiene etwas zu den Impfopfer und Impftoten in Deutschland sagen werden?
Wo ist die Trauerveranstaltung?
Genauso sollte man fragen, warum die tödlichen Folgen der Impfungen von den Aluhutträgern und Verharmlosern in den öffentlich-rechtlichen Medien weiterhin verschwiegen und unter den Teppich gekehrt werden?
Gerade mal 4 Monate und schon liegt das Ergebnis der Obduktion vor. Offensichtlich hat man keinen Grund zu Eile gesehen. Der Altersmedian der mit einem positiven SARS-CoV2 Test Verstorbenen in Deutschland betrug durchgehend und beträgt weiterhin 84 Jahre. Dem stehen nun Tote nach Impfung im Alter von 44 Jahren gegenüber.
Diese Menschen wurden geopfert. Wo sind die Orden für den Einsatz des Lebens und der Gesundheit für die Gemeinschaft? Wo sind die Preise und Ehrungen?
Der Einsatz des Lebens zum mutmaßlichen Schutz der Allgemeinheit wäre so oder so vergebens gewesen, denn Viren gedeihen auf der Rachenschleimhaut mit oder ohne Impfung gleich gut. Mit der eigenen Impfung schützt man niemand anderen.
Die Dunkelziffer der Impfopfer dürfte wesentlich höher liegen.
“Mehr als 40 Menschen habe man bereits obduziert, die binnen zwei Wochen nach einer Impfung gestorben sind. Schirmacher geht davon aus, dass 30 bis 40 Prozent davon an der Impfung gestorben sind. Die Häufigkeit tödlicher Impffolgen wird aus seiner Sicht unterschätzt – eine politisch brisante Aussage in Zeiten, in denen die Impfkampagne an Fahrt verliert, die Delta-Variante sich rasant ausbreitet und Einschränkungen von Nichtgeimpften diskutiert werden.“
Wo sind die Talkrunden bei Will, Maischberger, Lanz und Illner zu diesen Opfern? Wo sind die Titelseiten von FAZ und SZ? Wo ist der Bericht in der Tagesschau oder dem Heute Journal?
Da ist nichts. Es gibt nicht einmal eine Forderung nach mehr Klarheit und Transparenz. Zu groß ist die Angst, als unwissenschaftlicher Skeptiker gebrandmarkt zu werden. Aber es ist keine Wissenschaft, Tatsachen in diesem Ausmaß zu übersehen. Bloß keine Diskussion aufkommen lassen, weder zu den „High-Tech“ PCR Tests mit denen vollkommen symptomfreie Menschen als krank definiert werden, noch zu den neuen „High-End“ Impfstoffen, die niemals wirklich getestet worden sind und das wohl auch nicht mehr werden. Das ist die Strategie.
Es gab keine Diskussion zu der Erstimpfung, keine zu der Zweitimpfung und es wird auch keine Diskussion zu den jetzt startenden Drittimpfung geben. Was war nochmal der Grund, warum die STIKO nach einer Astra-Zeneca Erstimpfung die Zweitimpfung mit einem anderen Impfstoff empfohlen hat?
Inzwischen wird Astra-Zeneca nur noch für Menschen über 60 Jahren empfohlen. Sind die entbehrlich? Nicht einmal dazu gab es eine öffentliche Diskussion. Inzwischen laufen in vielen Bundesländern die 3. Impfungen „zur Auffrischung“ an. Das wird beliebig so weitergehen und damit verbunden auch 3G und zukünftig 2G, so wie derzeit schon in Hamburg. Das wird so bleiben,
„Nordrhein-Westfalen startet die sogenannten Auffrischungsimpfungen für bestimmte Gruppen, die vor mehr als 6 Monaten geimpft wurden. Zunächst können sich die über 80-Jährigen an ihre Hausärztin oder ihren Hausarzt wenden.
Auch in anderen Bundesländern wie Bayern, Hessen, Bremen, Berlin und Brandenburg sind die Planungen für die Auffrischungsimpfungen angelaufen.“
Es gibt inzwischen zu allen 4 in Deutschland zu gelassenen Impfstoffen Rote-Hand Briefe. Wann wäre das jemals in den öffentlich-rechtlichen Medien thematisiert worden? Und diese insgesamt 8 Rote-Hand Briefe beschreiben nur, was die Hersteller gezwungenermaßen zugeben mußten.
Aber kein Wort von Steinmeier, Merkel, Söder, Spahn & Co. oder den patentierten Berufsethikern in ihren Räten, einschließlich der Kirchenvertreter, den Fernsehärzten, den Intensivlügnern, den Edelschreibern in den Altmedien, den Vorzeigejuristen in dunkelbrauner Robe oder dem Rest der deutschen Pseudoelite.
Das ist der Sachverhalt. Mit dem Dominanzgebaren von Halbstarken und zur eigenen Glorifizierung hetzt man inzwischen die Menschen gegeneinander auf. Man übertrumpft sich gegenseitig in der Einschüchterung, Gängelung und Bevormundung der Bevölkerung. Täglich gibt es neue Ideen, wie man die Menschen zum medizinischen Eingriff zwingt, aber immer mit dem Nachsatz, es gäbe keinen Impfzwang.
Die deutschen Eliten, vor allem die deutschen Juristen, haben zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahrzehnte auf der ganzen Linie versagt. Gerade bei den Juristen ist es besonders bitter. Bis zum gesunden Volkskörper ist es nicht mehr weit. Karl Larenz läßt grüßen,
Karl Larenz, „Rechtsperson und Subjektives Recht – zur Wandlung der Rechtsgrundbegriffe“, Georg Dahm, Ernst Rudolf Huber, Karl Larenz, Karl Michaelis, Friedrich Schaffstein, Wolfgang Siebert (Hrsg.) Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft. Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin 1935, S. 241.
„Nicht als Individuum, als Mensch schlechthin oder als Träger einer abstrakt-allgemeinen Vernunft habe ich Rechte und Pflichten und die Möglichkeit, Rechtsverhältnisse zu gestalten, sondern als Glied einer sich im Recht ihre Lebensform gebenden Gemeinschaft, der Volksgemeinschaft. Nur als in Gemeinschaft lebendes Wesen, als Volksgenosse ist der Einzelne eine konkrete Persönlichkeit. Nur als Glied der Volksgemeinschaft hat er seine Ehre, genießt er Achtung als Rechtsgenosse. Rechtsgenosse zu sein, das heißt im Recht zu leben und eine bestimmte Gliedstellung auszufüllen, ist also ein Vorrecht des Volksgenossen. Es ist, wenn man so will, eine besondere Qualität nicht des Menschen schlechthin, sondern des Volksgenossen. Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist. Dieser Satz könnte an Stelle des die Rechtsfähigkeit ‚jedes Menschen‘ aussprechenden §1 BGB an die Spitze unserer Rechtsordnung gestellt werden.“
„Wer außerhalb der Volksgemeinschaft steht, steht auch nicht im Recht, ist nicht Rechtsgenosse.“
„Wir müssen uns jenes abstrakte Entweder-Oder abgewöhnen, nach dem ein Mensch entweder nur Person und Subjekt oder nur Objekt des Rechts sein kann. Der Nichtrechtsgenosse ist Rechtssubjekt, er genießt eine beschränkte Rechtsfähigkeit, die ihm von der Volksgemeinschaft als Rechtsgemeinschaft in bestimmtem Umfange zugestanden wird. Er ist aber nicht, wie der Volksgenosse, kraft seiner Geburt dazu bestimmt, der Gemeinschaft anzugehören, in ihrem Recht zu leben. Er ist, auch soweit ihm Rechtsfähigkeit zugestanden wird, doch nicht Mitträger jenes gemeinschaftlichen Lebens, durch dessen immer erneuten Vollzug sich das Recht als Gemeinschaftsordnung bildet und erhält.“
Da sind wir inzwischen wieder. Nur wer seine Gesundheit gegen eine pauschale Krankheitsvermutung nachweisen kann, genießt derzeit uneingeschränkten Grundrechtsschutz, wobei mit (Auffrischungs)Impfung die Gesundheit unterstellt wird. Die vielen Rechtsgelehrten, die sich für einen indirekten oder direkten Impfzwang aussprechen, befinden sich auf einer direkten Linie mit Karl Larenz. Es rächt sich erneut, dass man nach 1945 nie ernsthaft darangegangen ist, die Beiträge der Juristen zum Nationalsozialismus aufzuarbeiten.
Und der uneingeschränkte Grundrechtsschutz ist bedingungsbehaftet mit einem Russischen Roulette. Einige wird es eben treffen und die müssen sich halt opfern. Und das bei fehlendem Schutz für Dritte. Es ist ein perverses Menschenbild, das sich hier bei den deutschen Eliten offenbart. Ein Mensch, der nur noch dann ein vollwertiger Mensch ist, wenn er sich den von einer Handvoll von sogenannten „Experten“ diktierten Wohlverhaltensregeln unterwirft. Eine individuelle Entscheidung des Einzelnen, selbstbestimmt über seine Gesundheit zu entscheiden und selbst zu entscheiden, ob er sich einem Impfrisiko aussetzen möchte oder nicht, gibt es nicht mehr.
Kein Individuum mehr, sondern die Gleichschaltung. Die Menschenverachtung mit der man bei der Gleichschaltung vorgeht, die Opfer, die man glaubt unter den Tisch fallen lassen zu dürfen, das sind die Kennzeichen des Faschismus. Der Wert des Lebens ist relativiert und dem „großen Ziel“ nachgeordnet. Hier, bei COVID-19, in einer weiteren Pervertierung, opfert man Menschen für das „große Ziel“ der Gesundheit anderer, ohne jemals nachgewiesen zu haben, dass das Opfer irgendetwas dazu beiträgt.
Wer geglaubt hat, der neue Faschismus käme im braunen Hemd daher, wird jetzt eines besseren belehrt. Er kommt unter der Flagge der Solidarität. Wer nicht mitmacht, ist unsolidarisch und wird ausgegrenzt und verfolgt. Eine Justizministerin Lambrecht kann sich das verfassungsrechtlich (noch) verbotene 2G sehr gut über die Hilfskrücke des Privatrechts und des Hausrechts von Arbeitgebern und Gaststätten vorstellen, ein Herr Brinkhaus, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, kann sich eine Impfflicht für bestimmte Berufsgruppen vorstellen.
Nach einem unzureichend erprobten medizinischen Eingriff gab es Tote. Die Damen und Herren, die dafür verantwortlich sind, werden sich verantworten müssen. Genauso jeder, der dazu beigeholfen hat. So ist das in einem Rechtsstaat.
Die Autorenschaft wurde nicht in einer maschinell lesbaren Form angegeben. Es wird Nina als Autor angenommen (basierend auf den Rechteinhaber-Angaben). – Die Autorenschaft wurde nicht in einer maschinell lesbaren Form angegeben. Es wird angenommen, dass es sich um ein eigenes Werk handelt (basierend auf den Rechteinhaber-Angaben).
Paul-Ehrlich-Institut in Langen, Germany, Oktober 2006
Was seit Anfang 2020 mit eingängigen Medienchiffren Pandemie, Corona, Covid 19, ? -Variante oder wie auch immer sonst bezeichnet wurde ist in den sozialwissenschaftlich relevanten Aspekten, Dimensionen und Folgen vor allem offensichtlich ein in westlich-spätbürgerlichen Gesellschaften in dieser Form bisher nicht gekannter Konformitätsschub.1) Und untergründig ein bisher nicht vorstellbarer tiefgreifender Prozess der Entgesellschaftlichung. Der auch Soziozid genannt werden kann. Weil er Gesellschaft2), verstanden als Prozess der Notwendigkeit des Umgangs von Menschen miteinander, meint. Oder in der einzig mir bekannten öffentlichen Begriffsbestimmung:
„Sociocide can be defined as any act of a person or persons which adversely impacts upon a society or culture to a negative degree. Generally determined to be a direct result of a lack of proper, responsible parental guidance during formative years, sociocide is akin to genocide enacted against a race or ethnic culture, save that sociocide is any act which adversely impacts any given societal culture, regardless of span or ethnic divide.“3)
Freilich sind auch in Deutschland alle seuchenpolitischen Maßnahmen wie auch ihre bisherigen, bis heute andauernden und größtenteils soziozidalen Repressionsmaßnahmen nicht voraussetzungslos: politisch hauptverantwortlich für die Entwicklung seit Anfang 2020 war und ist die Bundeskanzlerin als seit Herbst 2005 amtierende Regierungschefin. Sie erklärte öffentlich auf der Pressekonferenz am 21. 2. 2021 nach der G-7-Konferenz: „daß die Pandemie erst besiegt ist, wenn alle Menschen auf der Welt geimpft sind.“4) Merkel offenbarte damit ihre ideologische Grundposition als neototalitär-globalistische Allmachtsphantasie.
Die sozioziale Ideologie der aktuellen Pandemie wurde Anfang 2020 durch die Weltgesundheitsorganisation WHO am 12. 3. 2020 propagiert.5) Und namentlich von Merkel und ihrem hyperaparten Kabinett mit den Ministern Spahn (CDU, Gesundheit), Altmeier (CDU, Wirtschaft) und Seehofer (CSU, Inneres) an der Spitze angenommen, umgesetzt und am 28. 3. 2020 im „Infektionsschutzgesetz“ als epidemische Lage von nationaler Tragweite, die angeblich „uns alle“ und bis heute bedrohen soll, in angstverstärkender und panikerzeugender Weise bürger(rechts)feindlich festgeschrieben.
Was die politisch Verantwortliche dieser Lage betrifft, so sind zwei diesen Ereignissen vorgelagerte Sachverhalte wichtig: Erstens im allgemeinen die jahrelange Untätigkeit: ein vor dieser Entwicklung warnender Bericht zur Risikoanalye im Bevölkerungsschutz wurde am 3. 1. 2013 als Bundestagsdrucksache veröffentlicht.6) Zweitens erklärte Merkel in ihrer Rede auf der virtuellen Davos-Konferenz am 26. 1. 2021 zum Komplex Impfen, Impfen, Impfen im speziellen: „Heute vor einem Jahrwar noch nicht allen klar, dass wir in einer Pandemie leben werden, aber manche haben es schon gewusst oder geahnt. Dazu gehörte […] der Chef von BioNTech, der mir erzählt hat, dass er am 24. 01. 2020die Entscheidung gefällt hat, das gesamte BioNTech -Forschungsprogramm umzuwerfen, um einen mRNA-Impfstoff […] zu entwickeln.“7)
Eine Herdengemeinschaft wartet auf die Bisse der politischen Raubtiere
Bei der 2020/21 virulenten und keineswegs nur Virologen, Epidemiologen, Immunologen und sonstige angebliche oder wirkliche Krankheitskenner beschäftigenden Seuche nebst bisherigen seuchenpolitischen Maßnahmen und ihren gesellschaftlichen Folgen handelt es sich um den bewußten Versuch, Gesellschaft(en) und das immer schon auf Austausch und Verkehr ihrer Mitglieder beruhende Zusammenleben nachhaltig, wirksam und dauerhaft zu verletzten und in der Konsequenz letztendlich zu zerstören. Insofern wird, auch in zitierter Begriffsbestimmung von Soziozid, der Zusammenhang zum bisher weltweit destruktivsten Menschheitsereignis der Neuzeit, Genozid oder Völkermord, deutlich. Wobei als Besonderheit etwas, das jeder (Allgemein-) Mediziner kennt, nämlich die Verstärkung von Krankheit und Leid durch falsche Therapie, auffällt: die staatlich beanspruchte human(istisch)e Politik des Leben retten (saving lives) verkehrt sich, im Sinne des US-amerikanischen Genozidforschers Irving Horowitz8), ins Gegenteil: in das soziale Faktum des destruktiven Leben nehmen (taking lives).
1 Zur Kritik s. Lewis A. Coser, Über die Tugenden des Nonkonformismus in der Soziologie; in: Berliner Journal für Soziologie. Sonderheft 1991: 9-14; sowie die Hinweise von Richard Albrecht https://soziologisch.wordpress.com/2012/03/03/die-tugenden-des-nonkonformismus/ [alle Links bei Manuskriptabschluß am 14. Juli 2021 überprüft]
8 Irving Louis Horowitz, Taking Lives. Genocide & state power. New Brunswick ³1980; vgl. Richard Albrecht, “Leben retten”: Irving Louis Horowitz´ politische Soziologie des Genozid, in: Aufklärung & Kritik, 14 (2007) I: 139-141
Der Autor ist Sozialwissenschaftler mit einem Arbeitsschwerpunkt kulturanalytische Sozialpsychologie in Bad Münstereifel; ePost -> eingreifendes.denken@gmx.net; s. auch seine thematisch bezogenen Kolumnen im Fachjournal soziologie heute: MUCH ADO ABOUT FEW: Covid19-Virus – Pandemie – Coronakrise. Von der Definitionsmacht zum Risikoparadox, 71/2020: 46; ADIOS COMPANEROS oder Wird alles gut? 72/2020: 46; EINE FESTUNG DER ENGSTIRNIGKEIT. Wissenschaft in postmodern(istisch)en Zeiten, 74/2020: 43; dieser Text ist der gekürzte erste Teil des Autorenbeitrags: DIE GESELLSCHAFTLICHEN TUGENDEN DES NONKONFORMISMUS. Aktualisierte Erinnerung an einen Text von Lewis Coser 1991; in: soziologie heute, 78/2021: 34-36.
(c)Autor (2021)
Urheberecht
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Die FAO bestätigt die Befürchtungen: Die Covid-19-Pandemie hat nicht zu mehr Solidarität geführt, sondern zu mehr Hunger.
Aufgrund etlicher internationaler Untersuchungen vermeldet die UNO, dass sich die Zahl der hungernden und unterernährten Menschen im Covid-19-Jahr 2020 auf über 800 Millionen erhöht hat – rund zehn Prozent der ganzen Erdbevölkerung. Darunter sind vor allem auch viele Kinder.
«Bereits Mitte der 2010er Jahre begann der Hunger schleichend anzusteigen und zerstörte die Hoffnung auf einen definitiven Rückgang. Beunruhigenderweise stieg der Hunger im Jahr 2020 sowohl absolut als auch proportional an und übertraf damit das Bevölkerungswachstum: Schätzungsweise 9,9 Prozent aller Menschen waren im vergangenen Jahr unterernährt, im Jahr 2019 waren es noch 8,4 Prozent.
Mehr als die Hälfte aller unterernährten Menschen leben in Asien (418 Millionen), mehr als ein Drittel in Afrika (282 Millionen) und ein kleinerer Anteil in Lateinamerika und der Karibik (60 Millionen). Der stärkste Anstieg des Hungers fand jedoch in Afrika statt, wo das geschätzte Ausmass der Unterernährung mit 21 Prozent der Bevölkerung mehr als doppelt so hoch ist wie in jeder anderen Region.»
Diese von der UNO gemachten Angaben sind nicht aus der Luft gegriffen. An den Untersuchungen und Schätzungen waren die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD), das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), das UN-Welternährungsprogramm (WFP) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beteiligt. Und der Vergleich mit den Jahren zuvor zeigt, dass das Covid-19-Jahr die Situation deutlich verschlimmert hat.
«Ganze drei Milliarden Erwachsene und Kinder blieben von gesunder Ernährung ausgeschlossen, grösstenteils aufgrund zu hoher Kosten. Fast ein Drittel der Frauen im gebärfähigen Alter leidet an Anämie. Trotz Fortschritten in einigen Bereichen – zum Beispiel werden mehr Säuglinge ausschliesslich mit Muttermilch ernährt – ist die Welt weit davon entfernt, das Ziel, bis im Jahr 2030 den Hunger aus der Welt zu schaffen, noch zu erreichen.»
Auch in Europa gibt es Hungernde
Wer die Zahlen der UNO genau liest, sieht, dass es auch in Europa Hungernde gibt: zum Beispiel in der Ukraine. Es wird davon ausgegangen, dass in der Ukraine zehn Prozent der Bevölkerung nicht ausreichend ernährt sind und dass die Unterernährung bei den Kindern unter fünf Jahren sogar bei etwa 30 Prozent liegt.
Dass die reichen Länder im Covid-19-Jahr 2020 mehr Hilfsgelder für die Entwicklungsländer ausgegeben haben als in den vorhergehenden Jahren, darf positiv zur Kenntnis genommen werden. Die Regierungen haben gemäss Aussage von OECD-Generalsekretär Angel Gurría im Zusammenhang mit Covid-19 weltweit Wirtschaftshilfen in Höhe von rund 16 Billionen Dollar bewilligt (16’000’000’000 Dollar). Allerdings, so Angel Gurría, wurde nur ein Prozent dieses Betrags (!) dafür eingesetzt, um Entwicklungsländern in der Krise zu helfen. Der grösste Teil der Wirtschaftshilfen der reichen Länder ging an Industrie- und Gewerbebetriebe im eigenen Land – in der Schweiz in Form von Beiträgen an Betriebe mit Kurzarbeit sogar an Firmen, die gleichzeitig gutes Geld verdienten und ihren Aktionären Dividenden in Millionenhöhe auszahlten.
Auch Kriege und Bürgerkriege verursachen Hunger
Zum Aufmacherbild oben – es stammt aus Jemen – schreibt die US-Journalistin Caitlin Johnstone: «Ein grosser Teil des Problems mit dem Hunger in Jemen ist, dass die Fotos von hungernden Kindern zu oft mit ‹Oje! Seht mal, wie traurig!› überschrieben werden. Richtig wäre: ‹Eure Regierung (gemeint sind die USA, Red.) ist daran beteiligt – und das mit Absicht!›»
Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.
Oben — Annie, 22, came to Kibati two weeks ago with her husband and three children. Her youngest is just three months old. Annie points to the cloth and dried grass she is sitting on in the middle of the expanding camp: “This is where we sleep. I do not feel safe at all. I am scared that the rebels will come here and then what will happen to us?” Photo: Marie Cacace/Oxfam
File:Annie- „I am scared the rebels will come here“ (7831364288).jpg
Created: 21 August 2012
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Unten — Inflation has risen even further over the past few months in South Sudan. Cash has become even more vital as as food and commodity prices continue to soar across South Sudan’s markets, pushing more people into poverty. Photo: Dauda Koroma / Oxfam
Mit 572 Geretteten an Bord wartet die Ocean Viking seit Montagfrüh auf einen sicheren Ort für die entkräfteten und vielfach verzweifelten Menschen. Luisa Albera, Such- und Rettungskoordinatorin auf dem Rettungsschiff von SOS MEDITERRANEE, der Ocean Viking ist entsetzt, dass die 572 geretteten Menschen so lange an Bord auf einen Hafen warten müssen:
„Die Situation an Bord der Ocean Viking ist unvorstellbar und verschlechtert sich von Stunde zu Stunde. Die Anspannung und Erschöpfung an Bord der Ocean Viking sind auf dem Höhepunkt. Es gibt jetzt keine Zeit für Diskussionen hinter verschlossenen Türen. Es muss sofort eine Lösung gefunden und ein sicherer Ort für die 572 Überlebenden an Bord zugewiesen werden“, betont Albera. „Obwohl die Ocean Viking fünf Mal bei den zuständigen Seebehörden um einen sicheren Hafen gebeten hat, erhalten wir keinerlei Informationen. Die Geretteten auf dem Deck sind schutzlos der Sonne und dem Wellengang ausgesetzt. Die Situation ist menschenunwürdig!“, sagt Albera.
Die psychische Belastung der Menschen stellt eine Notlage dar
„Gestern Abend sprang ein Mann in akuter psychischer Not über Bord. Er begründete seine verzweifelte Handlung damit, dass er „die Ungewissheit nicht mehr habe ertragen können“. Die medizinischen und pflegerischen Teams beobachten eine Zunahme der psychischen Belastung und Erschöpfung bei den Frauen, Kindern und Männern an Bord“, erklärt Luisa Albera. „Einer der beiden Minderjährigen mit Behinderungen zeigt Anzeichen zunehmender körperlicher Versteifung und musste nachts in die Bordklinik gebracht werden. Für auf See gerettete Menschen ist ein Schiff per Definition nur ein temporäres Transportmittel zu einem sicheren Ort. Menschen über einen längeren Zeitraum auf einem Schiff festzuhalten, nachdem sie gerade eine Nahtoderfahrung auf See hinter sich haben, belastet sie zusätzlich unnötig.“
Die abgepackten Essensrationen gehen aus, das Wetter verschlechtert sich
„Morgen gehen uns die abgepackten Tagesrationen aus und wir werden anschließend nicht in der Lage sein, alle Geretteten angemessen zur ernähren“, erklärt die Rettungskoordinatorin Albera. „Mit 572 geretteten Menschen, die das gesamte Achterdeck der Ocean Viking ausfüllen, wird die Versorgung äußerst schwierig. Die Zubereitung von gekochten Mahlzeiten würde zu lange dauern, um den Bedarf aller zu decken, und die Verteilung wäre zu kompliziert, da sich die Menschen kaum auf dem Schiff bewegen können. Zudem verschlechtert sich morgen auch noch das Wetter. Wenn bis heute Abend keine Lösung gefunden wird, werden wir mit der Ocean Viking morgen östlich von Sizilien Schutz suchen müssen.“
Die Menschen brauchen sofort einen Hafen an einem sicheren Ort
„Es ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, Menschen, die auf See gerettet werden, schnell einen sicheren Ort zu bieten, sondern auch eine gesetzliche Pflicht. Wir rufen die europäischen Mitgliedsstaaten auf, Solidarität zu zeigen und die Küstenstaaten zu unterstützen. Die Seebehörden können uns alle nicht länger in dieser unzumutbaren Lage lassen. Es muss sofort eine Lösung gefunden werden“, betont Luisa Albera.
Chronologie der Ereignisse:
01. Juli: Die Crew der Ocean Viking sichtet im maltesischen Rettungsgebiet zwei Holzboote in Seenot. 44 Menschen können gerettet werden, darunter fünf Frauen, eine davon schwanger sowie 15 Minderjährige. Die libysche Küstenwache ist während der ersten Rettung in Sichtweite. Die zivilen Aufklärungsflugzeuge Seabird und Colibri 2 haben die Crew der Ocean Viking zuvor über die zwei Seenotfälle informiert.
02. Juli: Die Crew der Ocean Viking stellt bei den zuständigen Seebehörden auf Malta eine Anfrage nach einem sicheren Hafen für die Geretteten, welche abgelehnt wird. Am selben Tag bezeugt die Crew, wie zwei Boote durch die libysche Küstenwache abgefangen und zurück nach Libyen gebracht werden.
03. Juli: Die Crew sichtet zwei weitere Boote. Diese sind jedoch leer, die Insassen wurden offenbar durch die libysche Küstenwache abgefangen. Ein drittes Boot, über das Alarm Phone informiert hatte, wird am selben Tag noch gefunden. Die 21 Überlebenden werden durch das Rettungsteam an Bord geholt.
04. Juli: Ein vierter Einsatz erfolgt im Morgengrauen in der maltesischen Rettungszone. 67 Menschen werden von einem überbesetzten Boot gerettet, dass zu kentern droht. Am Nachmittag wiederholt sich das Szenario: Weitere 71 Menschen können von einem Boot in Seenot sicher auf die Ocean Viking gebracht werden. Vier entkräftete Menschen müssen mit einer Trage gerettet werden.
04./05. Juli: In der Nacht vom 04. auf den 05. Juli entdeckt die Crew der Ocean Viking in der libyschen Such- und Rettungszone ein riesiges, stark überbesetztes Holzboot, dass zu kentern droht. In einem fünfstündigen Rettungseinsatz bringt das SOS-Team 369 Menschen sicher auf das Schiff. Insgesamt 572 Gerettete befinden sich seither an Bord der Ocean Viking und benötigen immer dringender einen sicheren Hafen, wie es das Seerecht vorschreibt.
Urheberecht
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File:Ocean viking anchored by volfegan-d42atrf.jpg
Erstellt: 1. Januar 2011
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Unten — Während der von Frontex geführten Operation Triton im südlichen Mittelmeer rettet das irische Flaggschiff LÉ Eithne Menschen von einem überfüllten Boot, 15. Juni 2015
Ein Corona-Comeback droht, doch die Politik hat keine Ideen für Schulen. Gut situierte Menschen sollten die Zukunft jetzt selbst in die Hand nehmen. Ein Aufruf.
Liebe reiche Menschen (alle anderen dürfen gern mitlesen),
wir wissen ja vermutlich alle, dass Spenden allein die Welt nicht zu einem gerechteren Ort machen werden, aber vielleicht kurzfristig zu einem gesünderen, daher folgender Vorschlag: die nächste Welle der Pandemie mit gespendeten Luftfiltern plattmachen, so gut es geht. Vor allem in Schulen, aber nicht nur.
Im Moment kann man drei Phänomene beobachten, die jeweils einzeln problematisch sind, zusammen aber auch eine Teillösung ihrer selbst werden könnten.
Erstens: Die Delta-Variante breitet sich aus, und alle wissen es.
Zweitens: Die Schulen in Deutschland sind nicht gut genug für die vierte Welle vorbereitet, was im Großen und Ganzen daran liegt, dass Kinder und Jugendliche für die deutsche Coronapolitik faktisch keine besondere Priorität hatten, um es milde zu formulieren, weder für die Bundesregierung noch für die einzelnen Landesregierungen. Für Menschen unter zwölf Jahren ergibt sich eine Mischung aus Pech und schlechten Absichten von oben, Pech wegen fehlender Impfmöglichkeiten und schlechte Absichten im Sinne schlecht gemachter Politik.
Drittens: Den sogenannten Superreichen geht es finanziell ganz gut, in Deutschland sogar besonders gut, die Zahl der Millionäre in Deutschland ist in der Pandemie gestiegen. Den Schulen hingegen geht es finanziell nicht gut genug, sonst hätten wir die Luftfilterdebatte nicht.
An jedem einzelnen dieser Phänomene könnte man verzweifeln. Warum sind Menschen so wenig lernfähig, warum sind junge Menschen der Politik so egal, warum hat die Pandemie Arme ärmer und Reiche reicher gemacht? Alles nicht schön, aber wir wollten ja Lösungen finden. Hier eine: Wenn die Politik es nicht schafft, Schulen mit Luftfiltern auszustatten, müssen Menschen mit Geld es tun. Warum nicht? Das Geld ist da, es gibt Filter, die für Schulen geeignet sind, man muss sie nur kaufen und hinbringen. Geld kann nicht alle Probleme lösen, manche aber ziemlich gut. Warum schließen sich nicht ein paar Menschen mit Geld zusammen und gehen die Sache an?
Es gab bereits schon einige solcher Versuche, aber im zu kleinen Maßstab. So wollte etwa in Lüdenscheid ein Arzt bereits im Winter Geld für Luftfilter spenden, nach Berichten eines Lokalmediums 10.000 Euro, plus Geld aus einem Rotary Club. Die Stadt lehnte mit verschiedenen Begründungen ab, unter anderem könne man nicht einzelne Schüler*innen bevorzugen. Der Bürgermeister erklärte, dass Stoßlüften ja auch gut sei, und kündigte an, 40 Luftfilter für die Schulen der Stadt zu besorgen. Es gibt allerdings mehr als 40 Schulklassen in Lüdenscheid.
In einer Schule in Helmstadt-Bargen, Baden-Württemberg, lief es ähnlich: Eltern wollten Luftfilter für die Schulen ihrer Kinder anschaffen – abgelehnt. Sie wollten verhindern, dass ihre Kinder im nächsten Winter wie im vorigen in viel zu kalten Klassenräumen bei offenen Fenstern sitzen, aber auch hier war laut Berichten der »Rhein-Neckar-Zeitung« die Begründung, dass Lüften ja auch gut und der Winter noch lange hin sei und einzelne Klassenzimmer nicht bevorzugt werden sollten.
An anderen Schulen scheint das Spendensammeln unproblematischer. In Frankfurt hat der Förderverein einer Schule Geld für 110 Filtergeräte plus fünf Staubsauger gesammelt. Teilweise spenden Firmen, die Luftfilter bauen, die Geräte selbst. Oder die Eltern spenden: Die »Berliner Morgenpost« berichtete im Januar, dass die zu wenigen Luftfilter für Spandauer Schulen durch Spenden von Eltern aufgestockt werden könnten. Für die Grundschule am Windmühlenberg in Gatow wurde ein Crowdfunding gestartet, um 11.300 Euro für sechs fehlende Luftfilter zu sammeln. In dem Aufruf heißt es: »Hier zeigt Spandau – anders als andere Bezirke –, dass behördliche Prozesse flexibel, schnell und gut funktionieren können! (…) Zum Beispiel gibt Marie 5 Euro von ihrem Taschengeld, überredet ihren großen Bruder Max, auch 5 Euro zu geben, die Eltern sind beeindruckt und geben 50 Euro dazu.«
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Der Konflikt der Linken im Saarland eskaliert. Nun schließt der Landesverband nach SPIEGEL-Informationen eine enge Unterstützerin des Fraktionsvorsitzenden Oskar Lafontaine aus der Partei aus.
Die saarländische Landesschiedskommission der Partei Die Linke hat entschieden, Astrid Schramm aus der Partei auszuschließen. Schramm ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Landtag und ehemalige Landesvorsitzende der Partei.
Die Entscheidung geht aus einem Schreiben des Gremiums hervor, das dem SPIEGEL vorliegt. Demnach habe die Kommission beraten und die »der Antragsgegnerin insgesamt vorgeworfenen Verhaltensweisen als geeignet und ausreichend« für einen Ausschluss angesehen. Die Abstimmung in der Landesschiedskommission fiel einstimmig aus.
Die drastische Entscheidung ist die neueste Wendung im innerparteilichen Machtkampf des Landesverbandes Saarland der Linken. Dort streiten sich der Fraktionsvorsitzende Oskar Lafontaine und der Landesvorsitzende Thomas Lutze seit Jahren erbittert. Lutze wird vorgeworfen, Parteimitglieder gekauft zu haben, um sich Mehrheiten zu sichern.
Lutze bestreitet die Anschuldigungen, während Teile der Saar-Linken seit Längerem eine genaue Prüfung der Vorwürfe durch die Bundespartei fordern. Schramm wiederum wird angekreidet, mit den Vorwürfen an die Öffentlichkeit gegangen zu sein und damit der Partei geschadet zu haben. Sie hatte auch Anzeige gegen Lutze erstattet. Das Ausschlussverfahren gegen Schramm hatte Lutze selbst beantragt. Gegen Lafontaine wolle er jedoch kein Verfahren anstrengen, wie Lutze dem SPIEGEL kürzlich sagte.
Immer schon wurde dem Esel eine gewissen Sturheit unterstellt. So zieht er weiter mit seiner Karre durch das Saarland.
Zuletzt war der Konflikt eskaliert. Der Landesvorstand, der auf Lutzes Seite steht, hatte Schramm und Lafontaine nahegelegt, die Partei zu verlassen. Lafontaine wiederum rief dazu auf, die Linke mit der Zweitstimme im Saarland nicht zu wählen, da dort Lutze erneut für den Bundestag kandidiert. Vergangenes Wochenende hatte Lafontaine jedoch klargestellt, dass die Linke bundesweit gewählt werden sollte. Dazu hatte Lafontaine zuvor ein klärendes Gespräch mit der Bundesvorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow.
Kurz vor ihrem Landesparteitag eskaliert bei der Linken im Saarland ein innerparteilicher Machtkampf. Der Vorstand will Fraktionschef Lafontaine loswerden – doch der bereitet seinerseits das Aus eines Konkurrenten vor.
Der saarländische Landesvorstand der Linkspartei fordert nach monatelangen parteiinternen Querelen seinen Fraktionsvorsitzenden Oskar Lafontaine zum Parteiaustritt auf. Auch die Landtagsabgeordnete Astrid Schramm solle gehen, beide müssten ihre Mandate zurückzugeben, schreibt der Landesvorstand in einer Mitteilung.
In der Saar-Linken stehen sich zwei unversöhnliche Lager gegenüber. Eine Gruppe schart sich um Landtagsfraktionschef Lafontaine, eine andere um den Linken-Landesvorsitzenden Thomas Lutze.
Lafontaine wie Schramm seien die »treibenden Kräfte in der seit Jahren betriebenen innerparteilichen Schlammschlacht« und würden dem Ansehen der Linken schaden, schreibt nun das Lutze-Lager. Die Mandatsabgabe sei daher eine »Frage des Anstands« – es brauche wieder Geschlossenheit statt »Neuanfang«.
Kampfabstimmung befürchtet
Ganz langsam geht’s Treppab
Die Anhängerinnen und Anhänger um Lutze reagieren damit auf eine Äußerung Lafontaines. Dieser hatte vergangene Woche seinerseits Lutze aufgefordert, auf eine erneute Kandidatur auf Platz eins der Landesliste für die Bundestagswahl zu verzichten – und den 27-jährigen Dennis Lander als eigenen Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl in Stellung gebracht.
Eigentlich will sich Lutze auf den Posten bewerben. Auf der Landesmitgliederversammlung am Sonntag wird es nun wohl zu einer Kampfabstimmung zwischen Lutze und Lander kommen.
Dem Globalhistoriker Dan Diner zum 75. Gerade angesichts des derzeitigen Nahostkonflikts ist ein Blick auf Werk und Biografie dieses undogmatischen Linken hilfreich.
Wer „das Jahrhundert verstehen“ will, kann dabei eigene, ganz frühe Kindheitserfahrungen und Intuitionen nicht ausblenden. Dan Diner, Historiker und Autor des Buches mit dem Titel „Das Jahrhundert verstehen“ kam 1946 in München zur Welt. Aber das war, wie er betont „nicht in Deutschland“, sondern in einem Lager für Displaced Persons in der damaligen amerikanischen Besatzungszone.
Da hat Dan Diner nach 1945 die Erfahrung der Staatenlosigkeit überlebender Juden aus Osteuropa verinnerlicht. Und danach in Paris die Vorzeichen des Algerienkriegs. Und in Israel die verblassende Präsenz des Britischen Empire. Es sind Kindheitseindrücke, die ihn wie Déjà-vus in seinem Leben und seinem Werk begleiten sollten.
Der Vater, noch in der habsburgischen Zeit geboren, war Pole, die Mutter Litauerin. Zu deren Verfolgung durch die Nazis bekam man in früheren Gesprächen mit dem Autor einen Satz hingehauen wie: „Meine Eltern sind vor dem Holocaust in den Gulag geflohen.“
„Zivilisationsbruch“ ist wohl der herausragende Begriff, den der spätere Historiker, nicht zufällig als Völkerrechtler promoviert, zur Bewertung des Holocaust beigetragen hat. Aus menschlicher Sicht erscheint jeder Tod gleich. Anthropologisch aber erschüttert der grundlose Mord an den europäischen Juden alle zivilisatorischen Grundannahmen.
Er zertrümmert das Urvertrauen, dass es niemand wagen würde, Millionen Menschen um der bloßen Vernichtung willen auszulöschen. Diese Lektion galt und gilt es den Nachlebenden zu vermitteln, die den Zweiten Weltkrieg vielleicht „durchgenommen“ hatten, vom Massenmord an den Juden aber nur undeutlich gehört hatten oder hören wollten.
Und heute jenen, die sich als „Antizionisten“ zu judenfeindlichen Pauschaulurteilen hinreißen lassen. Die Zusammenführung von Erinnerungen und dieses sorgsame Abgleichen gegenläufiger Gedächtnisse ist Dan Diners große Kunst. Den forschen Gleichsetzern und Übertrumpfern von heute, die in der These von der „Singularität“ des Mordes an den Juden womöglich eine zionistische Finte erblicken, sollte sie eine Lehre sein.
Unter deutschen Historiker:innen (deren akademischer Mainstream ihm nie ganz geheuer erschien) war Diner einer der ersten wirklichen Globalgeschichtler. Er beließ es nicht beim Nachvollzug der gewaltsamen Verschiebung seiner Eltern von West nach Ost. Er fügte der im Kalten Krieg eingefrorenen horizontalen Achse auch eine vertikale hinzu.
So betrachtete er den Verlauf der Geschichte auch aus einer Nord-Süd-Perspektive, ohne diese wiederum „tiersmondistisch“ (frühere Ausdrucksweise) oder „postkolonial“ (heutige) absolut zu setzen. So verlangte beispielsweise Diners Gespür für den Befreiungskampf Algeriens nach einer Neubewertung des 8. Mai 1945.
Und so war der 8. Mai nicht nur der Tag der deutschen Niederlage und des alliierten Sieges über Nazideutschland. Es war auch der Tag, an dem die französische Armee in Sétif Algerier und „Kolonialsoldaten“ niederkartätschte. Am 8. Mai 1945 bekamen die, die mit Frankreich gegen Hitler gekämpft hatten, die Entkolonialisierung und Unabhängigkeit verweigert.
In Israel, wohin die Familie Diner 1949 auswanderte, waren die alten Lebenslinien des Britischen Empires noch offen sichtbar. Diner hat sie in seinem jüngsten Opus magnum „Ein anderer Krieg“ rekonstruiert (taz, 28. 3. 2021 und Frankfurter Rundschau, 16. 3. 2021). In einer großen Erzählung zeigt er, wie anders die Uhren von Irland über Israel bis Indien – allesamt britische Kolonien oder Mandatsgebiete – tickten.
Filme wie Gillo Pontecorvos „Bataille d’Alger“ oder „Lawrence of Arabia“ weckten früh Diners Interesse. Ob als reale historische oder fiktive Kinofiguren, lassen sie Diners geradezu kindliche Freude und Neugier aufblitzen. Über die berühmte Treppe von Odessa vermag Diner zu sprechen, als habe er Sergei Eisenstein bei „Panzerkreuzer Potemkin“ assistiert. Von solch einer Treppe hält Diner Schau, nicht ohne Wehmut, über multiethnische Imperien, deren nationalstaatliche Zergliederung und Homogenisierung nicht zuletzt auf Kosten der Juden gegangen ist.
Kühl und distanziert trieb Diner im moralisierenden „Historikerstreit“ 1986 die Historisierung des Nationalsozialismus voran. Und souverän ordnete er auch den Konflikt um „Israel in Palästina“ ein, wie er seine Frankfurter Habilitationsschrift 1980 betitelte. Diner ist aber auch überaus lebendiger Erzähler. Und als solcher kann er dem Publikum die vielen Schichten der Levante näherbringen. Er lehrt die Welt von Süden aus zu betrachten und bleibt dabei fest im Universalismus verankert, allergisch gegen jedwede Identitätsversessenheit.
Eine erste Frage lautet: Welche Länder sind gemeint? Afrika und Südamerika spielen bei deutschen Importen und Exporten nur eine sehr geringe Rolle. International stärkere Verknüpfungen existieren mit Asien (14,6 % des deutschen Exports, 20% des Imports).
Ländergruppen
Exporte aus Deutschland 2019
Importe nach Deutschland 2019
Subsaharisches Afrika
1,00%
1,40%
Nordafrika und Naher Osten
2,80%
1,40%
USA, Kanada, Mexiko
10,80%
7,80%
Restliches Amerika
1,70%
1,30%
Eurozone
37,20%
37,10%
Europa ohne Eurozone
31,00%
30,10%
Asien
14,60%
20,00%
(Bundesministerium 2020, 7)
Bereits 1986 stammten 2/3 der Rohstoff- und Nahrungsmittelexporte aus den westlichen Industrieländern (Kohlhammer 1993; 19f.). Der diesbezügliche Preisverfall betrifft also nicht exklusiv die sog. Entwicklungsländer.
Dass die wirtschaftlich am meisten entwickelten Länder reich sind, resultiert nicht aus der Ausbeutung der armen Länder, sondern aus der „Wertschöpfung innerhalb der metropolitanen Volkswirtschaften. […] Dabei gilt: je höher die technologische Entwicklung und damit die Produktivität ist, umso geringer der Anteil an Extraprofiten aus anderen Quellen. Daher ist die Bedeutung der Dritten Welt für die High Tech Gesellschaften heute geringer als im 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ (Wahl 2005). Dazu passt die zugespitzte Formulierung von Ulrich Beck (2000, 55): „Es gibt also nur eines, das noch schlimmer ist, als von den Multis ausgebeutet zu werden, und dies ist: nicht von Multis ausgebeutet zu werden.“
Weltmarkt
Stellt die These „Unser Reichtum stammt aus der Ausbeutung der armen Länder“ das diesbezügliche Geschehen auf dem Weltmarkt angemessen dar? Auf dem Weltmarkt gibt es wie auf jedem anderen Markt Konkurrenz und damit Gewinner und Verlierer. Wer nicht mithalten kann mit den in der Konkurrenz auf den ersten Plätzen Stehenden, hat das Nachsehen. Wer produktiver produzieren kann, kann preisgünstiger als andere Anbieter seine Produkte auf den Markt bringen und mehr von ihnen absetzen. Für die Wertbildung von Produkten auf Märkten im Kapitalismus geht diejenige Arbeitszeit verloren, die über das gesellschaftliche Durchschnittsmaß hinaus aufgewendet wird. Ineffizientere Produzenten, die mit einer unterdurchschnittlichen Arbeitsproduktivität antreten, leisten einen höheren Arbeitsaufwand als durchschnittlich erforderlich. Dieser höhere Arbeitsaufwand wird auf dem Markt nicht als Wert anerkannt bzw. geht nicht in die Wertbildung ein. Dieser Misserfolg der unproduktiver arbeitenden Anbieter beinhaltet nicht deren „Ausbeutung“ durch die produktiver produzierenden Anbieter. Die Differenz zwischen dem Produktivitätsniveau in den führenden kapitalistischen Nationen und in den armen Nationen fließt „nicht in die Kassen irgendeines Konzerns oder westlichen Staates, sie verpufft schlicht und einfach im Nichts. Diese Differenz existiert ja nicht […] als materielle Substanz, die irgendwo produziert wurde und nun hin- und hergeschaufelt werden kann.“ Es werden nicht „‚Wertquanten’ aus dem einen Betrieb in den anderen übertragen“ (Trenkle 1996). Die Wertschätzung für populäre Thesen von der „imperialen Lebensweise“ ist dort groß, wo das Wissen um lange vorliegende Erklärungen des Weltmarkts gering bleibt.1
Die wirtschaftliche Entwicklung in den ärmeren Ländern vollzieht sich als Reaktion auf die entstandene dominante Marktposition der vergleichsweise wirtschaftsstarken Länder. Das hat negative Folgen: Die eigenen Entwicklungspotenziale in ärmeren Ländern können sich nicht entfalten, wenn sie mit den Produkten der reicheren Länder überschwemmt werden. Aus den ärmeren Ländern stammende unperfektere Produkte haben dann das Nachsehen. Viele dieser Länder kommen auf dem Weltmarkt vorrangig als Lieferanten bestimmter Rohstoffe oder nur mit wenigen, für die Metropolen interessanten Branchen vor. Insofern entwickelt sich keine aufeinander abgestimmte Arbeitsteilung und kein funktionierender Wirtschaftskreislauf in der betreffenden „zurückgebliebenen“ Ökonomie.
Von den Wirkungen des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt zum Schaden vieler Länder der 3. Welt sind wiederum Handelsabkommen, Strukturanpassungsprogramme u. ä. zu unterscheiden. Sie haben zusätzliche negative Wirkungen auf die Entwicklung der Wirtschaft vieler armer Länder. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass das, was diesen „schwachen“ Ökonomien massiv zusetzt, schon deshalb auch für die starken Ökonomien zentral sei. Bloß weil die negativen Wirkungen auf der einen Seite viel Gewicht haben, ist der damit verbundene Gewinn für die andere Seite nicht zentral.
Kolonialismus
Der Kolonialismus hatte vielfältige Folgen, die auch nach der rechtlichen Unabhängigkeit der Länder deren eigenständige Entwicklung massiv behinderten. Zudem sind noch heute häufig zentrale Firmen in westlichem Besitz. Allerdings ist die These fragwürdig, ohne die Ausbeutung der Kolonien wäre der Kapitalismus in Europa gar nicht in Gang gekommen. Faktisch setzte sich die kapitalistische Ökonomie weder zuerst in den ersten Ländern mit Kolonien, Spanien und Portugal, noch in der einstigen große Handelsnation Holland durch, sondern in England. „Wenn der internationale Handel die Industrielle Revolution erleichterte und beschleunigte, indem er zusätzliche Arbeitsmärkte eröffnete, neue Rohstoffe zur Verfügung stellte und ein Wachstum über den Binnenmarkt heraus ermöglichte, so war er, soviel wir heute wissen, doch weder Anlass noch Ursache dieses säkularen Ereignisses. Seine Bedeutung für die Entwicklung des Zentrums war folglich sekundär, dies im Gegensatz zur afrikanischen Seite, wo man dem Außenhandel, […] sehr wohl ursächliche Bedeutung für die Weiterentwicklung der afrikanischen Gesellschaften beimessen kann, insofern er die afrikanischen Wirtschaften in eine bestimmte, nämlich abhängige Entwicklung drängte“ (Wirz 1984, 213f.). Patrick O’Brien (1982) hat die verfügbaren Daten zum Handel zwischen Zentrum und Peripherie von 1450-1750 überprüft und stellt den geringen Umfang dieses Handels heraus, seinen nicht außergewöhnlich profitablen Charakter und seinen nicht maßgeblichen Anteil am ökonomischen Wachstum Westeuropas in dieser Zeit. Die Beschleunigung des Wachstums nach 1750 lässt sich nicht aus dem Handel mit der Peripherie erklären, „dafür war die Peripherie eben – zu peripher“ (Kohlhammer 1993, 44). „Die Vorstellung, dass die imperialistischen Mächte in den letzten 3 Jahrhunderten enorme Reichtümer aus ihren Kolonien abzogen, ist nicht richtig. Neuere Untersuchungen zum britischen Empire haben z. B. gezeigt, dass die Kolonien mindestens ebensoviel kosteten wie sie einbrachten“ (Ebd., 45).
Welchen Stellenwert haben die Vorteile hiesiger Konsumenten durch billige Produkte aus armen Ländern?
Durch niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen in den „armen“ Ländern sind von dort stammende Produkte, die in den führenden Wirtschaftsnationen abgesetzt werden, billiger, als wären sie in ihnen produziert worden. Die dafür genannten Beispiele sind u. a. Kleidungsstücke, Spielzeug, Unterhaltungselektronik. Oft verbleibt die Darstellung dieses Sachverhalts im Horizont von Beispielen. Eine quantitative Gewichtung fehlt. Bei der Gliederung der privaten Konsumausgaben fällt auf, dass es große Ausgabenbereiche gibt, in denen importierte Waren keine Rolle spielen. Es handelt sich um die Kaltmiete, die Kosten für den Bau und den Unterhalt eines Eigenheims, Ausgaben für Verkehr und Gesundheit, für persönliche Dienstleistungen (z. B. Friseur) und anderes.2
Bereits immanent stellt sich die Frage, ob die Einwohner entwickelter kapitalistischer Länder nur, wie oft behauptet, einen Vorteil von der Armut der Bevölkerung in den Ländern des globalen Süden haben. Zugleich beschränkt diese Armut die zahlungsfähige Nachfrage nach Produkten, die Firmen der führenden Wirtschaftsnationen anbieten.
Während der letzten 30 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland hat „jede Verbilligung von Produkten“ „nur teilweise kompensiert, was Arbeiter und Angestellte im Norden unter den Bedingungen internationaler Standortkonkurrenz […] real verloren haben und teilweise weiter verlieren. […] Selbst gut verdienende Facharbeiter und Ingenieure mit Festanstellung in der deutschen Exportindustrie sind keineswegs ausschließlich oder in erster Linie Profiteure von Globalisierung“ (Dörre 2018, 68f.). 1994 sanken die Reallöhne um 2,5%, 1995 um 1%, 1996 um 1,7% und 1997 um 3,2% (FAZ 3. 3. 2006, S. 2). In den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stagnierten in Deutschland die Reallöhne. Erst 2014 übertrafen die Reallöhne in Deutschland das Niveau des Jahres 2000 (Der Tagesspiegel 10.2. 2015, S. 15). „Wo die Konservierung des Lohnniveaus gelang, musste das oft mit Leistungsdruck, Bereitschaft zu unterwertigen Tätigkeiten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen bezahlt werden. Jenseits dieser noch einigermaßen gesicherten Gruppen mussten die untersten vier Einkommensdezile (Zehntelwerte – Verf.) in Deutschland über zwei Jahrzehnte hinweg Reallohnverluste hinnehmen“ (Dörre 2018, 68f.). Diejenigen, die sich auf die „Privilegien“ von Lohnabhängigen in den entwickelten kapitalistischen Ländern fokussieren, ignorieren, dass „mehr als ein Drittel der Beschäftigten sich am Ende eines normalen Arbeitstages zu erschöpft fühlen, ‚um noch irgendetwas tun zu können, was mir Freude macht’ (DAK Gesundheitsreport 2012). […] Mit arbeitsbedingter Erschöpfung verbunden ist die Unfähigkeit vieler Menschen, nach der Arbeit abschalten zu können: Hiervon betroffen sind 32 % aller Erwerbstätigen (Vorwerk Familienstudie 2012). Die Zahlen nehmen seit Jahren zu“ (Bauer 2015, 72). Nicht in den Blick kommt dasjenige Elend in der sog. Wohlstandsgesellschaft, das resultiert aus Konkurrenz, aus Vereinzelung, aus der Einheit von Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstbeschuldigung sowie aus der Fiktion, bei eigenem Unglück ein Versager in Sachen Leistungstüchtigkeit, Cleverness und Selbstverwirklichung zu sein.
Die Rede von der „Benachteiligung“ der armen Bevölkerung in ärmeren Ländern im internationalen Maßstab ist problematisch. Gewiss können sie weniger Geld ausgeben, haben ein schlechteres Bildungs- und Gesundheitswesen. Der Maßstab aber, dem die Lohnabhängigen im Kapitalismus unterworfen sind, ist in den entwickelten und in den unentwickelten Ländern der gleiche. Wir haben es beim Kapitalismus mit einer Ökonomie zu tun, die an Kosten spart und zugleich verschwenderisch ist mit dem Verbrauch menschlicher Physis und Psyche. In den armen Ländern existiert ein Überschuss an Arbeitskräften, der den Preis der Ware Arbeitskraft drückt. Die ungleiche Entwicklung verschiedener Länder im Weltmarkt hat Ursachen, für die die Konsumenten weder verantwortlich noch zuständig sind. Die Lage der Lohnabhängigen hat sich in den entwickelten kapitalistischen Ländern nicht primär deshalb verbessert, weil sie andere Länder ausbeuten, sondern weil die Kapitale produktiver waren als in anderen Nationen. Auf diese Ursache von Armut in wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern hat eine Umstellung der hiesigen Konsumweise („kaufe keine Produkte, die aus schlecht bezahlter und unter schlechten Bedingungen stattfindender Arbeit stammen!“) wenig Folgen.
Der behauptete Nord/Süd-Gegensatz wird dadurch relativiert, dass auch die Ober- und Mittelschichten des Globalen Südens sich an der imperialen Lebensweise orientieren. „Smartphones, Notebooks oder billige Textilien haben längst Einzug in die hintersten Winkel der Erde gehalten“ (Dörre 2018, 65). Den größten ökologischen Fußabdruck leisten sich inzwischen die Golfstaaten.
Der Import von billigen Waren aus ärmeren Ländern hat nicht in den Vorteilen von Konsumenten seine Ursache. Maßgeblich sind andere Kräfte. Das produzierende Kapital ist bestrebt, die Rohstoffe und Vorfabrikate möglichst billig zu erwerben. Das Handelskapital verdient am internationalen Handel. Die Kapitale in den Metropolen sind in der Lage, durch preiswerte Waren, die zur Reproduktion der Arbeitskraft nötig sind (z. B. Bekleidung), den Wert der Ware Arbeitskraft niedrig zu halten. Dass Konsumenten mit schmalem Budget billige Kleidung kaufen, liegt daran, dass die Vermietung ihrer Arbeitskraft nicht mehr an Arbeitseinkommen erbringt, und nicht daran, dass sie gern Billigprodukte kaufen wollen und sich in der Wahl ihrer Lebensweise für die Parole „Geiz ist geil“ entscheiden. Ein großer Teil des Imports wird zudem nicht auf Konsummärkten umgesetzt, sondern geht in die Produktion ein. Für den Teil der Importe, die auf Konsummärkten umgesetzt werden, gilt: Über den Absatz entscheiden nicht die Konsumenten. Was Individuen ausgeben können, hängt von der Höhe ihres Arbeitsentgelts ab. Diese wiederum leitet sich ab aus der Verwertung des Kapitals. Die zahlungsfähige Nachfrage der Konsumenten bildet die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass Geschäfte von Kapitalen gelingen, insofern Waren absetzbar sind. Die Mehrwertproduktion bzw. der Profit, der sich mit diesem Geschäft machen lässt, bildet die Ursache oder die entscheidende Bedingungdafür, dass Kapitale ein Geschäft aufziehen. Dafür sind Konsumenten weder zuständig noch verantwortlich.
Moralismus
Handeln und Gesellschaftsstrukturen nicht auseinander zu halten (vgl. Creydt 2018) war schon seit den 1970er Jahren in der Anklage „unserer“ Verantwortung für das Elend in der sog. Dritten Welt beliebt. Diese Beschuldigung bildete einen Politisierungsanstoß für viele und zugleich den Einstieg in den Ausstieg aus Gesellschaftskritik. Getan wird so, als sei der Gesinnungswandel vormals unmoralischer Konsumenten in Bezug auf ihr Kaufverhalten die entscheidende Größe. Oft grassiert(e) bei Aktivisten die Ergriffenheit ob der eigenen bußfertigen Selbstanklage und der Stolz über die eigene Reue. Suggeriert wird, die hauptsächliche Ursache für den Verbrauch von Ressourcen und Emissionen sei der Konsum in den Metropolenländern. Diese Anklage ignoriert, dass „der hauptsächliche Ressourcenkonsum in der Produktion von Gütern stattfindet, die nicht lange haltbar sind, irreparabel und zudem immer aufwendiger verpackt werden. […] Trinkhalme zu verbieten ist total lächerlich im Vergleich zu dem, was in der Produktion läuft“ (Wildcat 2019, 46). 2016 wurden in Deutschland von den 12,2 Millionen Kunststoffen 35% verwendet für Verpackung und 12 % für Automobile (CHEManager News 03.07.2018). In einer Gesellschaft, die anders umgeht mit Verpackungen und die den Pkw-Verkehr drastisch reduziert, wird es massiv geringeren Bedarf nach Kunststoffen geben.
Der Moralismus sieht im freien Entschluss von Subjekten und in ihrem willentlichen Handeln die entscheidende Variable zur Erklärung und Veränderung der Welt. Im populären Buch über die ‚Imperiale Lebensweise’ finden wir zwar ein Lippenbekenntnis gegen Moralismus (Brand, Wissen 2017, 65). „Es ist trotzdem typisch für dieses Buch, dass fast alle konkreten Beispiele aus der Welt des Konsums stammen. Es ist die Rede von Flugreisen, Fleischverzehr, regionalem Einkauf, Automobilen speziell SUVs, billige Textilen usw.“, und so wird „dann doch der Eindruck erweckt, das Konsumverhalten wäre eine wesentliche Stellschraube“ (Arbeiterstimme 2020).
Was ist der politische Sinn, den Vergleich zwischen dem Lebensstandard in verschiedenen Ländern anzustellen? Stimmt die häufig zugrunde liegende Annahme, Personengruppen, die im Vergleich zu anderen höhere Einkommen erzielen, würden infolgedessen auf Kritik am Wirtschaftssystem verzichten („Bestechung“)? Faktisch waren in sozialen Bewegungen, die als kapitalismuskritisch gelten können, bekanntlich massenhaft Individuen engagiert, die als Facharbeiter, Akademiker usw. im Vergleich zu anderen bessere Arbeitseinkünfte erhalten. Es scheint gute Gründe für Gesellschaftskritik zu geben, die weder durch ein vergleichsweise besseres Arbeitseinkommen verschwinden noch seinetwegen unglaubwürdig werden. Zur gegenwärtig beim Gegeneinander-Ausspielen der „Benachteiligten“ populären Privilegientheorie vgl. den instruktiven Artikel von Choonara, Prasad 2014.
Aus der Tatsache, dass in den historisch zuerst kapitalistisch entwickelten Ländern pro Kopf ein höherer ökologischer Fußabdruck existiert als in ärmeren Ländern, lässt sich nicht die These ableiten, erstere würden auf Kosten letzterer leben. Das Missverhältnis bildet keine eigene Übervorteilung der ärmeren Ländern, sondern „hängt primär damit zusammen, dass sich dort (in den wirtschaftlich reichsten Nationen – Verf.) immer noch der größte Teil der industriellen Produktion konzentriert und dass dort der größte Teil der Einkommen generiert wird, auch wenn der Anteil des Globalen Südens in letzter Zeit gewachsen ist. Die Zusammenballung der Produktion in den Zentren beruht primär auf der überlegenen Arbeitsproduktivität in den früh industrialisierten Ländern“ (Sablowski 2018). Eine „imperiale Lebensweise“ bildet nicht die Ursache für die ungleiche Belastung der Natur mit Abfällen und Emissionen durch verschiedene Länder. Weder trifft die Erklärung des Konsumniveaus in den Metropolenländern aus dem Handel mit ärmeren Ländern zu noch die Parole „Weil sie arm sind, sind wir reich“.
PS: Bei vielen Linken dominieren vulgärökonomische Auffassungen. Sie fallen hinter die Fortschritte zurück, die in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren gegenüber der sog. „marxistisch-leninistischen Ökonomie und Gesellschaftstheorie“ erreicht werden konnten. Bereits in den 1970er Jahren legte eine neue Generation von Theoretikern sowohl überzeugende Kritiken an Konstrukten wie ‚Monopolkapitalismus’ , ‚Staat als Agentur der Reichen’ und ‚Klassenjustiz’ als auch lesenswerte Analysen vor. Sie betrafen die kapitalistische Ökonomie, die Grenzen und Widersprüche staatlichen Handelns in der modernen bürgerlichen Gesellschaft sowie das Recht und die Rechtsprechung in ihrem Kontext. Michael Wendl (2013) hat instruktiv die fatale Wiederkehr des ‚einfachen Marxismus’ beschrieben, der diesen Paradigmenwandel ignoriert. Zu vulgärökonomischen Überzeugungen sowie zur Verwechslung von Gesellschaftstheorie mit Agitationsparolen gehören sowohl die Verwendung des „Imperialismus als moralischer Begriff“ (Wendl 2011) als auch Theoreme vom „staatsmonopolistischen Kapitalismus“. Sie wurden im Zuge von Zeitdiagnosen eines „Geldmachtkomplex“ (Krysmanski) oder „der Herrschaft der 0,1%“ wieder aufgewärmt (vgl. dazu Creydt 2019).
Literatur:
Arbeiterstimme 2020: Imperiale Lebensweise (Buchbesprechung). In: Arbeiterstimme, Nr. 209. Nürnberg
Bauer, Joachim 2015: Arbeit. Warum sie uns glücklich oder krank macht. München
Beck, Ulrich 2000: Freiheit oder Kapitalismus. Frankfurt M.
Brand, Ulrich; Wissen, Markus 2017: Imperiale Lebensweise: Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus, München
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2020: Fakten zum deutschen Außenhandel. Berlin
Bruckner, Pascal 1983: Das Schluchzen des weißen Mannes. Europa und die Dritte Welt – Eine Polemik. Berlin
CHEManager News 03.07.2018: Kunststoffproduktion und -recycling in Deutschland
Choonara, Esme; Prasad, Yuri 2014: What’s wrong with privilege theory? In: International Socialism, Nr. 142. London https://isj.org.uk/whats-wrong-with-privilege-theory/
Creydt, Meinhard 2017: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. München
Creydt, Meinhard 2018: Zum Verhältnis zwischen Struktur und Handlung im Kapitalismus. Zur Kritik an gängigen Missverständnissen. In: Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft, August 2018
Creydt, Meinhard 2019: Krysmanskis Geschichten von tausend und einer Jacht (Zentrale Fehler regressiver Kapitalismuskritik), in: Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft, August 2019
Dörre, Klaus 2018: Imperiale Lebensweise – eine hoffentlich konstruktive Kritik. Teil 2. In: Sozialismus, H. 7/8
Kohlhammer, Siegfried 1993: „Auf Kosten der Dritten Welt?“. Göttingen
O’Brien, Patrick Karl 1982: European Economic Development: The Contribution of the Periphery. In: Economic History Review, Vol. 35, No.1
Sablowski, Thomas 2018: Warum die imperiale Lebensweise die Klassenfrage ausblenden muss. In: LuXemburg-Online, Mai, www.zeitschrift-luxemburg.de/warum-die-imperiale-lebensweise-dieklassenfrage-ausblenden-muss/
Trenkle, Norbert 1996: Die Entwertung des Werts. Über die krisenhafte Durchsetzung des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt. In: Weg und Ziel, H. 3, 1996. Wien www.krisis.org/1996/die-entwertung-des-werts/
Wendl, Michael 2011: Imperialismus als moralischer Begriff? Kritische Anmerkungen zur Aktualisierung der Imperialismustheorien. In: Sozialismus, H. 9. Hamburg
Wendl, Michael 2013: Machttheorie oder Werttheorie. Die Wiederkehr eines einfachen Marxismus Hamburg
Wildcat 2019: Kritik der politischen Ökologie. In: Wildcat, Nr. 103. Köln
Wirz, Albert 1984: Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem. Frankfurt M.
1„Zu der Frage, ob es im internationalen Austausch einen ungleichen Tausch bzw. weitere Modifikationen des Wertgesetzes gibt, gibt es eine jahrzehntelange und kontroverse Debatte […], auf die Brand und Wissen (die Autoren des Buches über ‚imperiale Lebensweise’) nicht eingehen“ (Sablowski 2018).
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2.) von Oben — This map depicts colonial Africa at the eve of World War I. Blank map taken from http://mapchart.net . If anyone wants to use it or edit it for any purpose whatsoever, feel free to do so. Credit to mapchart.net for the blank map would be appreciated, but not obligatory.
Von 1967 an spähte das FBI Studentenführer Rudi Dutschke aus, um seine Übersiedlung in die USA zu verhindern. Nun sind die Akten teils öffentlich.
Am 11. Januar 1967 meldet das US-Außenministerium eine besorgniserregende Neuigkeit. Man habe aus mehreren Quellen erfahren, dass der deutsche Studentenführer Rudi Dutschke in San Diego oder Berkeley studieren wolle. Er sei der „bekannteste linke Agitator“ in Westberlin und habe Demonstrationen initiiert, die gewaltsam endeten. Der „demagogische Redner“ verfüge bedauerlicherweise auch noch über „beträchtlichen persönlichen Charme“. Dutschke, so die Warnung, sei von „aufrichtigem Hass auf das Establishment und missionarischem Eifer für eine utopische sozialistische Revolution“ angetrieben.
Damit beginnt eine intensive, zwei Jahre währende Beobachtung von „Red Rudi“ durch das FBI, die US-Botschaft und das Außenministerium.
Die US-Behörden sind gut informiert. Dutschke spielt 1967 mit dem Gedanken, in die USA umzuziehen. Er ist der Star der bundesdeutschen Studentenbewegung – und zweifelt, ob diese Rolle ihm nicht langsam über den Kopf wächst und der antiautoritären Bewegung in Wahrheit schadet.
Der US-Bürger Rich Jones hat schon 2017 die Freigabe des FBI-Dossiers über „Alfred Willi Rudolf Dutschke“ beantragt und die Dokumente am letzten Samstag auf dem Netzportal reddit veröffentlicht. Die Akten umfassen rund 300 Seiten und reichen über sechs Jahre – von Januar 1967 bis Juni 1973. Die meisten Namen sind geschwärzt. Obwohl die Geheimhaltungsfrist für die Akten laut Freedom of Information Act abgelaufen ist, sind viele entscheidende Dokumente unkenntlich gemacht. Bei der Löschung der Namen nahm es das FBI sehr genau. Auch in einem ins Englische übersetzen Spiegel-Artikel vom Mai 1968 wurden die Namen unkenntlich gemacht. Sicher ist sicher.
Spitzel in Dutschkes Nähe?
Trotzdem zeigt auch das sorgsam gefilterte und nur zu etwa zwei Drittel lesbare Dossier, wie akribisch FBI, das Außenministerium und die US-Botschaft fast jeden Schritt des Manns vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) verfolgten und deuteten. Eigentlich ist die CIA für Kommunisten- und Aufstandsbekämpfung im Ausland zuständig. Doch bei Dutschke, der die Weltrevolution in die USA zu bringen droht, fühlte sich auch das FBI verantwortlich.
Eine Frage drängt sich auf: Hatten US-Dienste Spitzel in der Studentenbewegung, oder sogar im nahen Umfeld von Dutschke? Eine schlüssige Antwort findet sich zwar nicht. Doch es gibt auch in der gesäuberten Fassung Hinweise in diese Richtung. So berichtet ein Memo des Außenministeriums an das FBI und die US-Botschaft am 28. Dezember 1967 von einem Informanten (dessen Name geschwärzt ist).
Die linke US-Studentenvereinigung Students for a Democratic Society habe Dutschke für den April 1968 in die USA eingeladen. Und Dutschke wolle „diese Einladung annehmen“, so der Informant. In einem Bericht an den FBI-Direktor am 28. Februar 1968 wird gemeldet, dass man in Westberlin über einige Informanten verfüge, die Dutschke hoffentlich „nahe genug stehen, um seine Pläne zu kennen“.
Im November 1967 schickt das US-Außenministerium einen Bericht an Stellen in San Diego, San Francisco, Sacramento, die US-Botschaft in Bonn und das Büro des FBI in der Hauptstadt. Das Ministerium ist noch immer alarmiert. Dutschke wolle in die USA reisen, um in Kalifornien zu studieren, wahrscheinlich bei Herbert Marcuse, dem linken Professor. Alle Stellen sollten „unverzüglich alle sachdienlichen Informationen“ weiterleiten. Am 16. November leitet das Außenministerium eine Überprüfung Dutschkes beim Auslandsgeheimdienst in die Wege.
Besonders beunruhigt die Behörden, dass Dutschke mit einer US-Bürgerin, Gretchen Klotz, verheiratet ist. Das macht es schwieriger, ihm die Einreise zu verwehren. Dutschke ist zudem nicht vorbestraft und verfügt über ein ordnungsgemäßes polizeiliches Führungszeugnis. Das FBI meldet im März 1967, dass Gretchen Dutschke im Januar ihren US-Pass hat verlängern lassen. Es gibt Grund zur Sorge.
Im November 1967 markiert das Außenministerium, was zu tun ist, wenn der Worst Case, den man unbedingt verhindern will, doch eintritt: Dutschkes Einreise in die Vereinigten Staaten. Alle örtlichen Behörden müssten dann sofort mit allen Hintergrundinformationen versorgt werden. „Red Rudi“ gilt als Gefahr.
Botschafter verschickt Brandbrief
Das FBI fürchtet zudem, dass die westdeutsche Studentenbewegung die militante schwarze Organisation Black Panther unterstützt. Für FBI-Chef J. Edgar Hoover, berüchtigter Kommunistenfresser und seit 1935 Chef des Inlandsgeheimdienstes, sind die Panther 1968 die größte Gefahrenquelle für die Sicherheit der USA. Dutschke, so ein Memo an den FBI-Direktor vom 29. Januar 1968, habe eine Europatour des bekannten Black-Panther-Aktivisten Stokely Carmichel „begeistert“ aufgenommen. Der Informant bezweifelt aber, dass der SDS die Panther organisiert unterstützen wird. Dutschke & Co würden sich mehr für die revolutionären Bewegungen in Lateinamerika erwärmen. Man werde die Kontakte des SDS zu den Panthern trotzdem weiterhin wachsam verfolgen.
Hektisch werden die Aktivitäten der US-Behörden im Februar 1968. Denn in Westberlin verdichteten sich Gerüchte, dass der Studentenführer bald mit der Fluggesellschaft Finnair in die USA reisen wolle. Zur Schlüsselfigur wird der US-Botschafter in der Bundesrepublik, George C. McGhee.
Im März verschickt McGhee eine Art Brandbrief. Man müsse alles rechtlich Mögliche unternehmen, um Dutschkes Plan zu vereiteln. Dutschke agitiere vehement gegen den US-Krieg in Vietnam, unterstütze Deserteure und wolle die Nato zerschlagen. In Frankfurt habe er ein Go-in angeführt, bei dem im Amerika-Haus Sachschaden entstand – in Höhe von 2.400 Dollar. Das sei, so McGhee, ein rechtlich wetterfester Grund, um die Erteilung eines Visums und ein Studium in den Vereinigten Staaten zu verhindern.
Aus einer FBI-Personenskizze vom März 1968 über den Studentenführer :
Rudi Dutschke ist „häufig unrasiert“, hat eine habichtartige Nase und einen stechenden Blick – „very penetrating dark eyes“
Rudi Dutschke erscheint in manchen Memos als ein raffinierter, mit alle Wassern gewaschener Gegner. In einem Papier des Außenministeriums heißt es, er rufe zum Widerstand gegen die Regierung und zu Gesetzesbrüchen auf, sei aber so clever, dass er bislang in der Bundesrepublik nur wegen Beamtenbeleidigung verurteilt wurde. Das FBI zeichnet ihn im März 1968 in einer kurzen Personenskizze als fast diabolische Erscheinung. Er sei „häufig unrasiert“, habe eine habichtartige Nase und einen stechenden Blick – „very penetrating dark eyes“.
In jedem Spitzenpolitiker steckt ein kleiner Trump
Weltweit das gleiche Pack
Von Antje Lang-Lendorff
Mit der Verkündung der KanzlerkandidatInnen von Union und Grünen hat der Wahlkampf rasant begonnen. Um Inhalte geht es dabei kaum, bislang ist vor allem eines wirklich beeindruckend: die Größe der Egos aller Beteiligten.
Armin Laschet fehlt in weiten Teilen die Unterstützung seiner eigenen Partei, vor allem an der Basis, trotzdem will er für die Union Kanzler werden. Markus Söder kann nicht auf sich sitzen lassen, Zweiter zu sein, er stichelt, wo er kann, und kündigt in der Süddeutschen schon mal an: „Heute ist nicht alle Tage, ich komme wieder, keine Frage.“
SPD-Kandidat Olaf Scholz hält sich sowieso für den Größten, obwohl nicht mal seine eigene Partei ihn als Chef haben wollte. Annalena Barbock wiederum will trotz fehlender Regierungserfahrung direkt ins Kanzleramt. Und Robert Habeck erzählt, wie schmerzhaft und kränkend es für ihn ist, dass er nun nicht Kanzler werden kann, sondern „nur“ Minister.
Wie sehr müssen sie alle von sich überzeugt sein? Für wie unverzichtbar halten sie sich?
„Man braucht in der Politik ein gewisses Maß an Narzissmus“, sagt der Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth, Autor des Buches „Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik“. Es gebe einen gesunden Narzissmus; auch in anderen Berufen wie der Schauspielerei sei eine gewisse Selbstverliebtheit unabdingbar. Narzissmus könne aber auch eine echte Störung sein, wie das etwa bei Trump zu besichtigen war. „Die Übergänge sind fließend.“
Die Fotografin Herlinde Koelbl hat für ihre Langzeitstudie „Spuren der Macht“ SpitzenpolitikerInnen wie Gerhard Schröder und Joschka Fischer über Jahre begleitet, fotografiert und interviewt. Im Vorwort schreibt auch sie: „Einig waren sich alle, Eitelkeit ist eine Politikereigenschaft, und sie haben etwas mehr davon als andere Menschen.“
Bei Trump war der Narzissmus plump, pathologisch, vermutlich sogar bösartig. Gott sei Dank sind die Führungsleute hierzulande nicht so. Aber in jedem und jeder SpitzenpolitikerIn muss eben doch ein klein wenig Trump stecken, sonst kann man zwischen all den anderen Riesen-Egos nicht bestehen.
Die Frage ist: Muss man das als PolitikerIn von Beginn an mitbringen, wenn man nach ganz oben will? Oder wird man erst so im politischen Geschäft, ist der Narzissmus eine Déformation professionnelle? Wenn jeden Tag zig Kameras auf einen gerichtet sind, trägt das sicher nicht zur Bescheidenheit bei.
In einem taz-Interview vor über einem Jahr sprachen Baerbock und Habeck offen über ihr jeweiliges Geltungsbedürfnis. Habeck erzählte von einer Wahlkampfveranstaltung in Dresden, er durfte die wichtigere Rede am Ende halten. „Bäm, dann explodiert der Park.“ Annalena habe erduldet, dass er ihr die Show stahl. „Umgekehrt erdulde ich, wenn sie auf dem Parteitag in Bielefeld die bessere Rede hält.“ Auch Baerbock nahm auf die Wahlkampfveranstaltung Bezug: „Im Park in Dresden kann es eben doch nur einen geben. Das auszuhalten ist nicht einfach.“
Als Nicht-PolitikerIn rieb man sich bei diesen Sätzen die Augen: So groß ist bei aller Zweisamkeit die Konkurrenz? So schwer ist es für die beiden, mal nicht die Nummer eins zu sein?
In der Politiksetzt sich alleine die Gier nach Macht über andere durch !
Die meisten erleben das ja so: Als Kind meinen sie, der Nabel der Welt zu sein, alles beziehen sie auf sich. Irgendwann stellen sie dann fest: Huch, da sind ja noch acht Milliarden andere Menschen, denen geht es genauso. Eine einschneidende Erkenntnis, von da an ist man ganz anders in der Welt verortet, als eine oder einer unter sehr, sehr vielen.
Unter SpitzenpolitikerInnen ist diese Einsicht offenbar nicht verbreitet. Klar, man muss von sich selbst überzeugt sein, will man andere von sich überzeugen. Gerade jetzt im Wahlkampf bleibt ihnen auch nichts anderes übrig als sich aufzublasen, als seien sie unbesiegbar. Doch von der Selbstgewissheit zur Selbstüberhöhung ist es nur ein kleiner Schritt. Wenn Annalena Baerbock das Fehlen von Regierungserfahrung nun forsch als Erneuerung verkauft, ist das dann ein selbstbewusster Move? Chuzpe, die imponiert? Oder nicht doch vermessen? Wo verläuft die Grenze zwischen gesunder Selbstliebe und übersteigertem Narzissmus?
Eine ostdeutsche Linke muss Lösungen anbieten, die nicht aus den goldenen Zeiten der Arbeiter*innenbewegung stammen, aber auf ihren Grundlagen beruhen und dabei die realsozialistischen Gesellschaften kritisch reflektieren.
Die beiden Autoren trennt beinahe eine ganze Ost-Generation. Doch die aktuelle politische Entwicklung der sozialen Frage in Ostdeutschland und die damit verbundenen Projekte, wie zum Beispiel Aufbruch Ost, entfalten Kräfte, die viele Ost-Linke unterschiedlichster Prägung zusammenbringen. Im Kontext der Auseinandersetzung über linke Strategien aus der Perspektive von Lohnabhängigen in Ostdeutschland entstand dieser Text als Auftakt einer Artikelserie. In dieser wollen wir den gesellschaftlichen Erfahrungen realsozialistischer Praxis aus Beschäftigungs-, Bildungs-, und Gesundheitspolitik etc. nachgehen, um daraus mögliche Perspektiven eines sozialistischen Aufbruch Ost abzuleiten. Ein Aufbruch, der sich nicht auf importierte und damit unrealistische Politikkonzepte stützt, sondern Antworten aus der konkreten Situation der Lohnabhängigen in Ostdeutschland entwickelt.
Von grossen Hoffnungen…
Jede Gesellschaft hat einen spezifischen Charakter, der von der politischen Ökonomie, einer darauf basierenden Kultur und historischen Grundlagen abhängig ist. Das gilt für kapitalistische, wie für sozialistische Gesellschaften: die eine beruht auf Konkurrenz, die andere auf Kooperation. Vor nunmehr 30 Jahren wurde der nach dem 2. Weltkrieg entstandene realsozialistische Teil Deutschlands, die DDR, dem grösseren, kapitalistischen Teil, der BRD, angeschlossen.
In der DDR hatte eine knappe Mehrheit in den März-Wahlen 1990 der Allianz für Deutschland den Auftrag für einen schnellen Vollzug gegeben. Die meisten ahnten nicht, zu welchen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Verwerfungen dies im Laufe der Jahre führen würde. Obwohl man als informierte*r DDR-Bürger*in nicht nur aus dem Staatsbürgerkunde-Unterricht, sondern auch dem West-Fernsehen wusste, wie die bundesdeutsche Gesellschaft funktionierte, vertraute man den Versprechungen einer Vereinigung auf Augenhöhe. Man versprach sich davon die Teilhabe an den sozialen Segnungen der westdeutschen Nachkriegsmarktwirtschaft, die ergänzt werden würden durch ostdeutsche Errungenschaften.
Doch es kam anders. Dem sozialen Abstieg infolge der Deindustrialisierung, Rückgang der Bruttowertschöpfung 1991 auf ein Drittel (31 Prozent) im Vergleich zu 1989, und der daraus resultierenden Arbeitsplatzvernichtung auf fast die Hälfte (56,5 Prozent) folgten mehrere Wellen von Arbeitsmigrationen nach Westdeutschland. Fast ein Viertel der Bevölkerung von knapp 17 Millionen Menschen verliess bis heute das Gebiet der ehemaligen DDR. Sie hinterliessen eine überalterte und abgehängte Gesellschaft. An der wirtschaftlichen Lage hat sich bis heute nichts grundlegendes geändert.
In Bezug auf die Kultur hatten es sich die bundesdeutschen Eliten zum Ziel gesetzt, alles in 40 Jahren in der DDR entstandene, das nicht ihren Vorstellungen entsprach, den freien Marktkräften zu überlassen. Grosse Teile der Infrastruktur verschwanden. Als prominentes Beispiel seien hier die über 2000 regionalen Kulturhäuser genannt. Institutionen, die in die kleinbürgerliche Welt von ‚Hoch-Kultur‘ passten, wurden in diesem Sinne vereinnahmt: ausgewählte Museen, Theater und Gedenkstätten. Immaterielles, wie Literatur, Kunst, Filme, Musik, etc. wurde im Kontext eines ‚wiedervereinten‘ Deutschlands totgeschwiegen oder diskreditiert.
…zur Kolonie der Bundesrepublik
Zur Sicherstellung des machtpolitischen Übergangs nutzte man westdeutsche Funktionseliten aus der zweiten Reihe. Diesen standen in den neuen Gebieten Karrieremöglichkeiten in Politik, Medien, Wissenschaft und Justiz offen, die in ihren Heimatregionen nie möglich gewesen wären. Dort waren alle entsprechenden Positionen schon besetzt. Legitimiert wurde dieser Schritt offiziell damit, dass das Gros ehemaliger DDR-Bürger*innen auch jenseits früherer Posten im Realsozialismus nicht in der Lage wäre, ausreichend schnell das neue westdeutsche System umzusetzen. Und Eile war das Gebot der Stunde.
Um erwartbarer Kritik und Widerstand zuvor zu kommen, gab man als Alibi einem verschwindend geringeren Teil von Ostler*innen die Chance auf berufliche Stabilität oder Aufstieg im eigenen Territorium. Um diese Stellen zu behalten war allerdings klar, wessen Positionen sie zu vertreten hatten. Die Hoffnung, dass sich eine derartige Besetzungspolitik von Führungspositionen zugunsten der nachfolgenden ostdeutschen Generation ändern und damit demokratiefördernd auswirken werde, ist nicht eingetreten. Die Lage hat sich teilweise sogar verschärft. Heute kann man alles in allem von kolonisierten Verhältnissen sprechen.
Enttäuschungen und rechtes Spektakel
Die in ihrer Region verbliebenen Ostler*innen waren nach der Wende paralysiert von der unerwarteten Wucht der Veränderungen. Viele passten sich aus Mangel an Alternativen mit der Zeit an, ohne jedoch ihren, nicht erst in der Zeit der Wende erworbenen, Hang zum Widerspruch ganz zu verlieren. Nach einem anfänglichen Vetrauensverlust, der auf die ungelösten Widersprüche in der DDR-Gesellschaft zurückzuführen war, wurde die Nachfolgerin der früher führenden Staats- und Regierungspartei, SED/PDS, von circa 20 Prozent der an den Wahlen teilnehmenden Ostdeutschen bevorzugt.
Diskussionen über die Geschichte und Kultur der DDR fanden vor allem im privaten und halböffentlichen Raum statt. In den offiziellen Medien wurden sie entweder weiterhin im Stil des ‚Kalten Krieges‘, oder als apolitische ‚Ostalgie‘ ausschliesslich denunziatorisch geführt. Als nach etwa zwei Jahrzehnten für die Wähler*innen im Osten nicht mehr zu übersehen war, dass die politische Folgestruktur der SED/PDS, die PDS/LINKE, auch nur die Verhältnisse verwaltete und keine Ideen für die wirtschaftliche und damit soziale Verbesserung der Lage hatte, wandte man sich nach und nach einem neuen parlamentarischen Oppositionsprojekt zu: der AfD. Eine in ihren Strukturen und führenden Köpfen zutiefst westdeutsche Partei, begegnet den ostdeutschen Erfahrungen sozialer Deklassierung mit nationalistischen und rassistischen Angeboten und kann dabei auf eine seit dem Anschluss der DDR an die BRD entstandene rechtsradikale Basis bauen. Angefangen mit der nationalistischen PEGIDA-Bewegung und den daran anschliessenden Wahlerfolgen der AfD setzte bei jungen Linken mit ostdeutschem Hintergrund allmählich ein Prozess der konkreteren Beschäftigung mit ihrer Region ein, in dem Bewusstsein, dass diese sich vom Rest des Landes unterscheidet. Dabei geht es um Diskussionen zu ökonomischen, politischen und kulturellen Themen sowie ihre historische Einordnung, die sie aus dem Privaten kannten. In der Öffentlichkeit wurden diese aber anders oder gar nicht verhandelt – auch nicht in ihrer linken Lebenswelt. Aus einer verschämten, nie selbst thematisierten ostdeutschen Herkunft, wurde ein selbstbewusstes Auftreten, das auch in Westdeutschland nicht mehr übersehen werden konnte.
Im Unterschied vereint?
Das Experiment der politischen und wirtschaftlichen Vereinigung zweier unterschiedlich gewachsener Gesellschaften, kann durch die vollständige Assimilierung der einen als gescheitert gelten. Dies gilt auch für die Linke. Das Ergebnis nach 30 Jahren ist: Deindustrialisierung, Entvölkerung und eine rechtsnationalistische politische Entwicklung im angeschlossenen Teil. Dabei gab es eine linke Chance, als die sozialen Anschlussverwerfungen zu Tage traten.
Der anfängliche Vertrauensvorschuss wurde von der PDS zugunsten einer gesamtdeutschen Perspektive verspielt. Ausser ein paar Streicheleinheiten für die ostdeutschen Seele, hatte man wenig zu bieten. Auf die zu Recht formulierten spezifischen Probleme der Lohnabhängigen in Ostdeutschland gibt es bis heute keine Antworten. Fast drei Jahrzehnte nach der Deindustrialisierung und trotz des Wissens, dass nur die massive Schaffung von Arbeitsplätzen der Schlüssel zu einer langfristigen Lösung der sozio-ökonomischen Probleme ist, wird in gesamt- oder ostdeutschen Milieus bis heute nicht über eine digitale, nachhaltig-ökologische Re-Industrialisierung diskutiert.
Empirisch stellt man bei der Beschäftigung mit der sozialen Frage die Unterschiede zu einem historisch gewachsenen, westdeutschen Kapitalismus fest. Die Privatisierungspolitik der Treuhand führte neben der Deindustrialisierung auch dazu, dass es keine Klasse von Kapitaleigner*innen mit DDR-Biographien gibt. Bei dem Wenigen, was übrig blieb, waren Ostdeutsche die grosse Ausnahme. Das allermeiste fiel an westdeutsche und einige internationale Kapitalist*innen, die eine andere Standortpolitik betreiben, als Familienunternehmen aus der Region.
Auf der Seite der Lohnabhängigen kann man, wie weiter oben schon beschrieben wurde, von einer sich seit 30 Jahren verfestigenden prekären Lage sprechen. Die angebotenen gesamtdeutschen politischen Lösungen, die ausschliesslich einer bundesrepublikanischen Tradition folgen, imaginieren bis heute eine vermeintliche Homogenität von Ost und West, die es aber nie gegeben hat. Gleichzeitig sind die Angebote auch für die alten Bundesländer zum grossen Teil ungeeignet, eine Entwicklung hin zu mehr sozialer Gleichheit zu ermöglichen. Doch das müssen die im Westen Sozialisierten für sich selbst entscheiden.
Für einen (sozialistischen) Aufbruch Ost!
Eine fortgesetzte Anwendung elitärer Politikkonzepte, bei der eine aus der linksliberalen, kleinbürgerlichen Mittelschicht rekrutierte Funktionselite sich gegenüber der Mehrheit an Lohnabhängigen als intellektuelle Führung aufspielt und die zu verhandelnden Themen vorgibt, wird zu noch mehr Abwehrtendenzen führen. Das gilt nicht nur für Ostdeutschland. Aber dort ist das Versagen der gesamtdeutschen Linken am offensichtlichsten. Diese ist in ihrer Mehrheit scheinbar nicht Willens oder in der Lage, eine auf humanistischen Lösungen basierende Politik für alle Lohnabhängigen zu machen. Stattdessen wird das Bedürfnis nach sozialen Sicherheiten, wer möge es den Ostdeutschen verdenken, von diesem weitestgehend materiell abgesicherten Milieu ignoriert oder als antiquiert verachtet und so de facto den Rechtspopulist*innen mit ihren nationalistischen und rassistischen Lösungen überlassen. Diese nehmen das Geschenk dankend an.
Angesichts dieser Entwicklungen müsste sich eine gesamtgesellschaftliche Linke, die traditionell die Interessen der Lohnabhängigen vertrat, fragen, was sie denn falsch macht. Der Bezug zur Klasse ist offensichtlich zum grossen Teil, und insbesondere in Ostdeutschland, verloren gegangen. Stattdessen werden in weiten Teilen der Linken moralische Verwarnungen ausgesprochen. Angesichts der Wahlerfolge der AfD fühlt man sich in der Einschätzung der sogenannten Masse und ihres „rassistischen Grundkonsens“ bestätigt, wendet sich umso mehr dem eigenen kleinbürgerlichen Milieu und seinem ganz eigenen Blick auf die Welt zu und verliert dabei immer mehr an gesellschaftlichem Einfluss. Parallelen zu anderen europäischen Ländern sind nicht zufällig.
Eine ostdeutsche Linke
Eine ostdeutsche Linke muss sich der postmodernen, identitätspolitischen Gefahren bewusst sein, die lauern. Gleichzeitig dürfen aber auch keine historisierenden sozialistischen Antworten gegeben werden. Das ostdeutsche Unwohlsein beruht nicht in erster Linie auf einer besonderen kulturellen Identität, die sich in einen mit der Zeit unüberschaubar werdenden Kanon anderer Identitäten einreiht und mit Antdiskriminierungsappellen heilen liesse. Dieses Gefühl beruht vielmehr auf der, unter Marxist*innen allseits bekannten, materiellen Ungleichheit im Kapitalismus. Das ist nicht jeder Person, die dieses Gefühl beschleicht, gleich bewusst. Aber wofür ist denn eine Linke da, wenn nicht dafür, diese Erkenntnis zu vermitteln?
Rief da jemand nach mir? „Ich komme !“ Steuern kann ich nicht, aber die Richtung weisen
Die Lohnabhängigen haben aufgrund ihrer Alltagserfahrungen ein reichhaltiges Wissen über die sozialen Verwerfungen. Man muss ihnen Lösungen anbieten, die nicht aus den goldenen Zeiten der Arbeiter*innenbewegung stammen, aber auf deren Grundlagen beruhen und dabei die realsozialistischer Gesellschaften kritisch reflektieren. Und man muss sie einladen und ihnen zu ermöglichen, bei der politischen Arbeit mitzuwirken, um ihren Interessen gesellschaftliche Hegemonie zu verschaffen. Es geht dabei nicht nur um die Unterstützung gewerkschaftlicher Kämpfe, sondern um die aktive Schaffung einer Basis, die auch im Alltag jenseits der Produktionsphäre ansetzt.
Bis in die dritte Generation hinein kennen Ostdeutsche noch aus eigenem Erleben oder Erzählen die Vorzüge der DDR-Gesellschaft. Ansonsten würden sie mit der heutigen Situation nicht so unzufrieden sein. Es ist nicht das nationalistische Gefühl, „Deutscher 2.-Klasse“ zu sein. Aus diesem Erklärungsansatz spricht nur die grenzenlose Überheblichkeit westdeutscher Eliten, die dieses Deutschland für das Mass aller Dinge halten. Für die Lohnabhängigen einer verlängerten Werkbank im Osten, in ihrem tagtäglichen Kampf, über die Runden zu kommen, ist es das nicht. 30 Jahre Ungleichheitserfahrungen mit dem Wissen, dass es auch anders gehen könnte, sind vielleicht der Grund dafür, dass fast zwei Drittel der Ostdeutschen sich noch immer mit der DDR verbunden fühlen.
Die ostdeutsche Gesellschaft braucht eine originäre ostdeutsche Linke, die den Lohnabhängigen Politikangebote entsprechend der vorhandenen gesellschaftlichen Spezifik unterbreitet. Nach 40 Jahren DDR und 30 Jahren angeschlossenes Ostdeutschland, also insgesamt 70 Jahren unterschiedlicher Entwicklung, steht den Ostler*innen nicht nur aus demokratietheoretischer Sicht das Recht zu, sich eigenständige politische Verkehrs- und Aushandlungsformen zu schaffen.
Dies sollte man nicht als Aufruf zu einer irgendwie gearteten Spaltung, der mühsam vereinigten, aber immer handlungsunfähiger werdenden gesamtdeutschen ‚Mosaiklinken‘ verstehen. Vielmehr als Beitrag, die notwendigen, eigenständigen Debatten im Osten zu führen. Die westdeutsche Linke sollte es als Chance zur Reflexion des eigenen Zustandes begreifen und als Inspiration für Veränderungen. Wir sind an einer Fülle von Meinungen und einer sich daraus entwickelnden Debatte zum Thema „ostdeutsche Linke“ äusserst interessiert.
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2.) von Oben —„maischberger. die woche“ am 13. November 2019 in Köln. Produziert vom WDR. Foto: Sahra Wagenknecht, Die Linke (ehemalige Fraktionsvorsitzende)…
Erst war Scheuer – Vielleicht rief er nach Corona ?
Von Anja Krüger
Bundesverkehrsminister Scheuer hat einen neuen Radverkehrsplan vorgelegt. Bis 2030 soll Deutschland ein lückenloses Radwegenetz bekommen.
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hat die Kommunen aufgerufen, die für einen besseren Radverkehr bereitstehenden Mittel abzurufen. „Das Rad boomt und Geld dafür ist da: Bis 2023 fördert allein das Verkehrsministerium bessere und sichere Radinfrastruktur mit der Rekordsumme von 1,46 Milliarden Euro“, sagte er bei der 7. Nationalen Radverkehrskonferenz in Hamburg. „Jetzt müssen die Kommunen zugreifen.“
Scheuer stellte bei der Konferenz – die sein Ministerium gemeinsam mit der Stadt Hamburg veranstaltet hat – den Nationalen Radverkehrsplan 3.0 vor. Ziel des Leitfadens ist, dass bis zum Jahr 2030 ein flächendeckendes Radwegenetz in Deutschland entsteht. Das Bundeskabinett hat den Plan in der vergangenen Woche verabschiedet. Er schreibt die Vorläufer aus den Jahren 2002 und 2012 fort, mit denen die Lage für Radler:innen auch schon verbessert werden sollte. Sie sind weit hinter ihren Zielen zurückgeblieben.
Ein entscheidender Unterschied zu früher ist allerdings, dass heute sehr viel Geld für den Ausbau von Radwegen und Abstellmöglichkeiten zur Verfügung steht. „Der nationale Verkehrswegeplan ist ein Potpourri von vielen, vielen einzelnen Maßnahmen, die wir jetzt starten werden“, sagte Scheuer. Vorgesehen sind etwa der Bau von Radschnellwegen für Pendler:innen, auch soll der Bau von reinen Fahrradstraßen erleichtert und der von Fahrradparkhäusern gefördert werden. „Wir wollen die Städte sicher gestalten“, sagte Scheuer.
Auch der ländliche Raum müsse stärker in den Blick genommen werden. Wenn Pendler:innen aufs Rad umsteigen, würde das die Städte entlasten. Es sei bereits viel verbessert worden. „Aber wir müssen mehr Tempo aufnehmen“, sagte er. Das soll allerdings nicht auf Kosten der Autofahrenden erfolgen. „Wir haben den Plan so gestaltet, dass es nicht gegen das Auto, sondern um ein Miteinander geht“, betonte er.
Der neue Radverkehrsplan hat die Zielvorgabe, die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Radfahrer im Vergleich zum Jahr 2019 bis 2030 um 40 Prozent zu senken, gleichzeitig sollen sich die gefahrenen Radkilometer bis dahin verdoppeln. Der ökologische Verkehrsclub Deutschland (VCD) lobt, dass die Vision Zero – das Vorhaben, die Zahl der Verkehrstoten auf null zu senken – zu einem Leitbild der Radverkehrsförderung erklärt wird.
Aber: Es sei nur von „reduzierten Geschwindigkeitsunterschieden“ die Rede, Tempo 30 für Autos komme auf den 80 Seiten des Radverkehrsplans nicht ein einziges Mal vor, kritisierte Anika Meenken, Sprecherin VCD für Radverkehr und Mobilitätsbildung. „Dabei ist Tempo 30 als Basisgeschwindigkeit innerorts eine der wichtigsten Maßnahmen überhaupt, um die Vision Zero greifbar zu machen“, sagte sie.
Nach dem beeindruckenden Einbruch der Zustimmung für das Machtgehabe der C-Parteien bei der Kür des Kanzlerkandidaten wird man unwillkürlich an den Schlager von Mike Krüger erinnert, der sich über grotesk kompliziertes Vorgehen bei an sich ganz einfachen Vorgängen mokiert. Was da der ehem. Chefredakteur der KirchenZeitung Aachen, Armin Laschet, und der Jurist aus Franken, Markus Söder, vorgeführt haben spottet jedem Demokratieverständnis und weckt schlimmste Befürchtungen für ihr zukünftiges Verhalten.
Die rheinische Frohnatur Laschet hat Details immer schon anderen überlassen, so z.B. seinem erzkonservativen, katholikalen Strategieberater Nathanael Liminski, während der bayerische Landesfürst nicht nur in Berlin z.B. eine bescheuerte Verkehrspolitik zulässt. Nein, die Würfel sind nicht wie in einer Art Losentscheid gefallen. In einem miesen Geschiebe ist da ein Nippel durch eine Lasche gezogen worden, um dann in einem elenden Gewürge nach oben gedreht zu werden und den Druck in der Tube rauszulassen. Aber was quillt da heraus und auf uns zu? Wer drückt da eigentlich im Hintergrund?
Eine Schlüsselrolle spielt sicherlich Liminski, der seinem Mentor seit Jahren auf Schritt und Tritt anschiebend hinterherlatscht. Aber seit der Kanzlerkandidatenkür der C-Parteien gibt es ab sofort eine Vielzahl von Schattenfiguren, die früher oder später ihren Lohn für erbrachte Steigbügelhalterei einfordern werden. Und das selbstverständlich – wie vorgeführt – am Willen des Volkes vorbei, postenheischig und machtgeil. Dabei braucht es nicht nur wegen der aktuellen Pandemie neue Ideen, um unsere überbürokratisierte Republik in die Zukunft zu führen, eben keine Beharrer und korrupten Politiker, die sich an der Not ihrer Wähler bereichern. Auf frischen Wind haben solche Nippel-durch-die-Lasche-Zieher aber keinen Bock. Und ob ein solcher aus Bayern gekommen wäre, ist fraglich, weil sich die ehemals alleinig führende CSU dem Druck der mittlerweile zweitstärksten Partei der Grünen nur durch die Koalition mit einer nicht weniger konservativen Partei entzogen hat.
Laschet Kirchenchoral Sänger vor K. Karls „Kackstuhl“ ?
In dem ganzen Gezerre um die Kanzlerkanditatur gab es kein einziges für das Wahlvolk verständliches Argument, wegen welcher Qualitäten der jeweilige Kandidat den Vorzug haben sollte. Der eine verwiese obstinat auf bewährte Strukturen an der Parteispitze, der andere mehr auf die Stimmung am unteren Ende. Jetzt haben die Parteigranden zwar ihren Nippel durch die Lasche bugsiert, aber die Meinung des Volkes kam prompt. Im Sturzflug krachen die Unionsparteien auf nur und nie gehabte 26%, während die Grünen kräftig auf 22% anziehen und somit der Union bereits schmerzhaft auf die Zehen treten. Nach dem ganzen Kladderadatsch steht Laschet jetzt vor einem splittrigen Scherbenhaufen. Der Rivale aus Bayern leckt sich erst einmal die Wunden, während die anderen Granden jetzt ihre Rangordnung erschnüffeln. Das Volk steht ungläubig vor soviel Inkompetenz und ist offenbar bereit, solche Nippel nicht mehr durch die Lasche ziehen zu lassen. Die Latschen eines Kanzlers sind offensichtlich ein paar Nummern zu groß für Laschet.
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Impfstoffpatente gehören Pharmakonzernen. Ohne sie könnten Produktionsstätten weltweit größere Mengen herstellen.
Es gibt unterschiedliche Arten von Massenmord. Eine heißt „Patent“. In einer Welt extremer sozialer Unterschiede entscheiden Patente, wer überleben darf. Deswegen haben jene, die in einer globalen Pandemie wiederholt verhindern, dass die Patentrechte für Covid-19-Arzneien, Impfstoffe und medizinische Produkte ausgesetzt werden, Blut an den Händen. Das ist keine Übertreibung, das ist tödlicher Ernst.
Grund dafür ist, dass die Impfstoffe den Pharmakonzernen gehören. Selbst innerhalb der kapitalistischen Logik ist das ungerecht, denn ihre Entwicklung wird in den meisten Fällen durch jahrzehntelange öffentliche Finanzierung erst ermöglicht. Die Impfstoffe der Unternehmen Biontech/Pfizer und Moderna beruhen auf grundlegenden Entdeckungen, die mit staatlicher Unterstützung an universitären Forschungsstellen gelungen sind.
So die essenziell wichtige RNA-Modifikation (daher der Name „Moderna“: „Modified“ + „RNA“), die an der Universität Pennsylvania entwickelt wurde. Neben solcher Grundlagenforschung hat die öffentliche Hand zudem weltweit zusätzliche 93 Milliarden Euro in die Entwicklung der Impfungen investiert. „Dieser Impfstoff gehört den Menschen“, forderte folgerichtig Peter Maybarduk, Leiter von Access to Medicines bei Public Citizen in der Zeitschrift Scientific American.
Forschung durch Steuergelder finanziert
„Öffentlich bezahlte Wissenschaftler haben ihn erfunden, die Steuerzahler haben seine Entwicklung finanziert. Er sollte Eigentum der ganzen Menschheit sein.“ Zudem sorgen die Pharmapatente für eine künstliche und somit profitable Verknappung der Mengen. Wie viel mehr könnte hergestellt werden, wenn weltweit die Produktionsstätten nun grünes Licht bekämen. Stattdessen erfolgt eine privatwirtschaftliche Enteignung gesellschaftlichen Vermögens – mithilfe des Staates und somit als staatskapitalistischer Übergriff.
Die zu erwartenden Gewinne werden gigantisch sein, denn die Konzerne haben sich bereit erklärt, die Preise nur so lange zu deckeln, wie die Pandemie anhält. Sie haben sich aber ausbedungen, selbst zu entscheiden, wann diese vorbei sein wird. Einige von ihnen haben angedeutet, die Schonzeit werde spätestens Ende dieses Jahres ablaufen. Ein amerikanischer Freund schrieb mir neulich, wie dankbar seine Eltern gewesen seien, die Impfung kostenlos erhalten zu haben.
„Aber ihr habt das verdammte Zeug ohnehin schon bezahlt“, erwiderte er, „ihr seid also dankbar, es nicht doppelt bezahlen zu müssen.“ Also, zum Mitschreiben, für all jene ohne Herz und Hirn, die dieses menschenverachtende System aufrechterhalten: Uns ALLEN gehört der Impfstoff und es ist in unser ALLER Interesse, dass weltweit ALLE geimpft werden, also gibt es nur eine vernünftige und ethische Politik: Impfstoff als Gemeingut, weltweit kostenlos oder zum Selbstkostenpreis verteilt.
Sollen Soldaten töten oder Brunnen bauen? In einem Buch des Historikers Sönke Neitzel wird die Rolle des Militärs in Deutschland neu diskutiert. Zwei taz-Journalisten sind unter Soldaten aufgewachsen, der eine im Osten, der andere im Westen. Ein Gespräch darüber, woran sie sich erinnern, was sie lieber vergessen würden – und wieso sie ihren Gefühlen nicht immer trauen.
Ambros Waibel: Lieber Daniel, wenn wir den Titel von Sönke Neitzels Militärgeschichte ernst nehmen, dann waren es „Deutsche Krieger“, unter denen wir aufgewachsen sind: Dein Vater war bei der NVA, mein Vater bei der Bundeswehr. Neitzels Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, in dem die militärische Auseinandersetzung wieder als „Kernauftrag“ deutscher Streitkräfte bezeichnet wird; also nicht die Friedenssicherung, die Abschreckung oder der viel zitierte Brunnenbau, sondern das Kämpfen, das Töten und das Sterben. Neitzel kommt dem entgegen, indem er die „archaische Seite des Soldatenberufs“ betont, „dessen raison d’etre der Krieg ist“. Gleichzeitig wird in dem Buch die Frage aufgeworfen: Braucht die Bundesrepublik eigentlich eine Armee? Wenn wir also jetzt darüber reden wollen, was „Deutsche Krieger“ in uns ausgelöst hat, dann nicht nur auf der Ebene: Wir erinnern uns mal, wie das früher so war, für uns als Kinder; sondern wir sind Teil eines aktuellen Diskurses. Oder wie siehst du das?
Daniel Schulz: Ich merke bei solchen Fragen, dass ich immer noch nicht richtig integriert bin. In der DDR war das Militärische im Alltag sehr präsent. Das hat mich geprägt, bundesdeutsche Brunnenbau-Debatten fühlen sich für mich verschoben an: Wozu soll eine Armee denn sonst da sein als für den Kampf? Von daher muss ich dich fragen: Gibt es etwas spezifisch Westdeutsches, was du bei Neitzel erkennst?
Waibel: Den Begriff der „Tribal Culture“, also eine Art Stammeskultur. Neitzel beschreibt einen Deal, den die Politik 1955 bei der Gründung der Bundeswehr mit dem Militär geschlossen hat. Man verspricht: Wir integrieren alte Wehrmachtssoldaten, auch höhere Ränge. Die müssen sich zumindest formal zu den Werten des 20. Juli 1944 bekennen, des Versuchs von Militärangehörigen, das Hitler-Regime zu stürzen. Im Gegenzug mischt sich die Politik nicht in die internen Angelegenheiten der Bundeswehr ein, solange es keine Skandale gibt. Politisch hat die Bundeswehr aber nichts zu melden. Dieses Verborgene erinnert mich an mein Aufwachsen. Mein Vater war zwar nie Soldat; er war schon zu alt, als die Wehrpflicht in der Bundesrepublik eingeführt wurde. Er hat aber sein ganzes Berufsleben als Jurist bei der Bundeswehr verbracht, zunächst als Rechtslehrer in einem Fliegerhorst …
Schulz: Bei der Elite.
Waibel: So sagt Sönke Neitzel das jedenfalls in seinem Buch. Mein Vater hat auf einem Fliegerhorst, also einem Luftwaffenstützpunkt gearbeitet und später als Wehrdisziplinaranwalt. Allein der Begriff „Fliegerhorst“ – dass ich dieses Wort so selbstverständlich gebrauche, das ist wahrscheinlich schon strange für viele Leute. Ich weiß nicht, ob du auch solche Worte hast, wo du denkst, die kennen nur Leute, die in einem ähnlichen Kontext aufgewachsen sind?
Schulz: Ich habe „Mein Bruder ist Soldat“ in der Schule gesungen. Die Väter meiner Freunde waren bei Übungen der Kampfgruppe. Meine Mutter war Melderin in der Zivilverteidigung, das sind beides Organisationen zum Heimat- und Katastrophenschutz, die eine paramilitärisch, die andere zivil. Die Großen haben in der Schule Weitwurf mit Metallhandgranaten geübt. Politisch stehe ich klar auf der Seite: Militär und Polizei stark einhegen und so transparent wie möglich kontrollieren. Aber unter meinen politischen Ansichten merke ich noch etwas Gefühltes oder Triebhaftes, das kommt wahrscheinlich von meinen Prägungen. Da kann ich dieses kollektive Entsetzen, weil hier mal die Bundeswehr ein Video für Schüler dreht oder weil Menschen von Waffen fasziniert sind, nicht nachvollziehen. Dass das gefährlich ist und eine Grenzüberschreitung, weiß ich intellektuell. Mein Gefühl zuckt aber mit den Achseln. Du merkst schon ein Befremden beim Begriff „Fliegerhorst“, ich komme mir bei solchen Debatten manchmal aus dem Land gefallen vor.
Waibel: Deine gefühlsmäßige Nähe zum Militärischen – hat das mehr mit deiner DDR-Sozialisation zu tun oder mit deiner familiären Konstellation?
Schulz: Kampfgruppe, Zivilverteidigung, das Erlernen von Hierarchien bei den Pionieren, paramilitärisches Training, das kannte die Mehrheit der Gesellschaft. Offizierssohn zu sein, war trotzdem nichts Alltägliches, ich kannte keine anderen Kinder, deren Eltern bei der Armee waren. Ich habe die Armeerundschau gelesen, das war eine Zeitschrift der NVA, ich habe ständig Bilder gemalt: Soldaten auf Lkws, Flugzeuge, Panzer. Warst du auch so fixiert auf deinen Vater und dieses Soldatische?
Waibel: Mein Vater war ja kein Soldat. Der hatte zwar auch eine Gasmaske, hatte ein Kleinkalibergewehr, aber das war nicht präsent im Alltag. Mein Vater war Rechtslehrer, und er hat für Prüfungen Multiple-Choice-Tests ausgegeben, die die Piloten ankreuzen mussten: Wann darf ich die Bomben abwerfen, solche Sachen. Und ich als Kind durfte die Lösungsschablone auflegen und diese Arbeiten korrigieren. Das hat Spaß gemacht. Ich war aber nie auf diesem Fliegerhorst. Mein Vater hat mir eingeschärft, wenn gefragt wird, was er für einen Beruf hat, soll ich sagen: Beamter. Von mir aus, habe ich gedacht. Gleichzeitig habe ich schon mitbekommen, dass das soziale Leben meiner Eltern sich in einem Reigen von Bundeswehrveranstaltungen abgespielt hat: Bälle, Empfänge, private Treffen.
Schulz: Und da trafen sich dann alle Waffengattungen?
Waibel: Bei uns daheim waren fast nie Soldaten, sondern Juristen, aus dieser Wehrrechts-Ecke. Der Wohnblock, in dem ich aufgewachsen bin, war allerdings eine reine Bundeswehrsiedlung. Ich sehe noch diese pensionierten Soldaten vor mir, wie sie die Straße fegen und dabei rauchen, weil sie das in ihren Schließfachwohnungen wahrscheinlich nicht durften.
Schulz: Im Neubau haben wir auch gewohnt, aber schön gemischt: Arbeiter, Bauern und ein Offizier.
Wenn wir schreiten Seit an Seit, stehen unsere Lakaien stehts bereit !
Waibel: Es gab auch ehemalige Wehrmachtssoldaten bei uns, die waren sehr entspannt, auf so eine gruselige Öffentliche-Dienst-Art. Was mein Vater von seinen Fällen als Disziplinaranwalt erzählt hat, beschränkte sich auf Anekdoten: Zwei Gefreite reinigen die Gully-Öffnung auf dem Kasernenhof, die Sirene ruft zum Mittagessen; sie lassen die Gully-Öffnung auf, ein Offizier fällt rein und tut sich weh. Das einzig Ernsthafte, woran ich mich erinnere, war eine Verhandlung zur Frage: Was passiert, wenn ein Soldat nachträglich den Wehrdienst verweigert und das Tucholsky-Zitat verwendet: „Soldaten sind Mörder.“ Der wurde nämlich angeklagt. Und das hat mein Vater übernommen.
Schulz: Du hast mit deinem Vater also nie angegeben? Wenn die anderen im Kindergarten geprahlt haben, welcher Vati den größten Trecker fährt, dann hab ich gesagt: Meiner kommt mit dem T-72 und schießt die alle um.
Waibel: Der Vater kommt mit dem Panzer!
Schulz: Genau. Meiner Mutter passte das überhaupt nicht, die ist christlich erzogen, wir waren jeden Sonntag in der Kirche. Für ihre ganze Familie war die NVA der Endgegner.
Waibel: Welcher Jahrgang ist dein Vater? Und was war seine Aufgabe?
Schulz: Mein Vater ist Jahrgang 1947. Er hat bei den Panzertruppen gedient. Später wurde er dann stellvertretender Leiter eines Wehrkreiskommandos. Wie hieß das in der Bundeswehr?
Waibel: Wehrbereichskommando, glaube ich. Das Wort klingt auf jeden Fall vertraut.
Schulz: De facto war mein Vater der Leiter von dem Ding und für die Heimatverteidigung eines Kreises im heutigen Brandenburg zuständig. Er hätte im Krieg die Kampfgruppen kommandiert: dickbäuchige Onkel Ottos, die bei den Übungen vor allem schnell zur Gulaschkanone wollten.
Waibel: Gab es einen Wehrersatzdienst in der DDR?
Schulz: Einen zivilen Dienst nicht, es gab die Bausoldaten, Die arbeiteten als Pfleger oder Küchenhelfer in militärischen Einrichtungen. Gegen Ende der DDR auch in Tagebauen und Großbetrieben, um den Mangel an Arbeitskräften auszugleichen.
Waibel: Ich frage, weil das auch in der aktuellen Diskussion wieder mitschwingt; dass nämlich – so ein FAZ-Kommentar kürzlich – die Debatte ums Militär in Deutschland immer noch von „pazifistischen und moralischen Grundtönen“ geprägt sei. Diese nicht töten müssenden Bausoldaten – siehst du die als Symbol dafür, dass auch im Osten zumindest ein Gefühl bestand, dass man deutsches Militär nicht völlig von der preußischen und erst recht nicht von der nazistischen Tradition trennen kann?
Schulz: Die Bausoldaten sind erkämpft worden, durch Verweigerer, von den Kirchen. Die wurden teilweise für Scheißjobs eingesetzt, viele durften nicht studieren. Nur 150.000 Männer haben sich das angetan, im Vergleich zu etwa 2,5 Millionen Wehrpflichtigen bis zum Ende der DDR. Es ist aber die Frage, inwieweit die NVA überhaupt eine Rolle spielen kann für eine bundesdeutsche Militärdebatte, weil auch Neitzel sie nur als Sonderfall auf 29 von über 600 Textseiten in seinem Buch passieren lässt: Passieren im Sinne von geschehen, aber auch im Sinne von an sich vorbeiziehen lassen.
„Die Arschlochdichte ist hier einfach nicht ganz so hoch“
Von Jesse Jochimsen
Wenn ich in der Fremde nach dem „woher“ gefragt werde, antworte ich wahrheitsgemäß: „Ich bin Münchner und lebe in Freiburg.“ Manchmal würde ich gerne noch hinzufügen, dass ich Letzteres aber ausschließlich wegen Heidegger tue. „Ich möchte einfach immer in der Nähe seines Geistes sein, wissen Sie, alles andere im Leben ist mir egal.“ Vielleicht wäre dann mal Ruhe. Aber so mutig bin ich nicht und vor allem selten schnell genug.
Denn bei der bloßen Erwähnung meines Wohnortes gehen meine Gegenüber in der Regel dazwischen. „Freiburg, ach wie schön!“, rufen sie aus, um mir anschließend eine halbe Stunde lang die Vorzüge meiner Stadt aufzuzählen. Das milde Klima. Die vielen Fahrräder. Die Nähe zu Frankreich. Und am allerwichtigsten natürlich: der berauschende Fußball des „FC“ (worauf ich kurz einwerfe, dass es „SC“ heiße – und dafür mit weiteren dreißig Vortragsminuten über den außergewöhnlichen Freiburger Fußballtrainer belohnt werde).
Den Abschluss der Ausführungen bilden in der Regel kritische Nachfragen: Scheint bei euch tatsächlich immer die Sonne? Wählen wirklich alle die Grünen? Ist der Christian Streich auch in echt so? – Ich hole dann einmal tief Luft und sage: „Ja.“
In Andreas Dresens Film „Sommer vorm Balkon“, der nicht zuletzt eine Hommage an Berlin-Prenzlauer Berg ist, gibt es eine denkwürdige Szene. Die von Inka Friedrich gespielte Protagonistin, arbeitslos, alleinerziehend, einsam und alkoholkrank, droht an, sich das Leben zu nehmen, und schiebt dann nach: „Oder ich gehe zurück nach Freiburg.“
Das ist die andere Erzählung über die Stadt und nicht selten der Subtext meiner Gegenüber: In Freiburg lebt man doch nicht! Entschuldigung, aber da macht man Urlaub. Oder studiert, und danach nichts wie weiter. „Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, Tanztheater dieser Stadt.“ Das ist Freiburg. Da zieht man möglichst schnell weg, um dann in Radio-Comedys mit den zurückgebliebenen Eltern zu telefonieren. Freiburg ist Wohlfühloase der Gutmenschen, Bionade-Biedermeier und Mülltrennungsterror. Und die Kinder machen Yoga und verwenden das Gendersternchen, bevor sie lesen und schreiben können. – „Ja, und?“ In Freiburg entfielen bei der letzten Landtagswahl mehr als 43 Prozent der abgegebenen Stimmen auf die Grünen, ein irrer Wert, und an durchschnittlich 145 Tagen im Jahr scheint hier die Sonne, so oft wie in keiner anderen deutschen Stadt. Beides merkt man Freiburg an. Ja, bisweilen ist die alternative conformity wirklich schwer zu ertragen, das Thujaheckenhafte des Bildungsbürgertums und die geldige Selbstzufriedenheit der Esos.
Die Untersuchung der Knochen auf dem Gelände des Berliner Otto-Suhr-Instituts enthüllt sich überlappende Unrechtskontexte.
Jetzt wird es kompliziert, dachte womöglich die ein oder andere am vergangenen Dienstag. Mehr als 250 Menschen waren digital dabei, als die Freie Universität Berlin (FU) die Erkenntnisse präsentierte, die sie über Fragmente menschlicher und tierischer Knochen gewonnen hatte, die auf einem ihrer Gelände geborgen worden waren. Die Grabungen, die die Knochen zutage gefördert hatten, hatte die FU 2015 und 2016 in Auftrag gegeben – auch in Reaktion auf harsche Kritik.
Denn zuvor waren im Zuge von Bauarbeiten bereits vergleichbare Funde gemacht worden. Diese hatte man aber entsorgt, ohne zuvor zu versuchen, der Identität der Menschen auf die Spur zu kommen, von denen die Überreste stammten. Dafür gab es Schelte. Mit gutem Grund, denn der Fundort der Überreste ist ein historisch sensibles Gelände. Auf dem Grundstück, das heute der FU gehört, befand sich von 1927 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A).
Vom KWI-A ist bekannt, dass es enge Verbindungen zum Vernichtungslager Auschwitz unterhielt. Damals kam deshalb die Vermutung auf, dass es sich um Knochenfragmente von NS-Opfern handeln könnte. Der Befund, der am Dienstag vorgestellt wurde, ist allerdings komplizierter. Danach kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei einigen der Funde um Überreste von Ermordeten aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern handelt.
Insbesondere die Gipsabformung eines toten Mannes gibt Rätsel auf. Zugleich deuten jedoch Indizien darauf hin, dass der Großteil der Funde auf anthropologische und archäologische Sammlungen zurückgeht, die im KWI-A verwahrt wurden. Ein Teil dieser Sammlungen war bereits vor der Institutsgründung zusammengetragen worden, insbesondere während der deutschen Kolonialzeit in allen Teilen der Welt.
Verbindungen zum Vernichtungslager Auschwitz
Über eine genauere regionale Herkunft der Menschen, deren Überreste in Dahlem verscharrt wurden, lässt sich, ausgehend von den bisher verwendeten Methoden, nichts sagen. Klar ist aber, dass die Überreste bewusst vergraben wurden, um sie entweder zu entsorgen oder zu verstecken. Die Erkenntnisse von vergangenem Dienstag sind erschreckend. Denn, wie Susan Pollock, die Leiterin der Untersuchungen, hervorhob:
Die Überreste sind in jedem Fall mit einer menschenverachtenden Respektlosigkeit auf dem Gelände verscharrt worden. Zugleich weiten die neuen Erkenntnisse den erinnerungspolitischen Blick. Sie legen nahe, dass Unrechtskontexte, die üblicherweise als getrennte Phänomene gedacht werden, sich mitunter überlappen. Und dass diese Überlappungen ein verschränktes und solidarisches Erinnern nötig machen.
Die Geschichte des KWI-A, auf dessen Praktiken die Funde zurückgehen, ist selbst eine Geschichte von Überlappungen. Hier wirkten unterschiedliche Unrechtskontexte und verschränkten sich unterschiedliche Machtverhältnisse. Das KWI-A wurde in der Weimarer Republik gegründet und hatte bis 1945 Bestand. Hier in der Ihnestraße 22 wurde darüber geforscht, wie Vererbung im Menschen funktioniert: Ist es das Erbgut, das über Merkmale, Verhalten und Krankheiten im Menschen bestimmt?
Oder sind es Umwelteinflüsse? Das war die zentrale Frage, um die sich die Forschungen des Instituts drehten. Mitarbeiter*innen des KWI-A beteiligten sich aber auch aktiv an der Umsetzung eugenischer Maßnahmen, etwa an der behindertenfeindlichen und rassistischen Sterilisierungspolitik der Nationalsozialisten, der schätzungsweise 400.000 Personen zum Opfer fielen.
Körperteile aus den Händen Josef Mengeles
Das KWI-A unterstützte die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nazis und profitierte zugleich von ihr – auf besonders drastische Weise, als die Biologin Karin Magnussen sich aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau für ihre Forschung Körperteile von dort ermordeten Angehörigen der Sinti-Familie Mechau zusenden ließ. Absender war Josef Mengele, der im Lager als „Arzt“ stationiert war.
Die Forschungen des KWI-A bauten auch auf kolonialem Wissen auf: Eugen Fischer hatte 1908 in Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia, Nachfahr*innen von weißen Siedlern und Khoi Khoi beforscht. Er war dadurch zu dem Ruhm erlangt, der ihm den Weg zum Direktorat in Dahlem ebnete.
Und er übernahm am Dahlemer Institut eine anthropologische Sammlung mit Gebeinen von mehreren Tausend Menschen, die Felix von Luschan zum großen Teil während der Kolonialzeit hatte zusammentragen lassen und die auch am KWI-A beforscht wurde. Die Wissensbestände und Ideen, die das KWI-A prägten, lassen sich freilich nicht einfach in Schubladen stecken: hier „koloniales Wissen“, dort „eugenisches Wissen der Weimarer Zeit“, dort „NS-Wissen“.
Erst recht nicht aus Sicht von Zeitgenoss*innen, für die sie vermutlich ein Kontinuum bildeten, das ab und an Brechungen und Wendungen aufwies. „Rasse“ ist das zentrale Konzept, das dieses Kontinuum prägte. Aber auch beispielsweise die Figur des „Mischlings“.
Zu Zeiten von Fischers Forschungen in Namibia interessierte sie auch deshalb, weil Kolonialverwaltungen sich fragten, welche Positionen und Rechte sie jenen zuweisen sollten, die sich ihrem Versuch entzogen, eine nach den Dichotomien weiß/of color bzw. kolonisierend/kolonisiert segregierte Gesellschaft zu etablieren. Auf keinen Fall dürften diese Personen Weißen gleichgesetzt werden, hatte Fischer gemahnt.
Die Initiative #ZeroCovid – „Das Ziel heißt Null Infektionen! Für einen solidarischen europäischen Shutdown“ – macht seit Jahresanfang von sich reden, nachdem Ende 2020 ein internationaler Kreis von Wissenschaftlern einen entsprechenden Aufruf gestartet hatte (siehe die deutsche Website: https://zero-covid.org/). Sie wirbt mit der Anzahl ihrer Unterstützer, mittlerweile über 100.000, fordert einen radikalen Lockdown und wendet sich dabei gerade auch an Linke und Gewerkschaften. Für die bürgerliche Presse war gleich klar, dass es sich um einen Fall verfehlter Kapitalismuskritik handelt – „Reines Wunschdenken“ (SZ,22.1.21) –, also zu vernachlässigen ist.
Inzwischen liegt jedoch eine Reihe ernstzunehmender Stellungnahmen vor, z.B. beim Online-Magazin Telepolis (https://www.heise.de/tp/). Dort nannte Karl Reitter das Vorhaben blauäugig und naiv und warf der Initiative vor, linke Flankendeckung für einen autoritären Corona-Staat zu leisten. Aus Gewerkschaftskreisen gab es dagegen einen unterstützenden Aufruf, u.a. mit der Parole „Alle Räder stehen still – stoppt die Infektionen am Arbeitsplatz“, den Detlef G. Schulze zuletzt bei Scharf links mit einem skeptischen Kommentar versah: „Die Formulierungen erwecken leicht den Eindruck, daß es sich um eine einfach zu machende, technokratische Sache handele – also vernachlässigen den Klassenkampf, der zur Durchsetzung nötig wäre“.
Wer hat nun recht, die Initiatoren oder die Kritiker? Oder vielleicht keiner von beiden? Hier ein Versuch, die Probleme zu sortieren und zu klären, wo die streitenden Parteien richtig liegen – und wo nicht.
Was die Zero-Initiative will und wo sie daneben liegt
Ausgangspunkt des Aufrufs ZeroCovid ist die Feststellung: „Nach einem Jahr Pandemie sind wir in ganz Europa in einer äußerst kritischen Situation.“ Schon dieser erste Satz wirft Fragen auf: Wer ist eigentlich das „Wir“, das da angesprochen wird? Schließlich stellt sich die Situation für die Menschen in Europa ganz unterschiedlich dar – je nachdem, welche Konsequenzen die Entscheidungen der Politik für ihre soziale Rolle haben.
Von diesen Unterschieden will der Aufruf zunächst einmal nichts wissen. Die Tatsache, dass viele Menschen erkranken und sterben, führt ihn zu der Diagnose: „Die Maßnahmen der Regierungen reichen nicht aus: Sie verlängern die Pandemie, statt sie zu beenden, und gefährden unser Leben. Die Strategie, die Pandemie zu kontrollieren, ist gescheitert. (…) Wir brauchen jetzt einen radikalen Strategiewechsel: kein kontrolliertes Weiterlaufen der Pandemie, sondern Beendigung: Ziel darf nicht in 200, 50 oder 25 Neuinfektionen bestehen – es muss Null sein.“
Unterstellt wird mit der Feststellung vom regierungsoffiziellen Scheitern der Pandemiestrategie, diese hätte den Verlust von Menschenleben um jeden Preis verhindern sollen. Dabei geben die Autoren des Aufrufs mit ihrem Lagebericht selber zu erkennen, dass es den Regierungen darum nie ging. Die Kontrolle des Pandemiegeschehens kennt eben keine absolute Zahl von Toten oder Infizierten, an der sie sich messen würde. Alle Zahlen sind Indikatoren für deren gelungene oder weniger gelungene Realisierung. Eine veränderte Zielsetzung – weil regierungsoffiziell jetzt die Todesfälle das Scheitern anzeigen würden – ist nicht anzutreffen. Die Zuständigen sehen keinen Anlass, ihre Strategie grundlegend zu ändern. Die unterstellte Gemeinsamkeit ist deshalb schon im Ausgangspunkt eine Fiktion.
Zentrales Moment der von ZeroCovid vorgeschlagenen Strategie ist die Ausweitung des Lockdowns: „Mit Impfungen allein ist der Wettlauf gegen die mutierte Virusvariante nicht zu gewinnen – erst recht nicht, wenn die Pandemiebekämpfung weiter aus aktionistischer Einschränkung der Freizeit ohne Shutdown der Wirtschaft besteht.“ In der Tat, vom Standpunkt einer effektiven Pandemiebekämpfung aus ist es wirklich nicht zu verstehen, wieso die Bürger in ihrer Freizeit Abstand halten oder sich nicht zu mehreren in geschlossenen Räumen begegnen sollen, während sie sich auf dem Weg zur Arbeit gedrängt in Bussen und Bahnen aufhalten oder den ganzen Tag über in Büros oder Fabriken gemeinsam aktiv sein müssen, ohne die ganze Zeit den notwendigen Mindestabstand einhalten zu können.
Dass dies so ist, könnte einen aber auch auf die Idee bringen, dass dies wegen der Rücksichtnahme auf die Wirtschaft und ihr Wachstum genau so sein soll und dass Infektionen und Todesfälle deshalb in Kauf genommen werden. Wirtschaft ist dabei natürlich nicht gleich Wirtschaft: Das Schließen der Freizeitindustrie trifft zwar ökonomische Sektoren, aber eben nicht die entscheidenden Teile, die Deutschlands Stärke auf dem Weltmarkt begründen.
Irgendwie merken auch die Autoren des Aufrufs, dass die Stilllegung der Wirtschaft von der Politik so einfach nicht zu erwarten ist. Andererseits wollen sie keinen direkten Gegensatz zu ihr aufmachen: „Wir sind allerdings überzeugt, dass die Eindämmung des Sars-CoV-2 Virus (sic!) nur gelingen kann, wenn alle Maßnahmen gesellschaftlich solidarisch gestaltet werden.“
Statt den Gegensatz zu benennen, erfolgt also ein Appell ans solidarische Verhalten. Solidarität im hier gemeinten Sinne gründet aber nicht auf einem gemeinsamen Interesse oder einer gemeinsamen Einsicht in sachliche Notwendigkeiten. Vielmehr geht es um das Absehen von allen Unterschieden, die in der Gesellschaft (und zwischen den Staaten) bestehen. Obwohl klar ist, dass die Nationen in Konkurrenz zueinander ihren Vorteil suchen (und dies auch bei dem Kampf um Impfkapazitäten deutlich machen), wendet sich der Aufruf einfach an alle Staaten, zumindest in Europa, die Null bei den Neuinfektionen anzustreben.
Wenn dies gelinge, könnte man wieder in einer gemeinsamen Aktion vorsichtig daran gehen, die restriktiven Maßnahmen zu lockern. Dass mit dieser optimistischen Perspektive nicht alles gelöst ist, geben die Autoren auch zu erkennen. Denn sie fordern zudem eine langfristige Vision für Europa. Worin sie bestehen soll, bleibt dann offen.
Doch deuten sich Zweifel am eigenen Konzept an, wenn aus dem bis dahin vorherrschenden „Wir“ und dem wohlmeinenden Appell an die Staaten Europas ein Aufruf an die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften wird: „Wichtig ist, dass die Beschäftigten die Maßnahmen in den Betrieben selber gestalten und gemeinsam durchsetzen. Mit diesem Aufruf fordern wir auch die Gewerkschaften auf, sich entschlossen für die Gesundheit der Beschäftigten einzusetzen, den Einsatz von Beschäftigten für ihre Gesundheit zu unterstützen.“
Etwas Skepsis und gut gemeinte Vorschläge
Irgendwie wissen also auch die Autoren, dass ihre schöne Vorstellung von einem radikalen Shutdown bei der Politik nicht auf offene Ohren stößt. Eine Schlussfolgerung bezüglich der offiziellen Ziele der Politik wollen sie aber nicht ziehen. Dann wäre es ja aus mit dem „Wir“ und man müsste die entscheidenden Gegensätze zur Sprache bringen, z.B. zwischen der arbeitenden Menschheit und der Politik.
Denn der Versuch, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, ohne der Wirtschaft wirklich zu schaden, geht auf Kosten der Gesundheit derer, die weiterarbeiten müssen. Deshalb wäre es notwendig, den Widerstand der Arbeitnehmer gegen die Entscheidungsgewalt der Arbeitgeber, die von Politik und Medien abgesegnet ist, in Gang zu setzen und zu stärken. Diesen Schluss wollen die Autoren aber nicht ziehen. Auch sie wissen, dass ein Fernbleiben von der Arbeit für die Mehrheit der Menschen gleich Einkommensverlust bedeutet: „Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig.“ Und so können sie sich vorstellen, dass der Staat – wo er doch so viel Geld für Rettungspakete ausgibt – dies genauso gut für die Bürger tut, die von ihrer Arbeit leben müssen.
Bei solchen konstruktiven Vorschlägen muss man nur davon absehen, warum der Staat wofür Geld ausgibt und wo er dies sein lässt! Schwer zu ermitteln sind die Gründe natürlich nicht: Der „Wumms“ des Finanzministers soll ja, wie nicht verschwiegen wurde, die Wirtschaft vor der Krise schützen – und er hat offenbar auch Wirkung gezeigt, wie die Gewinnmeldungen nicht nur in der Automobilindustrie zeigen. Dass dieses Geld genauso gut an Obdachlose oder für Migranten ausgegeben werden könnte, wie der Aufruf vorschlägt, will die staatliche Zwecksetzung einfach nicht zur Kenntnis nehmen.
Und wenn man schon dabei ist, von den staatlichen Zwecken abzusehen, und die politische Gewalt für eine (potenzielle) Wohlfahrtseinrichtung hält, dann kann man auch gleich den Ausbau des Gesundheitswesens fordern oder die Impfstoffe zu einem globalen Gemeingut erklären, obgleich die Staaten gerade damit beschäftigt sind, letztere möglichst bei ihnen als Geschäftsmittel zu entwickeln, um sie als Mittel in der staatlichen Konkurrenz um weltweiten Einfluss einzusetzen.
Mit der gleichen Ignoranz gibt der Aufruf sich dann wieder realistisch: „Die notwendigen Maßnahmen kosten viel Geld. Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich allerdings einige wenige Vermögende angeeignet haben. Mit diesem Reichtum sind die umfassende Arbeitspause und alle solidarischen Maßnahmen finanzierbar.“
Dass es in Europa viel Reichtum gibt, stimmt. Dass er sich in den Händen von Vermögenden befindet, auch. Nur besteht der Zweck der europäischen Staaten ja gerade darin, diesen privaten Reichtum zu mehren und sein Wachstum weiter zu befördern. Schließlich profitieren die Staaten von dem so produzierten Reichtum, indem er ihnen die Mittel für ihre Macht beschert.
Der gesellschaftliche „Rest“ ist als abhängige Größe vorgesehen, die diesen Reichtum schaffen darf, aber von ihm weitgehend ausgeschlossen bleibt. Und so muss sich denn auch der Schluss des Aufrufs wieder ignorant zu den gesellschaftlichen Verhältnissen stellen, denn schließlich organisieren die demokratischen Staaten genau diesen Gegensatz: „Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andrerseits.“
Wenn es keinen Gegensatz zwischen demokratischem Staat und Gesundheitsschutz seiner Bürger gibt, warum dann überhaupt der Aufruf? So einfach in Eins setzen kann man Gesundheitsschutz und Demokratie offenbar doch nicht.
Was bemängeln Kritiker?
In seinem Artikel zu #ZeroCovid bei Telepolis sorgt sich nun Karl Reitter um das Image der Linken. Damit schafft er ein neues Geistersubjekt: Ist im Aufruf von ZeroCovid ständig vom „Wir“ die Rede, so beschwört der Kritiker mit „der Linken“ ebenfalls eine Gemeinsamkeit, die es so nicht gibt. Gemeint ist ja nicht eine bestimmte Partei, vielmehr geht es um die verschiedensten Individuen, Gruppen und Grüppchen, die sich irgendwie als links verstehen, aber weder in einem informellen noch organisatorischen Zusammenhang stehen.
Der Initiative begegnet der Autor zunächst mit sozialpsychologischem Verständnis, weil die Pandemie den Menschen das Leben schwer macht. Auch kann er einigen Forderungen des Aufrufs etwas Positives abgewinnen, so etwa der nach dem Ausbau des Gesundheitswesens, der Entkopplung der Impfstoffproduktion von Profitzielen und nach einer europaweiten „Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen“.
Dass diese Forderungen davon absehen, welche Zwecke die europäischen Staaten – ganz unabhängig von der Parteienzusammensetzung ihrer Regierungen – verfolgen, ist dem Autor keine Kritik wert. Er denkt sich wohl den Staat ebenfalls als eine Instanz, die beliebig umgestaltet werden kann, wenn man nur ausreichend Wählerunterstützung findet. Dass die Wähler gar nicht darüber entscheiden, was staatlicherseits an Aufgaben ansteht, sondern Personen auswählen, die die feststehenden Aufgaben ausführen, wird hier großzügig übersehen.
Stein des Anstoßes ist für Reitter die Forderung nach Zero Covid, also Null Infektion: „Es ist die Orientierung auf eine völlige Ausrottung des Virus, die der Initiative jene offenbar faszinierende Aura beschert. Die Vorstellung, alles soziale und gesellschaftliche Leben so lange stillzulegen, bis die Infektionsrate absolut null beträgt, hat etwas Religiöses an sich. Denn es ist ebenso irrwitzig zu meinen, eine Welt ohne Schnupfen und Husten sei möglich, wie eine Welt ohne Viren.“
Es ist schon etwas anmaßend, der Initiative vorzuhalten, sie würde davon ausgehen, dass sich mit einem Lockdown, der auch die Arbeitswelt mit einschließt, alle Viren ausrotten lassen. Davon ist in dem Aufruf nichts zu finden. Wenn dort von einer vorsichtigen Lockerung und von langfristigen Visionen die Rede ist, dann gehen auch dessen Autoren davon aus, dass nach einem totalen Lockdown weiter mit dem Virus praktisch umzugehen ist. Ausgerechnet dort, wo der Aufruf einen reellen Kern hat – dass die Pandemie nur dann stark einzuschränken ist, wenn auch die Wirtschaft in den Lockdown einbezogen wird –, liegt aber der Hauptangriffspunkt der Kritik von Reitter. Während er ansonsten bereit ist, jeden Idealismus des Aufrufs mit zu unterschreiben.
Die Einsicht der Initiative, dass die Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Bürger immer ihre Grenzen am Funktionieren der Wirtschaft hat, will der Autor ebenfalls so nicht stehen lassen: „Diese Botschaft lässt sich auch so dechiffrieren: Da die herrschende Klasse unwillig ist, den Lockdown radikal durchzuführen, muss die Arbeiterinnenklasse ran. Angesichts des trotzkistischen Hintergrundes mancher Initiatorinnen könnte man auch sagen: Lockdown unter Arbeiterinnenkontrolle. Daher erklärt sich auch der befremdliche Appell an die Gewerkschaften.“
Da, wo ZeroCovid sich auf die Arbeiter bezieht, weil der Aufruf irgendwie noch eine Ahnung davon hat, dass von der Politik wie von der Wirtschaft eine Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Beschäftigten nicht zu erwarten ist, hält Reitter dies für einen Fehlgriff. Und der Übergang zur Denunziation kündigt sich an, wenn auf den politischen Hintergrund einiger Initiatoren verwiesen wird. Ein Rätsel bleibt zudem, wieso es befremdlich sein soll, Gewerkschaften aufzufordern, sich für die Gesundheit ihrer Mitglieder einzusetzen.
Die Kritik mündet dann in den Vorwurf der „Realitätsverweigerung“. Ein seltsamer Vorwurf, zielt er doch darauf, dass diejenigen, die diese Realität verändern wollen, gefälligst deren Anforderungen zu akzeptieren haben. So entlarvt der Kritiker das illusionäre Ziel Null Ansteckung!
Falsche Fragen und der zweifelhafte Wert „Solidarität“
Reitter entdeckt auch weitere Ungereimtheiten wie etwa die Stilllegung der nicht dringlich erforderlichen Bereiche der Wirtschaft: „Ich habe am 18. Januar den Initiatoren via E-Mail mehrere Fragen gestellt, u.a. auch folgende: Was bedeutet das konkret? Werden Lebensmittelgeschäfte geschlossen, die Lebensmittelproduktion stillgelegt? Werden Post, die Zustelldienste, die Müllabfuhr, die öffentlichen Verkehrsmittel, die Taxis stillgelegt?“
Offenbar fanden die so Befragten die Fragen zu oberflächlich und gingen nicht auf sie ein. Man könnte auch zurückfragen: Wieso fallen dem Kritiker sofort die Lebensmittelbranche und andere für die Versorgung notwendige Bereiche ein und nicht etwa die Automobilproduktion oder die Chemieindustrie mit ihrer Herbizid- und Pestizidproduktion, mit denen diese Bereiche den Weltmarkt beglücken?
Für ihn scheint jede Begrenzung der sozialen Kontakte – und sei sie auch zum Gesundheitsschutz vorgenommen – ein Gewaltakt gegen den Bürger zu sein, weswegen ihm alle Verweise des Aufrufs auf Demokratie und Beteiligung der Bürger nur als „gutklingende Phrasen“ von Linken gelten: „Ich fragte die Initiatoren: ‚Demokratie ist ein komplexer Begriff. Ist folgende vorläufige Definition ok? Die Menschen entscheiden per Abstimmung vor Ort. Was ist nun, wenn die Belegschaften, Betreiberinnen von Kindergärten und Schulen usw. sich in den demokratischen Prozessen gegen den radikalen Shutdown aussprechen, wenn sie dagegen stimmen?‘ (…) Dem Vertrauen, gerade jetzt würden die Massen sich mit Begeisterung dem totalen Shutdown anschließen, ja ihn mit Nachdruck fordern, liegt eine weitere naive, blauäugige Unterstellung zugrunde. #Zero Covid kann nur der Staat mit repressiven Mitteln durchsetzen, keine Betriebsversammlung und kein Bürgerkomitee kann dies.“
Dem muss man als Erstes entgegnen: Demokratie ist nicht einfach ein Begriff, den man beliebig definieren kann, sondern eine bestehende Staats-, also Herrschaftsform. Die folgende Definition ist dann blauäugig und naiv, weil sie nicht die demokratische Herrschaft erfasst, sondern meint, bestimmte Entscheidungen könnten einfach so von Betriebsversammlungen oder Belegschaften von Kindergärten getroffen werden. Mit der so konstruierten Demokratie will Reiter dann die Initiatoren blamieren.
Damit Arbeitnehmer in Betrieben welcher Art auch immer es sich nicht mehr gefallen lassen, ihre Gesundheit zu riskieren, müssen sie sich in der Tat erst davon überzeugen, dass dieser Schaden nicht hinzunehmen, vielmehr gegen die ins Feld geführten Sachnotwendigkeiten Front zu machen ist. Dass sich das einfach per Abstimmung lösen lasse, ist nicht unbedingt die Vorstellung, die dem Aufruf zugrunde liegt – denn dann könnten sie sich den Versuch der breiten Mobilisierung sparen –, sondern die des Kritikers. Und nachdem er erst den Popanz einer Bürgerdemokratie aufgebaut hat, schießt er ihn ab, in dem er konstatiert, dass die Gremien die betreffende Kompetenz gar nicht besitzen.
So wie der Autor sich die Demokratie zurecht konstruiert hat, verfährt er auch mit dem Begriff der Solidarität: „Ebenso wie der Begriff der Demokratie wird der Begriff der Solidarität jeden Inhalts beraubt und ins Gegenteil verkehrt. Solidarität setzt im Kern verschiedene Betroffenheit voraus. Solidarität ist kein Ausdruck des eigenen, unmittelbaren Interesses. Seine eigenen hoch individuellen Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen, hat mit Solidarität nichts zu tun. Man ist solidarisch mit Menschen und ihren Bedürfnissen und Kämpfen, obwohl sie nicht unmittelbar die eigenen sind.“
Leider ist diese Vorstellung von Solidarität heutzutage sehr verbreitet und macht sie zu einer rein moralischen Norm. Meinhardt Creydt hat jüngst noch bei Scharf links (4.2.21) in diesem Sinne Solidarität als Gegenbegriff zu Egoismus und Egozentrismus vorgestellt. Bei Telepolis schrieb er 2020: „Markus Söder hat ausnahmsweise Recht, wenn er sagt: Die Corona-Vorsorge-Regeln einhalten ist kein Akt der Loyalität oder des Gehorsams gegenüber dem Staat, sondern ein Akt der Solidarität mit den Mitmenschen.“ Wenn es für die Nation hart auf hart kommt, dann soll die antikapitalistische Linke also auch den Schulterschluss mit einer Galionsfigur der autoritären Rechten praktizieren. Natürlich nur ausnahmsweise!
Schaut man einmal zurück in die Geschichte der Arbeiterbewegung, die sich Solidarität auf ihre Fahnen geschrieben und als Kampfbegriff in die Welt der sozialen Auseinandersetzungen eingeführt hatte, so kann man etwas anderes lernen: Der Begriff verdankt sich der Erkenntnis, dass abhängig Beschäftigte der Macht der Arbeitgeber nichts entgegenzusetzen haben, wenn sie ihnen alleine gegenübertreten. Druck ausüben können Arbeitnehmer nur, wenn sie ihre Konkurrenz untereinander aufheben und sich gemeinsam gegen die Macht des Kapitals wehren.
Bei diesem Zusammenstehen und Zusammenhalten – früher nannte man das „Klassenkampf“ – geht es um das Interesse der Beschäftigten an einem Auskommen durch Lohn und Gehalt, also gerade nicht um eine Selbstlosigkeit, die nur an die Gemeinschaft denkt. Dieser Ausgangspunkt ist heute kaum noch präsent. Wenn in der Öffentlichkeit von „Solidarität“ die Rede ist, hört jeder gleich heraus, dass es um weiteren Verzicht geht – ähnlich wie beim Wort „Reform“, das heutzutage regelmäßig ankündigt, dass gegen „Besitzstände“ und „Anspruchsdenken“ von Arbeitnehmern vorzugehen ist.
Vater Staat soll helfen – und sich bessern
Weil auch der Aufruf sich nicht unmittelbar an die Betroffenen wendet, sich die Gesundheitsgefährdung nicht länger bieten zu lassen, steht Reitters Urteil fest: „Praktisch bedeutet die von #Zero Covid geforderte Solidarität gerade nicht, sich als gesellschaftlich handelndes Subjekt zu konstituieren. Die Appellationsinstanz ist der Staat, der als verkörperte Vernunft endlich zum guten Herrscher wird. Und das soll (…) am Ende linke Politik sein? (…) Der Aufruf #Zero Covid fällt in eine Zeit, in der die bedrohlichen Züge des Staates und der mit ihnen verbundenen Medien immer offensichtlicher werden.“
Das stimmt an der Kritik: Der Aufruf wendet sich an den Staat und unterstellt ihn als eine Instanz, die eigentlich für das Wohl der Bürger da zu sein hätte. Gleichzeitig wenden sich die Initiatoren an die Bürgerschaft, da sie schließlich festgestellt haben, dass der Staat den von ihnen zugeschriebenen Aufgaben nicht nachkommt. Deshalb sind alle Bürger und Bürgerinnen aufgerufen, sich der Initiative anzuschließen. Insofern hat man es mit der zentralen Illusion zu tun, die hierzulande vielfach als „linke Politik“ anzutreffen ist: das Projekt, mittels Mobilisierung der Basis den Staat zu einer wohltätigen Einrichtung für alle zu machen. Warum es dazu einer Gewaltinstanz braucht, um die Bürger zu beglücken, bleibt dabei eine offene Frage.
In der Kritik Reitters wird das verlängert: Besonders verkehrt soll ein solches Politikverständnis angesichts der jetzigen Zeit sein, in der sich der Staat als autoritär erweist. Dies ist aber eine seltsame Kennzeichnung! Zu welcher Zeit ist denn ein staatlicher Gewaltapparat nicht autoritär, lässt vielmehr über seine Maßnahmen abstimmen? Die Kennzeichnungen „autoritär“ und „Corona-Staat“ verraten, dass der Autor ebenso wie die von ihm kritisierten Initiatoren der Vorstellung anhängt, der demokratische Staat sei ein Dienstleister für seine Bürger, der aber – aus welchem Grund auch immer – seine Macht zu Corona-Zeiten missbraucht und sein Volk mehr drangsaliert, als es sich für einen ordentlichen Staat gehört. Deshalb soll es ja ein Fehler sein, sich an ihn zu wenden.
Reitter kommt so zu seinem abschließenden Urteil: „Realpolitisch hat die #ZeroCovid-Initiative keine Bedeutung. Weder werden sich die zerstrittenen EU-Staaten, die sich derzeit im Rette sich wer kann-Modus befinden, synchron und gemeinsam auf derart radikale Maßnahmen einigen können, noch werden viele Menschen mitspielen wollen – und auch nicht können. Die reale Bedeutung ist symbolisch und ideologisch. Der autoritäre Covid-19-Staat hat seine linke Flankendeckung bekommen.“
Dass eine Bewegung, die etwas ändern will, keinen Erfolg hat, kann man ihr schlecht vorwerfen, schließlich ist jede Mobilisierung auf das Mitmachen von anderen angewiesen. Wenn jedoch der Vorwurf auf die verpasste Möglichkeit von Realpolitik zielt, dann wird einer solchen Bewegung schon ein aufschlussreicher Maßstab vorgegeben: der der Machbarkeit. Gleichzeitig fragt man sich, warum ausgerechnet eine Initiative, die praktisch bedeutungslos ist, für den Staat von Nutzen sein soll, indem sie ihm Flankenschutz verschafft.
Fazit: Zweimal Täuschung in Sachen Staatszweck
Der Aufruf wie die Kritik sind sich in einem Punkt einig: Der demokratische Staat erfüllt nicht seinen ihm zugedachten Auftrag, zum Wohle seiner Bürger zu handeln. Die einen wollen ihn mit einem Aufruf durch breite Unterstützung dazu bringen, dass er seine Politik, die zum Wohle der Wirtschaft betrieben wird, ändert und endlich den Schutz der Bürger in Angriff nimmt. Die vorgestellte Kritik sieht in dem Appell an den Staat eine Rechtfertigung seiner Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens. Diese seien eine Perversion seiner eigentlichen Bestimmung, weswegen man ihn als autoritären Corona-Staat denunzieren müsste statt ihn um Hilfe anzurufen.
Das wirkliche Handeln des Staates und seine Zwecke kommen dabei aber nur als Abweichung von dem Ideal vor, das beiden genannten Parteien vorschwebt. Daraus speist sich ihre Enttäuschung und das Bestreben, andere Bürger zu gewinnen, um die Politik wieder auf den „richtigen“ Weg zu bringen. Und so wechseln Mahnung zur Änderung und Verweis auf die Realität, Hoffnung und Enttäuschung, sich ab. Solange man sich nicht mit den wirklichen Zwecken von Staat und Kapital auseinandersetzt, wird es dabei auch bleiben.
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Die private Nachrichtenagentur Reuters brachte die Meldung am 12.2.2021: Die UNO fordert USA und EU auf, die Sanktionen gegen Venezuela fallen zu lassen, weil sie dort eine humanitäre Katastrophe verursachen. Reuters verdrehte und vertuschte aus Leibeskräften im Sinne des Westblocks, die ARD stellt sich ganz einfach taub und dumm.
Die Jura-Professorin Alena Douhan ist UN-Sonderberichterstatterin zu negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen auf die Menschenrechte. Am 12.2. hat sie zum Abschluss ihres fast zweiwöchigen Besuchs in Venezuela eine Pressekonferenz gegeben. Ihr Urteil über die von den USA gegen Caracas rechtswidrig verhängten Sanktionen ist verheerend: Wirtschaftskrise, Hunger, Elend und Massensterben durch fehlende Medikamente sind Folge des brutalen Blockadekriegs, Amerika21. Douhan nannte als konkretes Beispiel 54 todkranke Kinder, denen durch die von namentlich von USA und EU betriebene Blockade medizinische Behandlung verweigert wird -und damit ihr Recht auf Leben. Die ARD reagiert zynisch: Sie schweigt. Der gewaltige Nachrichten-Gigant ARD behauptet auf seiner Tagesschau-Website, noch nie von Alena Douhan gehört zu haben. Selbst der US-Rechnungshof dagegen hat den UN-Bericht inzwischen anerkannt.
ARD lügt durch Verschweigen
Suche in tagesschau.de (24.2.2021) Suchergebnis:
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Stattdessen hetzt das ARD-Büro in Mexiko-Stadt munter gegen die Regierung von Venezuela, der hemmungslos die alleinige Schuld für die Folgen der illegalen Sanktionen zu. Sanktionen, die nicht durch UN-Mandate gedeckt sind, also einen einseitig erklärten kriminellen Wirtschaftskrieg um die Ölreserven Venezuelas darstellen -und natürlich gegen eine unliebsame weil sozialistische Regierung, die sich nicht von Ölkonzernen korrumpieren lässt. ARD macht Stimmung, statt zu informieren: Unter dem Titel „Hunger in Venezuela: Kein Fleisch, keine Milch, kein Brot“ heißt es: „Eine Frau schlägt wütend auf einen Kochtopf. Sie ist verzweifelt, sie weiß nicht, wie sie ihre Tochter versorgen soll… (es) leben 96 Prozent der Haushalte in Venezuela in Armut und 64 Prozent in extremer Armut… kein Wasser, kein Benzin, regelmäßig fällt der Strom aus, die Lebensmittelpreise sind horrend. Demonstranten plünderten teilweise die Läden. In dem einst größten Erdölförderland Lateinamerikas liegen die Raffinerien brach.“ ARD
Das erfährt der staunende ARD-Konsument, dem das alles als Ergebnis der Politik Maduros präsentiert wird -von Sanktionen als Ursache erfährt er nichts. Schon gar nicht von der Verwicklung seiner eigenen, der deutschen Regierung in den Wirtschaftskrieg (der vom Völkerrecht übrigens genauso verboten ist, wie ein mit direkter Waffengewalt geführter Angriff). Seit 2017 als die USA unter Trump ihre Aggressionen gegen Venezuela verschärften, übt die EU sich im Schulterschluss mit dem Aggressor, wenn auch weniger offen. Es genügt, wenn die US-Sanktionen auch europäische Firmen einschüchtern, ähnlich wie bei Nordstream II. Man soll keine Medikamente und Nahrung an Venezuela liefern, bis die demokratisch gewählte Regierung Maduro zurücktritt und dem USA-EU-geförderten Putschisten Guaido Platz macht. Regime-Change per Hungerblockade, die de fakto einen Massenmord vor allem an kranken Kindern darstellt.
Der UN-Bericht zum USA-EU-Sanktions-Terror
Bei der Vorstellung ihres vorläufigen Berichtes forderte Prof. Alena Douhan am 12.Februar auf einer Pressekonferenz in Caracas: »Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union müssen die Sanktionen gegen Venezuela aufheben.« Zu welchem Ergebnis kam die Sonderberichterstatterin und Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen im einzelnen? Die von den USA und der Europäischen Union gegen Venezuela verhängten und immer wieder verschärften Sanktionen beeinträchtigen »den Zugang des Landes zu Nahrungsmitteln und Medikamenten«, haben »verheerende Auswirkungen auf die Bevölkerung«. In ihrer völkerrechtswidrigen Illegalität verletzen sie zudem »das Prinzip der souveränen Gleichheit von Staaten« und stellen »einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten« dar -kurzum: Es ist ein verbrecherischer Wirtschaftskrieg. Prof.Douhan enthält sich Deutungen, warum USA und EU diesen Krieg führen: Gier nach Erdöl, antikommunistischer Hass auf eine frei gewählte Regierung (deren rechtmäßige Wahlen durch Lügenkampagnen geleugnet werden), Rache für die Verstaatlichung westlicher Konzerne, die sich unter vormaligen korrupten Regierungen hemmungslos auf Kosten der venezolanischen Bevölkerung bereichern konnten, gegen Bakschisch an die herrschende Oberschicht.
Die UN-Vertreterin stellte fest, dass die humanitäre Krise in Venezuela eine direkte Auswirkung der Sanktionen sei. Sie versicherte, dass ihre Untersuchungen auf den UN-Standards für Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Vollständigkeit beruhten -wohl wissend, dass die Westmedien ihre Propagandatrommeln gegen ihr Votum schlagen würden.
Lob für sozialistische Sozialpolitik
Sonderberichterstatterin Alena Douhan erinnerte bei der Präsentation ihres Berichtes auch daran, dass die Regierung in Caracas seit dem Jahr 2000 (erst unter Chavez, dann unter Maduro) eine Vielzahl sozialer Projekte in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wohnungsbau, Ernährung, Elektrizität, Wasser und Versorgungseinrichtungen, Familienplanung und der Förderung ländlicher Gemeinden durchführte, von denen viele ohne Kosten für die Bevölkerung umgesetzt oder vom Staat erheblich subventioniert wurden. Die UNO hatte den chavistischen Kampf gegen Armut und für Gesundheit, Bildung und Wohnraum bereits mehrfach gewürdigt.
Alena Douhan wies auch darauf hin, dass die sozialen Programme wie auch der Kauf von Maschinen und Ersatzteilen, Lebensmitteln und Medikamenten von einer Wirtschaft abhängen, die weitgehend durch den Ölexport gestützt wird. »Im Gesundheitswesen war Venezuela zwar fast vollständig auf aus dem Ausland importierte Medikamente angewiesen, doch die meisten öffentlichen medizinischen Leistungen wurden trotz ständig verschärfter Sanktionen vom Staat kostenlos zur Verfügung gestellt«, erklärte Douhan.
Der Wirtschaftskrieg der USA gegen Caracas bekam durch die brachiale Förderung des Frackings (wider jede vernunft und unter enormen Umwelt- und Wasserverseuchungen in den USA) bekanntlich eine neue Qualität: Mit dem so ausgelösten rapiden Verfall der Ölpreise habe ab 2014 ein wirtschaftlicher Niedergang begonnen, so Prof.Douhan, der durch die Maßnahmen der USA und der EU extrem verschärft wurde. Ergebnis: eine beispiellose humanitäre Krise. Das Nationaleinkommen habe sich dadurch im letzten Jahrzehnt um mehr als 99 Prozent reduziert. Dennoch verwende Venezuela immer noch 76 Prozent seiner Mittel für Sozialprogramme.
In dieser schwierigen Situation hätten die Sanktionen der USA und der EU in den Jahren 2017 und 2018 unter anderem zu einem starken Anstieg der Sterblichkeitsrate wegen des Mangels an HIV-Tests und Behandlungen geführt. Die Beschlagnahme der Vermögenswerte von Citgo, einer US-Tochter der staatlichen Erdölgesellschaft Petróleos de Venezuela (PDVSA) habe notwendige Leber- und Knochenmarkstransplantationen an 53 venezolanischen Kindern verhindert, stellte Douhan einige Einzelergebnisse ihrer Untersuchung vor. Die einseitigen US-Maßnahmen hätten zudem zu Unterbrechungen der Strom-, Wasser- und Sanitärversorgung geführt, da es nicht möglich war, Ersatzteile zu beschaffen. Das verursachte eine Verschlechterung der Infrastruktur, weil die Blockade den Kauf von Teilen und neuen Geräten im Ausland erschwert, so die Junge Welt.
Londons Raubgold gehört Venezuela
Schuld sind auch von Westmächten blockierte Vermögenswerte: Venezuelas Regierung fordert seit Monaten die Freigabe blockierter Goldreserven und anderer Vermögenswerte des Landes, um die negativen Auswirkungen der US- und EU-Sanktionen auf das Gesundheitswesen abzuschwächen. Dabei geht es unter anderem um 31 Tonnen venezolanischen Goldes im Wert von mehr als einer halben Milliarde US-Dollar, das bei der Bank of England eingelagert ist. Die Regierung in Caracas hatte den Erlös aus dem Verkauf der Reserven an das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNPD) überweisen wollen, das damit den Erwerb von Medikamenten, Hilfsgütern und Impfstoffen zur Bekämpfung der Coronapandemie organisieren und überwachen sollte. London und die britische Justiz zeigte -wie im Fall Julian Assange- keine Gnade: Die Menschen hungern und sterben in Venezuela am Fehlen der medizinischen Güter, die das Land vom geraubten bzw. veruntreuten Gold kaufen könnte.
Westmedien hetzen ungerührt weiter gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten, die ARD in gewohnt blasierter Arroganz durch Wegschweigen und Verdrehen von Fakten, Medien aus der schwarzbraunen Ecke Springers „Welt“ etwa, mit hysterischer Hasspropaganda, die Präsident Maduro „Diktator“ schimpft, seine Regierung ein „Militärregime“ und ihn zum „Massenmörder“ stempeln will. Man muss Maduro wirklich nicht „lieben“, was Linke angeblich tun, um zu erkennen, dass dies braune Propaganda im Stürmer-Stil ist. Immerhin würgte Springers Agitprop-Postille „Welt“ zwei Tage nach der Reuters-Meldung zum UN-Bericht über die Sanktions-Verbrechen von USA und EU eine Reaktion hervor: „Schallende Ohrfeige für die Venezuela-Politik des Westens“ -warum? „Die Sanktionen gegen das Militärregime des sozialistischen Diktators Maduro haben die katastrophale Lage im Land weiter verschärft. Den Venezolanern fehlt inzwischen die Kraft, gegen ihre Unterdrücker auf die Straße zu gehen.“ Mit Unterdrückern meint die „Welt“ natürlich nicht Obama/Trump/Biden (USA) oder Uschi von der Leyen (EU), sondern die verhassten Sozialisten. Ach ja: Und die UN-Beauftragte wird aufgrund ihrer weißrussischen Herkunft natürlich als Agentin des Diktators Lukaschenko hingestellt. Na dann braucht ein Schmierenschreiber sich ja nicht weiter um Inhalt, Richtigkeit und Bewertung ihres Berichtes zu kümmern…
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Unten — : 74 years ago today, the United Nations General Assembly held its first meeting in London. Since then, the UN has worked to strengthen human rights and prevent violent conflict around the world. I’m proud to work alongside them in pursuit of this vital mission.
Als vor zehn Jahren der „Arabische Frühling“ begann, kannten die Hoffnungen auch und gerade in den westlichen Demokratien keine Grenzen. Doch anstelle der erhofften Freiheit und Liberalisierung obsiegten die autoritären Regime. Und hinzu kam ein massiver Verfall der Staatenwelt im Nahen Osten. Ein besonders großes Problem stellt dies für das angrenzende Europa dar. Besonders deutlich wurde dies während der Flüchtlingskrise von 2014 bis 2016, als fast 1,5 Millionen Menschen aus der weiteren Region nach Deutschland kamen.
Es ist kein Zufall, dass die größten Kontingente aus Ländern wie Syrien und dem Irak (und auch aus Afghanistan) stammen, in denen der eigentliche regionale Zentralkonflikt mit besonders großem Einsatz ausgetragen wurde – nämlich die Auseinandersetzung zwischen Iran und Saudi-Arabien. Dieser Konflikt beeinflusste alle anderen Ereignisse – und sorgte, indem er die ganze Region erschütterte, dafür, dass zahlreiche islamistische Terroristen mit den Flüchtlingen unkontrolliert in die EU gelangen konnten. Insofern ist es ausgesprochen fraglich, ob die Anschläge von Paris, Brüssel, Berlin, Barcelona und Manchester auch geschehen wären, ohne dass Iran und Saudi-Arabien ihren Konflikt in Syrien, im Irak und im Libanon ausgetragen hätten.
Die brutalste Auseinandersetzung findet jedoch noch immer fast im Windschatten der Weltgeschichte statt, nämlich im Jemen. Seit bald sechs Jahren wird im Süden der Arabischen Halbinsel ein erbitterter Krieg geführt, an dem und an dessen Folgen weit über 100 000 Menschen gestorben sind – laut Vereinten Nationen die „größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart“. Ginge es dabei nur um den Jemen, das ärmste aller arabischen Länder, wäre die Auseinandersetzung vermutlich längst beendet. Doch dahinter verbirgt sich die Auseinandersetzung um die regionale Vorherrschaft – eben zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien.
Der eigentliche Krieg begann im März 2015, als Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) im Jemen intervenierten, um die Huthi-Rebellen aus der Hauptstadt Sanaa zu vertreiben. Die Rebellen waren nur ein halbes Jahr früher, im September 2014, aus dem Norden kommend in Sanaa einmarschiert. Der dahinterliegende Konflikt ist allerdings wesentlich älter.
Schon lange vor dem Arabischen Frühling war der Jemen ein scheiternder Staat, dessen Regierung immer weniger in der Lage war, die wachsenden Probleme des Landes zu lösen. Seit 1978 – und bis 2012, nach dem Ausbruch der Arabellion – herrschte Präsident Ali Abdallah Salih trotz einer demokratischen Fassade hoch autoritär. Seine Macht beruhte neben seiner Kontrolle über die Armee und die Sicherheitskräfte auf weitverzweigten Patronagenetzwerken, in die auch die nach wie vor starken Stämme des Landes eingebunden waren. Loyalität wurde mit politischem oder wirtschaftlichem Einfluss und oft auch ganz einfach mit hohen Geldbeträgen erkauft.
Doch in den 2000er Jahren wurde es immer schwieriger, das System aufrechtzuerhalten, weil es dem ärmsten aller arabischen Länder an Geld fehlte. Obwohl der Jemen nur über wenig Öl verfügt, bestritt er in den Jahren vor den Protesten rund 75 Prozent seines Haushalts aus Öleinnahmen. Die Produktion ging jedoch stetig zurück – von rund 440 000 Barrel pro Tag 2001 auf nur noch rund 300 000 Barrel pro Tag 2008 –, so dass abzusehen war, dass bald überhaupt kein Öl mehr gefördert werden würde. Gleichzeitig stiegen die Staatsausgaben allein aufgrund der rasant wachsenden Bevölkerung: Sie nahm um jährlich über drei Prozent zu, von 20,7 Millionen im Jahr 2005 auf 28 Millionen im Jahr 2019.
Seit den 2000er Jahren wuchs der Widerstand gegen die Zentralregierung an drei Fronten: Im ehemaligen Südjemen bereitete eine separatistische Bewegung seit 2007 immer größere Schwierigkeiten. Ursache dafür war die Vereinigung von Nord- und Südjemen 1990, die sich rasch als feindliche Übernahme durch Sanaa entpuppte – südjemenitische Politiker wurden systematisch entmachtet. Nachdem der Norden den kurzen Bürgerkrieg 1994 für sich entschieden hatte, festigte Präsident Salih seine Herrschaft in den Südprovinzen, indem er südjemenitisches Personal aus dem öffentlichen Dienst, den Sicherheitsbehörden und der Armee entfernen ließ.
Die Unzufriedenheit im Südjemen nahm in den folgenden zwei Jahrzehnten weiter zu, die Bewohner beklagten ihre prekäre wirtschaftliche Situation, da sie von Zuwendungen des Regimes ausgeschlossen waren. Nach ersten Demonstrationen 2007 erstarkte die „Südbewegung“ (arabisch al-Hirak al-Janubi), die zunächst nur ein Ende der politischen und wirtschaftlichen Vernachlässigung des Südens forderte. Als die Sicherheitskräfte mehrfach gegen Proteste vorgingen und einige Demonstranten töteten, Berichte über willkürliche Verhaftungen und Folter publik wurden und führende Köpfe festgesetzt wurden oder untertauchten, radikalisierte sich die Bewegung. Seit 2008 forderte sie mehrheitlich einen eigenen südjemenitischen Staat.
Gleichzeitig erstarkte in dem von Unruhen erschütterten Südjemen die örtliche Filiale der Al Qaida. Jemeniten hatten in der Terrororganisation seit den 1990er Jahren eine wichtige Rolle gespielt. Nun profitierten sie davon, dass nach dem Scheitern der Terrorkampagne der saudi-arabischen Al Qaida 2006 viele Dschihadisten aus dem Königreich ins Nachbarland auswichen. So wurde die im Januar 2009 neu gegründete Al Qaida auf der Arabischen Halbinsel zu einem gemeinsamen Projekt jemenitischer und saudi-arabischer Islamisten, die die Regime in Sanaa und Riad bekämpften.
Das größte Problem der jemenitischen Regierung war aber der Bürgerkrieg mit den Huthi-Rebellen aus der Provinz Saada im Norden. Die Familie Huthi gehört zu den Zaiditen, die im Jemen heute 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung stellen. Diese sind zwar Schiiten, stehen dem Sunnitentum aber weitaus näher als die anderen schiitischen Glaubensrichtungen. Die Mitglieder der Huthi-Familie sind außerdem Sayyids, die beanspruchen, vom Propheten Muhammad abzustammen. Gemeinsam mit weiteren Sayyid-Familien bildeten sie zwischen dem späten 9. Jahrhundert und 1962 die adelige Führungsschicht des Jemen. Deren prominenteste Familien – zu denen die Huthis allerdings nicht gehörten – stellten die Imame genannten Herrscher. Diese verloren mit der Revolution von 1962 die Kontrolle über den Jemen und konnten sie auch im folgenden Bürgerkrieg bis 1967 nicht wiedergewinnen. Seitdem wurden sie im politischen System des neuen Jemen an den Rand gedrängt und übten nur noch im äußersten Norden Einfluss aus.
Die Huthis übernehmen die Macht
Seit Ende der 1990er Jahre traten die Huthis als Vertreter aller nordjemenitischen Zaiditen auf. Obwohl sie auch mehr politische Mitsprache und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse forderten, verlangten sie vor allem kulturelle und religiöse Rechte. Die Zaiditen sahen diese vor allem durch Saudi-Arabien gefährdet, das ab den 1980er Jahren salafistische Missionare – also Anhänger jener sunnitischen Schule, die einen besonders rückwärtsgewandten und schiitenfeindlichen Islamismus vertritt – in den Nordjemen schickte, die dort ein dichtes Netz von Religionsschulen gründeten. Die bekannteste wurde die Schule in Dammaj nahe Saada, die zu einem Sehnsuchtsort vieler Salafisten weltweit und zum Zentrum der Mission im Nordjemen wurde.
Immer wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen Zaiditen und Salafisten. Trotzdem unterstützte die Zentralregierung in Sanaa das Vorgehen der Saudis und ihrer salafistischen Verbündeten, da sie die politische Konkurrenz der führenden zaiditischen Familien fürchtete und sie weiter schwächen wollte. Die Zaiditen starteten daraufhin schon in den 1990er Jahren unter dem Namen „Gläubige Jugend“ (arabisch ash-Shabab al-Mu’min) ihre eigene Reformbewegung, die traditionelles zaiditisches Gedankengut verbreitete und gegen Saudi-Arabien und die mit ihm verbündeten USA protestierte. Zu ihrem bekanntesten Anführer wurde ab 2000 Husain al-Huthi, der sich immer offener gegen die Regierungspolitik stellte. Die von den Huthis viel genutzte Parole „Gott ist groß, Tod für Amerika, Tod für Israel, der Fluch über die Juden, der Sieg für den Islam“ entstand damals; sie verbreitete sich massiv nach den Angriffen auf das World Trade Center am 11. September 2001, als Präsident Salih von der Bush-Administration dazu gedrängt wurde, bei der Bekämpfung von Al Qaida mit den USA zusammenzuarbeiten. Bei einer militärischen Strafaktion in der Provinz Saada wurde Husain al-Huthi gefangen und noch vor Ort hingerichtet.
Präsident Salih stellte die Rebellen von Beginn an als Terroristen dar und – mit Verweis auf ihre schiitische Identität – als Agenten des schiitischen Iran. Die saudi-arabische Führung schloss sich dieser Lesart des Konfliktes an und unterstützte Saleh. Schon ab Ende der 1990er Jahre gingen die Huthis dazu über, eine politische Bewegung mit bewaffnetem Arm aufzubauen. 2004 begannen dann offene Kämpfe zwischen diesen Milizen und den Truppen des Regimes, die nach mehreren Waffengängen 2010 unentschieden endeten, aber den Norden zunehmend verwüsteten. Im November 2009 führte das saudi-arabische Militär sogar einen kurzen Grenzkrieg, in dem sich erstmals zeigte, dass die Huthis auch im Kampf gegen waffentechnisch und zahlenmäßig überlegene Gegner bestehen konnten. Und als die Proteste des Arabischen Frühlings auch den Jemen erreichten, musste Präsident Saleh im Februar 2012 abtreten. In den anschließenden Wirren erstarkten die Huthis und konnten 2014 mit der Eroberung Sanaas die Macht in großen Teilen des Jemen übernehmen. Daraufhin reagierten Saudi-Arabien und die VAE, indem sie im März 2015 eine Seeblockade verhängten und Luftangriffe gegen die Rebellen flogen.
Der saudi-arabischen Führung ging es dabei zunächst vor allem darum, eine vollständige Übernahme des Jemen durch die Huthis zu verhindern und sie anschließend aus Sanaa zu vertreiben. Zwar gelang es den arabischen Truppen, den Süden des Landes wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, doch konnten sie die Huthis im nördlichen Hochland nie ernsthaft gefährden. Im Sommer 2019 zogen die VAE ihre Truppen zurück, die Saudis setzten den eigentlich bereits verlorenen Krieg jedoch unvermindert fort. Obwohl Riad parallel dazu Gespräche mit den Huthis auf neutralem Boden, in Oman, führt, ist es zu einem Durchbruch bisher nicht gekommen. Der Grund dafür ist, dass Riad den Krieg längst als einen Teil einer weit größeren Auseinandersetzung ansieht – nämlich seines jahrzehntealten Konflikts mit dem Iran. Die Saudis befürchten, dass eine Verhandlungslösung jetzt einer Niederlage gleichkäme und auch ihre Position gegenüber dem großen Rivalen schwächen würde.
Sie betrachten und fürchten die Rebellen als enge Verbündete Irans, die für Teheran einen Brückenkopf auf der Arabischen Halbinsel errichten wollen – direkt an der saudi-arabischen Südgrenze. Häufig sprachen saudi-arabische Politiker, Beamte und Kommentatoren von den Huthis als einer „jemenitischen Hisbollah“, die das Königreich eines Tages so bedrohen würde, wie die namensgleiche libanesische Organisation Israel bedroht. Das war auch der Grund, warum Riad 2015 glaubte, militärisch reagieren zu müssen.
Oben — From the DHSS Limb Fitting Centre at Roehampton, London. During the 1960s, the drug thalidomide, formerly used as a sedative, was found to produce congenital deformities in children when taken by the mother during early pregnancy. Children were commonly born with the absence of the long bones of the arms, with the legs and feet often also being affected. The Limb Fitting Centre at Roehampton, London, creates and fits prosthetic limbs for children affected by thalidomide.
Original description: „Months after an airstrike on a neighborhood populated by black Yemenis, or „Muhamasheen,“ more than a hundred buildings still remain in rubble and survivors continue to search for any valuables, Sana’a, Yemen, Oct. 9, 2015. (Almigdad Mojalli/VOA)“
File:Months after an airstrike on a neighborhood populated by black Yemenis or „Muhamasheen“ more than a hundred buildings still remain in rubble and survivors continue to search for any valuables – Sanaa – Yemen – Oct-9-2015.png
Created: 9 October 2015
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Unten — Destroyed house in the south of Sanaa, 13 June 2015
Nicht der Effekt ihres Handelns, sondern die emotionale Genugtuung treibt die Anhänger Trumps an. Was zählt, ist die Gruppenzugehörigkeit.
Eine Frage bewegt derzeit alle: Sind wir Trump nach seinem Abgang aus dem Weißen Haus nun wirklich los? Ist die Zeit für seine Spielart des Populismus abgelaufen? Nun, da er über keine präsidentielle PR-Maschine mehr verfügt, wird Trump uns wohl nicht mehr so oft auf den Wecker gehen. Aber er wird weiter als Anführer einer Gegenregierung mit Sitz in Mar-a-Lago wirken. Deren Tentakel reichen bis in den Kongress, und sie weiß bewaffnete Milizen hinter sich.
Trumps Einfluss und seine Sicht der Welt bleiben nur dann bedeutsam, wenn mächtige Republikaner wie Senator Mitch McConnell sie für nützlich halten – weil sie wollen, dass ihre Basis weiter für eine Politik stimmt, mit der sie sich letztlich schadet. Andererseits hängt die weitere Wirksamkeit von Trumps Weltsicht davon ab, ob sich seine AnhängerInnen noch mit ihr wohlfühlen – egal welche Politik dahintersteckt. In dieser Hinsicht kann man schon beunruhigt sein.
Laut der Washington Post glauben beinahe 70 Prozent der Republikaner, dass es bei der Wahl im November Betrug gegeben hat – obwohl republikanische Wahlbeamte die Auszählungen überprüft haben, obwohl diese in mehr als 60 Gerichtsverfahren bestätigt wurden, zweimal sogar durch den Supreme Court, und obwohl Wahlkontrolleure auf der nationalen Ebene die Abstimmung als „die sicherste in der amerikanischen Geschichte“ bezeichnet haben.
Noch stärker besorgt bin ich über die Zahl der AmerikanerInnen, die überzeugt sind, dass Trump ihre Interessen vertritt. Tatsächlich trifft das nur auf einen Sektor der Trump-AnhängerInnen zu: reiche Einzelpersonen und Unternehmen, die weniger Steuern zahlen wollen (was Trump 2017 durchgesetzt hat) und die Schutzbestimmungen für VerbraucherInnen, Erwerbstätige und die Umwelt aushebeln wollen.
Trump vertritt nur die Reichen
Dieser Sektor handelt seinen Interessen gemäß, besonders, da Trumps gelegentlich populistisch klingende Handelsrhetorik kaum Folgen für die im Welthandel tätigen Unternehmen hat. Das ist schlüssig, wenn auch gierig; das Gemeinwohl und die von allen genutzte Infrastruktur bleibt unberücksichtigt.
Trump und die Politik der Republikaner zu unterstützen ist dann wenig sinnvoll, wenn man zur Mittelschicht und zur Arbeiterschaft gehört, deren Infrastruktur (Straßen, Internetzugang, Gesundheitsversorgung, Schulen und Berufsbildung, Luft- und Wasserqualität) durch Trumps Steuer- und Deregulierungspolitik Schaden genommen hat. Der Glaube an Trump bleibt trotzdem bei vielen bestehen. Oder genauer:
Das Bedürfnis, an Trump zu glauben, bleibt bestehen. Welchen Glauben braucht man und warum? Das kann man auf zweierlei Weise betrachten: Zum einen gibt es die menschliche Fähigkeit, zu hoffen, zu glauben, dass man den Übeln, die uns begegnen, wirksam entgegentreten kann. Ja, die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ist deutlich gewachsen, wie uns das Economic Policy Institute sagt.
Und in der Zeitschrift Forbes kann man lesen, dass große Bereiche der Wirtschaft durch technologischen Wandel und die Steigerung der Produktivität ins Aus gedrängt wurden. Einige Regionen unseres Landes wurden zum „Rust Belt“. In unserer von Wissen und Daten getriebenen Wirtschaft verengt sich der Horizont für Menschen ohne College-Abschluss immer mehr. Aber Hoffnungslosigkeit ist eine Sackgasse und führt für immer mehr Menschen zu Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol.
Die Leute wollen an Trump glauben
„Todesursache Verzweiflung“ haben dies Anne Case und Angus Deaton im vergangenen Jahr in ihrem New-York-Times-Bestseller genannt. Menschen müssen daran glauben können, dass sie ihre eigenen Lebensumstände beeinflussen und verbessern können.
Um in einer schwierigen Lage effektiv handeln zu können – sei sie durch wirtschaftliche Not, raschen demografischen Wandel oder Veränderungen im Lebensstil bedingt –, muss man erkennen können, was schiefgelaufen ist, gegen wen man sich wehren muss und wer einem zur Seite steht. Falls dies gelingt, wachsen Zugehörigkeitsgefühl und Selbstbewusstsein, und man findet Gleichgesinnte, die einem Unterstützung leisten.
Dies gilt für Unterstützer Trumps genauso wie für Fans von Bernie Sanders oder der linken Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez. Doch es funktioniert auch andersherum: Zur Beseitigung wirtschaftlicher oder anderer gesellschaftlicher Missstände befürworten Trumps AnhängerInnen Maßnahmen, die sich gar nicht dafür eignen. Allein die Überzeugung, dass man mit diesem oder jenem Mittel Probleme lösen könnte, reicht ja nicht aus. Die schwierige Lage bleibt schwierig.
Aber der emotionale Zugewinn, der daraus resultiert, in einer Gemeinschaft aktiv geworden zu sein, stellt sich dennoch ein. Im Ergebnis streiten Leute dann für unwirksame Maßnahmen, weil es ihnen emotionale Genugtuung verschafft. Je weiter die Unterstützungsnetzwerke und das emotionale Wohlgefühl wachsen, desto überzeugter wird man von der „Lösung“, die diese Netzwerke zusammenhalten.
Moderne Hexenjagd
Dabei ist es wichtig, dass die angebotene „Lösung“ der Probleme auch sehr lange Zeit weiterverfolgt werden kann, sofern daraus psychologischer Nutzen entsteht. Jahrhundertelang wurden unzählige Hexen verbrannt, doch kein einziges Problem des mittelalterlichen Dorflebens wurde so gelöst. Heute wird auf Twitter über Hexen getuschelt.
Der aus Frankreich stammende Anthropologe René Girard hat dies in Büchern wie „Der Sündenbock“ oder „Le Sacrifice“ den „Sündenbock-Mechanismus“ genannt. Wenn Knappheit und Wettbewerb gesellschaftliche Spannungen produzieren, wird ein Ziel ins Visier genommen, das angeblich Urheber des Problems ist.
Oben –– Der linke Soldat hat den Blick, der als Two Thousand Yard Stare bezeichnet wird. Dieser kann Vorläufer oder Symptom einer PTBS sein.
Photograph taken by Official War Photographer at an Australian Advanced Dressing Station near Ypres in 1917. The wounded soldier in the lower left of the photograph has the „thousand yard stare“ indicative of shell-shock. Given that this photo was taken 100 years ago by an employee of the British Government, I believe that copyright has expired and it is now in the public domain. – See below
Image from The Great War taken in an Australian Advanced Dressing Station near Ypres in 1917. The wounded soldier in the lower left of the photo has a dazed, thousand-yard stare – a frequent symptom of „shell-shock“.
Julian Assanges Unterstützer*innen atmen auf – doch der Kampf um seine Freilassung und für die Pressefreiheit ist noch nicht gewonnen
Auf den Straßen vor Londons Old Bailey, dem zentralen Kriminalgericht Englands, verfielen Unterstützer*innen Julian Assanges in spontanen Jubel und Tanz, manche mussten ein paar Mal nachfragen und sich des Urteilsspruchs vergewissern, bevor sie es glauben konnten. Doch spätestens als John Reese von der Kampagne „Free Julian Assange“ sich vor die Presse stellte, war es bestätigt: Die britische Richterin Vanessa Baraitser weist den US-Antrag zur Ausweisung Julian Assanges an die Vereinigten Staaten ab.
Sie tat dies allerdings nicht, weil der Antrag unbegründet sei, sondern einzig allein aufgrund der mentalen Verfassung Julian Assanges. Die Sonderbedingungen in US-Strafhaft für Spionagefälle könnten für Assange, der bereits einen Suizid erwogen habe und deswegen unter ständiger Bewachung sei, lebensgefährlich sein. Sie stimmte medizinischen Untersuchungen zu, dass die Gefahr eines Suizids von Assange, der mit ASD/Asperger-Syndrom diagnostiziert ist, hochwahrscheinlich sei. Dabei wurde auch der Fall des Sexualstraftäters Jeffrey Epsteins erwähnt, der sich trotz angeblich engmaschiger Überwachung im August 2019 in einem New Yorker Gefängnis erhängt hatte.
Mit diesem Urteil hatten wenige gerechnet. Als von den wenigen zugelassenen Journalist*innen die ersten Tweets an die Öffentlichkeit gelangten, sah es zunächst so aus, als würde die Richterin dem Auslieferungsantrag zustimmen. Die Verteidigung habe lediglich „eine andere Version der Ereignisse“ als die Anklageinstanz geboten, urteilte sie beispielsweise zum Vorwurf, dass Assange Chelsea Manning zum Diebstahl von Daten ermuntert hätte.
Die Frage, ob Assange versucht habe, potenzielle Opfer der Veröffentlichungen durch eine möglichst weite Verbreitung der Leaks zu warnen, damit sie sich in Schutz bringen können, bezeichnete sie als eine Frage eines Prozesses und nicht einer Auslieferungsanhörung. Das Ausspionieren Assanges in der ecuadorischen Botschaft in London sei wiederum Teil eines juristischen Verfahrens in Spanien, so die Richterin.
Sie stimmte außerdem dem Argument der Anklage zu, dass Assanges Arbeit teilweise politisch motiviert gewesen sei. Interessant war auch ihre Bemerkung, dass es keine Beweise gebe, dass die US-Regierung Assange in der extremsten Form bestrafen wolle. Assange könne in den USA mit einem fairen Prozess rechnen. Auf der anderen Seite bestätigte sie immerhin, dass es nicht richtig sei, dass Assange und Wikileaks Menschenleben gefährdet hätten.
John Reese gab vor den vor dem Gebäude Versammelten an, dass die Richterin zwar 95 Prozent der Anklage zugestimmt habe. Das Urteil sei aber dennoch ein Anlass zum Feiern – trotz der Tatsache, dass von den USA gegen das Urteil wohl Revision eingelegt werde. Dazu hätten sie nun 14 Tage Zeit.
Rebecca Vincent von der Organisation Reporters without Borders, der NGO, die alle Teile des Verfahrens begleitet hatte, sagte, sie stimme den Aussagen des Urteils da nicht zu, wo es konstatiert, dass Assange politisch motiviert gewesen sei und es nicht um Meinungsfreiheit gehe. Ferner unterstrich sie, dass die Hürden, welche ihnen in den Weg gestellt wurden, um den Fall zu verfolgen, groß gewesen seien. Die Organisation werde sich in Großbritannien für einen offeneren Zugang zur Justiz einsetzen.
Die Nicht-Auslieferung von Assange wird mit der Lebensgefahr begründet, die ihm droht. Der Schutz von Whistleblowern ist dem Gericht kein Anliegen.
Wikileaks-Gründer Julian Assange wird zunächst nicht an die USA ausgeliefert. Die Entscheidung, die die zuständige Londoner Richterin Vanessa Baraitser am Montag verkündete, klingt besser, als sie ist. Denn mit einer Verteidigung der Pressefreiheit oder gar einer Präzedenzentscheidung zum Schutz unbequemer Whistleblower hat das Urteil nichts zu tun.
Im Gegenteil: Die Richterin begründete ausführlich, warum weder die von der Verteidigung und zahlreichen Medienorganisationen vorgebrachten Befürchtungen eines unfairen, politisch motivierten Prozesses in den USA noch die Bewertung der Anklage als Angriff auf die Pressefreiheit stichhaltig seien. Lediglich Assanges mentale Gesundheit und die Gefahr, dass er sich in einem US-Gefängnis das Leben nehmen werde, brachte sie zur Entscheidung gegen die Auslieferung.
Und auch diese Entscheidung ist nur vorläufig: Die USA haben bereits Berufung angekündigt, und so könnte das Verfahren noch über zwei weitere Instanzen bis zum britischen Supreme Court gehen.
Mit Sicherheit werden die USA versuchen, über irgendwelche Garantien die Bedenken zu Assanges Sicherheit zu zerstreuen, um doch noch eine Auslieferung zu erreichen. Ob ihnen das angesichts der bekannten Missstände im US-Gefängnissystem gelingen kann, ist fraglich. Insofern ist die so begründete Entscheidung für Julian Assange selbst womöglich sogar besser als eine, die auf die eigentlichen Inhalte des Verfahrens abgezielt hätte.
Oben — In June 2019, the POTUS helicoptered into London for a State Visit. He stayed massively out of sight behind security screen; everything happened in private. His visit did not include addressing both Houses of Parliament, or a horse drawn carriage ride. He claimed that there were no protests. The biggest protest was on Tuesday 4 June, starting in Trafalgar Square leading to speeches in Whitehall, and then half moving back to Trafalgar Square, and the other half moving by the Embankment to Parliament Square, where the Trump baby blimp had flown earlier.
Während der Pandemie ist mehr denn je deutlich geworden, wie viel unsichtbar gemachte Arbeit in jedem Haushalt, jedem Leben und jedem Alltag steckt. Oftmals wird diese Arbeit wie von “Zauberhand” durch Mütter erledigt. Doch erfahren Mütter durch die Krise mehr Sichtbarkeit? Mehr Verständnis, Solidarisierung und Anerkennung? Die Wissenschaftlerin, Aktivistin und Kuratorin Christine Braunersreuther hat gemeinsam mit Nicole Pruckermayr, Daniela Jauk und der feminist-mothering-Gruppe aus Graz die Stimmen von acht Müttern versammelt, die ihre Erfahrungen in der Pandemie zu Papier gebracht haben.
Wieder geschrien, wieder geweint
„Muttern“ in der Pandemie ist zur ultimativen Quelle von Selbstbeschuldigung und Selbsthass geworden. Ich fühle mich verlassen von Familie, Staat, Schule, Freund*innen, Ressourcen und einem Partner, der an der Front arbeitet, und ich versage jeden Tag. Das ständige Gefühl, nicht genug zu sein, nicht genug zu tun, sich nicht mit den getwitterten farbcodierten Heimschulplänen messen zu können, zusätzlich zu all den nicht-besuchten Online-Story-Stunden und verpassten virtuellen Exkursionen. Wieder geschrien, wieder geweint.
Ich schaffe es gerade noch von Stunde zu Stunde mit einem Minimum an (Lohn-)arbeit, die in die Ritzen eines Tages gepresst wird mit einem besonders launischen Kind, das regrediert, schreit und mich zu ersticken droht, selbst nachts. Eines Tages, sage ich mir, werde ich ihre Berührung und ihren Atem in meinem Gesicht vermissen … aber jetzt ärgere ich mich darüber und verstecke mich manchmal, stehle mich aus dem Haus, damit ich für die Liebe meines Lebens unsichtbar sein kann, für mein Kind, meine wunderbare Tyrannin.
Einander wieder näher gekommen
“Mein Kind und mich hat der Lockdown wieder näher gebracht. Eine klare Struktur des Zusammenlebens und eine geregelte Aufgabenverteilung im Haushalt hat gut geholfen. Da ich zu dieser Zeit erwerbslos war, gab es auch von der Mehrfachbelastung her keine Sorge. Humor hat uns auch über kriselnde Zeiten hinweggeholfen, ebenso Genügsamkeit und Dankbarkeit. Mir kommt es fast frevelhaft vor: Es war anstrengend, aber es war okay. Wie es weitergeht weiß eh niemand.”
Systemerhalterin für Gesellschaft und Familie
Frausein-Muttersein in Zeiten von Covid19 bedeutet Systemerhalterin zu sein: für die Gesellschaft UND für die Familie — eigentlich nichts Neues, NUR mit verschärften Bedingungen … more of the same sh* … NUR mit Applaus, KEINE Hilfspakete für ‘Heldinnen und Lebensretterinnen’. Statt dessen mehr häusliche Gewalt, mehr ‘Beziehungsdramen’. Warum wird bei einem Mord an einer Frau durch ihren (EX-)Partner nicht von Frauenmord gesprochen, Entführung ist ja auch keine blind date?!
Frausein-Muttersein in Zeiten von Covid19 bedeutet Scheitern als individuelles Versagen und Überforderung zu deuten und nicht als systemimanentes Problem. Kurzum: MORE of the same sh*!
Immer noch nicht „nach Corona“.
Auf die Kernfamilie beschränkt, einen Achtjährigen zu Hause unterrichten, eine Dreijährige unterhalten, meine Freund*innen vermissen, schlecht schlafen, Albträume über den Faschismus haben, drei kleinere Jobs haben, viel Verständnis und wenig soziale Unterstützung bekommen, Kinder streiten, schreien, lachen, bauen Höhlen mit den Möbeln, teilen die Zeit in „vor“ und „nach Corona“ ein, müssen ständig reden und essen, vermissen ihre Freund*innen, mit meinem Partner streiten, meinen Partner lieben, sich um Politik sorgen, sich fern, machtlos, ängstlich, wütend, erschöpft fühlen, Rückenschmerzen, viel emotionale Arbeit leisten, aufhören offen zu kommunizieren, meine Freund*innen für lange Spaziergänge treffen, unsere Erfahrungen und Gedanken austauschen, sich besser fühlen, geheime Spieltermine für die Kinder in den Parks arrangieren, den Wald voller Tipis zu finden, mit dem Fahrrad auf den fast leeren Straßen zu fahren, einen Specht in der Nähe unseres Hauses zu hören, wegen unserer Privilegien zu überleben, ist immer noch nicht „nach Corona“.
Diese Zeit ist nicht normal
,,Ich bin sauer, weil mein Arbeitgeber, eine größere Uni, während des gesamten Lockdown mit keinem Satz die Vereinbarkeit von Homeoffice, Homeschooling und Kinderbetreuung erwähnt, sich diese Vereinbarkeit aber auf die Fahnen schreibt. Grundsätzlich erlebe ich, auch von anderen Eltern kommuniziert, die Erwartung, alles solle in der Arbeitswelt so normal wie möglich weitergehen, wie vor Covid19, nur eben online. Das ist doch absurd. Diese Zeit ist nicht normal!!! Wieso sollte dann die Arbeitszeit, das Arbeitspensum etc. “normal” weitergehen??? – Ich wünsche mir ein Grundeinkommen, in der Hoffnung, dass besonders Frauen u.a. davon profitieren könnten, wahrscheinlich wird es deshalb aber nie kommen; ich habe Angst vor emanzipatorischen Rückschritten durch die Krise, bin genervt vom fehlenden gemeinsamen europäischen Gedanken in der Bewältigung der Pandemie…”
Das Zimmer der Frau
Das Zimmer der Frau, das ist nun wieder die Küche!
Hier wird: gedacht & gemacht,
konzipiert & püriert,
geschrieben & gerieben.
An- und ausgebrannt!
& die Wirtschaftskammer beklagt die wenig produktiven Arbeitsstunden.
Zombie-Runde
das erste treffen von freundinnen, die alle pubertierende kinder im homeschooling haben – es könnte auch “die zombie-runde” heissen:
ich, so müde, dass ich auf der hinfahrt extrem darauf achten musste, nicht zu sehr zu blinzeln, sonst wären die augen zugeblieben. wacher wurde ich erst, als die neben mir ihr eben gebrachtes getränk um und u.a. über meine beine geschüttet hat. die auf der anderen seite, die mit augenringen bis unter die wangenknochen, war davor schon aufgesprungen um am telefon ihre weinenden kinder zu beruhigen, deren vater ob deren zickigkeit etwas lauter geworden war. die gegenüber dagegen hätte flüssigkeit gebrauchen können, um den tomatensoßenfleck aus dem pullover zu rubbeln, der ihr zu hause wegen dem stress für das kind ein zweites abendessen kochen zu müssen, weil es das eigentlich nicht wollte, nicht aufgefallen war. als die letzte kam, platzte ihr beim hinsetzen die hose, weil sie – sonst immer sehr schlank – mindestens 10 kilo zugenommen hatte. nach einem getränk sind wir dann alle schon wieder gegangen, weil wir nur noch ins bett wollten. beruhigt, nicht allein zu sein in der völligen erschöpfung.
echt wahr! aber foto gibts keines!
Sorgen in Endlosschleife
Die Belastung, immer für die Kinder verfügbar sein zu wollen, viel öfters als zuvor für sie verfügbar sein zu müssen.
Die Entlastung, einfach zu viert zufrieden sein zu dürfen und zu können.
Die Belastung, scheinbar weder Familie noch Arbeit gerecht zu werden.
Das Glück, diese Zeit mit meinem Partner teilen zu können.
Die Sorge, meinen Kindern und meinem Partner fehlen die Freund*innen.
Die Sorge, meine Mutter könnte vor Sorgen vergehen.
Die Sorge, mein Vater könnte den Sorgen meiner Mutter nicht standhalten.
Die Sorge, ich selbst kann nicht gut genug entscheiden, was verantwortliches Handeln ist.
… und wo bleibt in all dem mein Einsatz für eine gerechtere Welt, für ein feministisches Leben, für Bürger*innenfreiheiten und Demokratie?
(… Und wo bleibe in all dem ICH?)
Zwischen all den Sorgen und Ängsten entstand ein stiller Raum ohne Termine und Müssen wollen. Unser Leben stand mehr oder weniger still. Darin empfanden wir eine leise Freiheit. Alles aufs Wesentliche reduziert. Viel Zeit und Ruhe. Jegliche Verpflichtungen im Außen machten Pause.
Daneben wurde unser Esstisch zum Zentrum unseres Lebens. Was davor an vielen verschiedenen Orten stattfand, wurde nun hier ausgetragen.
So wurde unser Esstisch zur Schule, Kindergarten und Büro. Schulbücher wichen dem Mittagessen, Möbel wurden umfunktioniert und der Drucker lief in Endlosschleife und irgendwann kam unser Leben dem nahe. Endlosschleife. Freund*innen und Familie wurden vermisst. Umarmungen von Menschen außerhalb der eigenen vier Wände wurden zur Erinnerung an eine heile Vergangenheit ohne das Virus.
Haben wir das jemals wertschätzen gewusst was wir hatten? Davor.
Anm.d.Red.: Lesen Sie auch das SILENT WORKS-Interview mit Christine Braunersreuther über Care-Arbeit während der Pandemie: https://berlinergazette.de/system-relevanz-von-care-arbeit-nicht-laenger-zu-verheimlichen/
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File:Group of street girls, Dresden, Germany – 1166.jpg
Created: 1 January 2007
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2.) von Oben —2018 Women’s March in Missoula, Montana. Two women marchers. One is wearing a navy blue T-shirt, „Nancy de Pastino for Montana House.“ The other is carrying an orange sign, „Expect us in 2018. momsdemandaction.org“. They are wearing orange hats that say „Moms demand action“ and „Wear orange.“
File:2018 Women’s March in Missoula, Montana 107.jpg
Created: 18 January 2018
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Unten —SOUTHERN BANGLADESH (Nov. 29, 2007) Mother and son patiently wait in line to receive medical aid in the wake of Tropical Cyclone Sidr that smashed into the southern coast of Bangladesh Nov. 15. A seven-man medical team from the amphibious assault ship USS Kearsarge (LHD 3) provided medical aid to more than two hundred patients in a period of eight hours. Kearsarge and the embarked elements of the 22nd Marine Expeditionary Unit (SOC) arrived off the coast of Bangladesh Nov. 23 to assist in the relief efforts at the request of the Bangladesh Government. U.S. Marine Corps photo by Sgt. Ezekiel R. Kitandwe (RELEASED)
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File:US Navy 071129-M-3095K-023 Mother and son patiently wait in line to receive medical aid in the wake of Tropical Cyclone Sidr that smashed into the southern coast of Bangladesh Nov. 15.jpg
Nur wer sich selbst liebt, kann geliebt werden, heißt es. Unsere Autorin hat lange mit der Selbstliebe gekämpft – und setzt heute auf ein anderes Ideal.
An einem warmen Juli-Nachmittag haben sich in einem Park in Berlin-Schöneberg um die dreißig Menschen versammelt, alle weiß gekleidet. Lampions hängen in den Bäumen, ein Tisch droht unter Kuchen und vielen Sektflaschen zusammenzubrechen. Decken liegen auf der hügeligen Wiese, und aus tragbaren Mini-Boxen tönt Elektromusik.
Gleich wird hier eine Hochzeit stattfinden – und ich gehöre zu den Gästen. Ich habe einen ziemlich aufwendigen Salat gemacht und frage mich, ob er den anderen schmecken wird und wie ich unauffällig ein Lob dafür einheimsen könnte. Während ich noch über den Salat nachdenke, erklingt der Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn. Da kommt die Braut!
Meine Freundin aus Schulzeiten, Ljuba, läuft langsam unter den Bäumen zu uns durch. In der einen Hand hält sie ein Blumenbouquet, in der anderen einen Becher Sekt. Kurz bevor sie bei ihrer jubelnden Hochzeitsgesellschaft angekommen ist, reißt sie die Arme feierlich in die Höhe. Sie trägt einen weißen Tüllrock und ein weißes Tanktop, auf dem steht: #selflove.
Nach dem ersten Lockdown zu Beginn des Jahres hat sich Ljuba von ihrem Freund getrennt und beschlossen, sich einfach selbst zu heiraten. Und zwar mit dem kompletten Programm: Es gibt eine Selbstliebe-Zeremonie, Livemusik, sogar ihren Brautstrauß wirft Ljuba in die Menge.
Es ist eine der schönsten Hochzeiten, auf der ich je war. Die Gäste sitzen beseelt auf den Decken, machen Selfies und Instastories. Fast alle haben immer wieder Tränen in den Augen. Jeder hier will das, was Ljuba jetzt hat: ewige Selbstliebe. Und für alle ist das ein fast unerreichbares Ziel.
Ich zumindest weiß: Ich bin weit davon entfernt, mich selbst zu heiraten. Selbstliebe ist für mich seelische Sisyphusarbeit – eine moderne Erleuchtung, die ich jahrelang versucht habe zu erreichen und die mich mittlerweile ziemlich nervt.
Wenn ich #selbstliebe bei Instagram suche, erscheinen über eine Million Beiträge. Es sind vorwiegend Frauen in herbstlicher Kleidung und hinter Sepia-Filtern, die zufrieden in die Kamera lächeln. Viele lassen ihr Gesicht von der Sonne wärmen. Einige fotografieren glasierte Donuts, andere machen Yogaposen auf einem Berg. Wenn ich so durch Instagram scrolle, scheint #selbstliebe erst mal wie eine saisonale Ästhetik, wie ein Werbeslogan, mit dem Geld verdient wird. Auf Google sieht es ähnlich aus: Es gibt Coaches, Blogs, unzählige Checklisten mit Titeln wie „10 Tipps, wie du dich selbst lieben kannst“ oder „8 Dinge, die Menschen mit viel Selbstliebe anders machen“. Es gibt sogar Selbstliebe-Adventskalender.
Wie wir uns selbst behandeln, ist wichtig. Wenn ich mich halbwegs okay finde, trinke ich den Tag über genügend Wasser, auch wenn es nicht die empfohlenen zwei Liter werden. Aber Selbstliebe bedeutet für mich noch mehr: die Fähigkeit, sich in jeder Facette und Stimmung lieben zu können. Geht das überhaupt? Und was ist daran gut?
Zu Selbstliebe gibt es keinen Konsens. Wir sind uns einig, teamfähig, hilfsbereit oder nicht zu perfektionistisch sein zu wollen, aber Selbstliebe ist noch kein ethischer Wert. Das sollte sie vielleicht werden, denn danach zu streben, mit sich selbst klarzukommen, ist schon gut. Und wahrscheinlich ein Privileg, das erst auf der Agenda steht, wenn alle anderen Grundbedürfnisse gestillt sind: Essen, Obdach, Arbeit, Geld. Dann stehen wir da und wissen nicht, wo wir anfangen sollen. Und fotografieren Donuts und Kaffeetassen vor herbstlichen Wollpullovern. Weil wir überfordert sind.
Auf das Wort „Selbstliebe“ bin ich in meinen Zwanzigern gestoßen. Ich saß allein in meiner Einzimmerwohnung – auf meinem Bauch der Laptop – und klickte mich durch ein Tumblr-Blog. Nach einigen Fotos kam ich bei einer Zitatgrafik an, auf der stand:
„Nur wer sich selbst liebt, kann auch geliebt werden.“
Ich glotzte schockiert auf den Bildschirm. Das stand da einfach so im Internet rum: Die Lösung! Deswegen hatte ich so viele schlechte Erfahrungen mit Männern gesammelt! Ich fühlte mich ertappt und gerettet zugleich, als ich den Laptop vom Bauch auf meinen Beistelltisch stellte. Damit ich also eine funktionierende Beziehung leben konnte, musste ich mich nur ordentlich selbst lieben. Alles klar, das konnte ja so schwer nicht sein.
Spoiler: Es war schwer. Man kann mir nicht vorwerfen, dass ich es nicht versucht hätte. Ich pflegte meine Haut mit billigen Gesichtsmasken, ganz im Sinne der selfcare, der Selbstfürsorge. Ich sang hundert Mal Beyoncés „Me, Myself and I“ Wort für Wort mit, als wäre es eine magische Manifestation, und versuchte, selbstbewusst zu wirken. Das klappte auch: Oft wurde mir von anderen zurückgemeldet, wie tough ich doch sei. Ich fühlte mich geschmeichelt und gleichzeitig ungesehen. Wie kamen die Menschen darauf? Weil ich laut redete oder Witze über mich machte? Sah denn niemand, wie viel Anspannung in mir war?
Ich bin in einem Haushalt groß geworden, in dem Gewalt alltäglich war. Im 5. Stock einer engen Dreizimmerwohnung am Checkpoint Charlie in Berlin, inmitten von mentaler und physischer Gewalt. Ich lernte früh, Verantwortung für andere zu übernehmen. Ich passte auf meine Mutter auf und lag nachts wach, um sicherzugehen, dass die Streitigkeiten meiner Eltern nicht eskalierten. Oft ging es dabei innerhalb von Sekunden um Leben und Tod. In meiner Kindheit war kein Platz für Selbstliebe. Oft habe ich mich nicht einmal selbst gespürt.
Dann kam die Pubertät und ich wurde mir über meinen Körper bewusst. Ich hatte dunkle Körperbehaarung, alle anderen Mädchen aus der Klasse hatten blonde Beinhärchen, die sie „gar nicht rasieren müssen, weil die eh unsichtbar sind“. Ich war neidisch. Abseits der dunklen Haare hatten meine Beine auch nicht die vorteilhafteste Form. Da, wo andere Fesseln haben, die das schlanke Bein in den Fuß überleiten, hatte ich einen stumpfen Übergang. Meine Mutter hat meine Beine mal mitleidig „Kartoffelstampfer“ genannt. Die hätte ich eben leider so vererbt bekommen. Deutsche Kartoffelstampfer mit türkischer Behaarung. Schlimmer hätte es mich nicht treffen können, dachte ich damals.
Nicht alle sind so aufgewachsen wie ich, mit streitenden Eltern und Kartoffelstampfer-Beinen. Aber jeder Mensch hat sein Päckchen zu tragen, wie meine Mutter immer sagt. Und Selbstliebe-Skills scheinen vielen von uns nicht in die Wiege gelegt worden zu sein. Andere Themen stehen in der Kindererziehung an erster Stelle: Ehrlichkeit, Höflichkeit, der Umgang mit anderen. Was ist mit dem Umgang mit uns selbst? Wie lernen wir früh genug, uns selbst zu lieben?
Ich gebe diese Frage an jemanden weiter, der sich beruflich mit Selbstliebe beschäftigt. Bodo Karsten Unkelbach ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und hat ein Buch zum Thema „Selbstliebe“ geschrieben. Der 51-Jährige spricht mit sanfter Stimme ins Telefon und wählt seine Worte mit Bedacht. Auf meine Frage hin, warum wir Selbstliebe als Kinder nicht aktiv beigebracht bekommen, sagt er: „Kinder lernen das Allermeiste unbewusst und über Beziehungen. Wenn ein Kind merkt, dass es geschätzt wird, dann überträgt sich das ganz automatisch auf das Selbstbild.“
Mein Selbstbild war lange eine Collage aus Fremdzuschreibungen und Erwartungen an mich selbst. Mittlerweile kenne ich mich ganz gut, zumindest immer besser. Aber liebe ich mich? Das Verhältnis zu meinen Beinen hat sich jedenfalls nicht magisch von Hass in Liebe gewandelt. Ich habe nur nach jahrelangem Gebrauch von Kaltwachsstreifen, Enthaarungscremes, Epilierern und Rasierern keinen Bezug mehr zu ihnen. Sie sind da, sie funktionieren, ich schaue sie einfach nicht so oft an. (Tun Sie es also bitte auch nicht, wenn Sie mich mal irgendwo sehen.)
Wenn ich das mit der Selbstliebe wirklich hinkriegen würde, dann müsste ich meine Beine trotzdem schön finden und auch gern zeigen. Und das ist eines meiner Probleme mit dem Begriff: Er suggeriert mir einen Zwang.
Karsten Unkelbach findet den Begriff „Selbstliebe“ hingegen wertvoll. Es gehe ihm dabei vor allem um Fragen wie: „Gehe ich gut mit mir um? Tue ich mir selbst Gutes und nehme mein Leben so in die Hand, dass ich grundsätzlich zufrieden bin? Fühle ich mich mit mir selbst wohl? Bin ich gern mit mir allein?“
Ich bin gern allein, nehme mein Leben täglich in die Hand und tue mir regelmäßig Gutes. Trotzdem mache ich mir Gedanken um meine Charakterschwächen und lasse mich selten einfach in Ruhe. Da hilft keine Feuchtigkeitsmaske, kein Song von Beyoncé und kein teures Selbstliebe-Seminar. Wenn man nicht weiß, wie man sich selbst in Ruhe lassen kann, wird es schwierig mit der Selbstliebe.
Meine Beziehungen wurden seit der Tumblr-Offenbarung auch nicht besser. Ich verliebte mich vor allem in Narzissten, die auf mich wie Menschen wirkten, die das mit der Selbstliebe raushatten. Ironischerweise sind Narzissten mit am weitesten davon entfernt, einen gesunden Umgang mit sich (und anderen) zu pflegen. Die, die ich getroffen habe, ließen kaum Nähe zu und lebten gleichzeitig in ständiger Angst vor Ablehnung. In diesen Beziehungen bin ich zu einer Selbstbestätigungs-Tankstelle verkommen. Meine eigenen Bedürfnisse verschwanden. Nach einigen Jahren Gaslighting, einer Form von psychischer Gewalt, und zahllosen Grenzüberschreitungen von Narzissten in meinem Leben war mein Selbstbewusstsein tief gestört. Hatte mein Ex mich wirklich immer angelogen, weil er nicht anders konnte, weil ich so „schwierig“ war? Reagierte ich zu sensibel? Hatte ich zu hohe Ansprüche? War ich zu kontrollierend, wenn ich mir Ehrlichkeit wünschte?
Lena & Lisa bei der Europa-Premiere von dem neuen Animationsfilm „SING“, am 27.11.2016 im Kölner Cinedom.
CC BY-SA 3.0Cette image contient des personnes qui peuvent avoir des droits qui légalement restreignent certaines réutilisations de l’image sans leur consentement.
File:Sing Lisa & Lena.jpg
Création : 27 novembre 2016
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Unten — Hilfsbereitschaft – Spontane Hilfe bei Querung eines Gebirgsbachs
Nur eine verständlichere Corona-App wirkt! Einfach programmierbare Änderungen der Mitteilungen, die die App gibt, wären sinnvoll.
Was wünschen wir uns zu Weihnachten? Kaum etwas mehr als gute Nachrichten zur Eindämmung der Coronapandemie. Handfeste Maßnahmen wie verordnete Kontaktbeschränkungen, obwohl wirksam, stehen allerdings weniger auf dem Wunschzettel. Da bietet die viel gescholtene Corona-Warn-App einen guten Weg, denn sie könnte ab Mitte Januar entscheidend helfen, wenn hoffentlich der Lockdown wieder gelockert sein wird. Die App schränkt die Nutzer nicht ein und Datenschutzprobleme wurden durch die Programmierung wirksam verhindert. 24 Millionen Nutzer haben die App auch bisher heruntergeladen.
Doch weit weniger und damit wahrscheinlich nur gut 25 Prozent der Erwachsenen in Deutschland nutzen sie aktiv. Und auf den meisten älteren Telefonen arbeitet die App nicht.
Es ist gut, dass Nutzende inzwischen mehrmals täglich über mögliche Risiko-Begegnungen im Alltag informiert werden. Weitere Verbesserungen folgen zeitnah, wie das optionale Kontakttagebuch und ein Link zum freiwilligen Spenden von Kontextinformationen. Doch dadurch wird die App nicht automatisch mehr akzeptiert oder genutzt. Ein Großteil der Menschen in Deutschland lehnt die App von Beginn an ab, weil sie nicht glaubten, dass sie hilft, die Pandemie einzugrenzen. Eine vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführte Befragung zeigt zudem, dass viele Menschen sich möglichst handfeste Informationen über die Entwicklung der Pandemie wünschen. Wir folgern daraus, dass die App ihre Wirkung verständlicher machen sollte und irreführende Warnungen unterbleiben müssten.
Solange die App grün anzeigt, wird man in falscher Sicherheit gewogen. Es steht in breiten Lettern da: „Niedriges Risiko“. Das ist aber eine irreführende Feststellung, solange die App nicht zumindest von fast allen Menschen in Deutschland genutzt wird und coronapositive Nutzende der App ihr Testergebnis tatsächlich immer mitteilen. Denn gegenwärtig kann die App etwa drei Viertel aller riskanten Begegnungen, die ein aktiver App-Nutzer hat, gar nicht erfassen, da ja nur ein Viertel der Erwachsenen die App aktiv nutzt.
Unzutreffende Mitteilung
Die Mitteilung „Niedriges Risiko“ ist also schlicht unzutreffend. Sie verleiht einerseits ein falsches Sicherheitsgefühl, solange es nicht viel mehr App-Nutzer gibt. Andererseits kann man wenig damit anfangen, da die Niedrig-Risiko-Mitteilung nicht ausreicht, sich rasch vorsichtshalber testen zu lassen. Wenn dann noch ein Arzt sagen sollte, „Ignorieren Sie einfach diese Mitteilung“, dann führt der tägliche, grün hervorgehobene Hinweis auf „Niedriges Risiko“ bei vielen Nutzern zu weniger und nicht mehr Vorsicht, die gegenwärtig und auf absehbare Zeit angezeigt ist. Es lässt sich zwar annehmen, dass diese „Warnungen“ bei manchen von jenen Nutzern, die wissen, was das bedeutet, eine erhöhte Risikowahrnehmung zur Folge haben, weil man sich gewissermaßen von Infizierten umzingelt wähnt. Aber wenn man sich auf den Einkaufsstraßen umsah, gewann man den Eindruck, dass viele von dem Entlastungscharakter der grünen Meldung überzeugt sind. Solange es keine rote Meldung gibt, zeigt die App ein „unbekanntes Risiko“ an. Das sollte auch – grau unterlegt – dastehen; und nicht in grüner Schrift „niedriges Risiko“.
Differenzierte Erklärungen mit neutraler Farbgebung („blau“) könnten auf einfache Art und Weise helfen. Vielleicht wäre es sogar das Beste, als unkritisch eingestufte Begegnungen gar nicht anzuzeigen?
Die einzig handfeste Information, die die App übermittelt, ist die rote Warnmeldung: Eine kritische Begegnung wurde registriert und das ist eine handlungsrelevante Information. Auf dieser Basis kann man mit Selbstquarantäne und einer Abklärung durch einen Corona-PCR-Test eine Infektionskette frühzeitig unterbrechen. Sie wirkt also zum Schutz anderer.
Die Erzählung des „beschissenen Jahres 2020“ hat ein bisschen geholfen. Sie hat sogar ganz gut funktioniert, solange der Jahreswechsel noch nicht in Sichtweite war. Weil man eben manchmal eine:n Schuldige:n braucht. Und der reflexhafte Ausruf nach dem „Scheißjahr“ hat die maximale Hoffnung mitgetragen, dass im nächsten Jahr alles besser wird – und sich diese Besserung bitte schon an Weihnachten einzustellen hat. Vielleicht geht 2020 einfach als verlorenes Jahr in die Weltgeschichtschronik ein, aber immerhin ist es fast geschafft. Nur noch zwölf Tage bis Silvester! Noch zwölf Tage bis zum Neuanfang!
Die Realität sieht anders aus. Dass die Wunschvorstellung von der Erlösung vom Coronamarathon zum Jahresende nicht eintritt, ist längst klar. Wir verstehen diesen Umstand trotzdem nur sehr langsam, haben aber keine Wahl mehr. Während wir uns im Sommer noch einreden konnten, der Winter würde niemals kommen, meldeten die Gesundheitsämter dem Robert Koch-Institut am letzten Dienstag 952 Todesfälle. Neunhundertzweiundfünfzig Menschen, die an oder im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind. In 24 Stunden.
Deutschland hat bewiesen, dass es kollektive Eigenverantwortung nicht kann. Viele haben sich im Einzelnen Mühe gegeben, aber alle zusammen nicht genug. Wohlstandsmenschen glauben selbst in einer Pandemie noch daran, unverwundbar zu sein. Politisch Verantwortliche zeigen, dass sie oft noch zu viel europäische Arroganz in sich tragen, um von anderen Ländern und Gesellschaften lernen zu wollen. Und wir? Wir sind jetzt noch ein bisschen ekelhaft zueinander, weil wir spüren, wie ungleich und ungerecht unsere Gesellschaft ist. Schieben Schuld zu und wälzen Verantwortung auf andere ab. Manchmal landet beides bei uns selbst. Manchmal finden wir, dass wir doch alles richtig machen, während andere egoistisch sind. Wir pendeln zwischen Wut und Resignation, weil wir doch wenigstens auf Weihnachten gehofft hatten, auf den Jahreswechsel. Auf eine Belohnung, auf ein „Wie immer“.
Zwischen den Jahren ist eigentlich die einzig sinnvolle fünfte Jahreszeit. Ein Dazwischen-Raum, in dem die Welt gleichzeitig stehen bleibt und sich weiterdreht – ein bisschen so, als wäre ein Kind neu geboren oder ein Mensch gerade verstorben. Als würde man kurz nicht nur wissen, sondern auch ganz stark spüren, was wirklich wichtig ist im Leben. Als wäre man für einen kurzen Moment genau gleich viele Schritte von Vergangenheit und Zukunft entfernt.
Durch Pläne geben wir der Zeit einen Sinn
Diese Zeit hebt sich heraus aus dem Alltagstrott, weil wir entschieden haben, dass sie symbolisch ist. Menschen zählen an Silvester von zehn bis „Happy New Year!“ runter, obwohl die Sekunde nach Mitternacht gar nichts ändert. Aber sie steht für so viel. Für den Wunsch nach, nun ja, Happiness eben. Für einen neuen Kalender, neue Möglichkeiten, neue Pläne. Normalerweise.
Pläne zu schmieden, hilft dabei, eine positive Grundeinstellung zu behalten. Durch Pläne geben wir der Zeit einen Sinn. Pläne strukturieren Tage, Wochen und Monate. Pläne können auch Belohnungen sein, auf die wir uns freuen. Seit Corona ist das anders. Wir können nichts mehr planen, jedenfalls nicht so, wie wir es gewohnt sind.
Auch Menschen hinter Gitter – lassen sich einfacher füttern. Es wurde auch schon als Freiheitsberaubung bekannt.
Nun ist Lockdown, nicht light, sondern heavy. „Wie immer“ ist aus guten Gründen abgesagt, und es tut natürlich immer weh, schöne Pläne kurz vor Schluss absagen oder ändern zu müssen. Aber wir sind nun mal weder „fast da“, noch wissen wir genau, wie diese Zeit aussieht, in der wir nach Corona ankommen sollen.
Es gibt keine Garantie mehr für die alten Pläne, und schon gar kein selbstverständliches Recht auf sie – eigentlich hätte uns die Klimakrise schon längst in diesen Zustand versetzen müssen. Keine Garantie für den nächsten Sommerurlaub, keine Garantie für einen ausgelassenen Geburtstag und keine Garantie für Sicherheit. Jedenfalls nicht unter den alten Bedingungen.
Für viele Menschen und Gesellschaften auf der Welt ist dieser Zustand der Unsicherheit längst Alltag. Keine Pläne mehr machen können wie früher, weil der Fluss seit Jahren droht, das Dorf zu überschwemmen. Weil das nächste Feuer das Zuhause auffressen könnte. Weil man im Kugelhagel sein Leben verlieren kann. Nicht genug zu essen hat.
So viele Menschen auf der Welt spüren jeden Tag, dass das Leben unfair ist und sie manches nicht in der Hand haben. Viele von ihnen haben auf ganz unterschiedliche Arten Resilienz entwickelt, sie sind geübt in Kreativität, Spontanität und Improvisation. Das sind zunehmend wichtige Fähigkeiten, nicht erst seit der Pandemie, aber durch sie noch verstärkt. Von diesen Menschen können wir viel lernen. Nicht Leben mit Resignation, sondern wie man sich von alten Plänen verabschiedet und neue, den Umständen entsprechende, zeitgemäße Pläne macht.
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Süßes hilft gegen die Trauer, besonders wenn man es gemeinsam zubereitet. Nur dass es mit „gemeinsam“ aktuell nicht so leicht ist.
„Ab 40 lernt man den Tod kennen“, meinte meine Freundin Daniela vor etlichen Jahren mal zu mir. Sie war bereits über 40, ich war damals Ende 20 und dachte, was für ein schöner Spruch. Und auch: Ob er seine Berechtigung hat? Und jetzt, in den 40er Jahren angekommen, kann ich ihr nur beipflichten.
In diesem Jahr habe ich den Tod mehrmals aus nächster Nähe erleben können, und es ist eine neue Form des Sammelns: Eindrücke, Gerüche, Sätze, Wörter, Blicke, die einen weiter im Leben begleiten und die man hervorholen kann, wenn man mit den Verbliebenen zusammensitzt und die Trauer irgendwie mitträgt und dann auch wieder nicht. Weißt du noch, der Himmel, wie schön und rot er war, einen Tag zuvor …?, fragte ich letztens eine Freundin, die frisch trauerte, und wirklich, sie konnte sich erinnern und wir mussten beide an diesen schönen Abendhimmel denken; vielleicht auch, weil er Hoffnung versprach und das Gegenteil am nächsten Tag eintrat.
Trauer und Umarmen
Auf meiner ersten Beerdigung in diesem Jahr stand ich vor der Moschee und wunderte mich darüber, dass es schneit, ausgerechnet zu einer Zeit, als man den Frühling schon fast riechen konnte. Gewundert hatte ich mich auch über die vielen Menschen vor der Moschee, die ihre Toten zum letzten Mal sehen wollten, alles unter strengen Corona-Auflagen zwar, aber es war unwirklich und berührend zugleich. Wie wir plötzlich die anfangs ungewohnten Mund-Nasen-Masken trugen und ich im Vorfeld lange überlegte, ob ich die Trauernden umarmen sollte. Dann wurden wir nur zu fünft in den Hof der Moschee gelassen und draußen standen viele kleine solcher Grüppchen und die Menschen weinten oder umarmten sich. Die Frage mit dem Umarmen hatten die anderen Gäste da also schon geklärt.
Berührungen, alles, was einem sonst immer half, auch wenn die Worte fehlten, war nicht abrufbar und ich behalf mich mit dem unbeholfenen Rumstreicheln am Oberarm, aber das wirkte auch nur so semioptimal, weil man schon innerlich die Arme ausgebreitet hatte.
So unwirklich wie dieses Szenario schien, so nah waren einem die Menschen in ihrer Trauer. Man kannte ihre Namen nicht, na und? Trotzdem murmelten wir dieselben Gebete oder taten zumindest so, die gleichlautenden Beleidsbekundungen und die gleichen Dankesworte fielen. Und wie unwirklich war es eigentlich, dass man sich statt zitronig duftendem Kolonya Desinfektionsmittel in die Hände schüttete? Fast schon lustig war das. Einzig das Ende war anders: Nun mussten wir uns auf der Straße verabschieden und die Trauernden mit der Trauer allein lassen, weil niemand mehr nach dem Moscheebesuch mit den anderen essen gehen konnte – war ja alles zu – oder zumindest auf einen Tee in die Wohnung der Trauernden. Ich verkroch mich wie alle anderen wieder in die eigene Bude, was wirklich gegen alles spricht, wenn jemand aus dem Freundeskreis gestorben und die Trauer groß ist.
Das russische Aussenministerium hat bekanntgegeben, eine formelle Delegation der AfD empfangen zu haben. Das ist eine Katastrophe.
Wer in Russland Verwandte, Freunde oder auch nur ferne Bekannte hat, der weiss es: In Russland leidet nicht nur die politische Führung, sondern auch die politisch interessierte Bevölkerung darunter, vom Westen fast als Monster behandelt, ja von vielen regelrecht gehasst zu werden. Aggressiv, jeder Zeit bereit, einen Krieg zu beginnen, Länder zu erobern.
Warum eigentlich? In Syrien wurde Russland formell zu Hilfe gerufen. Auf der Krim wurde die Abstimmung über die Wiedervereinigung mit Russland zwar ohne Zustimmung der Regierung in Kiev durchgeführt, das Resultat zeigte aber trotzdem klar: Ja, die Bevölkerung, die nach Kievs Vorgaben nicht einmal mehr die eigene Muttersprache, das Russische, hätte lernen und sprechen dürfen, wollte zurück zu Russland. Die überwältigende Mehrheit sagte Ja, und dies, ohne dass auch nur ein einziger Schuss fiel. Wer immer sich getraut, auf die von Wirtschaftssanktionen geplagte Krim zu fahren und herumzuhören, weiss es. – Die USA und die NATO aber haben seit 1990 in etlichen Regionen der Welt sogenannt präventiv zugeschlagen und richtige Kriege begonnen. Doch die USA und Europa werden von Russland bedroht, so die Behauptung vieler Politiker.
Nachdem Deutschland sich bereit erklärt hatte, den vermutlich eines Giftanschlages wegen im Koma liegenden russischen Oppositionellen Alexei Navalny medizinisch zu behandeln, dabei aber jede Zusammenarbeit mit den russischen Medizinern verweigerte und den Fall zum Anlass nahm, Russland erneut als Staatsfeind zu brandmarken, und nachdem die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer unaufhörlich eine engere militärische Zusammenarbeit mit den USA propagiert, hat Russland in gewissem Sinne kapituliert. «Wir wissen, dass wir in Europa nichts mehr zu gewinnen haben», so der Grundtenor der Kommentare in den russischen Medien. «Wir müssen uns darauf einstellen, auf uns selbst gestellt zu sein und mögliche Freunde andernorts als in Europa zu suchen.»
Ein schwarzer Tag
Jetzt, am 11. Dezember, zeigt das russische Aussenministerium öffentlich, wie es eine Delegation der deutschen rechtspopulistischen Partei «Alternative für Deutschland», der AfD, zum Gespräch empfangen hat. Ausgerechnet.
Aussenminister Sergei Lawrow betonte, dass das Gespräch nicht auf seinen Wunsch stattgefunden habe, sondern auf Wunsch der Delegation der AfD. Aber wenn das «offizielle» Deutschland jede Kommunikation verweigere, müsse eben jede andere Gelegenheit benützt werden, mit Deutschland im Gespräch zu bleiben.
Als russischer Aussenminister muss Lawrow das politische Parteiprogramm der AfD kennen. Auch die Biographie der Leute in der AfD-Parteileitung kann ihm nicht entgangen sein. Und auch er weiss, was AfD-Fraktionschef Alexander Gauland zum Zweiten Weltkrieg gesagt hat: «Die Hitler-Zeit war nur ein Vogelschiss in der 1000-jährigen Erfolgsgeschichte Deutschlands». Ein «Vogelschiss», der auf Seite der Sowjetunion 27 Millionen Kriegsopfer gefordert hat. Ist Lawrow bewusst, was die direkte Folge dieses Treffens mit der AfD sein wird? Dass nämlich noch mehr Leute ohne näheres Hinsehen Russland als Gesprächs- und Handelspartner ablehnen werden? Russland noch mehr verachten oder gar hassen werden?
Und was bezweckt die AfD mit diesem Treffen? Will sie international zeigen, dass sie nicht nur eine innenpolitische Minderheitspartei ist, sondern ein ernst zu nehmender Faktor der deutschen Politik? Will sie daran erinnern, wie im Deutschland der 1930er Jahre Rechtsextremisten fähig waren, an die Macht zu kommen?
Das Treffen der AfD-Delegation im Kreml hinterlässt vordergründig Irritation, wenn nicht gar einen Schock der Enttäuschung. Es braucht wohl ein paar Nächte, um darüber schlafen und das Treffen näher analysieren zu können. Eine erste Interpretation kann nur die sein: Russland ist nicht nur immens enttäuscht über das Verhalten Deutschlands Russland gegenüber (das geopolitisch tatsächlich als katastrophal bezeichnet werden muss), Russland ist nachgerade am Verzweifeln. Der Empfang der AfD-Delegation kommt einem Hilferuf gleich. Russland sucht nach jedem Grashalm, wieder ins Gespräch mit Deutschland zu kommen. Und wenn es auch nur über die Opposition geht, ohne genauer hinzuschauen, welches üble Parteiprogramm diese Leute haben.
Deutschland muss endlich in sich gehen
Als die USA, aufgrund der erlogenen Begründung unterstützt von etlichen anderen Ländern, im Jahr 2003 den Irak zu bombardieren begannen, hatten Deutschland und Frankreich den Mut, nicht mitzumachen. Es bestand die Hoffnung, dass sich diese zwei Länder und damit später vielleicht ganz Europa aus den Fesseln der USA lösen würden. Das Gegenteil ist eingetroffen. Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer, aber auch die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, sie politisieren, als wären sie bezahlte US-Agenten. In der Ukraine und neu auch in Belarus spielen sie in nicht zu verantwortender Weise mit dem Feuer. Warum werden sie verbal und mit Sanktionen immer aggressiver gegen Russland? Warum sind sie nicht bereit, mit Russland wenigstens das Gespräch aufzunehmen, wissend, dass Russland das Gespräch seinerseits ausdrücklich sucht?
Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.
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Grafikquellen :
Oben — Sergej W. Lawrow (links) und Heiko Maas, Außenminister, bei der 55. Münchner Sicherheitskonferenz. / www.securityconference.de
Die Kommission will mit Deutschlandfahnen das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Ost und West stärken. Dabei gab es daran nie einen Mangel.
Es war schon dunkel, als ich nach Hause ging. War noch unterwegs gewesen, mit Freunden, Bekanntschaften eher. Durch die Innenhöfe der Betonburg in Rostock, wo ich aufgewachsen bin. Von verschiedenen Ecken war das Gegröle zu hören. Keine Party, eine Machtergreifung. Fahnen, Fäuste, Feuerwerk. Die Gruppe, fünf oder sechs Leute, wollte noch weiter, durch irgendeinen Durchgang in den nächsten Hof zwischen diesen Plattenbauten, und ich wollte nach Hause. „Würde an deiner Stelle auch gehen“, sagte einer. Gar nicht unfreundlich, gar nicht drohend, einfach nur feststellend, wie es eben war. Die Claims abgesteckt, es war deren Nacht, deren Hof. Zugelassene Gäste gab es jede Menge. Die Zecke aber ging besser nach Haus. Hatte es auch nicht weit, ist nichts passiert. Dieses Mal. Danach hatten die noch viele Nächte.
Drei Jahrzehnte nach diesem 3. Oktober 1990 legte die Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ an diesem Montag ihren Abschlussbericht vor. 2019 von der Bundesregierung eingesetzt, sollte das Gremium den Einheitsprozess bilanzieren und Handlungsempfehlungen für die kommenden Jahre geben. Dem Bundeskabinett war nämlich ein Problem bewusst geworden: „Trotz der eindrucksvollen Erfolge stellt der Stand der deutschen Einheit nicht alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen zufrieden. Vor allem in Ostdeutschland …“
Ja, da haben sie den Finger tief in der Wunde, direkt am lebenden Puls der Zeit gewissermaßen. Ostdeutschland. Immerhin ist nicht mehr die Rede von den „fünf neuen Ländern“, aber fremdeln tun sie doch noch immer ein bisschen.
Mögliche Gründe nennt der Kommissionsbericht einige. In soziologischer Schönschrift wird von den „schwierigen Jahren der Transformation“ geschrieben. „Brutale flächendeckende Deindustrialisierung“ hätte vielleicht zu hart in dieser Festschrift geklungen. Aber wir wissen ja alle, dass genau das gemeint ist. „Vor allem in Ostdeutschland“, ach ja, dort, „schmerzen bis heute die Wunden der SED-Diktatur.“ Wie ein Furunkel tun sie weh. Deshalb soll nach Empfehlung der Kommission auch die Lebensleistung der Menschen in den letzten 30 Jahren in den Mittelpunkt gerückt werden. Eine Salbe auf die wunde Stelle. Über die Lebensleistung der Ostdeutschen vor 1990 haben wir jetzt auch wirklich lange genug geredet, sollen sie doch in ihren Kleingärten sitzen, die Renten versaufen und sich Geschichten aus der DDR erzählen.
Unten —Die Bundesumweltministerin Angela Merkel am Stresemannufer hinter dem Plenarsaal der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn beantwortet einem Fernsehteam deren Fragen. Im Hintergrund ist das Abgeordnetenhochhaus Langer Eugen zu sehen. Fotografische Impressionen von Andreas Bohnenstengel während der Parlamentarischen Woche im Juni 1995 in: Der Dreizehnte Deutsche Bundestag. Innenansichten unseres Parlaments. ISBN 3-87576-357-2
Die Außenpolitiker der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag Sevim Dagdelen und Gregor Gysi trafen sich im Rahmen einer Dienstreise am Wochenende mit dem im Moskauer Exil lebenden US-Whistleblower Edward Snowden zu einem ausführlichen Gespräch. Erörtert wurden unter anderem der nötige Schutz von Whistleblowern und der Pressefreiheit sowie die Konsequenzen aus der rechtskräftigen Entscheidung eines US-Bundesgerichts vom September 2020, dass das von Edward Snowden vor sieben Jahren enthüllte Telefon-Überwachungsprogramm des US-Geheimdienstes NSA als illegal bestätigte. Dazu erklären die LINKE-Abgeordneten:
„1. Das US-Bundesgericht hat Edward Snowden ausdrücklich die Aufdeckung der illegalen Aktivitäten des US-Geheimdienstes NSA, die massenweise die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern verletzten, angerechnet. Mit dieser gerichtlichen Entscheidung stellt sich die Frage, was an der Aufdeckung von etwas Rechtswidrigem durch Edward Snowden strafbar sein sollte. In Folge des Urteils zur rechtswidrigen Praxis der NSA muss auch die Aufdeckung dieser geheimdienstlichen Praxis straffrei sein. Das Urteil kommt einer Rehabilitation von Edward Snowden gleich.
2. Mit diesem Urteil aus den USA steht auch für alle anderen Staaten, einschließlich Deutschland, die Frage, welche Überwachungen durch Geheimdienste überhaupt zu rechtfertigen sind. Die millionenfache Überwachung der Kommunikationsdaten von Bürgerinnen und Bürgern sowie von Unternehmen ist in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft untragbar. Die Zuarbeit anderer westlicher Geheimdienste für die rechtswidrige Abhörpraxis der NSA, wie der des Bundesnachrichtendienstes, ist als Beitrag zu einer Grundrechtsverletzung im globalen Maßstab zu werten und sollte umgehend beendet werden.
3. Whistleblower wie Edward Snowden sind keine Kriminellen, sondern große Helden, die Missstände und Verbrechen aufdecken. Ohne sie könnten solche rechtswidrigen Aktivitäten und kriminellen Strukturen niemals publik und beendet werden. Die strafrechtliche Verfolgung von Edward Snowden verbietet sich damit. Es ist beschämend und Ausdruck falscher US-Verbundenheit, dass die Bundesregierung und die EU dem mutigen Whistleblower Snowden nicht Schutz und Sicherheit vor US-Verfolgung garantieren. Der Schutz von Whistleblowern und die Verteidigung der Pressefreiheit dürfen nicht nur auf dem Papier bekundet werden, sie müssen vor allem umgesetzt werden, auch dann, wenn es das Missfallen von Verbündeten erregen könnte. Die Bundesregierung ist aufgefordert, sich für die Beendigung der Verfolgung von Edward Snowden und den wirksamen Schutz von Whistleblowern einzusetzen.
4. Die Pressefreiheit gilt grundsätzlich. Wenn ein Geheimdienstmitarbeiter wie Edward Snowden etwas Kriminelles aufdeckt, muss es den Medien auch erlaubt sein, es anzunehmen und zu nutzen, d.h. es zu veröffentlichen. Wenn dieses Grundprinzip des investigativen Journalismus unter Strafe gestellt wird, ist die Pressefreiheit ernsthaft gefährdet. Zum Schutz der Journalistinnen und Journalisten sowie ihren Quellen muss die Anonymität der Quelle sowie das Recht auf Veröffentlichung gesetzlich geschützt werden. Nur so wird Pressefreiheit gewährleistet.“
Urheberrecht
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Menschenrechte und Demokratie oder imperiale Großmachtpolitik? DIE LINKE. im Bundestag lud zur Anhörung »Quo vadis Türkei? – Menschenrechte und Demokratie oder imperiale Großmachtpolitik« ein. Vor dem Hintergrund der EU-Beitritts-verhandlungen sollen Resultate und Probleme bei der Demokratie in der Türkei diskutiert werden. Nachdem die religiös-konservative Regierungspartei AKP ihre Macht festigen konnte, hat sie die Repression nach Innen, gegen die politische Opposition, kritische Medien und Gewerkschaften sowie gegen Minderheiten verschärft. Nach Außen tritt die Türkei zunehmend offensiv als regionale Großmacht auf, die Ansprüche gegenüber den Anrainerstaaten durchsetzen mag. In unserer Anhörung wurde mit ausgewählten Expertinnen und Experten sowie mit türkischen Politikerinnen und Politikern und aktiven Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern die aktuelle soziale, politische und menschenrechtliche Situation in der Türkei beleuchtet. Im Vordergrund standen dabei die sozialen Auswirkungen der neoliberalen Politik der pro-islamisch-konservativen Regierungspartei AKP stehen, die hieraus resultierende Massenarmut, die Arbeitskämpfe und Situation von Gewerkschaften, aber auch die politisch motivierten Massenverhaftungen von Oppositionellen und Journalistinnen und Journalisten sowie bestehende Konflikte mit Minderheiten.
100.000, 150.000 oder gar 200.000 Demonstrant*innen, wie von den Organisator*innen gezählt, eine riesige Menschenmenge ist am Samstag durch Paris gezogen. Mitten im Pandemie Ausnahmezustand.
Der Anlass war der berüchtigte Gummi-Paragraf 24 des neuen Sicherheitsgesetzes (Loi Sécurité Globale), das am Mittwoch verabschiedet wurde und das zukünftig das Dokumentieren und Veröffentlichen von Polizeigewalt unter Strafe stellt, sollten dadurch in irgendeiner Art und Weise die beteiligten Bullen “geschädigt” werden. Nachdem vor einigen Tagen ein Video viral ging, das die minutenlange Misshandlung des Musikproduzenten Michel Zecler durch mehrere Bullen zeigte, musste sogar Macron zurückrudern und kündigte eine “Überarbeitung” des bereits verabschiedeten §24 durch “Experten” an.
Auf der Pariser Demo kam es zu zahlreichen militanten Aktionen und direkten Auseinandersetzungen mit den Bullen, bei denen die häufiger nicht gut aussahen, gleichzeitig wurde in über 40 französischen Klein- und Grossstädten demonstriert, dabei kam es auch u.a. in Bordeaux, Toulouse, Rennes und Lyon zu Strassenkämpfen und Plünderungen. Die Auseinandersetzungen und breite Beteiligung sowohl an den Demos als auch an den Scharmützeln selbst, sowie die Tatsache dass es hinterher keine nennenswerten Distanzierungen gab, dürften auch das Resultat der gesellschaftlichen Realität im Pandemie Ausnahmezustand, dem Versagen der Regierung in der Steuerung der “Gesundheitspolitik”, dem alltäglichen Terror der Bullen, die im Ausnahmezustand ihre Allmacht in den proletarischen Viertel zelebrierten, der Wut über die erneuten Ausgangssperren geschuldet sein.
Nicht umsonst hatte die französische Regierung schon vor Tagen einen Fahrplan zur schrittweisen Öffnung von Kulturstätten sowie Restaurants und Bars vorgelegt, obwohl es noch keine sichere Prognostik über die weitere Entwicklung der Pandemie gibt. Der Druck im Kessel ist mittlerweile zu hoch, so werden sogar Winterferien in den Skigebieten möglich sein, wenn auch mit Einschränkungen. Das Narrativ von der Alternativlosigkeit der Massnahmen zur Eindämmung der Corona Pandemie wird von immer grösseren Teilen der Bevölkerung infrage gestellt, im Unterschied zu Deutschland können jedoch die Rechten daraus keinen Profit ziehen, so wurde z.B. eine Gruppe von Faschos, die sich in Strassburg auf die Demo gewagt hatten, dort von der Strasse geprügelt. Wir haben kurzfristig einen Artikel von acta zone übersetzt, der unmittelbar nach der Demo in Paris entstanden ist.
Hunderttausende Menschen gingen heute in ganz Frankreich anlässlich der “Demonstrationen für die Freiheit” und “gegen das neue Sicherheitsgesetz” in ganz Frankreich auf die Strasse. In einem Kontext, der von einer umfangreichen Berichterstattung über Polizeigewalt in den Medien geprägt war – von der brutalen Vertreibung des demonstrativen Camps der Migrant*innen und ihrer Unterstützer*innen vom Place de la République bis hin zur minutenlangen Misshandlung des Musikproduzenten Michel Zecler im 17. Arrondissement – war der Pariser Zug besonders riesig und entfaltete ein Konfliktniveau, wie es wahrscheinlich seit dem 16. März 2019 nicht mehr gesehen worden war.
Vor dem offiziellen Beginn der Demonstration sprachen die Familien der Opfer von Polizeigewalt nacheinander unter dem Transparent „Die Polizei verstümmelt, die Polizei mordet“. Die Familien gingen dann in mehreren verschiedenen Demonstrationsblöcken mit , einige im Frontblock mit Amal Bentounsi vom “Collectif urgence notre police assassine”, andere hinter einem grossen Transparent „On marche pour nos libertés“, angeführt u.a. vom Komitee “Gerechtigkeit für Adama Traoré”, dem Kollektiv Vies Volées sowie dem Kollektiv Oliv’Vit’Haut. Auf diese Weise soll daran erinnert werden, dass die Bewohner von Arbeitervierteln seit mehreren Jahrzehnten als Labor für Repressionen dienten und auch heute noch die ersten Opfer von Polizeigewalt sind.
Noch bevor der Place de la Bastille im Rampenlicht stand, kam es gegen 16.00 Uhr an der Kreuzung Boulevard Beaumarchais und Rue du Pas de la Mule sowie auf der anderen Seite, der Rue du Pas de la Mule, zu Zusammenstössen. Baustellen-Absperrungen, Feuerwerkskörper, Kopfsteinpflaster, Molotow-Cocktails: Die ersten Angriffe auf die Bullen kündigten bereits ein besonders hohes Mass an Entschlossenheit ein. Ein Transparent zu Ehren von Diego Maradona, dem legendären argentinischen Fussballer und Symbol des antiimperialistischen Kampfes, wies den Weg. Diego es pueblo!
Nachdem die Ketten der Bullen auf beiden Seiten des Boulevards in die Querstrassen zurück gedrängt worden waren, legte die Demo ihren Vorwärtsgang wieder ein, wobei mehrere Luxusautos verbrannt und ein BMW-Autohaus zerlegt wurde. Sobald sie den Place de la Bastille erreicht hatten, setzten sich die Zusammenstösse fort, währenddessen alle Zugänge zum Platz verbarrikadiert wurden.
In diesem Moment erschien ein weiteres Transparent – „Darmanin, tu vas voir flou“ (Darmanin, du wirst verschwommen sehen), eine Anspielung auf den berühmten Artikel 24 des Loi Sécurité Globale, der darauf abzielt, die Ausstrahlung von Bildern von Polizeieinsätzen zu verbieten – währendessen rechts, am Eingang der Rue de la Bastille, ein neues Schlachtterrain entstand. Angriffe und Gegenangriffe bestimmten dann das Tempo des Abends, mit einigen direkten “Begegnungen”, bei denen die Polizei nicht immer die Oberhand behielt. Die Banque de France wurde ebenfalls ins Visier genommen, ihre Fenster zerstört und das Gebäude dann teilweise in Brand gesteckt.
Im Allgemeinen zeigten die Demonstranten einen aussergewöhnlichen Kampfgeist und veranlassten die Ordnungskräfte bei mehreren Gelegenheiten zum Rückzug. Inmitten des Tränengases konnte ein einsamer Dichter, ausgerüstet mit seinem behelfsmässigen Mikrofon, ihnen ironisch zuwerfen: „Buh! Eine weitere Niederlage! Sie sind schlimmer als der OM!” (Olympique Marseille, in Paris nicht besonders geschätzter Fussballclub, d.Ü.)
Die heutige Demonstration war aufgrund ihrer zahlenmässigen Stärke, ihrer Offensivität, ihres Geistes der Revolte und der kollektiven Solidarität eine Demonstration der Stärke, die die weit verbreitete soziale Feindseligkeit nicht nur gegen das Sicherheitsgesetz, sondern auch gegen den autoritären Regierungsstil, gegen den staatlichen Rassismus, gegen Macron und seine Welt zeigte.
Das Video von Michel Zeclers Misshandlung wirkte offensichtlich als Katalysator, so wie das Video von George Floyds Ermordung angesichts der Parallelität Zehntausende von Menschen dazu veranlasst hatte, als Reaktion auf die Aufrufe des Adama-Komitees vor dem Obersten Gerichtshof im Juni auf die Strasse zu gehen. Ein weiteres Beispiel ist das Video das zeigte wie ein Jugendlicher vor dem Lycée Bergson von den Bullen verprügelt wurde, was wesentlich dazu beitrug, die Dynamik der Bewegung gegen das loi travail im Jahr 2016 zu befördern.
Die heutige Menschenmenge war eine der Situation angemessene Reaktion der Massen. Sie beweist, wie wichtig es ist, die Polizei weiterhin zu filmen und sich zu verteidigen, wie notwendig es ist, den Druck gegen diese jetzt in die Enge getriebene Regierung aufrechtzuerhalten, damit sie ihre Gesetze ein für alle Mal begraben kann.
Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.
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Oben — Manifestation le 28 novembre 2020 à Paris contre la proposition de loi relation à la sécurité globale.
Selbst wenn alle politischen Versager voraus gehen um sich Impfen zu lassen, könnte ich nicht die Empfehlung vertreten einen Beelzebub mit dem Teufel auszutreiben. Wie heißt es in der Justiz : „Unwissenheit schützt nicht vor Strafe“, in der Panik laufen alle in verschiedene Richtungen ? Zu meist waren es falsche politische Weisungen welche zu Kriegen führten.
Von Andreas Lob-Hüdepohl
Wer bekommt den Impfstoff gegen Covid-19 zuerst? Impf-Prioritäten müssen an universelle Menschenrechte gekoppelt sein.
Pünktlich zum Advent erreichen uns ermutigende Nachrichten: Die Zulassung der ersten neu entwickelten Anti-Covid-19-Impfstoffe ist beantragt. Sobald die Zulassung auf der Basis der üblichen Kriterien von Sicherheit und Wirksamkeit erfolgt ist, kann spätestens zu Beginn des nächsten Jahres mit umfangreichen Impfkampagnen begonnen werden. Freilich ist zumindest in den ersten Monaten von erheblichen Knappheitsproblemen auszugehen. Denn selbst wenn schnell ausreichende Mengen an Impfstoffen produziert werden könnten, müssen diese erst noch mittels einer komplizierten Logistik verteilt und dann von Impfteams den Impfwilligen verabreicht werden. Und diese Knappheiten betreffen nicht nur Deutschland, sondern die internationale Gemeinschaft insgesamt.
Staatlich autorisierte Rangfolgen sind notwendig. Wer priorisiert, der will das Windhund- und Ellenbogenprinzip verhindern: Nicht die Schnellsten oder Rücksichtslosesten kommen in den Genuss des Gesundheitsvorteils Impfschutz, sondern diejenigen, die nach akzeptablen Kriterien bevorzugt werden. Wer bestimmte Personen vorzieht, stellt andere hintan. Deshalb müssen die Kriterien hierfür gut begründet und dann auch konsequent angewendet werden. Sonst sind sie inakzeptabel. Priorisierungsentscheidungen berühren medizinisch-epidemiologische wie ethische und rechtliche Aspekte. In Deutschland hat der Bundesgesundheitsminister deshalb eine „Gemeinsame Arbeitsgruppe“ aus Mitgliedern der Ständigen Impfkommission beim RKI, der nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sowie des Deutschen Ethikrates beauftragt, solche Kriterien zu entwickeln, der Öffentlichkeit zur Diskussion und dem Gesetzgeber für seine Entscheidungen zur Verfügung zu stellen.
Die ethischen Prinzipien, die die Gemeinsame Arbeitsgruppe ihren Priorisierungsempfehlungen zugrunde legt, sind zwar nicht sonderlich originell, dafür aber evident und weitgehend konsensfähig. Im Mittelpunkt steht – neben Nichtschädigung und Wohlergehen – Gerechtigkeit in Form von Fairness und Rechtsgleichheit. Diese Grundprinzipien begründen das Kriterium der höheren Dringlichkeit einer Gefahrenabwehr durch Impfschutz: zuerst diejenigen mit einem extrem hohen Risiko, an Covid-19 schwer zu erkranken oder gar zu sterben (zum Beispiel Hochaltrige und spezifisch Vorerkrankte); sodann diejenigen, die anlass- oder berufsbedingt sich selbst und in der Folge andere besonders Gefährdete anstecken können (etwa in Gesundheitsberufen Tätige); und schließlich Personen(gruppen), die in anderen öffentlichkeitsrelevanten Berufen und Funktionen einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind und bei krankheitsbedingtem Ausfall nur mit großen Problemen ersetzt werden können.
Kein Kriterium bildet die bessere Erfolgsaussicht. Das mag überraschen. Sollten nicht möglichst die zuerst geimpft werden, die schnell erreicht werden, bei denen die Immunantwort möglichst stark ist, deren Leistungsfähigkeit das Gemeinwohl am meisten sichert und fördert? Aber dieses Kriterium führte unweigerlich dazu, dass Jüngere (deren Immunantwort ist im Schnitt stärker, und sie leben durchschnittlich noch länger) oder Fittere (deren Leistungsfähigkeit ist besser geschützt) bevorzugt werden müssten. Nützlichkeitserwägungen dürfen bei Impfstrategien zweifellos eine Rolle spielen. Welche Verteilungssysteme oder Impfzentren sind möglichst effizient? Welche Impfstoffe sind für welche Personengruppe besonders effektiv? Nützlichkeitserwägungen dürfen aber nicht in utilitaristischer Manier die Oberhand gewinnen. Sie sind eingeklammert durch die universale Geltung der Menschenwürde und der Menschenrechtsansprüche aller. Das heißt: Jede Form einer Bewertung des Lebens und jede Form der Diskriminierung aufgrund des Alters, der Lebenserwartung, der Leistungsfähigkeit und so weiter ist kategorisch ausgeschlossen.
Dies gilt auch im internationalen Kontext. Die Pointe universaler ethischer Prinzipien ist: Sie gelten nicht nur überall, sondern vor allem für alle. Menschenrechte bilden eine Klammer um wirklich alle Menschen. Sie lassen sich nicht auf Nationalstaaten begrenzen, sondern setzen nationalen Grenzziehungen selbst eine Grenze: Nur innerhalb globaler Menschheitsinteressen haben nationale Regelungen einen legitimen Platz. Das gilt gerade auch für Impf(stoff)-Priorisierungen.
Die Versuchung ist groß, das eigene Knappheitsproblem und mit ihm die Notwendigkeit von Priorisierungen zu mildern, indem man sich für das eigene Land privilegierte Zugriffsrechte auf Impfstoffe sichert und dabei die berechtigten Ansprüche anderer stumpf übergeht. Diese Gefahr ist real: In den vergangenen Monaten wurden wir und wir werden bis heute Zeug*innen solch brachialer Egoismen des „Me first“. Prominentes Beispiel: der Versuch der abgewählten US-Administration, sich durch den Erwerb des Tübinger Biotech-Unternehmens Curevac das ausschließliche Zugriffsrecht auf den dort entwickelten Impfstoff zu sichern. Dagegen gilt: Der Verschaffungsanspruch von Bürger*innen gegenüber ihrem eigenen Staat auf Schutz ihrer Gesundheit entpflichtet niemals von jenen Verbindlichkeiten, die um der Menschenrechte aller willen einen gerechten Zugang zu Impfstoffen für alle Staaten ermöglichen. Gelegentlich wird um Akzeptanz mit dem Argument geworben, die deutsche Gesundheit würde auch am Kap der guten Hoffnung gesichert und verteidigt. Das mag sachlich vielleicht zutreffen, weil neue Coronahotspots auf Deutschland zurückwirken. Deshalb sei eine großzügige Belieferung im eigenen Interesse. Das ist ethisch aber nur nachgeordnet bedeutsam. Was letztlich allein zählt, ist der menschenrechtliche Anspruch auf Gesundheits- und Lebensschutz der dort bedrohten Bevölkerung – um ihrer selbst willen und nicht unseretwegen.
Oben — CDC champions a One Health approach, encouraging collaborative efforts to achieve the best health for people, animals, and the environment. Photo credit: Awadh Mohammed Ba Saleh
Unten —Satirische spanische Darstellung Ende September 1918: der Soldado de Nápoles liest in der Zeitung vom gutartigen Charakter der Krankheit und gleichzeitig, dass der Platz auf den Friedhöfen ausgeht
Lorenzo Aguirre – El Fígaro
The Naples Soldier (metaphor for the Spanish Flu in Spain). Artist: Lorenzo Aguirre. Source: El Fígaro, Sept. 25, 1918
Der Krieg in Äthiopiens Region Tigray spitzt sich zu. Die Zentralregierung droht der Zivilbevölkerung der Regionalhauptstadt Mekelle.
Die Warnung ist unmissverständlich. „Die nächsten Phasen sind der entscheidende Teil der Operation“, erklärte Äthiopiens Militärsprecher Dejene Tsegaye am Sonntagmorgen im Staatsfernsehen an die Bevölkerung von Mekelle gerichtet, Hauptstadt der umkämpften nordäthiopischen Region Tigray.
Er kündigte die Einkesselung der 500.000-Einwohner-Stadt durch Äthiopiens Armee an und fügte hinzu: „Wir möchten der Öffentlichkeit in Mekelle eine Botschaft senden.“ Die Menschen hätten jetzt noch Zeit, sich vor Artilleriebeschuss in Sicherheit zu bringen und sich vor der „Junta“ zu retten, wie Äthiopiens Zentralregierung die Regionalregierung von Tigray bezeichnet. „Die Öffentlichkeit muss sich von der Junta trennen. Danach wird es keine Gnade geben.“
Seit Tagen warnt Äthiopiens Regierung vor dem bevorstehenden Höhepunkt des Krieges gegen Tigrays Machthaber, der am 4. November begonnen hatte. Die Regierung von Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed, der 2018 als international gefeierter Reformer an die Macht in Addis Abeba gekommen war, geht militärisch gegen die in Tigray regierende TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) vor, die sich 2019 von Abiys Regierungskoalition losgesagt hatte und im September 2020 trotz Verbots durch die Zentralmacht eigene Regionalwahlen abhielt.
Aus Sicht Addis Abebas sind die TPLF-Regierenden in Mekelle seitdem Rebellen. Als sie angeblich eine äthiopische Militärbasis angriffen, erklärte die Regierung ihnen den Krieg.
Äthiopischer Vorstoß ins Kerngebiet Tigrays
Äthiopiens Armee nahm in den vergangenen zweieinhalb Wochen erst die westlichen Teile Tigrays ein und rückte anschließend in Richtung des historischen Kerngebiets der Region vor, wo die Hauptstadt Mekelle liegt.
Nach eigenen Angaben hat sie in der vergangenen Woche die Geburtsstadt Shire des TPLF-Führers Debretsion Gebremichael erobert, die stategisch wichtige Stadt Adigrat auf der Straße nach Eritrea sowie die uralte christliche Kaiserstadt Axum, ein Weltkulturerbe, dessen jahrtausendealte Klöster Moses’ Bundeslade aus dem Alten Testament beherbergen sollen.
Von Adigrat rücken die äthiopischen Truppen jetzt Richtung Mekelle vor. Sie sollen noch 100 Kilometer entfernt sein. Die Lufthoheit hat Äthiopiens Luftwaffe bereits.
Die Universität von Mekelle wurde am Donnerstag bombardiert. Nach Angaben von Augenzeugen gegenüber der taz, durch Fotos unterstützt, wurden 22 Studenten und vier weitere Zivilisten verletzt. Andere Quellen sprechen von 50 Verletzten.
In einer Botschaft, die die taz erreichte, listete Universitätspräsidentin Fetien Abay auch Luftangriffe auf ein Wasserkraftwerk, eine Zuckerfabrik und ein Lebensmittellager auf. „Wie kann eine Regierung ihr eigenes Volk bombardieren?“, fragt sie.
Das Auswärtige Amt stellt den Konflikt in Äthiopien vor allem als humanitäres Problem dar. Das verhöhnt die Menschen im Kriegsgebiet.
Als Abiy Ahmed 2018 Äthiopiens Ministerpräsident wurde und umgehend einen politischen Frühling einläutete, galt er als neuer Hoffnungsträger Afrikas. Er öffnete die Gefängnisse, er schloss Frieden mit dem Erzfeind Eritrea, und als smarter junger Technokrat, der die autoritäre Wende seiner Vorgänger rückgängig machte, erhielt er 2019 den Friedensnobelpreis. Heute führt er Krieg gegen einen Teil des eigenen Landes.
Hunderte von Menschen sind gestorben, Zehntausende sind auf der Flucht, und die Zentralregierung droht den Einwohnern von Mekelle, Hauptstadt der Region Tigray, unverhohlen mit der Auslöschung, wenn sie sich nicht von ihren lokalen Führern lösen.
Der äthiopische Staat war schon immer in erster Linie ein Gewaltinstrument. Vom absoluten Kaiserreich über die marxistisch-leninistische Militärdiktatur, beide mit Millionen Hungertoten auf dem Gewissen, bis zum Regime der seit 1991 regierenden EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker), in dem Abiy zum Premierminister aufstieg – die Entrechtung der Bevölkerung ist absolut. Die Bauern besitzen nicht einmal das Land, das sie bebauen.
Die Epoche des so bezeichneten Strukturwandels im negativen Sinne muss zeitnah enden. Sie dauert bereits viel zu lange. Sichtbar wurde dies in der Mitte der achtziger Jahre.
Damals wurde am Weststreifen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Belgien, Luxemburg, Frankreich bis hin zur Schweiz betroffen. Dies traf viele Millionen von Menschen. Die Menschen in der Schwerindustrie beispielsweise.
Die Eheleute wurden unmittelbar betroffen. Erschwerend die Kinder. Gerade wenn es deren Lebensqualität tangiert und deren Versuche des sozialen Aufstieg.
Sie waren und sind in der Armut gefangen. Mit der angeblichen falschen Postleitzahl, der angeblich falschen Stadtteil, der angeblich falschen Straße. Bei machen obendrein noch die falschen Nachnamen wenn diese nach einer anderen Abstammung klingen.
Die Armut hat sich durch die Zeit erweitert. Weitere Generationen wurde in die Verelendung geboren. Auch Betriebe welche in der ökonomischen Verkettung gearbeitet haben wurden getroffen.
Ganze Stadtteile und Kommunen wurden schwer getroffen. Die Politik und die Betriebe glänzen durch Untätigkeit. Den Menschen in diesen Lebensräumen wurde keine neue Industrien als Ausgleich gegeben.
Die öffentliche Daseinsvorsorge als ganzes nahm sichtbaren Schaden. Der Wohnungsmarkt und der Arbeitsmarkt ist seitdem nicht mehr funktional. Was ganz unmittelbar die Millionen von Menschen in mehreren Ländern betroffen hat, ist die Entwertung der humanen Wertschöpfung per Räson.
Die Gesellschaft des Mittelstandes wurde immer weiter abgebaut. Dadurch auch die Betriebe für den Mittelstand. In der Bundesrepublik Deutschland können als Beispiel „Karstadt“, „Tengelmann“, „Neckermann“ benannt werden.
In den öffentlichen Stadtbildern entstanden überall Discounter bis hin zu Restposten Geschäfte. Im Laufe der Jahre gingen alle Segmente einer Gesellschaft zu diesen Discounter Betriebe einkaufen. Die Sicherheit in der Öffentlichkeit veränderte sich bemerkbar negativ.
Die Menschen mit ihrer gedemütigten Menschenwürde mussten ohnmächtig Phänomene konstatieren. Diese haben sie nicht verursacht. Darunter kann benannt werden Zusammenbrüche bei Kreditinstitute, die Börsen der Welt, Kapitalverbrechen in Form von Terror. Daraus entstanden heiße Kriege.
Jede wirksame Investition durch die Politik und Wirtschaft ist in den sozialen Frieden ist sinnig
Trotz der Europäischen Union innerhalb des Europäischen Kontinentes als auch außerhalb. Die Schattenseiten der Globalisierung traf die Menschen erschwerend. Die politische Landschaften veränderten sich weltweit negativ.
Neue, rechtsextreme Organisationen nutzen die Gesamtlage als Geschäftskonzept. Die Stimmung in den Ländern wurden vergiftet. Die Gewalt der extremen Rechten betraf auch konservative Politiker.
Ob verbale Angriffe, der Versuche von Kapitalverbrechen wie Mord als auch vollendete Kapitalverbrechen wie Mord an Politiker. Das was eine Gesellschaft noch etwas zusammengehalten hat sind funktionale Organe in der Rechtspflege. Doch Menschen in der Justiz sind nicht für das Schreiben von besseren Gesetzen verantwortlich.
Was die Menschen auf internationaler Ebene brauchen sind Vernunft in der Ökonomie und Politik. Eine Räson welche sich auszeichnet durch Ökologie, sozialer Gerechtigkeit. Die bereits bekannten Ausmaße der Gegenwart haben die Größenordnungen und Auswirkungen von Kriegen.
Deshalb braucht es die Erhebung der Lebensqualität. Die notwendigen Maßnahmen sind auch jene wie nach einem Aufbau wie nach einem Krieg. Investitionen sind notwendig.
Faktisch ist Europa ein Ort für Baustellen. Dabei sollte allen Menschen bekannt sein das die Politik es braucht das die Zivilgesellschaft sich bemerkbar macht. Auch mit der Ökonomie muss dahingehend Kommunikation aufgenommen werden.
Die Botschaft muss darin lauten das die Menschen mit ihrer Würde und Wertschöpfung im Zentrum stehen. Es gibt bereits auf dem Globus zu viele verlorene Generationen. Die Zukunft ist von Herausforderungen geprägt.
Darin gibt es nichts zu verschwenden. Über die Profite hinaus geht es in der Zukunft um die eigene Rolle in der Welt. Damit verbunden ist ob wir in einer tatsächlichen sozialen Marktwirtschaft oder demokratisch verfassten Land leben werden.
Die Zukunft ist offen und wird das werden, was wir in der Gegenwart daraus gestalten. Dies darf die Zivilgesellschaft als auch demokratische politische Parteien in den Verfassungsorganen als Auftrag verstehen. Es gibt viel gutes zu Gewinnen.
One of three posters produced by Batchelor Press/Batchelor Institute to commemorate the day Australian Prime Minister Kevin Rudd apologised to the stolen generation (13th February 2008).
Am 3. November wird in den USA auch ein Teil der Sitze im Senat neu vergeben. Das Ergebnis wird entscheidend für die künftige Regierungspolitik.
Neben der US-Präsidentschaftswahl am 3. November werden auch Senatswahlen abgehalten. Mit demokratischer Mehrheit wäre der Senat ein zentraler Baustein für die Verabschiedung von Reformen unter einem Präsidenten Biden. Wie gut stehen die Chancen darauf und mit welchen Hindernissen im Kongress müssten die Demokraten bei der Verwirklichung ihrer Vorhaben rechnen?
Bei den anstehenden Wahlen werden 35 von 100 Senatssitzen vergeben. Bisher halten die Republikaner eine Mehrheit mit 53 Sitzen; allerdings müssen davon dieses Jahr 23 Mandate verteidigt werden. Gleichzeitig werden alle 435 Sitze des Repräsentantenhauses, der zweiten Kammer des US-Kongresses, gewählt. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die Demokraten dort die Mehrheit, die sie 2018 gewonnen haben, noch ausbauen.
Vieles deutet darauf hin, dass die Demokraten einige Mandate im Senat hinzugewinnen werden – die entscheidende Frage ist, wie viele Sitze. Für eine Mehrheit müssten die Demokraten einen Nettogewinn von 3 oder 4 Senatssitzen erzielen, je nachdem wie die Präsidentschaftswahl ausgeht. Denn bei einem Patt im Senat kann der US-Vizepräsident die entscheidende Stimme abgeben. Von den 23 zu verteidigenden Senatssitzen der Republikaner werden 10 als stark umkämpft eingestuft. Einigen republikanischen Amtsinhabern wird nun ihre Nähe zu Trump zum Verhängnis. Zuletzt stufte die Statistik-Website FiveThirtyEight die Chancen der Demokraten, die Mehrheit im Senat zu gewinnen, mit 73 Prozent ein. Gerade bei engen Wahlen in Staaten wie North Carolina, Maine oder Iowa kann aber noch viel passieren.
Falls die Demokraten die Präsidentschaft und eine Senatsmehrheit gewinnen, wird die Verabschiedung von Maßnahmen zur Linderung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Coronapandemie Priorität haben. Weitere wichtige Projekte sind eine Wahlrechtsreform, Antikorruptionsgesetze, strengere Umweltauflagen sowie eine Verbesserung der Gesundheitsreform von 2009. Viele Maßnahmen sollen gleichzeitig zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen. In der Außenpolitik, in der der Präsident weniger Rücksicht auf den Kongress nehmen muss, wird es der Biden-Administration vorerst darum gehen, das Vertrauen der engsten Verbündeten in die USA zurückzugewinnen.
Bei den innerparteilichen Debatten der Demokraten um die Reichweite der Reformen könnte es zu Auseinandersetzungen zwischen eher konservativen und progressiven Abgeordneten, insbesondere im Repräsentantenhaus, kommen. Denn viele Abgeordnete aus „swing districts“, also Wahlkreisen mit schwankendes Mehrheiten zwischen Republikanern und Demokraten, wollen ihre Wiederwahl in zwei Jahren nicht gefährden, indem sie Maßnahmen zustimmen, die viele Wähler als zu radikal empfinden. Daneben würden im demokratisch dominierten Senat die oppositionellen Republikaner alles daransetzen, Gesetzesvorhaben zu blockieren.
Ein bewährtes Instrument dabei sind Filibuster, durch die oppositionelle Senatoren die Abstimmung über einen Gesetzentwurf verzögern und damit behindern können. Dabei wird die Debatte über das Gesetz verlängert, und Senatoren können so lange sprechen, wie sie es für notwendig halten. Ein Filibuster kann gewöhnlich nur mit 60 Stimmen im Senat beendet werden. In der Praxis genügt es meistens, dass die Oppositionspartei einen Filibuster ankündigt, um ein Gesetzesvorhaben zu blockieren. Damit kann sie zumindest ein Vorhaben verwässern oder eigene Anliegen im Gesetzespaket mit unterbringen. Diese Praxis hat den Senat zunehmend lahmgelegt und ist für ein demokratisches System problematisch. Denn wenn politische Entscheidungen mehrheitlich nur mit 60 Prozent Zustimmung einer Kammer möglich sind (und das auch nur, solange auch das Repräsentantenhaus und der Präsident mitspielen), spielt die Durchsetzung des Wählerwillens nur eine untergeordnete Rolle.
Im Vernichtungskrieg der Nazis wurde die slawische Bevölkerung des Ostens terrorisiert. Mit dem Erinnern daran hapert es.
Der erste Einsatz, den der Soldat Albert Rodenbusch im Osten erlebte, fand am 29. Dezember 1942 in Weißrussland statt. Er und seine Kameraden des Ausbildungsregiments 635 wurden in einem Dorf von der örtlichen Bevölkerung freundlich empfangen. Trotzdem, so Rodenbuschs Aussage beim Kriegsverbrecherprozess in Minsk 1946, brannten deutsche Soldaten den Ort nieder und nahmen die Bewohner gefangen.
Im nächsten Dorf wurde die Wehrmacht mit Gewehren beschossen. Angehörige des Ausbildungsregiments fackelten das Dorf ab und exekutierten die 70 Bewohner; Männer, Frauen, Kinder. Im dritten und vierten Dorf trafen sie auf keinen Widerstand, brannten die Dörfer ab, töteten die meisten Bewohner und nahmen die Überlebenden gefangen.
Wehrmacht, SS, Waffen-SS und Polizeibataillone machten in Weißrussland mehr als 600 Dörfer dem Erdboden gleich. Das war kein Ergebnis einer aus dem Ruder gelaufenen Gewaltdynamik, von Exzessen, wie sie in entfesselten Kriegen immer wieder vorkommen, sondern von einer von oben angeordneten Praxis.
Im NS-Rassenkrieg wurde die slawische Bevölkerung des Ostens terrorisiert, wurden entvölkerte „tote Zonen“ geschaffen, Städte ausradiert, Kultur und Eliten vernichtet. Die Grenzen zwischen der gezielten Ermordung der jüdischen Bevölkerung, der Partisanenbekämpfung, die meist nur als Vorwand diente, und dem Terror gegen die Zivilbevölkerung verschwammen.
Gewaltexzesse in Weißrussland
In Weißrussland fiel die NS-Gewaltpraxis besonders brutal aus, ein Fünftel der Bevölkerung fiel dem Terror zum Opfer. Erst Ende der 1980er Jahre, als die Sowjetunion vor dem Zusammenbruch stand, hatte Weißrussland wieder so viele Einwohner wie vor dem deutschen Überfall 1941.
Die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung im Osten sind fast namenlos geblieben. Es gibt kaum Bilder und Begriffe für den Vernichtungskrieg zwischen Brest und Kursk, Tallinn und Odessa. In Schulbüchern finden sich keine markanten Orte oder Namen von Partisanen – der Rassenkrieg der Nazis ist 75 Jahre nach Kriegsende in Deutschland weitgehend Terra incognita.
Wir kennen keine Figur aus Minsk, mit der wir uns identifizieren können wie mit Anne Frank. Wir kennen keine glänzenden Texte von Intellektuellen wie Ruth Klüger, keine Biografie wie die von Charles de Gaulle, dem Kopf der französischen Résistance. Kein Claude Lanzmann hat den Schrecken in den Gesichtern der Überlebenden sichtbar gemacht, kein Steven Spielberg das Grauen in die Sprache von Hollywood übersetzt. Die mehr als drei Millionen sowjetischen Soldaten, die die Wehrmacht verhungern und erfrieren ließ, sind namen- und gesichtslos geblieben. Das Mahnmal Chatyn bei Minsk ist in Deutschland kein Begriff.
Eine weiße Fläche
Die von dem Historiker Wolfgang Benz angeregte Erweiterung auf ganz Europa ist klug – die rassistische Vernichtungspraxis tritt im Kontrast zu der Besatzung im Westen umso deutlicher hervor. Dieses Zentrum wird das größte, ambitionierteste geschichtspolitische Projekt seit dem Holocaust-Mahnmal. Nicht zuletzt das Verdienst von Historikern wie Peter Jahn, der seit Jahrzehnten für mehr Aufmerksamkeit für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik wirbt.
Die Verbrechen an der nichtjüdischen Zivilbevölkerung in den deutsch besetzen Gebieten ist in der kollektiven Erinnerung der Bundesrepublik eine unbeschriebene, weiße Fläche. Nur am Rand und vereinzelt sind sie, wie die Hungerblockade Leningrads, Teil offizieller Gedenkrituale geworden. Das bundesdeutsche Selbstbild, es in Sachen Vergangenheitsbearbeitung weit gebracht zu haben, ist gegen diesen Mangel an Wissen und Interesse erstaunlich immun.
Wer Berlins Mitte zu Fuß durchstreift, kann von dem wuchtigen Holocaust-Mahnmal samt umfänglichem Dokumentationszentrum zur „Topographie des Terrors“ gehen, dem früheren Gestapo-Hauptquartier. Von dort ist es nicht weit zum Bebelplatz und Micha Ullmanns subtilem Denkmal, das an die Bücherverbrennung erinnert. Vom Libeskindbau und Jüdischem Museum fährt man ein paar Busstationen zum Bendlerblock, wo Stauffenberg erschossen wurde und die verzweifelte Geschichte des deutschen Widerstands gegen das NS-System vergegenwärtigt wird.
Fast könnte man den Eindruck haben, dass, wie Konservative vor 20 Jahren warnten, Berlins Mitte sich in einen ästhetischen, professionell gemachten Gedenkpark verwandelt hat. In ein paar Jahren wird man am Anhalter Bahnhof das Exilmuseum besuchen können, ein privat finanziertes großformatiges Projekt, das uns das Schicksal von Bert Brecht, Walter Benjamin, Hannah Arendt und anderen vor Augen führen wird. Intellektuelle, Literaten, Künstler, mit dem richtigen moralischen Kompass ausgestattet, die verfolgt und verjagt wurden. Sie sind so, wie wir gerne wären.
Aber etwas fehlt!
Wir machen Unterschiede, auch bei den Opfern. Es gibt solche, die für unser Selbstbild interessant sind, die uns nah erscheinen, die Interesse und Mitleid wecken, während namenlose sowjetische Soldaten, deren Rache und militärische Potenz unsere Eltern und Großeltern fürchteten, uns fernbleiben.
Angesichts dieser eingefrästen Ignoranz hat der Bundestag kürzlich einen ungewöhnlichen Entschluss gefasst. In Berlin soll ein Dokumentationszentrum entstehen, das die Geschichte der deutschen Besatzung in Europa erzählt. Dieses Zentrum soll helfen, die klaffende Lücke in der hiesigen Erinnerungslandschaft zu schließen.
Die von dem Historiker Wolfgang Benz angeregte Erweiterung auf ganz Europa ist klug – die rassistische Vernichtungspraxis tritt im Kontrast zu der Besatzung im Westen umso deutlicher hervor. Dieses Zentrum wird das größte, ambitionierteste geschichtspolitische Projekt seit dem Holocaust-Mahnmal. Nicht zuletzt das Verdienst von Historikern wie Peter Jahn, der seit Jahrzehnten für mehr Aufmerksamkeit für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik wirbt.
Evangelikale lieben Israels Regierung – und sie gelten zugleich als wichtige Unterstützer der Wiederwahl des US-Präsidenten.
Weniger als zehn Minuten Autofahrt liegen zwischen der US-Botschaft, die Donald Trump 2018 feierlich von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen ließ, und Bethlehem, dem Geburtsort Jesu im Westjordanland. Die Coronapandemie hat in der Stadt ihre Spuren hinterlassen: Wo früher Massen von christlichen Pilgern Schlange standen, um die Geburtskirche zu betreten, breitet sich triste Leere aus. Die aufdringlichen Taxifahrer und Tourguides sind verschwunden, Reisebüros und Hotels haben ihre Mitarbeiter*innen entlassen. Die Kirchentore schließen schon am frühen Nachmittag.
2019 war ein Rekordjahr für Bethlehem. Beinahe zwei Millionen Besucher*innen hatte die Geburtskirche. Doch für die meisten Pilger ist der Aufenthalt in Bethlehem nur kurz. Der Führung durch die Kirche folgt ein Mittagssnack mit Hummus oder Falafel, und schon eilt man zurück zum Reisebus. Eine klassische Pilgerreise im Heiligen Land spielt sich nicht im Westjordanland ab, sondern in Israel. Dass sich die Geburtskirche auf palästinensischem Territorium befindet, ist ein unbequemer Zufall.
„Wer Israel flucht, der wird verflucht! – Wer Israel segnet, wird gesegnet!“
„Wer Israel flucht, der wird verflucht! – Wer Israel segnet, wird gesegnet!“ Auf diesen Satz im 1. Buch Mose 12,3 gründen viele evangelikale Christen ihre politischen Vorstellungen. Sie fordern eine bedingungslose Unterstützung der israelischen Regierung einschließlich deren Siedlungspolitik im Westjordanland.
Bis zum Ausbruch der Coronapandemie brachte die US-Lobbyorganisation Christians United For Israel (CUFI) jedes Jahr Hunderte amerikanische Pastoren nach Israel. Als größtes proisraelisches Bündnis in den USA zählt CUFI über 8 Millionen Mitglieder. Der robuste 80-Jährige Fernsehprediger John Hagee aus Texas ist stolz auf sein Lebenswerk. Als die USA 2018 als erster Staat der Welt Jerusalem als offizielle Hauptstadt Israels anerkannten und den neuen Botschaftsstandort in Jerusalem einweihten, war Hagee als Prediger eingeladen.
„Sie haben die politische Unsterblichkeit erreicht“, so hatte der TV-Prediger noch vor der Eröffnung Donald Trump gelobt, „denn Sie hatten den Mut, das zu tun, was sich andere Präsidenten nicht getraut haben.“ In der Vergangenheit hat Hagee immer wieder bizarre Thesen verbreitet, etwa dass Hitler ein Erfüllungsgehilfe Gottes gewesen sei. Alle Juden hätten dem Ruf des Zionismus folgen und nach Palästina auswandern sollen.
Seiner Karriere geschadet hat das nicht: Bei den jährlichen CUFI-Konferenzen sind hochkarätige Politiker*innen und Diplomaten aus den USA und Israel vertreten. Als Hagee Anfang des Monats an Covid-19 erkrankte, wünschte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu ihm auf Twitter eine schnelle Genesung, denn Israel habe „keinen besseren Freund“.
Rund ein Fünftel der US-Amerikaner*innen verstehen sich als evangelikale Christen. 2016 stimmten 81 Prozent von ihnen für Donald Trump und verhalfen ihm somit zum Wahlsieg. Eine ähnliche Unterstützung benötigt Trump auch für seine angestrebte Wiederwahl am 3. November, schätzen Wahlkampfanalysen.
Unterstützung für den göttlichen Heilsplan
Was Evangelikale vereint, ist, dass sie die Bibel nahe am Text auslegen, sozial konservativ eingestellt sind und bedingungslos hinter dem Staat Israel stehen. Eine Untergruppe der Evangelikalen, die mit großer Treue zu Trump hält, bezeichnet sich als christliche Zionist*innen, so wie John Hagee. US-Vizepräsident Mike Pence und Außenminister Mike Pompeo gehören zu ihnen, aber auch Robert Jeffress, Leiter einer Megakirche in Texas und einer der engsten Berater*innen des Präsidenten.
Der christliche Zionismus wird als Sammelbegriff für eine Reihe von proisraelischen Einstellungen verstanden. Eine davon läuft darauf hinaus, dass Trumps Israelpolitik die Erfüllung eines göttlichen Heilsplans bedeute. Demnach sind Politik und Religion untrennbar verwoben.
Wie kein anderer US-Präsident hofiert Trump diese Wählergruppe: Im August machte er Schlagzeilen, als er bei einem Wahlkampfauftritt erstmals öffentlich zugab, die US-Botschaft in Israel seiner evangelikalen Wähler*innen wegen verlegt zu haben. Diese hätten ihm mehr Dankbarkeit gezeigt als das jüdische Volk.
2018 kündigte Trump den Rückzug der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran an, den Evangelikale als permanente Existenzbedrohung für Israel fürchten. 2019 erkannte seine Administration Israels Annexion der Golanhöhen an. Wenige später erklärte die US-Regierung, die israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten seien nicht mehr völkerrechtswidrig. In seinem „Friedensplan“ im Januar dieses Jahres gab Trump zumindest vorübergehend grünes Licht für eine Annexion aller Siedlungen im Westjordanland. Und auch mit seinem Coup, den Normalisierungsabkommen der Emirate und Bahrains mit Israel im September, wollte Trump offenbar vor allem bei seinen evangelikalen Wähler*innen im eigenen Land punkten. Das scheint ihm auch bei dem jüngst geschlossenen Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und dem Sudan gelungen zu sein.
„Die Wahrheit über Israel erzählen“
In einer der israelischen Siedlungen lebt Moshe Rothchild. Von seiner Terrasse in Efrat aus blickt der amerikanischisraelische Rabbiner und Tourguide auf Bethlehem. Dort war er allerdings noch nie, denn aus Sicherheitsgründen ist es Israelis nicht gestattet, in palästinensische Städte zu reisen. Dabei würde er Weihnachten gern einmal mit seinen Freund*innen aus den USA in Bethlehem verbringen.
Für Rothchild ist die politische Allianz zwischen evangelikalen Christ*innen und jüdischen Israelis unentbehrlich. Während früher amerikanische Juden die wichtigsten Verbündeten Israels waren, sind mittlerweile evangelikale Christen die bedeutendste Interessengruppe, die sich finanziell und politisch nicht nur für den Staat Israel, sondern auch für die rechtsnationale Siedlerbewegung starkmacht.
Rotchild begrüßt diese Entwicklung: „Wir sind zu sehr damit beschäftigt, was Christen und Juden historisch trennt.“ Das sei ein Fehler, sagt er. Mit seiner eigenen Organisation, Global Israel Alliance, versucht er, Brücken zu bauen. Dafür bringt er Pastoren auf Reisen ins Heilige Land – und zwar kostenlos. „Die Wahrheit über Israel zu erzählen ist der wirksamste Weg, es zu verteidigen“, verspricht Global Israel Alliance auf ihrer Internetseite. Darunter ist ein Bild von israelischen Soldaten an der Klagemauer zu sehen. Im Wind flattert die blau-weiße israelische Fahne.
Laut einer Recherche der israelischen Zeitung Haaretz zahlten christliche Organisationen und Geldgeber*innen aus den USA, oft nach einer emotionalen Pilgerreise, von 2008 bis 2018 bis zu 65 Millionen US-Dollar an israelische Siedlungen.
Einst stellten Christ*innen die Mehrheit in Bethlehem. Heute gehören sie einer schrumpfenden Minderheit an. Als Grund für den Exodus führen sie fast ausnahmslos die unerträgliche politische Lage an. Eingekesselt von 22 jüdischen Siedlungen, hat die dicht besiedelte Stadt kaum Platz für Wachstum. Die israelische Sperranlage, eine acht Meter hohe Betonmauer, umkreist weite Teile der Stadt. Während Tourist*innen vor Ausbruch der Pandemie problemlos ein- und ausreisen konnten, müssen Palästinenser*innen oft lange am Checkpoint warten, bis israelische Soldat*innen sie aus ihrer Heimatstadt herauslassen.
Von den amerikanischen Pilgern in der Geburtskirche hat kaum einer von palästinensischen Christen gehört. „Wir sind für christliche Zionisten keine echten, koscheren Christen, deshalb unterhalten sie mit uns auch keine Beziehungen“, lacht Mitri Raheb bitter. Wegen seiner Kritik an Israel wurde der prominente lutherische Pastor und Hochschulpräsident in Bethlehem wiederholt attackiert und des Antisemitismus bezichtigt. „Für Menschen wie John Hagee ist Gott ein Business. Netanjahu hat kein Problem damit, mit denen ein Bett zu teilen, solange sie Israel moralisch und finanziell unterstützen“, kommentiert er die Allianz zwischen Israel und den Evangelikalen.
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2. von Oben —The harlot Babylon. Detail from a woodcut by Albrecht Dürer
Albrecht Dürer– Scanned by Feldkurat Katz from: Albrecht Dürer · Die Apokalypse. Faksimile der deutschen Urausgabe von 1498 ›Die heimlich Offenbarung Johannis‹. Mit einem Essay von Ludwig Grote. Prestel, München 1999
Das Verfahren zur Auslieferung des WikiLeaks-Gründers hat in den grossen Medien kein grosses Echo gefunden.
Anfang Oktober endete in London die Auslieferungsanhörung gegen den WikiLeaks-Gründer Julian Assange. Zahlreiche Juristen, Journalisten, Informatiker, Bürgerrechtler und weitere Personen sagten als Zeugen zugunsten von Assange aus. Das Urteil wird anfangs Januar erwartet. Die Anhörung spielte sich nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab. Im Old Bailey, dem Zentralen Strafgerichtshof in der Londoner City, wurden gerade einmal fünf Sitze für die Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Prozessbeobachtern wie der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurde der Zugang zum Gericht am ersten Anhörungstag verweigert. Was die Organisation als «sehr beunruhigend» bezeichnete.
Der WikiLeaks-Gründer wurde während der fast drei Wochen dauernden Anhörung durch eine kugelsichere Glasbox getrennt von seinen Anwälten, was die Kommunikation erschwerte. Doch dies stellte nicht nur bei der Auslieferungsanhörung selbst ein Problem dar: Der Zugang zu seinen Anwälten wurde Assange in den letzten sechs Monaten gänzlich verweigert.
Fast alle grossen Medien berichteten lediglich am Rande über den Prozess, bei dem viel auf dem Spiel steht: Die US-Regierung fordert die Auslieferung des 49-jährigen Australiers, der seit April 2019 im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh sitzt, weil er gegen Kautionsauflagen verstossen habe. Sie hat ihn wegen Verschwörung beim Hacken von Computern angeklagt. Auch wirft sie Assange vor, durch die Publikation von Informationen, welche die nationale Verteidigung («National Defense») betreffen, gegen das US-amerikanische Spionagegesetz von 1917 (Espionage Act) verstossen zu haben. Zudem beschuldigt sie Assange, durch die Veröffentlichung der US-Botschaftsdepeschen – auch bekannt als Cablegate – US-Informanten in Lebensgefahr gebracht zu haben. Bei einer Auslieferung drohen Assange in den USA bis zu 175 Jahre Haft.
US-Regierung ändert ihre Strategie
Für die US-Regierung ist WikiLeaks ein Dorn im Auge: Viele Beobachter des Prozesses gegen Julian Assange sind der Ansicht, dass die US-Administration einen Präzedenzfall schaffen will, um künftig alle Medien, die Menschenrechtsverletzungen der US-Regierung aufdecken, verfolgen zu können. Dies zeigte sich im Laufe des Verfahrens immer deutlicher. Anfangs hatten die Anwälte der US-Administration noch argumentiert, dass Julian Assange kein Journalist sei – zwischen den klassischen Printzeitungen und der Enthüllungsplattform WikilLeaks zogen sie eine willkürliche Grenze. Ihre Ansicht lautete: WikiLeaks ist, anders als Printzeitungen, nicht durch den ersten Zusatzartikel der US-Verfassung geschützt.
Dieser Argumentation wurde im Zuge der Auslieferungsanhörung aufgrund etlicher Zeugenaussagen jedoch rasch einmal der Wind aus den Segeln genommen. Der britische Journalist und ehemalige Botschafter in Usbekistan, Craig Murray, der als einer der wenigen Journalisten das Verfahren live vor Ort verfolgte, schrieb dazu: «In den ersten drei Tagen der Beweisführung hatten Rechtsexperten festgestellt, dass diese Glosse der Anklage einer Untersuchung der tatsächlichen Anklagepunkte in der Anklageschrift nicht standgehalten hätte.»
Am 10. Tag der Auslieferungsanhörung änderten die Juristen der US-Regierung ihre Strategie. Das zeigte sich als James Lewis, der als Anwalt die US-Regierung vertritt, Eric Lewis befragte. Eric Lewis ist seit 35 Jahren in den USA als Rechtsanwalt tätig und hat hochrangige Mandanten in Fällen der nationalen Sicherheit und des Terrorismus vertreten, darunter den Pulitzer-Preis-Journalisten Seymour Hersh. Im Fokus der Befragung stand der erste Zusatzartikel der US-Verfassung, der die Meinungs- und Pressefreiheit garantiert.
Zur Erinnerung: Es war dieser Artikel, der nach der Veröffentlichung der Pentagon-Papiere 1971 die «New York Times» vor einer juristischen Verfolgung schützte. Der Oberste Gerichtshof in den USA stützte damals die Zeitung mit der Begründung, dass das Publizieren geheimer Regierungsdokumente durch die Verfassung geschützt sei. Die Pentagon-Papiere deckten auf, dass die USA den Krieg in Vietnam fortgesetzt hatten, obwohl sie wussten, diesen nicht gewinnen zu können. Sie verdeutlichten, dass die Regierung sowohl die Öffentlichkeit als auch den Kongress wiederholt belogen hatte.
Bislang wurde dieser Zusatzartikel nicht angetastet. Doch das könnte sich künftig ändern: So zumindest argumentierten die US-Juristen im Zuge der Auslieferungsanhörung. Während der Zeugenbefragung wollte James Lewis von Eric Lewis wissen, ob das Urteil zu den Pentagon-Papieren den wichtigsten Präzedenzfall darstelle. Eric Lewis bejahte die Frage. Er hielt aber auch fest, dass es noch weitere wichtige Urteile gebe.
Darauf entgegnete James Lewis: «Eine genaue Lektüre des Urteils zum Fall der Pentagon-Papiere zeigt, dass die ‹New York Times› erfolgreich hätte strafrechtlich verfolgt werden können. Drei der Richter des Obersten Gerichtshofs erklärten ausdrücklich, dass eine Anklage nach dem Spionagegesetz aufgrund der Veröffentlichung der Papiere hätte in Betracht gezogen werden können.» Worauf Eric Lewis entgegnete: «Sie erkannten die Möglichkeit einer Strafverfolgung an. Sie sagten nicht, dass sie erfolgreich gewesen wäre.» James Lewis vertrat die Position, dass die Offenlegung von Geheimnissen nicht gerechtfertigt sei und Journalisten entsprechend strafrechtlich verfolgt werden können.
Informationsrecht der Öffentlichkeit
Der Journalist Craig Murray fasste das Vorgehen von James Lewis wie folgt zusammen: «Die Handschuhe wurden am Dienstag ausgezogen, da die US-Regierung ausdrücklich argumentierte, dass alle Journalisten nach dem Spionagegesetz strafbar sind, wenn sie geheime Informationen veröffentlichen…» Die Anwälte der US-Regierung hätten vor Gericht explizit erklärt, dass die einstigen Reporter der «New York Times», welche die Pentagon-Papers veröffentlichten, ins Gefängnis hätten gehen sollen. Und dass sie in Zukunft so vorgehen werden.
Die Argumentation der US-Juristen sahen mehrere Zeugen als haltlos an. Mark Feldstein, Professor für Journalismus und selber Journalist, erklärte: «Der Artikel schützt die Presse. Und es ist von entscheidender Bedeutung, dass er dies tut – nicht, weil Journalisten privilegiert sind, sondern weil die Öffentlichkeit das Recht hat, zu wissen, was vor sich geht.» Er wies ferner darauf hin, dass die US-Regierung noch nie einen Verleger wegen der Veröffentlichung durchgesickerter Geheimnisse strafrechtlich verfolgt habe. Dies tat sie bisher lediglich mit Whistleblowern, jedoch nicht mit Journalisten.
Anwalt Mark Summers befragte die Zeugen im Auftrag der Verteidigung. Er wollte vom Professor für Journalismus wissen, wie die Obama-Administration zur Verfolgung von WikiLeaks stand. Dieser antwortete: «Nach den grossen Veröffentlichungen von WikiLeaks in den Jahren 2010 und 2011 hat es keine Strafverfolgung gegeben. Obamas Justizministerium habe zwar eine aggressive Untersuchung eingeleitet. 2013 kam sie allerdings zum Schluss, dass der erste Verfassungszusatz jegliche Strafverfolgung unmöglich mache.» Eine Strafverfolgung betrachtete die Justiz zum damaligen Zeitpunkt als einen gefährlichen Präzedenzfall, der ebenfalls gegen andere Journalisten und Publikationen hätte verwendet werden können.
Summers hatte zu Beginn der Auslieferungsanhörung auch auf mögliche Fehler im Verfahren gegen Assange hingewiesen. Unter anderem sei nach Beginn der Anhörung noch immer nicht geklärt gewesen, ob die Anklage gegen Assange in Grossbritannien überhaupt strafbar sei. Die beidseitige Strafbarkeit sei schliesslich eine Voraussetzung für eine mögliche Auslieferung.
Quellen ermuntern sei Courant normal
Gemeinsam mit weiteren Zeugen entkräftete Feldstein ebenfalls einen weiteren zentralen Vorwurf der US-Regierung: Nämlich den Straftatbestand der «Verschwörung» zur Erlangung und Offenlegung von Informationen über die Landesverteidigung sowie auch zum Eindringen in ein Computernetzwerk der Regierung. Konkret wirft die US-Regierung dem WikiLeaks-Gründer vor, die Soldatin Chelsea Manning dazu angestiftet zu haben, ihm geheime Dokumente über die US-Kriege zuzuspielen. Assange wird unter anderem beschuldigt, Manning geholfen zu haben, ein Passwort decodiert zu haben. Manning diente als IT-Spezialistin im Irakkrieg. Sie spielte Assange unter anderem das «Collateral Murder»-Video zu, das aufzeigte, wie US-Streitkräfte von einem Helikopter aus wehrlose Zivilisten töteten.
Feldstein erklärte im Gerichtssaal, weshalb das Vorgehen Assanges nicht aussergewöhnlich war. Dass der WikiLeaks-Gründer seine Quelle Manning ermutigte, ihm geheime Dokumente zu übermitteln, sei Courant normal im Journalismus. «Meine gesamte Karriere bemühte ich mich darum, geheime Dokumente und Unterlagen zu erlangen», sagte Feldstein. Schliesslich seien Journalisten keine passiven Stenografen. Er wies dabei auch auf das Vorgehen der «New York Times» bei der Beschaffung der Pentagon-Papiere hin. Die Journalisten der Zeitung hätten sich damals sehr aktiv um die Papiere des Whistleblowers Daniel Ellsberg bemüht. «Sie hatten einen Schlüssel zu dem Raum, in dem sich die Dokumente befanden – und sie hatten geholfen, sie zu kopieren», so Feldstein.
Den Vorwurf, Assange habe Manning beim Knacken eines Passworts geholfen, betrachtete Feldstein ebenfalls als haltlos. «Der Versuch, zum Schutz der Quellen beizutragen, ist eine journalistische Pflicht», erklärte der Professor für Journalismus weiter. Journalisten würden Quellen oftmals mit Münztelefonen oder gefälschten E-Mail-Konten versorgen und ihnen somit helfen, sowohl echte als auch digitale Fingerabdrücke zu entfernen. Das seien Standardtechniken des Journalismus.
Gleiches erklärte auch Trevor Timm, der Mitbegründer der Vereinigung «Freedom of the Press». Er machte darauf aufmerksam, dass Pulitzer-Preisträger wie Bob Woodward und Carl Bernstein auch verurteilt worden wären, wenn bereits das Beschaffen von Informationen durch Quellen unter Strafe stünde.
Keine Beweise für gefährdete Personen
Als wenig stichhaltig stellte sich im Laufe der Anhörung auch ein weiterer zentraler Vorwurf heraus: Assange habe mit der Veröffentlichung der US-Botschaftsdepeschen US-Informanten in Lebensgefahr gebracht. Doch auch vor dem Londoner Gericht hat das US-Verteidigungsministerium keine Beweise vorgelegt, wonach aufgrund der Publikationen von WikiLeaks Informanten ernsthaft in Gefahr gebracht wurden. Das Pentagon bestätigte 2013 selbst, dass keine Informanten aufgrund der Veröffentlichung getötet wurden.
Zudem sagten mehrere Zeugen vor Gericht aus, dass nicht WikiLeaks, sondern die Online-Enthüllungsplattform Cryptome die Dokumente zuerst, ohne die Namen zu schwärzen, ins Netz stellte. Einer dieser Zeugen war der Bieler Informatikprofessor und Verschlüsselungsexperte Christian Grothoff. Er analysierte im Auftrag der Verteidigung, wie die US-Botschaftsdepeschen, die Chelsea Manning WikiLeaks übergeben hatte, ungeschwärzt ins Netz gelangten.
Möglich war dies laut Grothoff nur, weil die «Guardian»-Journalisten David Leigh und Luke Harding in ihrem Buch «WikiLeaks: Inside Julian Assange’s War on Secrecy» das Passwort für die verschlüsselten Depeschen veröffentlichten. Mit Leigh hatte Assange die Depeschen geteilt. Leigh habe zuvor massiven Druck auf Assange ausgeübt, um an das Passwort zu gelangen, für den Fall, dass Assange verhaftet werde und seine journalistische Tätigkeit nicht mehr ausüben könne. Assange habe eingewilligt mit der Bitte, dieses jedoch niemals rauszugeben.
Das Buch der beiden «Guardian»-Journalisten war im Frühjahr 2011 erschienen. Erstmals veröffentlicht wurden die unredigierten Depeschen auf Cryptome.org am 1. September 2011, einen Tag bevor WikiLeaks sie auf ihrer Internetseite publizierte. Das bestätigte auch der Gründer der Online-Enthüllungsplattform John Young vor Gericht.
Sorgfältig mit Daten umgegangen
Nachdem Grothoff seine Aussagen gemacht hatte, äusserte sich der «Guardian» in einer Stellungnahme zu den Vorwürfen. Laut der englischen Zeitung habe die Nennung des Passworts im Buch von Leigh und Harding nicht zur Publikation der unbearbeiteten US-Depeschen geführt. Assange habe dem Journalisten damals gesagt, das Passwort sei nur temporär. Auch sei nirgendwo darauf verwiesen worden, wo sich die entsprechenden Dateien befinden.
Anders als bei WikiLeaks hatten sich die Strafverfolgungsbehörden nie an die in den USA ansässige Firma Cryptome gewandt. Young erklärte vor Gericht auch, dass die Behörden ihn nie gebeten hätten, die Depeschen zu entfernen. Sie blieben bei Cryptome online.
Neben John Young bestätigte auch der Verleger und Chefredaktor der deutschen Wochenzeitung «der Freitag», Jakob Augstein, vor Gericht, dass nicht WikiLeaks das Material zuerst veröffentlicht habe. Sowohl Augstein wie auch Grothoff erklärten, dass Assange sehr sorgfältig mit den Daten umgegangen sei und ein unredigiertes Veröffentlichen der Depeschen habe verhindern wollen. Erst als die Daten nicht mehr aufgehalten werden konnten, habe WikiLeaks diese ebenfalls veröffentlicht.
Noam Chomsky als Zeuge
Als Zeugen während der Auslieferungsanhörung sagten unter anderem auch der US-Linguist und Regierungskritiker Noam Chomsky sowie auch der Whistleblower Daniel Ellsberg aus. Ebenfalls befragt wurden ehemalige Mitarbeiter der spanischen Sicherheitsfirma UC-Global. Sie werfen ihrem ehemaligen Chef David Morales vor, Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London im Auftrag des US-Geheimdienstes CIA ausgespäht zu haben. Infosperber berichtete darüber.
Für diesen Artikel stützte sich Infosperber auf den Blog des ehemaligen britischen Botschafters und Journalisten Craig Murray, der während der Auslieferungsanhörung fast täglich aus dem Gericht berichtete, sowie auch auf die offiziellen schriftlichen Stellungnahmen der Zeugen.
2.) von Oben —Reino Unido (Londres), 16 de Junio del 2013. El Canciller Ricardo Patiño se reunió con Julian Assange. Foto: Xavier Granja Cedeño/Ministerio de Relaciones Exteriores.
Hätte Karl Marx je unter das Sofa der Linken geguckt ? Die Linke ist nie anders gewesen als alle anderen Parteien auch. Es war schon zu WASG-Zeiten üblich das Grüppchen ihre Favoriten präsentierten, wobei Vorschlägen von Außen Grundsätzlich beiseite gemobbt wurden. Wahlbesprechungsversammlungen in den Ländern folgen immer den Clan Familien ! Das ganze zog sich bis zu den Bundesparteitagen.
Von Hendrik Lasch
Sachsens Linke berät über Folgen von Corona für Politik / Paukenschlag bei Verfahren für Listenaufstellung
Die fünfte Rednerin sorgte für eine Premiere. Mit Natalie Prautsch sprach eine angehende Ergotherapeutin in der Generaldebatte des Landesparteitags der sächsischen Linken. Sie stand indes nicht wie ihre vier Vorredner am Pult im Saal der Festhalle Plauen, sondern saß in ihrem Wohnzimmer; digitale Technik machte es möglich. Nur die eventuelle Überschreitung der Redezeit, erklärte Tagungsleiterin Claudia Jobst vorab, müsse man analog mit einer kleinen Glocke signalisieren – während es im Saal dafür eine Ampel gibt.
Das Plauener Treffen war für die Linke insgesamt eine Premiere: Es handelte sich nach ihren Angaben um den ersten »Hybridparteitag«. Anders als bei einem Konvent der Bundesgrünen im Mai, der komplett digital abgehalten worden war, hatten die Genossen nun die Möglichkeit, selbst anzureisen oder sich per Videokonferenz zuzuschalten. Das nutzten immerhin 89 Delegierte; im Saal saßen mit gehörigem Abstand 68 Teilnehmer. Den virtuellen Konferenzraum organisierte die Partei; für den »stabilen Internetzugang« und die Stromversorgung seien die Nutzer selbst verantwortlich, hieß es in den Regularien. Abstimmungen fanden ebenfalls elektronisch statt, was nach anfänglichen Schwierigkeiten gut funktionierte. Da es sich ausschließlich um Sachthemen und nicht um Personalwahlen handle, sei diese Vorgehensweise möglich, sagte Landesgeschäftsführerin Janina Pfau. Zwar fiel auf, dass sich »Sofadelegierte« weit seltener zu Wort meldeten als Saaldelegierte. Dennoch bewährte sich das Format. Man taste sich »vorsichtig an das heran, was neue Normalität wird«, sagte Bodo Ramelow, der Thüringer Regierungschef, als körperlich anwesender Gastredner.
Ich bin Sachse – ich will wachsen !
Das experimentelle Format war der Corona-Pandemie geschuldet, die den Parteitag auch inhaltlich dominierte. Der Leitantrag setzte sich mit den Folgen der Krise für die Politik im Land auseinander. Landeschef Stefan Hartmann rechnet mit den »härtesten Verteilungskämpfen der letzten 30 Jahre«. In diesen müsse die Linke die Interessen derjenigen Menschen vertreten, die »nicht aus riesigen Vermögen ihr Leben bestreiten«. Man müsse verhindern, dass »die Kosten der Krise auf die Beschäftigten und Armen abgewälzt werden«, sagte auch Co-Landesvorsitzende Susanne Schaper – die freilich betonte, dass die Krise nicht nur Gefahren berge, sondern auch Chancen. Viele bisher im herrschenden Politikverständnis als unumstößlich geltenden Maßgaben seien »in kürzester Zeit geändert« worden. Es zeige sich, dass »der Kapitalismus mitnichten alternativlos oder ›das Ende der Geschichte‹« sein müsse. Die Linke müsse dieses »Änderungspotenzial« nutzen.
Unsere Autorin wünscht sich, an der Wahl für den CDU-Vorsitz teilzunehmen – es geht ja um ihre Zukunft. Warum nicht den Kanzler direkt wählen?
Noch nie habe ich bisher heftige Gefühle bei der Frage entwickelt, wer den Vorsitz der CDU übernimmt. Warum auch? Personalfragen in Organisationen, denen ich distanziert gegenüberstehe, mögen mich interessieren – aber Leidenschaft entsteht da bei mir im Regelfall nicht. Ich fiebere ja auch nicht mit, wenn Machtfragen bei Springer oder Daimler entschieden werden. Zu meiner eigenen Überraschung ist das aber in diesem Jahr beim CDU-Vorsitz anders.
Wenn ich mir das Ringen um den Posten anschaue, dann fühle ich mich ein bisschen wie bei der Beobachtung des Wahlkampfs in den USA. Ob Donald Trump oder Joe Biden die Wahl gewinnen, hat unmittelbaren Einfluss auf mein Leben – die Chancen für die Bekämpfung der Klimakrise ist eines von vielen Stichworten –, aber dennoch darf ich nicht mitreden. Ich kann nur auf die Vernunft von anderen Leuten hoffen, in dem Fall: der US-Bevölkerung.
Ähnlich ist es jetzt bei der Frage, wer CDU-Vorsitzender wird. Wenn nicht alle Meinungsforschungsinstitute irren und zugleich der Mond vom Himmel fällt, dann stellt die Union den nächsten Kanzler. Entschuldigung, Frau Baerbock, Verzeihung, Herr Scholz. Die Entscheidung über die Führungsspitze der Christdemokraten ist eine wichtige Weichenstellung.
Den Kanzler wird die Union stellen
Das sei doch früher oft auch nicht anders gewesen? Stimmt. Aber damals waren die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Parteien so groß, dass die Frage vergleichsweise unbedeutend schien, wer den Vorsitz in einer Gruppierung hatte, die man ohnehin nicht wählen würde.
Es ist keine neue Erkenntnis, dass diese Unterschiede inzwischen weitgehend verschwunden sind. Erinnert sich noch jemand, wer in Berlin einen großen Teil des Bestands an öffentlichen Wohnungen an Finanzinvestoren verkauft hat? Genau, es war ein rot-roter Senat. So viel dazu.
Sehr lange war ich fest überzeugt, dass Geschichte nicht von einzelnen Personen geschrieben wird, sondern dass es vielmehr Machtverhältnisse und gesellschaftliche Entwicklungen sind, die Verhältnisse ändern. Oft infolge neuer Erfindungen wie der Dampfmaschine. Vielleicht ist diese Sicht auch nicht falsch. Aber wenn – wie derzeit – ein System, nämlich der Kapitalismus, unangefochten ist oder zu sein scheint: dann gewinnen einzelne Personen eben doch an Bedeutung. Und sei es nur, um an einzelnen Stellschrauben zu drehen
Politik welche ihr sie wählendes Volk abstrafen muss um noch gehört zu werden – zeigt an, das sie nicht mehr verstanden wird!
Von Volker Boehme-Neßler
Strengere Coronaregelungen sind angekündigt. Doch schon die bisherigen werden wenig beachtet. Was müsste getan werden, um Wirksamkeit zu erreichen?
Die Coronainfektionszahlen steigen scheinbar unaufhaltsam. Neue strenge Regeln sind schon in Kraft. Weitere, strengere Regelungen sind angekündigt. Aber wirken diese Rechtsnormen überhaupt? Zahllose Berichte und Erfahrungen zeigen eher, dass viele Coronavorschriften inzwischen kaum noch beachtet werden. Wie müsste Coronarecht sein, damit es wirksam ist?
Es gibt einen ganz archaischen Weg, der zur Wirksamkeit von Gesetzen führt: Angst. Wer Angst vor den Folgen einer Rechtsverletzung hat, wird sich an das Recht halten. Wer das Recht verletzt, muss deshalb mit negativen Folgen rechnen: Polizei, Bußen, Strafen, Gerichtsverfahren.
Bisher sind die Bußgelder im Coronarecht eine leere Drohung. Die Bürgerinnen und Bürger nehmen sie nicht ernst. Die uralte Erfahrung: Der Staat muss die Sanktionen durchsetzen, sonst verliert das Recht an Wirkung. Das Coronarecht bietet viele Beispiele dafür. Abstandsregelungen im Restaurant und die Maskenpflicht sind nur die sichtbarsten.
Sanktionen sind notwendig, aber sie reichen nicht aus. Was es wirklich braucht, ist nicht Angst, sondern Akzeptanz. In der freiheitlichen Demokratie muss die Bevölkerung das Recht akzeptieren und aus freiem Willen befolgen. Also: Wie erreicht man, dass Normen akzeptiert werden?
Die erste Voraussetzung für Akzeptanz ist: Die Rechtsnormen müssen sinnvoll sein. Niemand wird sich auf Dauer an Regeln halten, die er oder sie sinnlos findet. Sinnvolle Gesetze zu machen – das klingt banal und ist doch in der Praxis nicht einfach. Es gibt immer wieder dysfunktionale Gesetze, die sinnlos sind. Letztlich ist es vernünftig, wenn mündige Bürger solche Normen nicht blind befolgen. Aber manche Gesetze sind nicht sinnlos, sondern nur sehr kompliziert.
Hier liegt eine Crux bei zahlreichen Coronaregeln. Sie versuchen, auf unterschiedlichste Gefährdungslagen und Risiken differenziert zu reagieren. Das macht die Regelungen dann deutschlandweit völlig unübersichtlich. Und Unübersichtlichkeit wird in der öffentlichen Wahrnehmung schnell mit Sinnlosigkeit gleichgesetzt. Dagegen gibt es ein wirksames Mittel: erklären, erklären, erklären. Es ist Aufgabe der Politik, in solchen Fällen immer wieder unermüdlich den Sinn zu erklären. Warum erklärt also die Kanzlerin nicht immer wieder den Sinn der Coronaregeln? Das würde die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöhen.
Daneben gibt es aber auch Coronanormen, die tatsächlich sinnlos sind. Ein Beispiel sind die innerdeutschen Quarantäneregeln und die Beherbergungsverbote. Epidemiologisch ergeben sie wenig Sinn. Sie werden deshalb schnell als Schikane empfunden. Das beschädigt die Akzeptanz – und das Vertrauen in die Politik.
Akzeptanz setzt auch voraus, dass Recht als (einigermaßen) gerecht empfunden wird. Gerechtigkeit ist Gleichbehandlung – das ist die tief im Menschen verankerte Formel für Gerechtigkeit. Das war ein ernstes Problem, als der Lockdown im Frühsommer Schritt für Schritt wieder aufgehoben wurde. Manche Tätigkeiten waren bereits wieder erlaubt, während andere, ähnliche noch verboten blieben. Das erschien vielen willkürlich. Die Folge: mangelnde Akzeptanz und eine verbreitete Missachtung der Regeln. Wenn die Coronaregeln in den nächsten Wochen verschärft werden, muss die Politik jeden Anschein von Willkür vermeiden. Sonst ist das Scheitern programmiert.
Gleichbehandlung – das ist die tief im Menschen verankerte Formel für Gerechtigkeit
Echte Akzeptanz gibt es, wenn die Regeln und Gesetze im gemeinsamen Interesse liegen. Dann haben Bürgerinnen und Bürger kein Problem damit, Normen einzuhalten. Es geht dabei ja um das gemeinsame – und damit auch das eigene – Interesse.
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Beim Rahmenabkommen geht es nicht nur um «drei offene Punkte». Es geht zentral um die «Guillotineklausel» und unsere Souveränität.
Jetzt verlangt auch die Aussenpolitische Kommission des Ständerats (APK-S), der Bundesrat solle beim Entwurf zum EU-Rahmenabkommen (InstA) «die drei noch offenen Fragen (Unionsbürgerrichtlinie, staatliche Beihilfen und flankierende Massnahmen/Lohnschutz)» in absehbarer Zeit mit Brüssel «klären, respektive präzisieren». Die Landesregierung will sich diese Woche wieder über das heikle Dossier beugen.
Die alte und die neue Guillotineklausel
Inzwischen stehen allerdings nicht mehr nur die «drei offenen Fragen» zur Debatte. Als «toxisch» (giftig, wie CVP-Präsident Gerhard Pfister es ausdrückt) für das Schweizer Rechtssystem und die direkte Demokratie werden teils auch weitere Elemente des geplanten Rahmenvertrags kritisiert: So etwa die automatische «dynamische» Übernahme des EU-Rechts in den «umrahmten» Verträgen. Aber auch der EU-Gerichtshof (EuGH) als letzte Instanz bei Streitigkeiten. Und vor allem die sogenannte «Guillotineklausel».
Diese Klausel steht folgendermassen in Artikl 22/2 unter dem Titel «Inkrafttreten und Kündigung» des InstA-Entwurfs: «Die Europäische Union oder die Schweiz kann dieses Abkommen durch Notifikation gegenüber der anderen Vertragspartei kündigen.» Aber: «Dieses Abkommen und die Abkommen, die sich auf dieses Abkommen beziehen, treten sechs Monate nach Erhalt dieser Notifikation ausser Kraft.» Das ist darum fatal, weil gemäss seinem Artikel 2 das Rahmenabkommen über alle fünf bestehenden Marktabkommen hinaus (Personenfreizügigkeit, Luftverkehr, Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse, Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Anerkennung von Konformitätsbewertungen) auch auf die «künftigen Marktzugangsabkommen zwischen den Vertragsparteien anwendbar» sein, sich also «darauf beziehen» soll. Und diese so automatisch auch unter der Guillotine stehen werden.
Diese neue in die Zukunft hinaus ragende «Super-Guillotine», wie sie inzwischen von Kritikern genannt wird, entspricht der ursprünglichen «Knebel-Klausel», welche die Bundesräte Pascal Couchepin (FDP) und Joseph Deiss (CVP) zusammen mit den Bilateralen Verträgen I schon am 21. Juni 1999 unterschrieben haben. Sie ist in allen sieben Abkommen so formuliert: «(4) Die in Absatz 1 aufgeführten sieben Abkommen treten sechs Monate nach Erhalt der Notifikation über die Nichtverlängerung gemäss Absatz 2 oder über die Kündigung gemäss Absatz 3 ausser Kraft.»
All or nothing – «Vögeli friss oder stirb»
Das schien den verantwortlichen Bundesräten damals unproblematisch, weil sie ohnehin den baldigen EU-Beitritt der Schweiz erwarteten – oder erhofften. Inzwischen ist dieser jedoch bei nicht einmal mehr zehn Prozent Zustimmung in der Schweizer Stimmbevölkerung definitiv zur Illusion geworden. Die «hässliche Guillotineklausel» jedoch, welche die NZZ jetzt gerade wieder als «mörderischen Vorbehalt» (16. Sept. 2020) bezeichnet hat, ist geblieben. Sie verhindert seither wirksam jegliche nüchtern-sachliche Diskussion über einzelne Verträge der Schweiz mit der EU. Statt die Frage zu diskutieren, ob etwa der Vertrag über den freien Personenverkehr oder jener über den Verkehr (Schwerverkehrsabgabe) neu verhandelt und angepasst werden solle, stehen immer gleich sämtliche sieben Abkommen zur Disposition.
Das zeigte sich auch wieder vor der Abstimmung über die Begrenzungs- oder Kündigungs-Initiative der SVP: Bei der letzten Umfrage vom 15. September nannten (gemäss swissinfo) «die meisten der befragten InitiativgegnerInnen den drohenden Wegfall aller Bilateralen I aufgrund der Guillotineklausel als Hauptmotiv, die Vorlage abzulehnen». Der Bundesrat – allen voran die federführende Schweizer Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) – hatte die Alles-oder-nichts-Klausel ihrerseits im Abstimmungskampf als wichtiges Argument benutzt. Hierzulande nennt man das: «Vögeli friss, oder stirb!»
Grundsätzlich «Wahrung der direkten Demokratie»
Was die freisinnige Bundesrätin handkehrum nicht daran hinderte, die Schweizer Unterschriften unter die fatale Guillotineklausel von 1999 auch zu bedauern. Doch im Entwurf zum Rahmenabkommen steht diese «Guillotine» nun gleich wieder drin. Und noch auf alle künftigen Verträge «erweitert». Sie macht folgende Deklaration in der Einleitung des Rahmenabkommens auf Seite 2 zum Lippenbekenntnis: Die Vertragsparteien seien «entschlossen», besonders in Bezug auf die Schweiz «Grundsätze der direkten Demokratie und des Föderalismus» zu «wahren».
Grundsätze schon. Im Detail jedoch kommen die direktdemokratischen Rechte des Volkes, die in unserem Land gelten, dann nur noch als Pflichten der Regierung vor – als «verfassungsrechtliche Verpflichtungen». Konkret: «Erfordert die Änderung des betroffenen Abkommens die Erfüllung verfassungsrechtlicher Verpflichtungen» (Art. 14. 3), so verfüge die Schweiz dafür über «eine Frist von höchstens zwei Jahren, wobei sich diese Frist im Falle eines Referendums um ein Jahr verlängert». Formal werden wir also über die «dynamische Übernahme» von EU-Recht abstimmen können. Faktisch aber nur zustimmen und absegnen. Weil sonst die «erweiterte Guillotine» gleich das gesamte Vertragswerk köpft. Die EU mag dabei zudem nicht einmal auf den Volksentscheid warten: Bis zur «Erfüllung ihrer verfassungsrechtlichen Verpflichtungen durch die Schweiz wenden die Vertragspartner die Änderungen vorläufig an», steht in Absatz 2, desselben Artikels.
Mit Guillotineklausel gegen Initiative der Grünen
«Vorläufige Anwendung» der Gesetze (wenn die Schweiz nicht begründet eine Ausnahme geltend macht) noch vor der Volksabstimmung: Da wird dem Einspruch des Schweizer Souveräns also schon mal die aufschiebende Wirkung entzogen. Diese Anomalie zeigt, wie wenig Brüssel von direkter Demokratie versteht und hält.
Und das nächste Opfer des völkerrechtlichen EU-Fallbeils steht schon vor dem Schafott: Diesmal ist die «Initiative gegen Massentierhaltung» der Grünen bedroht. Diese ist eingereicht. Sie will die industrielle Tierproduktion in der Schweiz entscheidend einschränken – und den Tierschutz massiv verbessern. Weil die neuen Regeln aber auch für importierte Tierprodukte gelten sollen, sieht der Bundesrat damit das Agrarabkommen mit der EU bedroht. Und wegen der Guillotine auch gleich alle Bilateralen I. Das Badener Tagblatt berichtete darüber (29. Aug. 2020) unter dem Titel: «Grüner Angriff auf die Bilateralen.»
So bedroht die EU-Guillotine zusehends die direktdemokratischen Rechte in der Schweiz. Das sorgt für Ärger. Wie auch der Artikel 4 «Grundsätze der einheitlichen Auslegung» im InstA-Entwurf bei Schweizer PolitikerInnen, JuristInnen und Diplomaten zusehends Kritik erntet: Diese Auslegung erfolge nämlich «gemäss» (…) der Rechtssprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union». Mehr noch: Für das ausführlich im Entwurf dargestellte paritätische «Schiedsgericht» mit je zwei Vertretern der EU und der Schweiz unter einem neutralen Präsidenten gilt gemäss Artikel 10. 3 in vielen Fällen ebenfalls: «Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ist für das Schiedsgericht verbindlich.» Kritiker des geplanten Abkommens argumentieren, das wäre etwa so, wie wenn ein Fussballteam den Schiedsrichter gleich selber im Mannschaftsbus zum Spiel mitbringen würde – oder jedenfalls den Video-Assistenten.
«Ergänzungen» und «Erklärungen» reichen nicht
Damit ist nun über die vom Ständerat erneut bemühten «drei noch offenen Fragen» hinaus so viel grundsätzlich «Toxisches» und Problematisches zusammengekommen, dass «Ergänzungen» und «Erklärungen» zum InstA-Entwurf kaum mehr ausreichen. Es brauche «neue Verhandlungen» fordert darum der Gewerkschaftsbund. CVP-Chef Pfister nennt die «Souveränität» der Schweiz als «grundlegendes Problem» im Entwurf. Und selbst die SP fordert Nachverhandlungen. Noch-SP-Chef Christian Levrat betonte der NZZ gegenüber, ein Scheitern des vorliegenden Vertrags wäre «kein Drama» und sicher «nicht das Ende der Welt». Ohnehin sei in unserem Land «die EU-Euphorie verflogen» – sogar auch in seiner eigenen, bisher EU-freundlichen SPS.
Wohnraum für Menschen in der Stadt der Reichen. In den vergangenen Jahren und vor allem Wochen wurden viele Sachen über die Liebig 34, das anarcha queer feministische Eckhaus an der Liebigstrasse mit 30 Jahren Kollektivgeschichte, gesagt, berichtet, gemutmasst.
Jetzt, kurz vor dem offiziellen Räumungsversuch, werden wir selbst noch mal ein paar Sachen sagen.
Zunächst wollen wir klarstellen, dass es sich bei der Räumung der Liebig34, die bereits mit einem absurd hohen Polizeiaufgebot geplant wird, um eine illegale Räumung handelt. Die Vertreter*innen des Raduga und des Mittendrin e.V. werden dazu noch genaueres sagen.
Die Illegalität der Räumung zeigen wir nicht auf, weil sie uns überrascht. Wir zeigen sie auf, da sie die Willkür eines sogenannten Rechtsstaats deutlich macht. Die Räumung der Liebig34 wird in der Öffentlichkeit oft mit der vermeintlichen Wahrung des Rechtsstaates begründet, dabei ist vor allem an diesem Beispiel erkennbar, dass es von ökonomischen und politischen Interessen abhängig ist, wer Gerechtigkeit in diesem Staat erfährt. Es zeigt eine Stadtpolitik auf, die im Sinne von Grossinvestor*innen und Kapital handelt und nicht im Sinne der Menschen, die diese Stadt beleben und sie massgeblich seit Jahrzehnten gestalten.
Mit der Liebig wuerde nicht nur ein zu Hause verloren gehen, ein kultureller Ort der Begegnung, sondern auch ein zentrales Stueck Stadtgeschichte Berlins.
Dass staatliche Strukturen nicht für alle Menschen gleich wirken, sondern sie im Gegenteil an vielen Stellen durch Repressionen und Diskriminierung einschränken, behindern und gewalttätig sind, mussten die meisten Menschen die in 30 Jahren auf verschiedene Weisen in der Liebig34 Zuflucht gefunden haben, am eigenen Leib erleben. Dass die Liebig34 versucht für diese Menschen ein Schutzraum zu sein, macht sie zu einem einzigartigen Ort. Zu einem unersetzbaren Ort in dieser Stadt.
Denn die Liebigstrasse 34 bietet seit 30 Jahren den Menschen Wohnraum und Aufmerksamkeit, welche in der Stadt der Reichen keinen Platz haben sollen. Das Haus ist ein kaempferischer Ort an dem sich Menschen taeglich dafuer entscheiden sich nicht anzupassen.
Die Liebig 34 ist seit 30 Jahren ein Ort für Menschen, die von patriarchaler Gewalt verschiedenster Ausprägungen betroffen sind, die von Trans*feindlichkeit betroffen sind und auf andere Weisen marginalisiert werden. In dieser ganzen Zeit hat die Liebig34 Menschen die Stalking erleben einen Zufluchtsort gegeben, hat geflüchteten Menschen Zimmer zur Verfügung gestellt, wohnungslose Frauen* konnten dort an die Tür klopfen und in unserem Gästezimmer eine Weile von Kälte und Gewalt durchatmen. Betroffene von sexualisierter Gewalt erfahren an diesem Ort Solidarität und Schutz.
Menschen, die nicht der binären Geschlechterordnung entsprechen, oder entsprechen wollen finden hier einen Raum zur Entfaltung, der in der Regel in einer heteronormativ strukturierten Gesellschaft nicht vorhanden ist. Frauen* und LGBTIQ – Menschen in prekarisierten Lebenssituation konnten in der Liebig34 wohnen, während es sonst aufgrund von Mietpreisen und diskriminierender Wohn- und Einzugspolitik kaum eine Möglichkeit gab, in Berlin Fuss zu fassen.
Die Neubauprojekte dieser Strasse und dieser Stadt versprechen eine vermeintlich heile Welt, geschaffen fuer all diejenigen, die genuegend Kapital haben, um sich den realen Widerspruechen und Problemen dieser Gesellschaft zu entziehen. Die Liebig 34 ist ein Ort an dem Menschen sich das nicht leisten koennen und wollen.
Die Liebig34 ist über die Jahre ein Ort geworden, an dem Menschen sich selbst organisieren und gemeinsam anarchistische und feministische Utopien entwickeln konnten, wie ein Leben ohne patriarchale und strukturelle Gewalt aussehen könnte. In Berlin gibt es kaum noch Möglichkeiten für Menschen sich selbst in dieser Form des solidarischen Miteinanders zu organisieren. Und vor allem ist die Liebig ein Haus, in dem sich ausschliesslich LGTBIQ Menschen auf diese Art und Weise organisieren einzigartig. Wenn es geräumt wird, ist es nicht ersetzbar.
Immer weniger solcher einzigartigen Orte, die Berlin zu ihrem Image als vielfältige und kulturell diverse Stadt verhelfen, existieren noch, sondern sie müssen Luxusbauten und Kapitalanlagen weichen. Die Liebig34 behindert durch ihre blosse Anwesenheit die voranschreitende Verdrängungsdynamiken im Nordkiez, die verheerende Auswirkungen auf die meisten Anwohner*innen hat. Viele alteingessene Bewohner*innen mussten bereits wegziehen. Andere bangen mit anstehendem Räumungstermin unseres Hauses um ihre eigene Existenz im Kiez.
Der Dorfplatz und die Liebig sind ein Ort fuer viele Menschen, die in der Stadt der Reichen keinen Platz finden. Ein Angriff auf dieses Haus, ist ein Angriff auf all diese Menschen.
Als Anarchist*innen, als Feminist*innen und als Antifaschist*innen sind wir in Konflikt und Konfrontation mit diesem kapitalistischen Staat und seinen Repressionsorganen. Deshalb fordern wir keine Loesung von oben sondern Anseatze von unten.
Die Liebig34 ist seit 30 Jahren fester Bestandteil dieses Kiezes. Sie hat ihn mitgestaltet, unterhalten, hat anggeeckt und Widersprüche aufgezeigt.
Die Liebig34 ist Sand im Getriebe der fortschreitenden Gentrifizierung. Sie ist bunt, sie ist widerständig, sie ist eine Überleberin, die tapfer weitermacht, obwohl sie immer wieder Angriffen von aussen ausgesetzt ist. Ob Schikanen der Polizei, sexistische Gewalt, Brandanschläge oder andere Übergriffe von Nazis – die Liebig34 gibt nicht auf. Sie bleibt sich treu, trotz Zermürbungsversuchen seitens Polizei und politischen Machtkämpfen um profitablen Stadtraum.
In Berlin gibt es aktuell eine skrupellose Räumungswelle gegen selbstorganisierte Projekte, die sich verheerend auf die Kieze auswirken werden. Nach der Räumung des Syndikats in Neukoelln, wurde nun auch gegen die Kneipe Meuterei und das selbsorganisierte Jugendzentrum Potse ein Räumungstitel erwirkt.
Dass es darauf eine starke Reaktion gibt und diese Orte auf verschiedene Weisen verteidigt werden, kreativ bis militant, ist nicht verwunderlich, sondern schlicht und ergreifend notwendig. Hier bangen Menschen sowohl um Wohnraum, als auch kollektive Orte fuer Organisierung und Solidarität, aber auch um die Zukunft dieser Stadt. Denn wenn diese Häuser und Projekte erstmal weg sind, können wir sie nicht wieder zurückholen.
Die Liebig34 ist ein Symbol für eine Stadt von unten, ein Symbol für Solidarität und Freiheit, es geht um Zusammenhalt, um queeres Leben, um feministische Kämpfe. Die Liebig ist Geschichte Berlins, sie ist Teil der feministischen Geschichte dieser Stadt, Teil der Besetzer*innen Geschichte, ihre Wände erzaehlen von 30 Jahren Kreativität, Unangepasstheit und Solidarität.
In Zeiten erstarkender rechtskonservativer und neo-faschistischer Angriffe stellt sich die Liebigstr. 34 gegen rassistische Gewalt, wehrt sich aktiv gegen rechte Strukturen und steht ein für Vielfalt und Toleranz.
Vor allem ist die Liebig34 ein Ort, der das Leben so vieler Menschen geprägt hat. Die vielen verschiedenen kreativen Solidaritätsbekundungen die dem Haus jedem Tag aus allen Ecken der Welt zugetragen werden, zeigen deutlich, wie viele Menschen sich mit den Kämpfen und Ideen der Liebig34 identifizieren und wie schmerzlich der Verlust durch eine Räumung wäre.
Die Räumung der Liebig34 ist ein Gewaltakt, denn Menschen gewaltsam ihren Wohn- und Schutzraum zu nehmen, ist menschenverachtend. Doch die Liebig34 ist nicht einfach nur Haus, das bewohnt wird, die Liebig34 ist ein Haus das geliebt und gelebt wird, Tag fuer Tag, seit 30 Jahren. Und Orte, die man liebt, gibt man nicht so einfach auf. Man kämpft für sie, mit allen Mitteln. Mit allen Kräften. Und genau das werden wir machen.
Wir werden dieses Haus nicht freiwillig hergeben, sondern jeden Teil unserer in Beton manifestierten Utopie verteidigen. Die Liebig34 lebt. Die Liebig34 bleibt.
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Britische und US-Unrechtsjustiz haben seit Verschleppung von Julian Assange aus dem Botschaftsasyl 2019 den bedeutendsten Enthüllungs-Journalisten des 21.Jahrhunderts mundtot gemacht. Er hatte Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen der Briten und USA aufgedeckt und wird dafür seit einem Jahrzehnt verleumdet, drangsaliert, mit gefälschten Beweisen beschuldigt, einer rechtswidrigen Strafverfolgung ausgesetzt und soll jetzt in die USA ausgeliefert werden: Von der Britischen Justiz, die sich einst weigerte, den Massenmörder Pinochet an Spanien auszuliefern. Dieses himmelschreiende Unrecht nicht angeprangert zu haben ist dabei der wahre Medienskandal unserer Zeit: Die westlichen Mainstream-Medien haben mit ihrer kritiklosen Übernahme der Verleumdungen der Kriegsverbrecher gegen den Enthüller ihrer Kriegsverbrechen eindeutig Partei bezogen: Gegen Assange, für die Regierungen, Militärs und Geheimdienste, die bedenkenlos, ohne Unrechtsbewusstsein massenhaft unschuldige Zivilisten massakrieren.
Die Prozessberichterstattung der Mainstream-Medien war von Abwiegeln, Vertuschen und Verschweigen bestimmt, ganz wie man es von journalistischen Komplizen erwarten konnte. Doch wenn ARD, SPIEGEL & Co. Schweigen, wir tun es nicht. Hier der Bericht vom Abschlussplädoyer der Verteidigung des Julian Assange im Londoner Gericht Old Bailey, dem Ort, an dem die britische Justiz ihre Glaubwürdigkeit verlor, wie auch die Meute der westlichen Journalisten, die sich feige wegduckten, statt für Pressefreiheit und Menschenrechte einzutreten, die ihnen angeblich überall auf der Welt am Herzen liegen -nur dort nicht, wo die kriminellen Machteliten ihrer eigenen Länder die Menschlichkeit mit Füßen treten.
Bericht der Assange-Verlobten und Menschenrechtsanwältin Stella Moris, Oct. 1, 2020
Julians Anhörung endet im Old Bailey – 1. Oktober
Heute endete Julians Auslieferungsverhandlung im Old Bailey, als die Bezirksrichterin Vanessa Baraitser sich weigerte, weitere Beweise der Verteidigung aufzunehmen. Baraitser wird nun in Klausur gehen, um ihre Entscheidung zu prüfen, nachdem sie sowohl von der Staatsanwaltschaft (bzw. den die Fäden ziehenden US-Anklägern) als auch von Julians Anwaltsteam abschließende Erklärungen erhalten hat.
Es wird erwartet, dass sie dem Gericht ihre Entscheidung am 4. Januar 2021 vorlegt. Abschießend fasst Mark Summers die dem Gericht während der vierwöchigen Auslieferungsverhandlung vorgelegten Beweise zusammen und legt im Namen von Julian und seinem Rechtsteam das Schlussplädoyer vor:
„Whistleblower machen keine Karriere, indem sie Fehlverhalten aufdecken, dies tun Journalisten. Die Arbeit dieser Journalisten ist entscheidend, um wichtige soziale Reformen zu erreichen… Woodward und Bernstein haben den Lauf der Geschichte verändert, großen Mut gezeigt und dies angesichts von Bedrohungen getan… Das Wort Journalist wurde in diesem Fall (des Julian Assange) von der Staatsanwaltschaft in ihrer Eröffnungsnotiz verwendet. Es erscheint nicht in der Anklage. Die Anklage beschreibt stattdessen einen „Geheimdienst des Volkes“ und Besitzer einer Dropbox und vermeidet die Beschreibung des Journalismus… Es gibt viele Formen des Journalismus. Die Geschichte des Journalismus umfasst viele Formen, von Broadsheets über Flugblätter bis hin zu ähnlichen Drucksachen. Die Pressefreiheit beschränkt sich nicht nur auf Zeitungen und Zeitschriften…
Zu Beginn der Beweisaufnahme hörte das Gericht von Herrn Summers über die Geschichte des „Verfahrens seit Assange in der Botschaft“ in Bezug auf UC Global. Er sagte: „UC Global hat einen von David Morales persönlich verwalteten Vertrag mit Las Vegas Sands [im Besitz von] Sheldon Adelson (CIA-naher US-Milliardär) abgeschlossen… einem engen Freund von US-Präsident Donald Trump. Als Präsident Trump an die Macht kam, erweiterte UC Global seine Überwachung, um Ton aufzunehmen… Carlos Poveda hat in Ecuador versucht, das von der Botschaft beschlagnahmte rechtlich privilegierte Material zurückzugeben. Sehr ungewöhnlich: es wurden zwei diplomatische Beutel mit USB-Sticks verwendet.
Am 16. Dezember 2019 wurde Herr Poveda bei der Überprüfung der verbleibenden Akten in Ecuador darüber informiert, dass Ecuador nichts behalten würde, sondern alles in die Vereinigten Staaten von Amerika gehen würden … [aber] der ecuadorianische Staatsanwalt lehnte diesen Antrag ab… Herr Summers las auch das Zeugnis von Aitor Martinez vor, in dem es um „die Untersuchung der spanischen Gerichte bezüglich der Beteiligung der USA an dieser laufenden und aktiven Angelegenheit“ geht. Er sagte dem Richter, dass „es irgendwann gerichtliche Feststellungen aus Spanien geben könnte, die für Sie von Nutzen sein könnten.“ Julian wird als nächstes am 29. Oktober und bis zum Urteil im Old Bailey am 4. Januar alle vier Wochen per Videolink am Westminster Magistrates Court erscheinen.