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Kniestedt, Antifaschist

Erstellt von DL-Redaktion am 5. August 2023

Friedrich Kniestedt, Antifaschist im Brasilien der 1930er Jahre

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von          :          Tom Goyens

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 480, Sommer 2023, www.graswurzel.net

Friedrich Kniestedt, Antifaschist im Brasilien der 1930er Jahre. – Über die Verheerungen, die der Nationalsozialismus in den entsetzlichen zwölf Jahren seiner Herrschaft in Deutschland und Europa angerichtet hat, ist viel geforscht und geschrieben worden.

Wenig bekannt ist hingegen, dass die Nazis in ihrem Bestreben, ihr Terrorregime über die Welt auszubreiten, Brasilien eine besondere Rolle zugedacht hatten und dort, auf einem fernen Kontinent, ein „neues Deutschland“ errichten wollten. Ihre aggressive und gewalttätige Propaganda im Milieu der Deutschbrasilianer*innen stiess auf den entschlossenen Widerstand einer Gruppe um den deutschstämmigen Anarchisten Friedrich Kniestedt.Am 25. April 1935 gegen acht Uhr abends versammelten sich einige junge Deutschbrasilianer in Hitlerjugenduniform vor einer Buchhandlung in der südbrasilianischen Grossstadt Porto Alegre. Sie wollten die Scheiben einschlagen, aber der Buchhändler Friedrich Kniestedt und seine Nachbarn, darunter drei Deutschbrasilianer, stellten sich ihnen entgegen. Einer der Nachbarn schnappte sich einen der Jugendlichen und brachte ihn zur Polizei. Die anderen Hitlerjungen rannten weg, kamen aber mit dreissig weiteren zurück. In der Zwischenzeit hatten sich jedoch schon fünfzig Personen versammelt, um die Buchhandlung und die darin befindliche antifaschistische Literatur zu verteidigen. Die Auseinandersetzung war damit beendet. Erst später erfuhr Kniestedt, dass die Angriffe von oben geplant worden waren, dass mit weiteren zu rechnen war, und dass sein Name auf einer Todesliste stand. (1)

Von 1933 bis 1938 ging der einzige nennenswerte Widerstand gegen die Nazifizierung im Süden Brasiliens von einem relativ kleinen Kreis antiautoritärer Aktivist*innen in Porto Alegre, der Hauptstadt von Rio Grande do Sul, aus. Im Zentrum dieses Kreises stand Friedrich Kniestedt (1873-1947), ein dickhäutiger anarchistischer Redakteur, der seit zwanzig Jahren in Brasilien lebte. Zwar gab es in den 1930er Jahren mehrere brasilianische antifaschistische Gruppen, aber Kniestedt konzentrierte sich auf die grosse deutschbrasilianische Gemeinschaft, denn sie war massiver Nazipropaganda ausgesetzt. (2) Dieser Propaganda setzte Kniestedt seinen humanistischen, kosmopolitischen und antiautoritären Aktivismus und seine Vision für die Zukunft entgegen.

Naziimperialismus in Brasilien

Um diesen spezifisch deutschen antifaschistischen Widerstand in Brasilien zu verstehen, müssen wir uns den Kontext ansehen. Die nationalsozialistische Propaganda in Brasilien war vielgestaltig, gut organisiert und mit reichlich Geld ausgestattet, um sicherzustellen, dass der Nationalsozialismus sehr schnell Fuss fassen würde. Und tatsächlich war Brasilien, wenngleich „nur“ 5% der deutschen Staatsangehörigen in Brasilien Mitglieder von Nazi-Organisationen waren, ausserhalb Deutschlands das Land mit den meisten – nämlich 3.000 – NSDAP-Mitgliedern. (3) Hitler hatte grosse Pläne für Brasilien; er wollte ein neues Deutschland schaffen, um den bestehenden „korrupten Mestizenstaat“ zu ersetzen. (4)

Ausschlaggebend waren die wirtschaftliche Bedeutung Brasiliens und die eine Million deutschstämmiger Brasilianer. Brasilien war Deutschlands wichtigster Lieferant von Wolle, Kaffee und Kautschuk. Die grosse, hauptsächlich im Süden des Landes lebende deutschstämmige Bevölkerungsgruppe in Brasilien versprach eine solide Basis für den Naziimperialismus zu werden. Da die grösste deutsche Einwanderungswelle nach Brasilien erst in den 1920er Jahren stattgefunden hatte, war die Gemeinschaft nicht assimiliert und daher anfällig für Loyalitäts- und Ideologiewechsel.

Im Bundesstaat Rio Grande do Sul lebten in den 1930er Jahren rund 600.000 deutschstämmige Menschen (20 % der Bevölkerung), und in der Hauptstadt Porto Alegre waren 12 % deutschstämmig. (5) Es schadete auch nicht, dass die populistische Regierung von Getúlio Vargas die Aktivitäten der Nazis tolerierte und enge Handelsbeziehungen zu Deutschland unterhielt. Aus diesem Grund investierte die Auslandsabteilung der NSDAP so viel in Brasilien. „Wir werden nicht wie Wilhelm der Eroberer Truppen landen und Brasilien mit der Waffe in der Hand erobern“, sagte Hitler einmal. „Die Waffen, die wir haben, sieht man nicht.“ (6)

Gleichschaltung und Einschüchterung

Eine dieser Waffen war die Politik der Gleichschaltung aller Schulen, Vereine und der Presse innerhalb der deutschbrasilianischen Gemeinschaft. Gleichschaltung bedeutet „auf Linie bringen“, von oben koordinieren und im Namen der nationalen Einheit konsolidieren. Der Begriff stammt aus der Elektrotechnik, wo alle Schalter auf denselben Stromkreis gelegt werden, so dass alle durch das Umlegen eines Hauptschalters aktiviert werden können. Die Instrumente dieser Politik waren beeindruckend: Das deutsche Konsulat in Porto Alegre, das Gelder verteilte (7); die Nazi-Parteizellen mit ihren Jugend- und Frauenorganisationen (8); ein Netz von Gestapo-Agenten, die ihre Befehle direkt aus Berlin erhielten; die Pseudo-Gewerkschaft Arbeitsfront und zahlreiche zivile Informant*innen.

„Ich betrachte mich als Gegner dieses Staates, ich halte es für meine Pflicht, das zu tun, was ich immer getan habe, nämlich die Wahrheit zu sagen und danach zu handeln.“

So genehmigte beispielsweise 1935 eine Konferenz deutscher Protestant*innen den Bau eines neuen Gymnasiums, in dem die Schüler*innen das Horst-Wessel-Lied singen mussten und im Geschichts- und Religionsunterricht antisemitischer Propaganda ausgesetzt waren (9). Zugleich legte die Gestapo in ihrem Hauptquartier in Santa Catarina eine Datenbank mit über 1.000 Personen samt Bildern und Biografien an, die gegen den Nationalsozialismus waren oder deren Loyalität zweifelhaft war (10). Die brasilianischen Behörden wussten so gut wie nichts über diese ausländischen Propagandabemühungen in ihrem Land. Erst nach 1942, als Brasilien sich den Alliierten anschloss, erfuhren die Brasilianer*innen vom Ausmass der Nazi-Propaganda in den 1930er Jahren. (11)

Souveräne Antifaschisten, blamierte Nazis

Die erste dokumentierte Konfrontation zwischen Kniestedt und den örtlichen Nazis ereignete sich im April 1932, als die Nazizelle forderte, den Saal der Sociedade Caixa Beneficente Navegantes (Unterstützungskasse Navegantes), der grössten deutschbrasilianischen Organisation in der Region, nutzen zu dürfen. Diese Einrichtung bestand seit 1909 und zählte etwa dreihundert Mitglieder. (12) Kniestedt, der Schatzmeister, und die anderen Vorstandsmitglieder lehnten den Antrag ab. (13) Dies setzte eine Reihe von Infiltrationsversuchen der Nazis in Gang, um die Kontrolle über diese Gemeinschaft zu erlangen.

Am 30. Januar 1933, dem Tag, an dem Hitler Reichskanzler wurde, organisierte Kniestedt im Saal der Unterstützungskasse die wohl erste öffentliche antifaschistische Demonstration in Brasilien. (14) Er lud die örtlichen Nazis zu einer Debatte ein. Das Ergebnis war eine Niederlage für die Braunhemden; die Mitglieder des Vereins lehnten den Nationalsozialismus rundweg ab. Die Nazis blamierten sich, indem sie herumschrien und die Beleidigten spielten, bevor sie schliesslich abzogen. „Kniestedt war der Sieger auf der ganzen Linie“, schrieb ein Berichterstatter, „dank seines souveränen, gemässigten, ruhigen Vortragsstils, der Polemik vermied und Fakten und Dokumente für sich selbst sprechen liess“.(15)

Als Vergeltung gründeten die Nazis ihre eigenen Gruppen, um den Verein für gegenseitige Hilfe an den Rand zu drängen, der sich jedoch nicht einschüchtern liess und mit der Gründung einer Amateurtheatertruppe, einer Sportgruppe und eines Gesangvereins dagegenhielt. (16) Wichtig war auch, interne Streitigkeiten zu vermeiden, die von den Nazis leicht hätten ausgenutzt werden können. Im Oktober 1935 appellierte Kniestedt an die Mitglieder, zusammenzuhalten und das Prinzip der gegenseitigen Hilfe zu bewahren und nicht zuzulassen, dass Saboteure von aussen die Organisation zerstörten. (17)

Die Zeitschriften „Aktion“ und „Alarm“

Zudem beschloss Kniestedt, die Nazis direkt zu bekämpfen. Im April 1933 gründete er die Menschenrechtsliga Porto Alegre als unabhängige internationale Organisation, „um die Menschenrechte durch die Anwendung und Ausübung aller notwendigen Mittel zu verteidigen“ (18). Eine der ersten Aktionen der Liga bestand darin, die Maifeierlichkeiten der Nazis zu unterminieren, indem Flugblätter an deutsche Arbeiter*innen verteilt wurden mit der Aufforderung, nicht an den Maifeiern teilzunehmen. (19) Einige Wochen später gründete Kniestedt die „Aktion“ als Sprachrohr der Liga.

Sie sollte seine stärkste Waffe und die langlebigste antifaschistische Zeitschrift Brasiliens werden. Die erklärte Aufgabe der Zeitung war es, den Faschismus und seine Folgen zu bekämpfen, den Opfern des Faschismus beizustehen, den Lügen des „Dritten Reichs“ entgegenzutreten, jede Art von Unterdrückung zu bekämpfen und Wege zur Befreiung der Menschheit zu diskutieren. In diesem Titanenkampf, der sich in einem kleinen Winkel der Welt abspielte, gelang es Kniestedt und seinem Kreis, eine anarchistische Stimme zu erheben und die Diktaturen von Stalin, Mussolini und Hitler blosszustellen. Auf „Aktion“ folgte später „Alarm“. Beide Zeitschriften sind Zeugnisse antifaschistischen Handelns in einem feindlichen Umfeld.

Die Forschung hat diese Publikationen oft unterschätzt und ist von einer Auflage von einigen hundert Exemplaren ausgegangen. Hingegen berichtet uns ein Historiker, dass bis 1936 insgesamt 9000 Exemplare der „Aktion“ gedruckt wurden, von denen 3000 nach Deutschland geschickt wurden. (20) Die Abonnent*innen waren über die drei südlichsten Bundesstaaten Brasiliens verteilt, und Vertragshändler verkauften die Zeitschrift in Städten wie Rio de Janeiro, São Paulo, Santos und Curitiba. „Aktion“ und „Alarm“ wurden auch an andere radikale Organisationen im Tausch gegen deren Zeitschriften verschickt, unter anderem an die Menschenrechtsliga in Strassburg, die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit in Genf und die Federación Anarquista Ibérica (FAI) in Barcelona. (21)

Kniestedt und seine Mitstreiter*innen nutzten die Liga für Menschenrechte, ihre Zeitschrift„Aktion“ und Kniestedts Position in der Unterstützungskasse, um die nationalsozialistische Propaganda und die Politik der Gleichschaltung zu durchkreuzen, wo immer es möglich war. In Curitiba (Paraná) wurde eine neue Zweigstelle der Liga gegründet, die die Verbreitung antifaschistischer Flugblätter in diesem Bundesstaat intensivierte, und 1935 wurde ein portugiesischsprachiger Zweig gegründet. (22) Da alle deutschen Schulen in Brasilien nationalsozialisiert worden waren, wurde die Liga gebeten, Gelder für den Bau einer freien Schule nach Pestalozzis Grundsätzen zu beschaffen, aber daraus wurde nichts. (23) Wenn man schon die Kinder verloren geben musste, war es jedoch immer noch möglich, mit Hilfe der Literatur die erwachsenen Deutschbrasilianer*innen zu erreichen. 1936 gründete die Liga eine Leihbibliothek und eine Theatergesellschaft.

Kniestedt betrieb schon seit 1925 eine eigene Buchhandlung, die einige Male verwüstet wurde, weil sie wahrscheinlich der einzige Ort war, an dem man deutschsprachige Literatur jenseits der Nazi-Zensur erhalten konnte. (24) In den Jahren 1936/37 scheiterten die Nazis bei ihrem Versuch, den Turnerbund, eine der grössten deutschen Institutionen im Land, zu übernehmen, was zum Teil auf die antifaschistischen Aktivitäten der Liga und der „Aktion“ zurückzuführen war. Auf einer schlecht besuchten Mitgliederversammlung – nur 116 der 1200 Mitglieder waren anwesend – sahen die Nazis die Chance, eine Abstimmung über die Nazifizierung der Gesangsgruppe des Turnerbundes zu erzwingen. Als die Mitglieder davon Wind bekamen, beantragten sie erfolgreich eine neue Mitgliederversammlung. Diese verabschiedete mit 364 zu 254 Stimmen mehrere Anträge, die den Turnerbund in Zukunft vor einer Übernahme durch die Nazis schützen sollten. (25)

Die Wahrheit sagen und danach handeln…

Die Wahrheit über die Verbrechen des Dritten Reiches und anderer Despotien zu sagen, war eine der wirksamsten (und gefährlichsten) Formen des Widerstands. Die „Aktion“ druckte Berichte über Konzentrationslager, in denen Andersdenkende gefangen gehalten wurden, über die Gewalt gegen Juden, über die engen Beziehungen zwischen Hitler und den Vertretern der Grossindustrie, aber auch über die Moskauer Schauprozesse. Im Sommer 1934 organisierte die Liga eine Kampagne für die Freilassung von Erich Mühsam, Carl von Ossietzky, Ludwig Renn und anderen Opfern des Hitler-Terrors. Sie machte die Verbrechen des Nazistaates öffentlich, und sie organisierte Versammlungen für deutsche Flüchtlinge in Porto Alegre. (26) Diese öffentliche Anprangerung machte die Nazis in Südbrasilien nervös. „Wir wissen aus zuverlässigen Quellen“, schrieb Willy Keller, einer von Kniestedts engen Mitarbeitern, „dass am Tag vor dem Erscheinen der ‚Aktion‘ im deutschen Konsulat immer Panikstimmung herrschte“. (27)

Die Nazis drängten die Anzeigenkunden, ihre Unterstützung für die „Aktion“ zurückzuziehen, aber ohne Erfolg. Im Mai 1934 reichten dann zwei Nazizeitungen, der „Urwaldsbote“ aus Blumenau und die „Neue Deutsche Zeitung“ aus Porto Alegre, vor Gericht eine Verleumdungsklage ein, um die „Aktion“ als kommunistisches Organ brandmarken zu dürfen. (28) Einige Mitglieder der Liga wollten mit einer ähnlich schmutzigen Taktik kontern, aber ihre Mitstreiter*innen lehnten das ab. (29) Letztendlich gewann Kniestedt den Prozess, erhielt aber niemals die vom Gericht angeordnete Entschädigung für die ihm entstandenen Kosten. Tatsächlich bestand ein Ziel der Kläger darin, ihn finanziell zu ruinieren. (30)

Ein Jahr später ging der Wunsch der Nazis in Erfüllung: Im November 1936 wurde Kniestedt von der brasilianischen Polizei verhaftet und die „Aktion“ beschlagnahmt. Wegen eines gescheiterten kommunistischen Aufstands in Brasilien hatte Vargas den Ausnahmezustand ausgerufen und liess alle kommunistischen Aktivitäten unterdrücken. Kniestedts Zeitschrift war zwar nicht kommunistisch, unterstützte aber die republikanischen Truppen, die im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco kämpften. (31) Die „Aktion“ musste eingestellt werden, aber keine zwei Monate später gründete Kniestedt die Zeitschrift „Alarm“, um weiter gegen den Totalitarismus anschreiben zu können.

Als im August 1937 der antikommunistische Ausnahmezustand aufgehoben wurde, brachte Kniestedt wieder die „Aktion“ heraus, nur um drei Monate später von der brasilianischen Regierung erneut verboten zu werden. (32) Seine verlegerische Tätigkeit endete im Mai 1938, als Vargas alle politischen Aktivitäten von Ausländer*innen verbot. Im Alter von fünfundsechzig Jahren schloss er sich der Bewegung „Das andere Deutschland“ an, die 1937 von Linkssozialisten wie August Siemsen in Buenos Aires gegründet worden war und zu den einflussreichsten Exilgruppen in Südamerika zählte. (33)

… trotz Gefängnis, Schikanen und Todesdrohungen

Die Bemühungen der Nazis, Kniestedt zum Schweigen zu bringen, zeigen, wie hinderlich er für die Auslandspropaganda der NSDAP war. Der Historiker René Gertz schrieb einmal, dass „dieser ganze Kampf gegen den Nationalsozialismus als effektiv angesehen werden kann, wenn wir die Reaktion der anderen Seite berücksichtigen“ (34). Die anfangs geschilderte Konfrontation vor der Buchhandlung war nur ein Beispiel. Kniestedt wurde routinemässig angegriffen und schikaniert – ob bei Versammlungen oder in der nazifreundlichen Presse, die ihn als Verräter bezeichnete.

Bei den lokalen Behörden wurde er als Kommunistenführer denunziert – in Vargas’ Brasilien immer ein guter Weg, um jemanden verhaften zu lassen. Als ein Boykott seines Buchladens scheiterte, zerstörten jugendliche Nazis die Aushängeschilder und schlugen die Fenster ein. Per Post wurde ihm eine vergiftete Maus geschickt, Stinkbomben wurden geworfen, und zweimal wurde sein Haus nachts mit Gas angegriffen. (35) Er erhielt Morddrohungen. Mehrmals wurde er verhaftet und ins Gefängnis geworfen, was ihm allerdings auch wachsende Bekanntheit bescherte. All diese Schikanen wurden von oben koordiniert. (36)

Ein herber persönlicher Verlust

1934 erfuhr Kniestedt, dass der Aussenminister des nationalsozialistischen Deutschlands ihm und siebenundzwanzig anderen im Ausland lebenden Deutschen die Staatsbürgerschaft entzogen hatte. Er antwortete, er fühle sich durch diese Entscheidung geehrt: „Ich betrachte mich als Gegner dieses Staates, ich halte es für meine Pflicht, das zu tun, was ich immer getan habe, nämlich die Wahrheit zu sagen und danach zu handeln.“ (37) Einer seiner schmerzlichsten Momente war, als Kniestedt erfuhr, dass sein Sohn vor die Wahl gestellt worden war, der Deutschen Arbeitsfront (DAF) beizutreten oder seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Er entschied sich für seinen Arbeitsplatz, und Kniestedt und seine Frau brachen alle Beziehungen zu ihrem Sohn ab. (38)

Vereint im Kampf gegen Unterdrückung und Faschismus

Was bleibt? Unter den Deutschbrasilianer*innen hatte Kniestedt einen beachtlichen Rückhalt und konnte seinen anarchistischen und antifaschistischen Zeitschriften in den 1920er- und 30er-Jahren praktisch durchgängige Unterstützung sichern. „Unserem Freund Friedrich Kniestedt in Porto Alegre ist es gelungen“, schreibt Willy Keller, „einen Kreis von Menschen um sich zu scharen, die durch gegenseitiges Vertrauen zusammengehalten werden. Diese Menschen haben unterschiedliche politische Meinungen, aber das hindert sie nicht, freundschaftlich miteinander umzugehen. Sie sind vereint in ihrem Kampf gegen Unterdrückung, soziales Elend, Krieg und Rassenhass.“ (39)

Nach Meinung eines der bedeutendsten Kenner der deutschbrasilianischen Geschichte „repräsentiert Kniestedt grosse Teile der deutschsprachigen Arbeiterschaft in Südbrasilien […]. Hier war die Solidarität über sprachliche und ethnische Grenzen hinweg wichtiger als die Zersplitterung.“ (40)

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Fussnoten:

(1) „Mein Kampf, oder besser, der Kampf der Nazis gegen meine Person”, Aktion, 1. Mai 1935, S.5-6.

(2) Izabela Kestler. Die Exilliteratur und das Exil der Deutschsprachigen Schriftsteller und Publizisten in Brasilien (Frankfurt a/M: Peter Lang, 1992), 133; Rene E. Gertz, „Operários alemães no Rio Grande do Sul (1920-1937) ou Friedrich Kniestedt também foi um imigrante alemão”, Revista Brasileira de História, São Paulo: ANPUH, Vol. 6, Nr. 11 (1986). Einen Überblick über antifaschistische Politik in Brasilien gibt João Fábio Bertonha, „Anti-fascism in Brazil During the Interwar Period”, in: Anti-Fascism in a Global Perspective: Transnational Network, Exile Communities, and Radical Internationalism. Herausgegeben von Kasper Braskén, Nigel Copsey und David Featherstone (London, NY: Routledge, 2021), 43-57.

(3) Anna Maria Dietrich; M. Garcia, „Juventude Hitlerista à Brasileira”, História Viva Vol. 39 (São Paulo, 2007), 74; Forster, Die deutschsprachige Minderheit.

(4) Zitiert in Dawid Bartelt, „‘Fünfte Kolonne’ ohne Plan. Die Auslandsorganisation der NSDAP in Brasilien 1931 – 1939,” Ibero-amerikanisches Archiv, Neue Folge, Bd. 19, Nr. 1/2 (1993), 1.

(5) Fast 90% aller ethnischen Deutschen in Brasilien waren brasilianische Staatsbürger*innen. Siehe „Reichsdeutsche Zellen und Deutschbrasilianertum”, Aktion, 18. März 1935, p.2. Jede*r sechste Einwohner*in von Rio Grande do Sul war gebürtige*r Deutsche*r. Siehe Nicolas Forster, Die deutschsprachige Minderheit in Brasilien in der Zwischenkriegszeit (München, GRIN Verlag, 2017). https://www.grin.com/document/366369; Michael Mulhall, O Rio Grande do Sul e suas colônias alemãs (Bels, 1974).

(6) Zitiert in Bartelt, „’Fünfte Kolonne’ ohne Plan”, S.1. Siehe auch Jürgen Müller, Nationalsozialismus in Lateinamerika: die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko, 1931-1945 (Heinz, 1997).

(7) Rene Gertz, O fascismo no sul do Brasil: germanismo, nazismo, integralismo (Porto Alegre, RS: Mercado Aberto, c1987), 82; Frederik Schulze, Auswanderung als nationalistisches Projekt: ‘Deutschtum’ und Kolonialdiskurse im südlichen Brasilien (1824–1941) (Köln, Weimar: Böhlau Verlag, 2016), 101.

(8) Die Naziparteizelle von Porto Alegre wurde im Dezember 1931 gebildet und zählte 120 Mitglieder.

(9) „Gestapo-Agenten,” Aktion, 18. Nov. 1935, S.6. Als ein deutsches Unternehmen den Bau einer Eisenbahnlinie in Rio Grande do Sul übernahm, zwang es die Mitarbeiter, auch die nicht deutschen, der Arbeitsfront beizutreten. Jeden Morgen wurde vor Arbeitsbeginn ein militärischer Appell abgehalten.

(10) „Gestapo-Agenten,” Aktion, 10. Januar 1936, S.3.

(11) Forster, Die deutschsprachige Minderheit.

(12) „A organização da ‘Sociedade Caixa Beneficente Navegantes Mitteilungsblatt,” A Federação (Porto Alegre), August 4, 1934. Navegantes ist ein deutschbrasilianisch geprägtes Viertel in Porto Alegre.

(13) Kniestedt, Fuchsfeuerwild: Erinnerungen eines anarchistischen Auswanderers nach Rio Grande do Sul, memórias de Friedrich Kniestedt (1873-1947) (Hamburg: Verlag Barrikade, 2013), 170.

(14) Kestler, Die Exilliteratur, 135.

(15) Bericht im katholischen Deutschen Volksblatt, zit. in Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 171.

(16) „Vereinsnachrichten,” Aktion, 20. März 1934, S.4.

(17) „Aufruf,” Aktion, 10. Oktober 1935, S.5.

(18) „Liga für Menschenrechte,” Aktion, 15. Februar 1935, S.4.

(19) Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 148; Imgart Grützmann, „NSDAP-Ortsgruppe Porto Alegre, comemorações do 1º de Maio (1933-1937), participantes,” História Unisinos, Vol. 22, Nr. 2 (2018), pp. 274-289. Die Liga organisierte auch einen Vortrag über den Haymarket und die Bedeutung des 1. Mai. Siehe Aktion, 1. und 24. Mai 1935, S.6

(20) Kestler, Die Exilliteratur, 135; „Rück- und Ausblick,” Aktion, 23. Dez. 1935, S.1.

(21) Siehe die „Briefkasten“-Abschnitte in Aktion und Alarm; Brief Kniestedts an Helmut Rüdiger, 19. März 1937, Dossier ‚Bestellungen etc.; Korrespondenz.‘ (Pedidos etc.; correspondencia). Correspondencia internacional de Helmut Rüdiger de la Delegación Permanente de la AIT en Barcelona. Federación Anarquista Ibérica Archives, IISH. Ich danke Dieter Nelles für seinen diesbezüglichen Hinweis.

(22) „Liga für Menschenrechte,” Aktion, 31. Aug. 1934, S.4; „Vereins-Angelegenheiten,” Aktion, 31. Okt. 1935, S.6.

(23) „Liga für Menschenrechte,” Aktion, 15. Dez. 1934, S.4.

(24) Kniestedts Livraria Internacional war Buchhandlung und Leihbücherei zugleich. Ihr Sortiment umfasste u.a. Bücher oppositioneller Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger und Erich Maria Remarque; eine deutsche Übersetzung von Edgar Ansel Mowrerss Germany Puts The Clock (1933); Sibirische Garnison (1927) des rumänischen Schriftstellers Rodion Markovits; eine frühe Schilderung der NS-Lager unter dem Titel Konzentrationslager: Ein Buch der Greuel! Die Opfer klagen an (1935), aber auch anarchistische Literatur von Autoren wie Kropotkin und Tolstoi.

(25) „Vorbeigelungen“, Alarm, 15. Feb. 1937, S.15. Einigen Kommunisten war Kniestedts Antistalinismus ein Dorn im Auge. 1935 machten sie mehrfach gemeinsame Sache mit den Nazis vor Ort, um die Liga zu unterminieren. Siehe „Sieg?” Aktion, 28. Feb. 1935, S.5; „Vom Kriegsschauplatz”, Aktion, 18. Apr. 1935, S.5.

(26) „Liga für Menschenrechte”, Aktion, 18. Juni 1934, S.4. „Flüchtlinge,” Aktion, 31. März 1935, S.6.

(27) Zit. in Kestler, Die Exilliteratur, 136.

(28) Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 180; „Processos pro crime de injurias impressas”, O Estado (Florianopolis), 9. Juni 1934, S.4.

(29) „Liga für Menschenrechte”, Aktion, 31. Jan. 1935, S.4.

(30) „Rück- und Ausblick”, Aktion, 23. Dez. 1935, S.1; Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 184.

(31) Fuchsfeuerwild, 176; „Warum?”, Alarm, 15. Feb. 1937, S.12.

(32) Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 175.

(33) Das andere Deutschland Bd. 5, Nr. 54 (Sept. 1942), 34. Kniestedt war ein offizieller Vertreter der Bewegung.

(34) Gertz, „Operários alemães,” 81.

(35) „Mein Kampf, oder besser, der Kampf der Nazis gegen meine Person,” Aktion, 1. Mai 1935, S.5-6.

(36) Im Januar 1934 schreibt Kniestedt einen Brief an den deutschen Konsul Walter Mulert und fordert ihn auf, die Belästigungen einzustellen. Siehe Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 177.

(37) Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 182; „Volksschädlinge,” Aktion, 30. Nov. 1934, S.1; siehe auch Brooklyn Daily Eagle, 4. Nov. 1934; Jornal do Brazil (Rio de Janeiro), 4. Nov. 1934, S.7.

(38) Das andere Deutschland Bd. 5, Nr. 52 (Juli 1942), S.15.

(39) Keller, „In eigener Sache,” Das andere Deutschland Bd. 70, Nr. 80-1 (April 1944), S.19.

(40) Schulze, „Von verbrasilianisierten Deutschen und deutschen Brasilianern: “Deutschsein” in Rio Grande do Sul, Brasilien, 1870- 1945”, Geschichte und Gesellschaft Bd. 41, 2 (Juni 2015), 223

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Grafikquellen          :

Oben        —        wikimedia commons bilder friedrich kniestedt.

Polizeifoto von Friedrich Kniestedt. Foto: http://www.estelnegre.org/documents/kniestedt/kniestedt.html

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Unten      —      wikimedia commons bilder friedrich kniestedt.

Friedrich Kniestedt und seine Lebensgefährtin Elisa Hedwig in der Internationalen Buchhandlung in Porto Freudig

Foto: http://www.estelnegre.org/documents/kniestedt/kniestedt.html

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Krieg – Früher wie Heute

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Juli 2023

Kalte Kriegspolitik – früher und heute

NEPP der Rechtsfüßler – EU – Political Assembly

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Wilma Ruth Albrecht

Nancy Faeser aus der internationalen Anwaltsindustrie (Clifford Chance mit einem 2019/20 ausgewiesenen Umsatz von 1,8 Milliarden GBP/Pfund), seit Ende 2019 erste SPD-Bundesministerin für Inneres & Heimat der Berliner Ampelkoalition, legte am 15. Februar 2023 im Kabinett ihren Entwurf eines „Gesetzes zur Beschleunigung der Disziplinarverfahren in der Bundesverwaltung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“ zur Beschlussfassung vor.

Mit diesem Gesetz sollen angeblich extreme (gemeint rechtsextreme) „Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem öffentlichen Dienst“ entlassen werden können. Der Obmann der Grünen im Innenausschuss des Bundestags, Marcel Emmerich, forderte eine Nachschärfung des Bundesgesetzes, nämlich eine Fristenausweitung auf schon vergangene Dienstverstöße. Der vom Kabinett verabschiedete Faeser-Gesetzentwurf orientiert sich an einer vorangegangenen Regelung des Bundeslands Baden-Württemberg, das Disziplinarmaßnahmen mittels eines Verwaltungsaktes anordnete. Dies wurde später ausdrücklich vom Bundesverfassungsgericht gebilligt.

Damit knüpft Faeser an den sogenannten Radikalenerlass (Extremistenbeschluss) vom 28. Januar 1972 der SPD/FDP-Bundesregierung unter Willy Brandt sowie den Adenauererlass vom 19. September 1950 der Koalition von CDU/CSU, FDP, DP an. Hintergrund dieser Erlasse war es, die Kräfte, die sich gegen eine einseitige bundesrepublikanische Westorientierung (vor allem im Sinne von USA und NATO) engagierten sowie für eine Öffnung gegenüber der damaligen UdSSR eintraten, öffentlich zu diskriminieren und lebensunterhaltlich zu schädigen. Zielten diese Erlasse in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren vorwiegend auf vermeintlich im linken Spektrum verortete Kräfte, so heute auf solche im angeblich rechten Spektrum.

Diese Zuordnung war früher falsch und ist auch heute nicht richtig. Das wird deutlich, wenn man sich die Aufsätze Diether Possers (1922 bis 2010) in seinem Sammelband „Anwalt im Kalten Krieg“ von 1991 anschaut, den ich neulich wieder in die Hand nahm und diesmal gründlich las.

Diether Posser war promovierter Jurist, Sozius in der Anwaltskanzlei des späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann in Essen, Mitglied der 1952 gegründeten Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), nach deren Selbstauflösung 1957 SPD-Mitglied, 1968-1988 in Nordrhein-Westfalen Minister für Bundesangelegenheiten, danach dort Justiz- und Finanzminister, stellvertretender Ministerpräsident und 1970-1986 im Parteivorstand der SPD. Er erinnert an den „Kalten Krieg“ mit seinen politisch-justiziellen Verfolgungen von Pazifisten, Kriegsgegnern, Verständigungspolitikern zwischen Ost und West, Gewerkschaftern, Kommunisten und anderen in der BRD und auch von Menschen, die in der DDR als Spione verdächtigt oder überführt wurden. Angesprochen wird auch die politische Vereinnahmung der Justiz, ihrer Institutionen und Rechtsgrundsätze. Posser berichtet über Fälle, in denen er als Anwalt selbst tätig wurde.

Einleitend werden vom Autor „Kriegsende und Kalter Krieg“ skizziert. Posser war Kriegsteilnehmer, kam kurz in russische Gefangenschaft, bis er den Amerikanern überstellt wurde und bis 1947 in französischer Gefangenschaft war. Nach Freilassung und abgeschlossenem Jurastudium unterstützte er Gustav Heinemann (CDU), der im Oktober 1950 als Bundesinnenminister aus der Adenauer-Regierung austrat und 1951 eine Anwaltskanzlei in Essen gründete.

Heinemann war, bevor er in die Regierung eintrat, Vorstandsmitglied und Leiter der Hauptverwaltung der Rheinischen Stahlwerke (heute Rheinstahl AG), Oberbürgermeister von Essen, NRW-Landtagsabgeordneter und Präses der gesamtdeutschen Synode der Evangelischen Kirche. Er schied am 10. Oktober 1950 aus der Bundesregierung aus, nachdem Bundeskanzler Adenauer in der Kabinettssitzung am 31. August 1950 mitgeteilt hatte, dass er dem US-Hochkommissar McCloy zugesagt habe, ein Kontingent von 150.000 Mann für eine europäische Verteidigungsarmee bereitzustellen. Dadurch würde – nach Heinemanns Einschätzung – eine friedliche Wiedervereinigung zunichte gemacht. Er gründete mit anderen die Gesamtdeutsche Volkspartei (GDV), die sich gegen die Aufrüstung in Ost- und Westdeutschland, für Verständigung zwischen Christen, Sozialisten, Kommunisten, für Volksabstimmungen und für nationale deutsche Einheit aussprach. Damit wandte sich die GVP gegen Adenauers militanten Antikommunismus und Antisowjetismus, der mit bewussten Verleumdungen und Lügen vor dem Parlament und in der Öffentlichkeit vorgetragen wurde.

Zurück zu Posser: Der glaubte in der Zurückweisung der sowjetischen diplomatischen Initiativen, insbesondere der sogenannten Stalinnoten zur Wiedervereinigung von 1952 durch Adenauer, einen großen politischen Fehler zu erkennen. Im Hauptteil des Buches werden spektakuläre politische Gerichtsfälle vorgestellt:  Angeklagt waren beispielhaft die katholischen Pazifistin, Frauenrechtlerin und Hochschullehrerin Klara Maria Fassbinder (1890-1974), der Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaftsfunktionär Viktor Agartz (1897-1964), das CDU-Mitglied und der Verständigungspolitiker Wilhelm Elfes (1884-1969), die KPD-Mitglieder und Abgeordneten Karl Schabrod (1900-1981) und Heinz Renner (1892-1964) und der Widerstandskämpfer, Journalist und IG-Metallfunktionär Heinz Brandt (1909-1986). Dargestellt werden auch einige politische Prozesse gegen Organisatoren des „Programms der nationalen Wiedervereinigung Deutschlands“ oder des „Hauptausschusses für Volksbefragung“, später gegen „Remilitarisierung und für einen Friedensvertrag“ 1951/52 und gegen die Freie Deutsche Jugend (FDJ-Vereinsverbot 1952) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 1951-1956. Posser verweist auf problematische Gerichtsentscheidungen und umstrittenes Justizpersonal im Zusammenhang mit den politischen Prozessen in der BRD und geht dabei auch auf das ehrengerichtliche Verfahren 1955 gegen sich selbst ein.

Sein Vermächtnis prägt auch noch heute die Politik

All diese Verfahren waren nur möglich, weil die Adenauer-Regierung sich auf ehemalige Nazi-Funktionäre stützen konnte: auf Staatsanwälte, Bundesrichter, Regierungsbeamte, Rechtswissenschaftler wie Paulheinz Baldus (1906-1971), Friedrich Wilhelm Geier (1903-1965), Theodor Maunz (1901-1993) und viele andere. Und manche wirkten sogar noch in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit der Berufsverbotepolitik.

Dabei kam es zu nachhaltigen juristischen Spitzfindigkeiten gegen politisch Andersdenkende und Gegner: Schon bei Klara Maria Fassbinder wurde 1953 das Disziplinarrecht missbraucht, um sie als Professorin der Pädagogischen Akademie Bonn zu entlassen; Wilhelm Elfes wurde über das Passgesetz durch Verweigerung eines Reisepasses gezwungen, seine internationalen Friedens- und Verständigungsaktivitäten einzuschränken; und wie selbstverständlich wurde auch der politische Gegner bezichtigt, unrechtmäßige Geldzahlungen eingenommen zu haben wie im Fall des KPD-Bundestagsabgeordneten Heinz Renner, der angeblich zu Unrecht Entschädigungszahlungen als politisch Verfolgter des Nationalsozialismus erhalten haben soll.

Im Sinne zeitgeschichtlich-rückblendender Erinnerung mag die (erneute) Lektüre des Aufsatzbandes von Diether Posser nützlich sein. Gewiss gilt grundsätzlich: Geschichte wiederholt sich nicht. Auch wenn sich viele der von den jeweils Mächtigen benutzten Methoden und Mittel von Unterdrückung und Repression gegen aktive Dissenter nicht ändern. So wurde im April 2021 in allen Staatsschutzbehörden der „Phänomenbereich“: „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet, um „Verunglimpfung und Verächtlichmachung“ von staatlichen Institutionen und Repräsentanten zu erfassen. Damit werden höchst problematische Begrifflichkeiten übernommen, die das Bundesverfassungsgericht 1952 beim Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) ausprägte. Auf dieser Grundlage können und werden nun Kritiker bestimmter politischer Maßnahmen der Regierung vom Staatsschutz überwacht werden.

Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951-1968, Bertelsmann, München 1991, 474 Seiten.

Dr. Wilma Ruth Albrecht, Sprach- und Sozialwissenschaftlerin, belletristische und sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen, lebt in Bad Münstereifel.

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Oben      —    EPP Political Assembly, 04-05 May, Munich

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Im Pariser Mai 68

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Juli 2023

„Überall muss das Unglück zurückgeschlagen werden“

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Vieles hat sich verändert – nur die Dummheit der Politiker-innen nicht

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von              :      Hanna Mittelstädt

René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68. Zur Neuherausgabe der deutschsprachigen Ausgabe von René Viénet, Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68 in der Edition AV.

Ein Auszug aus dem aktuellen Vorwort:Schnell! war eine der Parolen, die im Pariser Mai 1968 auf den Mauern auftauchten. Schnell ist auch dieses Buch erschienen. Das französische Manuskript wurde schon Ende Juli 1968 an den Verlag Gallimard übergeben. Es enthält eine genaue Schilderung der Ereignisse mit Schwerpunkt auf Paris und Umgebung (die Universitäten, die Fabriken und Unternehmen) und im Anhang Flugblätter und andere Dokumente. Es ist eine parteiliche Zusammenstellung, keine ausgewogene oder wissenschaftliche Darstellung. Die Texte geben die Unbedingtheit der Forderungen, die Direktheit der Gesten wieder und verströmen die empfundene Dringlichkeit des Projektes, seine ganze Heftigkeit.In deutscher Übersetzung erschien das Buch 1977 in einer einmaligen Auflage in der Edition Nautilus (Übersetzung Pierre Gallissaires und Barbara Merkel) und war seit langem vergriffen. Für die neue Ausgabe konnte die damalige recht rohe Übersetzung bearbeitet und ein neues Vorwort beigesteuert werden.

Die Situationistische Internationale, deren Mitglied der Autor René Viénet seit 1966 war, hatte seit ihrer Gründung Mitte der fünfziger Jahre an einer „Neudefinition der Revolution“ gearbeitet und diese Art einer autonomen Eruption ausserhalb der üblichen Institutionen der Arbeiterbewegung, wie sie im französischen Mai 68 hervorbrach, vorhergesehen. Die Situationisten waren also in gewisser Hinsicht vorbereitet und hatten ein Verständnis von dem, was sich abspielte. Sie hatten ein begriffliches Instrumentarium entwickelt und konnten so in die Unruhe, die sich ausbreitete, praktisch intervenieren.

Dass sich in Frankreich, anders als z.B. in Deutschland, diese Art des Denkens entfalten konnte, lag unter anderem auch an den unterschiedlichen Auswirkungen des gerade beendeten faschistischen Regimes. Während in Deutschland die revolutionären Erfahrungen der Klassenkämpfe durch die extreme Zäsur des Nationalsozialismus, den Angriffskrieg und die rassistische Vernichtungsmaschine abgewürgt waren und die Nachkriegsgeneration mit der Einhegung der grauenbeladenen Schuld beschäftigt war, hatte sich der antifaschistische Widerstand Frankreichs in den hegemonialen Vorstellungen der Résistance kondensiert. Diese Kommandovorstellungen der KPF mit ihrem Heldenpathos galt es nach Kriegsende zu demontieren und statt dessen die Bezüge zur Pariser Commune und zur Räteorganisation aufzufrischen und zu beleben, um zu neuen Aktionsformen und einer neuen Sicht auf die Gesellschaft und ihre Veränderung zu gelangen.

So hatten die Situationistischen im November 1966 eine „vorbereitende“ Aktion unternommen, indem sie mit einigen Studenten der Universität Strassburg eine Broschüre in grosser Auflage publiziert und verteilt hatte, welche die Zurichtung der studentischen Ausbildung auf die kapitalistischen Verwertungsinteressen und das damit einhergehende Elend im Studentenmilieu offenlegte (Über das Elend im Studentenmilieu), das schnell etliche Störmanöver an den Universitäten ausgelöst hatte. Die Eskalation dieser Störungen führte von der Universität Nanterre aus zur Besetzung der Sorbonne, zur Öffnung der Universität für alle, zu Strassenkämpfen im Quartier Latin mit Errichtung von bis zu sechzig Barrikaden, zu Fabrikbesetzungen in ganz Frankreich. Die Chronologie ist in diesem Buch aufgezeichnet.

Schnell griff der Impuls des Widerstands auf alle möglichen Bereiche der Gesellschaft über, von den Student*innen und Arbeiter*innen zu den Fussballern, die ihren Sport von den Bossen zurückverlangten, zu den jungen Ärzten, die die Funktion der medizinischen Ausbildung und Versorgung der Menschen zu Diensten des kapitalistischen Funktionierens denunzierten, die Werbeleute, die die Abschaffung der Werbung forderten, die Angestellten des Medienkaufhauses FNAC, die ohne eigene Forderungen in den Streik traten, um ihre Solidarität kundzutun, die Menschen, die in den umkämpften Vierteln wohnten und freigiebig Essen, Wasser gegen das Tränengas und kurzzeitiges Asyl vor polizeilichen Verfolgungen boten.

Wir sind nichts, wir werden alles! ist die Parole, die eine „jugoslawische Genossin, die viel weiss“, ihrem Text in diesem Buch voranstellte. Sie fordert „Gesten, die keine Bezahlung verlangen; die spontane Organisation in den Händen der Produzenten; die leidenschaftliche Organisation und die Grosszügigkeit als Komplizin …“ Das versteht sie unter der Macht der Arbeiterräte. Die Macht zerstören, ohne sie zu ergreifen, nennt sie „erlebte Poesie“. „Die Revolution kann nur alltäglich sein, wenn man gegen die Faszination der Macht kämpft. Der Wunsch zu beherrschen, bleibt noch das Gesetz des Augenblicks, die Mentalität des befreiten Sklaven, der Schwindel des Gehorsams … die Mystik der Institutionen und die Religion der Ordnung. … Wir sind alle Herren oder wir sind nichts. Unter dieser Bedingung wird die Arbeit ein grosser Lachanfall oder alles. Es lebe die Macht der Arbeiterräte. Nieder mit der jugoslawischen Selbstverwaltung.“

Es versteht sich von selbst, dass der neue Begriff von „Selbstverwaltung“ nicht bedeutete, das Vorhandene oder hierarchisch Bestimmte selbst zu verwalten, sondern autonom zu entscheiden, was und wie gemeinsam verwaltet, oder eher organisiert, produziert, gelebt werden soll. Die generalisierte Selbstverwaltung bedeutete im Sprachgebrauch der Situationisten nichts weniger als die bewusste Bestimmung des gesamten Lebens durch alle, d.h. die geschichtliche Konstruktion der freien individuellen Beziehungen, in der die Räte die einheitliche und permanente individuelle und kollektive Emanzipation ermöglichen, indem sie das Imaginäre der Geschichte verwirklichen. Jeder revolutionäre Moment führt zur sofortigen Steigerung der Lebenslust, und aus jeder praktischen Aktion filtert sich die theoretische Verbesserung (und umgekehrt). Die Selbstverwaltung ist Mittel und Zweck des Kampfes, Form und Inhalt, sie ist die Materie, die sich selbst bearbeitet.

Lauf schneller, Genosse, die alte Welt ist hinter dir her!

Im französischen Mai 68 war die Bewegung der Besetzungen (mit 11 Millionen wild, d.h. spontan und ohne das Einverständnis und die Struktur von Gewerkschaften und linken Parteien streikenden Arbeiter*innen) das grösste revolutionäre Ereignis seit der Pariser Kommune. Es war der erste wilde Generalstreik der Geschichte, und in diesem Monat Mai bildeten sich erneut Strukturen der direkten Demokratie heraus (Vollversammlungen, jederzeit abrufbare Delegierte, Aktionskomitees, Besetzungskomitees). Die Staatsmacht wich in einem heute kaum mehr vorstellbaren Mass zurück. Dieser Nullpunkt der Macht dauerte nur einen kurzen Moment, dann vereinigten sich die Führungskräfte der Alten Welt zum Gegenschlag, und die Besetzungen wurden mit allen Mitteln aufgelöst: Versprechungen, Lügen, militär-polizeiliche Gewalt. Seit den weltweiten sozialen Infragestellungen der „Alten Welt“ der späten sechziger Jahre verschärfte diese ihre Verteidigungslinien in Form von Kriegsmaschinen, die keinen Nullpunkt mehr zulassen sollen und die dabei sind, ihre Herrschaft auf den gesamten Menschen (physisch und mental) auszudehnen.

Die „Alte Welt“, das war damals die Welt der Familie, der Religion, der Konventionen, die Identifizierung mit der gesellschaftlichen Rolle, die vorhandenen und verknöcherten Institutionen des Klassenkampfes. All das wurde im Moment des Aufstands über den Haufen geschmissen, mit grosser Wucht und wenig praktischen Erfahrungen, was sicher die Schwäche dieses Aufstands wie vieler anderen gescheiterten Aufstände ausmacht.

Was andererseits die Stärke dieses Aufstands (und vieler anderer ebenso) auszeichnet, ist das spontane Wissen, dass alle Entfremdungen zusammen und gemeinschaftlich abgelehnt werden müssen, dass keine Ideologie mehr Gültigkeit hat und dass alle alten Institutionen ausgedient haben. Das Verlangen nach direktem Dialog, nach dem freien Wort, nach echter Gemeinschaft schuf sich in den besetzten Gebäuden Raum, die verhasste entfremdete Arbeit wurde für wenige Wochen ersetzt durch das Spiel und das Fest und die praktische Solidarität. „Ein Hauch von Wahnsinn lag in der Luft“, beschrieb Le Monde die Atmosphäre. Frauen und Männer, Franzosen und Menschen aus anderen Ländern kämpften spontan und gemeinschaftlich. Sie waren nicht mehr getrennt nach Hierarchien, Funktionen oder Rollen, sie kommunizierten in einer gemeinsamen Raum-Zeit. Die kapitalisierte Zeit stand still.

Wütende aller Länder, vereinigt euch!

Der Text René Viénets und die Dokumente im Anhang, ihr Ton (grossmäulig, zumeist männlich, heftig, ungezügelt etc.) und ihre Angriffslust mögen für viele eine Zumutung sein, damals wie heute. Sie zeigen uns heutigen Lesenden den Unterschied auf zum aktuellen Diskurs in einer „gezügelten“ Sprache. Sie öffnen einen geschichtlichen Raum: So fing es an, hier stehen wir heute. Wir haben an Sensibilität gewonnen, an Achtsamkeit, an Vorsicht, Rücksichtnahme, Respekt vor Schwächen, Blick auf Diversitäten. Aber wir haben auch verloren, die Wertschätzung des Negativen als Kraft der Aufhebung, d.h. der echten Veränderung, das Bewusstsein über die Notwendigkeit des Bruchs, die Verweigerung und die klare Sicht auf unsere Einbindung in die Gesellschaft des Spektakels, in die Logik der Ware, auf welcher Stufe ihrer Hierarchie auch immer.

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Das, was die Situationisten die „totale Emanzipation“ nannten, die universelle und einheitliche Befreiung ohne jede Trennungen, ist fast gänzlich aus der Debatte verschwunden. Seitdem die „Überflussgesellschaft“ durch den kapitalistischen globalen und totalen Extraktivismus zu einer Gesellschaft des Ausnahmezustands geworden ist, die ständig im Modus von Katastrophe, Krieg und Kollaps operiert, fordert die ideologische Zurichtung ein verstärktes Zusammenstehen, um die permanente Krise zu bewältigen. Wir sollen nun die Welt, wie sie ist oder wie sie vermeintlich einmal war, durch Verzicht und ständige Anpassung an die weiterentwickelten Ausbeutungsformen gemeinsam retten. Der damals so heftig vollzogene Bruch mit der „Alten Welt“ der hierarchischen Ausbeutung kann uns noch einmal vor Augen führen, wie total oder auch totalitär die aktuellen Klassenverhältnisse auf die Menschen zugegriffen haben, wie weit sich das „Spektakuläre“ von einer äusserlichen Entfremdung in den Menschen hineingefressen hat. So dass es heute noch klarer als damals ist, dass alles zusammenhängt und alles „total“ und einheitlich, d.h. universell verändert werden muss.

Es ist kein Wunder, dass die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich 2018, genau sechzig Jahre nach dem Mai 68 und mitten in einem sich seit Jahren im Ausnahmezustand befindlichen Land, die Spur der „wilden Streiks“ und der „wilden Demokratie“, der wilden Organisations- und Aktionsformen wieder aufgenommen hat. Und dass sie wie ein Gespenst der Revolution wieder aufgetaucht ist, das die herrschende Klasse zu sofortiger und brutaler Bekämpfung durch ihre Anti-Aufstandseinheiten und durch permanente mediale Denunziation veranlasste. Die Schmach der staatlichen Schwäche im Mai 68 sollte sich nicht wiederholen. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass das, was im Mai 68 einen Monat angehalten hat, bei den Gelbwesten mehr als ein Jahr andauerte, und dass die Formen der Aktionen und Vernetzung erheblich weiterentwickelt wurden. So konnte in der Gegenwart die Vergangenheit verbessert und die Tür zum verdrängten Imaginären wieder einen Spalt geöffnet werden.

Da sich die Lebensverhältnisse im Modus von Krieg und Krise nicht verbessern lassen, sondern weiter verschlechtern werden, werden auch Verweigerung und Bruch wieder wichtige Impulse werden. Autonome Strukturen des Gemeinsamen zu finden, d.h. menschliche Sicherheit und Fürsorge, planetare Nachhaltigkeit, Gesundheit für alle, Freiheit der Vielen Verschiedenen, den globalen Schutz der menschlichen und ökologischen Singularitäten in einer Gesellschaft ohne Ausbeutung zu gestalten, das heisst, die „Bewegung des Kommunismus“ als ein ständiges Werden anzugehen. Und vielleicht können die Unverschämtheit der Thesen dieses Buches, ihre Grossmäuligkeit und Frechheit uns heute, mit dem Abstand von sechzig Jahren, ein grosses Lachen schenken, das Lachen, von dem die jugoslawische Genossin, die viel weiss, sprach und das uns die Möglichkeiten einer Öffnung in eine gänzlich andere Welt aufzeigt, in unsere Autonomie und Selbstbestimmung jenseits der spektakulären Warengesellschaft.

René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68. Edition AV, Bodenburg 2023. 281 S., ca. 24.00 SFr., ISBN 978-3-86841-292-5.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —      Posters on a wall – the remnants of May 1968.

Urheber Robert Schediwy           /        Quelle    :     Selbst fotografiert    /      Datum       :    Juli 1968

Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.

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Unten     —         Antikriegsdemonstration in den USA, 1968

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Die Politik der Inlandsspione

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Juli 2023

Kritik am deutschen Verfassungsschutz

Von Till Schmidt

Der Journalist Ronen Steinke nimmt in seinem Buch den Verfassungsschutz ins Visier – vor allem dessen große Macht, im Inland Personen auszuspionieren.

Im Vergleich zu anderen liberalen Demokratien ist der deutsche Verfassungsschutz ein Unikum. Trotz ähnlicher Bedrohungen, wie sie etwa in den USA, Frankreich oder in Österreich vor allem von Rechtsextremen ausgehen. Das FBI, der Inlandsgeheimdienst DGSI oder die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst sind anders konzipiert.

Ronen Steinke hat nun ein neues Buch veröffentlicht, das sich mit den Aufgaben und der Funktionsweise der hiesigen Verfassungsschutzämter beschäftigt. Man könnte auch von einem pointierten Profil sprechen, das der Jurist, Journalist und Buchautor angelegt hat: Auf knapp 200 Seiten geht Steinke mit den gewachsenen Strukturen, dem Selbstverständnis und dem konkreten Agieren der Verfassungsschutzämter ins Gericht – und das mitunter sehr hart.

Steinke schildert anschaulich, wie folgenreich etwa eine Nennung in den Verfassungsschutzberichten für Organisationen und ihnen angehörende Einzelpersonen ist. Ein bekanntes Beispiel aus den letzten Jahren ist der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Anti­faschisten), dem durch eine später wieder rückgängig gemachte Aberkennung seiner Gemeinnützigkeit exis­tenzgefährdende Steuernachzahlungen drohten.

Oder Klimaaktivist:innen, die von manchen Ämtern gar nicht wegen ihrer Protestmethoden, sondern schon wegen politisch relativ gemäßigter Forderungen als „Verfassungsfeinde“ gelten.

An den Grundrechten rütteln

Die Argumentationen, die zu solchen Einschätzungen seitens der Behörden führen, sind häufig alles andere als stichhaltig. Bei genauerem Hinsehen würden die als Beweis für eine Verfassungsfeindlichkeit angeführten Aussagen häufig sogar solide auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Denn wirtschaftspolitisch ist das Grundgesetz eigentlich „ziemlich offen“, schreibt Steinke. Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung von unliebsamen politischen Akteuren.

Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung

Seehofer musste gehen und ließ den Haldenwang allein im Regen stehen ?

Steinke geht es nicht unbedingt darum, politisch Partei zu ergreifen für die von den Behörden ins Visier genommenen Gruppen. Als Verteidiger eines liberalen Rechtsstaates stört er sich vor allem daran, wie stark mitunter an Grundrechten wie Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gerüttelt wird sowie linke und rechte Gruppierungen mit Doppelstandards beurteilt werden. Steinke kritisiert die deutschen Verfassungsschutzämter als „Politik-Beobachtungs-Geheimdienst“.

Aspekte wie behördliche NS-Kontinuitäten, die Zeit des „Radikalenerlasses“ oder die Mordserie des NSU behandelt Steinke relativ knapp. Besonders spannend sind die Kapitel zur digitalen Quellen-Überwachung und der Präsenz der Ämter in den sozialen Medien. Hierfür hat sich Steinke auch mit Agenten und ehemaligen Mitarbeitern getroffen. An diesen Stellen liest sich das Buch teils wie eine Reportage.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen 

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Oben     —     Buildung of the Federal Office for the Protection of the Constitution in Berlin

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Der Glaube an die Medien

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Juni 2023

So verlor ich den Glauben an die etablierten Medien

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Helmut Scheben /   Wenn Nachrichten sich später als falsch erweisen, sind sie in der Erinnerung oft schon als «historische Wahrheit» eingebrannt.

Während und nach dem Golfkrieg von 1991 war es den Medien in den USA verboten, Bilder von Särgen toter US-Soldaten zu zeigen. Die Massnahme wurde erst im Februar 2009 aufgehoben. Auch das Filmen toter oder verwundeter US-Soldaten war verboten, und das Verbot wurde vor allem im Irak-Krieg mit extremer Härte durchgesetzt, wie Kameraleute berichteten. Als ich einmal im riesigen Archiv des Schweizer Fernsehens solche Aufnahmen suchte, fand ich eine einzige Sequenz, die etwa drei Sekunden dauerte. Ein amerikanischer Soldat versuchte da, aus einem brennenden Panzer zu klettern.

Drei Sekunden von tausenden Videos, die in diesem Krieg gedreht worden waren. Drei Sekunden, die – wie deutlich erkennbar – auf einen Fehler eines Cutters zurückzuführen waren, der ein IN oder OUT falsch gesetzt hatte, sodass Material sichtbar wurde, welches eigentlich der Zensur hätte anheimfallen sollen.

Szenen einer Niederlage werden seit Vietnam nicht mehr gezeigt. Also gibt es keine Niederlagen mehr, denn die auf zweieinhalb Minuten komprimierten TV-News sind es, die in unseren Köpfen Geschichte schreiben

In seinem Buch «Liberty and the News» konstatierte 1920 der US-amerikanische Journalist und Medientheoretiker Walter Lippmann:

«Die Zeitungsspalten sind öffentliche Informationsträger. Wenn diejenigen, die sie kontrollieren, sich das Recht herausnehmen, zu bestimmen, was zu welchem Zweck berichtet werden soll, dann kommt der demokratische Prozess zum Erliegen.»

(Lippmann S.24) 

Ich hätte mir noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, dass mein morgendlicher Gang zum Briefkasten, um die Zeitungen zu holen, begleitet sei von einem leisen Kontrapunkt aus Widerwillen und Langeweile. Ich habe gern zum Morgenkaffee Papier in der Hand, statt auf einen Bildschirm zu schauen. Die Lektüre nimmt indessen von Jahr zu Jahr weniger Zeit in Anspruch. Das liegt zum einen daran, dass viele Themen mich nicht mehr interessieren, zum Beispiel die ewige Seifenoper britischer Royals, die täglich obligatorischen LGBTQ-Probleme, die Me-Too-Befindlichkeit von Groupies bei Rockkonzerten oder parlamentarische Untersuchungen, die herausfinden sollen, warum im Finanzkasino Banken an die Wand fahren.

Die wirklichen Probleme der meisten Menschen, der Krieg in der Ukraine, der eskalierende Konflikt zwischen USA und China, also Vorgänge, die das Leben von Millionen Steuerzahlenden derzeit verändern und künftige Generationen belasten (Aufrüstung, Inflation, Energiepolitik, Sanktionspolitik, Asylwesen etc.) werden aber in unseren führenden Medien mit einem derart reduzierten Blickwinkel dargestellt, dass es mich fassungslos macht. Die Realitätsverweigerung erfolgt mit einer an Tollwut grenzenden Selbstverständlichkeit.

Von 100 Artikeln gibt es keine 5 aus der Sicht der anderen Kriegspartei

Ich habe mir die Mühe gemacht, als Beispiel den Zürcher Tages-Anzeiger, den ich abonniert habe, auf Einseitigkeit zu prüfen. Vom Angriff Russlands im Februar 2022 bis zum Jahresende 2022 habe ich rund einhundert Artikel angeschaut, die direkt vom Ukraine-Krieg handeln.  Beim hundertsten Bericht war ich erschöpft von immer dem Gleichen. Fast alle schildern das Leid und das Heldentum der Westukraine in dem russischen Angriffskrieg und – in schrillen Farben – die Verbrechen Russlands.

Kenner von Waffensystemen und Geostrategie repetieren unaufhörlich, warum Russland besiegt werden muss, und die Investigativen kennen kaum mehr anderes als die Jagd nach irgendeinem Russen oder einer Russin, denen man noch das Vermögen enteignen könnte.

Auf hundert Artikel habe ich keine fünf gefunden, die informierten, was auf der anderen Seite der Front passiert. Das Leid der pro-russischen Ukrainer unter den Raketenangriffen und dem Artilleriefeuer der pro-westlichen Ukrainer ist keiner Erwähnung wert. Die Menschen hinter der Frontlinie scheinen für unsere grossen Medien nicht zu existieren. Berichtet wird ausschliesslich mit der Optik der NATO, also mit der Optik einer Rüstungs-Lobby, die weltweit als Brecheisen der Ordnungsmacht USA funktioniert.

Die Einseitigkeit der Berichte entspringt der Einseitigkeit der Quellen. Neben dem unausweichlichen britischen Geheimdienst (ob 007 mitarbeitet, bleibt bisher im Dunkel) sind die täglichen Quellen unserer «Benachrichtigung»:  Präsident Selensky und seine Entourage in Kiew sowie seine Freunde in Brüssel, London, Washington und die zugehörigen Experten und NATO-Denkfabriken. Die Russen erscheinen hauptsächlich als Verbrecher, die ihre Verbrechen leugnen.

Und wenn ein Damm bricht, der russische Verteidigungsstellungen und ein von Russland besetztes Gebiet weitgehend überschwemmt, dann finden alle deutschen Talkshows, aber auch das Schweizer Radiomagazin «Echo der Zeit», unverzüglich Experten, die wissen, dass es die Russen waren, die den Damm zerstörten. Wie es auch die Russen sind, die sich selbst in dem Atomkraftwerk beschiessen, welches sie besetzt halten. «Tis the times‘ plague, when madmen lead the blind«, heisst es bei Shakespeare im King Lear.

In den Jahren vor dem russischen Angriff registrierten die OECD-Beobachter täglich Detonationen der Artillerie, im Februar 2022 schliesslich hunderte Explosionen pro Tag. Weit mehr als zehntausend Tote haben die Kämpfe in der Ostukraine zwischen 2014 und 2022 gefordert. Dieser Krieg hat also nicht im Februar 2022 begonnen.

Haben unsere Zeitungen darüber berichtet? Sie haben es weitgehend unter den Teppich gekehrt. Sie sehen nur, was sie schon wissen. Das heisst: Sie wissen immer schon, was sie sehen werden. Also das, was ich jeden Morgen in den Zeitungen lesen kann. Und somit das, was ich nicht mehr lesen muss, weil ich schon weiss, was es ist, bevor ich die Zeitung aufschlage.

«Lasst euch nicht von den eigenen täuschen»

Im Herbst 1983 demonstrierten mehr als eine Million Menschen überall in der Bundesrepublik Deutschland gegen die Stationierung von Atombomben. Auch in mehreren Ländern, die Mitglieder der NATO waren, widersetzte sich eine Mehrheit der Menschen der weiteren atomaren Aufrüstung, denn es war klar, dass das vielbeschworene «Gleichgewicht des Schreckens» durch die britischen und französischen A-Bomben längst garantiert war. Bei der Debatte im Bundestag sagte Oppositionsführer Willy Brandt, seine Partei, die SPD, werde mit Protestbriefen zugeschüttet:

«Das sind Deutsche West und Deutsche Ost, das sind Europäer und Amerikaner, das sind Mütter und Väter, Grossmütter und Grossväter, Arbeiter und Unternehmer, Künstler und Soldaten, Hausfrauen, Rentner, und es sind Naturwissenschafter und Ingenieure aller akademischen Grade. Ich frage mich, wem es guttut, wenn das Engagement und der versammelte Sachverstand dieser Mitbürgerinnen und Mitbürger mit der ganzen Arroganz der Macht in den Abfall geräumt wird.»

Die FDP-CDU-Mehrheit des deutschen Parlamentes wählte für Volkes Stimme den Abfallkübel und beschloss die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen. Diese wurden zwar im Rahmen eines Abrüstungsabkommens abgeschafft, gleichwohl lagern im Fliegerhorst Büchel in der Eifel heute US-amerikanische Atomsprengköpfe. Deutsche Luftwaffenpiloten trainieren deren Einsatz im Rahmen der sogenannten «nuklearen Teilhabe». Es ist kein militärisches Geheimnis, dass Russland stets das Hauptangriffsziel war und nach wie vor ist.

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Im selben Jahr 1983 erscheint Christa Wolfs Buch «Kassandra», ein Text über eine Seherin, die vor ihrem Tod über den Untergang ihrer Heimat Troja nachdenkt:

«Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den eigenen täuschen.»

Ich habe mich von den eigenen täuschen lassen, aber es hat lange gedauert, bis ich dessen gewahr wurde. Die «Süddeutsche», die «Frankfurter Rundschau», die «Neue Zürcher», der «Spiegel» und andere Blätter, das waren meine Leitmedien, als ich Journalismus lernte.

Die grossen Medien, sowohl die gebührenfinanzierten wie die der privaten Konzerne, haben in allen Kriegen, die ich beobachten konnte, krachend versagt. Ihre Aufgabe wäre gewesen, das Handeln der Regierungen in Frage zu stellen, aber sie haben sich in vielen Fällen als Lautsprecher der Regierungs-Propaganda und als Kriegstreiber in ungerechtfertigten und sinnlosen Kriegen erwiesen.

Die Balkankriege öffneten die Büchse der Pandora

Meine erste grosse Berufskrise kam, wenn ich mich recht erinnere, während der Balkankriege. Ich fand nachts keinen Schlaf mehr, als ich merkte, dass da das Blaue vom Himmel herunter gelogen wurde. Tuzla war damals mein Schlüsselerlebnis. Die Stadt in Bosnien war 1993 als Schutzzone definiert worden. Blauhelme waren dort stationiert. Die bosnisch-moslemische Bevölkerung sollte vor serbischen Angriffen geschützt werden. Die serbische Artillerie schoss aber gleichwohl auf die Stadt. Diese Angriffe waren Monate lang tägliche Meldung in den Radionachrichten. Die westlichen Medien flossen über vor Empörung über den Beschuss der «Safe Area».

Ich fiel aus den Wolken, als mir 1995 Blauhelm-Soldaten sagten: «Die Serben schiessen zwar manchmal da rein, aber die Artillerie in Tuzla schiesst auch jede Nacht raus auf die umliegenden serbischen Dörfer.»

Tuzla wurde bei Nacht und Nebel von den USA mit Waffen versorgt. Es gab dort militärische Sperrgebiete, wo UN-Einheiten der Zutritt verwehrt wurde. Dieselbe Regierung in Washington, die nach aussen hin die Rolle des «honest broker» spielte, um ein Ende des Krieges zu erreichen, organisierte im Geheimen sogenannte «black flights», um das bosniakische Militär aufzurüsten.

Als ein norwegischer Blauhelm-Offizier dies 1995 bemerkte und publik machte, bekam er den Befehl zu schweigen und wurde strafversetzt. Der britische Sender ITN/Channel 4 hatte einen Beitrag über die Sache gedreht, den ich für ein Magazin des SRG-Programms Schweiz 4 übernahm.

Meine Versuche, Schweizer Medien auf die Enthüllungen aufmerksam zu machen, stiessen auf Indifferenz. In Bosnien wie auch im Kosovo bestimmte die NATO, was man wissen durfte und was nicht. Carla Del Ponte, Chefanklägerin in Den Haag, beklagte sich später, dass sie mit ihrer Bitte um Einsicht in die Geheim-Operationen der NATO gegen eine Wand lief.

Erst viel später erfuhr ich, dass führende PR-Agenturen der USA damals die Presse mit Schauergeschichten über serbische Konzentrationslager und Holocaust-Pläne fütterten, welche ein gigantischer Medienapparat in Sekundenschnelle um die Welt jagte. Die Politikwissenschafter Jörg Becker und Mira Beham haben in ihrer Studie «Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod» in US-Archiven weit über hundert solcher PR-Verträge nachgewiesen. Der Auftrag hiess, die Serben als Täter und die andern als Opfer darzustellen. James Harff, Chef der PR-Agentur Ruder Finn, beschrieb seinen Job folgendermassen:

«Unser Handwerk besteht darin, Nachrichten auszustreuen, sie so schnell wie möglich in Umlauf zu bringen (…) Die Schnelligkeit ist entscheidend. Denn wir wissen genau, dass die erste Nachricht von Bedeutung ist. Ein Dementi hat keine Wirkung mehr.»

Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. 1996. S.172 ff.

PR-Agenturen liefern die Argumente für Krieg und Tod

Harff zeigte gegenüber Jacques Merlino, einem stellvertretenden Chefredaktor von France 2, einen gewissen Berufsstolz, wenn er in aller Offenheit beschrieb, wie seine Agentur «mit einem grossartigen Bluff» ihren Auftrag erledigte, indem sie drei mächtige jüdische Lobby-Organisationen der USA dazu brachte, in Inseraten in der «New York Times» vor einem drohenden Holocaust auf dem Balkan zu warnen.

«Mit einem Schachzug konnten wir die Sache vereinfachen und sie darstellen als Geschichte von den guten und den bösen Jungs (…) Und wir haben gewonnen, denn wir haben das richtige Ziel ausgewählt, das jüdische Publikum (targeting Jewish audience). Sofort stellte sich eine bemerkbare Veränderung des Sprachgebrauchs in den Medien ein, begleitet von der Verwendung solcher Begriffe, die eine starke emotionale Aufladung hatten, wie etwa ethnische Säuberung, Konzentrationslager und so weiter, und all das evoziert einen Vergleich mit Nazi-Deutschland, Gaskammern und Auschwitz. Die emotionale Aufladung war so mächtig, dass niemand wagte, dem zu widersprechen.»

Der deutsche Aussenminister Joschka Fischer tourte folgerichtig mit der Parole «Nie wieder Auschwitz» durch Europa und sein Verteidigungsminister Scharping brachte unters Volk, man wisse, dass die Serben «mit den abgeschnittenen Köpfen ihrer Feinde Fussball spielen.» Ein Foto, das als Beweis der serbischen Gräuel und als Argument für den NATO-Angriffskrieg um die Welt ging, zeigte einen entsetzlich abgemagerten Mann mit nacktem Oberkörper hinter Stacheldraht. Es erinnerte an die Fotos von deutschen Vernichtungslagern 1945. Die Aufnahme war – wie später nachgewiesen wurde – eine Fälschung. Das fragliche Flüchtlingszentrum Trnopolje war damals weder durch einen Stacheldrahtzaun abgesperrt noch gab es dort halb verhungerte Menschen.

Nichts hat sich geändert. Der Krieg generiert die ewig gleichen Propagandamittel. Ein in der Ukraine lebender «Schriftsteller aus Ostdeutschland» namens Christoph Brumme schrieb 2022 in der «NZZ am Sonntag» ein regelmässiges «Tagebuch», in dem er unter anderem vorhersagte, die Russen würden in der Ukraine Konzentrationslager einrichten und Putin sei ein zweiter Hitler. Er sei vermutlich schwer krank und werde mit einer Atombombe seinen Suizid inszenieren. Und dergleichen mehr.

Schon im Golfkrieg von 1991 war die Kategorie der «eingebetteten Journalisten» entstanden, und es gibt wohl kaum einen Begriff, der besser umschreibt, wie dieser Beruf zu einer Art Prostitution verkommen kann. Der US-Journalist John R. MacArthur hat in seiner Studie «Second Front: Censorship and propaganda in the 1991 Gulf War» (auf Deutsch bei dtv «Die Schlacht der Lügen») gezeigt, wie die Medien an der Leine geführt und wie die Öffentlichkeit getäuscht wurde.

Die Symbiose der grossen Medien und ihrer Regierungen wurde nach dem Anschlag von 9/11 vollends zur Selbstverständlichkeit. Dieser wurde als Angriff einer feindlichen Macht definiert und in dieser Logik erst Afghanistan, dann der Irak angegriffen. Weltweit wurde ein «Krieg gegen den Terror» begonnen, und da man einmal am Aufräumen war, wurden «by the way» auch in Libyen und Syrien «unterdrückte Völker befreit». Die Resultate sind in all diesen Ländern zu besichtigen.

Der renommierte Wissenschaftsjournalist und Friedensaktivist Norman Cousins hatte der ideologischen Mission der Supermacht USA schon 1987 einen Namen gegeben: «The Pathology of Power».

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Autor Helmut Scheben

Helmut Scheben (*1947 in Koblenz, Deutschland) studierte Romanistik in Mainz, Bonn, Salamanca und Lima. 1980 promovierte er zum Doktor phil. an der Universität Bonn. Von 1980 bis 1985 war er als Presseagentur-Reporter und Korrespondent für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre in der Tagesschau.

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Eine erfundene Vergewaltigungs-Story in Libyen 

Mir ist unverständlich, wie Journalisten, die so oft von Regierungen belogen wurden, weiterhin die politischen Vorgaben von oben weiterverbreiten, als wären es die Tafeln der Zehn Gebote. Im Juni 2011 sagte US-Aussenministerin Hillary Clinton vor laufenden Kameras, sie habe jetzt den Beweis, dass der libysche Herrscher Muammar al-Gaddafi «systematische Vergewaltigung» als Strategie einsetze. Zu diesem Zeitpunkt herrschte Bürgerkrieg in Libyen. Die libysche Armee versuchte, einen Aufstand niederzuschlagen, der im Sog des sogenannten «arabischen Frühlings» seit Februar 2011 eskalierte. Die USA und ihre NATO-Verbündeten bombardierten seit März 2011 das Land, um – so die offizielle Argumentation – dem von Gaddafi unterdrückten libyschen Volk zu helfen und «eine Flugverbotszone durchzusetzen».

Als lebender Beweis für den Vorwurf der Vergewaltigungen galt eine Libyerin namens Eman-al Obeidi. Die Frau hatte sich am 26. März 2011 Zugang zum Luxus-Hotel Rixos Al Nasr in Tripolis verschafft. Hotelpersonal und Security-Leute versuchten zu verhindern, dass sie Kontakt mit den Journalisten aufnahm, die dort beim Frühstück sassen. Die Frau schrie, sie sei drei Tage zuvor von Milizionären Gaddafis an einem Checkpoint entführt und vergewaltigt worden.

Der libysche Regierungssprecher Musa Ibrahim erklärte später, man habe Frau Obeidi zunächst für alkoholisiert und psychisch gestört gehalten. Dann habe man festgestellt, dass ihre Angaben glaubwürdig seien. Der Fall sei in den Händen der Justiz. Es handele sich um gewöhnliche Kriminalität und nicht um ein politisches Verbrechen.

Frau Obeidi wurde von CNN und zahlreichen anderen Medien interviewt. Sie figurierte als Beweis für die Verruchtheit des libyschen Staatsoberhauptes Gaddafi. Dabei schien den grossen Medien kaum erwähnenswert, dass libysche Ärzte die Frau betreut hatten, die Vergewaltigung bestätigt hatten und die libysche Polizei kurz darauf Tatverdächtige festgenommen hatte.

In einem Büro von Amnesty International in Zürich fragte ich 2011, was an den Vorwürfen dran sei. Ich erhielt die Auskunft, Amnesty habe mehrere Monate lang in Libyen ermittelt und keine Bestätigung für den Vorwurf der Massenvergewaltigung gefunden. Auch der Sprecher der libyschen Organisation «Human Rights Solidarity Libya», die den Aufständischen nahestand, sagte mir am Telefon: «Wir haben keine Beweise. Der einzige konkrete Fall ist der von Frau Obeidi.»

Der Mist war indessen gefahren und die Story erfuhr eine geradezu rasende Proliferation in praktisch sämtlichen westlichen Medien. Meine Google-Suche am Sonntag, 20. Juli 2011, zeigte 21 Millionen Ergebnisse. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, lieferte ein vorzügliches Schmiermittel für den Medien-Apparat mit der Bemerkung, er habe tatsächlich «Informationen» über Massenvergewaltigungen. Auf die Frage eines Journalisten, was er von Berichten halte, Gaddafi lasse Viagra importieren, damit seine Soldaten vergewaltigen könnten, entgegnete der Chefankläger nicht etwa: «Lassen Sie mich mit solchem Blödsinn in Ruhe». Er sagte stattdessen den perfiden Satz, man sammle noch Beweise: «Yes, we are still collecting evidence.»

Das Phantasie-Gebilde wucherte wochenlang weiter. Die Schweizer Zeitung «Le Matin» trieb das kreative Story-Telling bis zu der Foto-Abbildung eines King Size Bettes samt Lampe und Nachttisch: angeblich ein Raum in einem unterirdischen Bunker, wo dem Blatt zufolge Gaddafi seine weiblichen Opfer missbrauchte. Ich habe in dieser Zeit keinen Journalisten getroffen, der sagte, er schäme sich dafür, dass er durch seine Berufswahl zu dieser Branche gehöre.

«Atrocity Management» ist so alt wie der Krieg selbst.

Die Verteufelung des Feindes ist ein bewährtes Instrument, welches so alt ist wie der Krieg selbst.

Der Historiker Gerhard Paul hat in seinem Standardwerk «Bilder des Krieges, Krieg der Bilder» anhand von über 200 Abbildungen dargestellt, wie die modernen Bildmedien den Krieg als Ikonographie in der kollektiven Erinnerung einbrannten. Dabei geht laut Gerhard Paul die Wirklichkeit in gleichem Mass verloren wie die Bilder perfektioniert und standardisiert werden.

Medienwirksam sind stets Verbrechen an Kindern. Das geht von der kuwaitischen «Pflegerin Najirah», die vor einem Menschenrechtskomitee des US-Kongresses sagte, sie habe gesehen, wie irakische Soldaten Brutkasten-Babies die Schläuche herausrissen, was sich später als eine Erfindung der PR-Agentur Hill & Knowlton erwies, bis zur Menschenrechtsbeauftragen Denissowa in Kiew, die im Juni 2022 ihren Job verlor, weil klar geworden war, dass sie Lügen verbreitet hatte. Darunter die Behauptung, sie habe Beweise, dass russische Soldaten Kleinkinder vergewaltigten.

Die Darstellung des Feindes als bestialisches Ungeheuer scheint unvermeidbares Stereotyp der Kriegspropaganda. Im Ersten Weltkrieg war die Story, deutsche Soldaten hätten einer belgischen Frau ihr Baby entrissen, diesem die Hände abgehackt und selbige dann verspeist, ein Dauerbrenner in der französischen und britischen Presse.

Wenn der Feind ein Ungeheuer ist, welches das Böse an sich verkörpert, sind Kriege leichter zu rechtfertigen. Ich habe in mehr als vierzig Jahren journalistischer Arbeit feststellen müssen, dass die grossen Medien solche Propaganda-Erzählungen meist unkritisch verbreiten und erst sehr spät oder nie bereit sind, ihre Fehler einzugestehen. Die «New York Times», die bei ihren Leserinnen und Lesern für die Falschinformation rund um den Irak-Krieg um Vergebung bat, ist der einzige mir bekannte Fall.

In 19 Arbeitsjahren beim Schweizer Fernsehen SRF ist mir kein Fall bekannt geworden, in dem eine Sendung sich für falsche Nachrichten entschuldigt hätte. Mit Ausnahme der Sendung Meteo, wenn die Wetterprognose falsch war.

2011 machte ich Amnesty International Schweiz darauf aufmerksam, dass es keine Fernsehbilder von den Zerstörungen der NATO-Luftangriffe in Libyen gab. Die Fernsehstudios der libyschen Regierung waren in der ersten Angriffswelle in Schutt und Asche gelegt worden. Die NATO-Kommandozentrale in Neapel konnte dadurch verhindern, dass emotionale Bilder von Opfern, die aus den Trümmern gezogen wurden, auf westlichen TV-Kanälen zu sehen waren. Das Problem war den grossen Medien nicht aufgefallen, oder sie haben es ignoriert.

Der Amnesty-Sprecher erwiderte mir damals, diese Einseitigkeit der Darstellung mache ihnen ebenfalls grosse Sorgen. Als ich abends mit dem Cutter am Schnittplatz den Beitrag für die Tagesschau fertiggestellt hatte, sagte der Tages-Chef bei der Abnahme, dieser Satz des Amnesty-Sprechers müsse raus aus dem Beitrag. Auf meine Frage nach der Begründung hiess es:  «Sonst könnten die Zuschauer ja denken, Gaddafi sei gar nicht so bös und am Ende noch im Recht.»

Eine neue Epoche der Zensur ist angebrochen

Die Konzernmedien und die gebührenfinanzierten Anstalten dominieren den Nachrichtenmarkt. Sie behaupten alle von sich, sie seien die Vierte Gewalt, die den Mächtigen auf die Finger schaue, und dadurch werde Demokratie erst ermöglicht. Meine Erfahrung ist: Sie sind viel mehr Gläubige in einer Art von Religionsgemeinschaft, die sich als Achse des Guten sieht. Wer ihre Weltsicht nicht teilen will, der wird totgeschwiegen, diffamiert oder schlicht verboten.

In diesem Sinne arbeiten die Regierungen und ihre zugewandten Medien effizient. Die 27 Länder der Europäischen Union haben die russischen Nachrichtensender RT und Sputnik verboten. Wer sie verbreitet oder empfängt, zahlt in Österreich sogar bis zu 50’000 Euro Strafe. So einfach glaubt man, die Meinungs-Einfalt durchsetzen zu können. Protest oder Kritik aus den grossen Redaktionen der Vierten Gewalt? Null.

Während in russischen Talkshows und in den russischen Social Media mit erstaunlicher Härte immer wieder kontrovers über diesen Krieg diskutiert wird, versuchen westliche Medien uns mit obsessiver Emsigkeit einzutrichtern, dass in Russland jeder eingesperrt wird, der etwas gegen diesen Krieg sagt. «Zehn Jahre Gefängnis fürs Denken» titelt die Neue Zürcher Zeitung (6. Juni 2023).

In Kiew sind oppositionelle Medien schlicht verboten. Muss man darüber berichten? Offensichtlich nicht. Das wird dann beiläufig, quasi als abschweifender Schlenker, in acht Wörtern abgehandelt: «Seit Kriegsbeginn zeigen die ukrainischen Sender ein Gemeinschaftsprogramm» (Zürcher Tagesanzeiger, 28. Juli 2022). Gemeinschaftsprogramm? Das tönt schon fast wie gemeinnützige Arbeit.

Das Verschweigen hat System. Nirgends wird das so sichtbar wie in dem Stillschweigen, welches unsere führenden Medien über die um sich greifende Zensur der Social Media bewahren. Wenige Wochen nachdem die EU die russischen Sender verboten hatte, kündigte Google an, weltweit alle mit Russland verbundenen Medien zu blockieren. Wie so oft bei Big Tech kam der Druck angeblich von der eigenen Belegschaft: «Mitarbeiter von Google hatten YouTube gedrängt, zusätzliche Strafmassnahmen gegen russische Kanäle zu ergreifen.»

Millionen von Beiträgen verschwinden von der Plattform. Der Investigativ-Journalist Glenn Greenwald, der an den Enthüllungen von Edward Snowden beteiligt war, hat auf diese extreme Zensurkampagne und die Dollarmilliarden hingewiesen, die dabei eine Rolle spielen:

«Es ist wenig überraschend, dass die Monopole des Silikon Valley ihre Zensurmacht in voller Übereinstimmung mit den aussenpolitischen Interessen der US-Regierung ausüben. Viele der wichtigsten Tech-Monopole – wie Google und Amazon – bemühen sich routinemässig um äusserst lukrative Verträge mit dem US-Sicherheitsapparat, einschliesslich der CIA und der NSA, und erhalten diese auch. Ihre Top-Manager unterhalten enge Beziehungen zu Spitzenvertretern der Demokratischen Partei. Und die Demokraten im Kongress haben wiederholt Führungskräfte aus der Tech-Branche vor ihre verschiedenen Ausschüsse zitiert , um ihnen mit rechtlichen und regulatorischen Repressalien zu drohen, falls sie die Zensur nicht stärker an die politischen Ziele und Interessen der Partei anpassen.»

Wer die Twitter Files liest, der weiss, wie das System funktioniert. Eine diskrete Intervention des FBI kann bewirken, dass führende Medien politisch heikle Themen solange auf Eis legen, bis die «Gefahr», in dem Fall eine Wahlniederlage des Kandidaten Joe Biden, gebannt ist.

Was mich damals schockierte und auch heute fassungslos macht, ist das Kesseltreiben, das von einer Medienmeute reflexartig in Gang gesetzt wird, wenn einige wenige es wagen, gegen den Strom zu schwimmen und die veröffentlichte Meinung in Frage zu stellen. Die Politologin Mira Beham hatte mir gesagt, sie habe in der «Süddeutschen Zeitung» Schreibverbot bekommen, weil sie zu argumentieren wagte, in den Balkankonflikten komme man nicht weiter mit dem Täter-Opfer-Schema, die Sache sei komplexer. Heutzutage verliert ein renommierter Journalist wie Patrick Baab seinen Lehrauftrag an der Universität Kiel, wenn er es wagt, aus dem Donbass «von der falschen Seite der Front» zu berichten.

Orwells dystopische Vision des «Newspeak» und der «Wahrheitsministerien» ist auf dem besten Weg, Realität zu werden. Wir erleben in dieser Hinsicht tatsächlich eine Zeitenwende, wenn auch der deutsche Kanzler etwas anderes meinte, als er den Begriff gebrauchte.

Das Wort Lügenpresse trifft die Sache nicht

Der Medien-Wissenschafter Uwe Krüger hat dokumentiert, dass die meisten Alphatiere der etablierten Medien Mitglieder in NATO- und US-affinen Institutionen sind. Natürlich gibt es den Faktor Zwang und Anpassung, etwa die bekannte Tatsache, dass im Axel Springer Verlag («Bild», «Die Welt») jeder Mitarbeiter den Statuten zustimmen muss, die die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität mit den USA einfordern.

Gleichwohl sollte man vorsichtig sein mit dem Schmähwort «Lügenpresse». Die Sache ist unendlich komplizierter. Da ist zum einen, was die News-Gefässe angeht, ein System, das auf Verkürzung und überhöhten Drehzahlen beruht. Der Philosoph Paul Virilio sprach von einer «Industrie des Vergessens», die mit neuen Nachrichten unaufhörlich zuschüttet, was eben noch gemeldet wurde. Ein Nachrichten-Apparat, der stark zerkleinerte Bruchstücke von Ereignissen produziert, kann keine Zusammenhänge und Hintergründe liefern, selbst wenn wohlgesinnte Journalistinnen und Journalisten dies wollten.

Und sie wollen es. Ich habe in meinem ganzen Leben kaum Medienleute getroffen, die fälschen oder unredlich berichten wollten. Die Leute lügen nicht, sondern sie sind meist überzeugt von dem, was sie sagen und schreiben. Sie sind in ihrer ganzen Lebensgeschichte, in ihrer Ausbildung und in ihren sozialen Kontakten geprägt und eingebunden in der Weltsicht ihrer Umgebung.

Da ist dieser «riesige Brocken Wahrheit», den der israelische Historiker Shlomo Sand «implantiertes Gedächtnis» nannte: 

«Wir alle werden in ein Universum von Diskursfeldern hineingeboren, das die ideologischen Machtkämpfe früherer Generationen geformt haben. Noch ehe sich der Geschichtswissenschaftler das Rüstzeug zu einer kritischen Hinterfragung aneignen kann, formen all die Geschichts-, Politik- und Bibelstunden in der Schule, die Nationalfeiertage, Gedenktage, öffentlichen Zeremonien, Strassennamen, Mahnmale, Fernsehserien und sonstige Erinnerungssphären seine Vorstellungswelt. In seinem Kopf liegt ein riesiger Brocken ‹Wahrheit›, den er nicht einfach umgehen kann.» 

Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. S. 40

Das Problem einer Branche, die unter dem Namen Journalismus der täglichen Wahrheitsfindung dienen soll, ist jedem Zauberkünstler und Taschenspieler geläufig: Wahrnehmung wird nicht von tatsächlichen Ereignissen bestimmt, sondern von Erwartungshaltungen. Von einem riesigen Brocken «Wahrheit».

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Dieser Beitrag erschien am 13. Juni auf GlobalBridge.

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Klimaproduktion Bewegung

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Juni 2023

Die Überschneidungen von nomadischem Land und nomadischer Arbeit im Zeitalter des Sesshaftwerdens

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von          :       · 20.06.2023

Das Schicksal nomadischer Kulturen offenbart den Geist des (Staats-)Kapitalismus besonders deutlich: Die erzwungene Eingliederung der Nomaden in soziale Strukturen, die die Sesshaftigkeit privilegieren, ist eng mit der Enteignung von Land und Arbeit verbunden. Der zerstörerische Charakter dieses Systems zeigt sich in der Verarmung der ehemaligen Nomaden sowie dem Erosion ihrer Werte und Praktiken, die andere, nachhaltige Formen der Arbeit und der Klimaproduktion ermöglichen würden, wie die Künstlerin und Forscherin Shuree Sarantuya in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe „Allied Grounds“ argumentiert und dabei auf die Kämpfe nomadischer Völker in China, Russland und der Mongolei eingeht.

Die Fabel „Drei kleine Schweinchen“ erzählt die Geschichte von drei Schweinen und einem großen bösen Wolf, der ihre Häuser angreift. Der Wolf zerstört die Häuser der ersten beiden Schweine, die aus Stroh und Stöcken gebaut sind, aber er kann das Haus des dritten Schweins, das aus Ziegeln besteht, nicht zerstören. Die Ideologie, die der Fabel zugrunde liegt, ist glasklar: Sie unterstützt die Standardisierung von Konzepten wie Obdachlosigkeit und entwertet die nomadische Logik, der zufolge Nomaden niemals obdachlos sein können, weil ihr Zuhause immer mit ihnen reist. Darüber hinaus bemäntelt die Ideologie der Fabel das rassische Kapitalozän, das durch die Ausbeutung von Arbeit und Natur als Werkzeuge der Assimilierung die Umwandlung von Weideland in unhaltbare Lebensräume und Industrien ermöglicht hat. So arbeiten Ex-Nomad*innen in großem Umfang in arbeitsintensiven Sektoren wie der mineralgewinnenden Industrie, dem Anbau/Pflanzung und militärischen Diensten, weil sie sich dadurch finanzielle Unabhängigkeit und Integration in eine sesshafte Gesellschaft versprechen.

Dies ist der toxische Rahmen, in dem sich die Kämpfe von noch Nicht-Sesshaften, ethnischen Minderheiten und indigenen Gemeinschaften abspielen. Die letzten nomadischen Völker Süd-, Zentral- und Nordasiens leben heute in Jurten, Tipis oder Holzhütten und nutzen moderne Technologien, um Komfort und Modernität zu erreichen. Diese Techno-Nomaden können mobil und autonom sein, mit ununterbrochenen Verbindungen zur menschlichen und nichtmenschlichen Welt. Die nomadische Landmobilität basiert auf einer geschickten Wahrnehmung der Ökosphäre und ihrer Ressourcen. So gründen nomadische Völker ihre Ehrfurcht (vor bewohnbarem Land) auf ihr Wissen um die Kommunikation zwischen den Arten und eine indigene Wahrnehmung der tiefen Zeit.

Das Nebeneinander von nomadischen und sesshaften Gesellschaften konnte durch die herrschende Klasse instrumentalisiert werden: Erfolgreich konnten immer wieder Ängste vor der „Unmoderne“ geschürt und Assimilationspolitik, Monokulturwirtschaft, Umweltrassismus und neokoloniale Probleme gefördert werden. Wenn wir uns mit den Konflikten der letzten nomadischen oder ehemals nomadischen Völker Chinas, der Mongolei und Russlands befassen, müssen wir ihre komplexe Geschichte der Sesshaftwerdung und Kolonisierung durch kommunistische und sozialistische Bewegungen im letzten Jahrhundert verstehen.

Landverlust und kulturelle Assimilierung in der Inneren Mongolei

Die Innere Mongolei, eine 1947 vom kommunistischen Regime Chinas eingerichtete autonome Region, blickt auf eine lange Geschichte von Konflikten zwischen nomadischen Hirten und sesshaften Bäuer*innen zurück. In diesem Konflikt ist die Enteignung und Einfriedung von Land eng mit kultureller Assimilation verbunden, wie nach der Besatzung durch Japan im Zweiten Weltkrieg deutlich wurde, als die Region zu einem Testgebiet für die Integration von Han-Chinesen und Mongolen wurde.

Die Innere Mongolei ist nicht nur für ihre Viehzucht bekannt, sondern auch für ihre riesigen Kohlevorkommen. Im Jahr 2011 führte die Ausweitung einer Kohlemine auf Weideland zu Protesten und Demonstrationen der Hirten in Bayannuur. Die Frustration und die Angst, ihr Land zu verlieren, motivierten auch 2020 Proteste, als die chinesische Regierung plante, das Weideland in Bairin Left Banner in ein Naturschutzprojekt umzuwandeln.

Später im selben Jahr wurde im Rahmen der „Zweisprachigen Erziehung der zweiten Generation“ der Mongolischunterricht an den Schulen der Inneren Mongolei verboten. Nach Angaben des südmongolischen Menschenrechtsinformationszentrums wird das Verbot im September dieses Jahres in Kraft treten; es verbietet den Lehrer*innen auch die Teilnahme an und die Organisation von Unterricht. Die systematische Assimilierung nomadischer, indigener und ethnischer Minderheiten durch die Auslöschung von Ökosystem und Kultur, vor allem von Sprache und Religion, findet nicht nur in der Inneren Mongolei statt, sondern auch in Gemeinschaften wie den Uiguren (und anderen muslimischen Gemeinschaften) und den Tibetern.

Die Bodendegradation in der Inneren Mongolei ist in erster Linie auf den übermäßigen Ressourcenverbrauch zurückzuführen, der durch immer exzessivere Produktionszyklen verursacht wurde, begleitet von Bevölkerungszuwachs und der Abkehr von der nomadischen Viehwirtschaft. Andererseits hat die Innere Mongolei laut der Bewertung der Landdegradation zwischen 2000 und 2020 eine Netto-Landdegradation von Null erreicht. Untersuchungen über die Auswirkungen des vom Wind verwehten Staubs zeigen, dass die Innere Mongolei über ein Ökosystem verfügt, das die Ausbreitung von Staub verhindert und als ökologische Barriere gegen die Bodendegradation wirkt.

Derweil haben Überkultivierung, Bergbau und Industrialisierung die nomadischen Völker in eine Wettbewerbswirtschaft gedrängt, in der der niedrigste Preis das Rennen macht. Die traditionell abgelegenen Minderheitengruppen sind heute in städtischen Gebieten konzentriert, wo sie aufgrund von Umweltrassismus und erzwungener Integration eine Monowirtschaft betreiben.

Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der postkolonialen Mongolei

Nach dem Ende der Kolonisierung durch die Qing-Dynastie im Jahr 1911 kam die Äußere Mongolei bis zur demokratischen Revolution von 1990 unter sowjetische Kontrolle. Diese friedliche Revolution führte dazu, dass die Mongolei ein Mehrparteiensystem einführte, das die Beteiligung mehrerer politischer Parteien an der Regierung des Landes ermöglichte.

Das unerbittliche Streben nach Akkumulation durch die Oberschicht und die Mächtigen hat jedoch zu einer korrupten Wirtschaft und zur Ausbeutung derjenigen aus der Arbeiter*innenklasse geführt, die von Lohn zu Lohn oder von Schulden zu Schulden leben. Die Produktion von Raum bringt diese Ungleichheiten zum Ausdruck und verschärft sie noch: Während die ländlichen Gebiete außerhalb der Hauptstadt immer noch unterentwickelt sind, abgesehen von einigen wenigen Shangri-La-artigen Gemeinden, die sich um die Rohstoffsektoren herum ansiedeln, ist die Hauptstadt selbst eine neoliberale Mischung aus Jurtensiedlungen und hyperurbanen Gebieten, die einem „umgedrehten Topf“ ähnelt (ein mongolisches Sprichwort, das bedeutet, dass man in der Hölle unter einem riesigen Topf festsitzt).

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Im Dezember 2023 kam es in Ulaanbaatar (Mongolei) zu Protesten gegen die so genannte „Kohlemafia“, die 380.000 Tonnen Kohle für den Export nach China gestohlen hatte. Die Menschen brachten ihre Frustration mit gewalttätigen Ausbrüchen, friedlichen Demonstrationen und Sitzstreiks bei minus 25-30 Grad zum Ausdruck. Sie kritisierten die Staatsbeamt*innen und gaben ihnen die Schuld an der gestohlenen Zukunft der Mongolei.

Während die Menschen in der Mongolei geduldig auf die Verfolgung der Kohlediebe warten, stellt sich eine dringende Frage: Wen machen wir für die Nutzung unethischer fossiler Brennstoffe zur Energieversorgung der größten Umweltverschmutzer*innen der Welt verantwortlich? Im Rahmen des Engagements der Mongolei für die Ziele der nachhaltigen Entwicklung der Vereinten Nationen will das Land bis 2030 eine Milliarde Bäume in von Wüstenbildung betroffenen Regionen pflanzen. Dank der Spende der Unternehmen des Bergbaukonglomerats im Süden der Mongolei sind die Menschen gespannt auf die neuen Beschäftigungsmöglichkeiten, die das Milliarden-Baum-Projekt mit sich bringen wird.

Einige Gemeinschaften, die sich an den Rhythmus ihrer Umgebung angepasst haben, sehen sich jedoch mit den unbotmäßigen Anforderungen des rassischen Kapitalismus und dem Fehlen einer nachhaltigen Infrastruktur konfrontiert. Auf der Suche nach Stabilität und einem sicheren Einkommen sehen sich viele Ex-Nomad*innen mit der harten Realität der Armut oder sogar einer Rückkehr in die Zeiten der Kolonialherrschaft konfrontiert. Nomadisches Wissen und Traditionen werden als unvereinbar mit einem System angesehen, das Arbeit und Ressourcen in unhaltbarem Maße ausbeutet. Der Zusammenprall zwischen nomadischer Existenz und den Erfordernissen des rassischen Kapitalismus wirft Fragen nach der Vereinbarkeit verschiedener Lebensweisen und der Dringlichkeit des Widerstands gegen ein einzigartiges Arbeits- und Produktivitätsmodell auf.

Koloniales Erbe und Umweltkämpfe in Nordasien

Russlands Kolonisierung Nordasiens nahm im 19. und 20. Jahrhundert ihre endgültige Form an. Nomadische Stämme, die von Jagd, Viehzucht und Fischfang lebten, konnten nun mit Hilfe der Transsibirischen Eisenbahn ihren Übergang zu einer sesshaften Lebensweise durch Bergbau, Metallurgie, Maschinenbau, Holzfällerei und Landwirtschaft finanzieren. Es wurden Institutionen geschaffen, um die lokale Kultur, den Glauben und die Heilpraktiken auszurotten. Gleichzeitig schuf die russische Regierung Schutzgebiete für die indigenen Völker. Die nicht nachhaltigen Methoden der Klimaproduktion führen jedoch zu Umweltkatastrophen, die alle Ökosysteme rund um Nordasien und die arktischen Regionen betreffen.

Die teilweise militärische Mobilisierung der russischen Bevölkerung im Jahr 2022 erforderte hohe Einberufungsquoten in den Reihen ethnischer Minderheiten wie den türkischen, mongolischen, paläo-sibirischen und muslimischen Gemeinschaften. Die autonomen Regionen Russlands setzen sich aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammen, darunter nomadische (halbnomadische) und indigene Völker. In diesen Regionen und Krais gibt es sesshafte Siedlungen, die ein Überbleibsel der sowjetischen Moderne sind. In Gebieten wie Dagestan, Jakutien und Burjatien hat die Kombination aus Kriminalisierung von Kriegsgegnern und wirtschaftlicher Instabilität dazu geführt, dass die meisten Männer vor der Wahl stehen, entweder zu fliehen oder sich dem Militär anzuschließen, um an den laufenden Kriegsanstrengungen teilzunehmen. Diese einheimischen Männer Russlands und ihre Arbeitskraft werden im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst geschätzt oder sogar als möglicher Sündenbock benutzt, wenn ein Kriegsverbrechen zu verantworten ist. Die heutigen rassistischen Regierungen und Institutionen, die rassifizierte und oft marginalisierte Gruppen in Kriegen einsetzen, erinnern uns nicht zuletzt daran, dass während des Ersten (und später des Zweiten) Weltkriegs Afroamerikaner im Militär dienten, um als Musterbürger in die Gesellschaft integriert zu werden.

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Es liegt auf der Hand, dass diese Art des Bevölkerungsmanagements auch eng mit der Enteignung und Einhegung von Land verbunden ist – und Russlands aktueller Angriffskrieg erinnert nur allzu deutlich an den Wert, den Land (hier als „Territorium“ valorisiert) seit der Wirtschafts-, Finanz- und Nahrungsmittelkrise von 2007 erlangt hat. Die Quintessenz ist, dass das heutige Wirtschaftswachstum eine homogene Zivilisation begünstigt, die einen immensen Wert auf Arbeitskräfte legt, die bereit sind, sich und/oder ihr Land zu opfern.

Wert aller Wesen, Dinge und Entitäten

Staatliche Rohstoffkonzerne üben einen großen Einfluss auf die so genannten ländlichen Gebiete Nordasiens aus. Eine Verwaltung, die den Wert von unbebautem Land missachtet, hat die Anhäufung von Macht auf Kosten ethnischer Minderheiten, nomadischer Gruppen und indigener Arbeiter*innen durchgesetzt und damit deren Rechte untergraben und ihre Lebensweise bedroht. Untersuchungen am Bolshoe-Toko-See haben ergeben, dass die Spuren der industriellen Tätigkeit selbst in den entlegensten Gebieten Russlands zu finden sind. Die durch kapitalistische Aktivitäten verursachte Umweltzerstörung beeinträchtigt die lokalen Gemeinschaften, die biologische Vielfalt und die langfristige Nachhaltigkeit des Landes. Ohne einheimische Praktiken der Rekultivierung und des ethischen Konsums werden die biotischen und abiotischen Wechselwirkungen irreparabel gestört, sowohl in der menschlichen Zeit als auch in der Zeit der Globalisierung.

Das Streben nach Wirtschaftswachstum, das oft auf Kosten von Randgruppen und der Umwelt geht, ist ein zentrales Politkum, das die zerstörerischen Folgen der Globalisierung und die Erosion kultureller Identitäten aufzeigt, die immer mit alternativen Arbeitsmodellen und dem Umgang mit der Umwelt verbunden sind. Dieser Prozess der Zerstörung und Erosion wird als unvermeidlich dargestellt, auch aufgrund imaginärer äußerer Bedrohungen. Die Geschichte „Die drei kleinen Schweinchen“ ist ein Beispiel für diese Tendenz. Der aggressive Wolf ist das Tier, das eine Gefahr von außen darstellt, nicht von innen. Und wir sollen das instinktive Bedürfnis verspüren, uns vor diesem räuberischen Außenseiter zu schützen, was den Wunsch widerspiegelt, Sicherheit und Schutz in unserem Zuhause zu finden. Aber leben heutzutage nicht sogar Vögel in ihren Vogelhäusern, weil sie ihr Territorium verloren haben und die Städte immer weiter wachsen?

In ehemaligen Nomadenländern und -gemeinschaften betonen kritische politische Stimmen, wie wichtig es ist, alternative Modelle zu begrüßen, die indigenes Wissen, ökologische Nachhaltigkeit, ethisches Ressourcenmanagement und gesellige Arbeitsweisen in den Vordergrund stellen. Indem wir indigene Praktiken der gegenseitigen Fürsorge, der Symbiose und der Regeneration zusammenführen, können wir eine „gaianische“ Ethik der nachhaltigen Arbeit fördern: eine, die die Verbundenheit verschiedener Welten anerkennt und wertschätzt. Um dies zu erreichen, müssen wir transnationale Allianzen bilden, die das vorherrschende Paradigma der Moderne in Frage stellen und die Folgen einer fremdenfeindlichen Politik angehen, die viele Gemeinschaften in eine Grenzsituation gebracht hat. Im unerbittlichen Streben nach Hypermodernität ist es wichtig, innezuhalten und die Integration indigener Perspektiven zu berücksichtigen. Aus einer solchen Haltung heraus können wir uns bemühen, eine neue Beziehung zu unserem Planeten zu entwickeln, indem wir den Wert aller Wesen, Dinge und Entitäten anerkennen und lernen wertzuschätzen. Dies ist eine Aufgabe, die wir alle bewältigen müssen. Denn, wenn wir im Zuge dessen unsere Rolle als Arbeiter*innen neu bewerten, ebnet dies den Weg für eine nachhaltige Klimaproduktion.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist ein Beitrag zur Textreihe „Allied Grounds“ der Berliner Gazette; die deutsche Version finden Sie hier. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen „Allied Grounds“-Website. Schauen Sie mal rein: https://allied-grounds.berlinergazette.de

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Kleinlaute Ratlosigkeit

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Juni 2023

Beim Kirchentag darf die Nakba-Ausstellung nicht gezeigt werden.

Ein Debattenbeitrag von Wolfgang Benz

Aber nicht jeder Zweifel an der israelischen Besatzungspolitik ist antisemitisch. Die Weigerung, Probleme zu benennen, schafft sie nicht aus der Welt, sondern verstetigt sie, statt sie zu lösen.

Eine Zensur findet nicht statt – dieser Satz steht im Grundgesetz, der die Meinungsfreiheit aller Bürger garantiert. Zensur als staatliche Maßnahme, mit der Inhalt, politische Tendenz, gesellschaftliche Konformität geprüft und dann genehmigt oder verboten werden, gibt es tatsächlich nicht. Ein anderer Brauch bürgert sich jedoch stattdessen ein. Zu charakterisieren wäre er als stillschweigende Behinderung oder Unterbindung unerwünschter Debatten aus Konfliktscheu, aus kleinlauter Ratlosigkeit, aus Realitätsverweigerung oder Feigheit. Die Probleme existieren weiter, die Weigerung, sie zu erkennen und zu benennen, schafft sie nicht aus der Welt, sondern verstetigt sie, statt sie zu lösen oder auch nur zu verstehen.

Nun wurde die sogenannte Nakba-Ausstellung vom Bannstrahl der Verantwortungsträger des derzeit laufenden Evangelischen Kirchentags in Nürnberg als Maßnahme vorauseilenden Missionseifers getroffen. Die Organisatoren der Ausstellung dürfen zwar wie bisher ihren Stand auf dem „Markt der Möglichkeiten“ errichten, aber mit der ausdrücklichen Auflage, die Ausstellung nicht zu zeigen.

Die Nakba-Ausstellung, konzipiert vom Verein „Flüchtlingskinder im Libanon e. V.“, kuratiert und organisiert von Ingrid Rumpf, gefördert vom Evangelischen Entwicklungsdienst e. V. und der Stiftung Entwicklungszusammenarbeit Baden-Württemberg, wurde begrüßt und gelobt von Wissenschaftlern und Sachkundigen. In Deutschland geriet die Ausstellung ins Visier obrigkeitlichen Argwohns, nachdem sie eineinhalb Jahrzehnte lang gefördert worden war. Denunziert wurde sie schon lange zuvor von jenen, die mit viel Emotion unterwegs sind, um vermeintliches Unheil durch Zensur – nein: durch Unterbinden der Diskussion über das Problem – zu verhindern.

Das Wort Nakba (Zerstörung, Unglück, Katastrophe) umschreibt die Erfahrung des Heimatverlustes palästinensischer Familien anlässlich der Staatsgründung Israels 1948. Flucht und Vertreibung waren am Ende des Zweiten Weltkriegs auch ein deutsches Thema. Integration war von den Besatzungsmächten geboten und in beiden deutschen Staaten in erstaunlich kurzer Zeit erreicht.

Den Flüchtlingen und Vertriebenen aus Palästina war ein ärgeres Schicksal beschieden: Der Unterschied besteht darin, dass ein großer Teil der mehr als 700.000 Palästinenser, die in der Nakba ihre Heimat verloren, zum Generationen dauernden Lagerleben verurteilt war. Sie werden als Faustpfand und Drohpotenzial gegen Israel missbraucht, wo ihre Forderung nach Rückkehr zu Recht Furcht und Schrecken verbreitet. Den Palästinensern, die durch die Gründung Israels ihre Heimat verloren, wird 75 Jahre später immer noch das Minimum, die trauernde Erinnerung daran, verweigert. An die Nakba zu erinnern bedeutet, sich in Konfliktzonen zu begeben. Aus unterschiedlichen Gründen ist sie in Israel nicht Bestandteil der Erinnerungspolitik und in Deutschland wenn nicht völlig unbekannt, dann als vermutete Parteinahme für Palästina und Affront gegen Israel stigmatisiert. Das erfahren auch die wenigen, die über den historischen Sachverhalt informieren wollen, auf Schritt und Tritt.

Waren es nicht immer die fanatischen Religionsführer und Politiker dieser Welt, welche von Beginn der Menschheit an für die Kriege zeichneten ? Wenn der Verstand im Nebulösen verschwindet versagt die Humanität.

Die Ausstellung ist notwendig als Denkanstoß, und sie ist entgegen kleinmütiger Anfeindung seit 2008 mit Erfolg unterwegs. Bald erreicht sie die 200. Station. Auf dem Ökumenischen Kirchentag in München (2010), den Evangelischen Kirchentagen in Hamburg (2013), Stuttgart (2015), Berlin (2017), Dortmund (2019) wurde sie gezeigt. Sie stand in Straßburg im Europaparlament und in Genf im Haus der Vereinten Nationen.

Nicht jeder Zweifel am Ziel Jahrzehnte währender Besatzungspolitik, nicht jeder Hinweis auf das Völkerrecht, nicht jede Kritik an politischen Aktivitäten des Staates Israel ist Ausdruck judenfeindlicher Gesinnung oder eines rabiaten Antisemitismus. Angriffe aus dem besetzten Gebiet gegen israelische Bürger finden bei keinem vernünftigen Menschen Beifall, und judenfeindliche Hassparolen auf Palästinenserdemonstrationen in Deutschland sind abscheulich und unerträglich. Aber Mitleid mit dem Schicksal palästinensischer Kinder ist nicht gleichbedeutend mit Liebesentzug für den Staat, in dem Juden eine sichere Heimat haben sollen. Solidarität mit Israel ist schon aus Scham über die deutsche Schuld selbstverständliche deutsche Staatsräson.

Ignorieren und verhindern, dass auch über anderes Leid als das der Juden gesprochen wird, so der Publizist Micha Brumlik, birgt die Gefahr, dass israelbezogener Antisemitismus, der Aufklärung entzogen, „erst recht verstärkt wird: indem man dem Kirchentag und seinen auch jüdischen Teilnehmern nun leicht vorwerfen kann, die Wahrheit zu verschweigen.“

Quelle      :            TAZ-online         >>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —       The war of Independence. Arab People fleeing from their galilee villages as israeli troops approach (30/10/1948). תושבים ערבים במנוסה מכפרם לאחר הכניסה של הכוחות הישראלים לשטח

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Blast from the Past

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Juni 2023

Vom SS-Schergen zum Fernsehstar

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Von Karina Urbach

Reinhard Spitzy war in den 1990er Jahren ein Zeitzeugenstar. In den 50ern kehrte der Ex-SS-Mann aus Südamerika nach Österreich zurück.

Der SS-Hauptsturmführer Reinhard Spitzy war in den 1990er Jahren ein Zeitzeugenstar. In deutschen und internationalen TV-Dokumentationen tauchte Spitzy (1912–2010) als gefragter Experte für alles Braune auf.

Seine Markenzeichen: österreichische Joppe, Charakterkopf und immer ein leicht spöttisches Lächeln im kantigen Gesicht. Wobei nie ganz klar war, wen er hier spöttisch anlächelte – den übereifrigen Interviewer, die faszinierten Zuschauer oder seine toten Opfer?

Spitzy war ein charmantes Monster, das mit animalisch sicherem Instinkt wusste, was das Publikum wollte. Über den „Anschluss“ seiner Heimat Österreich ans „Deutsche Reich“ verkündete er: „Ich war im sechsten Wagen hinter Hitler und hatte Tränen in den Augen.“ Und auf die Frage, warum die Nazis Juden hassten: „Jeder Anwalt war Jude.“

Natürlich kannte Spitzy auch die besten Herrenwitze über das „Flitscherl“ Eva Braun. Er war immer und überall dabei gewesen. Auf das Cover seiner Memoiren setzte er einen authentischen Schnappschuss vom Münchner Abkommen 1938, bei dem er zwischen Hitler und Chamberlain als neugieriges Groupie hervorlugt.

Amoralischer Influencer

Seine Erinnerungen und die Fernsehsendungen machten ihn zum amoralischsten Influencer der 1980er und 1990er Jahre. Seine Botschaft lautete: Demokratien boten keine Lösungen, ich wurde deshalb ein illegaler Nationalsozialist in Österreich. Es war alles eine große Hetz. Leider gab es halt auch ein paar Ausrutscher.

Der größte „Ausrutscher“ war in Spitzys Augen sein erster Chef, Außenminister Joachim von Ribbentrop. Ihm sympathischere Vorgesetzte fand er dann beim Reichssicherheitshauptamt. Walter Schellenberg entsandte ihn in die Spionagehochburg Spanien, wo er mit dem SD-Mann Prinz Max Egon zu Hohenlohe-Langenburg (1897–1968) ein Dream-Team bildete.

File:Bundesarchiv Bild 183-R69173, Münchener Abkommen, Staatschefs.jpg

Eine von Spitzys größten Begabungen war es, nach 1945 seine kriminellen Freunde zu Wohltätern der Menschheit zu stilisieren. Max Hohenlohe kam bei ihm besonders gut weg: „Gestützt auf seine Stellung, verzweigte internationale Verbindungen und finanzielle Unabhängigkeit, beschäftigte sich Max Hohenlohe gerne mit der Außenpolitik, wie dies seit dem Mittelalter in seiner Familie Tradition war.“

In Wirklichkeit hatte diese „Beschäftigung mit der Außenpolitik“ eine sehr finstere Seite. Generationen von Hohenlohes hatten als Fürstenberater gedient, und Max diente jetzt dem neuen Fürsten Hitler. Hinter den Kulissen agierte er besonders effektiv in der Sudetenkrise. Die Briten hielten ihn für ihren Vermittler und fanden später heraus, dass Hohenlohe aufgrund seines „verdeckten Einsatz für die Nazis“ mit dem Vorstandssitz des tschechischen Munitionsherstellers Škoda in Brünn belohnt worden war.

Nach Kriegsausbruch arbeitete Hohenlohe für Göring an Desinformationskampagnen, wechselte später zu Himmler, und am Ende versuchte er es auch noch bei den Amerikanern (die die Geldanlagen seiner schwerreichen mexikanischen Ehefrau verwalteten).

Als „innerer Widerständler“ ausgegeben

Spitzy bewunderte die Agilität seines hochadeligen Freundes und lernte viel von ihm. Gegen Kriegsende gab auch er sich als „innerer Widerständler“ aus, aber dummerweise stand er auf einer alliierten Fahndungsliste und musste untertauchen. Die katholische Kirche und sein Kumpel Hohenlohe halfen ihm 1946 aus dem Schlamassel: „Wir saßen gerade beim Pfarrer, zu Abend“, schrieb Spitzy in seinen Memoiren, „als ein Postbote ihm ein Telegramm von Max Hohenlohe aus Madrid brachte … Dies war der vereinbarte Code und hieß, ich müsse augenblicklich untertauchen.“

Spitzy bekam genug Geld zugesteckt, um die Adolf-Eichmann-Reiseroute nach Argentinien zu nehmen. Das Familienmotto Max Hohenlohes lautete „ex flammis orior“ (ich werde mich aus den Flammen erheben), und genau das schafften er und sein Freund Spitzy in den 1950er Jahren wieder.

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>        weiterlesen 

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Oben     —    Die königliche Familie beobachtet das Vorbeifliegen, Trooping the Colour Juni 2013

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Leerstelle im Ost-Diskurs

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Juni 2023

Darf man über die DDR Gutes schreiben?

Von     :  Gunnar Hinck

Die Aufregung um zwei Bücher zeigt: Zwischen Lebenserinnerungen und Diktaturbedingungen klafft bis heute eine Lücke. Wer in einem FDJ-Ferienlager seine erste Liebe kennengelernt hat, dem ist es egal, dass die FDJ eine De-facto-Zwangsorganisation war.

Zwei Dinge lassen sich aus dem Erfolg der Bücher herauslesen: Offizielle Reden zum Einheitsfeiertag 3. Oktober sind für alle, denen staatstragende Symbolik egal ist, sinnlos. Debatten werden nicht durch routinierte Redenschreiber-Texte ausgelöst, sondern durch Bücher, und das ist erst einmal eine gute Nachricht. Zweitens: Obwohl – oder weil – es inzwischen regalmeterweise wissenschaftliche Literatur über die DDR und die Nachwendezeit gibt, herrscht offenbar weiter großer Gesprächsbedarf über den Arbeiter-und-Bauern-Staat und die Folgen der Wiedervereinigung.

Die beiden Bücher sind erfolgreich, gerade weil sie nicht differenzieren. Oschmann schreibt wie jemand, der sich nach einer langjährigen Beziehung trennt und im Trennungsgespräch wie ein Buchhalter die Verfehlungen des anderen der letzten Jahrzehnte auflistet. Die aufgestaute Kränkung muss raus, und sie hangelt sich oftmals ziemlich kleinlich von Banalität zu Banalität, um etwas Größeres auszudrücken: Du hast mich schwer enttäuscht und meine Bedürfnisse nicht ernst genommen. In seinem Fall ist der Ex-Partner die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft.

Eine Kostprobe: „Als Franziska Giffey 2018 zur Familienministerin ernannt wurde, besaß die ARD-Journalistin Pinar Atalay zur Hauptsendezeit doch tatsächlich die Dreistigkeit, Frau Giffey als ‚Quoten-Politikerin‘ zu bezeichnen und sie zu fragen, ob sie nicht allein deshalb Ministerin geworden sei, weil sie aus dem Osten stamme.“ Zur Hauptsendezeit! Wer in ostdeutschen Kleingärten unterwegs ist oder sich in Kantinen ostdeutscher Betriebe setzt, bekommt eine Ahnung davon, dass Gespräche im Osten über den Westen oft ziemlich genau so ablaufen, zumindest bei den Älteren.

Katja Hoyers Buch kommt im Gewand einer neutralen Chronik mit einigen pflichtschuldigen Schlenkern zu Menschenrechtsverletzungen der DDR und privaten Erinnerungen von Zeitzeugen daher. Gewissenhaft notiert sie in einer seitenlangen Passage über Jeanshosen: „Die Marke ‚Wisent‘ wurde im VEB Bekleidungswerke Templin hergestellt, etwa eine Stunde nördlich von Berlin.“ Das Buch erfüllt die Sehnsucht eines Publikums, dass das Leben in der DDR endlich „sachlich“, wie es oft heißt, dargestellt wird. Es ist ein Geschenkbuch, ein Dia-Abend für die ganze Familie – weißt du noch? Man konnte ganz gut leben in der DDR, ist die Botschaft des Buches.

Der Erfolg weist auf eine Leerstelle im Ost-Diskurs hin. Es ist bisher nicht gelungen, die Lücke zwischen individuellen Lebenserfahrungen und dem Rahmen, den die Diktatur bildete, zu schließen. Die an sich banale Aussage, dass es in der DDR auch privates Glück und private Erfolgsgeschichten gab, wird von der offiziellen Gedenkarbeit und der Forschung geradezu zwanghaft verknüpft mit einem großen „Aber“: Es gab flächendeckende Kitas und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen? Ja, aber das wurde nur gemacht, weil der SED-Staat Frauen als Arbeitskräfte brauchte. Der Wohnraum war billig? Ja, aber es gab Wohnungsnot und den Verfall der Altbauten. Das Problem dabei ist: So funktioniert privates Erinnern nicht. Der Mensch erinnert sich an das Positive, selektiv, aus einem einfachen Grund: Man möchte große Teile des eigenen Lebens von anderen nicht als entwertet, da in einer Diktatur verbracht, beurteilt sehen. Wer in einem FDJ-Ferienlager seine erste Liebe kennengelernt hat, dem ist es egal, dass die FDJ eine De-facto-Zwangsorganisation des Staates war.

Erinnerungen sind zudem selbstredend unterschiedlich. Wer in einem Chemiekombinat seine Gesundheit ruiniert hat oder in Stasi-Haft saß, hat eine andere Erinnerung an die DDR als derjenige, der als politisch Angepasster oder Überzeugter ein kommodes Leben im Partei- oder Staatsapparat zubrachte. Oder sich als Vertreterin der sogenannten technischen Intelligenz, als Ingenieurin etwa, von der Politik, so gut es ging, fernhalten konnte, aber in ihrer Arbeit Sinn und Bestätigung sah.

Die Relativierung, die besonders Katja Hoyer vorgeworfen wird, betreiben auch ihre Kritiker. Alles individuell positiv Erfahrene wird mit dem Label „aber Diktatur“ versehen. Das liegt darin, dass das offizielle DDR-Erinnerungs-Business einerseits von westdeutschen, politisch eher konservativ geprägten Historikern und andererseits von Bürgerrechtsbewegungsveteranen, die sich aus verständlichen Gründen ihre Deutung der DDR nicht nehmen lassen wollen, nahezu monopolisiert wird. Eine eher zweifelhafte Rolle nimmt dabei die „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ ein, deren geförderte Forschungsvorhaben immer kleinteiliger werden. Überraschende, frische Sichtweisen auf die DDR sind in diesem hermetisch abgeriegelten, sich selbst bestätigenden Milieu nicht möglich; neue und überraschende Fragen werden nicht gestellt.

So wird die DDR bislang immer nur vom Endpunkt ihres Scheiterns aus betrachtet. Interessanter wäre es, nach über 30 Jahren zu fragen: Warum war die DDR eigentlich so relativ lange stabil? Warum kam es, ganz anders als im Nachbarland Polen, von 1954 bis 1988 zu keinen Aufständen mehr? An der staatlichen Repression allein kann es nicht gelegen haben, die in Polen genauso massiv war.

Es ist Zeit, die komplexen Dynamiken von Repression, Alltagswiderstand, Anpassung, einem im Vergleich zu den sozialistischen Bruderstaaten relativ guten Sozialstandard und hoher sozialer Mobilität zu erforschen. Die DDR war ein Gefängnis für sehr viele, aber wer aus sogenannten einfachen Verhältnissen kam, mitmachte und funktionierte, konnte Karrierewege einschlagen, die ihm in der frühen Bundesrepublik wahrscheinlich verwehrt geblieben wären. Was die Funktionseliten in Kombinaten, SED-Kreisleitungen, Armee und Universitäten angeht, war die DDR tatsächlich ein Arbeiterstaat – es dominierten solche mit Kleine-Leute-Hintergrund.

Plötzlich konnten Landarbeitersöhne Generäle werden. Die Kehrseite war selbstverständlich die Diskriminierung sogenannter bürgerlicher Familien. Aber festzuhalten ist, dass doch einige Hunderttausend, so zynisch es klingt, von der Diktatur des Proletariats karrieremäßig profitiert haben. Die DDR hat viele Karrierewege und Lebensträume zerstört, aber sie funktionierte auch als Fahrstuhl nach oben für andere.

Es ist kein Zufall, dass Dirk Oschmann, wie er im Buch mehrmals betont, ein Arbeitersohn ist, der in der DDR studieren konnte. Katja Hoyer war erst vier Jahre alt, als die Mauer fiel, aber die Küchentischgespräche mit ihren Eltern – Mutter Lehrerin, Vater ehemaliger NVA-Offizier – dürften sie geprägt haben. Denn gerade solche, die in sogenannten staatsnahen Berufen arbeiteten, haben das Ende der DDR oftmals als beruflichen Abstieg erlebt. Erinnerung setzt sich generationsübergreifend fort.

Vieles ist bislang ungeklärt, auch was die Nachwendezeit angeht. Was genau und warum ist es schiefgelaufen nach 1989? Dabei ginge es um zentrale Fragen: warum die Existenzangst nach der Wende flächendeckend so groß war, obwohl der bundesdeutsche Vor-Hartz-IV-Sozialstaat gut ausgestattet war. Warum das Verhältnis zwischen den neuen Firmenchefs, Behördenleitern und Politikern, die nach 1990 zu Zehntausenden aus dem Westen kamen, und den Ostdeutschen so asymmetrisch, in der Tendenz ein Herr-und-Diener-Verhältnis war.

Warum die Protest-Energie, die Selbstermächtigung von 1989, so schnell in Resignation umschlug. Warum die vielfältigen Demonstrationen der frühen neunziger Jahre, die teilweise wilden und politischen Streiks gegen die Privatisierungs- und Schließungspolitik der Treuhandanstalt, so schnell erstarben – und was dabei eigentlich die Rolle der personell westlich dominierten Gewerkschaftsspitzen in den neuen Ländern war, die aus politischen Gründen gegen Massenstreiks waren.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben        —     For documentary purposes the German Federal Archive often retained the original image captions, which may be erroneous, biased, obsolete or politically extreme. ADN- Kluge 28.5.90 Leipzig: Demonstration- Hunderte Bürger waren dem Aufruf des Neuen Forums zu einer Demonstration gegen die Politik von Innenminister Peter-Michael Diestel (DSU) gefolgt. Auf der Kundgebung vor der Leipziger Oper forderten sie die konsequente Aufdeckung aller Machenschaften der ehemaligen Staatssicherheit.

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Fallbeispiele der Dissidenz

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Juni 2023

„Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von         :    Frank Bernhardt / Johannes Schillo

„Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“ (A. Baerbock). Mit dieser krassen Aussage sorgte die deutsche Aussenministerin im Januar für etwas Aufsehen – gilt doch bei dem andauernden Stellvertreterkrieg des Westens gegen die russische Militärmacht nach wie vor als Dogma der deutschen Politik: Wir sind keine Kriegspartei! Als die russische Seite sich über den neuen Klartext beklagte, folgte die Klarstellung aus Berlin. Demnach geht es um die Gesinnung, die für uns und den versammelten Wertewesten zur verbindlichen, nicht hinterfragbaren Norm geworden ist, denn Putin, die Verkörperung des Bösen, hat die Ukraine grundlos angegriffen, so dass wir als die Guten dagegen halten müssen. Wobei die Vertreter der „regelbasierten Weltordnung“ in diesem Moment von ihren eigenen Angriffskriegen nichts mehr wissen wollen…Moralisch gesehen befinden wir uns also eindeutig im Krieg mit Russland. Und es gibt jetzt hierzulande wieder eine Obrigkeit, die keine Parteien und keinen Widerspruch im Volk mehr kennen will und die den entsprechenden Patriotismus einfordert – zur Zeit eben „nur“ als die richtige Gesinnung, da ja der Krieg bisher „from behind“ geführt wird und bislang noch kein deutscher Soldat an dem fürchterlichen Gemetzel auf ukrainischem Boden beteiligt ist (bis auf die Freiwilligen aus dem rechten Umfeld, die dort gegen das Böse kämpfen). Ein „proletarisches Einverständnis“ mit der Herbeiführung der neuen Weltkriegslage ist dabei inbegriffen – von einer Arbeiter- oder Gewerkschaftsbewegung, die sich aus einem internationalistischen Geist den nationalen Kriegsherren entgegenstellt, ist weit und breit nichts zu bemerken.

Bedenken jedweder Art fallen vielmehr unter den Generalverdacht, die politisch erklärte Feindschaft zu Putin zu unterlaufen. Da ist man schnell „Putin-Freund“, vielleicht sogar Wehrkraftzersetzer, hat jedenfalls nichts mehr zu melden, da man nicht umstandslos für das Gute Partei ergreift. So die Kritik der neuen Flugschrift „Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“ von Norbert Wohlfahrt und Johannes Schillo, die Ende Mai beim VSA-Verlag erschienen ist. Parteinahme für den gerechten Krieg, so führt die Schrift aus, ist nicht hinterfragbar, ja selbst ein Hauch von pazifistischer Dissidenz nicht mehr tolerierbar. Im öffentlichen Diskurs ist seit der „Zeitenwende“ vielmehr das Bekenntnis zur antirussischen Linie Zulassungsbedingung. Mit Ablehnung, Distanz oder „Kriegsmüdigkeit“ (Baerbock) hat Schluss zu sein.

Zur Zielsetzung der neuen Publikation hier ein Gespräch zwischen den beiden Gewerkschaftskollegen Frank Bernhardt (GEW) und Johannes Schillo (Verdi), dem Ko-Autor der Publikation.

Fallbeispiele der Dissidenz

Bernhardt: Was zur Zeit an Formierung der Öffentlichkeit und der Meinungsbildung in Deutschland stattfindet, was z.B. heutzutage wissenschaftlich untragbar ist, war ja im Overton-Magazin schon mehrfach Thema. Aber auf Wissenschaft, Medien und Bildungsbetrieb ist das ja nicht beschränkt. So wird etwa der Friedensbewegung des „Hamburger Forums“ der Zugang zu Gewerkschaftsräumen erschwert, sie müssen zukünftig ihr Konzept einreichen; wenn es nicht abgelehnt wird, können sie die Räume zahlungspflichtig buchen. Dann die Meldung vom Frühjahr: Der DGB und Linke marschieren erstmals beim Hamburger Ostermarsch nicht mit (ndr.de, 3.4.23). Ein Jahr zuvor hatte es dazu noch den DGB-Aufruf „Nie wieder Krieg“ gegeben.

Und der Vertreter der „freien Wissenschaft“, der Hamburger Uni-Präsident Prof. Heekeren, versagt auf Anraten des Verfassungsschutzes dem ASTA kurzfristig die Räumlichkeiten für eine internationale Konferenz „Die kapitalistische Moderne herausfordern – wir wollen unsere Welt zurück“, die früher in der Uni stattfinden durfte. Der neue Zeitgeist duldet auch hier keine Kritik!

Du hast dazu ja schon einiges publiziert. Dabei kam auch zur Sprache, dass der legendäre öffentliche Diskurs, der die hiesige Demokratie auszeichnen soll, von vornherein seine Staatsverbundenheit kennt – Kritik ist im Grundsätzlichen nur als konstruktive statthaft – und die damit gegebenen Imperative befolgt, dass so gesehen die Dissidenz einer Gegenöffentlichkeit nichts Neues ist. Was will die Flugschrift, an der Du mitgewirkt hast, dazu im Einzelnen beitragen? Schillo: Zunächst einmal macht sie Fälle namhaft – ähnlich wie die, die Du gerade aus Hamburg genannt hast –, wo es in der Öffentlichkeit zu Ausgrenzung kommt. Da gibt es etwa das Beispiel der Bonner Politik-Professorin Guérot.

Sie hat 2022 zusammen mit einem Wissenschaftler einen Essay über das Versagen Europas angesichts der aktuellen Kriegslage veröffentlicht, worauf eine regelrechte Kampagne gegen sie auf Touren kam, an der sich die Medien, aber auch Universitätskollegen, Studenten und schliesslich die Universitätsleitung beteiligten.

Die Unwissenschaftlichkeit des Essays „Endspiel Europa“ soll darin bestehen – so kann man die Vorwürfe auf den Punkt bringen –, dass er einem alten Europa-Ideal huldigt und nicht dem aktuellen Nato-Narrativ folgt. Mittlerweile hat das Bonner Uni-Rektorat Guérot gekündigt und sie hat sich auf ein Arbeitsgerichtsverfahren eingelassen, bei dem es um die Höhe einer Abfindung geht, weil alles andere wohl ein langwieriger, eher aussichtsloser Kampf um ihre Rehabilitierung gewesen wäre.

Interessant ist hier, dass dieser Akt der Zensur keiner sein soll. Vielmehr wird er als Strafe für unwissenschaftliches Arbeiten dargestellt, da die Politologin in ihren Streitschriften zu Europa (oder vorher zu Demokratiedefiziten der Pandemiebekämpfung) hier und da bei der Berufung auf wissenschaftliche Autoritäten die Anführungszeichen samt Quellenangaben vergessen habe. Schaut man sich die Beispiele an, stellt man schnell fest, dass es um absolute Lappalien geht.

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Innenraum eines Krankentransportwagens der Bundeswehr in Breitenburg

Selbst der namhafte Plagiatsforscher Stefan Weber musste das in seinem Telepolis-Beitrag, der die akademischen Sünden Guérots bekannt machen wollte, zugeben. Es seien auch schon andere Wissenschaftler über Plagiate in ihren Arbeiten gestolpert, räumte er ein, aber es „ist in den seltensten Fällen so, dass Wissenschaftler genuin wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens berufliche Nachteile haben“. Und man merkt dem Mann die Bauchschmerzen an, mit denen er die politische Einflussnahme auf diese – angeblich – rein innerwissenschaftliche Kontroverse registriert. Dazu habe ich ja auch einen Kommentar „Der Fall Guérot II“ beigesteuert.

Bernhardt: Wie ist der aktuelle Stand in dieser Sache? Ist das damit erledigt, geht das so einfach über die Bühne? Schillo: Ende April sollte ein Gütetermin zum Arbeitsgerichtsverfahren stattfinden, der aber zu keiner Einigung führte. Für die Uni ist die Sache klar, Guérot „habe sich während ihrer Dienstzeit an der Universität des Plagiats schuldig gemacht. Die zuständigen Gremien hätten den Sachverhalt geprüft und sähen ihn als erwiesen an“. Der Bonner Richter stellte jedoch fest, „dass es sich nicht um klassische wissenschaftliche, sondern populärwissenschaftliche Werke handele. Die Frage ist nun, inwiefern auch hier die Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens gelten.“ (FAZ, 3.5.23)

Vor dem Arbeitsgericht demonstrierten übrigens zwei Dutzend Studenten und Studentinnen, die der ASTA unter der Parole „Kein Platz für Verschwörungsideologien – Keine Professur für Guérot“ mobilisiert hatte. Wesentlich mehr Personen – zumeist aus der Friedensbewegung – protestierten allerdings gegen die Kampagne der Bonner Uni. Dort soll übrigens im Wintersemester eine Vorlesungsreihe stattfinden, die sich mit dem „Fall“ auseinandersetzt. Man darf gespannt sein, ob und in welcher Form das zustande kommt. Zum aktuellen Stand der Dinge hat sich Guérot jetzt auch in einem Interview bei Telepolis geäussert.

Patriotische Moral

Bernhardt: Solche Zensurmassnahmen sind bisher doch eher Einzelfälle (wie man etwa auch an den Beispielen Krone-Schmalz oder Baab sehen kann). Das soll nun nicht verharmlost werden, nur muss man doch festhalten, dass sich die Experten – ob sie jetzt aus dem Medien- oder dem Wissenschaftsbetrieb kommen – ziemlich einig sind, wenn es um die Gültigkeit des so genannten NATO-Narrativs geht. Von einer grossartigen Spaltung der Öffentlichkeit, von einem Niedermachen minoritärer Meinungen auf breiter Front oder von einer systematischen Praxis staatlicher Eingriffe ist doch bis auf die angesprochen Fälle wenig zu sehen.

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Friedensbewegter Protest ist auch in Gewerkschaftskreisen-Kreisen weiterhin zulässig. Zum Antikriegstag hiess es vom DGB: „Die Waffen müssen endlich schweigen!“ (Aufruf „Für den Frieden“, 1.9.22). Der DGB HH hält zu Themen wie Aufrüstung und Lieferung schwerer Waffen eine „breite und offene Debatte“ für „notwendig“ (Aufruf „Gegen den Krieg“, 24.3.23). In der Bildungsgewerkschaft GEW, z.B. im Landesverband Hamburg, wo ich als Personalrat tätig war und mich weiterhin an Debatten beteilige, war man seit Jahren auf Anti-Kriegskurs. Das alte Motto der GEW „Gegen die Militarisierung des Bildungswesens!“ wurde nicht gecancelt. „Waffen schaffen keinen Frieden“ (gew.de, 28.3.22) – auch mehr davon nicht. Denn „Mehr Waffen bedeuten mehr Blutvergiessen“ (wienerzeitung.at, 17.6.22), so ein Mitglied der ukrainischen Friedensbewegung. Aber es gibt seitdem Nadelstiche, die die Arbeit der Friedensbewegung erschweren bzw. verhindern sollen – mit dem Hinweis z.B., es mangele an Abgrenzung gegenüber den Rechten in der Kriegsfrage.

Im Grundsätzlichen wurden Positionen beibehalten: „Krieg als schulisches Thema gehört in die Hand der dafür ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen, zum Beispiel in der politischen Bildung“ (welt.de, 9.3.22), so A. Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied der GEW Bund. Dazu seien Fachleute in den Schulen vorhanden, um Ängste und Nöte junger Menschen altersangemessen zu besprechen. Gegen die verstärkt erhobene Forderung „Bundeswehr in die Schulen!“ sah auch die GEW die Gefahr, dass die Offiziere letztlich unwillkürlich Werbung für den Soldatenberuf machen. „Durch die Präsenz von Militär an Schulen sollen die Kinder und Eltern an die Normalität des Krieges gewöhnt und die Schüler_innen als neue Soldat_innen geworben werden“, so wurde das Bündnis „Schule ohne Militär“ auf welt.de zitiert.

Schillo: Das stimmt, es ist nicht so, als wären „von oben“ administrativ und repressiv widerspenstige Volksmeinungen auf Linie und Organisationen wie die Interessenvertretungen der Arbeiter, die ja laut DGB-Aufruf die Hauptleidtragenden von Kriegen sind, zur Räson gebracht worden. Ich habe in meinem Text zur proletarischen Einverständniserklärung die Parallele zum Jahr 1914, zum Beginn des Ersten Weltkriegs, gezogen, als sich die Arbeiterbewegung, die ursprünglich mit einem internationalistischen Programm angetreten war, umstandslos zur Nation bekannte.

Mit der von Kanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ ist jetzt in Deutschland auch eine „Gesinnungswende“ erfolgt, die in ihrer raschen, flächendeckenden Umsetzung zwar atemberaubend ist, die aber mit dem Umbruch von damals, als das Zeitalter der Weltkriege begann, nicht zu vergleichen ist. Seit dieser Zeit sind ja die (ehemaligen) Arbeiterparteien oder die Gewerkschaften als nationale Ressource in die Grossmachtkonkurrenz, die ihre Kriegsherren austragen, fest eingebaut. Die patriotische Moral, die auf politische Ansage mit den jeweiligen Freund- und Feindbildern der Nation vertraut gemacht wird, ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Das versuchen wir in unserer Flugschrift zum Thema zu machen, auch mit kritischen Überlegungen dazu, wie überhaupt die moralische Deutung der in- wie ausländischen Konkurrenzlagen funktioniert – und wie sie an der Sache vorbei geht.

Bernhardt: Die Zustimmung zu nationalen Feindbildern kann ich bestätigen. Der DGB Hamburg wendet sich in seinem diesjährigen Aufruf „Gegen den Krieg“ ausdrücklich nur gegen den „Angriffskrieg Russlands“, er beklagt die vielen Opfer auf der ukrainischen Seite, verliert über das verheizte Menschenmaterial auf der anderen Seite kein Wort. Im April folgt der DGB-Aufruf zu den Ostermärschen „Gegen Unterdrückung, Gewalt und Krieg!“. Wie im Aufruf zum Antikriegstag 2022 werden die Kriege weltweit angesprochen und trotz dieser Leitparole nimmt der DGB Partei für den Stellvertreterkrieg des Westens – also für eine Art der Kriegsbeteiligung, die das gegenseitige Abschlachten verlängert, die Milliarden kostet, wobei Deutschland als Hauptsponsor in der EU für die Tötungsmaterialien im Krieg und für den Unterhalt des maroden ukrainischen Staates aufkommt. Dazu gesellen sich die Kosten des Wirtschaftskriegs, der viele Menschen an der „Heimatfront“ durch die Energiekrise, durch die unverschämten Preiserhöhungen in Not bringt. Warum wird der Zusammenhang zwischen dem Krieg der konkurrierenden Staaten und ihren kapitalistischen Ökonomien schlicht ignoriert?

Schillo: Wie gesagt, wenn solche Konflikte aus dem Blickwinkel einer gefestigten patriotischen Moral betrachtet werden, findet eine Verschiebung statt. Dann kann z.B., das greifen wir im Buch am Beispiel der Osteuropaforschung auf, auch das sonst verpönte Schlagwort Imperialismus wieder zu Ehren kommen, nämlich als zusätzliche Charakterisierung der puren Bösartigkeit des Putin‘schen Regimes.

Der Imperialismusbegriff zielt der Sache nach auf die weltweit ausgreifenden kapitalistischen Benutzungs- und Abhängigkeitsverhältnisse, in denen die konkurrierenden Staaten immer wieder mit der Frage konfrontierte werden, ob sie ihre Gegensätze noch aushalten wollen oder zu anderen Mitteln greifen müssen. In der gültigen Weltordnung, die von den USA – nach ihrer eigenen Wahrnehmung: die einzig verbliebene Supermacht – bestimmt wird, ist der Gewalteinsatz zur eigenen Reichtumsmehrung untersagt; in der ökonomischen Konkurrenz sollen die Nationen ihr Mittel suchen.

Wo aber dessen Einsatz zu Erfolgen führt, die die überkommene Hierarchie der Staatenwelt in Frage stellen – siehe den Aufstieg der VR China zur Weltwirtschaftsmacht –, oder wo sich ein (schlimmstenfalls atomar unterlegter) Grossmachtanspruch zu Wort meldet – siehe die Russische Föderation mir ihren eigenen Vorstellungen einer europäischen Sicherheitsordnung –, muss gegen die Störer mit Gewalt vorgegangen werden. Das hat die US-Führungsmacht in endlosen Gemetzeln mal mit, mal ohne ihre NATO-Gefolgschaft, mal mit, mal ohne völkerrechtliche Legitimation durchexerziert. Und dafür ist in Osteuropa nach dem Ende des Ostblock, anknüpfend an den früheren „Rüstungswettlauf“, den Gorbatschow verloren gegeben hatte, eine gigantische NATO-Front aufgebaut und scharf gemacht worden – wobei diese Mal, was natürlich stimmt, der Russe zuerst geschossen hat (wenn man einmal den achtjährigen Bürgerkrieg in der Ukraine seit 2014 beiseite lässt).

Doch soll man deshalb in der Rivalität der Grossmächte Partei ergreifen? In einem Konflikt, der bis zur atomaren Apokalypse eskalieren kann und in dem wie eh und je das Fussvolk der Kapitalstandorte für die Durchsetzung seiner Kriegsherren sein Leben opfern muss? Für Patrioten ist dies eine Konsequenz, die sie zwar erschreckt oder beunruhigt, Einzelne sogar in Dissidenz treibt, die aber im Paket mit drin ist, wenn man in einer rundum freiheitlichen und zur Verteidigung ihrer Werte bereiten Nation leben will (bei Putin soll es natürlich pure Gewaltherrschaft sein, die ihm das Kanonenfutter zur Verfügung stellt). Wir versuchen daher in unserer Flugschrift vor allem dieses bemerkenswerte Gebilde einer patriotischen Moral, das für die meisten Insassen eines nationalen Gewaltzusammenhangs als Selbstverständlichkeit gilt, auf den Prüfstand zu stellen.

Einige Anregungen zu deren Kritik – fussend auf den Grundsatzüberlegungen der VSA-Flugschrift – sind jetzt auch auf der IVA-Website erschienen. Angegriffen werden dort grundsätzlich die moralischen Deutungen, mit denen die Parteigänger einer Konkurrenzgesellschaft ihre Lebensschicksale bewältigen. Sie tun dies, bevor nationale Feindbilder ins Spiel kommen, in der alltäglichen Unterordnung unter einen Rechtszustand, der ihnen die Freiheit der Interessenverfolgung gewährt. Sie überhöhen die Gebote des Staates zu sittlichen Massstäben, deren Befolgung zu allseitiger Harmonie führen müsste – wobei dann erst in einem zweiten Schritt das Ausland oder die Ausländer ins Visier der Menschen guten Willens geraten, wenn diese die bösen Kräfte auf dem Globus dingfest machen.

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Oben        —        Die Aufklärungsdrohne PD-100 von Prox Dynamics als „Nano UAS“ im Dienst der Spezialkräfte des Heeres.

Author    ; Boevaya mashina          /        Source    :    Own work         /      Date      :      17 August 2019

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2.) von Oben       —     Innenraum eines Krankentransportwagens der Bundeswehr in Breitenburg

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Kolumne-Fernsicht-Israel

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Mai 2023

Klassenfahrt zu Denkmälern für Antisemiten

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Von Hagai Dagan

Polen und Israel sind vor nicht allzu langer Zeit über ein Abkommen einig geworden, das die Besuche jugendlicher israelischer Delegationen in Polen regelt und einen jahrelangen diplomatischen Streit beendet.

Die Besuche in den Konzentrationslagern sind ein Erziehungsritual und aus dem Curriculum staatlicher israelischer Schulen nicht wegzudenken. Tatsächlich aber sind sie umstritten.

Die Rechte und die politische Mitte Israels tendieren dahin, sie als pädagogische Notwendigkeit zu betrachten, während die Linke eher auf Distanz geht und sie als nationalistische Indoktrination ablehnt. Linke Lehrkräfte protestieren dagegen, dass die Schoah eine so zen­trale Rolle für die israelischen Identität spielt. Stattdessen müsse man sie als universales Phänomen betrachten.

Die Polen wiederum stören sich an der Tatsache, dass sie auf diesen Reisen oft in eine Reihe mit Antisemiten und Nazikollaborateuren gestellt werden. Die polnische Regierungspartei PiS versucht nun ein neues historisches Narrativ zu erstellen. Man könnte das Geschichtsbeschönigung nennen. Die neue Version stellt den polnischen Widerstand gegen die Nazis, den es in der Tat gab, in den Mittelpunkt und strebt gleichzeitig danach, die in der polnischen Bevölkerung damals durchaus vorhandene Kollaboration zu vertuschen. Dieses Narrativ stellt die Polen als zweifache Opfer dar: der Nazibesatzung und der sowjetischen Besatzung.

Diese Haltung spiegelt sich in gewisser Weise auch in der Wiedergutmachungsforderung Polens an Deutschland wider. Man ist Opfer – nicht Täter. Das ist insofern bemerkenswert, dass, auch wenn dieses Narrativ zum Teil unwahr ist, es doch die Einsicht signalisiert, dass die heutige Norm eine Distanzierung von jeglichem Antisemitismus erforderlich macht. Antisemitismus und Fremdenhass sind nicht mehr gesellschaftsfähig.

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Die europäische Rechte entwickelte über die Jahre eine gespaltene Identität. Sei ein Fremdenhasser daheim, aber ein bisschen weniger fremdenfeindlich, wenn du in die Öffentlichkeit gehst. Dieser heuchlerische Liberalismus löscht die Xenophobie nicht aus, aber es besteht doch ein Konsens darüber, dass die „Wahrheit“ verheimlicht werden muss. Die neue Rechte sagt nicht mehr: „Gut, dass die Juden vernichtet wurden“, sondern sie hält sich an die Version, dass es gar keinen Holocaust gegeben hat.

Auch die israelische Rechte befindet sich in einem Dilemma. Traditionell tendierte sie dazu, den Antisemitismus als Hauptmerkmal für Nichtjuden zu betrachten und beharrte darauf, dass die ganze Welt gegen uns ist. Wir sind die ewigen Opfer, deshalb müssen wir stark sein und erbarmungslos. Auf der anderen Seite empfindet die israelische Rechte in ihrer aktuellen Version eine Nähe zur europäischen Rechten und identifiziert sich mit ihrem Fremdenhass, vor allem mit der Islamophobie.

TAZ-online           >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Wir sollten uns vertrauen

Erstellt von DL-Redaktion am 29. März 2023

Wir sollten uns vertrauen – Der Aufstand in gelben Westen

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :      Hanna Mittelstädt

„Überall muss das Unglück zurückgeschlagen werden“ ist eine Parole aus dem Pariser Mai 68.

Genau gegen dieses elende Überleben im herrschenden Unglück, gegen die Gewalt dieses Ausschlusses vom gesellschaftlichen Reichtum und die damit einhergehende Unwürde schliessen die aktuellen Kämpfe in Frankreich wieder an.Auf zwei Dokumente des aktuellen französischen Widerstands möchte ich hinweisen: Der Dokumentarfilm „Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten“ von Emmanuel Gras (Kinostart 2013) und das mit vielen Fotos versehene Buch „Wir sollten uns vertrauen – Der Aufstand in gelben Westen“ von Luisa Michael (2019).

Der Film porträtiert die Gelbwestengruppe aus Chartres und zeigt anschaulich, wie sich durch die Durchbrechung der Scham der Armut und der Isolation ein kollektives revolutionäres Subjekt mit vielfältigen Gesichtern herausbildet. Wir sehen die Überlebensbedingungen, die Kommunikation, die Verbindungslinien mit den Demonstrationen in Paris, die Reflexionsprozesse, das Wachsen, die sozialen Beziehungen, die Niederschlagungen und internen Konflikte. „Fragend schreiten wir voran“, die Leitlinie der Zapatisten seit ihrer Erhebung 1994 in Chiapas, Mexiko, wird hier ganz selbstverständlich praktiziert, und auch, dass das Basiselement einer revolutionären Bewegung die freundschaftlichen Bindungen sind, wie es das Unsichtbare Komitee formuliert hat. Es ist ein genauer Film, ein wunderbarer Film ohne Pathos, aber mit der tiefen Berührung durch die Offenheit der Protagonist*innen. Eine Begegnung, die lange nachhallt.

Sehr gut ergänzt wird der Film durch das Buch von Luisa Michael, die ihre anfangs skeptische Beteiligung an einer Gelbwesten-Gruppe im Pariser Nordosten und in Montreuil beschreibt. Auch hier wird, noch ausführlicher und vielfältiger, von dem „fragenden Voranschreiten“ erzählt: Wie kommen wir zu einer echten Gegenmacht, wie erhalten wir unsere Autonomie, wie können wir die partikularen Kämpfe, also etwa die gegen die neo-koloniale Gewalt in den Vorstädten, die Lohnkämpfe und die gegen die Verschärfung des Arbeitsrechts, die feministischen und genderpolitischen Ansätze, die antirassistischen Bewegungen und Initiativen etc. verbinden?

In beiden Dokumenten wird die unmittelbare Entwicklung basisdemokratischer Strukturen deutlich: Vollversammlungen, Delegiertenwahlen für die Versammlung der Versammlungen, lokale Basiskomitees, maisons de peuple, Clubs zur Fortbildung und Reflexion über die ablaufenden Prozesse bilden ein weitmaschiges Gewebe, das sich durch die Erfahrungen verdichtet. Einvernehmlich ist die Ablehnung jeder politischen Repräsentation und ihrer Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, mediale Vermarktung) und der Wille zur Herausbildung anderer Strukturen des Gemeinsamen. Es war klar, dass niemand die Lösung hatte, jeder aber das Recht, sich zu irren. Es entwickelte sich ein Vertrauen in die kollektive Intelligenz.

Da die Gelbwesten auf den Kreisverkehren der Provinz (im November 2018) entstanden, ergaben sich mit deren Zusammenfliessen quasi automatisch die Verbindungslinien zwischen dem ländlich/periurbanen Raum und den Grossstädten. Und in den Grossstädten, speziell in Paris, kamen verschiedenartige Bewegungen zusammen, sogar auf internationaler Ebene durch die Exilanten aus Kämpfen und Bewegungen aus anderen Teilen der Welt. Neben den Demonstrationen auf der Strasse waren Blockaden des kapitalistischen Flusses ein erfolgreicher Störfaktor der kapitalistischen Maschine: Strassenblockierungen, Unterbrechungen der Lieferketten, Bestreikung der Logistikunternehmen und Raffinerien.

Immer wieder war es wichtig, sich Zeit für den Reflexionsprozess zu nehmen, langsam zu sein, die Vorstellungen voneinander und von den nächsten Schritten beweglich zu halten. Über die Ablehnung des Produktions- und Konsumsystems hinaus, das die Armut und den Ausschluss so vieler Menschen bedingt, war der Reflexionsprozess eine Ideensammlung für die Frage: Wie sieht eine andere Welt aus und wie gelangen wir dahin? Auch hier ging es um Selbstermächtigung und Würde.

Der gewaltige Repressionsapparat, der seit dem verhängten und nie zurückgenommenen Ausnahmezustand in Frankreich (2015 unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Terror) aufgebaut wurde, schlug erbarmungslos zu. Der Einsatz von Gummigeschossen führte zu Hunderten Schwerverletzter, die Augen oder Hände verloren, zu mindestens einer Toten, die im offenen Fenster ihrer Wohnung erschossen wurde. Massenhafte Verhaftungen auf den Demonstrationen, Präventivverhaftungen und Straflosigkeit der Polizei und der paramilitärischen Einheiten führten zu einer immer weitergehenden fundamentalen Ablehnung des „Systems Macron“.

Heute wird das wieder aufgenommen. Die aktuelle Radikalität, Wut, Aussichtslosigkeit innerhalb des Bestehenden, Ungerechtigkeit der Verhältnisse nimmt die bei den Gelbwesten gemachten Erfahrungen wieder auf, die durch die einschneidenden Massnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus Anfang 2020 abrupt und totalitär abgebrochen wurden (Macron wähnte sich im Krieg!). Es geht vordergründig um die Rentenreform und ihre undemokratische Durchsetzung, aber darüber hinaus geht es um ein ganz anderes Leben. Ein Leben in Würde und Gerechtigkeit, ein Leben, das über das Überleben hinaus geht. Das gute Leben eben.

In dem Sinne heisst: „Wir sollten uns vertrauen“ auch: „Wir sollten uns etwas zutrauen“, was die vielen Menschen auf den Strassen Frankreichs gerade tun.

„Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten“ von Emmanuel Gras, Frankreich 2022 https://dropoutcinema.org/archive/3507/

Luisa Michael: Wir sollten uns vertrauen – Der Aufstand in gelben Westen, Edition Nautilus Hamburg 2019. ca. SFr. 28.00

Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand (2010), An unsere Freunde (2015), Jetzt (2017), alle Edition Nautilus, Hamburg

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Oben        —   Les Gilets Jaunes

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Bewegungen-Anarchismus

Erstellt von DL-Redaktion am 28. März 2023

Ein Plädoyer für einen Bewegungsanarchismus und (Anti-)Politik

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :    Jonathan Eibisch

Mit dem folgenden Beitrag möchte ich eine kritische Debatte über unser Politikverständnis anregen, über das Verhältnis von Anarchismus und Bewegungslinke reflektieren und auf meine Tätigkeiten hinweisen.

Ausgangspunkt dafür sind unterschiedliche Transformationsverständnisse, welche es zu diskutieren gilt. Eine Voraussetzung bei der Entstehung des Anarchismus als eigenständige sozialistische Strömung war die Verwerfung der politischen Reform, als Ausdruck der Sozialdemokratie einerseits und der politischen Revolution als Horizont des Parteikommunismus, andererseits. Statt ersterer wurden Ansätze entwickelt, in welchen auf mutualistische Selbststorganisation gesetzt wird, um die Gesellschaft graswurzelartig zu verändern. Die Ablehnung letzterer mündete in die Befürwortung von Aufstand und alltäglicher Subversion.

Transformationsansätze

Darüber hinaus entstanden das Transformationskonzept des autonomen Protestes, mit welchem auf die Radikalisierung und Selbstorganisation in sozialen Bewegungen gesetzt wurde, und schliesslich jenes der sozialen Revolution. Bei sozialer Revolution geht es nicht um die Übernahme der Staatsmacht, sondern um die grundlegende Transformation politischer Strukturen hin zu Föderationen dezentraler autonomer Kommunen. Die Vergesellschaftung von Privateigentum und Produktionsmitteln soll durch die Arbeiter*innen selbst und direkt geschehen.

Darüber hinaus sollen mit sozialer Revolution die verschiedenen Dimensionen der Herrschaftsordnung (z.B. Geschlechter- und Naturverhältnisse, Kultur und Ethik) zugleich überwunden werden. Und sie geschieht prozesshaft, entwickelt konstruktiv neue Organisations- und Gemeinschaftsformen und orientiert sich präfigurativ an konkreten Utopien. Im Bewegungs-Anarchismus wird insbesondere auf die beiden letzten Konzepte Bezug genommen. Wenn Simon Sutterlütti die Transformation als »Konstruktion« befürwortet, welche zur »Aufhebung« führe, meint er damit (implizit und unbegriffen) das Nachdenken über anarchistische Transformationsstrategien.

In der Vorstellung der »Keimformtheorie« wird dies sogar dem Wort nach aus dem Anarchismus entlehnt. Leider geschieht dies aber verkürzt, weil komischerweise darauf insistiert wird, das Rad mit den Commons-Ansätzen auf idealistische Weise neu zu erfinden, statt konsequenterweise einen Beitrag zu formulieren, um den Anarchismus theoretisch zu erneuern. Den anarchistischen Kern dieser Theoriestränge zu verdecken, bringt für die Debatte über zeitgemässe, sinnvolle Transformationsansätze nicht weiter.

Für die Bewegungslinke hilfreich ist in diesem Zusammenhang eher ein Denken wie jenes von John Holloway (2010) oder Eric Olin Wright. Letzterer versucht dabei die Transformation durch Bruch (Parteikommunismus), durch Freiräume (Anarchismus) und durch Symbiose (Sozialdemokratie) zu verbinden, um ein gemeinsames sozialistisches Projekt denkbar zu machen (Wright 2017: 375-485).

Dabei argumentiert Wright, echte Gesellschaftstransformation könne nur ermöglicht werden, wenn alle drei Ansätze zusammengeführt werden. Mit seiner Betonung konkreter Utopien, der Annahme, dass der Sozialismus nicht aus dem Kapitalismus herauswächst, dass es eine gesellschaftliche Ermächtigung braucht und mehrere Strategien für eine grundlegende Gesellschaftstransformation zusammenwirken müssen, wirkt insbesondere der Schluss seines Buches direkt anarchistisch (Wright 2017: 486-496), ist es sein Transformationskonzept nur teilweise. Und eben darin liegt die Stärke einer Konzeption, welche unterschiedliche Ansätze zusammen denkt. Dies setzt allerdings voraus, dass die Anhänger*innen der jeweiligen Strömungen, Flügel oder Spektren, ihre eigenen Grundlagen, Fähigkeiten und Schwierigkeiten kennenlernen und weiter entwickeln. Im Übrigen ist dies auch die Voraussetzung für Streit, der solidarisch und konstruktiv geführt wird, statt dogmatisch und spalterisch. Letzteres bedeutet aber nicht, auf radikalen Zweifel zu verzichten, wo er notwendig ist…

Kritik der Politik und (Anti-)Politik im Anarchismus

Die Besonderheit des Anarchismus innerhalb der Bewegungslinken besteht in seiner Betonung der Autonomie, Dezentralität und Selbstorganisation sozialer Bewegungen, statt Vorfeldorganisationen von Parteien oder gar künstlich geschaffene Pseudo-Bewegungen zu sein. Mit dem Anarchismus wird auch die Präfiguration stark gemacht, also das Anliegen, mit den eigenen Organisations- und Aktionsformen bereits die Gesellschaftsform zu verkörpern, welche angestrebt und verallgemeinert werden soll.

Auch die eigene Ethik und die soziale Dimension unter den Aktiven gewinnt damit einen wichtigen Stellenwert: Die eigene Bewegung soll konkret emanzipierend wirken. Darüber wird die Konfrontation mit den Strukturen der Herrschaft gesucht, statt diese nur provokativ einzusetzen, um in Verhandlungen mit den politisch Machthabenden zu treten. Und es soll sich Initiative angeeignet werden, anstatt lediglich dem Tagesgeschäft der politischen Agenda gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen bzw. deren Rahmung durch Regierungspolitik hinterher zu eilen.

Zu dieser Sichtweise gelangen Anarchist*innen durch eine spezifische Kritik der Politik. Um zu begründen, weswegen Anarchist*innen zu dieser Haltung gelangen, ist der Begriff »Politik« zu definieren. Denn seine Verwendung im alltäglichen Sprachgebrauch ist sehr diffus. Weiterhin ist die Definition von »Politik« hochgradig umstritten – und damit selbst ein politischer Akt: Entsprechend der Weise, wie wir »Politik« erfassen, ergibt sich unser Umgang mit ihr. Darüber lohnt es sich, genauer nachzudenken, damit wir selbstbestimmt Inhalte und Positionen entwickeln können. Im konservativen Denken hat Politik vor allem die Aufgabe des Erhalts einer »guten« (d.h. beständigen) gesellschaftlichen Ordnung.

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Verkürzte staatssozialistische Ansätze sehen in der Politik lediglich das Ergebnis von ökonomischen Konstellationen. Das liberal-demokratische Denken erfasst die politische Sphäre in einem Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft und nimmt an, dass verschiedene Prozesse zur Öffnung oder Schliessung von Politik führen. Dagegen richtet sich die radikal-demokratische Tradition, in welcher der verfestigten Politik, »das Politische« gegenüber gestellt wird. Letzteres ist die prozesshafte Infragestellung von Herrschaftsordnungen durch selbstorganisierte Gruppen, etwa in den Platzbesetzungsbewegungen.Dagegen beziehe ich mich an dieser Stelle aus strategischen Gründen auf ein bestimmtes anarchistisches Verständnis, mit welchem Politik stets an das Regieren gekoppelt ist (»gouvernemental«). Politik ist dieser Definition nach immer mit Konflikt verbunden (»konfliktorientiert«), aber es wird bezweifelt, dass sie vor allem die Herstellung einer »guten Ordnung« (für alle) zum Ziel hat (»negativ-normativ«). Schliesslich kann Politik auch so verstanden werden, dass es in ihr immer um oft blutige und intrigante Machtkämpfe und Machterhalt zwischen meist äusserst ungleichen Akteur*innen geht (»ultra-realistisch«).Selbstverständlich ist Politik nicht nur dies. In ihr geht es auch um Verhandlungen, manchmal erscheint sie unumgänglich, vor allem, wenn wir den Anspruch erheben, die Gesellschaftsform insgesamt zu verändern – und damit auch die Gestalt dessen, was Politik in einer bestimmten Herrschaftsordnung ist. Aber wenn wir diese Definition annehmen (und es gibt zahlreiche Menschen weltweit und in der Geschichte, denen Politik so erscheint), lässt sich von einem emanzipatorischen Standpunkt zurecht in Frage stellen, ob sich das Politikmachen lohnt. Wie gesagt geht es hierbei nicht um vermeintlich richtige oder falsche Begriffe, sondern um die lohnenswerte Hinterfragung und Verschiebung unserer Sichtweise.

Anarchist*innen haben also eine grössere Skepsis gegenüber dem Politikmachen, als sie in anderen sozialistischen Strömungen vorhanden ist, welche dieser Ansicht nach unterschätzen, wie stark Staatlichkeit politisches Handeln vereinnahmt und monopolisiert. Weiterhin sind es aber auch Aktive in anderen Strömungen sozialer Bewegungen, welche ihr politisches Handeln dem Staat zuordnen (indem sie bspw. ganz bestimmte Gesetze vorschlagen und als unrealistisch erachtete Anliegen zurückstellen). Zum Beispiel neigen Mitglieder von Parteien dazu, die Autonomie einer sozialen Bewegung zu beschränken, um sie ihren eigenen Interessen zuzuführen.

Ähnliches gilt für NGOs, welche durch neue Regierungstechniken (»neoliberale Gouvernementalität«) teilweise eine sehr staatstragende Funktion übernehmen. Doch auch Menschen, die sich wie bei Fridays for Future neu politisieren, glauben häufig daran, dass »die Politik« doch angesichts eindeutiger Erkenntnisse endlich handeln sollte und appellieren daher an sie. Linksradikale Gruppen gehen dagegen nicht davon aus, dass sie mit ihrem Handeln Regierungspolitik beeinflussen können, bleiben aber häufig dennoch an Rudimenten des Schemas von politischer Revolution orientiert.

Als libertär-sozialistischer Flügel nach Autonomie streben

Doch das anarchistische Denken funktioniert anders, als einen Widerspruch zwischen »Reform« und »Revolution« zu konstatieren, welcher durch »radikale Realpolitik« zu überbrücken wäre – und sei es im Verständnis von Rosa Luxemburg. Wie bereits angedeutet, wird dagegen angestrebt, diesen Gegensatz mit dem Verständnis von sozialer Revolution zu überwinden. Damit wird das Terrain der durch die herrschende Ordnung definierten Politik bewusst verlassen. Politik muss deswegen aber nicht als »schlecht« oder »böse« angesehen werden.

Es reicht, sich vor Augen zu führen, dass wir in vielen anderen Sphären mindestens ebenso wirkmächtig handeln können, wenn wir die Gesellschaft grundlegend verändern wollen. Diese anderen Sphären, in denen in einer Doppelbewegung von Herrschaftsverhältnissen weg und nach Autonomie gestrebt wird, findet sich in vielen Aspekten, welche uns aus linken Szenen und Lebenswelten bekannt sind. Sie haben ihre Bezugspunkte in den Individuen (Die Selbstbestimmung und -entfaltung aller Einzelnen), im Sozialen (z.B. Nachbarschaftsversammlungen), in »der« Gesellschaft (z.B. Gegenmacht von unten aufbauen), in der Ökonomie (autonome Gewerkschaften) und der Gemeinschaft (Kommunen und Alternativszenen). Darüber hinaus werden Kunst, Ethik und Utopie als Gegenpole zur politischen Sphäre verstanden.

Dies führt Anarchist*innen jedoch nicht zu einer apolitischen oder unpolitischen Haltung, sondern zu einem gelebten Widerspruch mit dem politischen Feld, welches sich unter Bedingungen der bestehenden Herrschaftsordnung als staatliches Herrschaftsverhältnis konstituiert. Auch die Anrufung der sogenannten »Zivilgesellschaft« und die Bezugnahme auf sie gilt es demnach zu hinterfragen, weil sie – mit Gramsci – der dem Staat vorgelagerte Raum ist. Dies schliesst keineswegs aus, mit verschiedenen Personen zusammen zu arbeiten, welche keine dezidiert »linken« Überzeugungen und Hintergründe haben. Mehr Menschen als wir glauben durchschauen die »politische Illusion«, also die Vorstellung, dass es sinnvoll ist, seine Energie und Zeit mit Tätigkeiten auf dem eingehegten politischen Terrain zu verbringen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht auch danach streben können, die Gesellschaft grundlegend zu verändern.

Wenn sich die Bewegungslinke stärker an ihrem (potenziellen) libertär-sozialistischen Flügel ausrichten würde, müsste sie sich konsequenter danach orientieren, was sie wirklich verändern und vorleben, wo sie hin will. Ein Ansatzpunkt dafür ist, nicht in die »Falle der Politik« zu tappen – wie sie Emma Goldman nannte –, sondern die eigenen Perspektiven, Handlungsansätze und Gruppen zu stärken und zu vermitteln.

Beispiele dafür sind bekannte Projekte wie die Autonomiebestrebungen in Rojava und Chiapas, ebenso wie die historische Selbstorganisation der Arbeiter*innen, die autonome Bewegung der 70er/80er Jahre oder munizipalistische/kommunalistische Bewegungen heute. Dabei geht es nicht darum, z.B. diese Bewegungen zu verklären oder als besser darzustellen, sondern die Unterschiede in den Politikverständnissen herauszuarbeiten, um sie weiter zu diskutieren. Wie immer gibt es dazu verschiedene Positionen und gilt es die Auseinandersetzungen und Debatten darum weiterzuführen.

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Oben        —     Thomas Rowlandson (1756–1827), Breaking Up of the Blue Stocking Club. Etching, hand-colored (London: Thomas Tegg, 1815. NYPL, The Carl H. Pforzheimer Collection of Shelley and His Circle)

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Denn wem gehört die Erde?

Erstellt von DL-Redaktion am 12. März 2023

Friedensstiftung durch Landverzicht wie einst bei Altbundeskanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt

Brandt with Richard Nixon, 1971

Von Dr. Nikolaus Götz

„Die Krim gehöre den Ukrainern!“, wird gerade von vielen Diskutanten behauptet, wenn es darum geht, uns Deutschen den aktuellen „Landraub“ der ’Russen’ unter Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin gegenüber dem vom Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyj beanspruchten Staatsterritorium zu erklären.

Dass bei dieser schnell vorgenommenen, imperativen Aussage jedoch nicht die völkerrechtliche Dimension einer Territorialzuschreibung überprüft wurde oder eine genauere Betrachtung der historischen Entwicklung der territorialen Besitzverhältnisse mit der dazu gehörenden machtpolitischen Staatsbildung berücksichtigt ist und auch erst recht nicht die grundsätzliche Frage nach den dem Menschen zugeschrieben Besitzverhältnissen erörtert wurde, wird bei der getätigten Aussage der Schnelle halber einfach komplett ausgeblendet. „Denn es ist doch wie es ist; und wen interessiert am nächsten Tag noch das Geschwätz vom Vortag!“

Berichtende Journalisten verfügen überwiegend nicht über das angefragte Hintergrundwissen, da sie kaum Jura, Politikwissenschaft oder Geschichte studiert haben, sondern eine Ausbildung in vielleicht Medienwissenschaft, Kommunikation, Journalismus oder gar innerhalb der Zeitungsverlage oder Fernsehanstalten mit einer Ausbildung zum Job (?) absolviert haben. Zudem stehen sie bei ihrer Berichterstattung unter extremen Zeitdruck. So beten sie überwiegend die Meinung deren nach, dessen Brot sie gerade essen oder sie unterwerfen sich dem angenommenen Meinungsbild ihrer Rezipienten. Der seit der bösen, weltweit wütenden Corona-Pandemie offen gelieferte ’Erregungsjournalismus’ funktioniert genau so in Wort und Bild (1). Er soll zudem Akzeptanz wie Meinungsübernahme beim „unwissenden Volk“ herbei manipulieren. Obwohl dreiviertel die Deutschen „Krieg als Mittel der Politik“ ablehnen, versucht dieser aktuelle ’Fake-News’-Journalismus die „breite Masse“ bewusst manipulierend „auf Krieg“ einzustimmen. Und erneut ist Ruhe die erste preußische Bürgerpflicht! Doch gehört die Krim den ’Ukrainern’, sei gefragt oder gehört sie nicht eher den Taurern, den Kimmerern oder vielleicht gar den Skyten? (2)

Schon bei dem im ’Wilden Westen’ der Neuen Welt geführten Eroberungskrieg von Land durch die nordamerikanischen Staaten fragten die langjährig als „Indianer“ bezeichneten Ureinwohner die in langen Trecks westwärts ziehenden Siedler aus Europa: „Kann der Mensch überhaupt Land besitzen?“ An solchen eher philosophischen Fragen scherte sich der ’Weiße Mann’ in Washington wenig, denn die Herrschenden dort verteilten einfach Besitz in Form von Landgutscheinen und entsandten bei Problemen ihre Armee. „Ein guter Indianer war nämlich ein toter Indianer!“, wie es der Geist der amerikanischen Pionierzeit verkündete. Dieses Konzept der Konfliktlösung von Landverteilung war ’klassisch’ und entsprach dem typischen Vorgehen und den Verhaltensweisen der diktatorisch Herrschenden durch die gesamte Geschichte der menschlichen Zivilisation hindurch. Mit ’Recht’ kann so rekapituliert werden, dass Florida eben den spanischen Konquistadoren gehört, eigentlich Alaska den Russen, dass das amerikanische New York, eigentlich als Neu-Amsterdam den Niederländern zu eigen ist, während die Krim ’antikes’ griechisch-römisches, dann gotisches, sarmatisches, byzantinisches, hunnisches, chasarisches, kyptschakisches, mongolisch-tatarisches, venezianisches, genuesisches Siedlungs- und Herrschaftsgebiet war (3). Es ’gehörte’ alsbald aber Jahrhunderte lang zum Osmanischen Reich und wurde 1783 durch Katharina die Große ’klassisch’ ins Russische Reich eingegliedert (4). ’Zar’ Putins gerade laufende ’Reconquista’ mit der Wiederherstellung seines ’Heiligen eurasischen Reiches russischer Nation’ ist ebenso ’klassisch’ wie das Anspruchsrecht der römisch-republikanischen Senatoren auf das einst keltische Gallien.

Und welcher Mensch und Herrscher beanspruchte dieses Waldgebiet in der Mitte des eurasischen Kontinentes von Europa, das heute so benannte „Deutschland“? Über dieses Territorium weis die Geschichte wenig, da erst mit den Römern und ihrer ’Pax romania’ das so bezeichnete ’Germanien’ erstmals überhaupt in Erscheinung trat. Die ansässigen keltischen Völker mit ihren Städten im nordalpinen Raum wurden jedoch alsbald von der römischen Kultur und Herrschaft liquidiert, wobei die Römer an den nachrückenden ’Barbaren’ scheiterten. Unter Attila erwarben endlich die Hunnen alles Land ’klassisch’, stiften ’klassisch’ ihren Frieden und wurden ebenso ’klassisch’ entsorgt. So bekamen denn die ’Teutschen’ oder die Alemannen (5) eine Chance auf Territorialbesitz auf diesem Kontinent der Erde. Die verbrannte Erde im beispielsweise rekonstruierten Ort ’Schwarzenacker’ (6) zeugt vom Vorgang des damaligen Grundbesitzerwerbes, der den Vorbesitzern ’klassisch’ hinweg genommen wurde. Dabei verbrannten die ur-ansässigen Bewohner mit ihren ’Grundbucheintragungen des Besitzes’ im Freudenfeuer der neuen ’Friedensstifter’.

In der menschlichen Urzeit, der Antike wie bei Karl dem Großen kam das territoriale Besitzrecht stets mit dem Schwert. Technisch modernisiert kam es alsbald aus den Gewehrläufen der Soldaten und heute kommt es ebenso ’klassisch’ mit Panzern, Kanonen und Drohnen, wie es schon die neuzeitliche Aktion ’Friedensstiftung’ der Garantiemacht USA im Golfkrieg II. bewiesen hat. Das ’Recht oder Unrecht’ des Stärkeren und auch das Leid der Zivilbevölkerung sind so ewig wie die angewendete Methode, die seit dem Ausgang des Homo sapiens aus seiner menschlichen Affenzeit, den Weg zum deklarierten Humanismus immer noch nicht gefunden hat. Da bildet der Landbefrieder Putin ebenso wenig eine Ausnahme wie die gerade festzustellenden kriegslustigen Hetzer und sogenannte Sach-Kommentatoren von ARD, ZDF bis RTL.

Statt dem Geist des tiefen Mittelalters mit dem „Deus volit“/„Gott will es“ während der Kreuzzüge als Rechtfertigung für „Landraub“ nachzueifern, gilt es deshalb erneut das Denken der Aufklärung aus den inzwischen zugestaubten Bücherregalen der deutschen Bourgeoisie auszupacken. Und hier ist es erneut der Textband von Jean Jacques Rousseau, der schon 1755 mit seinem „Diskurs über die Ungleichheit“ die Menschen zum Thema ’Landerwerb’ anschaulich informierte:

Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.

Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder die Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: „Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.“ (7)

Willy Brandt monument in Warsaw 05.JPG

Viele seiner Nachfolger-innen hätten nach einen Kniefall wohl komplett den Boden unter ihren Füßen verloren?

Doch was sind die Konsequenzen der vielen philosophischen Belehrungen bei den aktuell lebenden Menschen? Bildungsfern, im Job verschlissen und verführt von Fake-News-Reportern fristen die deutschen Konsumbürger ihr Leben auf der Suche nach individuellem Glück. Durch den medialen Druck der Kriegstreiber der ARD- und ZDF-Nachrichtenteams zu Waffenlieferungen, zu Munitionslieferungen, zu Panzerlieferungen und jetzt, um den ukrainischen ’Himmel’ zu beschützen, alsbald auch noch zu Lieferungen von Kampfjets, sehen sich auch die Deutschen mehr und mehr einem drohenden Atomkrieg gegenüber. Seit einem Jahr schon bezahlen die BRD-Bürger diesen Krieg mit unverschämten Preiserhöhungen, mit dem Diebstahl ihrer Staatsgelder durch einen Zeit wendenden (?) Bundeskanzler und eine feministische Politik (?) betreibende Außenministerin, während die Großunternehmen Gewinne in Milliardenhöhe schreiben. Korrumpiert im Amt haben solche deutsche Politiker ebenso wie solche multinationalen Großmanager vergessen, dass die Erde niemandem gehört, dass Territorialzuschreibungen überwiegend auf staatsterroristischer Willkür beruhen, dass die Einhaltung des Friedens das wichtigste politische Ziel ist und die gerechte „Verteilung der Früchte“ der Erde unter allen Menschen ihre einzigste Pflicht!

Gewaltverzicht auf ’deutsche’ Territorien war das Politikkonzept des Friedensnobelpreisträgers und Altbundeskanzler Willy Brandt, dessen auf die Zukunft gerichtetes politisches Weiterdenken für ein friedliches Europa erst die Wiedervereinigung Deutschlands und die Rückgewinnung verlorenen Terrains ermöglichte. Dieses vorbildliche Denken der Gewaltlosigkeit von Willy Brandt (SPD), sein „Kniefall von Warschau“ und seine bedingungslose Kapitulation vor der damaligen wie heutigen Atommacht Russland ist jetzt auch den Ukrainern als Lösungsweg aus der kriegerischen Eskalationsspirale anzuraten. Die Fortführung der aktuellen Kriegsstrategie schreibt nur den Tod der Soldaten weiter, ebenso wie die Vertreibung und das Leid der Zivilbevölkerung bis zur völligen Zerstörung ihres doch geliebten Heimatlandes.

Anmerkungen:

1 Vgl.: Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören, Frankfurt/M. 2018

2 Siehe die historischen Erklärungen zur Abfolge der Besiedlung der Halbinsel Krim auf: wikipedia.org/wiki/krim

3 ebda: wikipedia.org/wiki/krim

4 Zu Katharina der Großen und dem Krimkrieg siehe beispielsweise: KRAUS, Gina: Katharina die Große, Esslingen 1972, S.336; OLDENBOURG, Zoé: Catherine de Russie, Paris 1966; oder vgl.: wikipedia.org/wiki/Katharina_II.

5 Wer oder was sind ’die Deutschen’? „Das Ethnonym Deutsche wird in vielfältiger Weise verwendet.,“ist der erste Satz bei WIKIPEDIA (sieh: wikipedia.org/wiki/Deutsche), wobei unsere französische Nachbarn die Deutschen als ’Allemands’ bezeichnen, was auf nur einen der vielen germanischen Stämme, die Alemannen zurück geht. Unter der Fülle diesbezüglicher Sekundärliteratur siehe beispielsweise nur: FISCHER-FABIAN, S. Die ersten Deutschen, Freiburg 1975

6 Den ansässigen Bauern fiel bei der Feldarbeit nicht nur die schwarzverbrannte Bodenschicht auf, sondern sie fanden immer wieder auf dem Gelände dieser ’Wüstung’ Tonscherben, bis der ehemalige Friedhof und damit alsbald der Ort „Schwarzenacker“ entdeckt und ausgegraben wurde. Bei der heutigen Stadt Homburg/Saar gelegen ist der rekonstruierte Stadtteil aus der Römerzeit eine Touristenattraktion. Die Besiedlung dieser Gegend reicht bis in die vorrömische Zeit zurück (ca. 1100 vor Christus) und war Siedlungsgebiet der Mediomatriker’. Beim Einfall der barbarischen ’Germanen’ zerstörten die Alemannen etwa um 275/276 n.Chr. die blühende römische Stadt „Schwarzenacker“ komplett und töteten alle Einwohner auf grausame Weise. 1915 wurde zufällig ein Münzdepot mit nahezu 5000 Silbermünzen entdeckt. Siehe auch: KOLLING, Alfons: Führer durch das Freilichtmuseum Römerhaus Schwarzenacker, Homburg 1974.

7 Rousseau, Jean Jacques: Diskurs über die Ungleichheit [Edition UTB 725, Kritische Ausgabe des integralen Textes …ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn 1984], Zweiter Teil, Abschnittsbeginn, S 173.

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Grafikquellen       :

Oben       —       Brandt with Richard Nixon, 1971

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Ulrike im Wunderland

Erstellt von DL-Redaktion am 12. März 2023

Die Gesinnungswende fordert ihren Tribut

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von   :   Johannes Schillo

Die Politikprofessorin Ulrike Guérot ist zur Zielscheibe einer Kampagne geworden – und auch das Ethos der Wissenschaft sieht sich seit der deutschen „Zeitenwende“ vor neuen Herausforderungen. Dazu hier eine Randnotiz.

Seit ihrem Auftritt bei Markus Lanz am 4. Juni 2022 ist die Bonner Politikprofessorin Guérot – milde ausgedrückt – persona non grata im öffentlichen Leben. Hatte sie mit ihrem Essay „Wer schweigt, stimmt zu“, der Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung vorbrachte, schon Anstoß erregt, so war mit ihrem im November 2022 erschienenen Buch „Endspiel Europa“ für den Mainstream der deutschen Medienlandschaft endgültig klar: Diese Frau hat im Wissenschaftsbetrieb und im öffentlichen Diskurs, wie er hierzulande geführt wird, nichts verloren. Mittlerweile hat auch der Arbeitgeber Guérots reagiert, was noch einmal für Wirbel sorgte.

Eine Exkommunikation – oder doch nicht?

Der Eindruck liegt nahe und die begründete These steht ja auch im Raum, dass es hier um die Exkommunikation einer unbequemen Autorin aus der scientific community geht. Guérot hat zusammen mit dem Wissenschaftler Hauke Ritz in ihrem Endspiel-Buch, das sich bewusst als Essay vom üblichen Publikationswesen des akademischen Betriebs absetzt, den Weg des Westens hin zum Ukrainekrieg analysiert und dabei den Anteil der NATO an der Eskalation deutlich zur Sprache gebracht. Und sie hat, als Fazit, die Europäische Union dazu aufgefordert, „nicht als Stellvertreter der USA zu fungieren“, wie es bei Krass & Konkret in einem Resümee des Autorenduos hieß. Dabei beriefen sich die beiden – unter Rückgriff auf die kulturelle Tradition des Abendlands – auf eine „EUtopie, die humanistisch, antifaschistisch, antimilitärisch, inter-nationalistisch und antikapitalistisch ist“, und schlossen mit der Forderung: „Deswegen muss Europa alles tun, um diesen Krieg sofort zu beenden.“

Von der Universität, von Kollegen, aber auch von Medien wie der FAZ, die sich auf eine regelrechte Kampagne gegen die zur Außenseiterin erklärte Politologin verlegten, gab es Einspruch gegen einen solchen europäischen Friedensidealismus, der bis zur „Zeitenwende“ – und der damit verbundenen Gesinnungswende – hierzulande als Selbstverständlichkeit galt. Unisono wurde die Unwissenschaftlichkeit von Guérots Positionen festgestellt, die – so kann man die Vorwürfe auf den Punkt bringen – nicht dem NATO-Narrativ folgen. Das Bonner Uni-Rektorat verabschiedete 2022 eine Erklärung, die sich zur Parteinahme für den Westen und gegen Russland bekannte und noch ohne Nennung Guérots den Rahmen setzte, in dem der wissenschaftliche Diskurs stattzufinden habe; womit auch klargestellt war, dass weitergehende juristische Möglichkeiten zum Ausschluss dissidenter Meinungen geprüft werden sollten.

Das ist mittlerweile geschehen. Der bekannte Plagiatsforscher Stefan Weber hat in Telepolis darüber berichtet: Die Uni Bonn hat der Wissenschaftlerin, so weit bekannt, gekündigt, und nun „tobt die Debatte: Waren Plagiate Auslöser oder politisches Engagement? Der Fall geht wohl vor Gericht.“ Weber eiert in seinem Text etwas herum, um den offenkundigen Zusammenhang der Kündigung mit der Äußerung abweichender politischer Meinungen in den Hintergrund zu rücken. Natürlich sind auch schon andere Wissenschaftler (oder Politiker!) über Plagiate in ihren akademischen Arbeiten gestolpert, aber es „ist in den seltensten Fällen so, dass Wissenschaftler genuin wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens berufliche Nachteile haben“. Das hält Weber fest und man merkt ihm die Bauchschmerzen an, mit denen er die politische Einflussnahme auf diese – angeblich – rein innerwissenschaftliche Kontroverse konstatiert.

Das ist übrigens auch der Presseberichterstattung zu entnehmen – und sei es in der Form des entschiedenen Dementis wie in der FAZ (25.2.2023). Die Bonner Lokalpresse (siehe General-Anzeiger, 4./5.3.2023) hat den Fall groß gewürdigt und sich Sorgen gemacht, es könnte „ein zäh erkämpftes Grundrecht“, nämlich die Wissenschaftsfreiheit, Schaden nehmen. Genauer gesagt: Das könnte geschehen, wenn nicht konsequent dem Eindruck entgegengearbeitet wird, bei der Einleitung von „arbeitsrechtlichen Schritten“ hätten politische Überlegungen, vulgo: Zensur, eine Rolle gespielt. Und die Sorge betrifft natürlich das Ansehen des Hochschulbetriebs, wie von einem Kommentator gleich bemerkt wurde: „Wenn sich die Vorwürfe gegen Guérot auf die Zeit vor ihrer Berufung beziehen, dann wirft das auch ein schlechtes Licht auf die Bonner Uni. Hätten die Defizite in Sachen wissenschaftlichen Arbeitens dann nicht früher auffallen müssen?“ (G.-A., 25./26.2.2023) Ja, das hätte in der Tat besser ausgesehen.

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Je größer die Häuser – je mehr an Wissen passt hinein ?

Nun geht es wahrscheinlich so weiter, wie der Arbeitsrechtler Volker Rieble ganz gelassen mitteilt (G.-A., 6.3.2023). Nach den Angriffen auf die Professorin werde sich das Gerichtsverfahren erst einmal Jahre hinziehen. „Wenn dann ein Vergleich mit einer kleinen Abfindung herauskommt, hat die liebe Seele eine Ruh’. Die Öffentlichkeit kriegt das ohnehin nicht mehr mit.“ Solche abgebrühten Stellungnahmen gehen in der Öffentlichkeit, der hier ein Fachmann erzählt, wie sie funktioniert, ohne Weiteres durch: Öffentlich ist die Frau diffamiert, sachlich ist wohl weniger dran, was sich nach Jahren herausstellen dürfte, doch erst einmal hat die Kampagne ihre Funktion erfüllt

Möglicher Weise geht es jetzt aber auch schneller, wenn die geschasste Professorin klein beigibt und sich auf einem demnächst anstehenden „Gütetermin“ mit einer „kleineren Abfindung“ (G.-A., 10.3.2023) abfinden lässt.

Im Reich der exakten Wissenschaft, oh Gott!

Tja, die Koinzidenz von Einspruch gegen das NATO-Narrativ und Aufdeckung wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist wirklich unschön. Plagiatsforscher Weber macht sich auch ein Gewissen daraus, aber dann findet er einen festen Halt. Arbeitsrechtlich verzwickt, politisch unschön, Konsequenzen unklar – das muss man konzedieren (und sich auch fragen, ob das „für einen Rauswurf“ genügt). Nur eins soll definitiv feststehen: Die Autorin hat „in zumindest zwei Büchern plagiiert, die sie als Wissenschaftlerin verfasst hat und die sicher nicht der Nicht-Wissenschaft, also etwa der Kunst zuzuordnen sind“.

Und jetzt kommt endlich mal Butter bei die Fische, die Vorwürfe werden von Weber substantiiert. Er bringt nämlich ein Beispiel – eine einzige Textstelle aus Guérots Essay „Wer schweigt, stimmt zu“ –, und von diesem Beleg versichert er nur noch, dass er weitere, ähnliche Fälle anführen könnte (und dass er auch schon Einschlägiges bei den Kritikern Guérots gelesen habe). Worin besteht nun der Beweis, das einzige Argument für Guérots Verstoß gegen wissenschaftliche Standards, das geliefert wird?

Was da geboten wird, ist ein erstaunlicher Beleg für den Geisteszustand des Wissenschaftsbetriebs. Aber im Einzelnen! Weber bringt ein Zitat aus dem Buch Wie wirklich ist die Wirklichkeit? des Kommunikationsforschers Paul Watzlawick (1976, S. 101):

Wir alle, jeder von uns auf seine Weise, befinden uns auf einer unablässigen, wenn auch oft ganz unbewußten Suche nach dem Sinn der uns umgebenden Geschehnisse, und wir alle neigen dazu, selbst hinter den verhältnismäßig unbedeutenden Vorfällen unseres täglichen Lebens das Wirken einer höheren Macht, sozusagen ,eines metaphysischen Versuchsleiters’ zu sehen. Es gibt wohl nicht viele Menschen, die den Gleichmut des Königs in »Alice im Wunderland« besitzen, der es ihm ermöglicht, das unsinnige Gedicht des Weißen Kaninchens mit der philosophischen Bemerkung abzutun: »Wenn kein Sinn darin ist, so erspart uns das eine Menge Arbeit, denn dann brauchen wir auch keinen zu suchen.« Zum Beispiel: Es gibt wahrscheinlich eine recht große Zahl von Personen, die eine private Mythologie über Verkehrsampeln haben…

Guérot hat auf Watzlawick, den sie als wissenschaftliche Autorität schätzt, in ihrem Buch mehrfach Bezug genommen. Sie knüpft explizit an seine Aussagen an, beansprucht also in keiner Weise, hier eine eigenständige wissenschaftliche Leistung zu präsentieren, sondern, im Gegenteil, einem Konsens zu folgen. Dann bringt sie auf Seite 101 ihres Buchs – ohne nochmals auf Watzlawick eigens als Urheber zu verweisen – zwei Sätze, die Weber als Plagiat beanstandet. Guérot übernimmt den Satz: „Es gibt wohl nicht viele Menschen … abzutun“ und schließt das Zitat von Lewis Carroll aus dem 12. Kapitel seines berühmten Buchs (mit kleinen Änderungen) an. Der Spruch findet sich übrigens in vielen populären Sammlungen mit den besten Zitaten aus „Alice im Wunderland“.

Alice in Wonderland 

Diese Übernahme soll ein Verstoß gegen wissenschaftliche Standards sein, der die Autorin eindeutig als Wissenschaftlerin disqualifiziert. Der Sache nach ist es eine absolute Lappalie. Nur würde Webers Einwand lauten: So kleinkariert muss der akademische Betrieb vorgehen, damit sich keiner mit fremden Federn schmückt; exakte Benennung der Quelle muss sein, weil alle Theoriebildung darauf aufbaut. Aber wenn das so ist, dann müsste diese Exaktheitsforderung auch für Watzlawick gelten, dessen wissenschaftliche Leistung hier angeblich entwendet und vom Werk einer Nachfolgerin usurpiert wurde. Schauen wir uns daher einmal den Passus aus Watzlawicks Opus genauer an.

Als Erstes fällt auf, dass der Autor mit einer erstaunlichen Allaussage startet, die er in keiner Weise belegt. Alle Menschen sollen auf Sinnsuche sein – eine unhaltbare Behauptung, die man auch blitzschnell, z.B. mit einem Klick, widerlegen kann, wenn man sich etwa die Kritik der Sinnfrage von Jürgen Hoßdorf ansieht, die ebenfalls bei Telepolis vorgestellt wurde: Das Sinnbedürfnis treibt zwar viele Menschen um, genau so liegen aber seit den Zeiten der Aufklärung viele stichhaltige Einwände gegen das Aufspüren geheimnisvoller Kräfte in einer Hinterwelt vor. Zweitens, um zum Ende, zur Schlussfolgerung aus dem Zitat zu gehen: Wer „Alice im Wunderland“ gelesen hat, weiß, dass der König kein gleichmütiger Mensch ist (wie Watzlawick behauptet), sondern ein gefährlicher Irrer, der sich mit seinen absurden Vorwürfen gegenüber Zeugen und Angeklagten ständig ereifert, mit Hinrichtung droht etc. Der zitierte Satz geht dann auch so weiter: „And yet I don’t know… I seem to see some meaning in them, after all.“ Wieso er bei Watzlawick zu einer Marotte, einem etwas gesuchten Beispiel von „Alltagsmythologie“ (den Sinn der Ampeln betreffend), überleiten soll, ist dann kaum ersichtlich; anscheinend sollte nur ein kleines Bonmot den Text auflockern…

Man kann natürlich einwenden: Weber als Plagiatsforscher hat mit dem Inhalt, mit dem Gang der Argumentation oder dem Versuch, sie zu veranschaulichen etc., nichts zu tun. Das heißt aber, die Frage, ob hier kommunikationstheoretisches Geschwurbel vorliegt oder wissenschaftliche Erkenntnis, interessiert ihn und die von ihm betrieben Forschung kategorisch nicht. Weber kümmert sich bloß um die Basics. Aber wenn das so wäre, dann müsste sich doch als nächste Frage anschließen: Wie steht es denn eigentlich mit der Exaktheit in Watzlawicks Text?

Er zitiert einen Satz von Carroll. Woher stammt er? Wo ist die Quellenangabe? Welche Ausgabe wurde zugrundegelegt? Hat er etwa aus eine populäre Sammlung zitiert (was Guérot übrigens von Kritikern bei Einstein- oder Hume-Zitaten zur Last gelegt wird, da sie, möglicher Weise, auf Internet-Seiten zurückgegriffen hat statt auf die Originalausgaben von Anno Toback)? Weiter gefragt: Bekanntlich hat Carroll nicht in Deutsch geschrieben – woher stammt die Übersetzung? Carroll wurde x-fach übersetzt, auch ad usum delphini. Wer hat diese Übersetzung angefertigt?

Klar, das sind kleinkarierte Fragen. Aber wenn schon kleinkariert, dann immer! Und Frau Guérot kann man nur wünschen, dass sie sich wie Alice im Gerichtskapitel über die absurden Vorwürfe des Kartenkönigs und seiner Königin erhebt – und am Schluss aus dem Alptraum aufwacht.

Zuerst bei Telepolis erschienen.

Urheberrecht
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Oben       —     Ulrike Guérot (Senior Research Fellow und Leiterin des Berliner Büros, European Council on Foreign Relations, Berlin) Foto: CC-BY-SA Stephan Röhl / www.boell.de

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Auf der Straße

Erstellt von DL-Redaktion am 11. März 2023

Auf der Straße – Braun geröstet

Von Joe Bauer

Es ist schon dunkel in der Stuttgarter Altstadt, als ich mich auf die Suche nach der Vergangenheit mache. Ich gehe durch die Richtstraße, eine düstere Kopfsteinpflasterschleuse, die bis Anfang des 19. Jahrhunderts Scharfrichtergäßle hieß.

Hier wohnte einst der Herr, der unliebsame Mitmenschen auf der benachbarten Hinrichtungsstätte, dem heutigen Wilhelmsplatz, einen Kopf kürzer machte. Die Gasse endet vor der Hauptstätter Straße, die das alte Stadtzentrum tranchiert und mit ihrem Namen ebenfalls auf die Enthauptungen hinweist. An dieser Ecke des Rotlichtviertels steht ein mitgenommener Bau, das Alte Armenhaus aus dem 16. Jahrhundert. Am Fenster klebt ein Plakat: Es soll saniert und ein „Geschichts- und Versammlungsort“ werden. „Eine künftige gastronomische Nutzung ist ausgeschlossen.“

Zuletzt war im Alten Armenhaus das Café Mistral, ein Milieu-Lokal. Bis 1991 hatten hier die Lichter der legendären Sissy-Bar geleuchtet. Dieses Etablissement im einst gut belebten Leonhardsviertel war Treffpunkt honoriger Herrschaften, die zwischen Drinks und Damen ihre Geschäfte abwickelten. Und Konrad Kujaus Stammlokal. Geführt wurde es von den Eltern des heute 56-jährigen Kfz-Meisters F., den ich seit vielen Jahren gut kenne. Als Jugendlicher hat er miterlebt, wie sich Kujau, oft im Gestapo-Look, das Bier in einem für ihn reservierten Krug mit aufgedrucktem SS-Totenkopf bringen ließ. Nazi-Reliquien standen damals im Luden-Milieu nicht unbedingt auf dem Index; am 20. April wurde auch gern mal auf „Adi“ angestoßen.

F. erzählt, dass er sich darüber aufgeregt habe, wenn der „Hitler-Tagebücher“-Fälscher Kujau in der Öffentlichkeit hofiert und als lustiges Schlitzohr verharmlost worden sei. In der Sissy-Bar habe er oft mit anhören müssen, wie der Kerl Nazi-Verherrlichungen und rassistische Beleidigungen abgesondert habe. „Conny“ habe sich gerühmt, ein Nazi zu sein. Fakt ist: Schon dank seines Militaria-Ladens mit Nazi-Devotonalien in der Schreiberstraße hatte er einschlägige Kontakte in die Fascho-Szene.

„Champagner-Conny“ fiel kaum auf

Im Mai 1983 gab es keine Zweifel mehr, dass Adolfs Kladden, die das Hamburger Magazin „Stern“ für mehrere Millionen Mark gekauft hatte, von Kujau geschrieben und gefertigt wurden. Jetzt, 40 Jahre später – 23 Jahre nach Kujaus Tod – hat der NDR die in alter deutscher Schreibschrift verfassten „Tagebücher“ transkribiert und veröffentlicht. Diese Enthüllung beweist, dass die „Stern“-Manager im Profitwahn unter Einfluss der Droge Hitler bereit waren, Texte zu veröffentlichen, die den Diktator und seine Gräueltaten verniedlichen. Hitler erscheint als schrulliger Typ, eigentlich ein guter Mensch, der seine Partnerin Eva Braun mit seinen Blähungen nervte – und von den Massenmorden an den Juden nichts wusste. Auszug: „23. Mai 1943: Sorgen macht mir unser Judenproblem. Nach den mir vorliegenden neuesten Meldungen will sie keiner haben.“ Kurzum: ein Akt von Holocaustleugnung.

Die Propaganda des Hamburger Magazins, die Geschichte des „Dritten Reiches“ müsse „teilweise neu geschrieben werden“, ist heute ein geflügeltes Wort. Und die aktuelle Aufklärung über Kujaus Machwerk umso brisanter, als erst vor einem Jahr der ehemalige „Stern“-Herausgeber Henri Nannen, ein gefeiertes Journalisten-Vorbild, als Lügner und antisemitischer Propaganda-Hetzer der Nazis enttarnt wurde. Der „Henri-Nannen-Preis“ für Journalismus wurde vor Kurzem in „Stern-Preis“ umbenannt. Der NSDAP-Insider Nannen hatte die Veröffentlichung der „Hitler-Tagebücher“ trotz seiner intern geäußerten Skepsis akzeptiert. Als der Bluff nach zwei Ausgaben mit dem „Führer“-Fake aufflog, trat er von „der aktiven Herausgeberschaft“ zurück.

Nachdem Kujau 1985 zu vier Jahren Haft verurteilt und wegen seiner angeschlagenen Gesundheit – Kehlkopfkrebs – nach drei Jahren entlassen wurde, habe ich ihn einige Male getroffen. Einen gemachten Mann mit zwei Gesichtern: mal ausgebuffter Plauderer, mal übellauniges Lügenmaul.

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Als ich jetzt von den NDR-Enthüllungen las, wollte ich mich eigentlich nicht mehr mit dem Thema beschäftigen. Die Erinnerungen wirken unangenehm. Dunkle Flashbacks. Heute wissen nicht mehr allzu viele, wie es Anfang der achtziger Jahre war, in der Stadt zwischen Wald und Reben, zwischen Hängen und Würgen, nach Mitternacht ein geöffnetes Lokal jenseits des Rotlichts zu finden. Die Altstadt war ein Zufluchtsort für Nachtgestalten aller Art. Der Stuttgarter Dörflichkeit zum Trotz hatte sich eine durchaus urbane Szene gebildet, eine Subkultur, in der Betuchte und Loser, Gangster und Juristen, Künstler und Kleindealer in denselben Kneipen und Kaschemmen saßen. Da fiel auch „Champagner-Conny“ kaum auf, wenn er brandneue Hunderter als Trinkgeld spendierte.

Mit Hakenkreuzen und Dollarzeichen in den Augen

Quelle         :           KONTEXT -Wochenzeitung          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Konrad Kujau, author of the Hitler-Diaries, King of Forger and Fright of all Historians, in front of one of his Works. This photo was shot in 1992 in his Galerie in Stuttgart, Germany.

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Und Dieses trotz alledem …

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Dezember 2022

Kurze Erinnerung anlässlich Heines 225. Geburtstag am 13. Dezember

Bert Gerresheim: Heinrich Heine Monument 1981, Düsseldorf

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Wilma Ruth Albrecht*)

Anmaßend und voller Hohn und Selbstgerechtigkeit verweisen alle Reaktionäre, Volksfeinde und schöngeistigen Heuchler darauf, dass Heine in seinen letzten Lebensjahren eines seiner Hauptwerke mit dem entsprechenden Vorwort „Die Geschichte der Religion und der Philosophie“„De l`Allemagne“, seine Religionskritik und sein Demokratie- und Sozialismusbekenntnis in den „Geständnissen“ vom Winter 1854 widerrufen habe. Oberflächlich gesehen scheint das auch der Fall zu sein und ließe sich auch in deftigen Zitaten beweisen, so etwa diesem:

Um die Wahrheit zu sagen, es mochte nicht bloß der Ekel sein, was mir die Grundsätze der Gottlosen verleitete und meinen Rückfall veranlasste. Es war hier auch eine gewisse erdliche Besorgnis im Spiel, die ich nicht überwinden konnte; ich sah nämlich, dass der Atheismus ein mehr oder minder geheimes Bündnis geschlossen mit dem schauderhaft nackten, ganz feigenblattlosen, kommunen Kommunismus.“

Und Heine befürchtete anscheinend, dass,

wir unsre ganze moderne Zivilisation, die mühselige Errungenschaft so vieler Jahrhunderte, die Furcht der edelsten Arbeiten unserer Vorgänger durch den Sieg des Kommunismus bedroht sehen“.

Liest man jedoch den ganzen Text und liest man ihn genau, so wird deutlich, dass es Heine um eine Distanzierung vom sogenannten „Salonsozialismus“, seinen „Schmeichler“ und „Hoflakeien des Volkes“, die sich das Volk schön, gut und klug reden, geht.

Doch Heine erkennt durchaus: Das Volk ist nicht schön, gut und klug, es ist sogar hässlich, böse und dumm. Es kann aber die ersehnten Eigenschaften erlangen, wenn die materiellen Voraussetzungen geschaffen worden sind:

Aber diese Hässlichkeit entstand durch Schmutz und wird mit demselben schwinden, sobald wir öffentliche Bäder erbauen, wo seine Majestät das Volk sich unentgeltlich baden kann. Ein Stück Seife könnte dabei nicht schaden, und wir werden dann ein Volk sehen, das hübsch propre ist, ein Volk, das sich gewaschen hat.“

Und die Bosheit des Volkes hat auch ihren Grund, sie

kommt vom Hunger, wir müssen sorgen, dass das souveräne Volk immer zu essen habe; sobald aller höchst dasselbe gehörig gefüttert und gesättigt sein mag, wird es euch huldvoll und gnädig anlächeln, ganz wie die anderen.“

Dass das Volk gerne einem Barnabas zujubelt,

diese Verkehrtheit ist die Unwissenheit; dieses Nationalübel müssen wir zu tilgen suchen durch öffentliche Schulen für das Volk, wo ihm der Unterricht auch mit den dazugehörigen Butterbrötchen und sonstigen Nahrungsmitteln unentgeltlich erteilt werde – Und wenn jeder im Volke in den Stand gesetzt ist, sich alle beliebigen Kenntnisse zu erwerben, werdet ihr bald ein intellektuelles Volk sehen.“

Was ist das anderes als humanistischer Sozialismus?

Auch die Distanzierung von der Hegelschen Philosophie und der Religionskritik ist nicht so eindeutig, wie sie sprachlich daherkommt:

Der Deismus lebt, lebt sein lebendigstes Leben, er ist nicht tot, und am aller wenigsten hat ihn die neuste deutsche Philosophie getötet.“

Hintersinnig verweist Heine auf die Legende des Buches Daniel in der Bibel, „die ich nicht bloß dem guten Ruge, sondern auch meinem noch viel verstockteren Freunde Marx, ja auch den Herren Feuerbach, Daumer, Bruno Bauer, Hengstenberg, und wie sie sonst alle heißen mögen, diese gottlosen Selbstgötter, zur erbaulichen Beherzigung empfehle.“

Dieses Buch Daniel beinhaltet nichts anderes als die Prophezeiung der Befreiung des Volkes von seinen Unterdrückern und den Beginn der Herrschaft der Gerechtigkeit.

Auch verweist Heine auf die Schöpfergeschichte mit der Legende der Vertreibung der Menschen aus dem Paradies, die die ganze hegelsche Dialektik und Philosophie schon umfasse, insbesondere in der Geschichte:

[…] von der Schlange, der kleinen Privatdozentin, die schon sechstausend Jahre vor Hegels Geburt die ganze Hegelsche Philosophie vortrug. Dieser Blaustrumpf ohne Füße zeigte sehr scharfsinnig, wie das Absolute in der Identität von Sein und Wissen besteht, wie der Mensch zum Gotte wurde durch die Erkenntnis oder, was dasselbe ist, wie Gott zum Menschen zum Bewusstsein seiner selbst gelange.“

Portrait by Moritz Daniel Oppenheim

Tatsächlich sieht sich Heine durch das Studium der Bibel sogar in seinem Atheismus bestätigt, wenn er vorträgt:

Gott verzeih mir die Sünde, manchmal wollte es mich dünken, als sei dieser mosaische Gott nur der zurückgestrahlte Lichtglanz des Moses selbst, dem er so ähnlich in Zorn und Liebe – Es wäre eine große Sünde, es wäre ein Anthropomorphismus, wenn man eine solche Identität des Gottes mit seinem Propheten annähme – aber die Ähnlichkeit ist frappierend.“

Was aber ist das anderes als die Verkündigung der Feuerbach´schen Lehre oder der marxistischen Religionskritik der Feuerbachthesen? Anhand der Bibel verteidigt Heine auch die sozialistischen Lehren:

Es gibt wahrhaftig keinen Sozialisten, der terroristischer wäre als unser Herr und Heiland, und bereits Moses war ein solcher Sozialist, obgleich er, als ein praktischer Mann, bestehende Gebräuche, namentlich in Bezug auf das Eigentum, nur umzumodeln suchte … er suchte das Eigentum in Einklang zu bringen mit der Sittlichkeit, mit dem wahren Vernunftrecht, und solches bewirkte er durch die Einführung des Jubeljahres, wo jedes alienierte Erbgut, welches bei einem ackerbauenden Volke immer Grundbesitz war, an den ursprünglichen Eigentümer zurückfiel, gleichviel, in welcher Weise dasselbe veräußert worden war.“

Dem steht das bürgerlich codierte Eigentumsrecht gegenüber, das auf dem römischen Zivilrecht aufbaut:

Nur ein Volk von Räubern und Kasuisten konnte die Proskription, die Verjährung, erfinden und dieselbe konsakrieren in jenem abscheulichsten Buche, welche die Bibel des Teufels genannt werden kann, im Kodex des römischen Zivilrechts, der leider noch jetzt herrschend ist.“

Damit auch jeder Leser seine „Geständnisse“, die angebliche Abkehr vom Atheismus uns Sozialismus, richtig verstehe, charakterisiert er sich am Ende als der deutsche Aristophanes, der „Bruder im Apoll“.

In der Bibel sieht Heine nämlich „das große Buch des Geistes, das Reich des religiösen Gefühls, der Nächstenliebe, der Reinheit und der wahren Sittlichkeit“ und damit eine Ethik als Utopie mit Rechtsanspruch.

*) Quelle: Wilma Ruth Albrecht, Harry Heine. Aachen: Shaker Verlag, 2007, S. 98-101.

Wilma Ruth Albrecht, Sprach- und Sozialwissenschaftlerin (Dr.rer.soc., Lic.rer.reg.) mit Arbeitsschwerpukten 19. und 20. Jahrhundert. Seit 2010 Autorin des Fachjournals Soziologie heute. Letztes Buch ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts (4 Bände, Verlag freiheitsbaum: Edition Spinoza, 2016/19) -> https://dhubw.de/611-1-edition-spinoza Netzseite der Autorin -> https://wilmaalbrecht.de

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Geld oder Krieg

Erstellt von DL-Redaktion am 22. November 2022

Setzen die USA auf globale Suprematie?

Opas wundersame Orts – Beschreibungen ?

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Von Johannes Schillo

Was die Wissenschaft zum Ukrainekrieg noch sagen darf. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot eckt mit Äußerungen zum Ukrainekrieg an. Denn: Die Zeitenwende hat auch eine Gesinnungswende mit sich gebracht, die den Raum des Sagbaren weiter einschränkt. Bloße Meinungsäußerungen sollen aber noch erlaubt sein!

Guérot, Professorin an der Universität Bonn, hat zusammen mit dem Geisteswissenschaftler Hauke Ritz im November 2022 das Buch „Endspiel Europa“ (https://www.westendverlag.de/buch/endspiel-europa-2/) veröffentlicht. Die beiden Autoren „fordern die Europäische Union dazu auf“, wie es jüngst in einem Statement bei Krass & Konkret (https://overton-magazin.de/buchempfehlungen/endspiel-europa/) hieß, „nicht als Stellvertreter der USA zu fungieren“. Dazu berufen sie sich – unter Rückgriff auf die kulturelle Tradition des Abendlands – auf eine „EUtopie, die humanistisch, antifaschistisch, antimilitärisch, inter-nationalistisch und antikapitalistisch ist“, und schließen mit der Forderung: „Deswegen muss Europa alles tun, um diesen Krieg sofort zu beenden.“

Friedensidealismus: eine No-Go-Area

Solche Forderungen, die auf Ausgleich, Versöhnung und Verhandlung setzen, können sich in eine europäische Tradition einreihen, die das Ideal vom „Ewigen Frieden“ (Kant) zur ideellen Leitschnur erhebt. So gesehen waren sie bislang auch nichts Ungewöhnliches oder Unseriöses. Doch das gilt heute nicht mehr. In Deutschland (und ähnlich in den anderen NATO-Staaten) macht sich vielmehr eine neue Ausrichtung des öffentlichen Diskurses bemerkbar, die der von Kanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ folgt: Die Konstruktion von Modellen und Szenarien zu einer möglichen friedlichen Problemlösung geht in Ordnung, solange sie die antirussische Leitlinie respektiert. Aber wenn die Grüne Antje Vollmer im Blick auf eine Verhandlungslösung festhält „Jetzt hilft nur noch die Weisheit des westfälischen Friedens“ (Telepolis, 16.11.2022), bewegt sich das schon am Rand des Zulässigen, und wenn eine Kritik an der NATO-Linie laut wird, führt das vollends in ein akademisches No-Go.

So sprach der Bonner Kollege Guérots, der Osteuropa-Experte Martin Aust, in einem Interview (General-Anzeiger, 12./13.11.2022) kurz nach Erscheinen des Endspiel-Essays kategorisch von der „Unwissenschaftlichkeit des Buches“ und forderte Guérot auf, von ihrer Professur zurückzutreten. Das Buch sei „eine regelwidrige Streitschrift … vollkommen an wissenschaftlicher Kenntnis des östlichen Europa vorbeigeschrieben … provokant, schrill und anmaßend“. Das Autorenduo wolle die Ansicht „eines ausschließlich von Russland begonnenen Kriegs gegen den Strich bürsten“ – wie es im Vorwort heißt –, aber „ohne sich dabei mit dem Forschungsstand auseinanderzusetzen. So bleibt der Versuch haltlos.“

Der Historiker Aust sieht hier besonders die Wissenschaftlergemeinde gefordert, „weil Guérot in dem Buch als Professorin figuriert, womit in der breiten Öffentlichkeit der Anschein wissenschaftlicher Autorität und Legitimität erweckt wird. Es ist deshalb wichtig, in der Öffentlichkeit auf die Unwissenschaftlichkeit des Buchs aufmerksam zu machen.“ Deshalb landet er am Schluss des Interviews auch bei der Forderung, „angesichts der unwissenschaftlichen Arbeitsweise des Buches wäre es nur folgerichtig, von der Professur zurückzutreten“. Aust hatte zuvor schon (siehe General-Anzeiger, 24.10.2022) „mit einer Kurznachricht im Netz auf die Fachexpertise“ verwiesen, die Guérot komplett „ignorieren“ und „niederreißen“ würde. Dazu teilte der Zeitungsbericht mit, dass Aust „nähere Angaben auf GA-Nachfrage für unnötig“ gehalten habe.

Sein Statement ist nämlich eher ein Aufruf zur Maßregelung, es ordnet sich unterstützend und bekräftigend in eine Kampagne ein, die seit einiger Zeit an der Bonner Universität läuft und die auf eine Kontrolle von Meinungsäußerungen der streitbaren Professorin oder gleich auf ihre Entfernung setzt. Die Bonner Universitätsleitung hat dazu mittlerweile eine Erklärung abgegeben (siehe General-Anzeiger, 7.11.2022), die sich gegen Guérot richtet, ohne sie beim Namen zu nennen, und die festhält, dass die Universität „den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf das Schärfste verurteilt“. Aus dem Rahmen fallende Äußerungen sind hier also schon ins Visier genommen. Das Studierendenparlament der Universität sowie die Juso-Hochschulgruppen fordern zudem, wie der Kollege Aust, weiter gehende Maßnahmen. Fazit: Die Debatte über juristische Möglichkeiten, in die „Wissenschaftskommunikation“ einzugreifen, hat begonnen und die Öffentlichkeit ist alarmiert.

Man darf gespannt sein, wie sich das auf die Freiheit zur Meinungsäußerung in Bonn und bei anderen Hochschullehrern auswirken wird, die in gewisser Weise auch zur neuen deutschen Dissidenz (siehe „Nicht viel Neues bei der Pressefreiheit“, Scharf links, 11.11.2022) gezählt werden können, so etwa

  • Prof. Klaus Moegling (u.a. Mitglied bei Scientists for Future), der jetzt einen „Appell für den Frieden“ mit der Forderung nach einer „Verhandlungsinitiative zur Beendigung des eskalierenden Kriegs in der Ukraine“ verbreitet, oder

  • Prof. Johannes Varwick, der vom ukrainischen „Zentrum für Desinformationsbekämpfung“ als russischer Propagandist geführt wird (und somit offiziell als „Informationsterrorist“ gilt), weil er sich ebenfalls für eine Verhandlungslösung einsetzt.

Wissenschaftlichkeit = NATO-Narrativ

Bemerkenswert auch, wie die Unwissenschaftlichkeit der Positionen festgestellt wird, die nicht dem NATO-Narrativ folgen. Die Bonner Universität führt es vor: Das Rektorat verabschiedet eine Erklärung, die sich zur Parteinahme für den Westen und gegen Russland bekennt; damit ist der wissenschaftliche Diskurs noch nicht unbedingt festgelegt, aber ein Rahmen gesetzt, in dem weitergehende juristische Möglichkeiten geprüft werden. Es ist also schlicht und ergreifend institutioneller Druck, der gegen die Infragestellung geltender Kriegslegitimationen, wie sie in „Endspiel Europa“ vorkommt, geltend gemacht wird. Darauf hat ja wohl auch der Hochschullehrer Aust in seiner erwähnten Kurznachricht gesetzt, als ihm die Zitierung von Autoritäten, mit denen er übereinstimmt, als Begründung ausreichte.

Er hat sich dann aber doch noch in dem späteren Interview bereit gefunden, am Schluss auf die Frage „Was werfen Sie dem Buch inhaltlich vor?“ mit drei Sätzen zu antworten. Er hält zunächst als Kernthese des Buchs fest: „Die USA hätten den Ukrainekrieg von langer Hand vorbereitet, um Europa von Russland zu entfremden und so die amerikanische Vorherrschaft auf dem Kontinent aufrechtzuerhalten. Statt das Nationalstaatsdenken zu überwinden, was doch wünschenswert wäre, unterstütze die EU jetzt im Gegenteil die Souveränität der Ukraine.“ Was der Geschichtsprofessor als Widerlegung dieser „unwissenschaftlichen“ Behauptung aufbietet, macht einen sprachlos: „Aber bitte, was wäre denn die Alternative: Das Land Putin und dem russischen Imperialismus zu überlassen?“

Es folgt überhaupt kein Einwand gegen die These. Mit der Frage ans Publikum, die gleich das wissenschaftliche Feld verlässt und ins Politikfach wechselt, ist für Aust die Sache erledigt. Und selbst bei dieser Problemverschiebung geht er unsachlich vor, denn Alternativvorschläge – siehe Moegling, sieh Varwick, siehe aber auch Guérot und Ritz mit ihrem weit ausholenden kontinentalen Friedensideal – lagen und liegen ja vor. Und im Vorfeld gab es ja auch zahlreiche Vorschläge, den Konflikt zu entschärfen; selbst ein Henry Kissinger hatte davor gewarnt, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, und später sogar Gebietsabtretungen an Russland für möglich gehalten (Die Welt, 24.5.2022). Das ist das eine, wenn es um die Frage der Alternativen geht. Auf der anderen Seite müsste aber auch einem Aust klar sein, dass die ständige Eskalation – bis zum letzten Ukrainer, bis zum Atomkrieg… – keine Lösung ist.

Doch zurück zum Problem der (Un-)Wissenschaftlichkeit, das ja den Stein des Anstoßes darstellte. Hier muss man eine weitere Ausflucht Austs festhalten: Bei ihm ist abschließend vom russischen „Imperialismus“ die Rede, was ja wohl als wissenschaftliche Einlassung des Fachmanns gemeint ist und somit die Frage aufwirft, welche theoretischen Implikationen hier gegeben sind. Es soll ja nicht ums Beschimpfen gehen (so wie Varwick vom ukrainischen Botschafter Melnyk als „Arschloch“ bezeichnet wurde), sondern um wissenschaftliche Klärung, bei der Guérot und Ritz angeblich versagt haben. Dazu wird vom Fachmann auf den Imperialismus als Erscheinung der modernen Welt angespielt – mehr aber auch nicht. Dass damit, der Sache nach, auf ein Expansionsbestreben gezielt ist, das seine Grundlage – auf die eine oder andere Weise – in der kapitalistischen Produktionsweise der Staatsmacht hat, kann man sich dazudenken. Ausführungen schenkt sich der Experte Aust, das negativ besetzte Wort soll genügen.

Wenn aber die Staatenwelt durch imperialistische Konkurrenzverhältnisse bestimmt ist, müsste man sich den Mächten zuwenden, die wie die USA und ihre NATO- bzw. EU-Partner bestimmenden Einfluss auf Weltmarkt und Weltpolitik haben und die um die Reichweite imperialen Einflusses ringen. Das machen Guérot und Ritz übrigens ausgiebig, sie nehmen die „amerikanische Vorherrschaft“ ins Visier, stützen sich bei ihrer Analyse auf amerikanische Quellen und Experten (Brzezi?ski, Wolfowitz, Mearsheimer), belegen die Aufrüstungsmaßnahmen oder die Einflussmaßnahme auf Umsturzbewegungen, dokumentieren die Feindbildproduktion, die Rüstungsanstrengungen etc. Das, was Aust in Kurzform als Aussage des Buchs bringt, wird dort ausführlich thematisiert.

Aber unabhängig von solchen Nachweisen müsste man die westliche Vorherrschaft eigentlich als Trivialität bezeichnen. Dass solche imperialen Bestrebungen zu konstatieren sind, könnte man als Ergebnis der Zeitungslektüre festhalten. Dass „America first!“ weltweit gilt und alle Rivalen, unter Einschluss der EU, kleinzuhalten sind, war sogar mal explizit ausgesprochenes Programm unter der Trump-Administration – ein Programm, das übrigens mit Bidens „Build Back Better“ nicht revidiert, sondern getoppt werden sollte. In der Forderung „Make America great again“ unterscheiden sich Republikaner und Demokraten nicht, sondern nur darin, wer es besser kann. Guérot und Ritz machen es sich übrigens nicht so einfach, die Trump-Ära groß zu betonen; diese hat bei ihnen eher den Stellenwert einer Randnotiz. Ihnen geht es darum, eine strukturelle transatlantische Rivalität – die sie eher in der kulturellen Sphäre verorten – herauszustellen.

Zu Austs Beschwerde wäre also festzuhalten, dass das Konstatieren der Sache selber, nämlich der US-Dominanz, keine wissenschaftliche Leistung ist. Sie ist der theoretischen Klärung vorausgesetzt als Sachverhalt, der nach imperialismustheoretischer Aufarbeitung verlangt; seine Bestreitung dagegen gehört ins Feld der Fake News. Und einen sachlichen Einwand hat Aust ja auch nicht zu bieten. Was dann die zweite Hälfte seines Resümees betrifft – die Rückkehr der EU zum Nationalismus –, kann er noch nicht einmal das Faktum bestreiten, sondern behilft sich mit der Ausflucht, es hätte keine Alternative gegeben, stimmt der Feststellung selber also zu.

Aust legt jedoch auf Nachfrage des Interviewers noch einmal nach, indem er zwar keine weiteren Inhalte kritisiert, aber die Äußerung des Autorenduos im Vorwort aufspießt, dass es die Weltlage „ganz neu denken“ wolle. Das weist er entschieden zurück, z.B. mit der Feststellung, dass die „Ansicht, Amerika versuche gezielt Europa von Russland zu entfremden, eine hundertjährige Geschichte im rechtsextremistischen Denken“ habe. Das ist nun wirklich infam. Er gibt nicht den kleinsten Hinweis, wo das inkriminierte Buch solche Bezüge zum historischen Faschismus oder zum Neofaschismus aufweisen würde. Dass es solche staatlichen Rivalitäten und Bündniskalkulationen gibt, gehört zum Grundbestand einschlägiger Erkenntnisse, seit vor über hundert Jahren das Zeitalter des Imperialismus begann; das zur Kenntnis zu nehmen, hat mit Extremismus nichts zu tun. Und Neofaschisten, wie sie etwa in der neuen italienischen Regierung vertreten sind, stehen treu zu den USA und zur NATO.

Außerdem ist die Ansage des Essays, neu zu denken, erkennbar auf die gegenwärtige Kriegslage bezogen. In der gibt es – Aust beruft sich ja gerade auf die Fachwelt als Autorität – einen breiten Konsens, der die Parteinahme für die NATO wissenschaftlich nachvollzieht. Auf den Dissens, der vom Autorenduo hierzu angemeldet wird und der somit in der Tat etwas ganz Neues bringt, bezieht sich die Schlussbemerkung im Vorwort.

Nicht träumen – bitte aufwachen!

Michel versucht 1848 eine Revolution zu machen

Da hatte doch von den heutigen Möchtegernen selbst Scholz noch nicht gelebt.

Natürlich ist die Vorstellung einer eurasischen Vereinigung unter Einschluss Russlands nichts Neues, auch keine Erfindung extremistischer Kreise, die sich dem Einfluss der USA auf Europa widersetzen woll(t)en. Der Osteuropa-Experte Stefan Creuzberger hat etwa kurz vor der russischen Invasion in die Ukraine die große Studie „Das deutsch-russische Jahrhundert“ vorgelegt (auf die sich Guérot/Ritz unter anderem beziehen) und auf solche alternative eurasische Möglichkeiten aufmerksam gemacht. So etwa im Fall des jetzt 100 Jahre alten Vertrags von Rapallo, mit dem die demokratischen Politiker der Weimarer Republik nach eigenen „Gestaltungsräumen“ gegen die Sieger des Ersten Weltkriegs suchten. Creuzbergers Studie geht in ähnlicher Weise wie das „Endspiel“ kontrafaktisch vor, indem sie – in historischer Perspektive – Potenziale im binationalen Verhältnis auslotet, mit denen Deutschland eigentlich seine eigene „koordinierende Rolle“ auf dem Kontinent hätte unter Beweis stellen können (und sollen).

Bei Guérot/Ritz heißt es resümierend in der Einleitung, die den – bereits im Titel des Buchs angesprochenen – politischen Traum vorstellig macht: „Der kontinentale, föderale Traum stellt eine lange, durchaus realistische Konstante deutscher oder auch französischer Nachkriegspolitik dar“. Damit liegt der Widerspruch, von dem das Buch lebt und den es nicht auflöst, auf dem Tisch: Realistisch betrachtet – das liefert die starken analytischen Passagen – ist das Gegenteil von dem der Fall, worauf es den Autoren ankommt. Das Buch ist also im Irrealis geschrieben. Dabei wird immer wieder deutlich, etwa beim Versagen des „deutsch-französischen Tandems“, bei der problembeladenen Einführung des Euro oder beim Streit über die europäische Verfassung, dass dem Aufbruchsprozess der EU von Anfang an die Widersprüchlichkeit einbeschrieben war, der Traum also gar nicht das wirkliche Programm darstellte. Die Autoren erwähnen ja konsequent und ehrlich solche retardierenden, „hausgemachten“ Momente; insofern kann man ihnen nicht den Vorwurf der Einseitigkeit, der Auslassung wichtiger Informationen oder der Weltfremdheit machen.

Die Hauptprovokation des Buchs – die These, dass Putin den Krieg nicht aus heiterem Himmel begonnen hat, sondern durch einen von langer Hand geplanten NATO-Aufmarsch provoziert wurde, dass es also eine Vorgeschichte der Militarisierung gab – ist gut belegt und wird auch differenziert, ohne Schwarzweißmalerei, die einer Seite allein die Schuld gibt, vorgetragen. Die offenkundige Schwäche des Buchs dagegen, dass es seinen Ausgangspunkt explizit bei einem „Traum“ von Europa nimmt, also gar nicht von der Sachlage, sondern von einer Wunschvorstellung herkommt (für die sich allerdings illustre Namen wie Monnet, Delors, Kohl, Gorbatschow anführen lassen), muss man festhalten: Der Essay ist noch nicht einmal in der Lage, sich von der eigenen Täuschung – nachdem der Traum (wie es im 3. Teil heißt) „geplatzt“ ist – Rechenschaft abzulegen und die Rolle, die der Idealismus in der Welt des Staatsmaterialismus spielt, zu analysieren.

Diese Schwäche kann aber kein Grund für den Wissenschaftsbetrieb sein, eine solche Wortmeldung als unseriös auszugrenzen und die Autoren zu exkommunizieren. Das Buch des Hochschullehrers Creuzberger geht, wie gesagt, ähnlich vor (siehe: Wir waren vom Ukraine-Krieg „völlig überrascht“, Scharf links, 5.6.2022). Auf seine Art bringt es auch eine kontinentale Vision zum Ausdruck, die bewusst als Dementi des Urteils gemeint ist, das 20. sei ein amerikanisch geprägtes Jahrhundert gewesen. Ein solcher Idealismus, der „eigentliche“ Wirkkräfte oder verschüttete, noch nicht realisierte Potenziale zur Sprache bringt und damit eine wissenschaftliche Arbeit strukturiert, erregt im akademischen Betrieb oder in der interessierten Öffentlichkeit sonst keinen Anstoß. Der heftige Widerspruch, auf den Guérot und Ritz stoßen, resultiert also nicht aus dem essayistisch vorgetragenen Spannungsverhältnis von hoch gesteckten Zielvorstellungen und der dahinter zurückbleibenden Wirklichkeit des politischen Geschehens. Hier macht sich vielmehr die neue Ausrichtung des öffentlichen Diskurses seit der von Kanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ bemerkbar: Die Konstruktion von Modellen und Szenarien zu einer möglichen Problemlösung geht in Ordnung, aber bei Kritik an der NATO-Linie hört die Freiheit der Wissenschaft auf.

Zuerst bei Krass & Konkret erschienen.

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Grafikquellen       :

Oben      —      Vizepräsident Joe Biden weist seine Enkelin Finnegan Biden am Beobachtungspunkt Ouellette am 7. Dezember 2013 auf ein Gebiet Nordkoreas hin. Der dreitägige Besuch des Vizepräsidenten in Korea unterstreicht das Engagement der US-Regierung für die Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Region und das Bündnis mit der Republik Korea. (U.S. Navy Foto von Mass Communication Specialist 2nd Class Chris Church) (Freigegeben)

 

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Hi, Hitler ! – Oder :

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Oktober 2022

Darf Nazi-Vergangenheit verjähren?

Onkel Sam will dich TOT!

Quelle        :     Berliner Gazette

Von         :       Helmut Ortner

Die Nazi-Verbrechen sind zu gewaltig, um heute zu sagen: Jetzt soll endlich einmal Schluss sein! Wann aber ist die Vergangenheit wirklich vergangen? Die Verantwortung nachfolgernder Generationen beginnt bei der Frage, ob sie sich erinnern will. Der Journalist und Berliner Gazette-Autor Helmut Ortner unternimmt eine Bestandsaufnahme.*

Der Führer meldete sich 2015 zurück. Mitten in Berlin. Aus einer Rauchschwade war er plötzlich unter uns. »Er ist wieder da« , hieß der Film, der ein großer Publikumserfolg war. Die Literaturverfilmung basiert auf dem gleichnamigen Bestseller-Roman des Autors Timur Vermes., dass mehr als zwei Millionen verkauft und in übersetzt in 41 Sprachen übersetzt wurde.

Im Film lässt der Regisseur seinen Hauptdarsteller in Nazi-Uniform inmitten des Berliner Kiez aus einem Kanal-Gulli in die Gegenwart steigen. Adolf Hitler (gespielt von Oliver Masucci) ist selbst mehr als überrascht, als er realisiert, dass er nun plötzlich wieder am Leben ist. Und wie hat sich die Welt verändert?! Der gerade bei einem großen Privatsender namens »MyTV« gefeuerte Journalist Fabian Sawatzki (gespielt von Fabian Busch) wittert als Erster die Chance, mit diesem seltsam-faszinierenden vermeintlichen Adolf-Hitler-Imitator, der dem echten Führer verblüffend ähnlich ist, Geld zu verdienen und seinen alten Job wiederzubekommen. Es wird ihm gelingen. Dieser Hitler begeistert alle: alte Menschen erinnern sich an eine Zeit, in der nicht alles schlecht und vieles besser war…, , junge Leute finden ihn cool, eine »irre Type«…

Unaufhaltsamer Aufstieg

Der zurückgekehrte Führer tritt seinen Siegeszug an, tingelt durch Talkshows, wird bestaunt von der Presse, bejubelt vom Boulevard und zum Hit auf youtube. Die Führung der NPD macht er derweil beim Ortsbesuch in der Parteizentrale zur Minna, weil sie so ein verlorener Haufen sei. Wenn er bloß die SS wieder hätte! Hitlers scheinbar unaufhaltsamer Aufstieg bekommt erst dann einen Knacks, als ein Video auftaucht, das zeigt, wie er einen Hund erschießt. Hetze gegen Minderheiten, Gefasel vom Wohl des deutschen Volkes – das geht. Kein Herz für Tiere – das geht nicht, vor allem nicht mit den Grünen, die sich der neue, alte Hitler gut als Koalitionspartner vorstellen kann. Schließlich ist Naturschutz nichts anderes als Heimatschutz, und wie man die Heimat schützt, das weiß niemand besser als er.

Regisseur David Wnendt spielt scheindokumentarisch mit Menschen, denen der vermeintliche Hitler in Alltagssituationen vor die Nase gestellt wird. Die Menschen jubeln ihm zu, er stellt sich vors Brandenburger Tor und lässt sich fotografieren, geht ins Gasthaus zum Stammtisch, an dem rechte Parolen die Runde machen, Asiatische Touristen finden ihn lustig, eine junge Frau sagt: „I love Hitler“, auf Sylt oder in Passau schwadronieren ältere Herren, sie hätten nichts gegen Ausländer, aber…!

Die Frau von der Imbissbude schließlich fasst zusammen, was dem Film-Publikum innerhalb von zwei Stunden an Ressentiments um die Ohren gehauen wird: Es gibt keine Demokratie, Politiker sind korrupt, Ausländer kriminell, schon deren Kinder eine Plage – und seine Meinung darf man auch nicht sagen. Das werde ich ändern, verspricht der freundliche Herr Hitler. Da bittet die Frau vom Imbiss um ein Selfie… Hitler irritiert: ein Erinnerungsfoto? »Er ist wieder da« ist über weite Strecken beängstigend komisch. Welche Idioten echt sind und welche Teile der Inszenierung allein für die Dramaturgie, das ist nicht so ganz klar.

Die neue Leichtigkeit: Über Hitler lachen

Gleich fragten viele besorgt: Darf man das? Diese Frage beantwortete schon Charlie Chaplins famose Satire »Der große Diktator« 1940. Man darf! Das gilt auch acht Jahrzehnte später noch. Im Rahmen der Kunst und Unterhaltung ist es durchaus erlaubt, sich über Adolf Hitler lustig zu machen, um den Tyrannen mit den Waffen der Satire zu bekämpfen. Doch was passiert, wenn man nicht über, sondern mit Adolf Hitler lacht?

Er ist wieder da bietet nicht den eindimensionalen Dämonen Hitler, sondern einen nicht uncharmanten Pragmatiker, der das moderne Leben schnell adaptiert und zu seinen Zwecken nutzt. Dieser „neue“ Hitler hält weitgehend an seinen menschenverachtenden Thesen fest, diese kommen aber nun als Comedy getarnt daher, ohne dabei ihre Wirkung zu verfehlen. Mit der Parodie-Figur Hitler sind die Menschen vertraut, vertrauter als mit dem echten Tyrannen, den die wenigsten noch persönlich erlebt haben. Somit begibt sich der Film auf ideologisch unwegsames Terrain, wenn er sein Publikum mit diesem – und über diesen – Adolf Hitler lachen lässt. Ein Kritiker bemerkte dazu, die toxische Komödie sei so unterhaltsam-lustig wie gleichermaßen schmerzhaft, wenn man sähe, wie viele dem Hitler 2.0 schon wieder auf den Leim gehen“. Wnendts Film hielt den Deutschen einen Spiegel vor.

Seit Jahren ist Hitler ist eine omnipräsente Figur. In Filmen, auf Theaterbühnen, als Witzfigur, als Comic. »Der Führer« ist ein Popstar, ein »Headliner« der Medien- und Unterhaltungsindustrie. In seinem Erregungs- und Entrüstungspotenzial wird er von keiner anderen historischen Schreckensgestalt übertroffen. Keine Frage: Es gibt eine neue Leichtigkeit im Umgang mit Hitler und dem Nationalsozialismus. Nicht weil der Gegenstand seinen Schrecken verloren, sondern weil sich der Schrecken vom Gegenstand gelöst hat. Ob als Film, Buch oder Parodie-Vorlage: das tatsächlich Geschehene weicht einem historischen Mythos, der keine Widersprüche kennt. Die Gestalten, die Propaganda, die Verbrechen der Nationalsozialisten, das reale Grauen schlägt um in schaudernde Faszination, mitunter in Klamauk und trübe Comedy. So wird das NS-Deutschland vernebelt und marktgängig in die Jetzt-Zeit transferiert. Die Nazi-Ära verkommt zur beliebig ersetzbaren Chiffre des Bösen – mit einem verhängnisvollen Nebeneffekt: der Verharmlosung. Und diese Verharmlosung braucht ein Gesicht: Hitler. Er ist zur popkulturellen Ikone des Bösen mutiert. »The Führer« ein globaler Popstar.

Verflachung und Relativierung der Nazi-Barbarei

In seiner mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vorliegenden Studie mit dem Titel »Hi Hitler!« (Der Nationalsozialismus in der Popkultur, WBG, Darmstadt 2029), weist der US-amerikanische Historiker Gavriel D. Rosenfeld auf eine seit Jahren anhaltende »Normalisierungswelle« hin, eine Tendenz, die die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen negiert. Mit dem Verschwinden von Zeitzeugen werde, so Rosenfeld, das Geschehene zunehmend aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Begünstigt werde diese Entwicklung durch die Informationsrevolution. Der Aufstieg digitaler Technologien und vor allem des Internets erleichtert, ja erzeuge »kontrafaktisches Denken«. Die NS-Vergangenheit löse sich zunehmend vom historischen Kontext. Adolf Hitler erlebt seit Jahren eine Normalisierung.

In der westlichen Welt galt er jahrzehntelang als Inbegriff des Bösen. Nun erscheint zunehmend als skurrile, groteske schräge Figur. Nirgendwo wird der Wandel sichtbarer als im Internet. Wer bei Google eine einfache Bildsuche zu Hitler startet, sieht neben dokumentarischen Archivfotos, zunehmend digital veränderte humoristische Fotos. Hitlers als Witzfigur, als Lachnummer, der unter einer 70er-Jahfre Discokugel als »Disco Hitler« als flotten Tänzer oder in »Bedtime Hitler« im Schlafanzug auf dem Schlitten durch den Nachthimmel fährt. Es gibt zahllose Bildmakros von Hitlers-Kopf, die mit Photoshop auf die Körper von Supermodells, Popsängern und Sport-Heroes montiert wurden und in Sprechblasen wird der einstige Führer statt »Heil« mit einem coolen »Hi« begrüßt.

Der Ausruf »Hi, Hitler« steht nicht nur wegen seiner Komik für eine neue Tendenz in der Darstellung der NS-Vergangenheit. Tatsache ist, unterschiedliche Genres wie das der Satire, der Fantasy und kontrafaktischer Geschichtserzählungen, tragen zur historischen und moralischen Verflachung bei. Sie laufen dadurch Gefahr, Inhalte zu Gunsten von Gags und Pointen zu opfern. Zwar geben die Produzenten an, ebenfalls hehre moralische Ziele zu verfolgen und sich der historischen Aufklärung verpflichtet zu fühlen. Es gehe darum, mit modernen visuellen Darstellungsformen, vor allem jünger Menschen anzusprechen. Für Gavriel D. Rosenfeld aber sind die satirischen Darstellungen Hitlers im Internet Teil eines größeren Wandels, der sich aktuell in der Erinnerungskultur an die NS-Zeit vollzieht, die Normalisierung und Relativierung der Vergangenheit. »Die Befürworter dieser Normalisierung tragen dazu bei, der NS-Vergangenheit die historische Besonderheit zu nehmen, etwa in dem sie mehr auf Ähnlichkeiten als auf Unterscheide abheben. Angestellte historische Vergleiche werden – etwa durch Universalisierung der Vergangenheit – bemüht.“

Sophie Scholl als Instagram-Star

Anschauungsmaterial für Rosenfelds These bot die Instagram-Soap »@ich-bin-sophie-scholl«, einem multimedialen Projekt, das dem 100. Geburtstag von Sophie Scholl gewidmet war und mit der die ARD den Nationalsozialismus aus den Geschichtsbüchern für junge Follower-Community ins Hier und Jetzt holen wollte. Tag für Tag filmte hier eine Influencer-Sophie ihr Leben, teilte Propagandafilme der Nationalsozialisten und ihre Gedanken dazu, postete allerlei Fotos. DieFollower sollten „emotional, radikal subjektiv und in nachempfundener Echtzeit an den letzten zehn Monaten der 1942 hingerichteten Widerstandskämpferin teilhaben“, äußerten die MacherInnen. Das schien gelungen: fast eine Million Menschen abonnierten den Account.

Dass beim Versuch, historisch komplexe Themen auf Instagram zu vermitteln, vieles fragmentarisch blieb, lag am Format selbst. Die Dramaturgie sozialer Formate braucht schnell verstehbare Sätze. Aber in dieser digitalen History-Soap gab es allerlei rhetorischen und gedanklichen Unrat, beispielsweise Sätze wie „Hitler macht seit 1933 Jüdinnen und Juden das Leben in Deutschland schwer“. Nein, nicht Hitler allein hat den Jüdinnen und Juden „das Leben schwer gemacht“, es waren die braven deutschen Bürgerinnen und Bürger. Für die die alltägliche Diskriminierung, für Verfolgung und Vernichtung, dafür haben Hitlers Deutsche täglich selbst gesorgt. So trägt die Instagram-Soap leichtfertig dazu bei, dass sich Unwissen und Narrative verfestigen. Die deutsche Erinnerungskultur bleibt das, was es schon immer ist: eine große gesellschaftliche Rein-Waschung: Wir haben von nichts gewusst! Auch wir waren Opfer! Den letzten Instagram-Post gab am 18. Februar 2022, also genau 79 Jahre nach dem 18. Februar 1943, als Sophie Scholl und ihr Bruder verhaftet und vier Tage später hingerichtet wurden. Selfies vom Schafott. Die Influencer-Community war betroffen und dennoch wenig begriffen.

Auch im Nachkriegs-Deutschland wollten die einstigen Volksgenossen die »dunklen Jahre« von ihrem eigenen Erleben und Mit-Tun abspalten. Hitler allein sollte es gewesen sein, verantwortlich für das Verderben der Deutschen und ihre millionenfachen Verbrechen. Wenn nicht allein, dann allenfalls eine kleine verbrecherische Nazi-Elite und ihre fanatischen Getreuen. Eine bequeme, exkulpierende Legende. So ließ sich persönliche Schuld und Scham gut entsorgen ließen. Für die heutige Generation liefert die digitale Unterhaltungs- und Zerstreuungsindustrie solides Basismaterial zur Verflachung und Relativierung der Nazi-Barbarei. Die Instagram-Soap Sophie Scholl war ein Anfang. Es ist zu befürchten, dass weitere Formate in Planung sind.

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Oktober 2022

Elitärer Literaturkanon: Kein „bok“ auf Faust I

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Kolumne von Fatma Aydemir

Es wird viel über diversere Literatur im Schulunterricht diskutiert. Aber das Problem ist der Kanon Gedanke an sich.

Meine erste „Faust“-Ausgabe war ein kleines braunes Heft mit einer Illustration vorne drauf. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was die Illustration zeigte, aber die Farbe hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Mit einem Filzstift, ebenfalls braun und eine halbe Nuance dunkler, schrieb ich in Großbuchstaben das türkische Wort „bok“ vorne drauf.

Ich war in der elften Klasse und durchlebte eine Reihe von unangenehmen Gefühlen, als wir im Deutschunterricht gezwungen wurden, uns mit Goethes Drama über den Teufelspakt auseinanderzusetzen: Langeweile, Ekel, Wut. Nicht nur Wut auf diesen unleserlichen Text, dem ich keine zwei Zeilen lang folgen konnte, ohne mir peinlich und dumm vorzukommen. Sondern auch auf meinen Schlaumeier-Banknachbarn, der sich sichtlich bemühte, so zu tun, als würde er den Text verstehen. Ich kritzelte auch auf seine Ausgabe, er war sauer und übermalte meine Schrift, bis das „bok“ nicht mehr erkennbar war.

Was mein Mitschüler von damals wohl dazu sagen würde, dass ich heute aus freien Stücken an meinem Schreibtisch sitze und den „Faust I“ lese? Zugegeben, auch heute noch macht mir Goethes Sprache größtenteils zu schaffen, aber ich entdecke Dinge in dem Text, über die ich als 16-Jährige mit meiner Deutschlehrerin niemals hätte sprechen können: die homoerotische Ebene zwischen Faust und Mephisto etwa, oder die Pro-Choice-Dimension in Gretchens Kindsmord.

Hin und wieder finde ich sogar einen wunderschönen Satz, den ich mir ins Notizheft schreibe. Mein Auge hat sich über die Jahre eben verändert, im Gegensatz zu damals lese ich jetzt nicht nur freiwillig Bücher, sondern auch noch für mein Leben gern. Allerdings entdeckte ich diese Liebe eher zufällig und erst nach meiner Schulzeit, in der mir ein Klassiker nach dem anderen aufgezwungen und mir somit jegliches Interesse an Literatur früh versaut wurde.

Pflichtlektüre macht das Leben schwer

Nun wird der „Faust“ nach und nach aus den Lehrplänen der Bundesländer verbannt, zuletzt in Bayern. Während die Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar in einem offenen Brief an Markus Söder darum bat, die Entscheidung rückgängig zu machen, und noch ein paar weitere Philologen vehement auf die Aktualität der Themen in dem Klassiker hinwiesen, war von Kommentator-innen in der Presse in den vergangenen Monaten höchstens ein Schulterzucken zu vernehmen. Zu viele sind womöglich selbst gebeutelt von dem Drama, das seit 47 Jahren als Pflichtlektüre Schüler-innen das Leben schwer macht.

Quelle         :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten     —   Plakat für die US-Kinoauswertung des UFA-Films Faust von 1926 unter der Regie von F. W. Murnau

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Kulturkampf in Deutschland

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Oktober 2022

Was Hans-Georg Maaßen mit Winnetou verbindet

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Ob albernes Kinderbuch oder Kommentar zum Grundgesetz: Ist es richtig, Bücher und Autoren aus dem Sprach- und Denkraum tilgen zu wollen?

Indianer

Wer von Ihnen, sehr geehrte Leser, den Film »Karl May« von Hans-Jürgen Syberberg (1974; 187 Minuten) gesehen hat, wird sich vermutlich an die wunderbare Szene erinnern, in welcher der Protagonist nach eines weiteren Radebeuler Tages Müh’ sich so hoffnungsvoll wie tiefenpsychologisch verstrickt in das von Federkissen quellende Ehebett begibt und der dort schon schlummerbereiten Liebsten mitteilt: »Heute ist unser Winnetou gestorben«. Sodann umarmen sich die Liebenden, Winnetou inside, auf das Berührendste und opfern dem toten Freund ihre Tränen.

Das ist, wenn Sie möchten, selbstverständlich nichts wert. Gleichwohl könnte man es unter Gesichtspunkten der Kunst als solcher einmal bedenken, was ja den Winnetou-Kollegen Prinz Eisenherz, Superman, Ronja Räubertochter und Lukas Lokomotivführer auch gern zuteilwird. Der Südseekönig ist, wie wir wissen, nicht mehr mit an Bord, dafür inzwischen aber ein paar rassereine Elben sowie jede Menge kampfstarke Amazonenkriegerinnen.

Karl Mays Figuren waren durchaus erträglich, wenn man sie mit dem Tiger von Eschnapur vergleicht

Man kann auch »Old Shatterhand vor Gericht« von Jürgen Seul (2009) lesen, die ebenso berührende wie entnervende Geschichte des Scheiterns eines früh Verzweifelten an sich selbst.

Natürlich sprechen wir aufgeklärt Gebildeten hier nicht über Humboldt, Cooper oder London. Aber auch nicht über Brice und Barker, Elspe und Bad Segeberg. Der Apache wohnte bei May ja nicht in Zelten, wie dem Radebeuler Weltreisenden derzeit von der unbelesenen Bachelor-Schar vorgehalten wird, sondern in liebevoll beschriebenen Pueblos, und die »Westmann«-Community des kleinen Herrn May bestand zu erheblichen Teilen aus gierigen Verbrechern und Landräubern, hasszerfressenen Zivilisationsflüchtlingen und halbverrückten Bisonausrottern. Also eigentlich durchaus erträglich, wenn man es mit der deutschen Südafrikaliteratur, dem Tiger von Eschnapur samt Elefantenboy oder der französischen Afrika-Kultur vergleicht.

Dass man als Außenminister nicht Indianerhäuptling werden gewollt haben darf, die Sprechzettel-Lieferanten aus der Ministerial-Unterabteilung aber gerne »Sherpas« nennen dürfte, wenn man wollte, ist eines der kleineren Rätsel der selektiven Erweckungsbewegung.

Der Indianer als solcher ist ja gar kein echter Inder, sondern ein verwechselter. Er lebte teils am Thlewiaza-River, teils in der Gegend von Tenochtitlan, gern auch am Rio Gallegos. Er sprach 1200 Sprachen, die allesamt von Herrn May beherrscht wurden, der die Bösen belauschte und den Guten half, wo immer es etwas auf Zehen- und Fingerspitzen anzuschleichen gab zwischen Ernstthal, Kötzschenbroda, Oberlößnitz und Radebeul.

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Kraftmeier und Leisetreter

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Oktober 2022

Empört euch nicht nur! – Vom Wert der Besonnenheit

Ein Schlagloch von Robert Misik

Empört euch nicht nur! Vom Vorteil des Linksliberalismus für das Leben – vorgelebt vom Anführer der österreichischen Sozialisten im 19. Jahrhundert.

Victor Adler, der legendäre Gründer und Anführer der österreichischen Sozialisten im 19. Jahrhundert, war einmal von irgendeiner Partei-Unterorganisation eingeladen, um über das „Parteiprogramm“ zu reden. Seinem Freund Karl Kautsky berichtete er, dass „ein gescheiter Genosse“ hinterher gemeint habe, er – Adler – habe gar nicht „über“, sondern „gegen das Programm“ geredet. Tatsächlich habe er einige Phrasen und „Generalisierungen“ der eigenen Leute durch den Kakao gezogen, Schlagworte und Kraftmeierslogans. Bei anderer Gelegenheit gestand Adler ein, „dass ich mich bemühe, bei allen Dingen beide Seiten zu sehen“. Mentalitätsmäßig war Adler wohl das, was heutige junge Sektierer und Eindeutigkeitsfanatiker „Liberalo“ nennen. Also so eine Art „Linksliberaler“.

Was „Linksliberalismus“ heißt, ist sowieso nicht ganz klar. Ist damit eine umfassende Programmatik gemeint, eine weltanschauungsmäßige Eigenständigkeit? Dann gehört zu dieser ein Paket, das Demokratisierung umfasst, eine prinzipientreue Pro-Freiheitshaltung und eine im weitesten Sinne keynesianische Wirtschaftstheorie, die Wohlfahrt für alle, Regulierung wild gewordener Märkte erstrebt, aber auch skeptisch ist gegenüber Staats- und Planwirtschaft. Ein solcher grundlegender Linksliberalismus will Machtprivilegien schleifen und die Zwänge bekämpfen, die Menschen knechten – von Armut und Ungleichheit bis Konventionen und Diskriminierungen. Er versucht, Freiheit und Gleichheit zu verbinden.

Es gibt aber auch eine schwächere Form von „Linksliberalismus“, die mehr Mentalität und geistige Lebensform ist. So wie Adler: Der war ja nicht linksliberal. Er war ein Linker. Aber eben ein schlauer. Einer, der den simplen Phrasen und Eindeutigkeiten misstraute. Der bei allen Dingen „beide Seiten“ sah.

Nun kann man dieses „Von allen Dingen beide Seiten“-Sehen auch auf den Linksliberalismus selbst anwenden, der einen „Nutzen und Nach­theil für das Leben“ hat, um Nietzsche eine Phrase aus anderem Kontext zu klauen. Er nimmt überall das Einerseits und Andererseits wahr, ist wach für Ambivalenzen und Graustufen, und wenn er dann alle Für und Widers wahrgenommen hat, dann ist viel Zeit vergangen und bei so viel Pro und Contra weiß er am Ende nicht mehr, was er tun soll. Zu viel kluge Abwägerei macht auch handlungsunfähig. Das Gute an der linksliberalen Mentalität: Man hat als Linksliberaler in diesem Wortverständnis nicht eine eindeutige Meinung. Das Schlechte: Man hat meist zwei, oft sogar drei oder vier gleichzeitig. Die Vereindeutigung der Welt ist laut und auftrumpfend, die Vervieldeutigung ist ruhig, nachdenklich und zweifelnd. Was ihre Stärke ist, ist zugleich ihre Schwäche.

Insofern finde ich es richtig lustig, wenn Leute wie Precht oder Welzer in die Welt posaunen, „in den Medien“ komme nur eine Meinung vor. Wo ich doch selbst schon zu jedem Thema drei Meinungen habe und die kommen eigentlich alle vor.

Wer heute nur Abzocker sieht, dem bleibt nur der Blick in die Vergangenheit !! Was selbst die Politiker machen, welche immer wieder in ihre Parteiengruft steigen.

Die Vereindeutiger klagen empört an, dass „die unfähige Regierung“ (oder wer auch immer) zu einem beliebigen Problem nicht die perfekte Lösung aus einem Guss ausarbeitet. Das klingt überzeugend und kommt manchmal sogar bei Leuten gut an, die genau wissen, dass es die „perfekte“ Lösung nicht gibt. Nehmen wir die gegenwärtige Inflation. Die kann man bremsen, man kann mit verschiedenen Maßnahmen gegensteuern, man hat zeitgleich die Frage der Versorgungssicherheit sowie die der Leistbarkeit zu berücksichtigen (und noch hundert Variablen dazu) – aber nichts wird jemals perfekt sein.

Oder in der Kriegsfrage: Einer imperialen Despotie ist entgegenzutreten, die Ukraine muss unterstützt und das Putin-Regime geschwächt werden. Zugleich braucht es aber Besonnenheit und es ist nicht irre, die Frage zu stellen, wie man Putin und seiner Kamarilla einmal einen gesichtswahrenden Ausweg eröffnen kann. Mit jemandem, der einen imperialen Eroberungs- und Auslöschungskrieg führt, ist schwer zu verhandeln, gegen jemanden, der ein großes Nukleararsenal besitzt, ist andererseits ein Siegfrieden ziemlich unrealistisch, wie Jürgen Habermas etwa im Frühjahr in der Süddeutschen schrieb. Habermas wurde schwer geprügelt für diese Meinung. Ich war nicht von jedem Aspekt der Habermas’schen Ableitung völlig überzeugt, aber sie ist auch nicht so abwegig, dass ich mich über sie empören könnte.

Den Anderen als Scheusal darstellen

Quelle      :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Az ifjú Victor Adler (1852–1918)

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Unten        —  Ehemaliger Deutscher Bundeskanzler Gerhard Schröder als Oligarch in Erdöl und Erdgas von russischen Unternehmen Gasprom und Rosneft.

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Wahrheit aus meiner Sicht

Erstellt von DL-Redaktion am 29. September 2022

Die Wahrheit aus meiner Sicht

Platons Allegorie der Höhle.jpg

Von:  Jimmy Bulanik

Dies literarische Werk von dem Autor ist gänzlich geprägt durch persönliche Erfahrungen eines heranwachsenden Menschen aus der Mittelklasse der syrischen Gesellschaft, welcher bedingt durch die Geschwindigkeiten, der Radikalität des Kapitalismus, Imperialismus als auch der Globalisierung viel erlebte. Ob in Syrien, während des mobilen Strebens am Leben und gesundheitlich unversehrt zu bleiben, über Drittländer wie der Republik Türkei, die Hellenische Republik, Republik Nordmazedonien, Republik Serbien, Ungarn, Republik Österreich bis zum Alltag in der Bundesrepublik Deutschland. Hier in Zentraleuropa setzt der Autor seine Entwicklungen fort, welche ihm in Syrien entrissen worden sind.

Den persönlich bekannten und zu früh verstorbenen Menschen Wissam, Nour, Aghyad widmet der junge Autor, Moutasam Alyounes, Stellen in seinem Buch. Wir alle haben die Wirkungsmacht inne, dass die Getöteten nicht sinnlos gestorben sind. Dank wird adressiert an Andrea aus Essen – Werden für die Zeit des Befähigens zur Nutzung der deutschen Sprache, sowie Beryl für die persönlichen Ratschläge oder Hilfe bei der Suche nach einer Wohnung.

Es ist zu konstatieren, wie aktuell die Hintergründe des Phänomens der internationalen Geopolitik sind, bleiben und wen sie wann wo in welcher Form ohne eigenes Verursachen ungefragt betreffen. Deshalb ist das Werk geeignet, das empathische Miteinander, ob in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Westdeutschland, auf dem europäischen, amerikanischen, asiatischen oder afrikanischen Kontinent, durch die Anerkennung des Menschen, die Wertschätzung der Leistungen und Errungenschaften der Menschen untereinander zu fördern.

Reflechieren wir unsere Kaufentscheidungen im alltäglichen Leben. Es gibt Produktionsgüter mit Siegel wie einem internationalen, staatlichen EU Bio, private und strengere als die EU ökologische Verbandssiegel wie www.bioland.de , www.naturland.de , www.fairtrade-deutschland.de und vegetarische als auch vegane Mittel zum Leben zu egalitären Preisen in Supermärkten, Discounter, Drogerien.

Das Geld kann bei einem inländischen Ökostromanbieter, welcher mit eigenen Anlagen regenerative Energien gewinnt, wie der demokratischen Genossenschaft aus dem schönen Hamburg, green-planet-energy.de in Form von Anteilen der Genossenschaft nachhaltig, sowie sinnstiftend investiert werden. Organisieren wir eigenständig Veranstaltungen, indem wir Begegnungen, Freundschaft und die von allen Menschen ersehnte Liebe feiern und ebensolche pflegen.

Es obliegt uns, glaubhaft zu definieren und im Alltag zu Leben, wer wir sind und wodurch wir uns an Eigenschaften auszeichnen. Primär für unsere Lebensqualität als eine aktive und humane in Demokratie und Freiheit wirkende Zivilgesellschaft. Sicher ist, das der Bumerang, welchen wir werfen, zu uns zurück fliegen werden wird. Einen guten Anfang hat die Zivilgesellschaft bereits unter Beweis gestellt. Weitere progressive Entwicklungen werden folgen. Denn die Zeit ist niemals statisch und auf unsere Jugend auf dem Globus, wie fridaysforfuture.de oder www.blacklivesmatterberlin.de/main-ger ist verlass.

Jimmy Bulanik

Moutasam Alyounes, Die Wahrheit aus meiner Sicht, Eigenverlag, 107 Seiten, zu beziehen über das VielRespektZentrum, Preis: 0 Cent, ggf. eine freiwillige Spende nach eigenem Ermessen.

Nützliche Links im Internet:

Mobilitea (Foto #14):

mobilitea.de/das-team

VielRespektZentrum

www.vielrespektzentrum.de

Cynthia Nickschas and Friends: Alles gleich Mensch

www.youtube.com/watch?v=u-VtUbOd2q8

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Grafikquellen          :

Oben     — Silhouette einer Frau in einer Höhle, die ihren eigenen Schatten betrachtet. Das Bild kann sowohl in der Philosophie (zum Beispiel in der Allegorie der Höhle) als auch zur Darstellung psychologischer Prinzipien (z.B. Borderline-Persönlichkeitsstörung) verwendet werden.

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Debatte über „Winnetou“

Erstellt von DL-Redaktion am 30. August 2022

Aus der Zeit gefallen

Wurde nicht schon immer der größte rassistische Schrott innerhalb der politischen Parteien ausgegoren über die ganze Welt ausgossen, indem alles was nicht „Weiß“ war, getötet oder mit Verachtung Versklavt wurde ?  Das wurde bis heute nicht – und wenn doch, nur hinter der vorgehaltenen Hand leise gesäuselt.

Von Alina Schwermer

Auch im Streit über „Winnetou“ gilt: Es gibt kein Recht auf rassistischen Schrott. Aber wichtiger als Verbannungen sind Kompetenzen im Umgang damit.

Nun hat es also auch den alten May erwischt. Nachdem der Ravensburger Verlag vergangene Woche seinen Winnetou-Abklatsch zu einem aktuellen Film zurückzog, brennt das Lagerfeuer der Aufklärung plötzlich lichterloh: Darf man noch Karl-May-Festspiele abhalten? Mays Werke verkaufen? Muss Winnetou ein zweites Mal sterben, diesmal endgültig?

Das weiße rassistische Denken in Deutschland entdeckt plötzlich seine Liebe zum Blutsbruder; die Karl-May-Gesellschaft verfasst eine tausendfach unterzeichnete Petition für einen differenzierten Umgang, der im Wesentlichen „Weiter so“ heißt. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie schlecht Cancel-Debatten oft laufen. In einer Welt, in der ein gehöriger Teil von Kunst Sexismus, Klassismus oder Rassismus enthält: Wie viel ist zu viel? Wie geht man sinnvoll mit rassistischer Kunst um? Es ist überfällig, das klüger zu diskutieren.

Viel zu viel kreist um Canceln oder Nicht-Canceln, also die Konsequenzen, dabei hat sich die Gesellschaft noch gar nicht verständigt, was eigentlich das Problem ist – jenseits von plakativen Vorwürfen wie „kulturelle Aneignung“, die selbst hochproblematisch sind. Mays Werke des 19. Jahrhunderts, die Filme der sechziger Jahre, die vielen Remakes bis hin zur homophoben Satire „Schuh des Manitu“; 150 Jahre Stoff ist nicht ein Werk. Was ist also an den May-Büchern das Problem?

Kurz: Sie sind dermaßen rassistisch, deutschtümelnd und frauenfeindlich, dass man nur hoffen kann, Sigmar Gabriel weiß gar nicht, was drinsteht: Die „naturnah“ dargestellten, geistig meist limitierten „Indianer“; der seiner „Rasse“ überlegene Winnetou, der als „roter Weißer“ die Romantisierung erst möglich macht; der N* namens Bob, der Babysprache spricht, treu den Weißen dient und als Trottel herhalten muss. Ist das zumutbar?

Die deutlich entschärften Filme der sechziger Jahre haben das Kolonialverbrechen dann individualisiert: Gute Weiße und gute weiße Soldaten helfen den „Indianern“ in einer irren rassistischen Verdrehung gegen einzelne, meist Latino-Bösewichte. Die jetzt getilgten Kommerz-Kinderbücher sind vermutlich der harmloseste Winnetou, den es je gab. Winnetous Evolution ist auch ein Abbild der Fortschritte im Antirassismusdiskurs. Und rassistischer Konstanten. Die deutsche Gesellschaft stellt gerade fest, dass sie all das nicht umstandslos in die historische Tonne kloppen kann. Vorher muss sie aufarbeiten.

Karl Mays Winnetou – eine Selbsttherapie für ein Volk von Ras­sis­t-in­nen und Mör­de­r-in­nen

Auch das läuft völlig wirr. Ravensburg entschuldigt sich dafür, dass „wir die Gefühle anderer verletzt haben“. Das ist Teil des großen, oft absichtlichen Missverständnisses um „Cancel Culture“. Kunst verletzt zwangsläufig und zum Glück Gefühle. Das Problem an rassistischen Werken sind nicht Befindlichkeiten, sondern es ist ihr Rassismus. Es wäre allerdings infantil, den größten Teil von 2.000 Jahren Kulturgeschichte zu schreddern (was freilich bisher auch niemand verlangt hat).

Oliver-Twist-1922.jpg

Es geht um die Überwindung von Verhältnissen, nicht ums Vernichten ihrer historischen Abbildung. Gleichzeitig ist es ebenso naiv, Kunst für ein totes, unveränderliches Stück Holz zu halten. Charles Dickens schrieb Oliver Twist um, nachdem ein jüdischer Kritiker ihm den Antisemitismus aufzeigte. Disney hat sein ultrarassistisches Musical „Song of the South“ (1946) nach Protesten nie auf US-Video veröffentlicht. Erfolgreiche Cancel Culture schon damals. Es gibt kein Recht auf rassistischen Schrott, nur weil er Kunst heißt. Und natürlich kann man sich bei den originalen May-Werken mit guten Gründen entscheiden, sie nicht mehr kommerziell zu vertreiben.

Zugleich lohnt es, zu erinnern: Weltbilder bilden sich komplex aus, einzelne Filme oder Bücher werden in ihrem Effekt eher überbewertet. Denn die Winnetou-Debatte ist ja auch eine Scheindebatte. Die Öffentlichkeit diskutiert verbissen über Werke, die ohnehin fast keiner mehr kauft, Gegenwartskultur fällt dagegen meist sträflich unter den Tisch. Alles, was die heutigen jungen Erwachsenen und Kinder formt(e) – von rassistischen Disney-Filmen der neunziger Jahre wie „Pocahontas“ und „Aladdin“ über sexistische Welterfolge wie „Die Eiskönigin“ bis hin zur Frage, wer eigentlich weiterhin Geschichten erzählt (wohlhabende US-Bürger:innen) –, wird kaum debattiert.

Keine kritische Analyse in den Schulen

Quelle           :           TAZ-online          >>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —    Winnetou (links) und Ribanna auf der ersten Winnetou-Darstellung aus dem Jahr 1879. Illustration zur Erzählung Im fernen Westen.

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Trotzstolz auf Winnetou

Erstellt von DL-Redaktion am 27. August 2022

Nah am Silbersee gebaut

Stellen sich heutige Politiker-innen nicht selber ein geistiges Armutszeugnis aus, sich über Kinderbücher aus vergangenen Zeiten zu ereifern, oder ist das nur eine gefundene Möglichkeit von den eigenen Vergehen und denen ihrer politischen Vorgänger abzulenken? So Zeitvergessen und dämlich können nur Politiker reagieren, welche nicht einmal ihren eigenen Aufgaben nachkommen können. Dabei vermutet ein Jeder, welcher die Bücher gelesen hat, dass der Schreiber Karl May, wohl niemals in seinen Leben ein fremdes Land richtig erlebt hat. Wo wir denn wieder bei den politischen Nullen wären.

Eine Kolumne von Samira El Ouassil

Kritik? Na und! Was treibt Menschen dazu, jetzt erst recht Winnetou zu lesen, SUV zu fahren, heiß zu duschen und Layla zu huldigen? Es ist der Trotzstolz.

Nach zweieinhalb Wochen Funkstille meldet sich Sigmar Gabriel mit etwas ungewohntem Pathos auf Twitter , um zu verkünden, dass er etwas Großes tun werde; ja, er, der alte Transatlantiker, werde seinen Kindern sein Wissen weitergeben, so wie es einst die indigenen Völker Nordamerikas mit ihren Nachkommen taten.

In einem ähnlichen Rhythmus gestand uns Thüringens FDP-Landeschef Thomas Kemmerich vorgestern, ähnlich emotional wie Gabriel, seine Tränen und stimmte auf die Langlebigkeit dieser Literatur ein :

Dank Karl May wissen wir: die indigenen Völker Nordamerikas kannten keinen Schmerz . Aber selbst er konnte nicht ahnen: deutsche Politiker sind nah am Silbersee gebaut. Möglicherweise sind mit der Bedeutung des Namens Winnetou, die bekanntlich »Brennendes Wasser« lautet, genau diese leidenschaftlichen Tränen gemeint. Winnetou gelesen. Geweint. #WinnemeToo.

Bei Gabriel existierten also zweieinhalb Wochen lang keine Impulse, die ihm eine Äußerung zum Weltgeschehen entlocken konnten. Klar, vielleicht lag’s am Sommerloch oder er machte mal Twitter-Urlaub; vielleicht hat er auch einfach kein so großes Interesse daran, wie hart der kommende Herbst für viele Bürger:innen wird, die Gas, Strom oder sonstige Energie beziehen – und ansonsten ist ja außer Krieg und so nicht viel passiert. Doch im Falle des literarischen Erbes von Karl May verspürte er augenscheinlich das Bedürfnis, dessen Œuvre zu verteidigen. Und damit waren er und Kemmerich natürlich nicht allein. Auch z. B. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gestand, 45 Bücher von May gelesen zu haben. Wobei sie betonte, dass sie dennoch weder Rassistin noch Kolonialistin sei .

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Unten       —     02.05.2018, Berlin: Diskussion: Eröffnungspanel: Die Revolution disst ihre Kinder – alte Linke, neue Rechte und das Internet Speaker: Friedemann Karig, Stefan Niggemeier, Samira El Ouassil, Nils Markwardt. Die re:publica ist eine der weltweit wichtigsten Konferenzen zu den Themen der digitalen Gesellschaft und findet in diesem Jahr vom 02. bis 04. Mai in der STATION-Berlin statt. Foto: Gregor Fischer/re:publica

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Der dialektische Dreischritt

Erstellt von DL-Redaktion am 27. August 2022

Ist der demokratische Sozialismus die Gesellschaftsform der Zukunft?

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :    Christoph-Maria Liegener

Die Synthese des dialektischen Dreischritts.  Viele behaupten es, aber keiner kann es beweisen: Kommt der demokratische Sozialismus?

Diese Frage ernsthaft zu beantworten, verlangt, die Entwicklung der Menschheit als Ganzes in ihrer Geschichte und im Hinblick auf ihre Zukunft zu betrachten. Wenn man das tut, stösst man darauf, dass sich der Charakter der Menschheit im Lauf der Geschichte mehrfach gewandelt hat und derzeit wieder wandelt. Ganz konkret: In den letzten Jahrhunderten wandelt sich der Charakter der Menschheit von „männlich“ zu „weiblich“. Das ist kürzlich festgestellt worden (Christoph-Maria Liegener: Die weiblich werdende Welt, 3. Aufl., Books on Demand, Norderstedt, 2022).Die Theorie von der weiblich werdenden Welt kommt zu dem Schluss, dass der demokratische Sozialismus die Gesellschaftsform der Zukunft ist, auch wenn er dann vielleicht nicht mehr so genannt werden wird. Die Theorie geht davon aus, dass der kollektiven Psyche der Menschheit ein Gender zugeschrieben werden kann. Dieses war bisher männlich und wird nun zunehmend weiblich. Der Wechsel des Gender der Menschheit kann in ähnliche Ereignisse in der Geschichte der Menschheit eingeordnet werden und erscheint daher als eine historische Notwendigkeit.

Folgende Episoden können identifiziert werden:

Die sich vor vier Millionen Jahren entwickelnden Vormenschen, die Australopithecinen, hatten eine männliche kollektive Psyche. Vor ungefähr zwei Millionen Jahren entwickelte sich die Gattung „Homo“, welche eine weibliche kollektive Psyche besass. In der Neolithischen Revolution vor etwa 10000 Jahren wurden die Menschen sesshaft und die kollektive Psyche wurde männlich. Ab dem Anbruch der Neuzeit ca. 1500 n.Chr. bis heute begann die kollektive Psyche, allmählich wieder weiblich zu werden.

Betrachtet man die Zeitabstände, wird deutlich, dass die letzte männliche Phase der Menschheit im Vergleich nur ein kurzes Intermezzo in der weiblichen Geschichte der Menschheit war. Dieses kurze Intermezzo hat ausgereicht, um die Menschheit von harmlosen Erdbewohnern zur grössten Bedrohung für den Planeten zu machen. Die derzeit laufende Transgenderisierung dürfte daher auch im Interesse unseres Planeten liegen. Und auf Mutter Erde muss der Muttersohn hören.

Das Weiblich-Werden der Menschheit vollzieht sich schleichend über Jahrhunderte und wird von den Menschen meist nicht wahrgenommen. Ein Ergebnis des Weiblich-Werdens ist, dass sich in den letzten Jahrhunderten die Demokratie immer weiter verbreitet hat – mit temporären Rückschlägen. Die Demokratie ist eine weibliche Regierungsform, Monarchie und Diktatur sind männliche. Das findet seinen Grund darin, dass Männer Hierarchien errichten, Frauen aber Netzwerke knüpfen.

Frauen sind geneigt, Fragen zu stellen. Untersuchungen haben gezeigt, dass Frauen wesentlich öfter nach dem Weg fragen als Männer. Wissenschaft beruht darauf, Fragen zu stellen. Die Wiege der europäischen Wissenschaft stand im antiken Griechenland. Es zeigt sich, dass die kollektive Psyche dort homosexuell war und weibliche Züge trug. Die Wissenschaft erlebte einen neuen Aufschwung in der Renaissance, dem Zeitpunkt, and dem das heutige Weiblich-Werden der Welt seinen Anfang nahm.

In der Höhle teilten die Frauen ihre Werkzeuge, während die Männer sich nur auf ihre eigenen Waffen verlassen konnten. Dementsprechend gehörte es zur weiblichen Denkweise, dass Produktionsmittel sich im Eigentum der Gemeinschaft befinden mussten, während Männer ihr Eigentum hüteten wie ihren Augapfel. Dieses alte Ideal der Frauen ging in der männlichen Welt verloren. In der weiblich werdenden Welt entwickelte sich der Sozialismus, in dem wieder die Produktionsmittel ins Eigentum der Gemeinschaft übergingen.

Datei:Pa shopping med hunden, Karin Beate Nosterud.jpg

Der real existierende Sozialismus zeugte also vom Weiblich-Werden der Welt. Die gewaltsame Machtausübung Leninscher Prägung schien zu seiner Durchsetzung notwendig gewesen zu sein, war aber letztlich der Grund für sein Scheitern, nicht zuletzt durch das Festhalten an der Planwirtschaft. Die weibliche Organisationsform ist die Demokratie, nicht die Diktatur, die Wirtschaftsform die Marktwirtschaft, nicht die Planwirtschaft.Die Synthese im dialektischen Dreischritt von real existierendem Sozialismus und Demokratie könnte der demokratische Sozialismus sein. Muss man etwas dafür tun, dass sich der demokratische Sozialismus entfaltet? Nein, er ist eine geschichtliche Notwendigkeit und wird automatisch kommen. Wir können uns zurücklehnen und abwarten.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben     —   Mao Zedong in seinem Studierzimmer in Yan’an

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Der Persilschein für Krieg

Erstellt von DL-Redaktion am 21. August 2022

Die große Sehnsucht nach dem Stahlbad

„Nie wieder Krieg:“ – Wem nützen diese Steine – wenn zu viele Irre an ihnen rütteln ?

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von          :        Rainer Wenger    kritisch-lesen.de

Das Buch des ZEIT-Politikchefs Bernd Ulrich demonstriert mustergültig, wie der deutsche Journalismus heutzutage seine Kriegstreiberei mittels pseudo-humanitärer Überlegungen verschleiert.

Eine wesentliche Neigung der fast ausschliesslich der saturierten Mittelklasse entstammenden Schreiberlinge des deutschen Journalismus ist es, sich den Kopf der Herrschenden zu zerbrechen. Nichts vermag dem handelsüblichen Leitartikler einer bürgerlichen Gazette mehr schlaflose Nächte zu bereiten als jene innerlich-moralischen Konflikte, die etwa der grüne Bombenbüttel Joseph Fischer einst auszustehen hatte. Ist beim Blick auf Fotos jener turbulenten Tage zwischen 1999 und 2001 seinem kriegskündenden Knautschgesicht nicht plastisch anzusehen, wie schwer es ihm gefallen ist, die von der Bundeswehr behelmten Truppen in den Kosovo oder nach Afghanistan zu schicken?Geht es nach den meisten der sogenannten Qualitätsmedien, sollten wir uns alle vor dem ehemaligen Bundesaussenminister für die von ihm begonnene „militärische Normalisierung Deutschlands“ (S. 73) – sprich für die Kriege im Kosovo und in Afghanistan – ehrfürchtig verneigen und uns bei ihm demütig für die erteilte Lehre bedanken, „dass Krieg unter bestimmten Umständen moralisch geboten sein kann“ (S. 35). Ein 2011 erschienenes Buch von Bernd Ulrich, dem Politik-Boss und stellvertretenden Chefredakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT, ist in diesem Sinne schon vom Titel her eine klare Ansage: „Wofür Deutschland Krieg führen darf“.So dürften vor drei Jahren die edlen Brunnenbohr- und Mädchenschulenaufbau-Propagandist_innen für eine Weile ihre Fottfinger von den Schalthebeln der Macht gelassen und dieses Werk gelesen haben, denn der werte Herr Ulrich stellt den Deutschen darin einen Persilschein für die bewaffnete Ausweitung ihrer Ideologiezone aus. Endlich, mögen sie sich gedacht haben, sagt’s mal einer klar und deutlich, denn jenseits dieses nach 1945 verordneten „Nationalpazifismus“ (S. 44) ist doch ohnehin allen klar, dass „wir“ (S. 13) Deutsche allesamt mit dem Messer zwischen den Zähnen das Licht der Welt erblicken.Selbstredend wäre der Lohnschreiber des Holtzbrinck-Verlags nicht jener realpolitisch-weise Genius, für den er sich selbst halten mag, wenn er im Buchtitel nicht noch ein „Und muss“ nachschöbe. Schliesslich leben wir alternativlos im nach permanenter Expansion strebenden und kompetitiven Kapitalismus, ob uns das gefallen mag oder nicht. Also: Stillgestanden und aufgemerkt, was Kamerad Bernd zu sagen hat!

Journalismus ist fast wie regieren

Sein essayistischer Ritt durch die jüngere bundesdeutsche Kriegsgeschichte startet mit einem Kriechgang in den Allerwertesten des Wehrmachtsveteranen, Ex-Bundeskanzlers (SPD) und aktuellen ZEIT-Herausgebers Helmut Schmidt („Das natürliche Zentrum aller Debatten über den Krieg bildet dabei Helmut Schmidt. Es macht eben einen immensen Unterschied, ob man das Thema abstrakt diskutiert oder mit jemandem, der weiss, wovon er redet, wenn er vom Krieg spricht“, S. 20). Dann beginnt Ulrich unvermittelt aus dem Nähkästchen seines Arbeitsalltags zu plaudern. Beim beredten Schweigen über die Redaktionskonferenzen, in denen sich viele Gedanken seines Buches entwickelten, giesst er seine ,Erkenntnisse‘ in stolzgeschwellte Worte:

„Diese Freitagsrunde ist nicht nur im Journalismus einzigartig, von ihr sagt Helmut Schmidt, sie sei oft besser als Kabinettssitzungen. Die Diskussionen dienen weniger dem operativen Zeitungsgeschäft als einer politischen Selbstvergewisserung, sind mehr ein Als-Ob-Regieren“ (S. 19).

Und dieser Als-Ob-Regierer hat sichtlich seinen Orwell gelesen, denn er verfügt über das in den meisten politikwissenschaftlichen Proseminaren auswendig zu lernende „Neusprech“ (Orwell 1984, S. 9). So schreibt er über „asymmetrische Kriege“ (S. 88) statt von Angriffskriegen, Deutschland bezeichnet er als „Mittelmacht“ (S. 64) statt als europäische Austeritäts-Grossmacht und deren Bevölkerungsmehrheit attestiert er eine „Interventionsverweigerung“ (S. 145) statt sie als gewaltfrei zu kennzeichnen.

Datei:Noble Partner 2017 (36085774200).jpg

Hier erwirbt ein Deutscher Soldat seine Lizenz zum Töten !

Allein damit liegt Ulrich handzahm auf der Herrschaftslinie mit ihrem Motto „Krieg ist Frieden“ (Orwell 1984, S. 20) und dürfte seinen Job damit auf Jahre hinaus gesichert haben. Doch lehrte ihn George Orwell offenbar noch mehr: „Wenn alle anderen die von der Partei oktroyierte Lüge akzeptieren – wenn alle Berichte gleich lauteten – dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit“ (ebd., S. 36). Mit einem Krieg der NATO gegen den Iran liebäugelt Ulrich nämlich über ein allzu bekanntes Argument: „Das Regime in Teheran droht mit der Vernichtung Israels und ist dabei, sich Atomwaffen zu beschaffen“ (S. 72).

Gruppenzwang an der Taktiktafel im War Room

Zwar ist leicht nachzuweisen, dass der ehemalige iranische Präsident Ahmadinedschad niemals behauptet hat – wie in „westlichen“ Massenmedien immer wieder durch falsche Übersetzungen lanciert – er wolle Israel „auslöschen“ oder „ausradieren“ und habe ohnehin ein Recht auf Atomwaffen. Tatsächlich lauten die Sätze, die von dem Islamisten in dieser Hinsicht bislang kamen, so: „Der Staat Israel sollte in eine andere Weltgegend verlegt werden“ und „Unser verehrter Imam hat gesagt, dass das Besatzungsregime einmal aus den Seiten der Geschichte verschwinden muss“ (vgl. Berger 2007). Selbstverständlich täuscht das nicht darüber hinweg, dass das iranische Regime gegenüber Israel nicht gerade friedlich gesinnt ist. Die bewusste Verbreitung falscher Übersetzungen in diesem Fall ist Bernd Ulrich jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bekannt.

Seine Mission ist es aber nun einmal, „nach richtigen und falschen Kriegen zu fragen“ (S. 123) – und zwar ausschliesslich im Interesse der sogenannten westlichen Welt. Der 2003 begonnene Irak-Feldzug der USA sei ein „in seiner Begründung und Durchführung falscher und unmoralischer Krieg“ (S. 127) gewesen. Im Kosovo aber sei ein rundum richtiger Krieg geführt worden, denn dort habe die NATO aus reiner Nächstenliebe gehandelt; schliesslich gebe es an dieser Stelle „kein Öl weit und breit. Zudem sind die reichen Industrienationen jahrzehntelang gut ohne den Balkan ausgekommen, warum sollten sie nun seinetwegen in den Krieg ziehen – es sei denn, um Menschen in Not zu helfen?“ (S. 40).

Ausserdem, so Ulrich weiter, liess sich „die deutsche Zurückhaltung […] in der internationalen Debatte schlicht nicht mehr begründen“ (S. 31). Jaja, der Grossjournalist kennt sie, die liebe Not der Herrschenden inmitten des Gruppenzwangs an der Taktiktafel im War Room. Nur wollte dieses dumpfe Volk wieder mal nicht mitziehen, denn „die Deutschen brauchen mitunter sehr grosse Begründungen für sehr kleine militärische Beiträge. Im Fall des Kosovo-Krieges bestand dieser Beitrag in nicht mehr als ein paar Tornados“ (S. 36).
Feige wie dieser seine Machthabenden verzärtelt im Stich lassende Friedensfanatismus nun einmal ist, musste sich die Bundesregierung mit Notlügen wie dem „Hufeisenplan“ dann halt aus der Patsche helfen, um die paar Tornados zum NATO-zertifizierten Zerfetzen von Zivilisten da runter zu schicken. Aber, und da ist Ulrich ganz ehrliche Haut, er hat damals mit keiner Zeile für diesen Krieg argumentiert: „Der erste Krieg, für den ich mich offen ausgesprochen habe, war der gegen das Taliban-Regime in Afghanistan“ (S. 51).

„Das konnte man vorher nicht wissen“

Diesen befand der Schreibtisch-Hilfskommandant als „erste Gelegenheit für Deutschland, etwas zurückzugeben für die Befreiung von Hitler und die jahrzehntelange Unterstützung“ (S. 52). Dass nach gleicher Logik auch (und angesichts der weit höheren Opferzahlen im Kampf um den Sturz Hitlers sogar noch viel, viel mehr) die russischen Kriege gegen Tschetschenien oder Georgien zu unterstützen gewesen wären, lässt Ulrich natürlich galant unter den Tisch plumpsen, weil das böse Putin-Reich bekanntlich einer der grössten Gegner Deutschlands im Ringen um die ökonomische Weltherrschaft ist.

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Bundeswehr in Schulen Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Dachte Ulrich damals noch: „Richtiger kann ein Krieg nicht sein“ (S. 52), so hat der Publizist diese Position inzwischen reumütig zurückgenommen, zumal man im Strom der Opportunist_innen ja mithalten muss und keine Sekunde dagegen steuern darf, wo sich doch so viele speichelleckende Fische darin tummeln. Kein Wunder also, dass Ulrich freimütig bekennt: „Der Krieg, den ich selbst befürwortet habe, erfüllt mich heute immer wieder mit Trauer, wenngleich“ (S. 130) – so viel Selbstgefälligkeit muss dann doch sein – „nicht mit Scham; der Krieg war falsch, aber das konnte man vorher nicht wissen“ (S. 130).

Schämen musste sich Ulrich kurze Zeit später dann aber doch noch. Wenn auch nicht für sich selbst und auch nicht für das Gros seine Landsleute, sondern ausnahmsweise für seine Regierung und die Intellektuellen. Gar so sehr schämte er sich ob deren Unwilligkeit, in libysche Stahlgewitter aufzubrechen, dass er an dieser Stelle tonal ins Weinerliche verfällt. Schliesslich löcherten ihn seine arabischen Bekannten mit Fragen voller Unverständnis. Hätte er denen etwa sagen sollen:

„Das müsst ihr verstehen, als es in Afghanistan um unsere Sicherheit ging, da mussten wir eingreifen, ohne Mühen und Kosten zu scheuen, ohne Soldatenleben zu schonen, nun aber, da es um eure Revolution und eure Verwandten geht, können wir leider nichts tun? Ich konnte das nicht. Die deutsche Regierung schon“ (S. 100).

Weicheier, soweit das teutonische Auge reicht

Merke: Eine Regierung ist stets für eine Kriegsablehnung zu tadeln, wenn eine Vorgängeradministration ihrerseits irgendeinen Krieg geführt hat – mag dieser nun richtig gewesen sein oder nicht. Für Ulrich ist Deutschland kriegstechnisch dementsprechend in eine „Phase der Verlotterung“ (S. 178) eingetreten, in welcher der Bevölkerungswille in Fragen von Krieg und Frieden plötzlich skandalöserweise in wenigen Einzelfällen eine ernsthafte Rolle zu spielen scheint. Eine Rüge erhält diesbezüglich vor allem Horst Köhler, der 2010 in einem Radiointerview sinngemäss von legitimen deutschen Wirtschaftskriegen sprach; eine Aussage, die der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg noch ein halbes Jahr später stützte. So viel Abweichung vom „Neusprech“ gefährdet natürlich die grossdeutsche Mission und kann von dem Autoren keinesfalls akzeptiert werden.

Wut und Trauer schleichen sich daher bei Ulrich ein, denn Deutschland sei „dabei, sich dem Thema Krieg umfassend zu entfremden“ (S. 182f.) und zeige damit den Diktaturen allüberall, „dass es wenig Grund gibt, dem Westen zuzuhören, wenn er mal wieder seine idealistische Phase hat“ (S. 164). Heute gebe es Weicheier, soweit das teutonische Auge reiche: „Nur Kriege, die mit unvermischt lauteren Motiven geführt werden, sind gerechtfertigt. Dann würde die Weltgeschichte der legitimen Kriege ein schmales Büchlein“ (S. 118). Ob dem Redakteur der auflagenstarken ZEIT bewusst ist, wie stark solche Äusserungen an jenen Vorabend des Ersten Weltkrieges erinnern, der nun genau einhundert Jahre zurückliegt und an dem sich massgebliche deutsche Diskursteilnehmende nach einem Krieg als „Stahlbad der Nation“ (Fischer 1964, S. 61) sehnten, bleibt offen.

Was Bernd Ulrich inmitten seines tragikomischen Essays über den richtigen Krieg der Guten und den falschen Frieden der Bösen jedoch über jene Bücher schreibt, die seinem eigenen Standpunkt widersprechen, gerät summa summarum zur unfreiwilligen Charakterisierung seines eigenen Kriegs-Buches, das exemplarisch steht für zahllose andere in grossen Publikumsverlagen erscheinende Werke aus hegemonialer Perspektive. Könne man doch „den Wahrheitsgehalt solcher Bücher meist an der Lautstärke ablesen: Je lauter, desto falscher, je weniger tastend, desto weniger begreifend“ (S. 81).

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Braun bis ins Mark

Erstellt von DL-Redaktion am 7. August 2022

Braune Erben in Deutschland

Datei:Bundesarchiv Bild 102-02306A, Berlin, Hitler und Goebbels am Grab Horst Wessels.jpg

Von Julia Hubernagel

Wie in der Nazizeit reich gewordene Unternehmerdynastien bis heute Deutschlands Politik und Wirtschaft beeinflussen, erzählt David de Jong in „Braunes Erbe“ anschaulich nach. Die Industriellen sind mit schwerwiegenden Kriegsverbrechen reihenweise ungestraft davongekommen.

Zukunft braucht Herkunft.“ Diesen Satz ließ 2019 die Ferry-Porsche-Stiftung verlauten, als sie ihren Willen bekundete, Deutschlands erste Professur für Unternehmensgeschichte zu finanzieren. Dabei klingt aber noch eine andere Botschaft mit: Ohne Herkunft besteht in Deutschland nur bedingt Hoffnung auf wirtschaftlichen Erfolg.

Dass diese Herkunft meist in der dicken braunen Erde der NS-Zeit wurzelt, lässt sich noch heute an der Rangliste der reichsten Deutschen ablesen. Jenen Unternehmerdynastien, die besonders von der nationalsozialistischen Herrschaft profitiert haben, hat David de Jong in seinem Buch „Braunes Erbe“ nachgespürt. Nur einige der Industriemagnaten waren dabei glühende Nationalsozialisten, befindet der niederländische Journalist. Die meisten waren einfach kühl kalkulierende, skrupellose Opportunisten.

Während Anton Piëch so etwa aus Überzeugung gleich zweimal in die NSDAP, zuerst in die österreichische Schwesterpartei, und die SS eintrat, hatten er und sein Schwiegervater Ferdinand Porsche kein Problem damit, ihr Automobilkonstruktionsbüro 1931 zusammen mit dem jüdischen Kaufmann Adolf Rosen­berger zu gründen. Sieben Jahre später konnten sie ihn als „Nichtarier“ allerdings günstig loswerden, um mit der Produktion des „Volkswagens“ ihren Milliardenreichtum zu begründen.

Der Großindustrielle Günther Quandt, dessen Nachfahren heute BMW kontrollieren, war kein National­­sozialist der ersten Stunde. Persönlich war er mit den Nazis jedoch enger verbunden als jeder andere Unternehmer, war seine Ex-Frau doch die First Lady des Dritten Reichs, Magda Goebbels. Die wiederum, auch das ein interessantes Detail, ließ sich von niemand anderem als Prinz August Wilhelm davon überzeugen, in die NSDAP einzutreten. Der Kaisersohn ist im Jahr 2022 wieder Gegenstand eines Gerichtsprozesses: Geklärt werden soll, ob der Hohenzollern-Clan dem Aufstieg der Nationalsozialisten „erheblichen Vorschub“ geleistet hat. Wie in „Braunes Erbe“ die Kennenlerngeschichte der beiden Goebbels, belegt durch Tagebuchpassagen des Propagandaministers, nacherzählt wird, sorgt für erheblichen Unterhaltungswert im Buch.

Dem Autor merkt man ein wohliges Grausen an, das er beim Wühlen im braunen Klatsch empfunden haben muss: So bringen Magda und Joseph Goebbels ihre Eheprobleme stets vor ihren Mediator Adolf Hitler, der, zwar eigentlich in Magda verliebt, die Ehe zur Staatsangelegenheit erklärt und eine Scheidung untersagt. Magdas Sohn aus erster Ehe, Harald Quandt, lieben Goebbels wie Hitler „abgöttisch“, ist er mit seinen blonden Haaren und blauen Augen doch dem arischen Erscheinungsbild so nahe, wie die beiden Männer davon entfernt sind. Sein Bruder Herbert Quandt sollte mit dem Geld des Vaters nach dem Krieg BMW retten und seine Kinder Susanne Klatten und Stefan Quandt zum reichsten Geschwisterpaar Deutschlands machen.

Günther Quandts Reichtum lag in Textilfirmen, in der Waffen- und Batterieproduktion begründet. In seinen Fabriken schufteten Zwangsarbeiter:innen, zudem konnte er sich einige seiner Firmen nur sichern, weil sie unter jüdischer Aufsicht standen und so günstig zur Arisierung, sprich Enteignung, angeboten wurden.

Einer, der sich ebenfalls auf Enteignungen verstand, war August Baron von Finck. Seine Merck Finck & Co, die heute noch unter selbem Namen operiert, stieg während der NS-Zeit zur erfolgreichsten Privatbank auf, auch wegen der Arisierung der Bank J. Dreyfus sowie der S. M. v. Rothschild, die er für knapp 6 Millionen Reichsmark „übernahm“, wie es heute auf der Wikipedia-Seite der „Merck Finck“ verharmlosend heißt. Der eigentliche Wert lag bei 48 Millionen Reichsmark und selbst den vergleichsweise kleinen Betrag zahlte von Finck, indem er die Privatkonten der Rothschilds plünderte. Das verdiente Geld legte der Von-Finck-Clan auch nach dem Krieg wohlüberlegt an, wie de Jong nachweist: Sohn August von Finck junior, dessen Ehefrau 2022 auf der Forbes-Liste den 14. Platz belegt, spendete zeitlebens Geld an rechtsextreme Politiker, auch wird stark vermutet, dass er die AfD in ihrer Gründungsphase unterstützt hat.

Dass einer der umtriebigsten NS-Unternehmer seinen Reichtum nie verlor, verwundert nicht, wurde er im Rahmen seines Entnazifizierungsprozesses doch lediglich als Mitläufer klassifiziert. Zudem habe er sich in der Rothschild-Angelegenheit „so vorbildlich verhalten, dass jedes Wort darüber zu viel wäre“. Womöglich spielte die Erpressung des homosexuellen Richters bei dem Urteil eine Rolle.

Doch zu Erpressungen mussten die meisten angeklagten Industriellen nicht mal greifen. Mit Beginn des Kalten Kriegs ging es den Alliierten, allen voran den USA, weniger darum, Nazis ins Gefängnis zu bringen, als eine kapitalistische Gesellschaft als Bollwerk gegen den Kommunismus aufzubauen. Zudem übergaben sie NS-Verbrecher und NS-Sympathisantinnen nach den Nürnberger Prozessen vermehrt an westdeutsche Gerichte und Richter, die verständlicherweise nicht alle daran interessiert waren, ihre Gesinnungsgenossen wegzusperren.

Vergleichsweise hart bestraft wurde lediglich Friedrich Flick. Als Kriegsverbrecher zu sieben Jahren Haft verurteilt, kam der Stahl- und Rüstungsmagnat schon 1950 frühzeitig wegen guter Führung frei. Sein Flick-Konzern sorgte in den 80er-Jahren für den bis dato größten Politskandal um Spendengelder an konservative Politiker. Verurteilt worden war er 1947 unter anderem wegen der unmenschlichen Bedingungen, unter denen seine Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen arbeiteten. Seine Lager, fand de Jong heraus, gehörten zu den schlimmsten.

Schwedische Nazi-Rechte garantiert

In der Aufarbeitungsarbeit der Bundesrepublik nahmen die NS-Zwangsarbeiter lange Zeit wenig Raum ein. 2013 eröffnete in dem deutschlandweit einzigen Doku­mentations­zentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin die erste Ausstellung. Dessen Leiterin, Christine Glauning, sagte einmal dem Deutschlandfunk, es habe im Reichsgebiet etwa 30.000 Zwangsarbeiterlager gegeben. Für Aufruhr sorgte 2019 die Kekserbin Verena Bahlsen, die öffentlich und medial maximal ungeschickt erklärte, „wir“ hätten „die Zwangsarbeiter genauso bezahlt wie die Deutschen und sie gut behandelt“.

Nun ist es wohl unrealistisch, von Firmenchefs zu erwarten, Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen abzulehnen und eine Pleite wegen fehlender Arbeitskräfte zu riskieren, wenn ihnen der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung noch nicht Grund genug gewesen war, die Stimme zu erheben. Gerade Rüstungsfirmen dürften daran wenig Interesse gehabt haben. Doch gab es erhebliche Unterschiede in der Behandlung der Zwangsarbeiter:innen; ein oder zwei Stücke Brot aus Sägemehl täglich konnten bei den unterernährten Ar­beits­skla­v:in­nen ebenso einen Unterschied machen wie der Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung.

Quelle      :          TAZ-online       >>>>>        weiterlesen

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Die Welt retten

Erstellt von DL-Redaktion am 4. August 2022

Erderwärmung und soziale Gerechtigkeit

Erbes Feuer auf etwa 30 Hektar.jpg

Von    :       Houssam Hamade

Die Autorin Octavia Butler hat vor 30 Jahren vieles vorausgesehen, was heute passiert. Sie zeichnet eine düstere aber nicht aussichtslose Perspektive.

Der Weltuntergang kommt. Höchstwahrscheinlich. Denn wir als Menschheit sind weit davon entfernt, entschlossen die nötigen Schritte zu gehen, um die Klima­katastrophe und die damit verbundenen gesellschaftlichen Folgen abzuwenden. Der Untergang wird allerdings nicht so aussehen, wie wir ihn uns in Büchern und Filmen vorstellen: Der Boden wackelt, der Himmel verdunkelt sich, überall erklingt Klagen und Wehgeschrei, die Erde öffnet sich und verschluckt Groß und Klein, Alt und Jung, Arm und Reich ganz ohne Unterschied.

Nein, er kommt nicht plötzlich, sondern in Wellen und zu verschiedenen Zeiten. Er trifft Regionen und Menschen ungleich. Die Science-Fiction-Autorin Octavia E. Butler hat das in ihrer „Parabel-Serie“ in den 1990er Jahren sehr realistisch beschrieben. Wer wissen will, wie unsere dystopische Zukunft aussehen könnte, sollte diese Bücher lesen. Darin beschreibt sie einen „Klimawandel“, der in den 2020er Jahren unter anderem in Kalifornien zu tödlichen Hitzewellen, Wasserknappheit, brennenden Wäldern und brutalen Stürmen führt.

Kommt bekannt vor, nicht wahr? Die Hauptfigur Lauren lebt in einer kleinen Gemeinschaft, die sich mit hohen Wänden und Waffen vor aggressiven Banden schützt. Wer Geld hat, schützt sich mit Stacheldraht und Elektrozäunen, bezahlt die Polizei, die sich nur für Reiche interessiert, oder beauftragt bewaffnete Sicherheitsdienste. Geld macht es auch möglich, wegzuziehen nach Kanada oder Russland, wo die Klimakrise nicht so hart zugeschlagen hat. Dort funktionieren Wirtschaft, staatliche und soziale Strukturen noch.

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Octavia Estelle Butler signiert ein Buch

Dort wird Wasser nicht ständig teurer. Ohne Geld ist eine Flucht kaum machbar. Die Grenzen sind nämlich geschlossen, der Weg ist lebensgefährlich. Die Gefahren verschärfen sich, als die USA einen Krieg gegen Kanada und das abtrünnige Alaska beginnen. Wer kein Geld hat, ist verletzlich. Das ist heute schon so. Aber wenn die Welt um dich herum zusammenbricht, wird diese Verletzlichkeit zur akuten Gefahr. Besonders arme Frauen fürchten die permanente Bedrohung durch sexualisierte Gewalt.

Einige wenige Rücksichtslose und wahnsinnig Handelnde reichen, um eine Dynamik des Misstrauens, der Angst und damit eine Gewaltspirale in Gang zu setzen. Butlers Beschreibungen sind realistisch. Der Weltuntergang durch die Klimakatastrophe hat schließlich schon angefangen, auch wenn es uns hier noch nicht so hart trifft. An manchen Orten der Welt stiegen in diesem Sommer die Temperaturen auf bis zu 60 Grad. Solche Hitzewellen werden immer öfter kommen.

Wellenförmig in die Katastrophe

Nicht langsam und stetig, sondern wellenförmig in Schüben: Es wird Sommer geben, die weniger heiß sind mit weniger und nicht so schlimmen Waldbränden. Menschen, die es nicht wissen wollen, sagen dann: „Na bitte, ein kühler Tag, ist doch alles nicht so dramatisch!“ Im nächsten Sommer werden aber wieder neue Hitzerekorde gebrochen, neue Brände und Überschwemmungen zerstören ganze Regionen. Es trifft Alte härter als Junge, Kranke schlimmer als Gesunde, Arme schlimmer als Reiche.

Die Menschen ja, aber die politischen Gangstern sahen nur ihr eigenes Wohl!

Die damit einhergehenden wirtschaftlichen Krisen begünstigen politische Krisen, Gewalt und Fanatismus. Butler beschreibt einen Rechtsruck. Die USA wählen einen Präsidenten, der „America First“ fordert und die radikale Umkehr zu christlichen Werten. Er hetzt gegen Andersdenkende und Minderheiten. Teile seiner Gefolgschaft sind gewalttätig. Dieser Präsident leugnet das oder behauptet, damit nichts zu tun zu haben. Viele hoffen, dass eine starke Hand wieder für Ordnung sorgt im Land.

Mit dieser autoritären Führung kommen Leute, die die damit verbundene Macht für ihre Zwecke missbrauchen. Selbsternannte, schwerbewaffnete „Kreuzritter“ überfallen verletzliche Gruppen, wie Flüchtlinge und Arme, rauben sie aus und versklaven sie gar. Das tun sie mit Hilfe eines „smarten“ Halsbandes, das auf Knopfdruck schreckliche Schmerzen bereitet und den Versklavten jede Möglichkeit zum Widerstand nimmt.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Stauffenberg und Bandera

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Juli 2022

Politik braucht immer Helden um auf derer Taten zu Schmarotzern 

Westfriedhof Köln Ehrengräber1.jpg

Kalte Steine erzählen mehr über die Politiker-Innen als Diese es ahnen.

Von Felix Heinert

Der Nationalistenführer ist in der Ukraine keineswegs unumstritten. Anders in Deutschland, wo man nichts auf die Helden kommen lässt.

Mitten in Europa tobt ein völkisch-kolonialer Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Staatlichkeit. Als Osteuropahistoriker, deutscher und ukrainischer Staatsbürger will ich das Anerkennungs- und Erlösungsbedürfnis von niemandem verletzten, der mit der methodenfernen Unvergleichbarkeitsklausel „Nie wieder“ hantiert. Und selbst wenn.

Mein jüdischer Großvater hat in den Reihen einer der beiden ukrainischen Fronten der Roten Armee an der Zerschlagung der NS-Beteiligungsdiktatur mitgewirkt. Viel später wurde die gewaltsame Kapitulation zur (Entlastungs-)Formel einer „Befreiung“ der Deutschen. Diese Befreiungsformel war zugleich eine diskursive Erlösungshoffnung, welche Richard von Weizsäcker in seiner Rede anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes 1985 folgendermaßen formulierte: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“

Die Erlösungshoffnung, die auch der verdienstvolle Soziologe Harald Welzer als Talkshow-Liebling mit missionarisch artikulierten deutschen Kriegserinnerungen zur Untermauerung seiner friedensdiplomatischen Überlegenheit instrumentalisiert, folgt dem Credo: „Das ganze Leben ist eine Erfindung.“ In der erinnerungskulturellen Zeitenwende erfindet er mit anderen Talkshow-Lieblingen, wie dem eloquenten Universalphilosophen Richard David Precht, die „Nie wieder-Formel neu. Unter dem offenen Emma-Brief steht dazu das Motto an die Leser- und Zuhörerschaft: Bleibt mutig! Was für ein Hochmut!

Der Historiker Timothy Snyder, der von der Ukraine viel mehr Ahnung hat, schreibt: „Dreißig Jahre lang haben Deutsche die Ukrainer über Faschismus belehrt. Als der Faschismus tatsächlich kam, haben die Deutschen ihn finanziert, während die Ukrainer im Kampf gegen ihn sterben.“ Derweil gewinnen nennenswerte Teile der deutschen Empörungslandschaft wenigstens auf dem eigenen Erinnerungsschlachtfeld den Zweiten Weltkrieg neu. In deutschen Erinnerungsressourcen mangelt es zwar an sauberen Held*innen, aber nicht an Heroisierungsbedürfnissen.

Könnte dieses als eine politisch gewollte Geschichtsfälschung gewertet werden?

Auch in diesem Jahr wird die Bundesregierung ihrem unheroischen Heldenkult huldigen, sich selbst, ihre „wehrhafte Demokratie“ in Anbetracht der in Zahlen fassbaren Zögerlichkeit der Waffenlieferungen feiern – und die späten Attentäter des 20. Juli um den Nationalsozialisten und Antisemiten Graf Claus Schenk von Stauffenberg und seine zum Teil im Holocaust sozialisierten Mitattentäter. Es handelt sich um einen Gründungsmythos und amnes(t)iepolitischen Heldenkult, der in Auftritten vergangenheitsüberwältigter Bundesregierungen grob nachlesbar ist. So bei Ex-Bundespräsident Joachim Gauck: „Denn der 20. Juli und all die anderen Versuche des Widerstands gegen Hitler und das NS-Regime, sie haben nicht nur eine faktische Bedeutung, sondern auch eine sehr klare moralische – und […] natürlich auch eine eminent politische. Aus diesem Erbe konnte die neu gegründete Bundesrepublik, als sie – allerdings verspätet – die Bedeutung des militärischen Widerstands begriffen hatte, Legitimation schöpfen.“

Zwar waren die Attentäter des 20. Juli nicht erfolgreich, obwohl sie nur die Führung zum Sturz bringen wollten – sie werden aber mangels anderer heroischer Figuren gerne zur symbolischen deutschen Neuerfindungsfähigkeit zitiert. Weder ihre langjährigen NS-Verstrickungen noch der Umstand des systeminternen Umsturzversuchs noch ihr rassischer Antisemitismus, ihr militanter Slawenhass oder die Holocaust-Verwicklungen nehmen ihnen den Nimbus. Dieser wird von höchsten deutschen Re­prä­sen­tan­t*in­nen gefeiert.

Der Historiker Stephan Stach hat zu Recht in der ausufernden Debatte über Bandera und den ehemaligen Botschafter Andrij Melnyk deutsche Mythen erwähnt, die in Empörungsritualen über die Umdeutungsmythen der anderen gerne vergessen werden. Zugleich ist der mir unangenehme Bandera-Kult in Teilen der (West-)Ukraine mitnichten unumstritten, nur zwischen „West“ und „Ost“ gespalten, gar flächendeckend – trotz seiner erinnerungspolitischen Vereinnahmungen und vergessenspolitischen Ausblendungen als Freiheitskampfsymbol im deutlich längeren Kampf gegen die Nazis und – noch länger – gegen die Sowjets.

Seit 2019 wird Bandera von der moderateren und explizit reflexionsbereiten neuen Leitung des Ukrainischen Instituts des Nationalen Gedächtnisses nicht mehr als geschichtspolitisches Symbol gestärkt. Der neue Chef, Anton Drobovych, setzt, anders als sein Vorgänger, auf eine kritischere Aufarbeitung auch der Schattenseiten der eigenen Nationalgeschichte. Wolodimir Wiatrowitsch prägte bis 2019 das „Nationale Gedächtnis“ und beeinflusste offenbar auch Melnyk.

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Schuld und Nakba

Erstellt von DL-Redaktion am 13. Juli 2022

Was 1948 geschah, verlangt mehr als einseitige Empathie

Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Die Erinnerungskultur muss sich für palästinensische Erzählungen öffnen. Wir sollten die Nakba in einem erweiterten Sinne als Teil deutscher Geschichte begreifen.

Es ist ein Erfordernis deutscher Geschichte, im Land der Schoah über den israelisch-palästinensischen Konflikt im Nahen Osten mit Bedacht und Achtsamkeit zu sprechen. Was wären Kriterien dafür? Zum Beispiel Genauigkeit, historische Redlichkeit und selbstkritische Betrachtung des Eigenen. Die Realität sieht allerdings anders aus.

Mittlerweile zieht ein beachtlicher Teil des etablierten Deutschland einen Bannkreis um alles, worin der Begriff „Palästina“ vorkommt: Vorsicht, Antisemitismus, besser nicht nähern! So wird die Erinnerung an das Großverbrechen unserer Vorfahren zu einer Waffe, die sich ausgerechnet gegen jene richtet, die von Mitschuld daran anders, als viele deutschen Familien, völlig frei sind: Mal trifft es Juden/Jüdinnen mit missliebigen Ansichten zu Israel, vor allem aber trifft es die Palästinenser und Palästinenserinnen.

200.000 von ihnen leben in Deutschland, mehr als irgendwo sonst in Europa. Sie haben ein Recht darauf, ihre Sicht der Geschichte zu erzählen, und zwar als Teil einer neu verstandenen Erinnerungskultur, die Konflikte nicht scheut und gerade dadurch dichotome, einander ausschließende Narrative überwinden könnte.

Beginnen wir mit dem Jahr 1948. Für Israel die siegreiche Gründung des neuen Staates, für Palästinenser der traumatische Verlust von Heimat, Kultur, Existenz – die Nakba, arabisch für Katastrophe. Ohne Vertreibungen wäre ein mehrheitlich jüdischer Staat nicht möglich gewesen, und Vertreibung verlangte Gewalt; dazu zählten auch Massaker an Zivilisten. Das verübte Unrecht wurde rasch aus dem Bewusstsein verdrängt: Israel sah sich als Nation der Opfer; jeder Dritte im neuen Staat war Holocaust-Überlebender.

Ohne jeden Zweifel ist der Völkermord an den Juden von einer völlig anderen Dimension und einem anderen Charakter als die Nakba. Aber die Nakba hält als Entrechtung an, und viele Palästinenser sehen sich nun seit über siebzig Jahren gezwungen, den Preis für ein europäisches Verbrechen zu zahlen. Lange hatten die zwei diametralen Sichtweisen des Jahres 1948 nur gemeinsam, den Schmerz der jeweils anderen Seite geringzuschätzen oder zu leugnen. In Israel war der Begriff Nakba ein Tabu; das beginnt zu bröckeln. Bücher behandeln neue Sichtweisen von israelischen wie arabischen Intellektuellen; vorsichtshalber werden sie nicht ins Deutsche übersetzt.

Erzählt eure Geschichte! Zu dieser Einladung an die hiesigen Palästinenser konnte sich die Erinnerungskultur bisher nicht durchringen. Lieber wird für die israelische Staatsgründung ein Passepartout benutzt, in dem allein die Schoah Platz hat. Die Nakba gilt als historischer Kollateralschaden, außerhalb unserer Zuständigkeit, jenseits unserer Empathie. Logisch ist das nicht: Gerade wenn der Holocaust als eine alle anderen Faktoren überschattende Ursache der Staatsgründung betrachtet wird, wäre die Nakba auch Teil unserer Geschichte, Teil einer gemeinsamen Geschichte.

Stattdessen wird von hiesigen Palästinensern verlangt, sich in das deutsche Passepartout einzufügen und ihr eigenes Leid als unvermeidbare Folge des größeren Leids anderer zu betrachten. Das kann nicht gelingen. Es führt nur dazu, dass sich die einen schreiend, auch mit unappetitlichen Schreien, artikulieren, während viele andere, die Etablierten der Community, lieber schweigen, um den eigenen Ruf oder die berufliche Zukunft nicht zu gefährden.

Es gebe eine palästinensische Stummheit, schreibt der Philosoph Raef Zreik, die daraus resultiere, dass „es unmöglich ist, eine Version der Ereignisse zu entwickeln, die der herrschenden Grammatik entspricht“. Vielleicht sollten wir dann die Grammatik überprüfen?

Als Nachfahren der Täter im Holocaust tragen wir keine direkte Schuld daran, dass mehr als 500 palästinensische Dörfer unbewohnbar gemacht wurden. Aber wir sind durch die Last des europäischen Antisemitismus in diesen Vorgang verstrickt. Diese Verstrickung verneinen kann eigentlich nur, wer der Ansicht ist, die Schoah habe mit dem Bedürfnis nach einem ethnonationalen jüdischen Staat nichts zu tun gehabt; das wäre eine unhistorische Position. Durch den Völkermord bekam das Projekt Israel für viele Juden und Jüdinnen im Hinblick auf Schutz und Identifikation eine Bedeutung, die der Zionismus zuvor nicht hatte generieren können.

Ich plädiere deshalb dafür, dass wir die Nakba in einem erweiterten Sinne als Teil deutscher Geschichte begreifen und ihrer Erzählung Raum in der Erinnerungskultur geben. Dafür muss man sich keineswegs darüber einig sein, inwiefern die Staatsgründung Israels auch ein Akt von Siedlerkolonialismus war. Man muss sich gleichfalls nicht einig sein über Begrifflichkeiten für heutiges Besatzungsunrecht.

Quelle      :       TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Israel Geschichte Unabhängigkeitskrieg, 1948-1949 Fotografien; Ramla (Israel) Fotos

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Jenseits von Hitler

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Juli 2022

Debatten mit Stimmen aus Russland

Von Alexander Gogun

Erinnern braucht Dialog mit den Russen, nicht mit Putins Propagandisten. Dafür muss sich der deutsche Blick weiten und auch Stalins Erbe untersuchen.

Der Anlass für diesen Text ist die Replik des taz-Autors Stefan Reinecke auf einen Beitrag von Julia Latynina – „Vom Kult des Sieges zum Kult des Krieges: Putin ist der zweite Stalin“. Reineckes Beitrag wurde unter dem Titel „9. Mai – Erinnerungskultur in Russland. Erinnern braucht Dialog“ veröffentlicht. In gewisser Weise ist dieser Titel bezeichnend. Denn allzu oft wurde in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Begriff „russische Erinnerungskultur“ oft im Sinne von „Putins Erinnerungspolitik“ verwendet – also der quasi historischen Propaganda des Kremls. Ergo konzentrierte sich die Debatte auf eine Auseinandersetzung mit dieser staatlichen Position, die es zu verstehen, zu debattieren und zu berücksichtigen galt. Außen vor dabei bleibt oft, worum es Putin wirklich geht: um einen neostalinistischen Revisionismus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs.

Dabei hätte der deutsch-russische Dialog auf diesem Gebiet seit 1999 in einer planvollen und systematischen Entlarvung einer neosowjetischen Ideologie, eines Sowjetchauvinismus, einer kompromisslosen Abwehr des Obskurantismus und der Relativierung kommunistischer Verbrechen bestehen sollen sowie einer breitest möglichen Beteiligung an der Debatte und Zusammenarbeit aller derjenigen, die dies in Russland oder auf Russisch tun.

In Wirklichkeit geschah das Gegenteil. Die Stimmen kritischer, liberaler und vom Staat unabhängiger Historiker wurden von dem Moskauer Regime nach und nach aus dem medialen Raum verdrängt, sie fanden jedoch auch keinen stärkeren Widerhall in Berlin. In allen möglichen russisch-deutschen Kommissionen, Organisationskomitees, auf Foren und Konferenzen sprachen im Namen des russischen Volks meist Politoffiziere, die sich mit akademischen Titeln schmücken.

Viele von ihnen sind in die Jahre gekommen – das heißt, sie haben das eine unter Breschnew und Andropow gesagt, das andere unter Gorba­tschow, das dritte unter Jelzin. Und jetzt berichten sie etwas Viertes, wobei die aktuelle Version ihrer Meinung der Position ähnelt, die sie in der ersten Hälfte der 1980er Jahre vertreten haben.

Zu wenig Aufmerksamkeit für Aleksandrow

2016 verteidigte der hoch angesehene und in Russland bekannte Historiker Kirill Aleksandrow, ein führender Experte für Andrei Wlassow (der General hatte mit Hitler gegen Stalin kollaboriert), seine Habilitation in St. Petersburg. Dies geschah unter heftigem und lautstarkem Druck, begleitet von Angriffen Putin’scher Medien sowie unterwürfiger „gesellschaftlicher“ Organisationen.

Ein Jahr später lehnte die höchste Prüfungskommission Russlands es ab, Aleksandrow den akademischen Grad zu verleihen. Informationen darüber gelangten auch in westliche, darunter deutsche Medien und verbreiteten sich darüber hinaus in der Fachwelt. Aleksandrow wurde dennoch in den vergangenen zwanzig Jahren zu keiner Konferenz, keinem Kolloquium oder Treffen in Deutschland eingeladen. Kein einziges deutsches Medium bat ihn, sich zu äußern – obwohl seine Forschung sich direkt auf die deutsche Geschichte bezieht.

Der Beitrag von Julia Latynina geht vor allem der Frage nach Stalins Expansionismus sowie seinen Kriegsabsichten nach. Diese herauszuarbeiten ist nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern dient auch dazu, einige Parallelen zu Putin zu erkennen und seine wahren Absichten auch in Deutschland besser zu verstehen. Das Ziel hierbei ist vor allem, den ideologischen Übergriffen des Kremls entgegenzutreten und so zu einer russischen Wende beizutragen.

Vielleicht könnte ein Teil der deutschen Fachwelt über folgende Frage nachdenken: Wenn das neosowjetische Regime so aggressiv ist, dass wegen seines Kriegs in der Ukraine jetzt der ganze Planet fiebert, könnte es dann vielleicht sein, dass auch die Sowjetunion kein Friedensstifter war und nicht von einem ängstlichen Paranoiker regiert wurde, sondern von einem kaltblütigen und listigen Zyniker, der nach der Weltmacht strebte?

Obwohl diese Tatsache in Russland und der Ukrai­ne bereits bekannt ist, weiß beispielsweise in Deutschland kaum jemand, dass Stalin 1942 bis 1953 auch einen Dritten Weltkrieg vorbereitete, um das zu Ende zu bringen, was ihm während des Zweiten Weltkriegs nicht gelungen war. Davon zeugen seine veröffentlichten Äußerungen, der Aufbau der sowjetischen Streitkräfte, Prioritäten bei der Waffenproduktion sowie weitere außenpolitische Schritte – darunter der Krieg in Korea.

In Polen, Tschechien, Litauen und Rumänien habe ich mittlerweile Beträge über die Vorbereitung der „roten Apokalypse“ in den dortigen führenden Zeitungen veröffentlichen können, im Westen jedoch – trotz etlicher Versuche – noch nicht. Die zentraleuropäischen Staaten werden von Putins Propagandisten als „russophob“ und von einem Teil der deutschen Fachwelt arrogant als „nationalistisch“ bezeichnet. Doch gerade sie geben liberalen russischen Historikern eine Stimme und der russischen Opposition eine Plattform – viel häufiger als Deutschland.

Beide von Russland angezettelten Kriege mit der Ukraine – 2014 und 2022 – haben zu einer Intensivierung der Debatten zwischen Ukrainern und Russen geführt. Zum Beispiel wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben vom ukrainischen Fernsehen zu Liveauftritten eingeladen. Dabei ging es nicht um nichtssagende, warmherzige Erklärungen, sondern um aktuelle und knallharte Fragen: Sind die Gräueltaten in Butscha ein Völkermord? Warum tritt Deutschland manchmal als Anwalt von Wladimir Putin in der EU auf?

Am dritten Tag des Kriegs teilten ukrainische Behörden den Videobloggern im Land mit: „Eine Kehrtwende Richtung Russland! Wir unterstützen euch mit Informationen“. Mittlerweile kommen ukrainische Politiker, Staatsmänner und Experten gar nicht mehr aus den Youtube-­Kanälen russischer Kremlgegner heraus. Russische Oppositionelle, darunter auch Emigranten, sind in den vergangenen dreieinhalb Monaten bei wichtigen ukrainischen Medien Stammgäste.

Zweifellos hat Stefan Reineke recht: Putin ist nicht Stalin. Der jetzige Hausherr im Kreml kann und will nicht die Nato angreifen. Er beißt sich ja schon an der Ukraine die Zähne aus.

Quelle     :       TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Ära der Konterrevolution

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Juli 2022

Von Putin bis zum Obersten Gerichtshof in den USA

Ein Schlagloch von Robert Misik

Radikalkonservative Freiheitsfeinde machen sich daran, die Uhren der Welt zurückzudrehen. Orban, Salvini und Kurz sind Teil der globalen konter­revolutionären Bewegung, so wie Elon Musk und Peter Thiel – wo bleiben die anderen Trolle aus Deutschland?

Abendnachrichten im Fernsehen gleichen mehr und mehr einem Horrorfilm. Aber bei Dracula, Zombie und Co. ist es ein flüchtiger Schauer, weil Fiktion. News-Shows dagegen sind heute eine Direktübertragung vom Weltuntergang: Krieg in der Ukraine, Liveschaltung zum Massaker des Tages.

Danach wird schnell zur Innenpolitik gewechselt: Im Herbst kann das Gas ausgehen. Möglicherweise bleiben die Wohnungen kalt und die Fabriken werden abgestellt. Nächste Schaltung: Italien. Da trocknen die Flüsse aus, die Behörden können sich gerade noch aussuchen, ob sie die Stromproduktion stoppen oder doch besser die Bewässerung der Landwirtschaft. Womit wir schon bei der nächsten Krise wären: Putins Krieg provoziert eine globale Hungerkatastrophe. Trockenheit, Hitzewellen schon im Juni, Wassermangel, und ganze Wochen, während derer es in den Straßenschluchten der Städte kaum mehr auszuhalten ist.

All das macht etwas mit uns. Ein Geist der Dystopie legt sich über alles. Aber das sind nicht einmal die korrekten Begriffe. Tief in die Psyche schleicht sich Panik, Gereiztheit und Hilflosigkeit ein. Diese Angst lähmt, gerade in einer Zeit, in der man eigentlich handeln müsste.

All das ist teils direkt, teil mittelbar verbunden mit einer Ära der globalen Konterrevolution, in der rechtsextreme Bewegungen und konservative Revolutionäre alle Errungenschaften zurückdrängen wollen, die in den letzten 50, 60 Jahren erkämpft worden sind. Wir haben uns für diese neue Form der Reaktion alle möglichen Begriffe ausgedacht – Regression, populistische Revolte, was auch immer –, aber im Grunde ist es eine klassische, waschechte Gegenrevolution, die nicht einfach so geschieht, sondern die von Konterrevolutionären vorangetrieben wird. Diese Begriffe aus dem Geschichtsbuch wirken ja manchmal etwas angestaubt, aber die Flucht in neue Begrifflichkeiten ist oft auch eine ins Wolkenkuckucksheim.

Konterrevolution also. Die vergangenen 50, 60 Jahre haben global durchaus widersprüchliche Entwicklungen gebracht, mit allen Ambi­gui­täten: Das Wachstum der Ungleichheiten in den reichen Ländern gehört genauso dazu wie die Entwicklung von relativ wohlhabenden Mittelschichten in einst armen Ländern, der ehemaligen Dritten Welt. Es gibt neue Ungerechtigkeiten und ökonomischen Stress, zugleich aber auch den Aufstieg von Milliarden Menschen aus bitterer Armut in neue Wohlstandslagen. Das ist die ambivalente, ökonomische Seite des neoliberalen Kapitalismus.

Wenn die Politik als die Master auf Desaster ihre Mörder einsetzen konnten, fühlten sie sich immer stark. Wo die Zeiten vergehen bleiben Regierungen stehen.

Im Westen hatten wir seit den 1960er Jahren die Aufstiegskulturen der sozialen Wohlfahrtsstaaten, aber auch massive Freiheitsgewinne. Konformitätsdruck löste sich auf, einfach, weil die Lebenskulturen im Alltag viel heterogener wurden und weil sich ein Liberalismus des „Leben und leben lassen“ durchsetzte. Diversität ist in jeder möglichen Hinsicht heute viel akzeptierter als noch vor 20 Jahren. Frauenemanzipation, zunehmend gleiche Lebenschancen gehören zu diesen Fortschritten, liberalere Abtreibungsregelungen, und auch ein Konsens darüber, dass bestimmte „Gewohnheiten“, die lange als normal angesehen wurden, einfach nicht mehr gehen – diese ganze MeToo-Kiste, salopp gesagt. Dazu: gleichgeschlechtliche Ehen und Partnerschaften (vor 15 Jahren nahezu undenkbar) und eine selbstverständlichere Akzeptanz von ethnischer Heterogenität.

Natürlich gibt es noch unendlich viel Diskriminierung und Rassismus, aber man muss nur Wertestudien des Jahres 1990 mit jenen aus jüngster Zeit vergleichen, dann sieht man – da liegen überall Welten dazwischen. In Ost- und Mitteleuropa setzten sich nach 1989 stabile (manchmal auch labile) Demokratien durch. Weite Teile der Welt, nicht zuletzt Lateinamerika, erlebten eine regelrechte Woge der Demokratisierung, gesellschaftlicher Liberalisierung und Modernisierung.

Linke neigen ja dazu, diese Fortschritte zu übersehen, einige wegen einer gewissen stalinoid-autoritären Schlagseite („ist doch nur bürgerliche Demokratie“), häufiger aber auch wegen einer kritischen Grundmentalität. Da man stets – und mit gutem Recht – den Status quo kritisiert, übersieht man gelegentlich, dass es schon genug gibt, was auch wert ist, verteidigt zu werden.

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Wissenschaftskritik=Feinde?

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Juli 2022

Erwin Chargaff.  Wo bleibt der heilige Zorn?

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Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von : Wölflingseder, Maria

Vor 20 Jahren starb der Biochemiker und Wissenschaftskritiker. Höchste Zeit, an ihn und seine Einsichten zu erinnern.

Warum wird Wissenschaftskritik zunehmend als Wissenschaftsfeindlichkeit bezeichnet und warum werden abweichende Meinungen immer öfter dämonisiert? Mit dem geradezu inflationär gewordenen Vorwurf, ja mit der Punzierung „Fake“, „Falschmeldung“, „Verschwörungstheorie“ ist ein völlig neuer Ton im öffentlichen Diskurs angeschlagen worden.

Soll damit jede Diskussion im Keim erstickt werden? Da drängt sich die Frage auf, wer wird denn aller zu jenen gezählt, die der Wissenschaftsfeindlichkeit beschuldigt werden. Auch jene in den 1970er und 1980er Jahren noch viel beachteten, heute weitgehend totgeschwiegenen Wissenschafts- und Gesellschaftskritiker wie Günther Anders, Bertrand Russell, Robert Jungk oder Ivan Illich?

Ein weiterer fundierter Kritiker eines blinden Fortschrittsglaubens und seiner fatalen Auswirkungen war der 1905 in Czernowitz geborene und ab 1914 in Wien aufgewachsene Biochemiker Erwin Chargaff. Nach seiner Emeritierung als Professor an der Columbia Universität in New York verfasste er zwischen 1975 und 1995 zahlreiche Essays in präziser, eleganter Sprache – geprägt durch Karl Kraus, dessen beeindruckende theatralen Vorlesungen er als Schüler und Student regelmäßig besuchte.

Luzide Reflexionen

Die Lektüre von Chargaffs Büchern bietet einen selten gewordenen intellektuellen Genuss. Seine scharfsinnigen und luziden Reflexionen über Wissenschaft und Technik, über Massenmedien und Kunst, über Sprache und Sprachen, über Ethik und Ästhetik, über Autobiografisches und Universelles haben auch 20 Jahre nach seinem Tod nichts von ihrer Brisanz eingebüßt.

Zu Chargaffs wichtigster Kritik gehört die Frage, welche Entwicklungen wir überhaupt wollen: „Unter den zahllosen Mehrern und Hütern des Wissens ist kein einziger, der stehenbliebe und fragte, wohin die Reise geht.“ Muss alles gemacht werden, was gemacht werden kann? Und muss alles, was gemacht worden ist, auch verwendet werden? „Der Fluch der Machbarkeit und der Fluch der Verwendbarkeit haben sich beide als pseudoreligiöse Dogmen konstituiert. Nichts hat unsere Welt so vergiftet – auch im wörtlichen Sinn – wie diese Unheilbotschaften.“

Chargaff bezeichnet das 20. Jahrhundert als eines der abscheulichsten der Weltgeschichte. Seit dem Ersten Weltkrieg mit seinen Giftgasangriffen und noch viel deutlicher seit dem Zweiten mit der Atombombe ist ein „Zeitalter mit mörderischer Wissenschaft“ angebrochen, in dem es die „eigentliche Aufgabe der Naturwissenschaft sei, die entscheidenden Waffen zur Menschenvernichtung bereitzustellen“. Heute sind die weltweiten Rüstungsausgaben – nach einem Rückgang im Zuge der Beendigung des Kalten Kriegs – auf Rekordniveau: Von einer Billion Dollar im Jahr 2000 stiegen sie auf 2,1 Billionen 2021.

Für Chargaff ist das Wort Waffe oder Bombe viel zu harmlos. Eine Atombombe „sei das tragbare Jüngste Gericht – allerdings nicht brauchbar als Fresko in der Sixtinischen Kapelle“. Sie sei „die wirksamste Kritik der Zukunft, denn wenn jene einmal ihre schönfärbigen, sanften Wolken entfaltet, wird es diese überhaupt nicht geben“. Wo sind heute rigorose Kritiker von AKWs und Atomwaffen? Wo ist eine Friedensbewegung? Wo ist jemand, der den gigantischen digitalen Ausbau der Militarisierung des Weltraums hinterfragt?

Auch sein eigenes Fach, die Biochemie beziehungsweise die Genforschung, beurteilt Chargaff höchst kritisch. Er vergleicht das Hantieren am Zellkern mit jenem am Atomkern. 1928, nach seinem Studium der Chemie an der Universität Wien, erhielt er ein zweijähriges Forschungsstipendium in Yale, im US-Bundesstaat Connecticut. Seine Habilitation verfasste er am Hygieneinstitut der Universität Berlin. 1933, nach dem Reichstagsbrand, wurde ihm eine Stelle am Pasteur-Institut in Paris angeboten. 1934 ging er wieder in die USA und lebte dort bis zu seinem Tod am 20. Juni 2002. Ab 1935 forschte Chargaff an der Columbia Universität in New York. Als Jude hätte er nicht in Europa bleiben können. Sein Vater war bereits gestorben. Seiner Mutter wurde trotz der Erfüllung aller notwendigen Formalitäten die Ausreise in die USA verweigert. 1942 wurde sie nach Polen verschleppt und ermordet.

Erkenntnisse über DNA

Ende der 1940er Jahre gewinnt Chargaff bahnbrechende Erkenntnisse über die Beschaffenheit der DNA. Die „Chargaff-Regeln“ sind die Grundlagen für Francis Watson und James Crick, die für die Entdeckung der Doppelhelix-förmigen Anordnung des Erbguts den Nobelpreis erhielten. Viele hingegen erachten Chargaffs Beiträge – die nicht einmal Erwähnung fanden – für ebenso nobelpreiswürdig. Als Gentechniker beginnen, die DNA neu zu rekombinieren, steigt Chargaff aus seinem Forschungszweig aus und warnt vor der zunehmenden „genetischen Bastelsucht“. Seine dringendste Warnung gilt einer „Schrecken erregenden Unwiderruflichkeit“. Also jeglicher Unumkehrbarkeit von potentiell schädigenden technischen Entwicklungen.

Die Atomkriegsgefahr ist heute nicht geringer geworden. Und zu den 430 AKWs sollen bald noch 83 hinzukommen. Mit Nachdruck verweist Chargaff auf die oftmals bedenkliche Rolle der Wissenschaften. Die enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Technik erfolge fast immer unter dem Vorwand, die erwarteten Ergebnisse würden dem Wohl der Menschheit dienen. Heute trifft diese Beteuerung besonders auf die Forcierung zahlreicher digitaler Anwendungen zu. Viele warnen jedoch: „Die Digitalisierung entfaltet ihre disruptive Kraft mit großer Geschwindigkeit und globaler Reichweite, während ihre Regulierung größtenteils nacheilend erfolgt.“ So der deutsche Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Die Regierung schenkt den umfangreichen Gutachten aber kaum Aufmerksamkeit.

Lauter Zauberlehrlinge

Chargaff lehnt Wissenschaft weder ab noch stellt er die Notwendigkeit und Bedeutung von technischen Errungenschaften in Abrede. Er kritisiert vielmehr den systemimmanenten Zwang zur monetären Verwertbarkeit, der dazu angetan ist, eine menschliche Hybris zu entwickeln, die einem suizidalen Technik-Fetischismus frönt. Bereits vor Jahrzehnten sah Chargaff lauter Zauberlehrlinge am Werk, deren Meister längst geflohen waren.

Diese Zauberlehrlinge haben sich in den letzten 30 Jahren rasant vermehrt. Heute basteln sie mit Hochdruck an künstlicher Intelligenz, schnipseln mit der Genschere; selbst an einer Rezeptur für Unsterblichkeit wird seit zehn Jahren in den brodelnden Küchen im einschlägigen Tal getüftelt.

Der Tod soll besiegt werden, aber was ist mit dem Leben? Warum hungern laut UNICEF 690 Millionen Menschen? Warum stirbt alle zehn Sekunden ein Kind an Hunger. Und selbst in reichen Ländern wie Österreich und Deutschland können sich viele das Lebensnotwendige nicht mehr leisten. All diese menschenverachtenden Verhältnisse haben mit mangelnder Technik indes wenig zu tun. Dennoch ist sie stets der Hauptfokus jeglicher Heilserwartung, die mittlerweile nie dagewesene religiöse Züge angenommen hat.

Wenn, wie stets beteuert, die Ergebnisse von Wissenschaft und Technik ausschließlich dem Wohl der Menschheit dienen würden, bräuchte es sicher keine 97 Millionen Euro pro Jahr, die es sich Big Tech, der mit Abstand größte Lobbying-Sektor in der EU, in Europa kosten lässt, die Politik zu dirigieren.

Chargaff macht sich viele Gedanken über die „Wissensindustrie“. Warum hat sich das „Gelehrtentum“ zunehmend in ein „Spezialistentum“ gewandelt? Natürlich sind Spezialisierungen notwendig, sie sollten aber auf einem breitgefächerten Bildungsfundament aufbauen. Ein solches wurde Chargaff am Gymnasium in der Wasagasse im neunten Wiener Bezirk zuteil. Zahlreiche später berühmt gewordene Söhne aus jüdischen Familien drückten hier die Schulbank. Es gab nicht viele Fächer, aber Chargaff schätzte den Unterricht, der von sehr hoher Qualität war.

Chargaff, stets ein Kritiker der Kommerzialisierung von Wissen, betont: „Spezialwissen ist nämlich überhaupt kein Wissen, sondern eine Lizenz zum Geldverdienen.“ Publizieren in den einschlägigen Fachmagazinen sei das oberste Gebot – in einer Sprache, die bestimmte Codes verwendet, für Laien oder fachfremde Spezialisten meist unverständlich. „Die Fachsprachen sind nämlich keine Sprachen, sondern Gaunerzinken mit Doktortitel, nur für Mitgehangene verständlich. Sie sind auch der beste Denkersatz.“ Chargaff plädiert für ein engagiertes Laientum: „Wirklich lebendig kann die Erbschaft der Jahrtausende nur in einem Laien sein; den Fachmann interessiert das Kleingedruckte.“

Eine Veränderung unseres Daseins, die Chargaff bereits vor Jahrzehnten verdeutlichte, hat heute mit der Digitalisierung aller Lebensbereiche eine weitere Dimension angenommen. „Es ist unwahrscheinlich, dass es je eine Epoche gegeben hat, die so abgeschnitten war von der Wirklichkeit wie unsere Gegenwart.“ Das Lachen ist verschwunden. Genauso die Heiterkeit, jene „aus Festigkeit und Seelenruhe erwachsende Gemütsverfassung“. Und der „unaufhaltsame Entmenschungsprozess“, den Chargaff vor langem erkannte, bekommt heute mit dem angestrebten Transhumanismus eine ganz neue Bedeutung.

Chargaff fragt, warum es keinen „Fortschritt in Dingen des Geistes“ gäbe. Warum hat „die Verdinglichung des Geistes aus seinen Erzeugnissen Spielmarken gemacht in einem grimmigen Spiel um Geld, Macht und Ruhm?“.

Fundierte Kritik wird gern als Kulturpessimismus abgetan und neuerdings als Wissenschaftsfeindlichkeit diffamiert. Wo bleibt der heilige Zorn der alten Propheten, den Chargaff so schmerzlich vermisste? Dieser dauerte bis ins vorletzte Jahrhundert an, dann aber hat eine „Art von epidemischer Aphasie die Menschen mundtot, und daher gefühls- und denktot gemacht“. Offenbar sei jegliche „Kraft zum Widerspruch“ ausgestorben. Heute leben wir in Zeiten drohender Totalüberwachung und Steuerung jedes Individuums, in Zeiten, in denen eine Wende menschheitsgeschichtlichen Ausmaßes nicht mehr weit ist – der Übergang vom Industriezeitalter in ein neues, kybernetisches Zeitalter, im Sinne einer Mensch-Maschine-Verbindung. Wäre da nicht die Frage, welche Entwicklungen wollen wir überhaupt, dringend von Nöten? Erwin Chargaffs Essays und Aphorismen bieten beim Finden von Antworten großartige Inspiration.

Eine Auswahl an Büchern von Erwin Chargaff (im Verlag Klett-Cotta erschienen):
„Kritik der Zukunft“, 1983
„Ein zweites Leben“, 1995
„Das Feuer des Heraklit. Skizzen aus einem Leben vor der Natur“, 1988, vergriffen,
(auch bei dtv erschienen)
„Über das Lebendige – Ausgewählte Essays“, 1993
„Brevier der Ahnungen – Eine Auswahl aus dem Werk“, 2002

aus: Die Wiener Zeitung – EXTRA vom 12. Juni 2022

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Kolumne FERNSICHT Israel

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Juli 2022

Weimarer Wolken am Himmel über den Cafés von Tel Aviv

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„Wir sehen auch was andere sehen !“ Ohne das Versagen von Weimar kein Hitler?

Von Hagan Dagan

Der Vergleich dürfte in deutschen Ohren unangenehm tönen, aber hier in Tel Aviv wird er immer öfter laut: Die aktuelle politische Lage in Israel und die Weimarer Republik. Israel leidet unter einer politischen Polarisierung, tiefer gegenseitiger Abneigung,

Demagogie und kruder politischer Rhetorik, die sich kennzeichnet durch das komplette Abstreiten jeglicher Legitimation des gegnerischen Lagers und der Tendenz, die Geschichte zu verzerren und umzuschreiben. Sie leidet unter mangelnder Toleranz und unter Politikern, die den Mob zur Gewalt aufhetzen.

Die Rechte macht der Justiz offen jegliche Legitimität und Unabhängigkeit streitig. Sie begreift Demokratie als Herrschaft der Mehrheit und Umsetzung des „Volkswillens“, wobei in der rechten Rhetorik das „Volk“ nur die Juden meint und nicht die arabischen Staatsbürger. Wie Gewitterwolken im Hochsommer schweben Barbarei, Gewalt und Verrohung in der Luft.

Der Regierung von Naftali Bennett ist es nicht gelungen, die rechte Opposition zu konfrontieren, die mit Mafiamethoden die Koalition terrorisiert und die beteiligten Regierungsparteien mit hetzerischer Rhetorik in den sozialen Netzwerken als Kollaborateure mit dem Feind beschimpft. Der Staat sinkt erneut in eine Phase politischer Instabilität. Die Linke gibt sich geschlagen und hilflos. Kaum jemand ist noch bereit zum Machtkampf. Ha’aretz, die nahezu einzige Zeitung, die noch eine liberale Haltung vertritt, verfällt in ein dauerndes Jammern der Letzten einer aussterbenden Minderheit. Obschon der Kampf noch nicht endgültig entschieden ist, macht sich in diesem Lager das Gefühl der Kapitulation breit.

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Die Cafés von Tel Aviv erscheinen mir in diesen Tagen wie Naturschutzgebiete, die einzigen Orte, wo diese vom Aussterben bedrohte Art noch existiert, einen feinen Espresso schlürft, über Fitnesstudios redet, dänische Netflix-­Serien, Filmfestivals und Literaturpreise – ein eskapistisches Universum, das die Augen verschließt vor dem Tornado, der draußen sein Unwesen treibt.

Jetzt ist die Zeit für ein komplett neues Denken. Die Linke müsste aufwachen, eine jüdisch-arabische Partei gründen und die Möglichkeit einer echten Koexistenz in diesem Land auf die Agenda bringen. Ein Bündnis mit Mansour Abbas, einem pragmatischen Politiker, der den islamistischen Konservativismus seiner Partei (zumindest teilweise) überwunden hat und eine die Grenzen überwindende Vision schuf. Was hingegen passiert, ist, dass ihn die arabische Öffentlichkeit fallen ließ. Die anderen arabischen Politiker sind Geiseln eines antagonistischen Nationalismus, und der Rest der israelischen Linken hält sich an der „Mitte“ fest, die nichts anderes ist als eine etwas moderatere Rechte, und nimmt sich damit ihre politische Existenzgrundlage.

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Rathenau ist aktuell

Erstellt von DL-Redaktion am 29. Juni 2022

Er hätte uns heute viel zu sagen

Ein Schlagloch von Mathias Greffrath

Der vor 100 Jahren ermordete Außenminister der Weimarer Republik war Visionär, Sozialist, Ökologe und Konsumkritiker.

Erinnerung muss immer wieder neu zusammengesetzt werden“, so endet Michaela Maria Müllers Erinnerung an die Ermordung Walther Rathenaus in der taz. Richtig. Aber bei dieser Rekombination geht gelegentlich das Beste verloren. Die Gedenktexte der vorigen Woche nahmen den jüdischen Patrioten in den Blick, den die antisemitischen Eliten ausschlossen; sie erinnerten an den von Reaktionären finanzierten Terrorismus; sie betrauerten den Außenminister, der zwischen Westbindung und Versorgung mit russischem Öl zerrissen war.

All das wurde mehr oder weniger dezent in Bezug zur Gegenwart gesetzt – aber es führen keine vitalen Verbindungen von der rechtsradikalen Organisation Consul zu den Schüssen von Halle 2019 und keine vom Rapallo-Vertrag zu Gerhard Schröder. Die Kontakte des AEG-Chefs zu den künstlerischen Avantgarden sind nicht der Vorschein einer „volkswirtschaftlich relevanten Synthese aus Kreativwirtschaft und Industrie“, wie es Nils Minkmar schwant. Und Rathenaus Wirtschaftstheorie ist nicht, wie FDP-Justizminister Marco Buschmann glauben möchte, die geistige Grundlegung für die Soziale Marktwirtschaft der Bonner Republik.

Rathenau ging weiter. Und genau das ist für mich der Grund, für einen Augenblick patriotisch zu trauern. Um den exemplarischen Bürger Rathenau, den Ingenieur, den Unternehmer und Politiker, der die besten Erbschaften des 19. Jahrhunderts verkörperte, kurz bevor ihre Strahlkraft in den Schlachten des Weltkriegs erlosch: die Weltoffenheit und der Humanismus des humboldtschen Kosmos, der aufgeklärte Pantheismus Goethes, die Wissenschaftsblüte und der Konstruktionswille der Gründerjahre. Rathenau glaubte, dass das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen herzustellen – oder eher wohl das geringstmögliche Unglück – ein ebenso politisches wie technisches Problem sei. Also schwierig und doch machbar.

Auch wenn sich Geistigkeit und Ingenieursdenken in seiner pathetischen Prosa ineinanderdrehen: die Lektüre seines Hauptwerks „Von kommenden Dingen“ lohnt immer noch. 1917 skizziert Rathenau eine deutsche Gesellschaft, in der die Forderungen der Französischen Revolution und der Arbeiterbewegung, die Fortschritte der Wissenschaft und die Produktivität der Großindustrie zusammenschießen zur Verfassung einer demokratischen, meritokratischen und egalitären Arbeitsgesellschaft.

„An der Arbeit, die in unsichtbarer Verkettung alle leisten, sind alle berechtigt. Jeder bedarf des gemeinsamen Schutzes, der gemeinsamen Einrichtungen, die er nicht geschaffen hat. Das Dach, unter dem er schläft, die Straße, die er betritt, das Werkzeug, das er hebt, dies alles ist von der Gesamtheit geschaffen. Eigentum, Verbrauch und Anspruch sind nicht Privatsache.“ Individueller Reichtum ruht auf der Vorarbeit von Generationen, und darum gehören die Früchte der Produktivität allen. Daraus folgt für den AEG-Erben, dass die „verdienstlosen Massenerben“ enteignet, die „Erblichkeit der Kapitalmacht“ gebrochen werden müsse, zugunsten des öffentlichen Wohlstands: durch Kultureinrichtungen, kommunale Dienste, sozialen Ausgleich, vor allem aber durch Volksbildung. Nur mit gebildeten Bürgern und „nur auf der Grundlage ähnlicher Lebensumstände“ könne Demokratie existieren.

Wie auch heute bei gegebenen Anlässen -Politiker-Innen vergießen Krokodilstränen

Wie sich zeigte, waren solche Gedanken tödlich. Aktuell sind sie, weil Rathenau die sozialen Ziele mit ökologischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten verknüpfte. Seine ökonomische Theorie rechnet nicht mit Geld, sondern mit Materie, sprich: mit der Endlichkeit der Ressourcen. Er sieht den energetischen Kollaps und die Ressourcenerschöpfung des kapitalistischen „Kreislaufs ohne Ziel“ voraus, in dem die Menschen durch „Ströme von Waren stampfen“ und „Ströme von Abfällen hinter sich lassen“.

Er verachtet diese Unersättlichkeitsmaschine, aber anders als Max Weber resigniert er nicht, sondern arbeitet an der rationellen Nutzung von Ressourcen. Einiges davon ließ sich in der Kriegswirtschaft erproben. Verzicht sei angesagt, damit das „Kügelchen, das wir bewohnen“, auch in Zukunft bewohnbar bleibt. Und die Beschränkung des Konsums, „der Zwang, mit Kräften und Stoffen hauszuhalten“, führe wiederum zur Notwendigkeit eines demokratischen Wohlstandsausgleichs. „Reich im Staat darf nur einer sein: der Staat.“ Nicht als Eigentümer, sondern als Agent der gesamtwirtschaftlichen Regulierung und Verteilung.

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Oben     — Briefmarke (1952) der Serie Männer aus der Geschichte Berlins

 

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KOLUMNE FERNSICHT – USA

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Juni 2022

Diesmal nicht wie nach Watergate

Von Brenda Wilson

Der Einbruch im Watergate-Hotel, der zur Anklage gegen Präsident Richard Nixon und zu seinem Rücktritt führte, ist in diesem Juni genau 50 Jahre her. Bei den Kongresswahlen im darauffolgenden November konnten die De­mo­kra­t*in­nen zahlreiche Sitze hinzugewinnen.

Die aktuellen Anhörungen des Untersuchungsausschusses über Trumps Rolle beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 wecken Erinnerungen an die Watergate-Anhörungen von 1972. Zeuge um Zeuge belegte die Machenschaften, mit denen Trumps Lakaien versuchten, die Wahlergebnisse in den für Joe Bidens Sieg entscheidenden Bundesstaaten in Zweifel zu ziehen. Sie wollten so viel Verwirrung stiften, dass Vizepräsident Mike Pence am Ende die gesamte Wahl für ungültig erklären würde.

Die für die Auszählung Verantwortlichen und sogar deren Familienangehörige wurden bedroht, bedrängt und belästigt. Doch am Ende hatten Trumps Un­ter­stüt­ze­r*in­nen genauso wenig Erfolg wie die Einbrecher im Watergate. Ein Klebeband an der Tür zum Hauptquartier der Demokratischen Partei machte einen Sicherheitsbeamten im Watergate stutzig und ließ ihn die Polizei alarmieren.

Aber diesmal darf man nicht auf große Zugewinne der Demokraten im November hoffen. Selbst Re­pu­bli­ka­ne­r*in­nen haben es schwer genug – falls sie für die Amtsenthebung Trumps gestimmt hatten. Von den zehn, die es wagten, treten vier nicht mehr an. Andere erleben, wie ihre politischen Karrieren schon bei den Vorwahlen enden. Die Abgeordnete Liz Cheney, die Tochter des früheren Vizepräsidenten, ist die stellvertretende Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zum 6. Januar. Sie warnt laut vor dem moralischen Verfall, für den der Ex-Präsident steht, und drängt ihre republikanischen Parteifreunde, sich einen Rest an Würde zu bewahren. Cheney muss sich im August der Vorwahl für ihren Kongresssitz stellen und wird wohl gegen eine von Trump unterstützte Kandidatin unterliegen. Aber es heißt, sie könnte 2024 als Unabhängige für das Weiße Haus kandidieren.

Die meisten Kom­men­ta­to­r*in­nen glauben nicht, dass die Anhörungen viele Wäh­le­r*in­nen umstimmen werden. Zu viele andere Themen beschäftigen sie derzeit, von der Schusswaffenkontrolle, die der Kongress wohl minimal verschärfen wird, über steigende Preise für Benzin bis zur Angst vor einer Rezession und Bidens Unfähigkeit, diese Probleme abzuräumen.

Ein spannendes Duell erwartet man im November in Pennsylvania, wo der aus dem TV bekannte und von Trump unterstützte Mediziner Mehmet Oz gegen den populären linksliberalen demokratischen Vizegouverneur John Fetterman für einen Sitz im Senat antritt.

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Oben     —    Titel: Watergate Hotel, place of the scandalous break-in of Democratic Party Headquarters during the Nixon Administration. Washington, D.C.

Quelle Kongressbibliothek

Verfasser
Berechtigung
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Keine bekannten Einschränkungen bei der Veröffentlichung.

Dieses Werk stammt aus der Sammlung des Carol M. Highsmith Archive in der Library of Congress. Nach Angaben der Bibliothek gibt es keine bekannten urheberrechtlichen Einschränkungen für die Nutzung dieses Werkes.
Carol M. Highsmith hat festgelegt, dass ihre Fotografien gemeinfrei sind. Fotografien von Skulpturen oder anderen Kunstwerken können durch das Urheberrecht des Künstlers eingeschränkt sein.

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Unten       —       Einer von einer Vielzahl von Anti-Ford buttons generiert während der Präsidentschaftswahl 1976: Es heißt „Gerald … Pardon me!“ und zeigt einen Dieb, der einen Safe mit der Aufschrift „Watergate“ knackt.

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Demokratisch ungehorsam

Erstellt von DL-Redaktion am 17. Juni 2022

 „Die Zukunft der Demokratie nach den Vorstellungen der Politiker?“ 

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Aus keiner Regierung gab es einen Blick auf das eigene Unvermögen !!

Von Claus Leggewie

Der vehemente Protest der jungen Generation ist angesichts des Klimanotstands nachvollziehbar und sollte nicht billig abgetan werden.

In einem selbst veröffentlichten Video spricht Klimaaktivistin Luisa Neubauer offensichtlich witzelnd über ihre Bemühungen, den Bau einer Ölpipeline zu verhindern, und hält dabei ein Buch mit dem Titel „Wie man eine Pipeline in die Luft jagt“ ins Bild. In einer Stellungnahme versichert sie: „Wir sprechen mit der französischen Regierung, mit möglichen Investoren und Versicherern der Pipeline und mobilisieren über soziale Netzwerke, damit diese Klimakiller-Pipeline niemals gebaut, sondern endlich abgeblasen wird.“ Trotzdem rücken sie Teile der politischen Elite im Chor mit der Bild-Zeitung in eine Ecke mit Terroristen. Die vehemente Form des Auftretens von Klimaschützern darf allerdings deren politisches Engagement nicht abqualifizieren, in einem demokratischen Dialog schließen sich vielmehr drei Fragen an: Ist die Inszenierung von radikalen Protesten gegen unterlassenen Klimaschutz als Notwehr inhaltlich nachvollziehbar, ist sie demokratisch legitim, und ist sie geeignet, Klimaschutz zu verbessern und zu beschleunigen?

Um die Jahrtausendwende geborene Menschen erleben, dass die von der Forschung nachgewiesenen „Kipppunkte des Erdsystems“ in nicht allzu ferner Zukunft, also in ihrer Lebenszeit, eintreten können und dann in der ebenfalls wissenschaftlich plausibilisierten Kumulation in eine globale Katastrophe führen würden, wobei das Überleben der Spezies Mensch aufs Spiel gesetzt wäre. Die Selbstbezeichnung mancher Klimaaktivisten als „letzte Generation“ etwa verweist auf eine reale Gefährdung. Nachvollziehbar ist sie auch angesichts der bis dato insgesamt kaum erfolgten Verlangsamung der Erderwärmung oder des Artensterbens. Es ist die Eigenart und das gute Recht von Jugend(protesten), erkannte Missstände in aller Deutlichkeit, mit drastischen Übertreibungen und performativen Schocks herauszustellen.

Ein historisches Beispiel mag das illustrieren: Die außerparlamentarische Protestbewegung gegen die Notstandsgesetzgebung in den 1960er Jahren malte eine Faschisierung des politischen Systems der Bundesrepublik an die Wand, deren Eintrittswahrscheinlichkeit gering war. Dass die Befürchtungen nicht eintraten, machte den Protest nicht nutzlos. Denn er verwies auf überkommene autoritäre Strukturen und trug zur Herausbildung einer selbstbewussten Zivilgesellschaft bei. Die bedauerliche Kehrseite war die Radikalisierung einer Minderheit der außerparlamentarischen Opposition. Deren Frontalangriffe waren demokratisch nicht legitim, was ebenso für heutige militante Aktionen gelten kann.

War damals die unzulässige Ausrufung eines Notstands der Protestanlass, ist es bei der „letzten Generation“ die Unterlassung der Ausrufung des Klimanotstands. Wenn diese Prämisse stimmt und auch eine grüne Regierungsbeteiligung an der Sachlage wenig ändert, ist dann nicht ziviler Ungehorsam gerechtfertigt? Dieser ist im Sinne seiner Verfechter von Henry David Thoreau über Martin Luther King bis Gene Sharp grundsätzlich friedlicher Natur, beinhaltet aber kon­trol­lier­te, der breiten Öffentlichkeit gut kommunizierte Regelverletzungen. So gut wie kein demokratisches Recht, etwa das Wahlrecht von Frauen, ist ohne symbolische und faktische Regelverletzungen durchgesetzt worden. Insofern ist ziviler Ungehorsam Teil und nicht Gegenteil von Demokratie, seine Verfechter in die Nähe von Antidemokraten zu rücken ist absolut verfehlt.

Man darf nämlich sagen, dass das Auftreten zivilen Ungehorsams auf demokratische Defizite und Repräsentationslücken verweist, die es ohnehin zu schließen gälte. Die sinkende Wahlbeteiligung in vielen (nicht mehr so) repräsentativen Demokratien kann auch nicht mehr durch business as usual behoben werden, neue Formen der Bürgerbeteiligung müssen gefunden werden. Die große aktuelle Herausforderung demokratischer Gesellschaften ist die rasante Verknappung der Zeitspanne, in der der Klimawandel noch einzudämmen sein wird. Demokratien kaufen üblicherweise Zeit, um Kompromisse zu schließen; doch genau dem schiebt nun die Physik des Erdsystems einen mächtigen Riegel vor. Große Eile ist geboten! Nicht legitimierbar sind diverse Sabotageakte, die zwar nicht von Neubauer, sehr wohl aber von einigen Sprechern der „letzten Generation“ offen befürwortet werden, weil die damit verbundenen Risiken für die Allgemeinheit unüberschaubar sind. Wichtiger noch, sind solche Akte auch ungeeignet, das deklarierte Ziel des Klima- und Artenschutzes voranzutreiben.

Quelle      :     TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben        —      Karikatur von Gerhard Mester zum Klimawandel: „Weiter so“

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Widerstände Rekodieren

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Juni 2022

Akte der Weltgestaltung und Ästhetiken der extraktiven Solidarität

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von     :   Christine Okoth

Antikapitalistische Kämpfe im Globalen Süden wurden von Anfang an von der Frage begleitet, wie die über die Grenzen hinweg geteilte Erfahrung der Ausbeutung in eine gemeinsame Politik des Widerstands und der Emanzipation umgewandelt werden kann. Impulse dazu finden sich nicht zuletzt in künstlerischen Beiträgen, wie Christine Okoth in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” argumentiert, indem sie ästhetische Strategien diskutiert.

In einem Interview mit Melanie Anne Herzog aus dem Jahr 1991 erzählt die afroamerikanische bildende Künstlerin Elizabeth Catlett, wie sie in ihrer Wahlheimat Mexiko-Stadt Zeuge eines Protestes im Rahmen eines Bergarbeiterstreiks wurde. Der Streik hatte Ende 1950 begonnen, als die Bergarbeiter von Nueva Rosita ihre Arbeit niederlegten, um gegen die Umsetzung eines sogenannten Modernisierungsplans zu protestieren. Sie taten dies ohne die offizielle Unterstützung einer Gewerkschaft; die organisierte Arbeiterschaft war in den Jahren der PRI-Diktatur oft ineffektiv und wurde von regimefreundlichen Persönlichkeiten beherrscht, die nicht die Interessen der Arbeiter vertraten. Da der Streik offiziell als illegal galt und auf massiven Widerstand stieß, unternahmen die Bergarbeiter schließlich einen zermürbenden Marsch nach Mexiko-Stadt, in der Hoffnung, die Machthaber des Landes von ihrer Notlage zu überzeugen.

Zusammen mit Leopoldo Mendez und Pablo O’Higgins – zwei weiteren Mitgliedern des Künstlerkollektivs Taller de Gráfica Popular (TGP) – fertigte Catlett einen Siebdruck an, der “eine Mutter und ein totes Kind” zeigt, um seine Unterstützung für die streikenden Bergarbeiter auszudrücken. Ein weiterer Linolschnitt von Catlett mit dem Titel Descanso zeigt eine Gruppe von Bergarbeitern, die sich auf dem Boden ausruhen, mit einem kleinen Schild im Hintergrund, das die Entfernung von 970 km von Nueva Rosita nach Mexiko-Stadt angibt. Beide Werke zeigen kniende oder gebückte Figuren, die von seelischem und körperlichem Leid geplagt sind und deren Gesichter völlig verborgen oder verdeckt sind.

Dem kolonialen, extraktiven Blick entgegentreten

Diese kurze Skizze der Versuche von Catlett und der TGP, die streikenden Bergarbeiter von Nueva Rosita zu unterstützen, erinnert uns daran, dass die Solidarität zwischen ausgebeuteten und unterdrückten Völkern auf der ganzen Welt eine notwendige Voraussetzung für den politischen Widerstand gegen die Ausbeutungsregime unserer Vergangenheit und gegen das ist, was man sich als unsere “nachhaltige” Zukunft vorstellt. In den Werken schwarzer Schriftsteller*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen lassen sich solche politischen Wege nachzeichnen. Momente wie Richard Wrights Bericht über die Konferenz von Bandung oder Amiri Barakas politisches Erwachen im Kuba der 1960er Jahre, von dem er in seinem Essay “Cuba Libre” berichtet, sind Beispiele für das, was Adom Getachew als Praktiken der politischen “Welterschaffung” bezeichnet, da sie Karten der politischen Zugehörigkeit entwerfen, die antikapitalistische Kämpfe im gesamten globalen Süden vereinen.

Im Falle der Produktion aktivistischer Materialien durch das TGP ergibt sich der besondere Akt der Welterzeugung aus dem Umstand, dass man Zeuge von Widerstandshandlungen gegen ein extraktives und diktatorisches Regime ist. Die Kunstwerke, mit denen diese Intervention eröffnet wird, nehmen daher an einem besonderen Repräsentationsprojekt teil. Hier können wir das Spiegelbild dessen verorten, was Jennifer Wenzel als “Ressourcenästhetik” bezeichnet – nicht den kolonialen, extraktiven Blick, sondern die Ästhetik der extraktiven Solidarität, die entsteht, wenn Künstlerinnen und Aktivist*innen antikapitalistischen und antiimperialistischen Widerstand buchstäblich von unten nach oben oder, besser noch, von unterhalb nach oben theoretisieren.

Eine Ästhetik der extraktiven Solidarität zu entwickeln, bedeutet, einfache Gesten der geopolitischen Verflachung zu erkennen und abzulehnen. Für Catlett, die nach dem Aufkommen des Anti-“Kommunismus” zunehmend daran gehindert wurde, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren, standen ihre Wahlheimat und ihre Identität als schwarze Amerikanerin nicht im Widerspruch zueinander, zumindest nicht aus einer ästhetischen Perspektive. Im Gegenteil, wie sie in dem 1971 erschienen Artikel “My Art Speaks for Both My People” erklärt, ergänzen sich die beiden. Für die TGP-Plakate in Mexiko, so Herzog, habe Catlett Drucktechniken verwendet, die sie in Chicago erlernt hatte. Damit hatte sie einen Prozess des Kunstschaffens aus einem Milieu politisch engagierter Kunst in ein anderes übertragen.

Die Notwendigkeit eines “neuen Imperativs

Zwanzig Jahre nach dem Streik in Nueva Rosita versuchte die Dichterin June Jordan in ähnlicher Weise, ihre Position als US-Bürgerin mit ihrem Wunsch nach Solidarität mit den Bürger*innen Chiles nach dem Putsch von 1973 in Einklang zu bringen. Der chilenischen Dichterin Myriam Díaz-Diocaretz gewidmet, ist Jordans “Probleme der Übersetzung: Probleme der Sprache” in acht nummerierte Abschnitte unterteilt, von denen der vierte aus einer einzigen Strophe besteht, die lautet: ‘In your country how / do you say copper / for my country?’ Durch die chiastische Anordnung der Strophe wird das Problem der Kupfergewinnung als sprachliches Dilemma zu einer Frage der Übersetzung und des Transports.

Während das Rohmaterial vom Boden (als das, was “in” dem Land ist) zu den Produktionsanlagen (dem “für” eines anderen Landes) transportiert wird, werden der Sprecher des Gedichts und sein Adressat in eine einseitige Konfrontation gezwungen. Obwohl der eine nimmt, was der andere nicht bereitwillig gibt, zielt die Entscheidung, diese unangenehme Reichweite über einen riesigen geopolitischen Graben hinweg als Frage zu formulieren, darauf ab, die ungleiche Grundlage, auf der die Interaktion stattfindet, zu untergraben.

Diese formale Darstellung spricht eine Forderung an, die in einem Essay von 1975 formuliert wurde, in dem Jordan auf das Vorhandensein und die Notwendigkeit eines “neuen Imperativs” im Gefolge der US-Beteiligung am Putsch hinweist und schreibt, dass sie in den Liedern von Victor Jara nun einen solchen Imperativ hören kann, sich dem Kampf gegen den US-Interventionismus bereitwillig und wissentlich anzuschließen. Aber in Jordans Gedicht werden die Lücken, die das Rohmaterial Kupfer bedeutet, nie ganz überwunden. Eine ästhetische Form der extraktiven Solidarität beruht hier sowohl auf der anfänglichen Isolierung des Rohstoffs als auch auf dem anschließenden Versuch, die Lücken zu bezwingen, die ein solcher Akt der epistemologischen Extraktion erzeugt.

Strategie der Zerstückelung zum Zwecke des Wiederaufbaus

In den visuellen Materialien des Dritte-Welt-Internationalismus ermöglicht die Darstellungsstrategie der Zerstückelung zum Zwecke des Wiederaufbaus eine Visualisierung der Ausbeutungsregime im globalen Maßstab. Die letzten Seiten der dritten Ausgabe des Tricontinental Magazine aus dem Jahr 1967 enthalten eines der berühmten Anti-Adverts der Publikation. Die Vorlage für diese spezielle Version ist eine Ford-Anzeige aus dem Time Magazine, aber die Bildunterschrift lautet “Die USA plündern die Dritte Welt aus und Ford hat die bessere Idee”. Der Anzeigentext, in dem die verschiedenen Luxusmerkmale des Fahrzeugs vorgestellt werden, wurde durch eine Reihe von Pfeilen ersetzt, die auf bestimmte Komponenten des Fahrzeugs zeigen und mit dem Namen des für die Produktion des Fords verwendeten Rohstoffs und den Ländern, aus denen diese Rohstoffe stammen, versehen sind: Sambia neben Chile als Quelle für Kupfer, Liberia und Vietnam als Quelle für Gummi oder Kamerun und Brasilien als Quelle für Aluminium.

Die Anti-Werbung ist eine Darstellung sowohl der Umstände als auch der Strategie. Wie eine umgekehrte Fabrik nimmt das Bild die zusammengesetzte Ware auseinander und schafft eine neue Karte der antikapitalistischen Solidarität, eine, die um die Entlarvung der Forderungen des extraktiven Kapitalismus organisiert ist. Anne Garland Mahler denkt, dass der Einsatz von “Culture-Jamming oder Subvertising, die Ford Motor Company als Vehikel der imperialistischen Ausbeutung gegen die Delegationen von Tricontinental” in Stellung bringt und damit einen gemeinsamen Feind und in derselben Geste eine gemeinsame Sache schafft. Die jüngsten Solidaritätsbekundungen zwischen den Bergbaugemeinden Chiles und Südafrikas durch die aktivistische Arbeit des Londoner Bergbaunetzwerks sind ein Beispiel für die anhaltende Notwendigkeit einer solchen fundierten und geerdeten (um die Methoden von Walter Rodney aufzugreifen) Politik der Solidarität.

Die Vermutung, dass die gegenseitige Konfrontation mit den Kräften des extraktiven Kapitalismus die verschiedenen auf dem Treffen von 1966 vertretenen Gruppierungen eint, entspricht der grundlegenden Herausforderung, die die Konferenz für frühere Internationalismen darstellte. Wie Robert Young feststellt, verlagert sich das berühmteste Dokument der Konferenz – Che Guevaras “Botschaft an die Tricontinental”, die nicht persönlich, sondern in schriftlicher Form übermittelt wurde – von der Kategorie des “Arbeiters” auf die Kategorie der “Ausgebeuteten” oder der “Enteigneten”. Der Begriff “Enteignete” funktioniert daher auch als Intervention in Debatten über die zentralen Merkmale des Kapitalismus, indem er den Fokus von der Ausbeutung der Arbeitskraft auf grundlegende Akte des Diebstahls verlagert, die über den Lohn hinausgehen.

Solidarität zwischen Süd und Süd: Von gemeinsamer Ausbeutung zu gemeinsamer Politik

Wie Neelam Srivastava hervorhebt, formulierte Stokeley Carmichael auf den Seiten des Tricontinental Magazine eine Theorie der internen Kolonisierung durch das Konzept der Ausbeutung, indem er schrieb, dass “dieselbe Machtstruktur, die euch ausbeutet und unterdrückt, auch uns unterdrückt; sie plündert unsere Ressourcen in der Kolonie, in der wir leben, genauso wie sie eure Ressourcen in den externen Kolonien plündert”. Gemeinsame Ausbeutung wird hier zur Grundlage einer gemeinsamen Politik.

Obwohl die Beziehungen zwischen der kubanischen Regierung und den verschiedenen eingeladenen Teilnehmer*innen der Trikontinentalen Konferenz oft angespannt waren und die Bemühungen, sich gegen den US-Imperialismus zu vereinen, ins Stocken gerieten, taucht die Artikulation politischer Einheit, die aus der Konfrontation mit den ruinösen Auswirkungen kolonialer und neokolonialer Wirtschaftsbeziehungen hervorgeht, im Archiv der Süd-Süd-Solidarität weiterhin auf. Quito J. Swan zum Beispiel erzählt akribisch von einer umweltpolitischen Praxis, die die Karibik, die Vereinigten Staaten, Ostafrika und den Pazifik durch die Figur des Ingenieurs und Aktivisten Roosevelt Browne oder Pauulu Kamarakafego miteinander verband.

In einem Interview vom März 1976 mit Gayleatha Cobb für Black World/Negro Digest beschreibt Brown die Organisation der Teilnahme einer Delegation aus Ozeanien am Sechsten Panafrikanischen Kongress 1974 und den anschließenden Austausch von Strategien für die Entwicklung unabhängiger Industrien, die eine Abkehr von der Exportwirtschaft der Kolonialzeit ermöglichen würden. Solche Projekte der Weltgestaltung sind keine Fantasien. Vielmehr ist der Prozess der Neugestaltung der Verteilung von wissenschaftlichem Wissen eine lebendige Geschichte einer möglichen Zukunft nach dem Extraktivismus.

Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englische Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de

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Grafikquellen     :

Oben       —    Demonstranten in London sind wütend über Israels Massaker an unbewaffneten Palästinensern in Gaza und das Versäumnis der BBC, die Morde sowie ihre pro-israelische Voreingenommenheit zu überschreiben.

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SICH BEGEISTERN LASSEN

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Juni 2022

VON PFINGSTEN – SICH BEGEISTERN LASSEN

Datei:Mailick, Fröhliche Pfingsten!. JPG-Datei

Quelle       :       Magazin Perspektive Leben.

Von           :        Stefan Weinert   / Ich wünsche allen Leser/innen ein gutes und nachdenkliches Pfingstfest 2022!

Zu unserer Galaxie, die wir Milchstraße nennen und die nur eine von vielen Milliarden Galaxien [rund 250 Milliarden] im Universum ist, gehören mehrere hundert Milliarden von Sterne. Unsere Sonne und ihr System gehören auch dazu. Jeder dieser Sterne ist ebenfalls eine Sonne, die wiederum Planeten um sich kreisen lässt, von denen manche – wie der blaue Planet auf dem wir leben – einen oder meist mehrere Monde hat.

Unsere Sonne zieht im kleinen Orion-Arm ihre Bahn, etwa 27.000 Lichtjahre vom Zentrum der Galaxie entfernt. Erinnern wir uns. Das Licht legt in einer Sekunde 300.000 Kilometer zurück. Die Entfernung zwischen Helios (Sonne) und Terra (Erde) beträgt acht Lichtminuten. (Erde – Mond = 1 Lichtsekunde)

Nun dauert es etwa 225 Millionen Jahre, bis unsere Erde das Zentrum der Milchstraße einmal umrundet hat. Ein Stern (Sonne) mit dem Namen S2 ist da deutlich schneller unterwegs: Er braucht nur 16 Jahre für eine Tour um den galaktischen Kern. Das liegt daran, dass er in unmittelbarer Nähe des galaktischen Zentrums kreist. Dort liegt ein super massives schwarzes Loch. Es heißt Sagittarius A* und ist etwa vier Millionen Mal so massereich wie unsere Sonne. Unter anderem für den Nachweis seiner Existenz gab es vor ein paar Jahren den Physik-Nobelpreis.

Mittlerweile sind sogar Sonnen bekannt, die dem schwarzen Loch im Herzen der Milchstraße noch ein wenig näher sind. Doch sie riskieren auf absehbare Zeit nicht, vom Galaktischen Kern verschluckt zu werden. Dafür müssten sie sich auf die Entfernung von etwa 16 Lichtminuten (doppelte Entfernung Sonne-Erde) nähern. Und darauf deutet derzeit nichts hin, die Bahnen gelten als stabil. Aber schwarze Löcher haben eine solch enorme Anziehungskraft, dass sogar das Licht von ihnen festgehalten wird und nicht aus ihnen entweichen kann. – Und da sind dann noch die Kometen (griech. kómä = Haupthaar, Mähne) die durch die Weiten ihrer Galaxie ihre Bahnen ziehen und – kommen sie einer der Sonnen zu nahe – einen sichtbaren „Schweif“ hinter sich her ziehen. Ihre Bahnen sind so groß, dass der Menschen einen solchen „Allschweifer“ – wenn überhaupt – nur einmal im Leben zu sehen bekommt.

Ich versuche einmal, dieses – in groben Strichen gezeichnete – Bild des Universums auf unsere Gesellschaft auf „dich und mich“ zu übertragen. Alles ist in Bewegung: Nichts ist heute so, wie es gestern war – und auch morgen wird es eine neue, noch nie dagewesene Situation geben. Die gegenseitigen Einflüsse, die guten und die schlechten, das Kreisen umeinander und um sich selbst, die Expansion und die Gefahren aus den Weiten – all das finden wir in der menschlichen Gesellschaft wieder. Sicher scheint nur der Moment – und Zeit war schon vor Einstein immer nur relativ. Wer mit dem Licht reisen kann – so Einsteins Theorie – für den bleibt die Zeit stehen, für den gibt es nur die „Ewigkeit“.
Im Thomasevangelium, das es tatsächlich gibt, aber das es nie in die offizielle Bibel geschafft hat, heißt es an einer Stelle: „Yeshua (Jesus) sagte: ‚Elend ist der Körper, der von einem anderen Körper abhängt. Und elend ist die Seele, die von beiden abhängt [Von ihrem eigenen und dem Körper eines anderen].‘ „.
Wenn wir unseren Blick auf den kleinen (winzigen) Ausschnitt der Milchstraße, unser Sonnensystems richten, und hier wiederum nur auf die Sonne „Helios“, den Planeten = Wanderer, umherschweifen) „Terra“ und seinen Trabanten „Luna“, erkennen wir sofort, was gemeint ist.

Luna kann nur leuchten, man kann auch sagen „glänzen“, in Er-SCHEIN-ung treten, sich bemerkbar machen, wenn er (der Mond) sich im Lichte der Sonne befindet und sich in ihm/in ihr wider-spiegeln kann. Ansonsten ist er schwarz – und obwohl präsent – doch unsichtbar, oder „Weiß wie eine Wolke“ und kaum wahrnehmbar – am Himmel zu sehen. Solche Zeitgenossen in unserer Gesellschaft gibt es viele. Und wenn wir ehrlich sind, steckt ein solches „Glänzen im Spiegel anderer“ in jedem von uns – mehr oder weniger. Und dass der Mond nicht in den Weiten des Universums verschwindet, hat er auch jemand anderem zu verdanken und keinesfalls sich selbst.

Doch dem „blauen Planeten“ geht es da nicht viel besser. Ohne die Sonne (Helios war der Sonnengott der alten Griechen; bei den alten Ägyptern war es „Ra“), ohne ihr Licht und ihre Wärme, ohne den notwendigen Abstand von ihr, wäre sie „tot“ wie der Mond und der Mars. Einzig die Sonne ist es (zumindest in unserem System), die unabhängig von anderen ist. Sie hat Licht und Wärme von Innen und aus sich selbst. Sie ist Quelle des Lebens nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für andere.

Zwar ist der homo sapiens auch ein „Wanderer, jemand der umherschweift“, – wenn auch nicht mehr physisch und in dem Maße wie einst die Jäger und Sammler, so doch immer noch psychisch -, aber jeder von ihm ist aus Fleisch und Blut und hat Leben IN sich. Das heißt: Jeder von uns kann oder zumindest könnte eine Sonne sein. Ein Mensch, (hebr. = adam; dam = Blut; adama = Ackerboden) hat nicht nur Energie für sich selbst, sondern auch für seinen Nächsten, seinen Mitmenschen, für solche, die aufgrund ihrer Vita nur noch ein „glimmender Docht“ sind. Jedenfalls potentiell. Es kommt nur darauf an, ob er/sie bereit ist, diese Energie auch abzugeben, oder ob er/sie äußerlich kalt bleibt und und die Kraft für sich behält mit der Folge, dass sie ihn letztlich innerlich verbrennen wird.

Doch selbst der/die, der/die ein so erlöschendes Licht ist, oder schon kalt wie der Mond sollte wissen, dass er dennoch Einfluss auf die, die in „voller Blüte stehen“ hat und haben kann. Ohne Luna keine „Ebbe und Flut“. Ohne Luna keine Stabilität der „Erde“ in ihrer Umlaufbahn um die Sonne. Und ohne Luna keine „Träume – in denen die Zeit scheint stehen zu bleiben – mit offenen Augen. Das sollten weder diese vielen „Monde“ unter uns und vor allem die (noch) gesunden und vitalen „Erden“ unserer Gesellschaft nicht vergessen.
Und da gibt es dann auch noch die so genannten „schwarzen Löcher“ inmitten unserer Gesellschaft. Alles muss sich um sie drehen. Was ihnen zu nahe kommt, verschlingen sie auf „nimmer wiedersehen.“ Sie besitzen mehr Energie, als alle anderen zusammen. Sie sind losgelöst von Zeit und Raum. Sie existieren tatsächlich in einer völlig anderen Dimension. Ihre Macht und ihr Reichtum sind dermaßen stark, dermaßen „energetisch energiegeladen aufgeladen“, dass sie nicht mehr in der Lage sind, davon auch nur ein Partikel abzugeben. Sie halten sich für „das Licht der Welt“ – und doch ist es in ihnen „stockdunkel“.

Nicht zu vergessen – die Kometen. Jene, die unser System verlassen und in den Weiten verschwinden, und doch irgendwann für eine gewisse Zeit wieder in unser Sichtfeld zurückkehren, um dann nach kurzer Zeit für weitere hundert Jahre oder mehr in die „Unendlichkeit“ zurückzukehren. Als der Halleysche Komet (einer der hellsten Kometen) im Jahre 1911 am europäischen Nachthimmel erschien, sahen die damaligen Zeitgenossen in ihm eine Art „Menetekel“ – ein Warnzeichen bezüglich eines zukünftigen großen Weltgeschehens. Drei Jahre später brach tatsächlich der 1. Weltkrieg aus, in dessen Kontext auch der Weltkrieg II. gesehen werden muss. 75 Jahre nach 1911 – im Jahre 1986 – erschien „Halley“ wieder am europäischen Nachthimmel. Doch der westliche Mensch war inzwischen weit aufgeklärter als zu Kaisers Zeiten. Ich war damals 34 Jahre alt, und kann mich nicht daran erinnern, dass dieser Komet damals als ein „Menetekel“ für die Welt verstanden wurde. Doch just drei Jahre später fiel die für die Ewigkeit gebaute Mauer, die Deutschland und Berlin getrennt hatte. Wenn das kein Weltereignis war ..!

Ob das Zufälle waren und sind, lasse ich mal dahingestellt sein. Aber „Kometen“ in der Menschheitsgeschichte, ob in unseren Breitengraden, oder in Asien, Vorderasien, Afrika, Amerika …, gab es immer wieder und wird es auch weiterhin geben. Aber sie tauchen eben sehr selten auf und sind auch selten. Ich denke dabei an die bekannten „Kometen“, wie Siddhartha Gautama, den Buddha, der 500 Jahre vor Jesus von Nazareth lebte; ich denke dabei an diesen Jeshua (Jesus) selbst, über dessen Geburtsstall ein „Komet“ erschien, ich denke an Franz von Assisi, an Ibn Sina, an Mahatma Gandhi, an Martin Luther King, an Nelson Mandela, an Mutter Theresa. Aber auch an jene, nicht so bekannten und sogar unbekannten „Kometen“ der Zeitgeschichte und in unserer eigenen Vita. Ob Christ, Muslim, Buddhist oder Atheist – jeder kann es sein. Leider gibt es von ihnen aber viel zu wenig. So wenig, dass wir sie fast an zwei Händen abzählen können. Menschen, deren Vorbild bis in die Gegenwart leuchtet. Das aber muss nicht so bleiben …
Man/frau muss sich nur entzünden lassen, begeistern lassen und den MUT haben, es nicht nur bei „ich sollte“ oder „ich müsste“ oder „ich könnte“ belassen, sondern es TUN! Wer aber zufrieden ist mit seinem Trabantentum oder seiner Abhängigkeit von anderen, kann da lange auf „Inspiration von Oben“ warten . . .

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Grafikquellen          :

Oben     —        Postkarte von Mailick, „Fröhliche Pfingsten!“

Verfasser Alfred Moritz Mailick (1869–1946)      /       Quelle     :     Postkarte       /   Datum   :  Vor dem 17. Mai 1902

Dieses Werk ist in seinem Ursprungsland und anderen Ländern und Gebieten, in denen die Urheberrechtsfrist das Leben des Autors plus 70 Jahre oder weniger ist, gemeinfrei.


Dieses Werk ist in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, da es vor dem 1. Januar 1927 veröffentlicht (oder beim U.S. Copyright Office registriert) wurde.

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Unten      —       Das Bild des Weltraums, der in ein Schwarzes Loch fällt, hat eine solide mathematische Grundlage, die erstmals 1921 vom Nobelpreisträger Alvar Gullstrand und unabhängig von dem französischen Mathematiker und Politiker Paul Painlevé entdeckt wurde, der 1917 und dann wieder 1925 Premierminister von Frankreich war. Physikalisch beschreibt die Gullstrand-Painlevé-Metrik den Raum, der mit der Newtonschen Fluchtgeschwindigkeit in das Schwarzschild-Schwarze Loch fällt. Außerhalb des Horizonts ist die einfallende Geschwindigkeit geringer als die Lichtgeschwindigkeit. Am Horizont entspricht die einfallende Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit. Und innerhalb des Horizonts übersteigt die einfallende Geschwindigkeit die Lichtgeschwindigkeit. Obwohl sich nichts schneller als die Lichtgeschwindigkeit durch den Weltraum bewegen kann, kann der Raum selbst mit jeder Geschwindigkeit einfallen.

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Erbärmliche Gesten

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Mai 2022

Das deutsche Wesen bedarf endlich einer Genesung

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Beerdigung von Rudolf Duala Manga Bell, gehängt wegen Hochverrats gegen das Deutsche Reich im August 1914.

Von Henning Melber

Deutschland wird von der kolonialen Erblast und der eigenen Gewaltgeschichte eingeholt. Die Urenkelin eines von den Deutschen hingerichteten Justizopfers hält sich gerade in Deutschland auf.

Verdammt seien die Deutschen! Gott! Ich flehe dich an, höre meinen letzten Willen, dass dieser Boden niemals mehr von Deutschen betreten werde!“ Dies waren am 8. August 1914 einem Augenzeugen zufolge die letzten Worte von Rudolf Manga Bell, bevor er gemeinsam mit seinem Vertrauten Adolf Ngoso Din gehängt wurde. Die deutschen Henker benötigten keine Übersetzung. Manga Bell hatte als Spross der kamerunischen Königsfamilie Douala Manga Bell, deren Oberhaupt er 1908 wurde, zwischen 1891 und 1897 die Lateinschule im schwäbischen Aalen, danach das Gymnasium in Ulm besucht und zahlreiche Freundschaften mit Einheimischen geschlossen.

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Rudolf Duala Manga Bell, im August 1914 wegen Hochverrats am Deutschen Reich gehängt.

Das Todesurteil wegen Hochverrats war in einem Pseudo-Verfahren vom Bezirksgericht Duala im „Schutzgebiet“ Kamerun binnen weniger Stunden tags zuvor verhängt worden. Der im wahrsten Sinn kurze Prozess sprach deutscher Rechtsprechung Hohn. Nicht nur basierte die Anklage auf erfundenen Behauptungen. Auch war den prominenten Anwälten der Angeklagten – den sozial­demokratischen Reichstagsabgeordneten Hugo Haase und Paul Levi (auch Anwalt Rosa Luxemburgs) – die Teilnahme am Verfahren verwehrt.

Der Skandal war Teil der kolonialen Willkürherrschaft des deutschen Kaiserreichs in Kamerun. Diese brach die dem Volk der Duala im „Schutzvertrag“ von 1884 gemachten Zusicherungen und beraubte sie ihrer garantierten Existenzgrundlage. Rudolf Manga Bell wurde von den Duala-Gemeinschaften mit der Wahrnehmung deren Interessen beauftragt. Im Unterschied zu den meisten antikolonialen Widerstandsformen jener Zeit vertraute er dem von ihm geschätzten deutschen Rechtssystem. Er verfasste Beschwerdebriefe und Eingaben an staatliche Behörden und den Reichstag und entsandte Adolf Ngoso Din als Emissär nach Deutschland. Im Mai 1914 wurden beide verhaftet. Der Beginn des Ersten Weltkriegs am 28. Juli 2014 verhinderte nicht deren mit einem Scheinprozess bemäntelte Exekution. Der Befund eines Justizmords durch Paul Levi war eindeutig. Inzwischen sind die Fakten auch in der deutschen Öffentlichkeit verbreitet und zugänglich. Sie könnten als Allgemeinwissen gelten – so denn jemand darum wissen möchte.

Aber selbst solches Wissen bedeutet nicht, sich um begangenes Unrecht zu kümmern. Dabei stellt der Koalitionsvertrag der Ampelregierung fest: „Wir wollen koloniale Kontinuitäten überwinden.“ Immerhin wird damit eingeräumt, dass es diese gibt. Sie manifestieren sich auch in der Passivität, koloniales Unrecht da rückgängig zu machen, wo es zumindest als ein symbolischer Akt möglich wäre. Im Falle von Manga Bell und Ngoso Din fragte schon im November 2014 der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele die Bundesregierung, weshalb die beiden Opfer nicht rehabilitiert würden. Damals antwortete Michael Roth als Staatsminister im Auswärtigen Amt, eine entsprechende Forderung der Duala würde es bislang nicht geben – als ob es dieser bedarf.

Seit Beginn dieses Jahres zirkuliert eine Petition, die diese Rehabilitierung fordert. Zu deren Initiatoren gehört mit Prinzessin Marilyn Douala Bell eine Urenkelin und mit Jean-Pierre Félix Eyoum ein Großneffe des Hingerichteten. Letzterer lebt als Lehrer in Deutschland, Prinzessin Marilyn leitet in Kameruns Hauptstadt das Kunstzentrum Doual’art. Sie wurde 2021 mit der Goethe-Medaille „für die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte in Kamerun und für den gesellschaftlichen Dialog über die Auswirkungen des Kolonialismus“ geehrt. Als Gast des Goethe-Instituts hält sie sich die letzte Mai-Woche in Berlin und Hamburg auf.

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Nicht nur Klimawandel – in Schland geht alles immer so weiter, auf der vollgeschissenen, politischen Hühner-Leiter !

Ihren Besuch nahm die Abgeordnete Sevim Dağdelen (Die Linke) die geforderte Rehabilitierung zum Anlass für eine Kleine Anfrage. Die Antwort der Bundesregierung ist ernüchternd. Auf die Frage, ob es, wie seinerzeit von Michael Roth zugesagt, ein Gespräch mit dem Außenminister über den Umgang mit einer Bitte um Entschuldigung und Vergebung gegeben habe, heißt es lapidar: „Nachweise über ein Gespräch im Sinne der Fragestellung sind den vorliegenden Akten nicht zu entnehmen“. Die Bundesregierung bestätigt, dass ihr die Petition und die Rolle von Prinzessin Marilyn bekannt ist. Doch bleibt unter Verweis auf „durchaus sensible Identitätsfragen in den Nachfolgegesellschaften“ eine verbindliche Reaktion dazu aus.

Nach über einem Jahrhundert an Amnesie grenzender Verdrängungsleistung wird Deutschland von der kolonialen Erblast eingeholt. Dazu tragen nicht nur zahlreiche postkoloniale Initia­tiven und afrodeutsche Stimmen bei. Auch an Geschichtsklitterung grenzende größenwahnsinnige Projekte wie das Berliner Humboldt Forum haben eine Diskussion ausgelöst, die für das lange mit Gedächtnisschwund behaftete Kapitel deutscher Gewaltgeschichte in Übersee sensibilisiert.

Quelle        :       TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Wegbereiter des Faschismus

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Mai 2022

Eine Galerie der strikt national denkenden Prominenz und der Brückenbauer nach rechts

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von   :    Johannes Schillo

Das rechte Lager in Deutschland und Europa sortiert sich neu, Zeitenwenden machen es erforderlich.

Doch auch der Neofaschismus kann mit politischem Pluralismus auf seinem Weg, die wahre Einheit von Volk und Führung herzustellen, etwas anfangen.

In den osteuropäischen Ländern werden mit Russlands Angriff auf die Ukraine die Karten neu gemischt. PiS und Fidesz, die im Frühjahr 2021 noch eine engere Zusammenarbeit unter Einschluss der italienischen Lega vereinbarten – angestossen durch Orbans Initiative für ein politisches Bündnis rechtsgerichteter Parteien auf europäischer Ebene –, sind nicht mehr auf derselben Linie. In Frankreich trat bei den Präsidentschaftswahlen der Rechtsradikalismus gleich damit an, dass er eine gemässigte (Le Pen) und eine geschärfte Variante (Zemmour) bot.

Im Wahlkampf stand dabei die Migrationsfrage im Vordergrund, während dies bei der AfD in Deutschland momentan nicht das vorrangige Aufregerthema ist. Mit dem Krieg im Osten hat die deutsche Willkommenskultur ein neues, militant-patriotisches Gesicht bekommen (siehe „Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik“ – und Putin-Nähe ihre Attraktivität eingebüsst. So macht sich rechts eine gewisse Verunsicherung breit. Im Landtagswahlkampf NRW tritt die AfD z.B dafür ein, dass die Inflation bekämpft wird, und stellt als ihr Alleinstellungsmerkmal heraus: „Die einzige Partei ohne Gender-Ideologie“. Auf Bundesebene benennt sie als drängendes Problem: „Bundestag endlich deutlich verkleinern!“

Unabhängig von den aktuellen Problemen der politischen Positionierung ist aber der rechtsradikale Aufbruch, der mittlerweile auch mit einigem intellektuellen und publizistischen Aufwand betrieben wird (siehe: „Scharf rechts – Ideologieproduktion aus dem Geist des nationalen Mainstreams“, nicht zum Stillstand gekommen.

Von Thilo Sarrazin (Ex-SPD) bis Jürgen Elsässer (Ex-Konkret) ist etwa ein breites Spektrum auffälliger Figuren hervorgetreten, die sich selbst und ihr Publikum nicht am rechten Rand verorten, sondern sich aus der Mitte der Gesellschaft heraus oder quer zum Links-Rechts-Schema zu Wort melden wollen. Protagonisten dieses Rechtstrends widmet sich eine neue Schriftenreihe des Argument-Verlags (Hamburg), in der Klaus Weber und Wolfgang Veiglhuber Ende 2021 und Anfang 2022 die ersten Bände vorgelegt haben.

„Gestalten der Faschisierung“

„Gestalten der Faschisierung“ nennt sich die Reihe, die als Leitfrage formuliert: „Wie erkennen wir, was einem neuen Faschismus Vorschub leistet?“ Dazu müsse man, so die Herausgeber, die aus Hochschule und gewerkschaftlicher Bildungsarbeit stammen, das „Zusammenspiel von ökonomischen, juristischen, kulturellen und weiteren materiellen wie ideologischen Faktoren“ untersuchen“. Herausgebern und Autoren geht es dabei um die konkreten Personen, die an der Etablierung eines neuen faschistischen Diskurses mitwirken und für dessen Anerkennung in bürgerlichen Kreisen, aber auch im Arbeitermilieu sorgen. Die Reihe will dazu aktuelle Tendenzen und aktive Ideologen aus Philosophie, Literatur und Politik unter die Lupe nehmen.

Konkret sind das bislang der Philosoph Peter Sloterdijk und die Linksparteipolitikerin Sahra Wagenknecht, mit denen sich die ersten beiden Bände befassen (eine Auseinandersetzung mit den Positionen des AfD-Politikers Björn Höcke soll folgen). Mit Sloterdijk ist ein Autor im Visier, der nicht in einer rechten Subkultur wirkt, der vielmehr als neues Aushängeschild der Suhrkamp-Kultur fungiert und im Wissenschaftsbetrieb anerkannt ist. Die vorgelegte Kritik zielt auf seinen „Herrschaftszynismus“, auf sein Opus als Lieferant von „Chiffren der Gegenaufklärung“. „Was gezeigt werden soll: wie Sloterdijk das verhöhnt, zersetzt und zerstört, was historische, soziale, psychologische Erkenntnisse und Forschung erbracht haben, zugunsten einer Philosophie willkürlicher Analogieschlüsse, die geeignet ist, für den aufkommenden Faschismus eine tragfähige theoretische Grundlage zu liefern.“ (Weber)

Wagenknecht zählt dagegen als linke Ausnahmegestalt zur hiesigen Talk-Show-Prominenz, findet bzw. sucht in gewerkschaftlichen Kreisen oder bei den legendären kleinen Leuten Anklang und erfährt gleichzeitig von Konservativen Zuspruch. Dass sie keine „Faschistin“ ist, halten die Autoren des Argument-Bandes ausdrücklich fest. Doch sie baue Brücken ins neofaschistische Lager, wobei sie ihren ehemaligen antikapitalistischen Standpunkt gegen eine Bewunderung der sozialen Marktwirtschaft eingetauscht habe und heutzutage idealistisch-konservatives bis reaktionäres Gedankengut kultiviere.

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Die Autoren nennen hier – festgemacht an Wagenknechts letzter Veröffentlichung „Die Selbstgerechten“ (2021) – vor allem: Naturalisierung von Gesellschaftsformen und ökonomischen Verhältnissen, Negation historisch-spezifischer Bestimmungen zugunsten einer konservativen Wertorientierung, Identitätstheorien, die auf Nation und Tradition fokussieren, volksgemeinschaftliche Idealisierung der Klassengesellschaft.

Neofaschistische Leitbilder

Weber greift die „Salonfaschisten“ Sloterdijk und Marc Jongen an. Bei Jongen handelt es sich gewissermassen um den „Partei-Philosophen“ der AfD, der nach einer wissenschaftlichen Karriere als Mitarbeiter und Promovend Sloterdijks an der Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe, in die Landespolitik Baden-Württemberg einstieg und 2017 als MdB in den Bundestag wechselte. Jongen knüpft an die „Thymos-Theorie“ Sloterdijks aus dessen Buch „Zorn und Zeit“ (2006) an.

Das Opus wollte die griechische Vokabel vom Thymos, die so viel wie kämpferischer Eifer, Zorn bedeutet, zu einem Zentralbegriff der abendländischen Philosophie stilisieren. Dabei hatte das Aufblasen einer trivialen Kategorie zu einer prominenten Denkfigur, so Weber, eine klare Stossrichtung: „Bewiesen soll werden, dass Kampf, Krieg und Heldentum notwendig sind, um die demokratischen und … verweichlichenden Strukturen von Friedensliebe, Zärtlichkeit und Solidarität mit Schwächeren und Ausgebeuteten zu denunzieren bzw. überflüssig werden zu lassen.“ (Nr. 1, S. 125ff)

Jongen hat diesen Ansatz seines Lehrers übernommen. Das „Thymotische“ soll nach seiner Auffassung zu einem „Schlüsselbegriff der politischen Theorie“ ausgebaut werden, der auf „die Kämpfe um Macht und Anerkennung“ fokussiert. Es geht ihm hierbei um die Aufwertung der „Regungen des Stolzes, des Zorns, des Mutes bis hin zum Hass“, die in der philosophischen Tradition, im Denken der Aufklärung, bislang vernachlässigt worden seien. Gegen die Wertschätzung der Ratio wird damit, so Webers Fazit, ein „neofaschistisches Wording“ gesetzt. „Kampf, Krieg, Männlichkeit, Stolz, Ehre und Zorn“ seien die neuen Leitlinien, die den Thymos als „Containerbegriff der neuen Nazis“ qualifizieren.

Die veränderte politische Lage, die mit dem 24. Februar 2022 eingetreten ist, hat hier natürlich einige Klarstellungen erbracht: Seit dem heldenhaften Kampf des ukrainischen Militärs und dem Volkswiderstand, der mit „Bandera-Smoothies“ und Sabotageakten agiert, gelten „Kampf, Krieg und Heldentum“ in den deutschen Mainstream-Medien als Selbstverständlichkeit. Dafür braucht man keine Aussagen aus der rechten Subkultur mehr zu bemühen – in der sich natürlich Neonazis gleich praktisch für den Kampf begeistern, während aus der AfD gelegentlich Stimmen kommen, die einen letzten Rest von Nachdenklichkeit beisteuern! „Friedensliebe“ hat in Deutschland offiziell ausgedient. Die SPD muss ihre angebliche Friedfertigkeit aus den letzten Jahren als Skandal aufarbeiten.

Pazifismus gilt als „zynisch“ (Kanzler Scholz) oder bestenfalls als „ein ferner Traum“ (Habeck), den man keinesfalls gegen die herrschende Politik in Stellung bringen darf, sonst entlarvt man sich als „fünfte Kolonne Putins“ (Graf Lambsdorff). Und dass der Tod fürs Vaterland – wahlweise für „unsere“ Werte – süss und ehrenvoll ist, erfährt man heutzutage aus blumigen Reden der grünen Aussenministerin (siehe: „Baerbock vor UNO: Friedensrede für mehr Krieg“.

Das entwertet aber nicht Webers Kritik. Es zeigt nur, dass sich demokratische Frontbildung, Feindbildpflege und Kriegsbegeisterung ohne Weiteres bei faschistischen Traditionen bedienen können und dass es dafür keines Aufstiegs rechter Parteien bedarf. Dieser Sachverhalt bildet ja auch den Einstieg der Analysen in Webers erstem Band. Er beginnt nämlich mit dem Nazi-Philosophen Martin Heidegger, der als Musterbeispiel dafür genommen wird, wie man Philosophie faschisiert.

Heidegger konnte nach 1945 in Westdeutschland – nach einer kurzen, eher symbolischen Auszeit – sein Wirken ungestört fortsetzen und eine massgebliche Rolle im Wissenschaftsbetrieb wie im allgemeinen Geistesleben spielen (siehe „Der Fall Heidegger“. Dass unser aller Dasein als „Sein zum Tode“ bestimmt und „das Opfer heimisch im Wesen des Ereignisses (ist), als welches das Sein den Menschen für die Wahrheit des Seins in Anspruch nimmt“ (so Heidegger in seiner Metaphysik), muss man also als Gebildeter sowieso wissen. Der Fall Sloterdijk stellt insofern nur die Spitze eines Eisbergs dar.

In Band 2 geht es am Fall Wagenknecht um eine Politikerin, die mit der aktuellen militärischen Entwicklung ebenfalls einen gewissen Rollenwechsel erlebt (und weniger vollzogen) hat. Sie knüpft bei ihren Statements zum Ukraine-Krieg an das sozialdemokratische Ideal einer europäischen Friedfertigkeit an, das die SPD gerade verabschiedet hat, und positioniert sich so ziemlich weit links. Das liegt aber nicht an der Position selber, sondern daran, dass in der BRD zur Zeit eine Kriegspropaganda hochgefahren wird, die jeden ernsthaft vorgetragenen Friedenswunsch – wie in den besten Zeiten des Kalten Kriegs – als Werk einer „fünften Kolonne“ des Feindes denunziert. Und die (derzeitige) Abstandnahme Wagenknechts vom Kurs der massiven Aufrüstung und Kriegsbereitschaft nimmt auch nichts von dem zurück, was etwa Veiglhuber als Kritik an ihrem Nationalismus ausführt.

Veiglhuber macht seine Einwände exemplarisch mit einem Exkurs zur Kriegspolitik der SPD deutlich, der bis zum Jahr 1914 zurückgeht. Wie sich zeigt, steht Wagenknecht, die ja auf die Politik der guten alten SPD in der Vor-Globalisierungs-Ära zurückgreifen will, genau in der Tradition, die seinerzeit aus der Arbeiterbewegung eine nationale Ressource (und sie damit letztlich für imperialistische Kriegsdienste nutzbar) machen wollte und dies auch gegen geringe innerparteiliche Widerstände – Rosa Luxemburg und ihre Anhänger – durchsetzte.

Die praktische Politik der SPD vor 1914 bereitete gerade den Weg zur nationalen Vereinnahmung, sie „konzentrierte sich auf die Erkämpfung der demokratischen Republik, um mit entsprechenden Mehrheiten bei demokratischen Wahlen Veränderungen in Staat und Gesellschaft herbeizuführen. Etabliert werden sollte eine den Arbeitern wohlgesonnene Staatsgewalt.“ (Nr. 2, S. 249) Dies schloss selbstverständlich ein – was die blitzschnelle Kehrtwende der SPD im August 1914 dann ratifizierte –, dass man sich mit dem nationalen Kriegswillen zu identifizieren hatte.

In diesem Sinne hält auch der Schluss von Veiglhubers Analyse fest, dass Wagenknecht für ihre Art des Brückenbauens kein Urheberrecht hat. Die Kritik des Autors macht vielmehr deutlich, dass „die Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung viele Beispiele bereithält, anhand deren die Sehnsucht nach ‚nationaler Identität‘ – mit dem entsprechenden Schaden für die Lohnabhängigen im Gefolge – nachgewiesen werden kann.“ (Nr. 2, S. 257)

Reihe „gestalten der faschisierung“. Hamburg, Argument-Verlag (argument.de).

Nr. 1: Klaus Weber (Hg.), Sloterdijk – aristokratisches Mittelmass & zynische Dekadenz. 2021, 175 S.

Nr. 2: Wolfgang Veiglhuber/Klaus Weber (Hg.), Wagenknecht – nationale Sitten & Schicksalsgemeinschaft. 2022, 285 S.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben     —    Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk liest aus seinem Buch Du mußt dein Leben ändern.

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Der Verlag Edition Tiamat

Erstellt von DL-Redaktion am 18. April 2022

„Natürlich wollte ich der Radikalste von allen sein“

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Das Interview mit Klaus Bittermann führte  ULRICH GUTMAIR

In der Schule musste er noch strammstehen. Dann kam auch in Franken die Studentenbewegung von 1968 an. Klaus Bittermann, eben noch Ministrant,las nun Marx. In seinem Verlag Edition Tiamat veröffentlicht er bis heute Bücher, die zum Dissens einladen. Ein Gespräch über Gesinnung von der Stange, Designeranzüge und Kritik als Entschlüsselung der Wirklichkeit.

taz am wochenende: Herr Bittermann, sie sind gerade 70 Jahre alt geworden, soeben wurde Ihrer Edition Tiamat der Deutsche Verlagspreis verliehen. Seit über 40 Jahren verlegen Sie Bücher, über die sich viele freuen und manche aufregen. Warum diese ungebändigte Streitlust?

Klaus Bittermann: Ohne Dissens, wenn alle sich gegenseitig auf die Schulter klopfen, wird es sehr schnell öde. Erkenntnis lässt sich doch nur in der Reibung mit anderen gewinnen. Aber eigentlich bin ich sehr friedlich, manche sagen sogar harmoniesüchtig.

Sie wurden im oberfränkischen Kulmbach geboren. Sie kommen aus einer kleinbürgerlichen Familie, waren Ministrant. Wie wurden Sie politisiert?

Da hatte ich einfach großes Glück, denn auch an Kulmbach ist 68 nicht spurlos vorübergezogen. 1967 habe ich noch mit Thomas Gottschalk ministriert, aber in der Schule gab es zum Glück ein paar Leute, die mich vom rechten Weg abgebracht haben. Es gab da den lupenreinen Marxisten-Leninisten, der für mich die vierbändige Fischer-Taschenbuchausgabe der Schriften von Marx-Engels in der örtlichen Buchhandlung klaute, um mich mit der richtigen Lektüre bekannt zu machen. Es gab den Maoisten, der immer im hellbraunen Lederjackett auftrat und mit der kleinen roten Fibel herumwedelte. Es gab den Reichianer, der Sex-Pol-Arbeit machte. Es gab die Kiffer und den Dylanologen. Getrunken haben sie alle bis zum Abwinken. Das war eine Szene, durch die ich für immer für diese damals ja stockreaktionäre Kleinstadt verdorben war.

Sie sind dann nach Nürnberg umgezogen. Dort galten Sie der Polizei als gefährliches Subjekt und wurden observiert. Waren Sie so radikal, oder war die Exekutive so hysterisch?

Natürlich wollte ich damals der Radikalste von allen sein, der ich jedoch nicht war. Durch die Polizei wurde ich in dieser Annahme aber bestärkt, das heißt sie spiegelte mir meine angebliche Gefährlichkeit. Im Nachhinein war das alles sehr lächerlich. Dazu muss man wissen, dass in Nürnberg die höchste Polizeidichte in der Republik herrschte. Man war da vermutlich unterbeschäftigt und hatte nichts Besseres zu tun, als ein paar Jugendliche, die ein bisschen renitent waren, wie Terroristen zu behandeln. Sie erinnern sich vielleicht noch an die KOMM-Ereignisse 1981. Im selbstverwalteten Kommunikationszentrum gab es eine Veranstaltung und eine anschließende kleine Spontandemonstration von vielleicht hundert Leuten, bei der drei Scheiben zu Bruch gingen. In Berlin hätte niemand davon Notiz genommen, da passierte das jeden Tag. In Nürnberg wurde das Gelände des Zentrums, in das sich die Demonstranten zurückgezogen hatten, von einer riesigen Polizeistreitmacht umzingelt, alle anwesenden Personen – so an die 150 Leute – verhaftet und ihnen wurde der Prozess gemacht. Die Nürnberger Justiz bewies dabei großes Fingerspitzengefühl: Die Urteile ergingen im selben Raum des Justizgebäudes, in dem schon die Nürnberger Prozesse stattgefunden hatten. Das hat bundesweit für Schlagzeilen gesorgt, aber Nürnberg ließ sich nicht beirren. Höchste Zeit für mich, nach Berlin zu gehen.

Für 1968 waren Sie etwas zu jung, für Punk ein paar Jahre zu alt. Was hat Sie geprägt?

Ich hatte noch richtige Nazis als Lehrer, bei denen man strammstehen musste, während der Lehrer unsere Körperhaltung mit dem Spruch kommentierte: Die Weide biegt sich, die Eiche aber bricht. Er wollte natürlich lauter Eichen als Schüler. Später war ich kurz mal in der Schwarzen Hilfe und besuchte jugendliche Gefangene in den gut gefüllten Haftanstalten. Ich wurde auf der Suche nach etwas völlig Neuem bei den Situationisten fündig, studierte die Bücher von Raoul Vaneigem und Guy Debord, dessen Hauptwerk „Die Gesellschaft des Spektakels“ später bei mir erschienen ist. Ich entdeckte Dada und den Surrealismus und den Anarchismus des Spanischen Bürgerkriegs. Punk stand ich zunächst skeptisch gegenüber, war dann aber total begeistert und veröffentlichte später das Standardwerk über die Sex Pistols von Jon Savage, „England’s Dreaming“.

Das ist längst nicht der einzige von Ihnen verlegte Titel, der Aufmerksamkeit erregt hat.

Ja, da war auch Hannah Arendt zum Beispiel, als sie noch nicht Liebling des Feuilletons war, mit ihren Essays über die Lager und den Nationalsozialismus. Dann natürlich die Bücher von Wiglaf Droste, mit dem mich eine lange Freundschaft verbunden hat. Ich war auch der erste Verleger von Roger Willemsen und habe die „vergeigten“ Memoiren von Harry Rowohlt herausgebracht, der erste Bestseller des Verlags. Nicht zu vergessen die Bücher des Pop-Theoretikers Mark Fisher. Auf das bereits 1951 in Frankreich erschienene Standardwerk über den Genozid an den Juden von Léon Poliakov, das 70 Jahre später bei Tiamat erschienen ist, bin ich besonders stolz.

Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ ist eines der originellsten und wirkmächtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Haben Sie in jüngerer Zeit mal wieder reingelesen? Alt werden, schreibt Debord da zum Beispiel, sei in dieser Gesellschaft verboten.

Da hat er recht. Früher war es der Hass auf die Jugend, der die Alten jung gehalten hat, heute ist es die Aussicht auf das ewige Leben. Aber jeder Jungbrunnen versiegt irgendwann, und wenn man dann sozial benachteiligt ist, wird man „verräumt“. Nicht schön.

Man kennt Sie nur im Anzug, manchmal kombiniert mit Turnschuhen. Wann und wieso haben Sie sich für das Tragen der bürgerlichen Uniform entschieden?

Bürgerliche Uniform würde ich nicht sagen. So Ende der Achtziger oder Anfang der Neunziger dürfte es gewesen sein, als mich der alternative Einheitslook zu nerven begann, der immer mehr zum Mainstream wurde. Vor allem in Berlin, wo möglichst verwahrlost und prollig herumzulaufen schon immer zum bevorzugten Outfit gehörte. Eine Zeit lang trug ich einen weißen Anzug von Armani, den ich in Mailand gekauft hatte. Meistens waren es aber Secondhand-Anzüge, aber von Designern. In Kreuzberg fiel das kaum jemandem auf.

Vor einem Vierteljahrhundert haben Sie mit Gerhard Henschel das „Wörterbuch des Gutmenschen“ herausgegeben, um die moralisierende „Schaumsprache“ eines protestantisch-linksliberalen Milieus zu kritisieren. Inzwischen ist der Vorwurf, jemand sei ein „Gutmensch“, zum billigen Mittel von Rechten geworden, jede Idee von emanzipatorischer Radikalität zu denunzieren. Bereuen Sie Ihre Intervention heute?

Nein. Und zwar aus verschiedenen Gründen. Damals, also Anfang der Neunziger gaben die Gutmenschen tatsächlich den Ton an, und damit meine ich solche Autoren wie Martin Walser, Matthias Horx, Hans-Eberhard Richter, Wolfgang Thierse, die mit einer Schmierfilmsprache das angeblich Gute im Menschen suchten und priesen. Empfindsame und geduldige Menschen, die intensiv spüren, was von außen auf sie einwirkt, die sich aktiv um das Leben kümmern, die sich Sorgen um andere Menschen machen. So ähnlich jedenfalls lautete die Selbstdarstellung von Hans-Eberhard Richter. Es war kaum zum Aushalten.

Was hat Sie daran aufgeregt?

Dass es sich dabei um Gesinnung von der Stange handelte, um das „Wort zum Sonntag“. Es ging um Vokabeln wie „ein Stück Versöhnung“, „Glaubwürdigkeit“, „gerade wir als Deutsche“, „verkrustete Strukturen aufbrechen“, „Versöhnung“, „Brücken bauen“. Wir haben da klassische Sprachkritik betrieben, diese Begriffe in ihrem Bedeutungszusammenhang seziert, und herausgearbeitet, wie inhaltsleer diese Sprache ist. Ich finde das nach wie vor richtig, denn die Kritik wird nicht falsch dadurch, dass die Rechten sie goutiert haben oder sogar versuchten, sie zu imitieren.

Das gelingt denen nur selten, weil’ s dann doch an Humor fehlt.

Nicht nur an Humor, sondern auch an Können. Der ehemalige Konkret-Herausgeber Klaus-Rainer Röhl hat sich da als Trittbrettfahrer versucht, aber was er zustande gebracht hat, war ziemlich erbärmlich. Das Entscheidende an den Einwänden gegen Henschel und mich als Herausgeber war, dass wir den Rechten quasi den Weg geebnet haben. Aber an diesem Problem sind doch nicht diejenigen schuld, die die Gutmenschen kritisiert haben, sondern immer noch die Gutmenschen selbst, die alles dafür getan haben, dass „jede Idee von emanzipatorischer Radikalität denunziert wird“, wie Sie es ausgedrückt haben. Was ich im Übrigen bezweifle, denn wenn es sich wirklich um eine solche handelt, dann funktioniert das nicht mit dem Denunzieren.

Sie haben auf die Vorwürfe reagiert und noch ein Buch nachgelegt.

Genau. Mit Wiglaf Droste zusammen habe ich einen zweiten Band des „Wörterbuchs des Gutmenschen“ herausgegeben, in dem explizit die Schaumsprache der Rechten analysiert wurde anhand von Begriffen wie „dem Ansehen Deutschlands schaden“, „linke Lebenslügen“, „mit Nazis reden“ und so weiter.

Vor ein paar Jahren haben Sie begonnen, eine Gesamtausgabe der Werke des Sozialwissenschaftlers Wolfgang Pohrt herauszugeben. Und Sie haben eine Pohrt-Biografie geschrieben, die vor Kurzem erschienen ist. Pohrt hat in der taz die nationalistischen Tendenzen der Friedensbewegung kritisiert. Das kam weder in der Redaktion noch bei der Leserschaft gut an.

Quelle       :        TAZ-online           >>>>>            weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben          —   Karl Marx, Der Prophet

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Sagt alle Nein zum Krieg

Erstellt von DL-Redaktion am 27. März 2022

Wolfgang Borchert: Dann gibt es nur eins! Sag NEIN!

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Dieter Braeg

F rauen und Männer an den Maschinen in Werkstätten. Wenn sie euch befehlen Rüstungsgüter zu produzieren, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN!

Menschen wo immer ihr eure Arbeitskraft verkauft, wenn sie euch morgen befehlen ihr sollt Waffen produzieren, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN!

Kapitalistinnen und Kapitalisten, wenn sie euch befehlen, ihr sollt statt Lebensmitteln, Waffen samt Zubehör verkaufen, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN!

Forscherin Forscher in allen Instituten dieser Welt. Wenn sie Euch morgen befehlen, ihr sollt noch brutalere Mordwaffen um Leben zu zerstören, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN!

Dichterinnen Dichter, MeinungsmacherinnenMeinungsmacher, wenn Sie euch zwingen statt Frieden

den Krieg zu begründen, wenn die euch befehlen Hass und Totschlagtexte zu verkünden, dann gibt es

nur eins:

Sagt NEIN!

Ihr, die ihr die Kranken gesund macht, verweigert es Menschen kriegstauglich zu schreiben:

Sagt NEIN!

Verkünderinnen Verkünder aller Religionen. Wenn sie euch morgen befehlen, ihr sollt den Mord segnen und den Krieg heilig sprechen, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN!

Ihr, die ihr für Logistik verantwortlich seid. Wenn sie euch befehlen, ihr sollt keine Lebensmittel

mehr fahren – sondern Kanonen und Panzer, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN!

Pilotinnen und Piloten auf dem Flugfeld. Wenn sie euch befehlen, ihr sollst Bomben und Phosphor

über die Städte tragen, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN!

Politikerinnen und Politiker beschließt keinen Krieg und Gelder oder Kredite für Mordwaffen, mit

denen Soldatinnen und Soldaten zu Mördern werden: Seid für Freihe Gleichheit und Brüderliochkeit

zu allem anderen:

Sag NEIN!

ihr Frauen und Männer die in den Gerichten Recht sprechen. Wenn sie euch morgen befehlen, ihr sollst zum Kriegsgericht gehen, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN!

Arbeitende bei der Bahn. Wenn sie euch morgen befehlen, ihr sollt das Signal zur Abfahrt geben für den Munitionszug und für den Truppentransporte, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN!

Ihr Menschen auf dem Dorf und in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und euch den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN!

Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine und Moskau, du, Mutter in Frisko und London, du am Hoangho und am Missisippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo – Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Mörder für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!

Borchert-Mahnmal (E.A.Nönnecke) Hamburg-Eppendorf (2).jpg

Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn WIR alle nicht nein sagen, dann:
In den lärmenden dampfdunstigen Hafenstädten werden die großen Schiffe stöhnend verstummen und wie titanische Mammutkadaver wasserleichig träge gegen die toten vereinsamten Kaimauern schwanken, algen-, tang- und muschelüberwest, den früher so schimmernden dröhnenden Leib, friedhöflich fischfaulig duftend, mürbe, siech, gestorben –
die Straßenbahnen werden wie sinnlose glanzlose glasäugige Käfige blöde verbeult und abgeblättert neben den verwirrten Stahlskeletten der Drähte und Gleise liegen, hinter morschen dachdurchlöcherten Schuppen, in verlorenen kraterzerrissenen Straßen –

eine schlammgraue dickbreiige bleierne Stille wird sich heranwälzen, gefräßig, wachsend, wird anwachsen in den Schulen und Universitäten und Schauspielhäusern, auf Sport- und Kinderspielplätzen, grausig und gierig unaufhaltsam –
der sonnige saftige Wein wird an den verfallenen Hängen verfaulen, der Reis wird in der verdorrten Erde vertrocknen, die Kartoffel wird auf den brachliegenden Äckern erfrieren und die Kühe werden ihre totsteifen Beine wie umgekippte Melkschemel in den Himmel strecken –

in den Instituten werden die genialen Erfindungen der großen Ärzte sauer werden, verrotten, pilzig verschimmeln –
in den Küchen, Kammern und Kellern, in den Kühlhäusern und Speichern werden die letzten Säcke Mehl, die letzten Gläser Erdbeeren, Kürbis und Kirschsaft verkommen – das Brot unter den umgestürzten Tischen und auf zersplitterten Tellern wird grün werden und die ausgelaufene Butter wird stinken wie Schmierseife, das Korn auf den Feldern wird neben verrosteten Pflügen hingesunken sein wie ein erschlagenes Heer und die qualmenden Ziegelschornsteine, die Essen und die Schlote der stampfenden Fabriken werden, vom ewigen Gras zugedeckt, zerbröckeln – zerbröckeln – zerbröckeln –

dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend – und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch –

all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute Nacht wenn — wenn ihr nicht NEIN sagt.

Deutsche Militärseelsorger während einer Trauerfeier bei der ISAF.jpg

Mit ihren Kreuzen vor der Brust – ermuntern sie den Mördern zur Lust!

Dieses Gedicht, verdrängt und vergessen wie sein Dichter

Wolfgang Borchert, habe ich ein wenig im ersten Teil der

heutigen Wirklichkeit angepasst. Im Dschungel der

vergifteten Medienküche sollte es mahnen. Dort wo Krieg

ist, wird kein Mensch überleben. Egal ob er

rotschwarzgrünodergelb ist.

Urheberrecht
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Oben       —   Grab des Schriftstellers Wolfgang Borchert auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg.

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Linkes Nichtwissen wollen

Erstellt von DL-Redaktion am 21. März 2022

Linke Putin-Versteher-Innen

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Von   :  Barbara Kerneck

Die Vorfahren unserer Autorin wurden als Sozialdemokraten von den Nazis verfolgt. Für linke Apologeten des Putin-Regimes hat sie kein Verständnis.

Als „CIA-Agentin“ beschimpft wurde ich zum ersten Mal 2016 vom Hausherren einer Berliner Geburtstagsparty, deren Gäste die Partei Die Linke sympathisch fanden. Auf seine Frage, ob sich „Russland“ durch die Nato-Osterweiterung nicht bedroht fühlen müsse, hatte ich geantwortet: „Nein, Putin will sowieso Krieg.“

Dieser Hausherr erklärte gern: „Ich habe eine besondere Beziehung zu Russland – mein Vater war nämlich Kommunist.“ Nun verwechselte ich zwar nie Russland mit Putins Regime, aber meine Vorfahren waren auch links. Zu einer Zeit, als dies Konsequenzen hatte. Da war mein Großvater Otto, Glasarbeiter in Jena, erst in der USPD, später linker Sozialdemokrat. Als solcher landete er im „Dritten Reich“ für einige Jahre im KZ Sachsenburg. Er überlebte.

Mein Vater absolvierte ein Sportgymnasium. Derart trainiert, lieferten er und seine sozialdemokratischen Freunde sich nach dem Abitur Saalschlachten mit Nazis. Nach Hitlers Machtergreifung verhaftete man ihn mehrmals. Er jobbte und wechselte möglichst oft seinen Aufenthaltsort. Diesem Dasein setzte erst der Einberufungsbefehl ein Ende. An der Front rechnete er sich größere Überlebenschancen aus als in einem KZ.

„Glaube nie, wenn dir ältere Leute erzählen, sie hätten von den KZ nichts gewusst. Natürlich – das Ausmaß und die Zahlen, das nicht. Aber wer von ihrer Existenz nichts wusste, der wollte einfach nichts wissen“, schärften mir meine Eltern ein. Sie erkannten einen Faschisten, wenn sie ihm begegneten. Putin hätten sie sofort identifiziert. Schon 1993 bezeichnete der vor deutschen Geschäftsleuten den chilenischen General Pinochet als Vorbild, wenn es darum gehe, durch Gewalt das Privateigentum zu schützen. Bis heute hat er dabei vor allem sein eigenes im Auge.

Wenn er die Ukraine als faschistischen Staat verleumdet und ein „Entnazifizierungsprogramm“ fordert, vergisst Putin den großen Satiriker Nikolai Gogol. In der Ukraine geboren und in Russland zweisprachig publizierend, setzte der seiner Korruptionskomödie „Der Revisor“ (1836) ein in beiden Ländern bekanntes Sprichwort voran: „Schimpf nicht auf den Spiegel, wenn er dir eine schiefe Fratze zeigt!“

Lippenbekenntnis zur Demokratie

Dass Putin neue Kriege anstrebt, diesen Verdacht schöpfte ich schon 2003 bei den Recherchen zu meinem Buch „Russlands Blick auf Nato und EU“. Etwa bei einer in Zeitungen gedruckten Rede vor Geheimdienstkolleg-innen. Bei aller Anbiederung im Ausland blieb in diesen Kreisen der Westen das Böse und die Nato der Feind. Vom Kreml geförderte ultrarechte Parteien entwarfen damals öffentlich die später realisierten Drehbücher für die Kämpfe in Georgien und auf der Krim.

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In allen Parteien wuchsen schon immer den Schmeißfliegen die größten Flügel!

Zum Präsidenten gewählt wurde Putin 2000 auf den Flügeln einer von ihm entfachten Kriegshysterie gegen ein kleines, stolzes Volk innerhalb der Russischen Föderation. Der brutale Zweite Tschetschenienkrieg war die Blaupause für den heutigen in der Ukraine und dauerte schon zwei Jahre, als die Abgeordneten im Deutschen Bundestag Putin im Jahre 2001 mit Standing Ovations empfingen. Er lieferte dort ein Lippenbekenntnis zur Demokratie ab. Manche Linke und SPDler entblöden sich bis heute nicht, diesen Moment als „verpasste Chance für Deutschland“ zu bezeichnen.

Eine herbe Enttäuschung für meinen Vater war 1938 das Münchner Abkommen gewesen, als das Vereinigte Königreich, Italien und Frankreich das bis dato tschechoslowakische Sudetenland Nazideutschland zugeschustert hatten, um unseren Tyrannen von einem großen Krieg abzuhalten. Wir kennen den Erfolg. Dank ähnlicher Hoffnungen hielt sich Europa zurück, als das Putin-Regime vor acht Jahren die Ukraine überfiel.

Unmittelbar nach der Krim-Annexion sprach ich den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck im Foyer des Deutsch-Russischen Forums an: „Sie begeben sich in sehr gefährliche Gesellschaft!“ Er lächelte: „Ich glaube, Sie übertreiben ein wenig!“ Unter seinem Vorsitz verwandelte sich dieser vorwiegend aus Politik- und Wirtschaftsvertretern gebildete Verein in ein Werbeforum für Putins Clique.

Quelle      :           TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Putin ist mörderisch.

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Die Natur schonen

Erstellt von DL-Redaktion am 11. März 2022

Wir haben nur diese eine Welt

Von ; Jimmy Bulanik

Bereits in der Zeit der Corona Pandemie sind die Preise für alle Bereiche des Lebens gestiegen. Dies betrifft mittels der Lieferproblematik die Weltwirtschaft. Es gibt für alle nur eine Welt.

Darum geht es die Schätze der Natur zu schonen. Sich Zeit nehmen um zu nachzudenken wie alle von uns bewusst konsumieren können. Das was an Verpackung nicht benötigt wird, im Lebensmittelgeschäft lassen beispielsweise.

Bedarfsgerechte Mengen einkaufen. Die Heizung um eine Stufe runter drehen. Europa und die Europäische Union ist ein Raum indem die Kraftfahrzeuge bevorzugt werden.

Vermehrt den öffentlichen Verkehr nutzen. Für jene bei denen welche das Kraftfahrzeug aus geografischen Gründen unverzichtbar ist können Hinweise gegeben werden. Das bilden von Fahrgemeinschaften.

Ein Kraftfahrzeug indem lediglich eine Person sich befindet muss nicht der Fall bleiben. Es kostet keinen Cent bei der Tankstelle den richtigen Reifendruck einzustellen. Während der Fahrt richtig Schalten.

Auch ist es für jene sinnvoll einen Kraftstoff zu verwenden welche eine hohe Oktanzahl zu tanken. Bei Fahrten auf der Autobahn langsamer fahren als zuvor. Dies vermindert den Verbrauch. Die Klimaanlage während der gesamten Fahrt ausgeschaltet zu lassen.

Das vermindert auch die Gefahr von Autounfällen. Ob in der Stadt, auf dem Land oder auf der Autobahn. Kommuniziert proaktiv mit euren MdL, MdB das der öffentliche Verkehr erheblich gefördert werden muss.

Diese Welt teilen wir miteinander

Innerhalb eines Ortes das Fahrrad bevorzugen. Es gibt keine ökologischere Form der Fortbewegung. Das Fahrrad ist geeignet zu sein die Gesundheit eines Menschen zu erheben.

In einer Wohnung können wir eine warme Decke, Wärmflasche verwenden um die Kosten für die Energie im Haushalt zu reduzieren. Gemeinsam in Eintracht sind die Menschen wirkungsvoll.

Die Menschen sind gut beraten sich der Macht des eignen Verbrauches bewusst zu sein. So auch in der Ernährung. Die vegetarische Kost ist gut für die Gesundheit eines jeden Menschen.

Strom für Spiele an der EDV vermeiden. Die Zeit kann auch pädagogisch wertvoll verbracht werden gemeinsam angenehme Lieder zu singen. In einer Gesellschaft ein Buch zirkulieren lassen, worin alle mal lesen und zuhören.

Skulptur Masurenallee 16 (Westend) Sandmann&Thomas Lindner&2019.jpg

Dabei werden die Menschen von negativen Informationen und Reizen verschont. Das fördert die geistige Hygiene. Bekömmlichen Bio und Fairtrade Tee trinken welchen bedingt durch die Wärme den Körper relaxiert.

Die Ressourcen können auch geschont werden, indem die Nutzerinnen und Nutzer des Internet auf einer Webseite wie YouTube die Auflösung von 1080 Pixel auf 480 Pixel reduziert. Die Nutzerinnen und Nutzer von internetfähigen Mobilfunktelefonen die Helligkeit des Display auf die Mitte setzt. Geräte welche an der Steckdose aufgeladen werden müssen, dies in der Schwachlastzeit vorzunehmen.

„Der eigene gute Wille ist eine erneuerbare Energie.“ Jimmy Bulanik

Nützlicher Link im Internet:

Bots – Das weiche Wasser bricht den Stein

www.youtube.com/watch?v=G5Hlqjb26Ug

Deutsche Umwelthilfe e.V.

www.duh.de/home

Greenpeace Deutschland (Hamburg)

www.greenpeace.de

Fridays For Future

fridaysforfuture.de

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Grafikquellen          :

Oben     —   Spiegelung einer Brücke im Canal du Midi in Villeneuve-lès-Béziers, Frankreich

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Unten     —   Skulptur, „‚Sandmann“ von Thomas Lindner, 2019, Masurenallee 16, Berlin-WestendGermany

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Dummheit stirbt zuletzt?

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Februar 2022

„Alles bewältigt und nichts begriffen“

Deutsche Hinterlassenschaften: – Stalingrad –

Quelle:    Scharf  —  Links

Deutsche Erinnerungskultur und antirussische Feindbildpflege

Von Frank Bernhardt

Die deutsche „Erinnerungskultur“, die sich harmonisch mit der fortdauernden Feindschaft zu Russland verbindet – zu einem Staat, der sich trotz seiner Transformation zur besten aller Gesellschaftsformen, dem demokratischen Kapitalismus, vom Westen weiterhin das Etikett „autokratisch“ einhandelt –, ist fester Bestandteil deutscher Außenpolitik.

Dabei belegt die Karriere der bundesdeutschen NS-Vergangenheitsbewältigung von einer lästigen Pflicht zur hochgeschätzten Erinnerungskultur eins: Hier geht es um einen Paradefall imperialistischer Selbstgerechtigkeit! Das konnte man jetzt wieder bei der Wahl des Bundespräsidenten beobachten, als das frisch gekürte Staatsoberhaupt gleich mit einer aggressiven, pardon: kämpferischen Rede gegen das aggressive Russland hervorstach.

Seit Adenauers Zeiten muss das bundesdeutsche Nationalbewusstsein bekanntlich eine Pflichtübung absolvieren, nämlich die 12 dunkelsten Jahre bewältigen, damit das geläuterte Deutschland um so heller strahlt. Steinmeier als ein Virtuose dieses erinnerungspolitischen Betriebs wurde also am 13. Februar gerechter Weise wiedergewählt.

Die alternativen Nationalisten von der AfD wollen das allerdings, national borniert wie sie sind, nicht einsehen, und beklagen sich stattdessen über einen „Schuldkult“. Wie ein AfD-Abgeordneter im Bundestag verlauten ließ, handle es sich bei Steinmeier um einen „Spalter und Hetzer“, den „schlimmsten Bundespräsidenten aller Zeiten“ (SZ, 2.2.2022). 2020 hatte bereits ein AfD-Landtagsabgeordneter anlässlich von Steinmeiers Rede in Yad Vashem gefordert: „Schluss mit dem deutschen Schuldkult“ (https://www.tag24.de/nachrichten/afd-alternative-fuer-deutschland-stefan-raepple-holocaust-gedenktag-schuldkult-steinmeier-shitstorm-1369744).

Dabei könnte man am Fall des (jetzt weiter) amtierenden Präsidenten gerade feststellen, welche imperialistische Wucht die hochgeschätzte deutsche Erinnerungskultur entfaltet, die inzwischen auch anderen Nationen als Vorbild empfohlen wird. Ältere und neuere kritische Analysen gibt es dazu durchaus. Hier einige Hinweise.

Ein Wunder der Versöhnung“

1997 veröffentlichten die Erziehungswissenschaftler Rolf Gutte und Freerk Huisken eine umfangreiche Bestandsaufnahme, die den Bildungsbetrieb, aber vor allem das geschichtspolitische Interesse des NS-Nachfolgerstaates BRD ins Visier nahm. Was die beiden Experten unter dem programmatischen Titel „Alles bewältigt, nichts begrif­fen!“ (https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/alles-bewaeltigt-nichts-begriffen/) zusammentrugen, ist allerdings keine der üblichen Defizitmeldungen, die wieder einmal bestätigt, dass ein Mangel in puncto Aufarbeitung der Vergangenheit vorliegt.

Antifaschistische Erziehung wurde nicht nur im „Unrechtsstaat“, der DDR (die damit ihre Gründung veredelte), sondern auch in der Bundesrepublik zum Staatsauftrag. Sie hatte aber, so Gutte/Huisken, nicht die Erklärung – und damit die Kritik – des faschistischen Herrschaftssy­stems zum Ziel, sondern das Programm, eine unbequeme Ver­gan­gen­heit zu bewältigen. D.h., auf diese Weise pflegte der Verlie­rerstaat des Zweiten Weltkriegs seine politische Moral und trug sie als Aus­weis seiner demokratischen Läuterung auf dem seit der Wiedervereinigung beendeten Weg zur „Normalisierung“ nach außen und in­nen vor­. Gemäß dieser staatspolitischen Vorgabe erging der Auftrag an die Pädago­gik – und diese hat somit „nicht aufge­klärte Faschismuskritiker, sondern deutsche Nationaldemokraten her­vorgebracht“ (so die Autoren, siehe auch die Website von Huisken http://www.fhuisken.de).

Wie einst die Alten sungen – so Zwitschern manche Jungen ?

Die alte BRD hat sich allerdings immer wieder schwer getan mit diesem Programm. Und auch nach der Vereinigung von West- und Ostdeutschland, die einen enormen Aufschwung der einschlägigen Geschichtspolitik mit sich brachte, hat man für die Großtat, ein Holocaust-Mahnmal in der Hauptstadt zu platzieren, immerhin noch anderthalb Jahrzehnte gebraucht. Mittlerweile ist jedoch eine „antitotalitär“ angelegte Erinnerungskultur etabliert, die sich selber über den grünen Klee lobt. Das führte etwa 2020, als der Befreiung des KZ Auschwitz vor 75 Jahren gedacht wurde, Bundespräsident Steinmeier im Bundestag exemplarisch vor. Er beschwor das „Wunder der Versöhnung“ und diese Selbstbeweihräucherung ging allseits – die AfD eingeschlossen – unwidersprochen durch (https://www.heise.de/tp/features/Kulturkampf-von-rechts-4657804.html).

Bei diesem Wunder gibt es aber eine bemerkenswerte Lücke, die eigentlich auch bei dem genannten Gedenktag hätte auffallen müssen: Auschwitz wurde ja von der Roten Armee befreit, die aber anders als der Staat Israel mit seinem hochgerüsteten Militärapparat keinen Ehrenplatz in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik einnimmt. Im Gegenteil, beim Blick nach Osten, wo die deutsche Wehrmacht mit einem rassistischen Vernichtungskrieg wütete, der 27 Millionen Menschen das Leben kostete, ist das hiesige Gedächtnis nicht mit Schuld belastet, muss auch nicht in sich gehen, mit Stolpersteinen immer wieder an die damalige Zeit erinnert oder mit Besuchen der Schuljugend auf Friedhöfen wach gehalten werden. Es wird vielmehr eine Feindbildpflege betrieben, die die alten antibolschewistischen und antirussischen Stereotype gegen das „autokratische“ Regime im Kreml munter fortführt.

Der alte Feind ist der neue

Dass es in der Hinsicht stets einen legeren Umgang mit dem NS-Gedenken gab, dass von einer Last deutscher Schuld keine Rede sein kann, war übrigens 2021 vom Bundespräsidenten selber zu erfahren, woran jetzt eine neue Streitschrift zur Kritik der deutschen Erinnerungskultur erinnert („Ein nationaler Aufreger“ https://www.klemm-oelschlaeger.de/epages/79140548.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/79140548/Products/978-3-86281-173-1). Der Autor, Johannes Schillo, verweist dazu auf die feierliche Rede, die Steinmeier 2021 zum 80. Gedenken an das „Unternehmen Barbarossa“, den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Sowjetrussland am 22. Juli 1941, hielt.

Bei diesem offiziellen Gedenkakt, der auch zum ersten Mal in besonderer Weise an das Leid der sowjetischen Kriegsgefangenen erinnerte, stellte Steinmeier fest: „Niemand hatte in diesem Krieg mehr Opfer zu beklagen als die Völker der damaligen Sowjetunion. Und doch sind diese Millionen nicht so tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, wie ihr Leid – und unsere Verantwortung – es fordern.“ (Rede vom 18.6.2021 https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/06/210618-D-Russ-Museum-Karlshorst.html )

In der Tat, das bundes-, d.h. westdeutsche Gedächtnis hat sich mit diesen Millionen Toten nie belastet, das hat jüngst ein Kommentar (https://krass-und-konkret.de/politik-wirtschaft/deutschland-bleibt-sich-treu-und-der-neue-feind-der-alte-russland/) zur aktuellen antirussischen Feindbildpflege des Westen noch einmal hervorgehoben. Dabei kam auch der bemerkenswerte Umstand zur Sprache, dass sich gerade der oberste Organisator des bundesdeutschen Erinnerungsbetriebs, der die Verantwortung für die Ausgestaltung der Geschichtspolitik trägt, en passant zu einem solchen Defizit bekennt. Bemerkenswert zudem, dass aus der sonst so wachsamen Öffentlichkeit hier keine Nachfragen kamen und dass sich keiner für den offenkundigen Widerspruch interessierte.

Die neue Streitschrift zum „nationalen Aufreger“ der Vergangenheitsbewältigung verweist darauf, wie Steinmeier 2021 die fällige Verneigung vor den sowjetischen Opfern ganz im Geist einer imperialen Selbstgerechtigkeit über die Bühne brachte. In einem Interview stellte er bereits vor der offiziellen Gedenkveranstaltung (und in Verbindung mit möglichen Sanktionen bei „Nordstream 2“) klar, dass das deutsche Schuldeingeständnis in keiner Weise ein Zugeständnis an Putin einschließt. Deutschland habe damals moralisch schwer gefehlt, aber „das rechtfertigt kein Fehlverhalten der russischen Politik“ (Rheinische Post, 6.2.2021).

Erinnerung als nationaler Besitzstand

Die einzelnen Methoden, das bundesdeutsche Erinnerungswesen je nach weltpolitischem Bedarf in Stellung zu bringen, werden in der Schrift der „Edition Endzeit“ aufs Korn genommen. Auch wird der grundsätzliche Auftrag der Nationalbewusstseinsbildung kritisiert. Die Erinnerungskultur, mit ihrem Zentrum, der Singularität von Auschwitz, und der unbedingten Israel-Solidarität als Folge, ist ja eine fest etablierte Größe und sie wird im diplomatischen Verkehr konsequent berechnend eingesetzt.

Wenn sich z.B. die neue Außenministerin Baerbock zum Staat Israel mit der Aussage „Die Sicherheit Israels ist und bleibt deutsche Staatsräson“ (www.spiegel.de, 10.2.22) bekennt, dann ist klar, was daraus folgt: Waffenlieferungen werden weiter stattfinden, ungeachtet der Konsequenzen, die das etwa für die Palästinenser hat. Trotz dem pflichtgemäßen Hinweis der deutschen Politikerin auf die „Zwei Staaten-Lösung“ heißt das letztlich: Fortgang der Besatzung und weiteren Besiedlung mit der Tendenz zur Vertreibung der Palästinenser.

Der einschlägige Erinnerungsbetrieb gilt mittlerweile als nationaler Besitzstand, den sich Deutschland nicht nehmen lassen will. Man weiß eben, was man daran hat. Das zeigte sich vor einigen Jahren, als der israelische Premierminister den Deutschen gewissermaßen das Angebot machte, sie aus ihrer Verantwortung für den Holocaust zu entlassen.

Hitler habe „zunächst nur eine Vertreibung und keinen Massenmord an den Juden geplant“, sagte Netanjahu 2015 in einer vielbeachteten Rede; der palästinensische Großmufti von Jerusalem habe Hitler aber zur systematischen Vernichtung der Juden gedrängt. Mit seinen Einlassungen wollte Netanjahu zeigen, „dass der Vater der palästinensischen Nation schon damals, ohne Staat und ohne sogenannte ‚Besatzung‘, mit systematischer Hetze zur Vernichtung der Juden aufrief“. (Handelsblatt, 21.19.2015)

Das Dementi der Bundesregierung kam prompt, diesen Besitzstand lässt man sich nicht nehmen. „Wir wissen um die ureigene deutsche Verantwortung an diesem Menschheitsverbrechen. Ich sehe keinen Grund, dass wir unser Geschichtsbild in irgendeiner Weise ändern“, sagte Regierungssprecher Seibert.

Die Erinnerung „renovieren“

In der neuen Analyse des nationalen Aufregerthemas kommt auch die in der öffentlichen Diskussion anerkannte Notwendigkeit zur Sprache, im Hinblick auf die aktuell angesagte Feindbildpflege nachzujustieren. Die Forderung, die großartige Erinnerungskultur einer „Renovierung“ zu unterziehen, gehört ja seit geraumer Zeit – von Harald Welzer bis Björn Höcke – zum Standardrepertoire der politischen Kultur. Das geht bis dahin, dass bei Gelegenheit schon mal der Wert des Vergessens hervorgehoben wird. Die FAZ (10.1.2022) ließ z.B. jüngst einen Historiker daran erinnern, es sei langsam angebracht, „nach der Pflicht zum Erinnern auch an das Recht auf Vergessen zu erinnern“.

Nein, es sind nicht die gleichen welche heute an den Grenzen der EU erfrieren.

Den Erinnerungsbetrieb ganz einstellen will natürlich keiner, auch die FAZ nicht. Sie hält z.B. in einem Kommentar zu den „Lehren der Vergangenheit“ (28.1.2022) fest: „Der Auschwitz-Imperativ ist nicht nur Leitlinie für die Gründung der Bundesrepublik gewesen, sondern auch zur Richtschnur außen- wie innenpolitischer Entscheidungen geworden“, um ein paar Zeilen später die „Regierung Scholz“ dafür zu kritisieren, dass sie in der Ukraine-Krise „die deutsche Vergangenheit als Grund für Zurückhaltung“ anführt.

Man sieht, wie passend es ist, wenn Steinmeier in seinen Reden die damalige imperialistische Politik, die die Größe Deutschlands durch neuen „Lebensraum“ herstellen wollte, auf nichts anderes als eine unbegreifliche, scheusalhafte Mördergesellschaft herunterbringt: auf das absolut Böse, das in seiner zweckfreien „mörderischen Barbarei“ und mit seinen – von heute aus völlig unbegreiflichen – rassistischen Kriegszielen die „Unmenschlichkeit zum Prinzip“ erhoben habe. Das heutige Deutschland dokumentiert damit eben, dass es zu den Guten gehört, und kann daher mit nationalem Selbstbewusstsein auftreten.

Wie auch schon zuvor bei Steinmeiers Auschwitz-Gedenkrede in Yad Vashem 2020 wird „das Böse“ als eine Macht beschworen, die sich vor 80 Jahren in Deutschland breit machte. Mit diesem billigen Moralismus, das führt Ko-Autor Manfred Henle in der neuen Publikation aus, werden nicht nur die damaligen imperialistischen Kalkulationen, die der modernen Staatenwelt (die BRD inbegriffen) gar nicht fremd sind, zum Verschwinden gebracht; sondern es wird automatisch die eigene Güte unter Beweis gestellt.

Wer sich so geläutert hat, kann sich dann ganz im Sinne der FAZ völlig unbelastet in alle möglichen Konfliktlagen auf dem Globus einmischen – gerade auch da, wo er in der Vergangenheit schweres Unrecht begangen hat. Steinmeier in seiner offiziellen Gedenkrede: „Wir erinnern nicht mit dem Rücken zur Zukunft, sondern wir erinnern mit dem Blick nach vorn, mit dem klaren und lauten Ruf: Nie wieder ein solcher Krieg!“ Nein, solche Kriege, bei denen man allein steht und auch noch verliert, hat das neue Deutschland nun wirklich nicht vor.

Henle schließt daher seinen Beitrag über das deutsche Gedenken an das „Unternehmen Barbarossa“ mit einem Hinweis auf das überaus gute Gewissen, dass der Westen hat, wenn er sich gegen das störende russische Regime aufstellt. Nach den neuesten Ansagen aus NATO oder EU soll die Welt ja keine Staatsmänner mehr nötig haben, die sich als „Killer“ (Biden über Putin) aufführen, sondern etwa Frauen, die sich – wie die neue deutsche Außenministerin – im Völkerrecht auskennen. Baerbock im Vorwahlkampf: „Man muss immer im konkreten Fall prüfen, ob ein Einsatz zu mehr oder zu weniger Leid führen wird und ob er auf dem Boden des Völkerrechts steht.“ Das Fazit der neuen Streitschrift dazu: Ist das gewissenhaft geprüft, dann steht auch einer notfalls nuklearen Auseinandersetzung mit dem Aggressiven und Bösen nichts mehr im Wege!

Eine erste Fassung dieses Beitrags ist bei Telepolis erschienen.

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Oben       —     Zentrum von Stalingrad, 2. Februar 1943

2.) von Oben       —       Roland Freisler (Mitte) als Präsident des Volksgerichtshofes, 1944

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Unten    —         Ausgehungerte sowjetische Kriegsgefangene im KZ Mauthausen

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Israel – ein Apartheidstaat?

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Februar 2022

Der Bericht macht aus Israel kein Südafrika.

Wann und Wo wäre Politik jemals sinnvoll gewesen ?

Von Daniel Marwecki

Amnesty International beschuldigt Israel der Apartheid. Wie sinnvoll aber ist die Verwendung des Begriffs?

Was ist Apartheid? Blickt man ins Völkerrecht, so lässt sie sich verstehen als die Ungleichbehandlung zweier Gruppen in einem Staat. Mehr noch: Es handelt sich um systematische, rassistisch begründete Diskriminierung. Ein Apartheidstaat kann keine Demokratie sein – er ist ein rassistisches Herrschaftsprojekt. Ein ebensolches sei Israel, verkündete Amnesty International nun Anfang der Woche.

Die Zustände, unter denen Palästinenserinnen und Palästinenser leben müssen, sind so bekannt wie skandalös. Sie werden von der Menschenrechtsorganisation nochmals akribisch aufgearbeitet. Empirisch ist an dem Bericht wenig auszusetzen. Aber militärische Überlegenheit und systematische Diskriminierung ist noch nicht gleich „Rassenherrschaft“ à la Südafrika. Das Beharren auf populären Labels führt dazu, dass auf den Apartheidvorwurf einfach der Antisemitismusvorwurf erwidert wird, und eines in der Diskussion mal wieder untergeht: das reale Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser. Das Verdikt des 278 Seiten starken Berichts, der auf jahrzehntelangen Recherchen beruht, ist klar. Israel, so heißt es, „hat den Palästinensern ein System der Unterdrückung und der Fremdherrschaft auferlegt“. Die palästinensische Bevölkerung werde systematisch und qua Gesetz diskriminiert. Eine Chance auf gleiche Rechte gäbe es nicht.

Für die israelische Regierung ist der Bericht antisemitisch. Natürlich dürfe man Israel, die einzige Demokratie in der Region, kritisieren. Aber Amnesty verlasse den Boden der Tatsachen und spiele den Antisemiten in die Hände, so die israelische Regierung. Palästinenser mit israelischem Pass haben die gleichen Rechte wie jüdische Israelis. Und was die Palästinenserinnen und Palästinenser in den 1967 besetzten Gebieten angeht: Aus Gaza sei man schon 2005 abgezogen und die Abriegelung des Küstenstreifens diene schlicht dazu, sich vor den Raketen der islamistischen Terrororganisation Hamas zu schützen, so die Regierung. Und dass das Autonomieexperiment für die Palästinenser im Westjordanland fehlgeschlagen ist, sei nicht Israel anzukreiden.

Was ist nun von der ganzen Sache zu halten? Neu ist die Debatte um den Apartheidbegriff nicht. Palästinenserinnen und Palästinenser, die in der deutschen Diskussion über den Konflikt nur selten vorkommen, machen seit Jahrzehnten auf ihre Lebensbedingungen aufmerksam. Zu leugnen ist die systemgewordene Ungleichheit nicht, aber eine Gleichsetzung mit der Apartheid in Südafrika ist unangebracht. Es geht um die Begrifflichkeit – und damit auch um das Wesen des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Amnesty International definiert Apartheid nach internationalem Recht und nicht nach ­historischem Vorbild. Der Bericht macht aus Israel kein Südafrika. Aber in der öffentlichen Debatte kommt nur das Schlagwort an, nicht die Analyse dahinter. Das weiß Amnesty. Und munitioniert damit auch jene, die in Israel nichts weiter als einen rassistischen Kolonialstaat sehen wollen.

Außerdem beruhen die Apartheiddefinitionen des internationalen Rechts, zum Beispiel die des Römischen Statuts, auf der historischen Erfahrung des Apartheidregimes in Südafrika. Der jüdische Staat wird damit in die Nähe des südafrikanischen Apartheidstaats gerückt, dessen Ideologie mit derjenigen der Nazis seelenverwandt war. Für die Verteidiger Israels, gerade auch in Deutschland, ist das ein rotes Tuch. Denn die Idee eines jüdischen Staates entstand nicht deswegen, weil man sich die Araber in Palästina unterwerfen wollte. Sie entstand, weil die Zionisten in der Gründung eines eigenen Staates den einzigen Ausweg aus dem europäischen Antisemitismus sahen. Auch der Zionismus des frühen 20. Jahrhunderts konnte sich nicht vorstellen, welche Barbarei wenige Jahre später von Deutschland ausgehen sollte. Die Shoah bleibt, ex-post-facto, das schwerste Argument für den jüdischen Staat.

Auch vor diesem Hintergrund möchte das deutsche Büro von Amnesty International den Bericht nicht bewerben. Die Position ist nachvollziehbar: zu gewinnen ist mit der Debatte wenig. In Deutschland bilden die Nahostdebatten mehr prekäre Befindlichkeiten ab als die Realitäten der Region, um die es eigentlich gehen sollte.

Quelle      :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben      —    Israel criticism not allowed

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Das Menschenbild Medizin

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Februar 2022

Zum Menschenbild der gegenwärtigen Medizin.
Der  Versuch einer Annäherung.

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Kai Ehlers

Überarbeitete Fassung einer Diskussion im 96. Forum integrierte Gesellschaft, Hamburg

Welchem Menschenbild folgt die gegenwärtige Medizin? Auf diese Frage wird unweigerlich gestoßen, wer nach dem Sinn der Schutz- und Präventionsmaßnahmen in der aktuellen Corona-Krise fragt. Stehen die Maßnahmen im Dienst der Gesundheit des einzelnen Menschen, im Dienst allgemeiner Bevölkerungspolitik oder im Dienst von Interessen, die über den ärztlichen Dienst hinausweisen?

Wer mit solchen Fragen an die gegenwärtige Medizin herangeht, stößt zudem sehr schnell an Grenzen und dahinter liegendes unsicheres Gelände. Die Frage nach dem Menschenbild der Medizin erweist sich als Frage des Menschen nach sich selbst in der Welt und nach der Welt in sich. Traditionelle Antworten zum Ursprung und Sinn des Lebens stehen heute zur Disposition – und die Frage, wohin die Medizin sich entwickelt, ist damit heute so offen wie eh und je, ja, offener, unergründlicher, in manchen Aspekten auch abgründiger als früher, wenn man in die Labore transhumanistischer Bioforschung blickt.

Es kann daher zunächst erst einmal nur um eine Annäherung zu diesem Thema gehen. Erste Fragen lauten daher: Von welcher Medizin sprechen wir überhaupt? Von der heute herrschenden Schul-, in zunehmendem Maße Apparatemedizin westlichen Ursprungs? Von traditioneller Naturheilkunde (Mittel)Europas? Von chinesischer, allgemeiner gefragt asiatischer Medizin oder von schamanischen Heilkünsten? Lassen sich diese Richtungen heute geografisch zuordnen und sauber voneinander trennen?

Nein, denn sie überschneiden sich in der Praxis vielfältig, heute mehr denn je zuvor. Wenn es gut kommt, ergänzen sie sich im medizinischen Alltag, wenn es schlecht kommt, was zurzeit leider die vorherrschende Variante ist, schließen sie einander aus oder werden gar gegeneinander in Stellung gebracht, wie es gegenwärtig geschieht, wenn aus biologischer Teilchenforschung hervorgehende Impfstrategien gegen ganzheitlich ausgelegte symptomorientierte Therapien gestellt werden, ohne dass hinreichend oder überhaupt abgewogen würde, wie beides zur Genesung des einzelnen Menschen und auch zur Gesundung der Gesellschaft insgesamt zusammenwirken könnte.

Angesichts solcher Entwicklungen, wie sie am Beispiel „Corona“ zurzeit exemplarisch sichtbar werden, treten die tiefer liegenden Kriterien, nach denen die wichtigsten Richtungen in „der“ Medizin zu unterscheiden sind, jetzt deutlich als Konflikt hervor, der dringend einer Lösung bedarf.

Zu sprechen ist zum einen von einer Medizin, die den Menschen schlicht als biologische Funktion betrachtet, welche auch ohne geistige Beteiligung des betroffenen Menschen biotechnisch durch Eingriffe von außen repariert und präpariert werden kann. Dem steht das Verständnis von Medizin als einer Wissenschaft und Lebenspraxis gegenüber, die das Genesen des ganzen Menschen in seiner lebendigen Umwelt durch Aktivierung seiner bewussten Beteiligung als Teil eines kosmischen Ganzen anregen will.

Der einen Vorstellung vom Menschen entspricht eine Medizin, die ihre Grundlagenforschung als biophysikalische Teilchenwissenschaft über Prothetik, Genetik, Virologie ins kleinste Extrem treibt, wo greifbare Eindeutigkeiten gegen Null gehen und Ergebnisse sich mit der Position des Betrachters verändern. Vertreter dieser Medizin begreifen den Menschen letztlich als kompliziertes Produkt chemischer, physischer und algorithmischer Abläufe, die durch medizin-technische Maßnahmen gegen Störungen am Laufen gehalten – in letzter Konsequenz durch technische Surrogate ersetzt werden können.

Das andere Verständnis von Medizin wird getragen von dem Versuch, den Menschen als geistiges Wesen durch Förderung seiner emotionalen, sozialen und spirituellen Kräfte zur Pflege einer Lebensweise zu ermutigen und zu befähigen, die ihn auf den Weg einer Genesung führen kann.

Begrifflich stehen sich damit eine Schul- und Apparatemedizin, einschließlich ihrer biotechnischen Weiterungen und deren transhumanistischen Zukunftsvisionen, die auf eine Überwindung menschlicher Schwächen durch ‚intelligente‘ Technik zielen, und das Verständnis der Salutogenese als anderer Weg der Medizin gegenüber. Salutogenese zielt bis in ihre naturheilkundlichen, spirituellen Dimensionen auf die Stärkung der Kräfte des einzelnen Menschen.

Zugespitzt formuliert bedeutet das: Operative Eingriffe hier, geistiges Wirken dort, Kurieren von Symptomen hier, Förderung der Genesung dort. Letztlich steht hinter dem einen ein Weltbild, das den Menschen auf seine materielle Existenz reduziert, hinter dem anderen die Ahnung, zumindest die Frage nach einer umfassenderen als der bloß materiellen Wirklichkeit. Paradoxerweise führt gerade die extrem materialistische Teilchenforschung jetzt auch in der Biologie dazu, wie vor Jahrzehnten schon in der Physik, zwischen Tatsachen und Interpretationen, anders formuliert, Wissen und Glauben, einen nicht erklärbaren Raum der Unschärfe entstehen lassen.

Dass dies alles zugleich eine immer weiter auseinander führende Weiche zwischen einer durch ökonomische Interessen verzerrten Medizin und den eher unprofitablen Zweigen der Heilkunst beschreibt, und diese Weiche durch die heute forcierte digitale Automatisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens einschließlich der Medizin und der daran gekoppelten pharmazeutischen Industrie noch weiter geöffnet wird, gehört mit in dieses Bild.

Wohin dieser Weg einer vermarkteten und technisch gesteuerten Gesundheit zu führen droht, möchte man sich lieber nicht ausmalen müssen. Lieber schon möchte man hoffen und sich dafür einsetzen, dass in der Biotechnologie, anders als in der physikalischen Teilchenforschung, die zur Atombombe führte, die Grenze des Beherrschbaren noch rechtzeitig erkannt wird, bevor sie von einer, nennen wir es krass beim Namen, Biobombe erzwungen wird. Ungeklärte Fragen zum Ursprung der gegenwärtigen „Corona“-Erkrankung lassen solche Hoffnungen dringender als zuvor aufkommen, ja, zur Notwendigkeit werden.

Selbstverständlich gibt es aber fließende Übergänge, wo sich beide Herangehensweisen kritisch ergänzen könnten, um absehbare Irrwege zu stoppen, wenn die Industrialisierung der Medizin als Problem erkannt und ihre Entwicklung vom Druck der Ökonomie befreit würde und wenn es gelänge, den tieferliegenden geistigen, sozialen und umweltbezogenen Ursachen von Erkrankungen und wachsender Immunschwäche der Menschheit nachzugehen, welche die heutige Zivilisationskrise uns auferlegt, statt sie durch Operationen, Implantationen und Impfungen wegdrücken zu wollen.

Der medizinische Alltag ist voll von Anforderungen für ein Zusammenwirken beider, ja, aller Arten medizinischen Wirkens, von der Schulmedizin bis zur Homöopathie, und bietet reichlich Gelegenheiten, den Anforderungen nach Zusammenwirken der verschiedenen medizinischen Zweige zum Wohl hilfsbedürftiger Menschen und der Gesellschaft insgesamt nachzukommen. Das kann und muss hier nicht detailliert ausgeführt werden.

Entscheidend für ein solches Zusammenwirken aber wäre, ein übergreifendes Verständnis von Gesundheit zu entwickeln, das nicht am Wegdrücken von Krankheit, nicht an der Unterdrückung von Störungen, sondern an deren Offenlegung orientiert ist, um deren individuellen und sozialen Ursachen bewusst an die Wurzel gehen zu können. Worin könnte dieses übergreifende Verständnis bestehen?

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Hier verzweigte sich das Gespräch naturgemäß in eine Vielzahl unterschiedlichster Beiträge, Vorschläge, Wünsche und Warnungen, wie Übergriffe der Apparatemedizin vermieden und Wege der Genesung gefördert werden könnten. Die Beiträge reichten von generellen Kritiken an der ökonomischen Abhängigkeit, insonderheit den damit verbundenen biotechnischen Tendenzen der gegenwärtigen Medizin bis zu konkreten Überlegungen Ärzte zukünftig freizustellen, damit sie als spirituelle Helfer die Schaffung von sozialen Wärmeräumen anregen können, in denen Menschen die Ursachen ihrer Krankheiten erkennen und daran genesen können.

Am Ende stand ein einfaches Bild im Raum: Krankheit als Stau, Genesung als Bewegung, Leben als ständiger Übergang zwischen Stau und Bewegung, Medizin, wo sie ihre eigentliche Aufgabe erfüllt, als das Wissen, wie solche Übergänge hergestellt werden können, wenn entweder der Stau oder die Bewegung ins Extrem geführt haben oder zu führen drohen, Ärzte schließlich in Anknüpfung an traditionelle Heilverfahren als Helfer, die nicht nur aktuelle erste Hilfe leisten, wenn nötig, auch technische Nothilfe, sondern auch imstande sind schöpferischen Kräfte der Menschen, die sich an sie wenden, zu wecken und zu stärken.

Wie weit die heutige medizinische Entwicklung diesem Bild entspricht, sich zumindest auf eine Versöhnung der unterschiedlichen Richtungen hinbewegt, oder ob sie dabei ist sich zu einem Instrument bloßer technischer Überwachung zu entwickeln, in welcher der Mensch nach vorgegebenen, allgemeinen Gesundheitsparametern normiert, statt geheilt wird, mag jede/r selbst prüfen. Sicher ist, wenn eine Versöhnung im Interesse des nach Genesung suchenden einzelnen Menschen nicht zustande kommt, gehen wir harten Zeiten entgegen.

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Das globale Finanzcasino

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Januar 2022

Noch mehr Geld für das globale Finanzcasino?

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Holger Balodis

Die deutsche Alterssicherung könnte zu einem Brandbeschleuniger des internationalen Finanzcasinos werden. Es wäre die fatale Wandlung von einem Anker der Sicherheit zu einer Institution, die sogar unmittelbar krisenverschärfend wirkt. Was steckt dahinter?

Rund zwei Jahrzehnte nachdem die rot-grüne Koalition mit der Riester-Rente der kapitalgedeckten Altersvorsorge den Weg bahnte, soll diese Strategie nun sogar noch intensiviert werden. Frei nach dem Motto: Versagt ein Rezept grandios, so muss man nur die Dosis erhöhen. Denn die Riester-Rente gilt landauf landab als gescheitert.

Auch der zweite Bereich der Altersvorsorge, der ganz überwiegend von Lebensversicherungen in Form von Pensionskassen betrieben wird, läuft aktuell schlecht, die betriebliche Altersversorgung (bAV). Was sich früher Betriebsrente nannte, hat diesen Namen heute nicht mehr verdient. Die Einzahlungen erfolgen ganz überwiegend durch die Arbeitnehmer*innen, verwaltet werden diese meist von Pensionskassen. Doch die Ergebnisse sind so schlecht, dass 40 der 135 Pensionskassen in der Gefahr sind, in Schieflage zu geraten. Bei der Kölner Pensionskasse, der Pensionskasse der Caritas und der Pensionskasse der deutschen Steuerberater ist das schon passiert. Die Aufsichtsbehörde hat ihnen die Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb entzogen. Und wie reagiert die neue Bundesregierung?

Sie will mehr Risiko durch noch mehr Aktieninvestments in den Bereichen Riester und bAV ermöglichen. Auch im Kernbereich, der gesetzlichen Rente, soll der Einstieg in diese riskante Anlage erfolgen. Dafür sollen Sicherheiten wie der garantierte Beitragserhalt bei Riester und die Arbeitgeberhaftung in der bAV fallen. Soll heißen: Die Risiken werden alleine auf Arbeitnehmer*innen und Rentner*innen abgeladen. Die Arbeitgeber*innen und Finanzunternehmen wie Allianz und Blackrock profitieren hingegen. Sie sind raus aus der Haftung und bekommen neues Geschäft zugeschustert. Und was kaum jemand zu bemerken scheint: Wenn aus allen drei Säulen der deutschen Altersvorsorge mehr Geld in den Kapitalmarkt fließt, wird das Risiko einer weltweiten Wirtschaftskrise angefacht.

Schon heute betragen die globalen Finanzanlagen über 1.000 Billionen Dollar, was dem 12fachen des weitweiten Sozialprodukts entspricht.
Damit entkoppeln sich diese Finanzanlagen immer mehr von der Realwirtschaft. Es kommt zu gefährlichen Blasenbildungen, Finanz- und Wirtschaftskrisen wie in den Jahren 2001 und 2008 werden immer wahrscheinlicher. Der amerikanische Ökonom Robert Shiller, ein Experte für Kapitalmarktanalyse, hatte beide Krisen vorhergesagt und erhielt u.a. dafür den Wirtschaftsnobelpreis 2013. Für Shiller ist die Lage an den weltweiten Aktienmärkten so überhitzt, dass er Verluste von 50 Prozent für wahrscheinlich hält.

Soll die deutsche Altersicherung wirklich Teil eines solchen Zockersystems werden? Wohl kaum. Stattdessen sollten wir die stabile, umlagefinanzierte gesetzliche Rente so ausbauen, dass alle Rentner*innen wirklich davon leben können. Außerdem das Riester-Experiment zu den Akten legen und die Betriebsrente wieder zu dem machen, was sie früher mal war: Eine rein arbeitgeberfinanzierte Zusatzleistung. Das kann klappen.

Holger Balodis und Dagmar Hühne: Rente rauf! So kann es klappen, DVS Verlag, 204 Seiten, 18 Euro (ISBN 978-3-932246-98-2)

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Urknall und Gott-Komplex

Erstellt von DL-Redaktion am 12. Januar 2022

Die Spezies Mensch ist in Gefahr, nicht der Planet.

Ein Schlagloch von Ilija Trojanow

Die Erde und mit ihr resistentere Arten als wir brauchen die ökologische Transformation nicht. Es ist durchaus beruhigend, dass die allergrößten Geheimnisse weiterhin nicht gelöst sind.

Das Jahr begann mit einer wuchtigen Nachricht. Trotz einer phänomenalen Messpräzision konnte auch das jüngste Experiment am Cern in Genf nicht erklären, wieso es uns gibt. Wie der Physiker Stefan Ulmer erklärt: „Die Frage ‚warum existieren wir?‘ kann die moderne Physik noch nicht beantworten.“ Materie und Antimaterie hätten sich beim Urknall gegenseitig auslöschen müssen. Haben sie aber nicht getan. Offensichtlich. Oder scheinbar? Wer kann sich da schon sicher sein.

Weiterhin trifft zu, was ein führender Astrophysiker mir vor einigen Jahren erklärte: „Wir wissen alles, nur nicht, was in den ersten sechs Sekunden geschehen ist.“ Weswegen jemand wie James ­Peebles, der 2019 den Nobelpreis für Physik gewonnen hat, der schlüssigen Ansicht sein kann, dass die Urknalltheorie einen Knall hat (pardon, das war zu verlockend): „Der Begriff suggeriert die Vorstellung eines Ereignisses und einer Positionsbestimmung, und beides ist völlig falsch. Es ist sehr bedauerlich, dass wir von einem Anfang aus denken, obwohl wir in Wirklichkeit keine gute Theorie für so etwas wie den Anfang haben.“

Das finde ich tröstlich. Es könnte uns Menschen ein Gefühl der Demut für unsere untergeordnete und gefährdete Stellung im Universum geben. Und es ist durchaus beruhigend, dass die allergrößten Geheimnisse weiterhin nicht gelöst sind. Ebenso tröstlich ist es, kosmologische Gedanken anzustellen in Zeiten, in denen die Frage von Sein und Nichtsein anhand des Maskentragens diskutiert wird.

ie wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben, tut sich eine Gesellschaft, die ein Grundrecht auf Sicherheit einfordert, schwer mit der widersprüchlichen Dynamik wissenschaftlicher Erkenntnis. Es ist tatsächlich nicht ganz einfach. Wissen ist eine Momentaufnahme – die Physiker am Cern haben sogleich erklärt, bei noch genauerer Messung könnte sich das Erkenntnisbild ändern. Wissen ist vorläufig und kann daher von einer temporalen Vogelperspektive aus mangelhaft erscheinen, weswegen die Schlaueren unter den Gläubigen die Offenbarung Gottes nicht an den aktuellen Erkenntnissen der Physik festmachen, denn die ändern sich, das Alte Testament oder der Koran hingegen bleiben gleich.

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Wer also seine Meinung ändert, ist nicht der Korruption verdächtig, sondern des Nachdenkens. Und dass einzelne Wissenschaftlerinnen anderer Meinung sind, ist nicht der ultimative Beweis, dass diese Leute als Einzige die Wahrheit verteidigen. Denn merkwürdigerweise aktualisieren auch diese ihren Wissenstand.

Wenn es aber keinen Anfang gegeben haben soll, kann es logischerweise auch kein Ende geben, was uns in unserer momentanen apokalyptischen Laune etwas verunsichern sollte. Der zuletzt so erfolgreiche Netflix-Film „Don’t Look Up“ zeigt auf, wie wir gegenwärtig Zukunft framen (neudeutsch für „der Rahmen ist wichtiger als das Bild“). Die Handlung: Ein Weltuntergang droht, aber wir sind aus Dummheit und Gier nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. Da diese simple Annahme locker in einer halben Stunde illustriert werden kann, dümpelt der Film in der Folge dahin, auf bekalmten satirischen Gewässern, und endet – Achtung, Spoiler! – mit einer spießigen Verheißung: Piep, piep, piep, wir haben uns beim letzten Abendmahl besonders lieb.

Am Ende gibt es den Planeten nicht mehr. Diese Vision ist nicht nur reine Hybris, sondern auch eine Diskriminierung von Insekten und Mikroben. Wer bevorzugt an Pandas und Eisbären denkt (das Disney-Dogma) übersieht, dass die schlimmsten Entwicklungen, die wir uns vorstellen können – in beliebiger Reihenfolge: tote Meere, Atomkrieg, Klimakatastrophe, Zerstörung der Regenwälder – für Arten mit vielen Gehirnzellen ungemütliche Folgen zeitigen, keineswegs aber zum Absterben aller Äste des gewaltigen Stammbaums des Lebens führen werden.

Mikroben etwa sind sehr resistent, sie können nahezu ewig überleben und dabei erstaunlich lange Ruhephasen einlegen. Vor Kurzem sammelte ein Forscherteam in Japan aus den Tiefen des Meeres Bakterien, die schätzungsweise über hundert Millionen Jahre alt waren. Etwas Sauerstoff und Nahrung erweckte sie zum regen Leben. Schon nach einigen Wochen begannen Bakterien, die zuletzt in der Frühzeit der Säugetiere aktiv waren, sich wieder zu teilen. „Winter is coming“ entlockt einer anständigen Mikrobe nur ein müdes Lächeln.

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Die Habermas Schule ?

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Januar 2022

Jürgen Habermas in den Kampfstiefeln von Carl Schmitt,
dem Kronjuristen des Dritten Reiches

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Iwan Nikolajew

  1. Prolog

Seit dem 13. und 17. März 2020 ist der ”Corona-Notstand” in Kraft und seitdem wurde von Seiten der Bourgeoisie versucht, eine Diskussion über den ”Corona-Notstand” zu verhindern, indem schlichtweg bestritten wurde, dass der Ausnahmezustand ausgerufen worden ist, alles sei normal und geht seinen normalen Weg. Einen ”Corona-Notstand” gäbe es nicht. Wer dies behauptet, würde die ”Bundesrepublik Deutschland“ verunglimpfen”.

Erst seit September 2021, durch die Person von Jürgen Habermas, versucht die Bourgeoisie ganz langsam, den ”Corona-Notstand,” bzw. den Notstand überhaupt, zu legitimieren, diesen als Notstand offen anzuerkennen, denn die Massen sollen auf weitere Notstände ideologisch vorbereitet werden. Der jetzige ”Corona-Notstand” wird nicht alleine bleiben, weitere werden folgen.

  1. Jürgen Habermas, der Verteidiger des Ausnahmezustands

Eine Diskussion über den Ausnahmezustand, über den Notstand, zeigt an, inwieweit die Bourgeoisie verunsichert ist. Der sichere Pfad der normalen Entwicklung ist gefährdet. Die deutsche Bourgeoisie wird von der historischen Entwicklung herausgefordert. Im Jahr 2020 wurde einfach bestritten, daß vom üblichen Normalweg abgewichen wurde. Erst ab Ende 2021 bekennt die deutsche Bourgeoisie Farbe. Nun, auf einmal, gibt es doch einen Ausnahmezustand. Aber das sei nicht beunruhigend. Der Ausnahmezustand wurde ja nur deswegen verhängt, um ”uns” alle zu beschützen. Es gilt, die Massen langsam daran zu gewöhnen, daß es geschehen könnte, daß öfters der Notstand verhängt wird. Nichts anderes ist mit dem Begriff der ”neuen Normalität” gemeint.

Es kommt Jürgen Habermas die Ehre zu, die Position der hegemonialen Fraktion des Kapitals auszuformulieren zu dürfen. Kein Geringerer wäre würdig gewesen. Um den Ausnahmezustand, den ”Corona-Notstand,” zu verteidigen, bedarf es eines anerkannten staatstragenden Philosophen, damit die Verteidigung des Ausnahmestaates ihre Wirkung erzielen kann. Habermas legitimiert den Ausnahmezustand ”demokratisch” und somit verdeckt und eignet sich deshalb besser zur Legitimation des Notstands als Carl Schmitt, der offen auf einen autoritären bürgerlichen Staat und auf einen autoritären Kapitalismus hinsteuert. Habermas versucht die Quadratur des Kreises mit seiner ”demokratischen” Begründung der Beseitigung der ”Demokratie” im Ausnahmezustand. Dann ist noch der Ausnahmezustand abgeleitet ”demokratisch”. Bei Habermas ist der Ausnahmezustand sehr milde, so milde, daß man ihn nicht merkt, er ist fast ”demokratisch”. Ein „milder“ Notstand als „Demokratie-Ersatz“ und so werden die Grenzen zwischen einem parlamentarisch-demokratischen System und dem Ausnahmezustand verwischt.

Bei Habermas bedrohen nur isolierte Momente die ”Demokratie”, aber nicht die normale Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, bzw. die normale Entwicklung der Akkumulation von Kapital, denn Habermas kennt keinen Kapitalismus mehr und auch keine kapitalistischen Krisen. Der nicht erkannte Kapitalismus ist krisenfrei und nur Katastrophen und Zufälle können ihn aus dem Gleichgewicht bringen und die ”Gesellschaft” gefährden. Das SARS-Corona-Virus und damit die SARS-Corona-Pandemie wird von Habermas als ”Naturgeschehen” eingeordnet.

”Die durch das Virus Sars-CoV-2 ausgelöste Pandemie ist, wie der Name bereits sagt, ein Naturgeschehen, das sich global ausgebreitet hat, also Leben und Gesundheit von Angehörigen der species homo sapiens überall auf dem Erdball bedroht” (Jürgen Habermas: Corona und der Schutz des Lebens. Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/21, S. 65-78, im folgenden abgekürzt mit Jürgen Habermas).

Ein anderer Begriff für ”Naturgeschehen” ist der Begriff Katastrophe. Das SARS-Corona-Virus kommt nach Habermas plötzlich aus dem Nichts und wird zur Pandemie. Eine Erklärung über die Genese des SARS-Corona-Virus wird nicht gegeben, wird als ”Naturgeschehen” mystifiziert und damit ist eine rationale Erklärung nicht erwünscht. Auf diese Weise wird ein Tabu aufgebaut. Es ist notwendig, die Entstehung des SARS-Corona-Virus zu hinterfragen, ob es wirklich ein ”Naturgeschehen,” eine Katastrophe, ist und damit ein plötzliches und unerwartetes Ereignis, denn davon hängt die Reaktion ab.

Im Kapitalismus stehen sich ”Gesellschaft” und ”Natur” nicht mehr gleichgültig gegenüber. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte durchdringt die ”Natur” und modelt sie zur kapitalistischen ”Natur” um, d.h. die ”Natur” wird auf kapitalistische Weise vergesellschaftet. Ein ”Naturgeschehen” gibt es nicht mehr, nur noch ein kapitalistisches ”Naturgeschehen”. Auch die ”Natur” wird zur Ware und reproduzierbar. Das ”Naturgeschehen” ist gleichzeitig ein ” kapitalistisch-gesellschaftliches” Geschehen. Die Natur hat im Kapitalismus einen Klassencharakter, wird zur kapitalistischen Natur. In der Mehrwertproduktion wird die ”Natur” auf kapitalistische Weise umgeformt, dient als Mittel zur Akkumulation von Kapital. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen verdoppelt sich im Kapitalismus in der Ausbeutung der Natur durch den Menschen. Der kapitalistische Produktionsprozeß produziert notwendig auch das ”Naturgeschehen.” Somit kann im kapitalistischen Produktionprozeß unvorhergesehene oder externe Momente produziert werden, welche sich gegenüber dem Produzenten verselbständigen, eine Eigendynamit gewinnen und die kapitalistische Gesellschaft schädigen können. Auch das SARS-Corona-Virus ist ein Produkt der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, hat einen kapitalistischen Klassencharakter. Der Kapitalismus kennt kein Vakuum und die Natur existiert auch in keinem Vakuum, sondern innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, d.h. es gibt kein Außerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse können nicht von den (kapitalistischen) Naturverhältnissen und umgekehrt getrennt werden. Abstrakt kann das SARS-Corona-Virus ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt irgendeines konkreten kapitalistischen Produktionsverhältnisses sein. Geht man auf die konkrete Ebene, gerät sofort der militärisch-industrielle Komplex in den Blick. Dort werden auch biologische Waffen aller Art entworfen und produziert. Biologische, chemische und atomare Waffen sind Massenvernichtungswaffen. Die hochentwickelten kapitalistischen Staaten erforschen die kapitalistische Natur auch deshalb, um neuartige Waffen, auch biologische Waffen, zu erforschen und zu produzieren. Wie überall in der kapitalistischen Produktion geschehen Unfälle oder es treten unbeabsichtigte Nebenprodukte auf. So auch im militärisch-industriellen Komplex. Das ist ganz normaler Kapitalismus und kein Hexenwerk. Ob ein Hochsicherheitslabor, ein Atomkraftwerk oder eine Schuhfabrik oder ein Krankenhaus: Es sind alles kapitalistische Betriebe, zwischen ihnen gibt es keine qualitativen Unterschiede in der Frage der Sicherheit. Die Sicherheit des Betriebs unterliegt dem kapitalistischen Verwertungszwang. In Zeiten der internationalen Spannungen und damit der Aufrüstung vermehren sich notwendig Fehler im kapitalistischen Produktionsprozeß- auch im militärisch-industriellen Komplex.

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß das SARS-Corona-Virus ein Fehler der kapitalistischen Produktion ist. Ebenso ist es wahrscheinlich, daß, es bewußt freigesetzt wurde, nicht mit dem Vernichtungswillen einer ausgereiften biologischen Waffe, sondern als politische Waffe im Rahmen der psychologischen Kriegsführung. Auf jeden Fall entspringt das SARS-Corona-Virus aus dem kapitalistischen Produktionsprozeß des militärisch-industriellen Komplexes und fällt nicht vom Himmel bzw. aus der Natur, ist kein Produkt der Natur, sondern Produkt des kapitalistischen Produktionsverhältnisses. Die kapitalistische ”Naturbeherrschung” findet in der komplex zusammengesetzten Arbeit des militärisch-industriellen Komplexes eine Krönung und ihre abstrakte Grenze an dem kapitalistischen Verwertungszusammenhang. Der militärisch-industrielle Komplex verhält sich negativ zur Akkumulation von Kapital, ist ein Abzug vom gesellschaftlichen Mehrwert, kann aber den kapitalistischen Produktionsprozeß als Produktionsprozeß zur Blüte bringen. Die Massenvernichtungswaffen, konkret die Atombombe, ist parasitär zum Kapitalismus, aber eine Krone der kapitalistischen Entwicklung und der kapitalistischen Produktivkraftentfaltung. Kollataralschäden sind im Kapitalismus unvermeidlich oder auch niedrigschwellige Erprobung am lebenden Objekt, auch zu politischen Zwecken.

Es ist unmöglich, den militärisch-industriellen Sektor zu kontrollieren, er hat sich relativ verselbständigt. Diese Dinge haben stattgefunden, finden statt und werden weiter stattfinden, solange der Kapitalismus existiert. Das ist weithin bekannt und keine Überraschung. Deshalb gibt es Sicherheitsvorschriften, gibt es auf der Ebene des bürgerlichen Staates Regularien um solche gesellschaftlichen Produktionsschäden zu minimieren und zu regulieren, sollte ein ”Großschadenereignis” einmal eintreten. Die Aufgabe des bürgerlichen Staates als ideeller Gesamtkapitalist ist es unter anderem, ”Großschadenereignisse” zu regulieren. Dabei kann er seiner Aufgabe nachkommen oder versagen, jedoch ist es seine Aufgabe, auf ”Großschadenereignisse” aller Art vorbereitet zu sein. Weder ist die Entstehung des SARS-Corona-Virus ein ”Naturgeschehen”, noch die Verbreitung des SARS-Corona-Virus, denn die weite Verbreitung des SARS-Corona-Virus erfolgte über den neoliberalen, deregulierten Weltmarkt, entlang seiner Lieferketten und traf auf bürgerliche Staaten, welche aufgrund der kurzfristigen neoliberalen Akkumulationsstrukturen keine Reserven für ”Großschadensereignisse” aufgebaut hatten. Eben diese Reserven und damit auch die Produktionsstrukturen, wurde in den letzten neoliberalen Jahrzehnten aufgelöst. Die Verbreitung und die Entstehung des SARS-Corona-Virus ist dem neoliberalen Akkumulationsmodell geschuldet und ist somit eine politische Frage und kein ”Naturgeschehen”. All das kommt nicht überraschend, sondern wurde schon lange prognostiziert, aber von der Bourgeoisie ignoriert. Die neoliberale Deregulation des Weltmarktes macht ”Großschadenereignisse” und ihre internationale Verbreitung erst möglich. Eben aus diesen politischen Defiziten griff die Bourgeoisie weltweit zum Notstand. Der Notstand ist keine Antwort auf die mäßig gefährliche SARS-Corona-Pandemie, sondern eine Antwort auf die auf- akkumulierten Defizite des bürgerlichen Staates bei der Sicherung der allgemeinen Produktionsgrundlagen. Die Gefährlichkeit von ”Großschadenereignissen” bemißt sich an der Vorbereitung des bürgerlichen Staates und kann kontrolliert und eingegrenzt werden. Ist der bürgerliche Staat gut auf ”Großschadenereignisse” vorbereitet, bedarf es keinen Notstands. Der Notstand ist immer eine politische Entscheidung und kein Ergebnis eines ”Naturgeschehens.”. Hier werden dann politische Entscheidungen als angeblich neutrale Sachentscheidungen, als ”Sachzwang” umgelogen, die politische Frage des Notstands entpolitisiert und damit verdinglicht. Auch Habermas rechtfertigt den Notstand mit dem ”Sachzwang” des ”Naturgeschehens”, der unvorhersehbaren Katastrophe. Der Notstand wird verdinglicht als ”Naturnotwendigkeit” dargestellt, ist aber ein politisches Produkt, ein Produkt des Klassenkampfes. Doch das ”Naturgeschehen” ist nicht nur plötzlich da, sondern ”bedroht” die ”Menschheit”. Die ”nationale Sicherheit” wird bedroht. ”Gefahr ist im Verzuge,” wird suggeriert. Die pseudologische Antwort ist dann: Notstand.

Habermas reicht es nicht, daß ”Naturgeschehen” der SARS-Corona-Pandemie als weltweite Gefahr für die Menschheit darzustellen, denn die ”Gefahrenabwehr” obliegt der Polizei, welche die Aufgabe hat, die ”Störung” zu beseitigen, d.h. die Polizei eines parlamentarisch-demokratischen bürgerlichen Klassenregimes reicht aus, die ”Gefahr” abzuwenden. Eine ”Gefahr” verlangt nach einem Polizeieinsatz, nicht aber nach dem Notstand, denn ein Notstand setzt eine Kriegsgefahr, ob internationaler Krieg oder Bürgerkrieg, voraus.

Um den ”Corona-Notstand” zu rechtfertigen, muß die SARS-Corona-Pandemie bzw. das SARS-Corona-Virus, bei Habermas zu einem Kriegsfall mutieren.

” Unter biologischen Gesichtspunkten lässt sich die Bekämpfung der Pandemie als eine (freilich mit ungleichen Waffen geführte) Kriegsführung von Species gegen Species verstehen. In diesem ”Krieg” gegen das Virus werden dem Gegner allerdings keine Rechte zugeschrieben; daher der ist der Vergleich mit der militärischen Auseinandersetzung zwischen Nationen nur von begrenzten Wert. Die beteiligten ”Parteien” bewegen sich nicht in einem geteilten sozialen Raum, beispielsweise dem des Völkerrechts; aber wie im Krieg besteht das strategische Ziel in der möglichst schnellen Bezwingung des Gegners bei möglichst geringen eigenen Verlusten” (Habermas: a.a.a. O)

Das SARS-Corona-Virus mit dem Krieg zu vergleichen ist irrational. Da hilft es auch nicht, diesen Vergleich zu relativieren. In der ”Natur” und zwischen ”Mensch” und ”Natur” gibt es keinen Krieg. In der Biologie gibt es keinen Krieg, es sei denn, man interpretiert die kapitalistisch formierte Natur im Sinne der Natur der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, auf sozialdarwinistische Art. Krieg existiert nur in der Gesellschaft und zwischen der Gesellschaft. Krieg bedarf Bewußtsein, bedarf des Menschen. Die ”Natur” hat kein Bewußtsein und kann dann nicht über Krieg und Frieden entscheiden. Krieg gibt es nicht ohne Frieden und umgekehrt. Krieg und Frieden sind bewußte politische Entscheidungen. Nur der Mensch ist ein zoon politikon, wie es Aristoteles formuliert, ein soziales und politisches Wesen und kann nur deshalb über Krieg und Frieden entscheiden. Diese Grenze darf nicht verwischt werden. Der qualitative Sprung aus der ”Natur” ist der Mensch nur durch sein soziales und politisches Bewußtsein, durch Gesellschaft und Geschichte. Weder ist die SARS-Corona-Pandemie ein Krieg der Natur gegen den Menschen, noch unter biologischen Gesichtspunkten eine Kriegsführung Spezies gegen Spezies. Eine biologische Kriegsführung mit Spezies gegen Spezies ist sachlich unmöglich. Wir finden bei Habermas eine tendenzielle biologistische Betrachtung der Gesellschaft. Nur der Mensch kann einen Krieg gegen die Natur führen, nicht jedoch die Natur gegen den Menschen. Aus diesem Grunde ist die SARS-Corona-Pandemie kein Krieg gegen die Menschheit und rechtfertigt damit auch keinen Ausnahmezustand.

Indem Habermas indirekt dem SARS-Corona-Virus eine biologische Kriegsführung gegen die menschliche Spezies unterstellt, kommt er unbewusst der materiellen Genese des SARS-Corona-Virus näher, der materiellen Genese des SARS-Corona-Virus aus dem militärisch-industriellen Komplex. Ohne vernünftigen Grund verdinglicht Habermas das SARS-Corona-Virus zum ”Feind”, obwohl es nur ein kapitalistisches ”Naturgeschehen” , maximal eine Waffe, ein niedrigschwelliger biochemischer Kampfstoff, ist. Nicht die Waffe ist der ”Feind”, sondern der ”Feind” steht hinter der Waffe. Der ”Feind” hat Bewußtsein und ist kein ”kapitalistisches Naturgeschehen”, sondern kommt aus dem gesellschaftlichen Geschehen. Ein Virus kann kein ”Feind” sein, auch nicht das SARS-Corona-Virus. ”Freund” und ”Feind” sind gesellschaftliche Begriffe, sind auch politische Begriffe, aber keine biologischen Begriffe. In der Biologie gibt es keine Freundschaft und keine Feindschaft. Mit dem ”Corona-Notstand” kann die Spezies Mensch keinen ”Krieg” gegen die Spezies SARS-Corona-Virus führen, denn der SARS-Corona-Virus ist kein Feind und ohne Feind kein Krieg. Die Spezies Mensch kann nur gegen die Spezies Mensch einen Krieg führen; nur die Spezies Mensch kann zwischen Freund und Feind unterscheiden, wie zwischen Krieg und Frieden.

Der ”Corona-Notstand” richtet sich dann nicht gegen das SARS-Corona-Virus, sondern gegen einen Teil der menschlichen Spezies. Da das SARS-Corona-Virus nicht im Vakuum existiert, sondern in der menschlichen Spezies, den Menschen infiziert bzw. infizieren kann, ist dann nicht das SARS-Corona-Virus real der Feind, sondern die Menschen, welche sich mit dem SARS-Corona-Virus infizieren bzw. infizieren können, denn sie könnten dann auch andere Menschen infizieren. Nicht der SARS-Corona-Virus wird dem ”Corona-Notstand” unterworfen, wie es verdinglicht auf der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erscheinen mag, sondern konkrete Menschen, ein konkreter Teil der kapitalistischen Gesellschaft. Der bürgerliche Staat setzt im ”Corona-Notstand” eine Norm und unterteilt danach die einzelnen Gesellschaftsmitglieder in ”Freund” und Feind”. Es ist eine politische Entscheidung des Kapitals und keine ”neutrale Sachentscheidung”, welche dem SARS-Corona-Virus geschuldet ist. Die Begriffe ”Freund” und ”Feind”, ”Krieg”, ”Frieden” sind politische Begriffe und keine biologischen Begriffe, keine vermeintlich sachlich-neutralen Begriffe außerhalb des Politik. Das Auftauchen des SARS-Corona-Virus erzwingt objektiv keinen Notstand. Es gibt verschiedene Antworten auf die SARS-Corona-Pandemie. Der ”Corona-Notstand” ist nur eine Antwort auf die SARS-Corona-Pandemie, neben vielen anderen Antworten, d.h. der „Corona-Notstand“ ist nicht alternativlos. Nur dann, wenn man das SARS-Corona Virus zum ”Feind” und damit zum ”Krieg” ideologisch mutieren läßt, ist der ”Corona-Notstand alternativlos.

Habermas unterstellt de facto dem ”Naturgeschehen” ein Krieg gegen die menschliche Spezies und die menschliche Spezies verteidigt sich mit dem ”Corona-Notstand”. Nur wenn man eine solche irrationale Position bezieht, das Auftauchen des SARS-Corona-Virus als Krieg interpretiert, kann man einen militärischen oder paramilitärischen ”Corona-Notstand” rechtfertigen, anstatt mit zivilen Polizeimaßnahmen zu reagieren. Auf diesem Weg kommt Habermas zur klassischen Entscheidung: Krieg rechtfertigt den Notstand. Der Feind greift an. Wir müssen uns verteidigen. Dazu müssen alle Kräfte gebündelt werden und der Notstand, der Ausnahmezustand, bündelt dann die Kräfte zur Verteidigung.

Der bürgerliche Staat trifft eine ”Freund-Feind” Entscheidung und dies ist eine Kriegsentscheidung. Es tritt der Ernstfall ein. Der Ernstfall beendet den ”Normalzustand”. Was der ”Normalzustand” ist, definiert die Bourgeoisie als herrschende Klasse, ebenso was der ”Ausnahmezustand” bzw. der ”Notstand” ist. Nur die Bourgeoisie entscheidet über das Ausmaß des ”Ausnahmezustandes”, seine Dauer und den Zeitpunkt, wann er eröffnet wird.

Der ”Notstand”, der ”Ausnahmezustand,” ist keine ”Theorie des kommunikativen Handelns”, ist kein ”herrschaftsfreier Diskurs,” und damit kein idealisierter Kapitalismus wie bei Habermas, sondern bezeichnet die unmittelbare politische Diktatur der Bourgeoisie über die Arbeiterklasse und zeichnet sich durch Befehl und ”bedingungslosen Gehorsam” aus und das heißt den Einsatz des Militärs im Inneren, was auch den Waffeneinsatz gegen unbewaffnete Zivilisten, Standrecht und Todesstrafe mit einschließt. Der Ausnahmezustand kann verschiedene Formen annehmen und sich auch radikalisieren. Wenn der Notstand verhängt wird, entscheidet nur die Exekutive über die Dauer des Ausnahmezustandes und die Maßnahmen, die ergriffen werden, um die ”Ruhe” und ”Ordnung” aufrechtzuerhalten.

Jürgen Habermas, der ”Erbe” der ”Frankfurter Schule,” trifft sich zustimmend in der Frage des Ausnahmezustandes mit der ”Carl-Schmitt-Schule und hier mit Carl Schmitt und Ernst Forsthoff.

Auch bei Habermas ist die parlamentarisch-demokratische Herrschaftsform der Bourgeoisie im Kapitalismus nur relativ. Nur dann, wenn die Widersprüche des Kapitalismus gering sind, hält das Kapital an der parlamentarisch-demokratischen Herrschaftsform fest. Eskalieren die immanenten Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise und das Proletariat unterwirft sich nicht sofort dem Kapital, sondern besteht auf seinen eroberten Rechten, stellt die Bourgeoisie die parlamentarisch-demokratische Herrschaftsform in Frage, wenn das Kräfteverhältnis zwischen den antagonistischen Klassen sich zu ihrer Seite neigt. Für die Bourgeoisie ist die ”parlamentarisch-demokratische” Form ihrer Klassenherrschaft nur eine Form unter vielen anderen. Jedoch für die Arbeiterklasse unter dem Kapitalismus ist sie existentiell. Nur in dieser ”parlamentarisch-demokratischen” Herrschaftsform der Bourgeoisie kann die Arbeiterklasse im Kapitalismus Eroberungen machen und ihr gesellschaftlich notwendiges Reproduktionsniveau erhöhen. Im Ausnahmezustand werden die Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus zerstört und das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau drastisch herabgesenkt. Aus diesem Grunde erkämpft die Arbeiterklasse im Kapitalismus gegen die Bourgeoisie individuelle und kollektive Grundrechte, welche ihre größte Eroberung sind und verteidigt sie auch gegen die Angriffe der Bourgeoisie. Diese individuellen und kollektiven Grundrechte sind nicht von der Bourgeoisie und nicht durch den bürgerlichen Staat der Arbeiterklasse gnädig gewährt worden, sondern wurden von der Arbeiterklasse erkämpft und werden von ihr verteidigt, denn unter dem Ausnahmezustand kann die Arbeiterklasse nur verlieren. Es ist evident, daß zwischen den individuellen und kollektiven Grundrechten keine chinesische Mauer steht. Die individuellen Grundrechte und die kollektiven Grundrechte können nicht getrennt werden, sie sind in einer übergreifenden Einheit vereint. Die zivile Ordnung ist für die Arbeiterklasse zentral, für die Bourgeoisie jedoch nicht, denn sie kann auch ohne zivile Ordnung existieren, unter Umständen besser als in einer zivilen Ordnung. Nur für die Bourgeoisie besteht das „Problem“, wie sie konkret ihre soziale und politische Klassenherrschaft mit der ”parlamentarisch-demokratischen” Form ihrer Klassenherrschaft vermittelt. Dieses „Problem“ kann die Bourgeoisie auf verschiedene Weise lösen. So kann es geschehen, daß die Bourgeoisie die ”parlamentarisch-demokratische” Form ihrer Klassenherrschaft den sozialen und politischen Grundlagen ihrer Klassenherrschaft opfert. Die Staatsräson gegen ein verrechtliches-parlamentarisch-demokratisches System. Dies ist nichts außergewöhnliches für die Geschichte des Kapitalismus. Der Ausnahmezustand im Kapitalismus ist durchaus normal. Und so entscheidet man auch in der ”Corona-Krise”. Ist der ”Staat” in Gefahr, bzw. die Gesellschaft, die der ”Staat” repräsentiert, d.h. die „Nation.“ dann kennt der ”Staat“ keine Parteien mehr, sondern nur noch Staatsbürger, die zu Untertanen werden. Und Habermas steht aufrecht dabei.

” Die Aporie zwischen Rechtszwang und Solidarität ergibt sich daraus, dass in der Pandemie eine in unserer Verfassung selbst zwischen den beiden tragenden Prinzipien angelegte Spannung aufbricht-zwischen der demokratischen Selbstermächtigung der Staatsbürger zur politischen Verfolgung kollektiver Ziele einerseits und der staatlichen Gewährleistung subjektiver Freiheiten andererseits. Beide Momente ergänzen sich, solange es im Normalzustand um die innere Reproduktion der Gesellschaft geht. Sie geraten aber außer Balance, sobald die außerordentliche kollektive Anstrengung der Abwehr einer ”von außen” das Leben der Bürger bedrohenden Naturgefahr von den Bürgern Solidarleistungen erfordert, die über das üblicherweise bescheidene Maß an Gemeinwohlorientierung hinausgehen” (Habermas: a.a.O)

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Konkret ausgedrückt: In Zeiten der Not hat das individuelle Interesse, aber auch das kollektive Klasseninteresse, hinter dem Interesse der Allgemeinheit, bzw. des Volkes bzw. der „Nation“ zurückzutreten. Die allgemeinen Interessen sind im Kapitalismus immer nur die besonderen Interessen der herrschenden Klasse, welche in der kapitalistischen Gesellschaft quantitativ eine Minderheit ist.

Weiter heißt es bei Habermas:

”Die asymmetrische Beanspruchung der Bürgersolidarität auf Kosten gleichmäßig gewährleisteter subjektiver Freiheiten kann durch die Herausforderungen einer Ausnahmesituation gerechtfertigt sein. Legitim ist sie somit immer nur auf Zeit. Wie diese außerordentliche Autorisierung auch ohne weitere Notstandsregelungen rechtsdogmatisch mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen ist, soll am Ende dieser Erörterung stehen” (Habermas: a.a.O.)

Doch wer entscheidet über die Ausnahmesituation und verhängt den Ausnahmezustand? Es ist die Exekutive des bürgerlichen Klassenstaates, welche die Ausnahmesituation definiert und den Ausnahmezustand verhängt. Es ist nicht das Parlament. Nicht umsonst heißt es bei Carl Schmitt:

”Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet” (Carl Schmitt: Politische Theologie, 1922, S. 9)

Der ”Souverän” im Ausnahmezustand ist in der bürgerlichen Gesellschaft der bürgerliche Staat, welcher durch die Regierung repräsentiert wird. Das Parlament ist nicht der Souverän und entscheidet damit nicht über den Ausnahmezustand, dient nur als Frühwarnsystem für die Exekutive und ist ihr untergeordnet. Der Souverän ist nur dann ein Souverän, wenn frei entscheiden kann, ohne durch Parlament und Gesetze gebunden und gefesselt zu sein. Dann entscheidet der Staat frei nach den Erfordernissen der Staatsräson, nach den Notwendigkeiten des ”Staatswohls” zur Abwehr einer ”nationalen Bedrohung” um der ”inneren und äußeren Staatssicherheit” genüge zu tun. Das Dogma des ”Staatswohls” bzw. der ”Staatssicherheit” führt zu einem staatlichen Handeln gegen die eigenen Gesetze des Staates. Der Staat steht über seinen eigenen Gesetzen und erst Recht über dem Völkerrecht. Ihm sind keine gesetzlichen Grenzen gesetzt, nur Machtgrenzen. Er ist Machtstaat. Souverän ist der Staat nur dann, wenn er der Staatsräson verpflichtet ist. Und der Ausnahmezustand ist die konkrete Staatsräson. Nur die Exekutive bestimmt alleine, ob die Situation die Ausrufung des Ausnahmezustands rechtfertigt, welche Mittel angewendet werden und die Dauer des Ausnahmezustands. Die Exekutive ist niemanden zur Rechenschaft verpflichtet außer sich selbst. Dann hat die Exekutive das ”Notrecht” jedes nationale und internationale Recht zu brechen, um die Ausnahmesituation zu bewältigen. Die Exekutive beansprucht ein ”Notrecht” für sich. Es ist kein codifiziertes Recht. Das nicht-codifizierte Notrecht suspendiert für eine unbestimmte Zeit die Verfassung und damit die gesamte Rechtsordnung. In Deutschland hat man sogar über die Notstandsgesetze das nicht-codifizierte ”Notrecht” codifiziert. Die Notstandsgesetze regeln auf juristisch-formaler Weise die Negation des juristischen Systems, bzw. die Verfassung der BRD wird mit den in der Verfassung enthaltenen Notstandsgesetzen aufgehoben, wenn es erforderlich ist, oder anders ausgedrückt: die Verfassung hebt sich juristisch-formal selbst auf. Konkret. Die Verfassung der BRD garantiert ein parlamentarisch-demokratisches System und gleichzeitig seine Aufhebung. Real entscheidet der bürgerliche Staat immer in letzter Instanz über den Ausnahmezustand, egal ob die Inkraftsetzung der Notstandsgesetze juristisch vorgeschrieben ist oder nicht. Der Notstand, der Ausnahmezustand, ist niemals juristisch kodifizierbar. Ein Notstand, ein Ausnahmezustand ist immer eine Machtfrage zwischen den beiden antagonistischen Klassen und damit eine politische Frage und niemals eine juristische Frage. Wer die Macht hat, hat das Recht, wer das Recht hat, hat die Macht. Es ist kein demokratisches Recht, was den Ausnahmezustand, den Notstand, beschließt, sondern der Ausnahmezustand ist eine Machtfrage und damit eine Gewaltfrage. Die Juristerei um den Ausnahmezustand soll dies nur verschleiern, denn auch ein Ausnahmezustand benötigt eine Massenlegitimation. Aber der Kern des Ausnahmezustandes, des Notstandes, ist schlicht und einfach die unmittelbare und nackte Gewalt der herrschenden Klasse. Im gewissen Sinne rechtfertigt sich die konzentrierte nackte Gewalt der herrschenden Klasse im Ausnahmezustand durch sich selbst.

Carl Schmitt hätte es gefallen. Habermas gefällt es heute. Der Ausnahmezustand, der Notstand, ist der materialisierte Extremismus der Bourgeoisie. Ein Ausnahmezustand muß nicht juristisch einwandfrei beschlossen werden, er brauch nur erklärt werden und noch nicht einmal das. Es reicht, wenn der bürgerliche Staat einfach nach den Notwendigkeiten des Ausnahmezustands stumm handelt. Zuletzt vor der ”Corona-Krise” wurde der unerklärte Ausnahmezustand in Hamburg im Sommer 2017 zum G-20 Gipfel realisiert. Aber vor allem muß an den Deutschen Herbst verwiesen werden, mit all seiner Repression und den Morden von Stammheim. Ein Notstand wurde nicht erklärt. Der Notstand, bzw. der Ausnahmezustand, wurde einfach stumm exekutiert. In allen Fällen wird mit der ”drohenden Gefahr im Verzuge” ein ”Notwehrrecht” des bürgerlichen Staates gegen seine Staatsbürger behauptet, obwohl dieses sich nur auf Individuen bezieht und nicht auf einen Staat. Nur die Individuen haben ein Notwehrrecht- vor allem gegen den bürgerlichen Staat. Das Notwehrrecht ist ein Abwehrrecht gegenüber dem bürgerlichen Staat. Die Taten des Ausnahmezustandes sprachen für sich und die nackte Repression des bürgerlichen Staates machte deutlich, was derjenige zu erwarten hat, der Widerstand leistet.

Auch Habermas tritt offen für einen Notstand jenseits der Verfassung ein. Der Notstand ist die Generalklausel für einen legalen Staatsstreich, einem ”coup blanco”, denn es wird für eine unbestimmte Zeit die Verfassung real suspendiert. Auch der Vorwand im Gewande eines ”Vorrangs des staatlichen Gesundheitsschutzes” reicht schon dafür aus.

”Aber das ungelöste Problem, wie der stillschweigend praktizierte Vorrang des staatlichen Gesundheitsschutzes zu rechtfertigen ist, verweist auf die besondere Situation, dass in der Bundesrepublik seinerzeit das Notstandsrecht auf den Kriegsfall und die militärischen Erfordernisse begrenzt worden ist, so dass eine Pandemie von diesen Regelungen nicht erfasst wird. Für diese Fälle ist vielmehr das inzwischen novellierte und ergänzte Infektionsschutzgesetz zuständig. Ein einfaches Gesetz kann dem Staat keine Notstandsbefugnisse einräumen. Dieser muss in Deutschland angesichts einer Pandemie die außerordentlichen Herausforderungen ohne pauschale Notstandsautorisierungen bewältigen” (Habermas, a.a. O.)

Habermas legitimiert den stummen Notstand des Deutschen Herbstes und damit auch die Morde von Stammheim, wie den Notstand von Hamburg im Sommer 2017 und den „Corona-Notstand“. Erst handelt der bürgerliche Staat gegen die Verfassung, bricht die Verfassung und in einem zweiten Schritt wird unter Umständen der Verfassungsbruch nachträglich mit einem entsprechenden Gesetz legitimiert. Vor allem zeigt der stumme, nicht juristisch codifizierte Notstand, d.h. der eigentliche Notstand, denn nur er ist ein Notstand aus eigener Machtvollkommenheit, damit, daß er über der Verfassung steht, denn der Notstand, der Ausnahmezustand, ist die Negation der Verfassung selbst. Der Notstand, der Ausnahmezustand, ist der übergesetzliche Notstand, die ”staatliche Notwehr” welche keine gesetzlichen Beschränkungen anerkennt. Der ”übergesetzliche Notstand” wird nicht verkündet, er wird einfach entschieden und exekutiert. Später dann kann unter Umständen der Notstand codifziert und damit verstetigt und stabilisiert werden. Letztlich kann aus dem Ausnahmezustand ein neuer ”Normalzustand” werden, wenn der Ausnahmezustand in das reguläre Gesetzeswerk eingearbeitet wird, dann erscheint der ewige Ausnahmezustand. Dieser kann gelockert oder angezogen werden, je nach der konkreten Lage. Das ”demokratisch-parlamentarische Regime des bürgerlichen Staates findet seine abstrakte Grenze an dem Ausnahmezustand, der aus vielerlei Gründen und Vorwänden exekutiert werden kann. Natürlich wird dies immer mit ”Gefahr im Verzuge”, ”Gefahr für die nationale Sicherheit” ideologisch legitimiert werden. Ob Terrorismus, Krieg, ökologische Katastrophe, Gesundheitsgefahren- ein Vorwand wird immer gefunden-Souverän ist nur der, welcher über den Ausnahmezustand entscheidet. Der Ausnahmezustand ist immer antidemokratisch und die Entscheidung über den Ausnahmezustand ist immer eine antidemokratische Entscheidung. ”Demokratie” im Kapitalismus gibt es nur bei gutem Wetter: im Sturm entscheidet sich das Kapital für den Ausnahmezustand. Ist die ”Normallage” nicht mehr gegeben, tritt der Ernstfall ein. Was ”Normallage” und was der Ernstfall ist, entscheidet die Bourgeoisie durch ihre Exekutive. Die Legislative und die Judikative sind nur schmückendes Beiwerk. Der Notstandsstaat diktiert und entrechtet die Arbeiterklasse.

” Die Belastungen können in der Bevölkerung nicht gleichmäßig verteilt werden, widersprechen also dem Gleichbehandlungsgrundsatz und greifen vor allem so tief in die grundrechtlich gesicherten subjektiven Freiheiten ein, dass sie unter normalen Umständen-eben ohne den durch die Pandemie aufgenötigten Vorrang des staatlichen Lebensschutzes-nur als grundsätzlich freiwillig erbrachte Solidarleistungen erwartet, vielleicht sogar gefordert werden könnten, aber kaum gesetzlich verordnet werden dürften. Aber weil der Staat als der einzige kollektiv handlungsfähige Akteur die erforderlichen Maßnahmen effektiv planen muss und diese nur auf dem Wege der arbeitsteiligen Koordinierung der für einzelne Sektoren der Gesellschaft verschiedenen Verhaltensvorschriften in der Gesamtheit der Bevölkerung organisieren und durchsetzen kann, ist er schon aus funktionalen Gründen genötigt, Solidarleistungen, die sonst nur angedacht werden können, zwingend vorzuschreiben……… Die Kollision zwischen der Verpflichtung zum Lebensschutz und konkurrierenden Grundrechten, in die der Staat im aktuellen Fall eingreifen muss, resultiert für die Bürger in selektiv verteilten Zumutungen an die Bereitschaft, Beistand und Hilfe zu leisten” (Habermas, a.a.O.)

Ohne weiteres beruft sich der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) immer auf den ”Lebensschutz” und der ”Lebensschutz” ist nichts anderes als der ”Staatsschutz” bzw. der ”Schutz der Nation”, bzw. die ”Abwehr einer Bedrohung der nationalen Sicherheit”, es geht also immer um die ”Staatssicherheit“. Nach der bürgerlichen Ideologie schützt der ”Staat”, die ”Sicherheit” der Gesellschaft bzw. der ”Staat” ist ”Sicherheit” und die ”Sicherheit” ist ein ”Super-Grundrecht”. Das ”Sicherheit” ein ”Super-Grundrecht” sei, wird auch im Bundesinnenministerium vertreten. Habermas schreibt ”Lebensschutz”, meint aber ”Staatsschutz”, ”Staatssicherheit”.

Der ”Staat” bei Habermas artikuliert sich nicht in Gesetzen, sondern in Verordnungen, Notverordnungen bzw. Verordnungen des Notstandsstaates. Und diese Verordnungen beinhalten auch Verhaltensvorschriften bzw. Befehle des Notstandsstaates an seine Untertanen. Das Individuum, wie auch die Arbeiterklasse kollektiv, muß sich bindungslos seiner Volksgemeinschaft unterwerfen. Im ”Ernstfall” so auch Habermas, muß der ”Staat” seinen ”Bürgern” auch Zumutungen auferlegen, bzw. aufzwingen. Zumutungen ist ein anderer Begriff für ”Opfer”. Der ”Staat” muß also von seinen ”Bürgern” also real Untertanen, Opfer abverlangen, bzw. in letzter Konsequenz diese opfern bzw. zum Selbstopfer auch ihres eigenen Lebens zwingen. Wie auch immer der ”Ernstfall” umschrieben wird, real wird mit dem Begriff ”Ernstfall” oder ”Ausnahmesituation” etc. der Krieg bzw. der Bürgerkrieg bezeichnet. Letztlich kann nur der Kriegsfall den Notstand, den Ausnahmezustand, überhaupt tendenziell rechtfertigen. Notstand, Ausnahmezustand, ist immer auch tendenziell ”Kriegsrecht”. Aus diesem Grunde versucht Habermas die Pandemie in Richtung ”Krieg” zu rücken. Dies ist zwar irrational, aber dient dazu, den diversen oppositionellen Strömungen gegen den ”Corona-Notstand” als Kriegsgegner, als ”Feinde” zu stigmatisieren, d.h. sie sind keine ”Störer”, welche die Gesellschaft nur leicht beeinträchtigen, sondern als ”Feind” negieren sie die Gesellschaft und ihren Staat und gefährden die ”Sicherheit” der ”Nation“ und müssen vernichtet werden. ”Ernstfall” kennt nur noch ”Freund” oder ”Feind”, aber nicht mehr ”Regierung” oder ”Opposition”. Der Ausnahmezustand kennt nur alternativlos ”Freund” und ”Feind”. Verhandlungen nur dann, wenn es nicht anders geht und erst nach dem Waffengang. Jeder Ausnahmezustand bestimmt den ”inneren Feind”. Notstand ist Krieg und Krieg kennt nur ”Freund” oder ”Feind” und damit notwendig Kriegspropaganda, um die Massenlegitimation für ”Krieg” und ”Notstand” zu erlangen. Der bürgerliche Staat und auch Habermas sehen sich von vielen Feinden umringt. Bis jetzt ist der erste Feind, aber nicht der letzte Feind, für den Notstandsstaat die”Querdenkerbewegung”, eine Bewegung aus den höheren und mittleren Schichten des Kleinbürgertums, welche verzweifelt wieder in den Neoliberalismus zurückwill, da diese kleinbürgerlichen Schichten im ”Corona-Notstand” des multipolaren Weltmarktes unter die Räder gekommen ist.

” Wegen ihres rechtsradikalen Kerns sind die scheinliberal begründeten Proteste der Corona-Leugner gegen die vermeintlich konspirativen Maßnahmen einer angeblich autoritären Regierung nicht nur ein Symptom für verdrängte Ängste, sondern Anzeichen für das wachsende Potential eines ganz neuen, in libertären Formen auftretenden Extremismus der Mitte, der uns noch länger beschäftigen wird” (Habermas, a.a. O.)

Weiter heißt es bei Habermas am Ende seines Aufsatzes:

”Die derart für den Zeitraum der Pandemie gerechtfertigten Maßnahmen können wohl nur von Corona-Leugnern als Auswuchs einer Biopolitik verteufelt werden” (Habermas: a.a.O.)

Eine Diskussion ist dann ausgeschlossen. Es geht nicht um einen Kompromiß als Produkt eines demokratischen politischen Prozesses, sondern darum, den ”Feind” zu besiegen und damit den ”Krieg” zu gewinnen. Den ”Krieg” gegen den Virus, den Habermas meint führen zu müssen, ist real ein Krieg gegen eine vielströmige Opposition gegen den ”Corona-Notstand. Habermas Feind ist nicht das SARS-Corona-Virus, sondern die buntscheckige neoliberal-kleinbürgerliche Opposition gegen den ”Corona-Notstand”, welche durch ihr Verhalten das SARS-Corona-Virus verbreitet. Der ”Krieg” gegen das SARS-Corona-Virus ist damit real ein Krieg gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung. Das SARS-Corona-Virus verdoppelt sich dann in einen ”biologischen Virus” und einen ”politischen Virus”. Um den ”biologischen Virus” zu vernichten, ist es zuerst notwendig den ”politischen Virus” zu vernichten, d.h. konkret jede politische Opposition gegen den ”Corona-Notstandsstaat”. Wenn der SARS-Corona-Virus zum Feind erklärt wird, wird auch ein Teil der eigenen Bevölkerung zum Feind erklärt. Es findet eine Biologisierung des politischen Feindes statt und gleichzeitig wird Opposition im Allgemeinen, wenn diese gegen den ”Corona-Notstand” und gegen die ”Corona-Deflationspolitik” zielt, vom bürgerlichen Staat zum Feind erklärt und damit in letzter Konsequenz den Krieg. ”Extremismus” ist ein anderes Wort für ”Feind”. Ganz in der Tradition der Carl-Schmitt-Schule.

”Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit gehört das jus belli, d.h. die reale Möglichkeit, im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen” (Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Berlin 1979, S. 45)

Die Ausnahmesituation erfordert den Ausnahmezustand, der sich dadurch wesentlich auszeichnet, daß er den Feind bestimmen und den Kriegszustand ausrufen kann. Es geht bei der Feindbestimmung nicht nur gegen den ”äußeren Feind”, sondern vor allem primär um den ”inneren Feind”. Denn nur wenn die innerstaatliche Befriedung garantiert ist, kann der ”Staat” die ”Nation” gegen internationale Feinde verteidigen.

” Diese Notwendigkeit innerstaatlicher Befriedung führt in kritischen Situationen dazu, daß der Staat als politische Einheit von sich aus, solange er besteht, auch den ”inneren Feind” bestimmt.” (Carl Schmitt a.a.O. S. 46)

Entscheidend ist der ”Ernstfall”, bzw. die ”kritische Situation” Vor der ”kritischen Situation“ bleibt Opposition erlaubt, jedoch in der ”kritischen Situation” muß diese Schweigen und sich der Regierung anschließen. Die ”Nation” muß nach innen geeint sein, um die die ”kritische Situaiton” zu überwinden. In der ”Ausnahmesituation” gelten die bisherigen Normen nicht mehr. Der Krieg ist die höchste Form der ”kritischen Situation”, die höchste Form der Freund-Feind-Polarisation. Eine Ausnahmesituation ist eine Kriegssituation bzw. kommt dieser Nahe.

” Der Staat als die maßgebende politische Einheit hat eine ungeheure Befugnis bei sich konzentriert: die Möglichkeit Krieg zu führen und damit offen über das Leben von Menschen zu verfügen. Denn das jus belli enthält eine solche Verfügung; es bedeutet die doppelte Möglichkeit: von Angehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft zu verlangen, und auf der Feindseite stehende Menschen zu töten. Die Leistung eines normalen Staates besteht aber vor allem darin, innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizuführen, ”Ruhe, Sicherheit und Ordnung” herzustellen und dadurch die normale Situation zu schaffen, welche die Voraussetzung dafür ist, daß Rechtsnormen überhaupt gelten können, weil jede Norm eine normale Situation voraussetzt und keine Norm für eine ihr gegenüber völlig abnorme Situation Geltung haben kann. (Carl Schmitt: a.a.O S. 46)

Zuerst muß der bürgerliche Staat sein Territorium ”befrieden” und die bürgerlichen Normen der Arbeiterklasse aufzwingen. Dies ist dann die innere und äußere kapitalistische Landnahme; die ”Normallage” ist dann selbst Produkt des Ausnahmezustandes. Diese kapitalistische ”Normung” der Arbeiterklasse begann mit der ursprünglichen Akkumulation und setzt sich bis heute fort. Notfalls setzt der bürgerliche Staat als ideeller Gesamtkapitalist sich ohne Normen im Ausnahmezustand gegen die Arbeiterklasse durch. Wenn der bürgerliche Staat in ”parlamentarisch-demokratischer” Form erscheint, kann die Arbeiterklasse auf ihre kapitalistische Normung Einfluß nehmen und diese modifizieren. Gerät die ”kapitalistische” Normung in eine tiefe Krise, kann dies den Ausnahmezustand erfordern, welcher gegen die bisherigen Normen seine eigenen Normen, das Sonderrecht, setzt, welche so lange gültig sind, wie der Ausnahmezustand existiert. Wird der Ausnahmezustand nicht mehr benötigt, ist die ”kritische Situation” überstanden, können die alten oder andere Normen gelten, aber nicht mehr die Normen des Ausnahmezustandes. Ausnahmezustand und regulärer Normalzustand in Form eines ”parlamentarisch-demokratischen” Staates liegen dicht beieinander, bzw. ineinander, d.h. es gibt keine chinesische Mauer zwischen ihnen. Im bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) liegt potentiell der ”parlamentarisch-demokratische Staat”, wie umgekehrt, im ”parlamentarisch-demokratischen” Staat potentiell der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) liegt. Beide sind nur Formen des bürgerlichen Staates.

Die Ausnahmesituation ist nach Carl Schmitt immer eine potentielle Kriegssituation, ob Bürgerkrieg oder Krieg gegen den äußeren Feind ist gleich. Im Krieg und damit im Kriegsrecht, gibt es keine individuellen Rechte mehr und auch keine kollektiven Rechte der Arbeiterklasse, da gilt Befehl und Gehorsam, d.h. im Krieg sind alle zivilen Normen vernichtet. Es gilt nur töten oder getötet werden. Der Krieg als Ausnahmesituation kann nur dann im Sieg überwunden werden, wenn eine Schützengrabengemeinschaft bzw. eine Volksgemeinschaft errichtet wird. Im Krieg, als materialisierter Ausnahmezustand, gelten keine Grundrechte, keine Menschenrechte, keine Verfassung. Der bürgerliche Staat agiert frei von allen Normen und Bindungen und erst Recht von Gesetzen, denn es gilt die ”kritische Situation”, die ”nationale Bedrohung” muß zurückzuschlagen werden. Zum Ausnahmezustand gehört Krieg, gehört Tötungsbereitschaft, gehört Todesbereitschaft. Jeder Ausnahmezustand schafft eine neue ”Normallage”. Der Wechsel von einer ”Normallage” in eine andere ”Normallage” wird über den Ausnahmezustand vermittelt. Die Staatssicherheit hat Vorrang vor den zivilen individuellen und kollektiven Rechten.

Bei Habermas heißt es in gleicher Stoßrichtung:

”Demgegenüber muss der Staat im Kriegs-oder Katastrophenfall, oder wenn es sich wie in der Pandemie um eine Herausforderung vonseiten unbeherrschter Naturprozesse handelt, gegen eine von außen kontingent einbrechende und das Kollektiv- als ganzes oder in Teilen-überwältigende Gefahr außerordentliche und gegebenfalls asymmetrisch beanspruchte solidarische Kräfte der Bürger aufbieten.” (Habermas: a.a.O.)

Carl Schmitt und Jürgen Habermas positionieren sich für die Mobilmachung, gegen den ”äußeren Feind”, gegen den” inneren Feind,” für den Kriegseinsatz im Namen des Kollektivs ”Nation”. Im ”Ernstfall” gibt es keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Und für Habermas ist die SARS-Corona-Pandemie der ”Ernstfall”. Der ”Staat” und die ”Nation” muß den Krieg gegen den SARS-Corona-Virus gewinnen und deshalb bedarf es einer inneren Einheit unter dem Kommando des ”Staates”. Opposition und ”Rechtsstaat” haben zur Seite zu treten. Um ”uns” alle zu schützen, muß der ”Staat” durchregieren können, den vollen Zugriff auf die Arbeiterklasse und auf jedes ihrer Glieder realisieren. Es gibt dann nur ”Freund oder Feind.” Auch der Ausnahmezustand, der Notstand, hat graduelle Abstufungen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Notstandsstaat eines Jürgen Habermas und dem Notstandsstaat eines Carl Schmitt. Jedoch ist dies nur eine quantitative Differenz, denn dem Notstandsstaat eigen ist seine Selbstradikalisierung. Notstand verlangt nach immer mehr Notstand. Erst im totalen Notstand kommt der Notstand zu sich selbst, d.h. im Laufe der Zeit verselbständigt sich notwendig der Notstand selbst. Man kann also leicht von einem partiellen Notstand eines Jürgen Habermas in den totalen Notstand eines Carl Schmitt abrutschen. Nicht die herrschende Klasse kontrolliert den Notstand, sondern der Notstand kontrolliert die herrschende Klasse. Es ist leicht den Notstand zu implementieren, schwer ist es, den Notstand zu beenden, denn seine Eigendynamiken sind sehr mächtig. Am Ende überspielt der Ausnahmezustand einen Ausnahmezustand a` la Habermas und verwirklicht sich in dem Ausnahmezustand a`la Carl Schmitt. Während Habermas den unterentwickelten Notstand repräsentiert, repräsentiert Carl Schmitt den voll entwickelten Notstand, während Habermas den Beginn des Notstandes repräsentiert, repräsentiert Carl Schmitt das notwendige Endstadium der Notstandsbewegung. Bei Habermas bleibt der Notstand inkonsequent. Nur Carl Schmitt geht in der Frage des Ausnahmezustandes bis zur letzten Konsequenz und kann die Halbheiten und Inkonsequenzen eines Habermas verlachen.

Der „innere Feind“ verlangt nach:

„ der innerstaatlichen Feinderklärung. Das ist, je nach dem Verhalten des zum Staatsfeind Erklärten, das Zeichen des Bürgerkrieges, d.h der Auflösung des Staates als einer in sich befriedeten, territorial in sich geschlossenen und für Fremde undurchdringlichen, organisierten politischen Einheit. Durch den Bürgerkrieg wird dann das weitere Schicksal dieser Einheit entschieden.“(Carl Schmitt: a.a.O. S. 47)

Der „Staatsfeind“ repräsentiert den Keim des Bürgerkrieges. Wird dem „Staatsfeind“ Raum gegeben, verbleibt nur Kapitulation oder Bürgerkrieg. Aus diesem Grunde darf der „Staat“ dem „Staatsfeind“ keinen Raum geben, sondern muß diesen mit aller Härte bekämpfen.

„Denn im „Verfassungsstaat“ ist, wie Lorenz von Stein sagt, die Verfassung „der Ausdruck der gesellschaftlichen Ordnung, die Existenz der staatsbürgerlichen Gesellschaft selber. So wie sie angegriffen wird, muß sich daher der Kampf außerhalb der Verfassung und des Rechts, also mit der Gewalt der Waffen entscheiden“ (Carl Schmitt, a.a.O. S. 47)

Der Staatsfeind befindet sich in einen mindestens unsichtbaren Krieg gegen den Staat und steht damit außerhalb der staatlichen Ordnung bzw. der Verfassung und damit des Rechts. Der „innere Feind“ ist damit dann ein „äußerer Feind, steht mit diesem auf einer Stufe, denn „Feind“ ist „Feind“, egal ob „innerer Feind“ oder „äußerer Feind“. Der „Staat“ führt dann Krieg gegen den „Staatsfeind“. Im Ausnahmezustand als ein Produkt der inneren und äußeren Spannungen eines „Staates“ bzw. im Bürgerkrieg, spricht sich dieses „Freund-Feind“ Verhältnis am deutlichsten aus. Das „Freund-Feind-Verhältnis“ ist immer latent im „Verfassungsstaat“ enthalten, spricht sich nur im Bürgerkrieg offen aus. Im Bürgerkrieg, im Ausnahmezustand, gibt es keine Norm. Der Ausnahmezustand, der Notstand, ist immer ein offener oder verdeckter Bürgerkrieg, er kennt keine Opposition mehr, sondern nur „Freund oder Feind“. Das Kriegsrecht ist sein Recht. Es geht ums töten und getötet werden, es geht um Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft.

Habermas sieht die Gefahren des „totalen Ausnahmezustandes, marschiert aber trotz besseren Wissens in diesen hinein, da er das Risiko und die Gefahren eines „totalen Notsandes“ geringer als die SARS-Corona-Pandemie wertet.

„Bei Betrachtung der aktuellen Ausnahmesituation ist ebenso wenig daran zu zweifeln, dass der Staat die außerordentliche kollektive Anstrengung der Bürger mit einem temporären Rückfall unter das rechtliche Niveau reifer Demokratien erkauft. Da nun das Grundgesetz für den Fall einer solchen Ausnahmesituation keine Notstandsregeln kennt, bleibt noch die Frage, ob und wie sich der zeitlich begrenzte Prima-facie-Vorrang des staatlichen Lebens- und Gesundheitsschutzes auf rechtsdogmatischen Weg begründen lässt.“ (Habermas: a.a.O.)

Für Habermas ist der „Corona-Notstand“ nur ein kleiner Schaden „reifer“ Demokratien. Der Notstand wäre ja nur zeitlich begrenzt, danach würde wieder die Normalität greifen. In der Ausnahmesituation steht jedoch die Politik über dem Recht und bricht das Recht und damit den „Rechtsstaat“. Dann, wenn man den „Rechtsstaat“ dringend benötigt, in der Ausnahmesituation, wird er suspendiert und erst dann wiedereingesetzt, wenn die Ausnahmesituation bereinigt ist. Die Exekutive bestimmt den Ausnahmezustand und beendet diesen. In der Ausnahmesituation wird die Verfassung und damit auch der „Rechtsstaat“ einseitig von der Exekutive außer Kraft gesetzt, das Prinzip der „Gewaltenteilung“ wird negiert. Es gibt keinen verfassungsmäßigen und damit rechtsstaatlichen Ausnahmezustand. Der Ausnahmezustand ist immer die Negation der Verfassung, immer eine Negation des „Rechtsstaates,“ ist immer „Unrechtsstaat“.

„In der Pandemie ist es der Vorrang des staatlichen Gesundheitsschutzes, der zum Nachdenken über das Verhältnis von Politik und Recht nötigt. Während das Recht das Medium zur Gewährleistung subjektiver Freiheiten ist, ist die Politik das Mittel der kollektiven Zielverwirklichung, das in der Ausnahmesituation Vorrang beansprucht. Dann müssen freilich die Bürger auf die Stabilität der Verfassung vertrauen dürfen-also darauf, dass die Regierung das gesundheitspolitisch begründete Regime der gesetzlich verordneten Solidarleistungen nicht über die aktuelle Gefahrensituation hinaus verstetigt;“ (Habermas: a.a.O)

Niemand kann garantieren, daß die Exekutive die Verfassung nach dem Ende der „Gefahrensituation“ wieder in Kraft setzt. Die Geschichte zeigt auf, daß das Vertrauen auf die Exekutive töricht ist. Es gilt immer noch das Lenin zugeschriebene Wort: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Macht beugt sich nur Gegenmacht. Ohne Gegenmacht kann der Ausnahmezustand nicht zu den alten Bedingungen, wie sie vor dem Notstand galten, beendet werden. Der Ausnahmezustand kann also endlos verlängert oder nur teilweise aufgehoben werden d.h. der Ausnahmezustand ernährt den Ausnahmezustand. Auch nach einem Ausnahmezustand gibt es keine Rückkehr zu „alten Normalität“. Die historische Aufgabe eines Ausnahmezustandes ist es, eine „neue Normalität“ zu schaffen bzw. den historischen Bruch zu organisieren. Einen Ausnahmezustand ohne einen „Feind“ gibt es nicht. Und „Feind“ trägt den „Krieg“ in sich. Ein „wasch mit dem Pelz, aber mach mich nicht naß dabei“- gibt es nicht. Einen „demokratischen“, „sozialen“, „humanen“ Ausnahmezustand ist ein logischer Widerspruch in sich selbst. Carl Schmitt spricht es deutlich aus, während Habermas sich in die Illusionen flüchtet. Der Ausnahmezustand ist immer die direkte und unmittelbare Diktatur der Bourgeoisie über die Arbeiterklasse. Carl Schmitt zieht die Konsequenzen, Habermas nicht.

Der Ausnahmezustand kennt nur noch „Freund“ oder „Feind“. Je mehr sich die gesellschaftlichen Gegensätze verschärfen, desto mehr verwandeln sich diese in politische Gegensätze und der politische Gegensatz führt zur notwendigen „Freund-Feind“ Unterscheidung, welcher im Krieg seinen höchsten Ausdruck findet. Der Bürgerkrieg ist immer latent vorhanden. Der Ausnahmezustand ist Krieg und Krieg ist Ausnahmezustand.

„Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren. Das Politische liegt nicht im Kampf selbst, der wiederum seine eigenen technischen, psychologischen und militärischen Gesetze hat, sondern wie gesagt, in einem von dieser realen Möglichkeit bestimmten Verhalten, in der klaren Erkenntnis der eigenen, dadurch bestimmten Situation und in der Aufgabe, Freund und Feind richtig zu unterscheiden“ (Carl Schmitt: a.a. O. S. 37)

Schmitt erkennt klar die wesentliche Aufgabe des bürgerlichen Klassenstaates. Den Klassenkampf unter Kontrolle halten, damit der Kapitalismus bestehen bleibt. „Demokratie“ etc., nur für die normalen Zeiten, wenn die kritische Situation herankommt, wird die „Demokratie“ wieder eingezogen. Dann, wenn „Demokratie“ essentiell benötigt wird, in der Krise, wird sie beschnitten oder gar suspendiert. Damit der Klassekampf nicht eskaliert, zum Kampf um die Macht wird, muß der bürgerliche Staat verhindern, daß sich die „Gegensätze“ zuspitzen, „politisch“ werden und der Arbeiterklasse durch den Ausnahmezustand den Krieg erklären. Bevor die gesellschaftlichen „Gegensätze“ eskalieren, der „Freund-Feind“ Gegensatz ausbricht, welcher sich im Bürgerkrieg vergegenständlichen kann, muß der bürgerliche Staat möglichst rechtzeitig zwischen „Freund und Feind“ differenzieren und präventiv die Arbeiterklasse angreifen, d.h. über den Ausnahmezustand einem Bürgerkrieg zuvorkommen. Der bürgerliche Staat kennt immer seinen Feind, die Arbeiterklasse, schützt die Bourgeoisie vor der Arbeiterklasse. Der Ausnahmezustand ist der präventive Bürgerkrieg der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse. Politik ist bei Carl Schmitt vor allem Staatshandeln- gegen die Arbeiterklasse. Politik beinhaltet immer die Möglichkeit des Krieges und des Bürgerkrieges, ist immer eine Politik am Randes des Krieges und der Krieg/Bürgerkrieg ist die höchste Form der Politik. Eine Politik ist immer auf eine „Freund-Feind-Beziehung“ aufgebaut. Der Ausnahmezustand ist der präventive Bürgerkrieg, denn der Ausnahmezustand kennt keine Gesetze und Verfassungen, keine Norm und keine Moral mehr, sondern nur den Sieger, der notfalls in einem Bürgerkrieg siegen muss. Politik ist also in letzter Konsequenz Krieg, Bürgerkrieg, Ausnahmezustand. In der „Normallage“ jedoch gibt es bei Carl Schmitt keine Politik, sondern nur Verwaltung der Klassengesellschaft, dort ist die Arbeiterklasse deutlich unter das Kapitalverhältnis subsumiert, d.h. bei Carl Schmitt bezeichnet der Begriff „Politik“ die Unterwerfung einer aktiv-oder passiven renitenten Arbeiterklasse und dazu wird der Ausnahmezustand benötigt.

„Wenn innerhalb eines Staates die parteipolitischen Gegensätze restlos „die“ politischen Gegensätze geworden sind, so ist der äußerste Grad der „innenpolitischen“ Reihe erreicht, d.h. die innerstaatlichen, nicht die außenpolitischen Freund-und Feindgruppierungen sind für die bewaffnete Auseinandersetzung maßgebend. Die reale Möglichkeit des Kampfes, die immer vorhanden sein muß, damit von Politik gesprochen werden kann, bezieht sich bei einem derartigen „Primat der Innenpolitik“ konsequenterweise nicht mehr auf den Krieg zwischen organisierten Völkereinheiten (Staaten oder Imperien), sondern auf den Bürgerkrieg“ (Carl Schmitt: a.a.O. S. 32)

Der „Staat“ bei Carl Schmitt ist ein Kriegerstaat, ein Kriegsstaat, ein Notstandsstaat, wird erst im „Ernstfall“ zum vollausgebildeten „Staat“, während bei Habermas der Staat ein Garant des Rechts ist, sogar dann noch, wenn die Herrschaft des Gesetzes in der Ausnahmesituation aufgehoben ist. Aber ein Notstandsstaat ist immer offen oder verdeckt ein Kriegsstaat. Der Ausnahmestaat ist immer die Negation eines verfassungsmäßigen Staates und nur dieser ist ein Garant des Rechts. Es gibt kein Recht im Notstandstaat, nur die Staatsräson und das heißt präventiver Bürgerkrieg. Der Begriff Ausnahmezustand ist ein Synonym für Bürgerkrieg.

Carl Schmitt wird ganz deutlich:

„Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten einen realen Sinn dadurch, daß sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins. Krieg ist nur die äußerste Realisierung der Feindschaft“ (Carl Schmitt: a.a.O. S. 33)

Carl Schmitt faßt den Ausnahmezustand korrekt auf, als präventiver Bürgerkrieg, während Habermas aus dem Ausnahmezustand eine Cocktail-Party macht, denn wie wir oben gesehen haben, sollen die Bürger auf die Regierung vertrauen, daß die Ausnahmesituation wieder zurückgenommen und der „Normalzustand“ wieder restauriert wird. Der „Normalzustand“ kann nur von der Arbeiterklasse erkämpft und verteidigt werden. Ohne den Klassenkampf gibt es eine Rückkehr zum vorherigen „Normalzustand“.

Habermas verkennt den Sinn der „Grundrechte.“ Die individuellen und kollektiven „Grundrechte“ wurden von der Arbeiterklasse erkämpft und nicht „gewährt.“ Die individuellen und kollektiven Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den bürgerlichen Staat und können nur durch die Arbeiterklasse selbst verteidigt und erweitert werden, d.h. der bürgerliche Staat schützt und gewährleistet nicht die individuellen Grundrechte, sondern nur die kollektive Aktion der Arbeiterklasse gegen das Kapital und den bürgerlichen Staat, der Klassenkampf, ist die einzige Garantie für die Existenz der individuellen und kollektiven Grundrechte. Den bürgerlichen Staat zum Hüter der individuellen und kollektiven „Grundrechte“ zu machen würde bedeuten, den Bock zum Gärtner des Gartens zu ernennen.

„Denn die Pflicht des Staates, das von dritter Seite bedrohte Recht einer Person auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten, bezieht sich wie bei fast allen anderen Grundrechten auf die Rolle des Staates, die Individualrechte seiner Bürger zu schützen. (Habermas: a.a.O.)

Die Aufgabe des bürgerlichen Staates ist es, das Privateigentum an Produktionsmitteln zu garantieren, nicht aber „Leib und Leben“ seiner Bürger zu schützen. Im Gegenteil, die individuellen und kollektiven Rechte der Arbeiterklasse können nur durch sie selbst geschützt werden und zwar gegen den bürgerlichen Staat und dem Kapital. Der bürgerliche Staat ist die größte Gefahr für die individuellen und kollektiven Rechte der Arbeiterklasse und damit auch für die „Grundrechte“. Wer sich bei der Verteidigung der individuellen und kollektiven „Grundrechte“ auf den bürgerlichen Klassenstaat verläßt, ist von allen verlassen. Habermas kommt damit Carl Schmitt ziemlich nahe:

„Die systematische Theorie des Liberalismus betrifft fast nur den innenpolitischen Kampf gegen die Staatsgewalt und liefert eine Reihe von Methoden, um diese Staatsgewalt zum Schutz der individuellen Freiheit und des Privateigentums zu hemmen und zu kontrollieren…“ (Carl Schmitt: a.a.O. S. 69)

Für Carl Schmitt ist der Ausnahmezustand der gesellschaftliche Zustand, wo das Privateigentum an Produktionsmitteln und nur dies ist die materialisierte Entäußerung der „individuellen Freiheit“, am besten vor der Arbeiterklasse geschützt ist. Der Liberalismus ist für Carl Schmitt der erste Schritt hin zu den historischen Interessen der Arbeiterklasse. Der Ausnahmezustand schlägt den Liberalismus und erst Recht die proletarischen Massenorganisationen nieder, welche potentiell das Privateigentum an Produktionsmitteln bedrohen. Ein Ausnahmezustand ist immer ein Ausnahmezustand der herrschenden Klasse gegen die ausgebeutete Klasse. Der bürgerliche Staat schützt eben nicht die individuellen und kollektiven Grundrechte der Arbeiterklasse, sondern bedroht diese. Für die Bourgeoisie reduzieren sich die „Grundrechte“ auf die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Alles andere kann zur Disposition gestellt werden. Während Habermas in den Illusionen eines „demokratischen“ Ausnahmestaates verfangen ist, zieht Carl Schmitt die materielle Konsequenz des Ausnahmezustandes. Der Ausnahmezustand richtet sich zentral gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Doch bei Habermas wird diese Klassenrealität von den Füßen auf den Kopf gestellt, denn bei ihm ist der Ausnahmezustand ein Bollwerk für das „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ So wäre dann auch der Krieg dann gerechtfertigt, wenn er dem „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ gewidmet ist. Jedoch ist jeder Krieg das genaue Gegenteil, d.h. die Negation von dem „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Der Krieg kann nicht von dem Ausnahmezustand getrennt werden, wie umgekehrt. Bei Habermas mutiert der Ausnahmezustand zu einem „Fest der Humanität“. Habermas befleißigt sich eines orwell´schen „Neusprech“, indem Krieg zu Frieden wird und Frieden zu Krieg, während der Ausnahmezustand zu Frieden wird und der zivile „Normalzustand“ zum Krieg.

File:Carl Schmitt - Politische Theologie Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München und Leipzig, 1922.jpg

„Diese strenge Zielbestimmung (die Verpflichtung des Staates auf das Ziel hin, die Zahl der an Corona- Verstorbenen so niedrig wie möglich zu halten, I.N) würde für die Corona-Rechtsprechung auf einen Prima-facie-Vorrang des Rechts auf Leben und Gesundheit vor allen übrigen Grundrechten hinauslaufen- auf einen Vorrang, den die Abwägungspraxis der Gerichte in normalen Zeiten nicht kennt.“ (Habermas: a.a.O.)

Bei Habermas werden die einzelnen individuellen und kollektiven Grundrechte gegeneinander ausgespielt und ein „Super-Grundrecht“ auf „Sicherheit“ postuliert, aber es ist nicht einsehbar, warum die strenge Zielbestimmung nur auf das Ziel hin gelten soll, die Zahl der Corona-Verstorbenen zu reduzieren. Alle anderen gefährlichen Krankheiten, die ebenfalls ein Produkt der kapitalistischen Produktionsweise sind, müssen dann ebeno energisch vom bürgerlichen Staat bekämpft werden. Die Privilegierung der SARS-Corona-Pandemie vor allen anderen Gefährdungen der nationalen Gesundheit hat keine medizinischen, sondern nur politische Gründe. Den Einen wird geholfen, aber anderen nicht. Das unterfinanzierte Gesundheitssystem wird nicht angetastet. Es gibt keinen Versuch, das Gesundheitssystem wieder stabiler zu organisieren. Um das Leben der „Corona-Patienten wird gekämpft, während um das Leben von Menschen, die an anderen Krankheiten erkrankt sind, nicht gekämpft wird. Sie werden bewußt geopfert. Im Ausnahmezustand entscheidet der bürgerliche Notstandsstaat, wer würdig ist zu leben und wer unwürdig zu Leben ist und sterben muß. Nur weil der bürgerliche Staat die SARS-Corona-Pandemie als eine „nationale Bedrohung“ kategorisiert, gelten Privilegien für Personen, die an SARS-Corona erkrankt sind. Nicht jedes Leben zählt gleich. Es werden nicht alle gerettet. Es werden nur einige gerettet und der Preis dafür ist auch der Tod von anderen Menschen. Nur wenn man die innere Einheit der individuellen und kollektiven Grundrechte, die von der Arbeiterklasse erkämpft worden sind, zerreißt, kann man auf das „Super-Grundrecht Sicherheit“ kommen und dieses „Super-Grundrecht-Sicherheit“ tarnt sich heute in dem „Super-Grundrecht-Gesundheit“.

Die neoliberale Politik der Unterfinanzierung des Gesundheitswesens führt natürwüchsig zu einer Selektion und der „Corona-Notstand“ rettet kein Leben, sondern exekutiert stumm und verdeckt eine Politik der Euthanasie. Damit ist der „Corona-Notstand“ nicht die Lösung, sondern ein Teil des Problems. Unter einem Deckmantel der „Lebensrettung“ wird Leben vernichtet. Die politische Entscheidung der Unterfinanzierung des Gesundheitswesens ist das Fallbeil, was Leben auslöscht. Bis jetzt hat sich an der Unterfinanzierung des Gesundheitswesens nichts geändert, trotz „Corona-Notstand“ seit dem 13. und 17. März 2020. Nicht die SARS-Corona-Pandemie ist in erster Linie für die Toten verantwortlich, sondern das unterfinanzierte Gesundheitswesen. Erst ein unterfinanziertes Gesundheitswesen bricht der SARS-Corona-Pandemie die Bahn. Die SARS-Corona-Pandemie ist kein Schicksal, sondern eine politische Konsequenz aus der Deregulierung von Klassenverhältnissen im neoliberalen Kapitalismus und schlägt auch auf diesen zurück. Doch nicht nur das unterfinanzierte Gesundheitssystem treibt die SARS-Corona-Pandemie, sondern die sozioökonomischen Bedingungen, wie beengte Wohnverhältnisse in den Armutsquartieren. Mindestens 8,5 Millionen Menschen, ca. 10 Prozent der Bevölkerung, lebt in überbelegten Wohnungen. Dort findet nicht nur das SARS-Corona-Virus optimale Bedingungen vor, sich auszubreiten. Besonders negativ sind die Wohnverhältnisse in den Senioren- und Pflegeheimen. Eine konsequente Anti-Corona-Politik, eine proletarische Anti-Corona-Politik, stellt die realen kapitalistischen Bedingungen in den Mittelpunkt und die Notwendigkeit der Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Mit einer Umverteilung von Wohnraum kann sofort begonnen werden. Aber gerade die Immobilienbranche erhält in der „Corona-Krise“ einen deutlichen Machtzuwachs. Die soziale Wohnsituation verschärft sich in den Armutsquartieren immer mehr und die SARS-Corona-Pandemie findet dort immer mehr Nahrung. Dies kann auch der „Corona-Notstand“ nicht ändern und so scheitert er notwendig in der Frage der Bekämpfung der SARS-Corona-Pandemie. Das Ziel der Repression des „Corona-Notstandes ist nicht so sehr die Bekämpfung der SARS-Corona-Pandemie, sondern die Bekämpfung der Arbeiterklasse. Die SARS-Corona-Pandemie läßt sich nur mit den Methoden der zivilen Sozialmedizin bekämpfen, nicht aber mit den militärischen Methoden des „Corona-Notstands“. Eine Pandemie ist im Kapitalismus das Produkt eines unterfinanzierten Gesundheitswesens und ist konkret das Erbe des Neoliberalismus mit seiner Politik der Deregulierung der Klassenbeziehungen und der Privatisierung. Vor dem Siegeszug des Neoliberalismus, der mit dem Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in Osteuropa ab 1989/1991 begann, lag das gesellschaftliche Niveau höher, bei dem eine Pandemie ausgerufen werden mußte. Nun gefährdet die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems die Akkumulation von Kapital, eben durch die Gefährdung der Gesundheit der Ware Arbeitskraft, und langfristig ist das Kapital gezwungen, das Gesundheitssystem pandemiefest neu zu organisieren.

Und eben dies versucht die Bourgeoisie zu verhindern. Eine Impfung gegen das SARS-Corona-Virus ist für das Kapital wohlfeiler, als tendenziell das Gesundheitssystem auszubauen oder tendenziell die sozioökonomischen Bedingungen zu ändern, denn die Kosten für die Impfung sind sehr gering. Jedoch schlug bisher die Impfstoffentwicklung bei den SARS-Viren nicht an, denn die SARS-Viren mutieren zu schnell, so daß eine Herdenimmunität nicht erreichbar ist. Dazu bräuchte man einen Totimpfstoff, der sich wegen der Mutation der SARS-Viren nicht herstellen läßt. Das SARS-Corona-Virus kann nicht über die Impfung bekämpft werden, sondern nur durch den Bruch mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen; eine relativ ausgereifte Impfung mit ebensolchen Medikamenten, können den politischen Bruch mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen begleiten, aber nicht ersetzten.

Die SARS-Corona-Pandemie mit den militärischen Methoden des Notstands zu bekämpfen führt naturwüchsig und objektiv zur Bekämpfung der Arbeiterklasse, vor allem im Massenarbeiter, der sich im Grenzbereich des gesellschaftlich-notwendigen Reproduktionsniveaus befindet, was dazu führt, das sich dort das SARS-Corona-Virus leicht ausbreiten kann. Da eine Impfung nicht vor Erkrankung, Ausbreitung und schwerem Krankheitsverlauf schützt, schlagen die sozioökonomischen Bedingungen ungehindert auf den Massenarbeiter durch. Für den bürgerlichen Staat wird dann der Massenarbeiter zum „kollektiven Gefährder“, weil sich dort das SARS-Corona-Virus ausbreiten kann. Der „Corona-Notstand“ bekämpft nicht das SARS-Corona-Virus, sondern den unfreiwilligen Träger des SARS-Corona-Virus, den multinational zusammengesetzten Massenarbeiter. Für die Bourgeoisie ist der Massenarbeiter der Schuldige und der „Gefährder“, dessen „wildes“ Verhalten“ die SARS-Corona-Pandemie verbreitet und nur ein Notstand kann diesem Treiben Einhalt gebieten. Es findet somit eine Täter-Opfer-Umkehr statt. Die „Corona-Maßnahmen“ des „Corona-Notstandes“ treffen nicht zentral die Bourgeosie, sie kann gut mit diesem Notstand leben, diese Notstandsmaßnahmen treffen die Arbeiterklasse und vor allem den Massenarbeiter und damit die untersten Schichten der Arbeiterklasse. Diese Maßnahmen des „Corona-Notstandes“ zielen darauf ab, den Massenarbeiter gesellschaftlich zu isolieren, auch in der Fabrik, damit die SARS-Corona-Pandemie nicht auf den Rest der Arbeiterklasse übergeht, denn die Facharbeiterschaft kann nicht so leicht ersetzt werden, wie der Massenarbeiter. So sind die Todeszahlen im Massenarbeiter weitaus höher als in der Facharbeiterschaft, dem Kleinbürgertum und erst Recht in der Bourgeoisie. Nicht das Leben der Arbeiterklasse wird geschützt, sondern das Leben der Bourgeoisie. Damit die Bourgeoisie leben kann, wird die Arbeiterklasse, vor allen der Massenarbeiter, dem Profit geopfert. Das ist die gelebte Solidarität der Bourgeoisie, die gelebte Solidarität im Kapitalismus. Eine andere Solidarität ist im Kapitalismus nicht möglich. Eine andere Solidarität ist nur gegen den Kapitalismus möglich.

Es ist der übergesetzliche Notstand des „Deutschen Herbstes“, den Habermas exekutiert. Dort findet sich das „Freund-Feind“-Schema eines Carl Schmitt wieder. Der bürgerliche Staat selektiert in seinem Handeln nach „Freund und Feind“. Im „Deutschen Herbst“ visierte der bürgerliche Staat der BRD zentral die RAF, aber auch andere bewaffnete linkskleinbürgerliche Gruppen als „Feind“ an, um seine wesentlichen „Feinde“ aus der „extremen Linken“ besser bekämpfen zu können. Eine zugelassene bewaffnete Provokation der RAF, die Entführung und Ermordung des Präsidenten des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) und gleichzeitig Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Hans-Martin Schleyer, führte durch die Methoden der Counterinsurgency zur Zerschlagung des politischen Gesamtzusammenhanges innerhalb der extremen Linken und leitete den Prozeß ihrer eigenen Selbstabwicklung ein. Die Morde von Stammheim sind nur ein Moment in diesem gesellschaftlichen Prozess. Die „Fehler“ des bürgerlichen Staates bei der Ermittlung des Aufenthaltsorts des Entführten Hans –Martin-Schleyer und die provokative Verweigerung eines Austausches mit den politischen Gefangenen in Stammheim führte zur Ermordung von Hans-Martin-Schleyer durch die RAF. Der „Deutsche Herbst“ war eine Strategie der Spannung. Dieser deutsche Spitzenmanager und Präsident von BDI und BDA Hans-Martin Schleyer versuchte den deutschen Imperialismus neue Handlungsfelder jenseits der engen transatlantischen Anbindung an den US-Imperialismus zu erschließen. Aus diesem Grunde geriet die Person Hans-Martin Schleyer ins Visier des US-Imperialismus. Mit seiner Ermordung durch die RAF wurde das Problem für den US-Imperialismus gelöst. Der Fall Hans-Martin-Schleyer beginnt vor seiner Entführung und vor seiner Ermordung durch die RAF. Das Todesurteil über Hans-Martin Schleyer wurde schon vor seiner Entführung gefällt. Nach der Entführung von Hans-Martin Schleyer war die Verweigerung der Austauschlösung Hans-Martin Schleyer gegen die politischen Gefangenen aus Stammheim von Seiten des bürgerlichen Staates das objektive Signal für die physische Liquidierung des Hans-Martin Schleyer durch die RAF. Der BRD-Staat wollte schon von Beginn an nicht verhandeln. Der Fall Hans-Martin Schleyer und der Deutsche Herbst waren ein Modell der Strategie der Spannung. Ein Jahr später wiederholte sich alles in Italien mit der Entführung von Aldo Moro.

Nach Entführung und Ermordung von Hans-Martin Schleyer schaltete der BRD-Staat in den übergesetzlichen Notstand, um die damalige „extreme Linke“ zu zerschlagen. Die Verweigerung des Austausches von Hans-Martin Schleyer mit den politischen Gefangenen im Stammheim ist nur dann zu verstehen, wenn man dieses vereinzelte Moment mit der Strategie der Spannung, den übergesetzlichen Notstand mit seiner konzentrierten Repression gegen die extreme Linke und den internen Differenzen im transatlantischen Verhältnis zwischen dem deutschen und dem US-Imperialismus ins Verhältnis setzt, d.h. es war eine politische und keine juristische Entscheidung gewesen, Hans-Martin Schleyer nicht gegen die politischen Gefangenen aus Stammheim auszutauschen. Eine Entscheidung aus Staatsräson, die notwendig auch gleichzeitig das Todesurteil für Hans-Martin Schleyer war. Hans-Martin Schleyer wurde geopfert; die herrschende Klasse opferte einen der ihren, weil er in der Tendenz das Jalta-Abkommen in Frage stellte. Im Namen der Staatsräson, im Namen der transatlantischen Einheit, wurde Hans-Martin Schleyer geopfert. Der individuelle Terrorismus kann dem kapitalistischen System nichts anhaben, stabilisiert objektiv jedoch das kapitalistische System, indem er der Strategie der Spannung die Tore öffnet und damit den Geheimdiensten ermöglicht, objektiv den individuellen Terrorismus zur Stabilisierung des kapitalistischen Systems umzuschmieden. Im Gegensatz dazu der kollektive rote Terror des Proletariats im revolutionären Bürgerkrieg als letztes Mittel des Proletariats die Bourgeoise zu stürzen, wenn sie nicht kapituliert.

Auch bürgerliche Ideologen erkennen an, daß der bürgerliche Staat Hans-Martin Schleyer der Staatsräson opferte; nicht das Leben jedes Einzelnen schonte, was Habermas zu einem Einwurf herausforderte.

„So soll etwa die Bundesregierung im Falle der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hans Martin Schleyer durch die RAF bewusst in Kauf genommen haben, „dass Menschen aufgrund staatlicher Entscheidung von fremder Hand sterben“. Zwar mag die Zurückweisung der erpresserischen Forderungen nach einem Austausch der RAF-Gefangenen für die Terroristen ein Grund dafür gewesen sein, so zu handeln, wie sie gehandelt haben; aber die Regierung hat die Terroristen durch ihre Ablehnung keinesfalls zu dieser Konsequenz genötigt. In diesem Fall lag kein ursächlicher Zusammenhang vor, wie er dann vorlege, wenn die Regierung als voraussehbare Folge ihrer eigenen politischen Entscheidungen eine vermeidbare Anzahl individuell unbestimmter Erkrankungen und Todesfälle in Kauf nähme“ (Habermas: a.a.O)

Habermas argumentiert juristisch, wo er politisch argumentieren müßte. Die Staatsräson bzw. der Ausnahmezustand bzw. der Deutsche Herbst war ein übergesetzlicher Notstand, handelt notwendig gegen Gesetz und Verfassung, gegen das Grundgesetz und ist eine politische und keine juristische Entscheidung. Mit der Entscheidung gegen den Austausch war das Todesurteil gegen Hans-Martin Schleyer vom BRD-Staat gesprochen. Nicht im juristischen Sinn, wohl aber im politischen Sinn. Im Ausnahmezustand werden erst Recht Menschenleben im Namen der Staatsräson geopfert, das ist gerade der Sinn des Ausnahmezustandes. Der Ausnahmezustand soll die herrschende Klasse und ihren Staat schützten, nicht aber die „Staatsbürger“, konkreter: der Ausnahmezustand soll die herrschende Klasse und ihren Staat vor „ihren Staatsbürgern“ bzw. vor den potentiell oder aktuell revoltierenden Massen, schützen, was auch Opfer, Menschenopfer, in den Reihen der herrschenden Klasse notwendig machen kann. Ein Ausnahmezustand schützt kein Leben, er vernichtet Leben, das ist der Sinn des Ausnahmezustandes. Auf der einen Seite plädiert Habermas für den Ausnahmezustand, konkret für den übergesetzlichen Notstand des Deutschen Herbstes, wie auch für den „Corona-Ausnahmezustand“, auf der anderen Seite will er die Konsequenzen nicht ziehen. Einen gesetzlichen Ausnahmezustand gibt es nicht und kann es nicht geben. Der Ausnahmezustand ist immer ein Zustand der Gesetzlosigkeit, wo sich das Gesetz der Tyrannei der Notverordnungen des bürgerlichen Staates die Arbeiterklasse beugt. Ein Ausnahmezustand, für den Habermas plädiert, ist immer eine Negation von Gesetz und Verfassung und immer eine Negation von „Schutz des Lebens und der Gesundheit“ der Staatsbürger. Einen gesetzlichen Ausnahmezustand zu fordern ist genauso irrational, wie einen geraden Kreis zu fordern. Carl Schmitt zumindest zieht die Konsequenzen, Habermas versteckt sich hinter Halbheiten.

Deutlich wird auch, daß Habermas einen Ausnahmezustand nicht nur bei einer Pandemie in Erwägung zieht, sondern auch schon bei einer „Bedrohung des Staates“ durch ungefähr fünf bis zwanzig Personen, die maximal zum Zeitpunkt des Deutschen Herbstes die RAF bildeten, d.h. fünf bis zwanzig Personen die bewaffnet waren stellten angeblich die Sicherheit des BRD-Staates in Frage. Diesen Personen entgegen stand die ganze Staatsmaschinerie, ein Millionenheer der Bundeswehr, zehntausende Angehörige der Geheimdienste und über hunderttausend Polizisten und diese konnten angeblich nicht mit einer kleinen Gruppe wie die RAF fertig werden und brauchten erst den übergesetzlichen Notstand, um mit der RAF in die Defensive zu drängen. Mit Rationalität hat dies nicht mehr zu tun, aber umso mehr mit einer Strategie der Spannung und mit dem Ausnahmezustand. Der Ausnahmezustand des Deutschen Herbstes war ein Verbrechen an der Arbeiterklasse. Um „Terroristen“ zu bekämpfen, bedarf es keines Ausnahmezustandes.

Doch Habermas lebt in seiner „Welt der Ideen“:

„Das Verbot der Rettungsfolter verrät vielmehr die Logik, wonach es dem Staat versagt ist, die Gefährdung von Gesundheit und Leben eines Bürgers als Folge eigenen politischen Handelns in Kauf zu nehmen. Wenn der Staat im Falle eines Bankraubes das Leben von Geiseln nicht ohne die Gefährdung des Lebens eines Geiselnehmers retten kann, greift er ein, um seiner Pflicht zu genügen, das Leben eines unschuldigen und aktuell schutzbedürftigen Bürgers zu gewährleisten. (Habermas: a.a.O)

Habermas „vergißt“, daß die Ausnahmesituation dem bürgerlichen Staat die Freiheit gibt, seine Verfassung und Gesetze rechtmäßig zu brechen und somit ist der bürgerliche Staat nicht mehr gehalten „Leben zu retten, d.h. die Gesundheit und das Leben der Bürger zu schützen. Im Gegenteil, im Ausnahmezustand darf der bürgerliche Staat ohne weiteres auch „Leben und Gesundheit“ seiner Bürger opfern, wenn es der Staatsräson dient. Auch Folter ist dann möglich. Der Ausnahmezustand kann an kein Gesetz und keine Verfassung gebunden werden, denn er ist schrankenlos. Habermas plädiert in der „Corona-Krise“ für den Ausnahmezustand in einer Ausnahmesituation, d.h. die Suspendierung der Verfassung und der Gesetze, dies noch dazu angeblich aus der Verfassung hergeleitet und gleichzeitig soll die Einhaltung der Gesetze und der Verfassung durch den Staat in einem Ausnahmezustand gewährleistet sein. Dies ist jedoch eine logische Unmöglichkeit. Schon im Deutschen Herbst wurde Folter angewendet, auch Isolationsfolter. Der Ausnahmezustand gegen den „inneren Feind“ RAF machte es möglich. Ausnahmezustand geht immer mit Rechtlosigkeit und Entrechtung einher und jede Opposition wird dann zum „inneren Feind“. Und auch Habermas marschiert gegen den „inneren Feind,“ im Deutschen Herbst“ und jetzt in der „Corona-Krise“. Während Carl Schmitt den Terror des Ausnahmezustandes, den Staatsterror des Ausnahmezustandes, offen ausspricht, versucht Habermas den Staatsterror des Ausnahmezustandes zu verschleiern, indem er ihn „demokratisch“ legitimiert. Ein Ausnahmezustand, eine Ausnahmesituation, ist niemals „demokratisch“ und niemals „sozial“.

Wie normal für Habermas der Ausnahmezustand ist, zeigt auch seine Position zur „übergesetzlichen Todesstrafe“, der von ihm als „finaler Rettungsschuß“ verharmlost wird.

„Dementsprechend greift der Staat im Falle des „finalen Rettungsschusses“ als der neutrale Hüter des Rechts in einen lebensgefährlichen Streit zwischen einzelnen Personen ein, während er heute in der Rolle eines politischen Akteurs bei der Verfolgung kollektiver Ziele die Verantwortung für mögliche Nebenfolgen des eigenen Handelns trägt; in dieser Rolle hat er die Pflicht, nach Möglichkeit alles zu vermeiden, was das Leben von Bürgern aufs Spiel setzt“ (Habermas: a.a.O.)

Der „finale Rettungsschuß“ von Habermas ist nichts anderes als der „finale Todesschuß,“ der nur dem bürgerlichen Staat vorbehalten ist und keinem anderen. Auch eine Notwehrsituation rechtfertigt keinen „finalen Todesschuß.“ Im „finalen Todesschuß“ versucht der bürgerliche Staat nicht, den Störer zu überwältigen, sondern den „Feind“ zu töten. Der „finale Todesschuß“ ist ein Produkt des deutschen Herbstes und der Strategie der Spannung und keine Reaktion auf eine ansteigende Kriminalitätsrate, er richtet sich konkret gegen die „extreme Linke“ und ist eine Methode des präventiven Bürgerkrieges gegen den „inneren Feind“. Mit „Demokratie“ und „Rechtsstaat“, mit einem Staat als „neutraler Hüter“ und Beschützer der Staatsbürger in Fragen des Lebens und der Gesundheit, gar als „Lebensschützer,“ hat das wirklich nichts zu tun. Eher mit politischer Diktatur, Ausnahmezustand, Notstand, Kriegsrecht, Todesstrafe. Der „finale Todesschuß,“ den Habermas als „finalen Rettungsschuß“ verharmlost und damit legitimiert, ist nichts anderes als eine extralegale Hinrichtung, eine Methode der Counterinsurgency. Wenn Methoden der Counterinsurgency mit dem Grundgesetz der BRD abgedeckt werden können, stellt sich die Frage, worin die „Demokratie“ besteht, denn Counterinsurgency und ein parlamentarisch-demokratisches politisches System schließen sich aus. Counterinsurgency verlangt nach einem offenen oder verdeckten Notstand. Der „finale Todesschuß“ ist ein Moment des Ausnahmezustandes innerhalb der parlamentarisch-demokratischen Form des bürgerlichen Staates.

Da Habermas den Deutschen Herbst verteidigt, wundert es nicht, daß er auch den „Corona-Notstand“ verteidigt. Der „finale Todesschuß“ des deutschen Herbstes führt direkt in den „Corona-Notstand“, denn „Gefahr ist in Verzug“, die „nationale Sicherheit“ wird in beiden Fällen ebenfalls bedroht. Wenn „Gefahr“ in Verzug ist, wenn die „nationale Sicherheit“ bedroht ist, wird die demokratische Regierungsform außer Kraft gesetzt bzw. konkret: In schweren Krisenzeiten wird die parlamentarisch-demokratische Regierungsform der Bourgeoisie durch einen offenen oder verdeckten Notstand ersetzt, also dann, wenn sie wirklich gebraucht wird. Ebenso werden die sozialen Sicherungssysteme dann vom Kapital angegriffen und drastisch reduziert, wenn sie in einer schweren Krise dringend benötigt werden. Die privaten Versicherungen versagen ebenfalls in einer schweren Krise, also dann, wenn sie schlagend notwendig werden. Alle Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus sind prekär und können in schweren kapitalistischen Krisen zerstört werden; sie müssen permanent verteidigt werden, wenn sie zumindest als Kern weiterbestehen sollen, denn auch die Eroberungen der Arbeiterklasse sind an die „Normallage“ angebunden. In „Normallagen“ aber sind die Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus hilfreich, aber nicht existentiell. Jedoch in schweren Krisen werden die Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus für die Arbeiterklasse existentiell wichtig, dann droht jedoch die Zerschlagung durch den bürgerlichen Staat. Der offene Zynismus von Carl Schmitt faßt die Lage klarer, als der „demokratisch-soziale“ Parteigänger des Notstandsstaates Habermas. Carl Schmitt spricht das aus, was Habermas zudecken will. Habermas ist der weichgespülte Carl Schmitt mit seinem „Ausnahmezustand mit menschlichen Antlitz“. Statt die qualitativen Grenzen zwischen dem parlamentarisch-demokratischen bürgerlichen Staat und dem bürgerlichen Ausnahmestaat zu bestimmen, trachtet Habermas danach, die schon verwirrten Verhältnisse durch seine Apologetik und Anrufung des Ausnahmezustandes noch weiter zu verwirren. Habermas „halber Ausnahmezustand“ führt notwendig zum „ganzen Ausnahmezustand“ eines Carl Schmitt und somit ist Habermas der Wegbereiter für den „totalen Ausnahmezustand“ dessen Fürsprecher Carl Schmitt ist. Hinter einem Habermas steht immer Carl Schmitt; Habermas ist der Steigbügelhalter für Carl Schmitt und damit auch für die Reaktion in ihren härtesten Formen.

Bei Carl Schmitt ist die Normallage einer Gesellschaft eine technokratische Verwaltung. Politik bezieht sich wesentlich auf Krisenzeiten, auf Ausnahmezeiten, auf den Ernstfall. Dann ist die Normallage beseitigt. Politik bei Carl Schmitt bezeichnet immer eine Freund-Feind-Unterscheidung und baut immer auf den Ernstfall auf, d.h. die Politik trägt immer den Keim des Krieges bzw. Bürgerkrieges in sich, er ist immer potentiell möglich. Der Krieg ist die höchste Form der Politik. Frieden ist dann bei Carl Schmitt immer ein Kräftevergleich, eine Politik der Abschreckung. Damit formuliert Carl Schmitt nur deutlich die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, während Habermas alles versucht, um den Ausnahmezustand „demokratisch, sozial und human“ zu rechtfertigen, denn ein solcher Ausnahmezustand läßt sich besser der Arbeiterklasse verkaufen, denn er sieht ja nicht wie Ausnahmezustand aus, erweckt gefährliche Illusionen in der Arbeiterklasse und schläfert diese ein. Wenn sie aus ihrem Schlaf aufwacht, ist es schon zu spät und Carl Schmitt triumphiert.

Im November 2021 wurde der „Corona-Notstand“ drastisch verschärft. Nun muß der Impfstatus sogar im öffentlichen Nahverkehr und der Eisenbahn offengelegt werden, wie auch am Arbeitsplatz. Dann. wenn man den Datenschutz wirklich braucht, wird er zerstört. Der Druck auf den im „Corona-Notstand vereinzelten und atomisierten Lohnarbeiter wächst weiter. Den Impfstatus kann sich das Kapitalkommando und auch der bürgerliche Staat aus den privaten Datenbanken des Kapitals und aus den Datenbanken des bürgerlichen Staatsapparates holen, dazu muß niemand seinen individuellen Impfstatus offenlegen. Die Offenlegung des Impfstatus durch den Lohnarbeiter ist nichts anderes als der Loyalitätstest, den Zwang zur Unterwerfung, der Zwang zum Gehorsam gegenüber dem individuellen Kapitalkommando und dem gesellschaftlichen Kapitalkommando des bürgerlichen Staates. Indem der bürgerliche Staat dem individuellen Kapitalkommando die Kontrolle über die hoheitliche Aufgabe der Erfassung des Impfstatus überträgt, als Recht und als Pflicht, beweist der Lohnarbeiter gleichzeitig seine Loyalität und seinen Gehorsam gegenüber dem bürgerlichen Staat und dem individuellen Kapitalkommando, wenn er seinen Impfstatus offenbart. Es ist eine doppelte Unterwerfung. Wird diese verweigert, wird das individuelle Kapitalkommando gegen den Verweigerer repressiv vorgehen und versuchen, den Lohnarbeiter zu entlassen, im Namen des bürgerlichen Staates und im Namen des individuellen Kapitalkommandos. Treue zum bürgerlichen Staat ist heute auch gleichzeitig Treue zum individuellen Kapitalkommando und Treue zum individuellen Kapitalkommando ist heute gleichzeitig Treue zum bürgerlichen Staat. Es findet eine Durchstaatlichung des Einzelkapitals statt, wie auch gleichzeitig eine Durchkapitalisierung der Repression des bürgerlichen Staates.

Wer nicht gegen das SARS-Corona -Virus geimpft ist, muß einen negativen Test beibringen, um an seinen Arbeitsplatz zu gelangen bzw. bei einer weiteren Verschärfung des Corona-Notstandes sind auch keine Antigentests mehr zugelassen, dann darf der Arbeitsplatz nicht mehr betreten werden. Eine Entlohnung gibt es dann auch nicht und es steht die Frage der Entlassung im Raum. Die repressiven Maßnahmen, darunter auch die Abfrage des Impfstatus, durch den bürgerlichen Staat, führen zu einer realen Zwangsimfpung. Wer diese Anti-Corona-Impfung ablehnt oder nur die Feststellung seines Impfstatus, verweigert gleichzeitig gegenüber dem bürgerlichen Staat und dem individuellen Kapitalkommando den Gehorsam und wird aus dem Betrieb gesäubert. Der Datenschutz im Betrieb über die individuellen Gesundheitsdaten ist damit in einem wesentlichen Bereich durchbrochen. Ein erster großer Erfolg für das Kapital. Das Kapital wird versuchen, nun den gesamten Datenschutz im Betrieb zu schleifen. Wenn der Datenschutz dringend benötigt wird, in einer schweren Krise, wird er vom Kapital zerstört. Der Datenschutz ist nur dann gesichert, wenn er kaum benötigt wird.

Die Gewerkschaften lehnen formal die Aufhebung des Datenschutzes ab, real jedoch unterwerfen sie sich dem Notstandsstaat, indem sie ihre Mitglieder auffordern, „freiwillig“ ihren Impfstatus offenzulegen. Ein Widerstand des gegen die partielle Aufhebung des Gesundheitsdatenschutzes im Betrieb wird nicht organisiert. Noch nicht einmal wird individueller juristischer Widerstand in Erwägung gezogen. Die DGB-Bürokratie unterwirft sich dem Diktat des „Corona-Notstandsstaates“. Der Datenschutz der Arbeiterklasse wird mit Zustimmung und Akzeptanz der Gewerkschaftsbürokratie zerstört. Zentral ist der proletarische Widerstand, wenn er sich gegen indirekte Abfragen des Impfstatus über die Datenbanken hinter den Rücken der Lohnarbeiter richtet und auch gleichzeitig gegen die direkte Abfrage des Impfstatus am Arbeitsplatz. Bis jetzt vermeidet die Gewerkschaftsbürokratie eine offene Zustimmung zu einer Impfpflicht, während die Linkspartei offen eine Impfpflicht einfordert. In anderen Staaten, auch EU-Staaten gibt es proletarische Massenproteste gegen eine Impfpflicht, rufen auch Gewerkschaften zum Widerstand auf. Aber nicht der DGB und seine Einzelgewerkschaften.

Immer deutlicher sind die Gewerkschaften gleichgeschaltet. Die „Corona-Deflationspolitik wird von der Gewerkschaftsbürokratie mitgetragen. Während die inflationären Tendenzen die Reallöhne um ca. 5 bis 6 Prozent fallen lassen, wird dieser Reallohnverlust in den Tarifkämpfen nicht kompensiert, sondern in den Tarifverträgen nur reduziert und festgeschrieben. Reallohnverlust bleibt Reallohnverlust, auch wenn er reduziert wird. Mit diesen Verzichts-Tarifverträgen wird die Arbeiterklasse eher im Sinne einer Arbeitsfront diszipliniert und ist ein Moment in der Neuzusammensetzung des Kapitals bzw. der Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Die DGB-Bürokratie ist sehr eng an der neuen „Ampel-Regierung“ aus SPD, FDP und Grüne beteiligt, hat ebenfalls durch ihre enge Anbindung an die SPD an den Koalitionsverhandlungen teilgenommen und an der Bildung dieser neuen „Ampel-Regierung“ mitgewirkt, trägt also diese „Ampel-Regierung“ mit und damit explizit auch die Deflationspolitik dieser neuen Regierung.

Die Politik der Lohnzurückhaltung durch die Gewerkschaften ist ein zentrales Moment des Modell Deutschland (Hegemonie der Weltmarktsektoren des Kapitals gegenüber den Binnensektoren des Kapitals) und ist eine scharfe Waffe gegen die Weltmarktkonkurrenz: ist die materielle Grundlage für die deutsche Exportoffensive, welche die Akkumulation des deutschen Kapitals trägt. Das Modell Deutschland ist verantwortlich für die Außenhandelsungleichgewichte innerhalb der EU und auch in der Welt. Die Exportüberschüsse des Modell Deutschland stehen notwendig die Defizite der Weltmarktkonkurrenten gegenüber. Besonders davon ist die Eurozone innerhalb der EU von der deutschen Exportoffensive betroffen, da durch die einheitliche Währung EURO der relative Schutzmechanismus der Wechselkurse nicht existent ist, so daß über eine Abwertung der eigenen nationalen Währung nicht mehr der Druck der deutschen Exportoffensive vermindert werden kann. Dann kann nur über eine Lohnkonkurrenz, d.h. durch das Absinken der Löhne, die Kapitalverwertung des „eigenen“ nationalen Gesamtkapitals verbessert werden, um die deutsche Exportoffensive zu schwächen. Während die Exportüberschüsse des deutschen Imperialismus wachsen, wachsen in den anderen Staaten der EURO-Zone die Defizite und die Reallöhne fallen deutlich ab. Die „Corona-Krise“ verschärft diese Situation erheblich. Die ökonomischen Ungleichgewichte transformieren sich immer deutlicher in politische Ungleichgewichte und die „Corona-Krise“ beschleunigt diese Entwicklung. Die neue „Ampel-Regierung“ droht für Deutschland die „Schuldenbremse“, welche durch die „Corona-Krise“ ausgesetzt war, wiedereinzusetzen und ebenfalls die EU-Schuldenbremse. Vor allem die südlichen EU-und Eurozonen-Staaten haben mehr durch die „Corona-Krise“ gelitten als der deutsche Imperialismus. Die Wiedereinsetzung der EU-Schuldenbremse ist für diese Staaten eine große Bedrohung. Aus diesem Grunde hat der französische und der italienische Imperialismus einen „Freundschaftsvertrag“, den „Quirinal-Vertrag,“ im November 2021 abgeschlossen, dessen Stoßrichtung sich gegen den deutschen Imperialismus richtet. Das Ziel ist es, die Aktivierung der Schuldenbremse in der EU durch den deutschen Imperialismus zu verhindern. Die EU und die Euro-Zone driftet seit der „Corona-Krise“ tendenziell vermehrt auseinander, deutlicher und schneller vor der „Corona-Krise“, der deutschen „Corona-Deflationspolitik“ sei Dank, welche über den „Corona-Notstand“ abgestützt wird. Der Schutzschirm des „Corona-Notstandes“ ermöglicht auch die Verschärfung des Hartz IV-Systems und dies droht bei einer Radikalisierung der Deflationspolitik, denn die Deflationspolitik weiß den „Corona-Notstand“ bei sich. Die „Ampel-Regierung“ droht den Hartz IV-Beziehern mit einem „begleiteten Coaching und aufsuchender Sozialarbeit“. Dies läßt sich gut im „Corona-Notstand“ realisieren.

Das Modell Deutschland bezieht sich nicht nur auf die Hegemonie der Weltmarktsektoren über die Binnenmarktsektoren des Kapitals, sondern auch auf präventive repressive Widerstandsbekämpfung des bürgerlichen Staates, auf die enge korporatistische Klassenzusammenarbeit zwischen Kapital, bürgerlichen Staat und Gewerkschaftsbürokratie, die sich derzeit in der Form des „Corona-Notstands“ kristallisiert. Dieser korporatistsiche Block setzt derzeit auf eine innere Militarisierung, indem neben Regierung und Parlament ein Krisenstab eingerichtet wird, dessen Vorsitz die Bundeswehr in Gestalt eines Generals innehat. Dieser General ist auch für den Inlandseinsatz der Bundeswehr zuständig. Konkret heißt dies, daß die Bundeswehr politisch freies Schußfeld erhält und die zivilen Staatsapparate unter den repressiven Staatsapparaten, der von der Bundeswehr geführt wird, subsumiert werden. Das übliche Prozedere eines Ausnahmezustands. Das Bundesverfassungsgericht hat dann auch ordnungsgemäß den „Corona-Notstand“ seit dem 13. und 17. März 2020 gebilligt. Kein Verfassungsgericht wird sich dem Ausnahmezustand in den Weg stellen. Der Ausnahmezustand ist die Stunde der Exekutive und erst Recht nicht der Judikative. Die Aufgabe der Judikative ist es, den Ausnahmezustand zu legitimieren. Das Bundesverfassungsgericht hat den Deutschen Herbst akzeptiert und legitimiert, ebenso den Hamburger G-20 Notstand im Sommer 2017. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß der „Corona-Notstand“, der weit über den Deutschen Herbst und den G-20 Notstand in Hamburg hinausgeht, als verfassungswidrig bezeichnet wird. Der „Corona-Notstand“ ist nichts anderes als der Deutsche Winter.

Auf diese Weise rückt der Ausnahmezustand immer deutlicher gegen die Arbeiterklasse vor, dringt immer tiefer in alle Poren der bürgerlichen Gesellschaft ein und vor allem in dem proletarischen Klassenalltag. Der Impfstatus ist heute der Punkt, wo sich Freund vom Feind unterscheidet, bzw. der Impfstatus als Freund-Feind-Erkennung ist das Produkt des bürgerlichen Staates und seiner Notstandspolitik-ganz im Sinne von Carl Schmitt. Es geht eben nicht nur um den medizinischen Vorgang der Impfung. Die Anti-Corona-Impfung, welche sich noch in der experimentellen Phase befindet und schon massenhaft verabreicht wird, ist mehr als ein medizinischer Akt, d.h. sie ist gleichzeitig auch ein politischer Akt an dem sich „Freund“ und „Feind“ scheidet. Es geht auch um die politische Kontrolle des Körpers und des Verhaltens der Arbeiterklasse, heute würde man nach Foucault sagen, es geht um „Biopolitik“. Diese „Biopolitik“ ist eine kapitalistische „Biopolitik“ der Abrichtung und Zurichtung der Ware Arbeitskraft für einen neuen historischen Ausbeutungszyklus. Diese „Anti-Corona-Impfung“ hat noch eine zusätzliche politische Dimension, sie ist eine Waffe in der Neuzusammensetzung des Kapitals gegen die Arbeiterklasse und leitet die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse durch das Kapital ein. An der „Impffrage“ misst der bürgerliche Staat und auch das individuelle Kapitalkommando die Treue zu jeweiligen Einzelkapital und zum bürgerlichen Staat ab. Wer sich nicht einer Anti-Corona-Impfung unterzieht, wird dann zum „Feind“ der mit allen Mitteln bekämpft werden muß. Immer mehr richtet sich der „Corona-Notstand“ gegen den Teil der Bevölkerung, der sich keiner „Corona-Impfung“ unterziehen will. Die Repression des bürgerlichen Staates gegen den impfunwilligen Teil der Bevölkerung vermittels des „Corona-Notstandes“ trifft nicht nur diesen, sondern die gesamte bürgerliche Gesellschaft, die gesamte Arbeiterklasse. Dies ist nicht zufällig, sondern das politische Ziel. Die SARS-Corona-Pandemie als eine normale kapitalistische Pandemie wird dafür ausgenutzt, über eine stumme Impfpflicht den Einstieg in die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse zu legitimieren, denn mit der Offenlegung des Impfstatus wird nicht nur die Person erfaßt, die nicht geimpft ist, sondern auch die Person, welche geimpft ist, es werden „Freund“ und „Feind“ gleichzeitig erfaßt. Mit dem „Freund“ wird auch der „Feind“ erkannt und umgekehrt. Die Disziplinierung und Produktion des „Feindes“ durch den bürgerlichen Staat führt auch zur Disziplinierung des „Freundes“ bzw. produziert ihn erst als „Freund“.

Die stumme Impfpflicht als Loyalitätstest für das individuelle Kapitalkommando und der Loyalität dem bürgerlichen Staat gegenüber ist nur der Anfang. Die Loyalitätsforderungen werden sich vermehren. Es droht eine „Sicherheitsüberprüfung“ aller Lohnarbeiter. Dies kann eine offizielle oder eine private „Sicherheitsüberprüfung“ sein bzw. eine Mischung aus beiden Formen. Wer als „Sicherheitsrisiko“ oder gar als „Hochsicherheitsrisiko“ klassifiziert wurde, wird der Repression des bürgerlichen Staates und des individuellen Kapitalkommandos ausgesetzt und damit der drohenden Arbeitslosigkeit, die nur schwer wieder aufzuheben ist. Ein Berufsverbot droht. Es geht um die Säuberung der Betriebe von proletarischen Widerstandskernen, denn diese behindern die Neuzusammensetzung des Kapitals bzw. die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse durch das Kapital. Der Feind, auf den das Kapital als Ganzes zielt, ist die Arbeiterklasse, welche derzeit weiter gespalten wird in die Kategorien „Geimpft“ und „Ungeimpft“. Teile und herrsche im Sinne bürgerlicher Klassenherrschaft. Das Kapital kann stumm hinter dem Rücken der Arbeiterklasse indirekt die Loyalität jedes einzelnen Lohnarbeiters erfassen, doch es kann zur besonderen Repression auch die Lohnarbeiter auffordern, eigene Anträge auf „Sicherheitsüberprüfung“ zu stellen, genau wie in der „Corona-Impffrage, denn dann ist der Disziplinierungseffekt und die Abschreckung noch größer.

Die drohenden „Sicherheitsüberprüfungen“ sind ein Moment im Kampf gegen den „Extremismus“ und die neue Bundesregierung aus SPD, Grüne und FDP legt ein besonderes Schwergewicht auf den „Linksextremismus“. Hier liegt der eigentliche Feind, den es aus Sicht der Bourgeoisie zu bekämpfen gilt. Und „linksextremistisch“ kann jede noch so harmlose Äußerung sein, die bisher eine ganz normale Äußerung und ganz normales Verhalten war. Nur der Blick der Bourgeoisie, erzwungen durch die Notwendigkeiten der Akkumulation von Kapital, ändert sich.

Die Frage der „Corona-Impfung“ dient nur dem allgemeienen Feindbildaufbau. Ein äußerer und innerer Feind verschafft dem Kapital große Freiheiten im Innenverhältnis, wie im Außenverhältnis, denn es versucht die Arbeiterklasse in einen Burgfrieden einzusperren. Der „Feind“ kann beliebig gewechselt werden, je nach den Notwendigkeiten der Akkumulation.

Immer mehr werden die „Ungeimpften“ zum Feind erklärt. Ohne Umschweife werden immer mehr die „Ungeimpften“ zu den „Querdenkern“ und ihren Protesten gezählt. Die „Querdenker“ mit ihren Protesten sind eine kleinbürgerliche Protestbewegung, welche sich zentral aus dem alten Kleinbürgertum speist. Um das alte Kleinbürgertum herum gruppiert sich dann das neue Kleinbürgertum. Dieser Protestbewegung geht es um die Restauration des zusammengebrochenen neoliberalen Kapitalismus und scheitert damit an der neuen Form des multipolaren Kapitalismus. Ein Zurück in den neoliberalen Kapitalismus ist nicht mehr möglich. Diese „Anti-Corona-Proteste“ sind elitär, statt egalitär und beziehen sich nicht auf die Arbeiterklasse, sondern stehen den egalitären Interessen der Arbeiterklasse entgegen. Jedoch stören sie dennoch die Neuzusammensetzung des Kapitals und werden deshalb von der Bourgeoisie immer mehr bekämpft. Der bürgerliche Staat erklärt sie zum Feind, wenn die „Querdenker-Proteste“ als extremistisch eingestuft werden. Nun geht der bürgerliche Staat langsam darüber hinaus, indem schlicht und einfach immer mehr die „Ungeimpften“ zu „Querdenkern“ und damit zu „Extremisten“ erklärt werden. Die Maßnahmen des „Corona-Notstandsstaates“ gegen die „Ungeimpften“ radikalisieren sich immer weiter, je mehr die SARS-Corona-Pandemie sich ausdehnt. Der indirekte Impfzwang wird immer weitergetrieben und endet in einen „Lockdown“ für „Ungeimpfte“. Die „Ungeimpften“ werden entrechtet, denn sie sind jetzt „Gefährder“, Feinde, und keine Opposition mehr, sondern Aussätzige, die aus der „Gesellschaft“ ausgestoßen werden. Die „Ungeimpften“ und die „Querdenker“ werden nicht der letzte „Feind“ sein. Dieses Muster der „Feinderklärung“ wird sich gegen die Arbeiterklasse fortsetzten, wenn aus ihrer Mitte heraus Widerstand gegen die „Corona-Deflationspolitik“ geleistet wird. Die „Gefährder“ sind immer „Feinde“, bzw. der Begriff „Gefährder“ ist ein anderer Begriff für „Feind.“ Der „Feind“ ist nicht der Straftäter, denn der „Feind“ muß keine Straftaten begehen, um „Feind“ zu sein: es reicht die Potentialität dazu. Der bürgerliche Staat schafft sich sein Feindrecht, welches weit über das Feindstrafrecht hinausgeht. Das Passierscheinsystem des „Corona-Ausweises“ dient der Gewöhnung an die Überwachung, Kontrolle und Disziplinierung und kann flexibel an neue Bedingungen und Notwendigkeiten angepaßt werden. Wer weiß, daß er konkret überwacht wird, baut eine innere Zensur auf und ordent sich dem individuellen und kollektiven Kapitalkommando unter. Am Horizont steht eine Impfpflicht. Wer sich dieser Impfpflicht entzieht wird mit der ganzen Repression des bürgerlichen Staates konfrontiert. Mit dem „Corona-Notstand“ und der „Corona-Impfpflicht“ werden deutliche Zeichen gesetzt, Zeichen über die SARS-Corona-Pandemie hinaus. Das Kapital strebt die restlose Erfassung der Arbeiterklasse an und damit jedes einzelnen Gliedes der Arbeiterklasse und will durchregieren, bis in jedes einzelne Glied der Arbeiterklasse, denn es gilt den gegenwärtigen proletarischen Eigensinn zu vernichten. Der gegenwärtige proletarische Eigensinn ist die eigentliche Pandemie, welche für das Kapital ein Problem darstellt und reproduziert sich in der SARS-Corona-Pandemie und im „Corona-Notstand“. Nur aus diesem Grund entscheidet das Kapital, daß die Pandemie eine Pandemie ist und mit militärischen Mitteln bekämpft werden muß. Eine Pandemie kann eine Pandemie sein ohne formal vom bürgerlichen Staat als Pandemie definiert zu werden. Erst wenn der bürgerliche Staat entscheidet, die Pandemie als Pandemie anzuerkennen wird sie offiziell zur Pandemie, ansonsten läuft die reale Pandemie inoffiziell weiter. Erst Recht wird in der Großen Krise nur dann eine Pandemie zur Pandemie, wenn eine Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse notwendig wird, um die Verwertungsbedingungen des Kapitals zu rekonstruieren. Eine Pandemie alleine kann dem Kapitalismus nichts anhaben, wohl aber eine Pandemie des proletarischen Eigensinns. Wegen einer normalen Pandemie wird das Kapital niemals einen Notstand verhängen, anders jedoch bei einer Pandemie des proletarischen Eigensinns, des proletarischen stillen Widerstands, der im Laufe des Jahres 2019 immer lauter wurde und sich in proletarischen Revolten darstellte. Die Bourgeoisie fürchtet den „rasenden Orc“. Ein Notstand wurde notwendig. Aus diesem Grunde wurde die reale SARS-Corona-Pandemie zur offiziellen, staatlich-anerkannten, Pandemie aufgewertet und der „Corona-Notstand“ verkündet. Der „Corona-Notstand“ ist die kapitalistische Impfung gegen den proletarischen Eigensinn, eine spezielle Medizin gegen den Klassenkampf des Proletariats im Sinne der Kapitalverwertung. Mit der Medizin des „Corona-Notstandes“ soll das stille subversive Verhalten der Arbeiterklasse unterbunden werden. Für das Kapital ist vor allem der proletarische Eigensinn und damit die Aufsässigkeit gegenüber dem gegenwärtigen individuellen und gesellschaftlichen Kapitalkommando, materialisiert in den weltweiten Revolten des Jahres 2019, bzw. der proletarische Klassenkampf, eine gefährliche Pandemie, weit gefährlicher als die SARS-Corona-Pandemie. Der „Corona-Notstand“ ist dann die präventive Antwort des Kapitals auf die Pandemie des proletarischen Klassenkampfes und die aktuelle Antwort auf die SARS-Corona-Pandemie. Es gelang zwar im Jahr 2020 die proletarischen Revolten in die Defensive zu drängen, doch 2021 leben sie stärker als je zuvor wieder auf. Die USA erleben eine Streikwelle, wie seit Jahrzehnten nicht mehr, gleichzeitig eine Flucht aus bestimmte prekäre Arbeitsverhältnisse. Die inflationären Tendenzen zwingen die Arbeiterklasse zum Handeln und das bisherige Niveau des „Corona-Notstandes“ ist zu schwach, die Arbeiterklasse zu disziplinieren. Es ist also mit einer Ausdehnung des „Corona-Notstandes“ durch das Kapital zu rechnen, denn die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse als Moment der Neuzusammensetzung des Kapitals zur Rekonstruktion der Verwertungsbedingungen läßt sich so nicht realisieren. Aus diesem Grunde sieht sich das Kapital das SARS-Corona-Virus noch einmal genauer an und entdeckt eine neue Mutation, die den Namen Omikron erhält. Die Ausbreitung des Omikron-Virus zwingt das Kapital dann wieder erneut repressiv tätig zu werden, den „Corona-Notstand“ auszudehnen. Nun ist in den Metropolen oftmals der Impfstatus zentral, um an den Arbeitsplatz zu kommen, um Arbeitslosengeld zu erhalten, um sich gesellschaftlich notwendig reproduzieren zu können, denn auch viele Geschäfte verlangen den Impfstatus, der im Impfausweis niedergelegt ist. Dieser ist nur gültig, mit Abgleich von staatlichen Identitätsausweisen. Es droht eine Grenzkontrolle an jedem Arbeitsplatz, an jedem Geschäft oder im öffentlichen Nahverkehr/Eisenbahn. Das Kapital zielt darauf ab, die räumliche Mobilität zu kontrollieren und kann über das Corona-Passierscheinsystem eine Kontaktverfolgung realisieren. Auf diese Weise verschärft sich der „Corona-Notstand“. Die SARS-Corona-Pandemie ist die Generallegitimation für die konkrete Notstandspolitik gegen die Arbeiterklasse. Immer deutlicher wird auch, wer die „Corona-Notstandspolitik“ kritisiert, wird immer mehr als „Feind“ angesehen. Der Begriff „Feind“ wird nicht gebraucht, wohl aber der Begriff „Extremist“, was politisch ein Synonym für den Begriff „Feind“ ist. Der Begriff „Feind“ zielt nach innen und außen. Die Neuzusammensetzung des Kapitals muß gegen die Arbeiterklasse und gegen die Weltmarktkonkurrenz realisiert werden; der „Corona-Notstand“ richtet sich damit gleichzeitig gegen Arbeiterklasse und Weltmarktkonkurrenz. Der multipolareWeltmarkt ist die Form und die Arena, wo sich die Neuzusammensetzung des Kapitals verwirklichen muß, was zu den internationalen und geopolitischen Spannungen führt, wobei der „Corona-Notstand“ eine Waffe gleichzeitig gegen die Arbeiterklasse und gegen die internationale Weltmarktkonkurrenz ist. Die Neuzusammensetzung des Kapitals- die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse- kann sich nur international realisieren und fällt jetzt tendenziell mit der Frage der Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette zusammen. Der multipolare Weltmarkt ist nur ein Durchgangsstadium zu einem neuen Hegemon, der die imperialistische Kette organisiert. Dieser neue Hegemon der imperialistischen Kette muß in einem Dritten Weltkrieg oder in einer Reihe von imperialistischen Kriegen ausgekämpft werden, ohne Gewalt, ohne Krieg und damit auch ohne Ausnahmezustand, kann die Frage der Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette nicht geklärt werden. Die notwendigen imperialistischen Kriege können in offenen oder verdeckten Kriegen ausgefochten werden. Einen Kapitalismus ohne Krieg, ohne Ausnahmezustand, ist gegenwärtig nicht zu haben. Nur aus diesem Grund forciert die SARS-Corona-Pandemie die internationalen geopolitischen Spannungen. Hinter dem Nebelschleier der SARS-Corona-Pandemie verbirgt sich nur der sich in einer Großen Krise befindliche Kapitalismus und die SARS-Corona-Pandemie ist nur der Anlaß für die finale Phase der Neuzusammensetzung des Kapitals bzw. der Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, nicht aber der Grund. Jeder Grund findet notwendig- zufällig seinen Anlaß, denn der Anlaß ist beliebig und gegenwärtig ist die SARS-Corona-Pandemie der notwendig- zufällige Anlaß für die Neuzusammensetzung des Kapitals, welche dem Kapital durch das Wertgesetz aufgeherrscht wird. Die SARS-Corona-Pandemie ist vom Kapitalismus in multipolarer Form nicht zu trennen und konnte nur in einem verwesenden und verfaulten neoliberalen Kapitalismus auftreten und ihn zu Grabe tragen und gleichzeitig der Geburtshelfer eines multipolaren Kapitalismus werden, d.h. die SARS-Corona-Pandemie scheidet den multipolaren Kapitalismus vom neoliberalen Kapitalismus, ist der Grenzwächter zwischen zwei kapitalistischen Epochen. Damit ist die SARS-Corona-Pandemie ein Moment in der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und leitet die finale Phase dieses historischen Prozesses ein. Erst die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse erschafft die materielle Basis für die notwendig-zufällige SARS-Corona-Pandemie und für andere zufällige Ereignisse. Ob die SARS-Corona-Pandemie bleibt oder vergeht, ist nicht relevant. Die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse- wird weitergehen, mit oder ohne SARS-Corona-Pandemie und so wird auch der Ausnahmezustand weiterhin offen oder verdeckt präsent sein, solange bis die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse in einem neuen Hegemon der imperialistischen Kette abgeschlossen ist. Es gilt, den Ausnahmezustand und die SARS-Corona-Pandemie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Der Ausnahmezustand ist kein Produkt der SARS-Corona-Pandemie, sondern die SARS-Corona-Pandemie ist ein Produkt des Ausnahmezustandes. Der Ausnahmezustand benötigt wesentlich keine SARS-Corona-Pandemie, wohl aber benötigt die SARS-Corona-Pandemie den Ausnahmezustand. Der Ausnahmezustand, mit welcher Begründung auch immer, wird zum Hebel die kapitalistische Gesellschaft in die Form des multipolaren Kapitalismus umzugestalten. In der Nacht des Ausnahmezustandes dämmert die Unterscheidung in „Freund“ und „Feind“ auf.

Es besteht nun die Pflicht, die bürgerliche Gesellschaft und den bürgerlichen Staat gegen die „Gefährder“ und damit gegen die „Feinde“ zu verteidigen, so wie der bürgerliche Staat und die bürgerliche Gesellschaft jedes einzelne Individuum gegen den „Feind“ verteidigt. Das Ziel ist eine „Volksgemeinschaft“, wo das „Volk“ einig gegen den äußeren und inneren Feind zusammensteht und diese „Nation“ wird durch den bürgerlichen Staat repräsentiert. Eine andere Organisierung als durch den bürgerlichen Staat wird nicht zugelassen. Autonome proletarische Massenorganisationen, Gewerkschaften auch, werden nicht akzeptiert. Die proletarischen Massenorganisationen werden in den bürgerlichen Staat eingebaut oder zerschlagen. Jede autonome Organisation der Arbeiterklasse wird als feindlichen Akt betrachtet, bzw. als den „inneren Feind“, der objektiv ein Verbündeter des „äußeren Feindes“ ist. Es kann nur einen „inneren Feind“ geben, wenn es auch ein „äußerer Feind“ existiert und ungekehrt. Der Verweis auf einen „äußeren Feind“ ist notwendig, wenn eine Opposition zum „inneren Feind“ erklärt werden soll, denn es wird damit suggeriert, daß der „innere Feind“ dem „äußeren Feind“ die Tore öffnet, indem der „innere Feind“ die „Volksgemeinschaft“ „gefährdet“ bzw. von hinten erdolcht. Der „äußere Feind“ kann nur deshalb siegen, weil der „innere Feind“ mit ihm ist. Und einen „Feind“ gibt es nur im Krieg oder Bürgerkrieg. Derzeit wird der „innere Feind“ als „Impfgegner“ identifiziert, konkret als „nicht geimpfte Person,“ während als „äußerer Feind“ nun Rußland und China gelten. Daraus fabriziert die herrschende Klasse dann ihre Verschwörungstheorie, daß Rußland und China die „Impfgegner“ unterstützen und setzten so ihre Feindkonstruktionen miteinander ins Verhältnis.

Die Repression des deutschen Imperialismus gegen die „Impfgegner“ findet ihre Entsprechung in der Aggression gegen China und Rußland. Konkret ist man gegenwärtig bemüht, die Spannungen zwischen dem NATO-Pakt und Rußland anwachsen zu lassen. Dieser Konflikt konkretisiert sich in der Ukraine-Frage. Dort zieht die Ukraine massiv ihre Truppen gegen die abtrünnigen Donbass-Republiken zusammen und zwar mit Unterstützung des NATO-Paktes. Gleichzeitig wird aggressiv gegen China vorgegangen, indem „Taiwan“ gegen China aufgewertet wird und auch militärische Kräfte im Südchinesischen Meer zusammengezogen werden. Unter dem Schirm des „Corona-Notstandes“ ist dies ohne große Diskussion möglich, denn der Schwerpunkt der tendenziell gleichgeschalteten Medien liegt auf der SARS-Corona-Pandemie. Hinter dem „Corona-Schleier“ verschwindet tendenziell dann die „Corona-Deflationspolitik“, wie auch die immer deutlichere Aggressionspolitik des deutschen Imperialismus aus der Öffentlichkeit und die Tendenzen in Richtung Dritter Weltkrieg nehmen zu. Die „Corona-Krise“ richtet mit ihrer inneren Militarisierung die Arbeiterklasse immer mehr in Richtung Kriegswirtschaft/Dritter Weltkrieg aus. Der „Corona-Notstand“ oder der „pandemische Ausnahmezustand“ eines Habermas weist mehr Dimensionen auf, als auf den ersten Blick zu sehen ist, wobei die Dimension, welche sich auf die Bekämpfung der SARS-Corona-Pandemie bezieht, die nachrangigste ist. Der „pandemische Blick“ versperrt Habermas den freien Blick auf die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die deflationäre Politik wie die internationale Kriegsgefahr. Wenn man den Corona-Nebel beiseiteschiebt, offenbart die internationale Lage einen Drahtseilakt. Rußland sieht sich bedroht und zieht seine roten Linien. Für den russischen Imperialismus die Ukraine-Lage eine umgekehrte Kuba-Krise. Der US-Imperialismus hingegen ist notorisch in sich zerstritten und ist nicht in der Lage eine kohärente Außenpolitik zu formulieren, ist damit unberechenbar. Eine Fraktion des US-Kapitals signalisiert dem russischen Imperialismus entgegenkommen, um damit das russisch-chinesische Bündnis zu schwächen (ein Ausgleich mit Rußland, damit sich die USA mit aller Macht gegen China positionieren können), eine andere Fraktion des US-Kapitals sucht die Konfrontation mit Rußland und China. Aus diesem Grunde wird Rußland das russisch-chinesische Bündnis nicht aufgeben, denn die USA sind zu unberechenbar. Auch die EU ist deutlich irritiert, denn es zeigt, daß der US-Imperialismus seinen Weg ohne seine transatlantischen Verbündeten zu gehen bereit ist. Der US-Imperialismus nimmt keine Rücksicht auf seine Verbündeten, diese sollen sich fügen. Nun beabsichtigt der US-Imperialismus auch an der Normandie-Gruppe teilzunehmen und dort den deutschen und den französischen Imperialismus in die zweite Reihe abzudrängen, welche bisher mit dem russischen Imperialismus über die Regelung der Ukraine-Krise verhandelt haben. Welche Politik die USA in der Normandie-Gruppe verfolgen wollen, bleibt unklar. Die EU ist ebenfalls nicht in der Lage, eine einheitliche Politik bezüglich den USA, Rußland und China zu entwickeln und muß derzeit die Entscheidungen dieser drei Mächte akzeptieren. Diese ganze pseudo Ukraine-Krise ist das Ergebnis der engen russischen und chinesischen Beziehungen, die perspektivisch ein Militärbündnis zwischen Rußland und China anstreben. Mit der Aufrüstung der Ukraine wird versucht, Rußland unter Druck zu setzten. Ein russisch-chinesisches Militärbündnis bedeutet dann defacto eine NATO-Ukraine. Wenn Rußland dann der USA entgegenkommt, einen gewissen Abstand zu China einhält, dann wird man die Ukraine nicht im NATO-Standard aufrüsten. Alles nach der Methode: guter Polizist-böser Polizist. Der russische Imperialismus jedoch zieht seine roten Linien und droht damit, den gescheiterten Staat Ukraine implodieren zu lassen und läßt sich auf keinen Handel mit den USA ein. Im Moment spielt der US-Imperialismus den Part des „guten Polizisten“, während die EU-Verbündeten, allen voran der britische und deutsche Imperialismus, den Part des „bösen Polizisten“ übernehmen. Diese Rollenverteilung kann subjektiv abgestimmt sein, kann aber auch objektiv-naturwüchsig erfolgen. Die transatlantischen Verbündeten des US-Imperialismus in Westeuropa sind natürlich von einem eurasischen Bündnis zwischen Rußland und China mehr betroffen, als der US-Imperialismus.

Die „Corona-Krise“ ist nur der konkrete Ausdruck der gegenwärtigen Entwicklungsphase der Großen Krise und ein Katalysator für die kapitalistischen Widersprüche, sie zeigt den gegenwärtigen zerrütteten Zustand der imperialistischen Kette an, welche sich immer mehr auf imperialistische Großkonflikte/Großkriege vorbereitet. Die Niederlage des US-Imperialismus in Afghanistan zeigt das Ende der US-Hegemonie auf und führt gleichzeitig zur Radikalisierung des US-Imperialismus, denn nun muß der US-Imperialismus beweisen, daß man mit ihm immer noch rechnen muß, daß er trotz Verlust der US Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette, noch der bedeutendste Imperialismus ist und ein zweiten Griff zur Hegemonie nicht ausgeschlossen ist. Weltmächte sterben in der Regel auf den Schlachtfeldern und reißen notfalls die Welt mit dem Abgrund. Im multipolaren Weltmarkt wird der Weltmarkt neu aufgeteilt, wird die Welt neu aufgeteilt und die SARS-Corona-Pandemie ist nur ein Symptom für diesen historischen Epochenbruch. Der US-Imperialismus ist gezwungen, sich tendenziell aus dem Mittleren Osten zurückzuziehen (nun steht der Rückzug aus dem Irak an und damit eine Regelung mit dem Iran), um seine Kräfte gegen China zu konzentrieren und gefährdet somit den US-Dollar, der vormals die Funktion des Weltgeldes ausfüllte, denn der US-Dollar ist bisher an das Öl gebunden, d.h. das Öl wird in der Regel nur in US-Dollar fakturiert und ermöglicht so die Verschuldung der USA in eigener Währung, was dann dazu führt, daß der US-Imperialismus zu Importeuer der letzten Instanz wird und dadurch den neoliberalen Weltmarkt stabilisierte. Eine Neupositionierung des US-Imperialismus ist notwendig. Die imperialistische Kette zieht sich ebenfalls mit dem US-Imperialismus aus dem Mittleren Osten zurück, versucht die Energieversorgung über regenerative Energien zu organisieren. Diese regenerativen Energien können die fossilen Energieträger wie Öl und Gas nicht ersetzten, sondern nur ergänzen; doch auf jeden Fall soll die Abhängigkeit von Öl und Gas reduziert werden. Der Umstieg auf eine „ökologische“ Stromproduktion schafft Nachfrage nach Rohstoffen für die Batterieproduktion und führt damit zu einer Verschärfung der internationalen Weltmarktkonkurrenz des Kapitals bezüglich dieser Rohstoffe. Damit dehnen sich die imperialistischen Konfliktfelder aus. Unter dem Schutzschirm des „Corona-Notstandes“ wird die Energieversorgung diversifiziert. Die Modernisierung der Akkumulation kann, auch gegen fraktionelle Widerstände auch in der herrschenden Klasse selbst, vermittels des „Corona-Notstandes“ nun schneller umgesetzt werden, als ohne einen Notstand. Der „Corona-Notstand“ trägt den „Klima-Notstand“ in sich. Der Verzicht und das heißt konkret der Verzicht der Arbeiterklasse, wird autoritär gegen die Arbeiterklasse durchgesetzt. Der „Corona-Notstand“ ist nur der Beginn eines autoritären Kapitalismus, der sich direkt auf einen Notstand stützt oder aber mit diesem droht, ob es nun ein „Corona-Notstand“ oder ein „Klima-Notstand“ ist, bleibt sekundär. Es wird der Arbeiterklasse auf diese Weise nahegelegt „freiwillig“ zu verzichten, wenn nicht, dann droht Notstand und damit Zwangsverzicht und damit einen noch härteren Verzicht. Die „neue Normalität“ ist der Befehl auf zum bedingungslosen Verzicht. Eine demokratische Diskussion und eine parlamentarisch-demokratische Entscheidungsfindung wird von der Bourgeoisie tendenziell verworfen. Vor allem die Meinungsfreiheit steht unter dem Beschuß. Es gibt klare Befehle und die sind auszuführen. Widerstand ist „Extremismus“ und wird tendenziell mit Terrorismus gleichgesetzt, wird also kriminalisiert. Wer den Befehl verweigert, wird vom Kapital zum „Feind“ erklärt. Dies betrifft auch das Personal der Bourgeoisie selbst. Wer jetzt nicht wendig ist und sich schnell den neuen Bedingungen anpaßt, kann schnell vom „Freund“ zum „Feind“ werden. Die alten Leistungen für die Aufrechterhaltung der Ausbeutung der Arbeiterklasse zählen dann auch nicht mehr, es gilt und zählt nur die „neue Normalität“. Wer sich der „neuen Normalität“ verweigert, wird zum „Feind“. Dies gilt für Personen, wie auch für Organisationen. Wer „Feind“ ist, steht im Visier der Repression des bürgerlichen Staates. Wer „Feind“ ist, gehört nicht mehr zur „Volksgemeinschaft,“ ist real ausgebürgert. Der britische Imperialismus geht derzeit noch weiter. Dort kann ein „Feind“ auch in einem Geheimprozess ausgebürgert werden, dann ist der „Feind“ staatenlos und damit automatisch kaum noch Rechte und eigentlich nur noch ein Gnadenrecht. In dem Status „staatenlos“ sind alle Rechte vernichtet, die vollständige Entrechtung ist dann realisiert.

Der bürgerliche Staat in parlamentarisch-demokratischer Form ist zwar noch vorhanden, wird aber mit dem Notstand überspielt und kann auch dann vom Notstand überspielt werden, wenn die Drohung mit dem Notstand über ihn liegt, denn dann ist die Drohung mit dem Notstand zentral für das Verhalten des bürgerlichen Staates und der Arbeiterklasse. Eine parlamentarisch-demokratische Form des bürgerlichen Staates unter dem Vorbehalt eines Notstandes ist keine parlamentarisch-demokratische Form bürgerlicher Klassenherrschaft, sondern steht unter dem Vormund eines Notstandsstaates, der im Schatten die Hegemonie ausübt. Unter dem Druck von Repression und Nachteilen ist eine offene Meinungsbildung, ist Meinungsfreiheit, nicht existent, es dominiert dann die Selbstzensur, die individuelle und organisatorische Selbstzensur. Es dominiert der Notstandsstaat, der eine parlamentarisch-demokratische Form des bürgerlichen Staates imitiert und als „humanes Antlitz“ nutzt. Hinter dem „humanen Antlitz“ der parlamentarisch-demokratischen Form des bürgerlichen Staates marschiert der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) gegen die Arbeiterklasse. Die Regierungen mögen wechseln, aber der Notstandsstaat, in welcher Form auch immer, wird solange bleiben, solange es notwendig ist, solange die Akkumulation prekär ist, was in letzter Instanz erst dann beendet ist, wenn einer neuer Hegemon die imperialistische Kette organisiert.

Der multipolare Weltmarkt zwingt dem Kapital objektiv und naturwüchsig seine Herrschaft auf und damit auch den die Tendenz zum bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus). In letzter Instanz bestimmen die Gesetzmäßigkeiten der Akkumulation von Kapital die Herrschaftsformen der Bourgeoisie und damit der Klassenkampf, denn der Klassenkampf steht im Zentrum der Akkumulation von Kapital. Der Angriff des Kapitals vermittels des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) ist ein Zeichen der Defensive des Proletariats, denn das Kleinbürgertum konzentriert sich um die Bourgeoisie, während bei einer proletarischen Offensive das Kleinbürgertum sich um die Arbeiterklasse sammelt. Dann verteidigt sich die Bourgeoisie mit der Volksfront gegen die Arbeiterklasse; sie ist das Grenzregime kurz vor der proletarischen Revolution. Die gegenwärtige Defensive des Proletariats provoziert immer weitergehende Forderungen des Kapitals. Die Kapitulation der reformistischen proletarischen Massenorganisationen vor dem „Corona-Notstand“ im März 2020 führt dazu, daß das Kapital „durchregieren“ kann auf die Belange der Arbeiterklasse muß nun das Kapital keine Rücksicht mehr nehmen. Diese Selbstgleichschaltung der proletarischen Massenorganisationen führt zu Gleichschaltung durch das Kapital und zum drohenden Einbau in den bürgerlichen Klassenstaat. Alles unter dem Paradigma der „nationalen Sicherheit“. Unter dem Label der Pandemiebekämpfung bekämpft real der „nationale Sicherheitsstaat“ die Arbeiterklasse und will sie zum Verzicht zwingen, alles zum „Staatswohl“, zum Wohl und Heil der „nationalen Sicherheit“. Das Kapital fürchtet nicht die SARS-Corona-Pandemie, sondern die Revolten des Proletariats, versucht deshalb über den Notstandsstaat die Körper und Köpfe der Arbeiterklasse zu kontrollieren, den pandemischen proletarischen Eigensinn der Arbeiterklasse zu disziplinieren und präventiv zu zerstören. In den Augen der Bourgeoisie bedroht die Arbeiterklasse die „nationale Sicherheit,“ wenn die Arbeiterklasse sich nicht in den multipolaren Weltmarkt einfügt.

Die Impfbereitschaft gegen das SARS-Corona-Virus ist hoch, aber für die Bourgeoisie nicht hoch genug. Auch die Arbeiterklasse mißtraut der hysterischen Corona-Politik des Kapitals und verweigert sich den Impfvorgaben durch die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie ist grundsätzlich bereit mit einer Pflichtimpfung, unter Umständen gar Zwangsimpfung, die Verweigerungshaltung des Proletariats in der Impffrage zu brechen. Mißtrauen gegenüber dem bürgerlichen Staat wird nicht geduldet und die Impfzurückhaltung der Arbeiterklasse zeigt das Mißtrauen gegen das Kapital auf. Eine Pflichtimpfung ist dann der potentielle Einstieg in andere Zwangsdienste, dessen zentraler Pflichtdienst/Zwangsdienst die Aktivierung der Wehrpflicht und des Zivilersatzdienstes wäre. Alles im Namen der „nationalen Sicherheit“. Die relativ geringe Impfrate gegen den SARS-Corona-Virus zeigt den stillen Widerstand der Arbeiterklasse gegen das Kapital auf. Es ist für das Kapital schwer unter den gegebenen Umständen eine Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse zu realisieren. Der stumme Widerstand der Arbeiterklasse gegen die vermeintliche Anti-Corona-Impfung ist gleichzeitig der Gradmesser für das Niveau des stillen Widerstandes der Arbeiterklasse gegen eine Neuzusammensetzung des Kapitals- Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse durch das Kapital, der stumme Widerstand gegen die „Corona-Notstandspolitik“, der stumme Widerstand, der die „nationale Sicherheit“ des deutschen Imperialismus unterhöhlt und steht einer politischen oder gar militärischen Mobilisierung, auch Generalmobilmachung, der „Nation“ entgegen. Um zum dritten Mal den Griff nach der Weltmacht, d.h. den Griff zur Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette, zu wagen bedarf es einer totalen Mobilmachung, auch durch den totalen Notstandsstaat, da gibt es dann kein neutral danebenstehen. Dann heißt es im Notstand konkret: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ oder anders ausgedrückt: Wer nicht für uns ist, ist der „Feind“. So würde es Carl Schmitt ausdrücken. Der „Feind“ kann damit rechnen, in „Schutzhaft“ genommen zu werden, zu seinem „eigenen Schutz“ und zum „Fremdschutz.“ Die Quarantäne ist mit der „Schutzhaft“ eng verwandt. Der „Feind“ kann dann in der „Schutzhaft“ abgesondert werden. Und der „Feind“ ist derzeit konkret ein an SARS-Corona-Erkrankter bzw. ein möglicherweise an SARS-Corona-Erkrankter an dem die Aufforderung ergeht, sich freiwillig „abzusondern“ bzw. sich Quarantäne zu begeben, ansonsten greift der bürgerliche Staat und erzwingt die Absonderung. Es ist möglich, daß in Zukunft auch jemand als „Feind“ betrachtet wird, der dem „Corona-Notstand“ kritisch gegenübersteht. Der Staatsapparat benutzt in seinem Schriftwechsel offen den Begriff der „Absonderung“, ganz in der Tradition des wilhelminischen Obrigkeitsstaates und des deutschen Faschismus. Mit der Drohung der „Absonderung“ aus der „Volksgemeinschaft“, sollen „feindliche“ Einstellungen in den Massen bekämpft und „korrigiert“ werden. Auch wenn der Notstand aufgehoben ist, werden viele Maßnahmen bleiben und auch wenn diese verschwinden würden, würde immer noch die Disziplinierungswirkung des Notstandes erst einmal bleiben. Es wurde der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum ein Exempel statuiert, was passiert, wenn man der Bourgeoisie den Gehorsam verweigert, gar revoltiert. Ein erhöhter Konformitätsdruck ist auf jeden Fall das Erbe des „Corona-Notstandes“ und damit ein tendenziell passives Verhalten auf allen politischen Ebenen, was dem Kapital erlaubt, nach seinen Verwertungsbedürfnissen die Arbeiterklasse neu zusammenzusetzten. Der „Corona-Notstand“ führt zu einer Entpolitisierung der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums und erscheint dann als „alternativlos“. Politik ist dann nur noch Verwaltung des Notstandes, Verwaltung des Ausnahmezustandes gegen die Arbeiterklasse. Der Tunnelblick auf die SARS-Corona-Pandemie, auf das SARS-Corona-Virus als eine „Naturkatastrophe“ ist eindimensional und verdinglicht das SARS-Corona-Virus, wie die SARS-Corona-Pandemie, führt zu einer scheinbaren Herrschaft der Sachen über die unmittelbaren Produzenten, deren materielle Ausdruck dann der Notstand ist, nicht als politische Entscheidung und damit als eine alternative Entscheidung, sondern erscheint als „Sachzwang“ als „neutrales“ Moment einer „Verwaltung eines Sachzwangs“. Nur dann kommt man zu einem „Krieg gegen das Virus“ (vorher was es der Krieg gegen den Terror) als „unpolitische Entscheidung,“ als technokratische „Sachentscheidung“. Der soziale und politische Herrschafts- und Knechtschaftszusammenhang verbirgt sich dann hinter vermeintlich neutralen Sachzusammenhängen. Der „Krieg gegen das Virus“ ersetzt den „Krieg gegen den Terror“ und beide Formen sind der Klassenkrieg des Kapitals gegen die Arbeiterklasse. Und die SARS-Corona-Pandemie wird nicht die letzte „Katastrophe“, gar „Naturkatastrophe,“ gewesen sein. Ein „Katastrophen-Kapitalismus“ ist gut zuträglich für die Stabilität bürgerlicher Klassenherrschaft. Die Krisen des Kapitalismus wären dann nicht in ihm verwurzelt, sondern einfach Zufälle, Katstrophen, zufällige Katastrophen und alle müssen zusammenstehen, um diese Katastrophen zu überwinden. Dabei muß dann die Arbeiterklasse zu Gunsten des Kapitals verzichten. Der „Katastrophen-Notstand“ wacht darüber, daß die Arbeiterklasse auch verzichtet und keinen Widerstand leistet. Mit dem Begriff „Katastrophe“ wird die Bourgeoisie von jedweder Schuld freigesprochen, wird der Kapitalismus freigesprochen. Niemand wird beschuldigt in diesem Fall. Bei jedem kleinen Alltagsfall wird nach dem Schuldigen gesucht, doch je größer der Fall, desto weniger wird nach dem Schuldigen gesucht. Dann sind eben alle schuldig oder unschuldig. Die Schuldfrage bleibt dann ungeklärt. Der „Katastrophen-Kapitalismus“ hat den gesellschaftlichen Schock in sich. Die Ausrufung des „Katastrophen-Falls“ ermöglicht dann eine „Schockbehandlung“ der Arbeiterklasse. Statt der „Salamitaktik“ von schrittweisen Angriffen, die sogar abgewehrt oder aber von der Arbeiterklasse modifiziert, d.h. abgemildert, werden können und zusätzlich im Verhältnis zu den anderen Weltmarktkonkurrenten in der gegenwärtigen Phase des multipolaren Weltmarktes zu langsam sind, ist die „Schockbehandlung“ der politische und notfalls auch der militärische Blitzkrieg gegen die Arbeiterklasse, ein politischer und/oder politischer Enthauptungsschlag. Tabula rasa im Sinne von Carl Schmitt. Bevor die Arbeiterklasse reagieren kann, sind die proletarischen Massenorganisationen gelähmt, paralysiert und werden dann vom Kapital auf konkret-differenzierter Weise zerstört. Eine „Schockbehandlung“ ist eine radikale Deflationspolitik und bedarf eines offenen oder verdeckten Notstandes, damit jeder proletarische Widerstand schon präventiv zerbrochen werden kann. Der Ausnahmezustand beseitigt die „Normallage“ und wirkt besonders negativ auf die Arbeiterklasse, wenn er plötzlich eingeführt wird. Der Ausnahmezustand ist immer ein Staatsstreich, ein Putsch, gegen die „Normallage“, d.h. konkret gegen den parlamentarisch-demokratischen bürgerlichen Staat zu Gunsten des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus). Unter dem Begriff der „wehrhaften Demokratie“ verbirgt sich seit dem Deutschen Herbst potentiell der übergesetzliche Notstand bzw. Ausnahmezustand. Eine sozioökonomische „Schockbehandlung“ ruft nach einer politischen Schockbehandlung; eine „Katastrophe“ ruft nach einer sozioökonomischen Schockbehandlung und ebenso nach einer politischen Schockbehandlung. In dem „gesellschaftlichen“ Schock werden die existenten Kräfteverhältnisse zwischen den beiden antagonistischen Klassen, das relative Klassengleichgewicht, schlagartig zu Gunsten des Kapitals verschoben. Eben dies geschieht in der „Corona-Krise“ indem die „Corona-Krise“ als Katastrophe dargestellt wird, als Einbruch und Abbruch der „Normallage,“ als pandemische Ausnahmesituation, die keine zivile Normalität mehr zuläßt, sondern nur noch den Ausnahmezustand. Erst wenn das politische Schockprogramm abgeschlossen ist, kann die zivile Normalität wieder ihren Platz einnehmen, jedoch unterscheidet sich die alte zivile Normalität deutlich von der neuen zivilen Normalität zu Lasten der Arbeiterklasse. Das Kapital organisiert die Bekämpfung der SARS-Corona-Pandemie als „gesellschaftlichen Schock“ mit Stoßrichtung gegen die Arbeiterklasse, nicht aber als ein ziviles und demokratisches Projekt, sondern ausdrücklich als ein autoritäres und paramilitärisches Projekt gegen die Arbeiterklasse. Die Bourgeoisie hat die Wahl, wie die Bekämpfung der SARS-Corona-Pandemie organisiert werden kann und sie entscheidet sich für ein autoritäres Projekt, daß sich derzeit weiter radikalisiert. Dieses autoritäre Projekt der Bourgeoisie ist eben nicht alternativlos, sondern die freie Wahl der Bourgeoisie, die freie Entscheidung der Bourgeoisie, die freie Entscheidung des ideellen Gesamtkapitalisten, aber keine alternativlose Sachentscheidung, kein Sachzwang, sondern eine freie politische Entscheidung der Bourgeoisie. Dann muß sich die Arbeiterklasse entscheiden, dann gilt: soziale Emanzipation oder Unterwerfung unter ein neues Ausbeutungsregime.

Erst wenn der Kapitalismus im revolutionären Prozeß beseitigt wird, ist die Arbeiterklasse offener für eine Anti-Corona-Impfung, dann wächst das Vertrauen in der Arbeiterklasse in die Anti-Corona-Impfung, denn dann gehören die Betriebe, auch die Betriebe, welche die Impfstoffe produzieren, der Arbeiterklasse selbst, dann wird man sehen, wenn es keine Geschäfts-Forschungs-, Betriebs- und Staatsgeheimnisse mehr gibt, wie es wirklich um die Impfstoffe und das SARS-Corona-Virus bestellt ist. Die Arbeiterkontrolle ist ein zentraler Schritt auch in dieser Entwicklung. Mit der Zerschlagung des bürgerlichen Klassenstaates und die Aufrichtung eines Rätestaates gibt es auch keinen Grund mehr, dem „Staat“ zu mißtrauen, denn der „Staat“ ist nun ein proletarischer Staat. Nur in der proletarischen Revolution kann die Arbeiterklasse das Mißtrauen in die Anti-Corona-Impfstoffe überwinden. Das alte Lenin zugeschriebene Wort gilt noch immer: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die beste Anti-Corona-Politik, der beste Anti-Corona-Impfstoff, ist die proletarische Weltrevolution.

Für die Bourgeoisie ist die Anti-Corona-Politik nur ein Gradmesser für ihre eigene imperialistische Politik, inwieweit sie die ideologische Kontrolle, die ideologische Hegemonie über die Massen ausübt, inwieweit eine ideologische Mobilmachung gegen den „inneren und äußeren Feind“ rasch durchzuführen ist. Wenn man die Impfqoute in Deutschland als Gradmesser für die ideologische Kontrolle über die Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum nimmt, ist sie mit ca. 68 Prozent gut, aber nicht sehr gut. Für einen dritten Griff zur Weltmacht reicht es nicht. Aus diesem Grunde die ideologische und bürokratische Offensive vermittels der Vorbereitung einer Impfpflicht, als Druckmittel aber auch als reale Durchführung. Wer sich nicht mit den üblichen Anti-Corona-Impfstoffen impfen läßt, wird zum Feind erklärt. Diese Methode ist die Blaupause für weitere Aufgabengebiete kapitalistischer Restrukturierung, wo passiver Widerstand der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums konzentriert ist. Es reicht auch nicht sich unter Zwang impfen zu lassen, es geht um die Bereitschaft sich proaktiv impfen zu lassen, proaktiv die Befehle zu antizipieren. Aber die materielle Basis für die ideologische Abrichtung im Sinne des Kapitals bleibt die Repression des bürgerlichen Klassenstaates und damit auch die Implantierung von Pflicht- und Zwangsdiensten. Eine mögliche Abstufung der Pandemie zur Endemie ist nur Wortgeklingel. Dabei muß sich nichts ändern; die Notstandspolitik läßt sich auch in einer Endemie fortsetzten.

Die eskalierenden internationalen Spannungen haben die „Corona-Krise“ erst geschaffen und die „Corona-Krise“ treibt die internationalen Spannungen weiter und auf ein höheres Niveau hinauf. Nicht die SARS-Corona-Pandemie schuf die „Corona-Krise“, sondern die Große Krise ab den Jahren 2007/2008 schuf die „Corona-Krise“, indem sie die materiellen Grundlagen für diese Pandemie legte. Mit dem graduellen Zerfall des neoliberalen Weltmarktes in der Großen Krise zerfällt auch die neoliberale Weltordnung und es kommt tendenziell zu einer imperialistischen Blockbildung als Produkt des naturwüchsigen Durchbruchs des multipolaren Weltmarktes ab dem Jahr 2017. Die SARS-Corona-Pandemie ist damit nur ein Resultat des offenen Zusammenbruchs des neoliberalen Weltmarktes, ist die Erscheinungsweise in welcher der neoliberale Weltmarkt offen naturwüchsig zusammenbricht und dem multipolaren Weltmarkt Platz macht. Der Zusammenbruch des neoliberalen Kapitalismus ist der Entmachtung des US-Imperialismus als hegemonialer Imperialismus geschuldet, denn dieser war der zentrale Pfeiler für den neoliberalen Weltmarkt. Die Phase des multipolaren Weltmarktes ist eine Epoche des Kapitalismus, in der um die Hegemonie der imperialistischen Kette gekämpft wird, solange, bis ein neuer Hegemon sich durchgesetzt hat und gerade die erste Phase des multipolaren Weltmarktes nach der direkten Ablösung des neoliberalen Kapitalismus ist eine sehr gefährliche Phase und schafft damit auch die Potentialität für das Auftreten der SARS-Corona-Pandemie. Der Zusammenbruch der internationalen Zusammenarbeit fand schon vor dem Auftreten der SARS-Corona-Pandemie statt und verallgemeinerte sich mit dem Auftreten der SARS-Corona-Pandemie. Das Auftreten der SARS-Corona-Pandemie fällt mit dem offenen Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes zusammen, wobei hier das materielle Primat bei dem Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes liegt und somit die materielle Basis für die SARS-Corona-Pandemie schafft. Doch der zusammengebrochene neoliberale Weltmarkt kann noch weitere Probleme schaffen, z.B. eine „Pandemie“ der Computerviren, welche die digitale Infrastruktur neutralisieren und ein noch größeres Chaos auslösen können, als die SARS-Corona-Pandemie. Dies wird in den herrschenden Klassen derzeit unter dem Codenamen „Concept 2021“ bereits diskutiert. Konkret werden diese Tendenzen mit der gerade erkannten Log4J Schwachstelle in der digitalen Infrastruktur der Rechner, die Cyberangriffe auf die „kritische Infrastruktur“ ermöglicht. Es gibt damit genügend Gründe für das Kapital, den Ausnahmezustand nicht vorzeitig zu beenden. Diese Krisen, diese angeblichen „Katastrophen“, sind das Resultat der Großen Krise seit 2007/2008 und damit des Zusammenbruchs des neoliberalen Weltmarktes und dem gleichzeitigen naturwüchsigen Aufstieg des multipolaren Weltmarktes. In diesem Zwielicht aus vergehendem neoliberalen Kapitalismus und dem Werden des multipolaren Kapitalismus sind viele Gefahren (unter anderem die SARS-Corona-Pandemie) verborgen und können nur dann gebannt werden, wenn der Kapitalismus in die Geschichte verbannt wird. Geschieht dies nicht, haben die Gefahren freie Bahn und die Bourgeoisie versucht über einen autoritären Kapitalismus die Gefahren zu begrenzen. Die SARS-Corona-Pandemie ist nur der Anfang.

Wenn dem „Corona-Virus“ der Krieg erklärt wird, wird der politische „Feind“ im Innen- und Außenverhältnis mit dem „Corona-Notstand“ bekämpft, dann ist jede Kritik an dem „Corona-Notstand“ Verrat, Verrat an der Volksgemeinschaft, Verrat an der Nation. In einem Krieg gibt es nach bürgerlichen Maßstäben keine Opposition und der Notstand, der Ausnahmezustand, das Kriegsrecht, sind normalen Maßnahmen. Im kapitalistischen Krieg wird oppositionelle Kritik zur Feindaktion, die Opposition, sei sie noch so gemäßigt, zum „Feind“. Es gibt nur Befehl und Gehorsam. Wer sich dem Befehl und Gehorsam verweigert, ist ein „Feind“ und muß bezwungen werden. Wenn die herrschende Klasse den Krieg erklärt, ist dies immer auch eine Kriegserklärung an die Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse muß den Klassenkrieg des Kapitals erwidern, will sie ihr gesellschaftlich notwendiges Reproduktionsniveau verteidigen. Wenn das Kapital die proletarischen Eroberungen im Kapitalismus in Frage stellt, muß das Proletariat die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Frage stellen. Dann geht es um die Frage der proletarischen Weltrevolution, dann geht es konkret um die Frage der offenen Zerschlagung des bürgerlichen Staates durch die Arbeiterklasse und der Errichtung proletarischer Doppelherrschaftsorgane mit dem Ziel der Diktatur des Proletariats, konkret um die Negation der verfassungsmäßigen Ordnung der BRD. Es werden die Eroberungen des Proletariats im Kapitalismus gegen den Notstandsstaat mit revolutionären Methoden verteidigt, nicht mit dem Ruf nach dem Bundesverfassungsgericht, sondern mit Massenstreiks bis hin zum Generalstreik und dem Aufbau von proletarischen Doppelherrschaftsorganen. Die Verfassung der BRD kann nur mit revolutionären Mitteln verteidigt werden, die weit über die Verfassung hinausgehen und diese BRD-Verfassung für obsolet erklären.

Während Carl Schmitt und Habermas die „Normallage“ beseitigen wollen, um die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiterklasse zu festigen, damit die Ausbeutung der Arbeiterklasse verschärft neu reorganisiert werden kann, zielt die proletarische Revolution auf die Diktatur des Proletariats, auf die Klassenherrschaft der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie, auf die soziale Klassenherrschaft der Mehrheit der Ausgebeuteten über die Minderheit der Ausbeuter mit dem Ziel, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beenden. Die Bourgeoisie und ihre intellektuellen Wortführer wie Carl Schmitt oder Jürgen Habermas streben die Zerstörung der „Normallage“ an, damit die Ausbeutung der Arbeiterklasse verschärft werden kann, während die Arbeiterklasse anstrebt die „Normallage“ der Ausbeutung zu zerstören. Die Klassengewalt der Sklavenhalter gegenüber den Sklaven will die Ausbeutung und die Herrschafts-und Knechtschaftsverhältnisse verewigen, während die Klassengewalt der Sklaven gegenüber ihren Sklavenhaltern zum Ziel hat, mit der Ausbeutung und den Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse zu brechen. Beide Seiten wollen sie „Normallage“ beseitigen, die herrschende Klasse, um weiter die herrschende Klasse zu bleiben, um die Arbeiterklasse als ausgebeutete Klasse, zu beherrschen und die Arbeiterklasse, welche sich von der Ausbeutung kollektiv emanzipieren möchte, denn auch die „Normallage“ bedeutet für die Arbeiterklasse Ausbeutung. Eben dies ist konkret der Klassenkampf. Die „Normallage“ ist immer nur ein prekärer Waffenstillstand im Klassenkampf und damit alles andere als „normal“. Aus der „Normallage“ entsteht notwendig immer der Ausnahmezustand und damit ist auch er ein Produkt es Klassenkampfes, d.h. Ausnahmezustand auf Seiten der Bourgeoisie, Revolution auf Seiten des Proletariats, konkret: Ausnahmezustand gegen die Revolution; die Revolution gegen den Ausnahmezustand. Die Revolution ist die Negation des Ausnahmezustandes und der Ausnahmezustand ist die Negation der Revolution. Der Ausnahmezustand steht für die bürgerliche Klassenherrschaft in zugespitzter Form, während die Revolution für die soziale und politische Emanzipation des Proletariats im Sozialismus steht.

Und nur auf diesem Wege, können auch die materiellen Bedingungen geschaffen werden, welche für die Bekämpfung der SARS-Corona-Pandemie notwendig sind, denn die SARS-Corona-Pandemie ist in letzter Instanz ein politisches Problem und kann nur mit politischen Mitteln gelöst werden. Es ist die Machtfrage zwischen den beiden antagonistischen Klassen, welche eine Verfassung bestimmen, es ist der Klassenkampf, der in letzter Instanz über „Normallage“ und Ausnahmezustand entscheidet. Wenn die Bourgeoisie den konterrevolutionären Bürgerkrieg vorbereitet, dann muß die Arbeiterklasse sich auf den revolutionären Bürgerkrieg vorbereiten. Dann wird sich die Bourgeoisie einen Bürgerkrieg zweimal überlegen. Der revolutionäre Bürgerkrieg und schon seine Vorbereitung ist die beste Impfung gegen die SARS-Corona-Pandemie und auch die beste Medizin gegen das SARS-Corona-Virus. Wenn der Kapitalismus das zentrale Hindernis ist, die SARS-Corona-Pandemie zu bekämpfen, dann ist erst Recht der „Corona-Notstand“ dafür ein Hindernis. Die SARS-Corona-Pandemie kann nur proletarisch-revolutionär, d.h. demokratisch überwunden werden, aber nicht im Kapitalismus und erst Recht nicht im autoritären Kapitalismus. Impfstoffe und gesellschaftliche Isolation allein können der SARS-Corona-Pandemie nichts anhaben und fördern objektiv die Ausbreitung der SARS-Corona-Pandemie. Nur der proletarische Angriff auf die kapitalistischen Produktionsverhältnisse kann die SARS-Corona-Pandemie erfolgreich bekämpfen.

  1. Der proletarische Weg

-Radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, ansetzend an der alltäglichen Sabotage der Ausbeutung

-Arbeiterkontrolle über die Produktion

-Aufbau proletarischer Hundertschaften gegen die Repression des bürgerlichen Klassenstaates und seiner neofaschistischen Organisationen

Iwan Nikolajew Maulwurf/RS Hamburg im Januar 2022

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Oben       —       Juergen Habermas at a discussion in Munich, 2007

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Politikum – Erschöpfung

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Dezember 2021

Was fehlt, ist Empathie, Nähe, Zuwendung – Anstand – statt Abstand

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Das alles begreifen Politiker-Innen nie- sie wollen nur Geld und Macht

Ein Schlagkoch von Georg Diez

In Zeiten der Pandemie macht sich Einsamkeit breit. Die psychischen Folgen sind ein soziales Phänomen, für das es entsprechende Lösungen braucht.

Erschöpfung ist politisch. Auch – und gerade – weil dieser Umstand nicht so benannt wird. Die Erzählung ist eine andere, die Zeiten sind andere: Du bist müde, heißt es. Du schaffst es nicht. Aber du kannst es schaffen. Wenn du dich nur anstrengst. Wenn du dich nur zusammenreißt. Es liegt an dir. Wir anderen schauen zu. Uns geht es ja gut. Es ist deine Entscheidung.

Diese Erzählung ist Gegenwartsmythologie, sie erschafft Realität. Einzelne verhalten sich danach, die Gesellschaft orientiert sich daran. Das hat Folgen: Im Persönlichen bedeutet es, dass sich Fragen nach Druck, Veränderung, Leere, Perspektivlosigkeit als Makel erweisen, als eigenes Verschulden. Im Sozialen bedeutet es, dass die Organisation des Leidens, das gegenseitige Helfen, die Wärme und Würde skeptisch gesehen werden.

Es fehlen vielen die Vorstellungen, wie ein besseres Miteinander gestaltet werden könnte. Die Orte des Sozialen sind geschrumpft, Vereine, Gewerkschaften, Kirchengemeinde. Gemeinsamkeit wird in den Konsum ausgelagert, die Shoppingmall als Kirche. Es fehlen die Institutionen, wie empathisch, offen, nah andere gesellschaftliche Zusammenhänge hergestellt werden können, wie Hilfe geht.

Psychische Gesundheit, hat Geoff Mulgan gesagt, der lange die britische, staatlich gegründete und finanzierte Innovations-Agentur Nesta geleitet hat und heute unter anderem Fellow an The New Institute ist, psychische Gesundheit ist im 21. Jahrhundert ein Thema wie soziale Ungleichheit oder Teilhabe es im 19. und 20. Jahrhundert waren und bleiben – in Problemen der psychischen Gesundheit bündelt sich gesellschaftliche Unwucht.

Erschöpfung also als soziales Phänomen – in Zeiten von Corona am Ende dieses Jahres eine verbreitete Erfahrung – wird damit zu einer politischen Frage, einer Frage von Macht und Interessen, einer Frage von Verantwortung und Veränderung. Es geht darum, psychische Gesundheit insofern zu politisieren, als sie eben keine individuelle Herausforderung ist, sondern zu einer Herausforderung für den gesellschaftlichen und damit demokratischen Zusammenhalt geworden ist.

Was das konkret bedeuten kann, zeigt ein Beispiel aus Großbritannien, aus der Stadt Frome. Es geht dabei um eine andere gesamtgesellschaftliche Erkrankung, denn Erschöpfung ist nur ein Symptom – es geht um Einsamkeit, ein „globales Gebrechen“, wie es die New York Times nennt, die auch über die Lösungen berichtet, die in Frome entwickelt wurden und die Modellcharakter haben von Hongkong bis Kolumbien, von Australien bis nach Dänemark.

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Ein Kerngedanke dabei ist, dass Einsamkeit erst einmal als medizinisches Problem gesehen wird und damit als solches angegangen wird – angefangen mit dem lokalen Krankenhaus, der Frome Medical Practice, die sich um das emotionale Wohlergehen der Pa­ti­en­t*in­nen kümmert, indem Verbindungen zu lokalen Freiwilligen- oder Selbsthilfegruppen hergestellt werden, wobei es um so banale wie essenzielle Dinge geht wie Kochen, das Leben mit der Digitalisierung, gemeinsames Gegenwartserlernen, gerade für Ältere.

In Frome hat sich darüber hinaus eine lokale informelle Infrastruktur entwickelt, die den Polis-Charakter der Politik betont, also die Frage danach, wie wir in einem städtischen Kontext zusammenleben – konkret sind das Ideen wie der „Gemeinschaftskühlschrank“, wo man sich Essen abholen kann, der Frome Coat Rack, wo es Mäntel und andere Kleidungsstücke umsonst gibt, und die Talking Bench, wo jeden Mittwochmorgen Freiwillige warten und mit jedem reden, der oder die das braucht.

Allein dieses Bedürfnis schon, das Formulieren dieser Notwendigkeit, das Benennen dieses Mangels, bedeutet eine entscheidende Veränderung in der mentalen Infrastruktur der kleinen Stadt – in der Beschreibung durch die New York Times wird eine wache Zärtlichkeit deutlich, wie sie entsteht, wenn Menschen aufeinander achten und die gegenseitige Schwäche wahrnehmen, anerkennen, aussprechen. Es ist ein anderes Verständnis von Politik und Gemeinsamkeit jenseits von Parteipolitik oder Interessen, sehr praktisch und menschenfreundlich.

Quelle        :           TAZ-online          >>>>>           weiterlesen

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Oben     —     Charleroi (Belgique) – Station Janson du métro légerLes Psy.

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Politiker unterm Mikroskop

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Dezember 2021

Sollen sie doch Flugtaxi fliegen, mir egal

Eine Kolumne von Margarete Stokowski

Die neue Regierung ist kaum eine Woche im Amt, schon wird über Karl Lauterbachs Zähne und Robert Habecks Frühstück geredet. Das ist nicht schlimm, aber zielführend wären ganz andere Dinge.

Wenn man sich für Politik interessiert, dann kommt man nicht umhin, ab und zu in den Graubereich zwischen seriösem Journalismus und Klatschpresse zu geraten. Deswegen weiß ich, dass Friedrich Merz angeblich Hosen bügeln und Spaghetti kochen kann (okay… wer nicht?), dass Anton Hofreiter gern Blumen malt, und welche Hausschuhe Gerhard Schröder trägt, wenn er für seine fünfte Frau versucht, Klavier zu spielen. Das sind die Kollateralschäden, die man einpreisen muss, wenn man umfassend informiert sein will, und das ist so weit auch in Ordnung.

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Die neue Ödnis

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Dezember 2021

Telepolis: Eine rotbraune Inside-Story

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH 

Von Tomasz Konicz

Wie die Rackets der alten Linken sich der neuen Rechten anbiedern, oder what a difference money can make.

Schlimmer geht es immer. Der in finsteren Zeiten immer mal wieder geäußerte Stoßseufzer, schlimmer könne es nicht mehr werden, ist grundfalsch. Wenn die letzten Dekaden der zunehmenden Krisenentfaltung etwas bewiesen haben, dann eben dies: Es kann immer schlimmer kommen, als Mensch denkt. Es gibt keine Grenze, vor der die Verwilderung und Barbarisierung haltmachen würde: weder in politischer, noch sozioökonomischer oder in ideologischer Hinsicht.Dies gilt gerade für linken Opportunismus in Zeiten, in denen der Wind von Rechts weht, die Neue Rechte sich im Aufwind befindet. Einen deprimierenden Beweis für diese Tendenz lieferte mir zuletzt das Lower Class Mag (LCM), für das ich des Öfteren Texte schrieb. Nachdem das national-soziale Racket der Linkspartei um Harald Neuber mich nach gut 13 Jahren aus meiner Publikationsplatform Telepolis mobbte, bot mir die LCM-Redaktion anfänglich an, öfters Artikel für sie zu schreiben. Es sei „auch krass, dass die dich so ausbooten“, beteuerte das Redaktionsmitglied bezüglich der Säuberung bei Telepolis, das von der Wagenknecht-Fraktion mit Rückendeckung des Heise-Verlags gekapert und zu einem Querfrontorgan umgebaut wurde.2Als ich dann tatsächlich ein paar Wochen später einen Text vorlegte, sah sich das LCM plötzlich genötigt, diesen zu zensieren, da ich darin Telepolis als ein Querfrontorgan bezeichnete. Und nun wurde es absurd: Man habe keine Einschätzung zu Telepolis, erklärte mir ein Redaktionsmitglied, man wisse nicht, ob „das Querfront ist oder nicht“, aber da schrieben „dutzende Linke“ die man über irgendwelche „Ecken kennen“ würde. Es wäre schön, wenn ich mich geneigt zeigte, der Redaktion „diese Debatten zu ersparen“ – schliesslich müsse man arbeiten. Harald Neuber, der neue Chefredakteur, sei aufgrund seiner Einbindung in das Netzwerk um Dehm und Wagenknecht „sicher dubios“, doch sei ihm das „ziemlich egal“, weil er ihn nicht kenne. Er kenne aber viele Autoren, die er für „anständige Genoss:innen“ halte. Und die könne ich doch nicht „beschimpfen“, indem ich das Magazin, für das sie Schreiben, als ein Querfrontorgan bezeichne. (Der „Genosse“ argumentierte frei nach dem Motto: „Was kümmert mich ein Ulf Poschardt, wenn meine Kumpels bei Springer die Zeilengelder abgreifen können.“)In einer weiteren Mail wurde mir dann plötzlich mitgeteilt, dass man eigentlich der Ansicht war, ich wolle bei Telepolis schlicht nicht schreiben (das „Ausbooten“ in der ersten Mail war schon vergessen). Man sehe als Leser keinen Unterschied zu der Zeit vor Neuber und wolle keinen Streit mit den Telepolis-Autoren, die offensichtlich nicht daran erinnert werden wollen, wo sie publizieren. Man wolle „entscheiden können“, welche – so wörtlich – „Konflikte“ man eingehe, und in diesem Fall wollen wir das in dieser Form nicht“. Offensichtlich werden Menschen, die Telepolis als das bezeichnen, was es ist, von den „anständigen Genoss:innen“ als Feinde markiert und entsprechend behandelt (Was auch immer diese ominösen „anständigen Genoss:innen“ sein sollen – Antifaschisten sind es schon mal nicht). Meine Antwort, bei der ich auf einen ersten Text verwies, in dem die Vorgänge bei TP skizziert worden sind,3 blieb unbeantwortet.What a difference money can make. Einige Wochen eines beständigen Geldflusses, der sich unter der Kontrolle der national-sozialen Fraktion der Linkspartei befindet, führen nicht nur zur intentionalen Verblödung und zur Amnesie bezüglich der eigenen Äusserungen beim LCM, sondern sie lassen die Genossen auch die simpelsten Grundsätze linker Medienkritik vergessen. Schliesslich sind persönliche Bekanntschaften auch im linken Szenesumpf entscheidend. Gerade in unsicheren Zeiten. Somit kann Telepolis vermittels der Szenekontakte der „anständigen Genoss:innen“ weiterhin die Zensur meiner Texte betreiben, damit diese nicht mal mehr daran erinnert werden müssen, dass sie für ein Querfrontmagazin schreiben (Mal ganz abgesehen davon, dass das LCM offensichtlich auch bei Gastautoren keine abweichenden Standpunkte duldet, was ja auch Bände spricht).Das ist jetzt der Stand der Umgangsformen im rotbraunen Spektrum der Linkspartei und deren Umfeld – sowohl gegenüber Dissidenten und Wagenknecht-Kritikern, die man in der härter werdenden Krisenkonkurrenz herausmobbt, wie auch schlich gegenüber abweichenden Standpunkten und Meinungen, die kaum noch toleriert werden. Es reicht nicht, mich mit Verlagsdeckung aus meiner Publikationsplattform zu mobben und diese in ein rotbraunes Organ zu transformieren, es reicht nicht, die Kritik an diesen Querfront-Umtrieben bei TP zu unterbinden, es wird emsig daran gearbeitet, dass generell das Einsickern neurechter Ideologie in die Linke nicht mehr thematisiert wird. Es hat schon etwas Totalitäres an sich, dieses Bemühen, alles zu unterdrücken, was der eigenen rotbraunen Weltanschauung nicht passt, bis in hinterste Szeneecken.

Mal ganz abgesehen davon, dass nach meiner Einschätzung die Frage nach der Realität, nach den simplen Fakten, also ob es sich bei Telepolis um ein Querfront-Projekt handelt, beim LCM von untergeordneter Bedeutung gegenüber der Rücksicht auf die entsprechenden Seilschaften und Rackets war, mit denen man keine „Konflikte“ suchen wolle. Das LCM, dass sich gerne so „klassenkämpferisch“ gibt, legte in seiner deprimierenden Korrespondenz eigentlich nur offen, wie krass die Abgründe zwischen blosser Militanz und Radikalität in der Linken sein können.

Telepolis: Vom Regen in die rotbraune Jauche

Das ist entschieden zu viel, um es auf sich beruhen zu lassen. Schlimmer als das, was bei Telepolis vor sich geht, sind nur die bereits von der Racketlogik infizierten Reaktionen des Szenesumpfs darauf. Es gilt nun, den Ekel zu überwinden, sich in den rotbraunen Sumpf zu begeben, den nun die national-soziale Fraktion der Linkspartei in Gestalt ihres früheren Bundestagsmitarbeiters Harald Neuber4 hegt und pflegt, um in aller Deutlichkeit herauszuarbeiten, wieso es sich hierbei um ein von einem opportunistischem Kalkül befeuertes Querfront-Projekt handelt. Allein schon, um künftige diesbezügliche Auseinandersetzungen mit einem Verweis auf diesen Text schnell ad acta legen zu können. Reality matters.

Die folgenden Ausführungen bauen auf der bereits geleisteten Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Querfront auf, die in ihrem historischen Verlauf, ihrer aktuellen Genese und Funktion in mehreren Texten bei Telepolis allen Widerständen zu trotz geleistet werden konnte (Siehe hierzu etwa: „Querfront als Symptom“5 und „Putin unser, der du bist im Kreml“)6. Im Kern handelt es sich um erstmals in der Endphase der Weimarer Republik auf beiden Seiten des politischen Spektrums auftretende Tendenzen, sich der Rhetorik, der Ideen oder der Ästhetik der Gegenseite zu bedienen: Die Selbstbezeichnung des deutschen Faschismus als „Nationalsozialismus“ legt gerade hiervon Zeugnis ab. Einen historischen Höhepunkt der praktischen Querfront zwischen Nazis und Kommunisten bildete zweifelsohne der Streik der Berliner Verkehrsbetriebe von 1932.7

Bundesarchiv Bild 102-13997, Berlin, BVG-Streik, Barrikaden.jpg

Querfronttendenzen entstehen aus den unterschiedlichsten Motiven heraus. Etwa aus populistischem Kalkül oder aus Opportunismus. Doch sie wirken objektiv als eine Art „Einstiegsdroge“ in die Wahnwelt der Neuen Rechten. Ihr Erfolg beruht darauf, rechte Ideologie in linke Rhetorik zu verpacken. Objektiv fungiert die Querfront als ein reaktionärer Transmissionsriemen, der einerseits rechtes Gedankengut in linke und progressive Milieus hineinträgt, und andrerseits der Neuen Rechten immer neues, verblendetes Menschenmaterial zuführt. Dass viele in Regression befindliche Linke subjektiv in dem Spektrum aus anderer Motivation heraus aktiv werden, etwa um die „Menschen dort abzuholen, wo sie stehen“, ändert nichts an der objektiven Funktion der Querfrontstrukturen. Entscheidend ist somit nicht, was diese postlinken Kräfte wollen, sondern was sich objektiv gesellschaftlich vollzieht.

In der gegenwärtigen Krisenperiode bemühen sich vor allem die national-sozialen Kräfte in der Linkspartei (Wagenknecht, Dehm, Lafontaine, etc.) darum, reaktionäre Haltungen und rechte Standpunkte mit linker Rhetorik zu verknüpfen, um hiervon politisch zu profitieren.8 Der neue Telepolis-Chef Harald Neuber bewegte sich als Bundestagsmitarbeiter in diesem Milieu, nachdem er die kommunistische Tageszeitung junge Welt verliess. Telepolis ist seit Anfang 2021 zu dem informellen Organ dieser national-sozialen Seilschaft transformiert worden, wobei konsequenter Antifaschismus und eine Kapitalismuskritik, die den Namen verdiente, nicht mehr toleriert werden. Im Folgenden soll dies anhand der Vorgänge, die zu meinen Ausscheiden führten, konkretisiert und belegt werden.

In seinen guten Zeiten (die gab es tatsächlich!) fungierte Telepolis als eine Nische im öden deutschen Medienbetrieb, als eine offene Publikationsplattform, die keiner Blattlinie untergeordnet war. Telepolis war dann tatsächlich offen für alle möglichen Autoren und Ideen, die sonst ignoriert wurden im bürgerlichen Medienbetrieb. Das LCM hat in seiner Korrespondenz mit mir dies auch verzerrt reflektiert, indem es konstatierte, dass dort „dort jeder Spinner was schreiben“ könne. Ja, tatsächlich, es schrieben dort auch manchmal Spinner. Dies nennt mensch dann Meinungsfreiheit – oder zumindest das, was an Meinungsfreiheit im Kapitalismus möglich ist. Telepolis als eine Anomalie in der deutschen Medienlandschaft war für fortschrittliche, kritische wie auch reaktionäre, problematische Artikel offen – deswegen konnte ich auch dort, trotz der schon immer gegebenen Einschränkungen und Auseinandersetzungen öfters Texte unterbringen, die eine radikale Kritik formulierten.

Diesem „offenen“ System stülpt nun das Linkspartei-Racket um Neuber seine Ideologie, diese Querfrontlinie über, es fällt nur von Aussen nicht so auf. Das offene System wird durch eine Querfront-Ideologie ersetzt, bei der Kapitalismuskritik, die diesen Namen verdient, marginalisiert, und rechte Ideologie mit linker Rhetorik verknüpft werden. Es geht letztlich darum, eine Pseudolinke zu schaffen, die am rechten Stammtisch mehrheitsfähig wird. Das neuste Wortungeheuer Wagenknechts, der „Linkskonservatismus“ (ein politisches Oxymoron), bringt dieses Bestreben auf den Punkt.

Zuvor kann schon das Jahr 2015 als ein Wendepunkt bezeichnet werden, als im Verlauf der Flüchtlingskrise die immer schon grenzwertigen Telepolis-Foren zu einer Bastion der Neuen Rechten mutierten. Die Telepolis-Foren wurden aufgrund der liberalen Moderationskriterien zu einem Sammelbecken für all die Nazis, Verschwörungsgläubigen und sonstigen Spinner, die woanders verbannt wurden. Zugleich verschaffte dieser Zufluss dem Magazin neue Zugriffe, mehr Reichweite. Auch das ist schon gewissermassen Opportunismus. Dies schien – wohl aufgrund eines simplen ökonomischen Kalküls – auch gewollt zu sein, ohne dass es, zuerst, auf meine publizistische Arbeit Einfluss hatte. Im Gegenteil: Ich konnte mich in vielen Texten mit der Neuen Rechten, auch mit dem brauen Rand der Linkssparei9 offensiv auseinandersetzen, die dann in das Telepolis-Ebook „Faschismus im 21. Jahrhundert“ Eingang fanden, das auf Initiative von Florian Rötzer entstanden ist.

Der Zeitpunkt, an dem es sich abzeichnete, dass der in den Telepolis-Foren – der ohne Zweifel grössten Trollgrube des deutschsprachigen Internets – grassierende Wahn sich Endgültig in der Redaktion breitmacht, kann relativ präzise eingegrenzt werden. Irgendetwas muss zwischen dem Mai 2020 und dem November 2020 muss vorgefallen sein, das zu einer Kursumkehr führte. Ende Mai wurde ich von der Redaktion noch ermuntert, eine Einschätzung der „Corona-Proteste“ zu schreiben, die auch umstandslos publiziert wurde. Ich komme mich ohne Probleme mit dem geistigen Unrat auseinandersetzten, der diese präfaschistische Wahnbewegung antreibt.10

Im November 2020 hingegen, als es darum ging, die Querdenker-Randale in Leipzig einzuschätzen, gestaltete sich die Diskussion schon ganz anders: Ich solle die Nazis, die wenig später dort aufmarschieren und randalierten, nicht als Nazis bezeichnen („Rechtsextremisten“ müsse reichen). Die Polemik müsse heruntergefahren werden, ich solle nicht „provozieren“ (Wen: Die Forennazis?). Generell sollen keine „Reizworte“ benutzt werden. Geschichte würde sich nicht einfach so wiederholen, hiess es dann bezüglich der zunehmenden Faschisierung der Bundesrepublik. Die Warnungen vor der faschistischen Gefahr, die wenige Stunden nach dieser Diskussion sich in der an Kollaboration grenzenden Toleranz der Polizei gegenüber der Leipziger Corona-Ausschreitungen manifestierte, seien überzogen.

Es sei hier schon mal angemerkt: Die Tendenz, den deutschen Faschismus zu historisieren, ihn als ein Relikt vergangenen Zeiten dazustellen, bildet einen Grundbaustein der Argumentation der Querfront innerhalb der Linken. Die Zeiten hätten sich geändert, Nazis seien heutzutage eine Marginalie, ein Phänomen der Vergangenheit.

Dennoch muss klargestellt werden, dass unter Rötzer als Chefredakteur die Realität, die tatsächlich objektiv ablaufenden Entwicklungen und Fakten letztendlich doch ausschlaggebend waren. Sobald in Leipzig die Nazis randalierten und die politisierte Polizei, die bei linken Demos für gewöhnlich zu Gewaltexzessen neigt, sich plötzlich unfähig zeigte, hierauf zu reagieren, konnte ich den Text veröffentlichen – auch wenn ich auf viele Forderungen einging und etwa die als militanten Stosstrupp der „Querdenker“ agierenden Nazis nicht als Nazis bezeichnete. Es war ja nur ein kleiner Kompromiss, der Inhalt blieb weitgehend intakt, und mensch will ja weiterschreiben.11 Schlimmer wird es ja wohl nicht werden.

Nach meiner jetzigen Einschätzung waren im November schon die Würfel gefallen, die Übergabe von Telepolis an die Querfront der Linkspartei war beschlossene Sache, was den Meinungsumschwung in der Chefradaktion zu Folge hatte. Ein weiteres Warnsignal aus dieser Zeit: Ende Oktober wollte ich eine Polemik gegen die Pandemie-Leugner und Verharmloser im Querfrontspektrum schreiben (Vor allem hinsichtlich des Querfrontmagazins Rubikon und der „Nachdenkseiten“). Mit wurde mitgeteilt, dass ich bei einer Kritik dieses Spektrums Milde walten lassen müsste und man da keine „Keulenschläge“ wünsche, da man Rubikon sporadisch lese und dort des Öfteren „okaye kritische Artikel“ finde. Ähnliches gelte für die sogenannten „Nachdenkseiten“. Was macht mensch, wenn ein Redaktionsmitglied sich als Leser eines eindeutigen Querfrontorgans wie Rubikon outet? Man kann dem Konflikt aus dem Weg gehen, das Thema ruhen lassen – es gibt ja noch weitere Themen, und ich konnte tatsächlich noch in dem letzten Quartal 2020 kapitalismuskritische Texte bei Telepolis unterbringen. Schlimmer wird es ja wohl nicht werden, nicht?

Ein Internettroll als Chefredakteur?

Natürlich wurde es noch viel schlimmer, als die national-sozialer Strömung der Linkspartei den Laden übernahm und noch vor der offiziellen Amtsübergabe daran ging, mich zu disziplinieren. Was macht ein im Verlagswesen tätiger Bürger, wenn er einen Autor zum Schweigen bringen will, der den Kapitalismus tatsächlich kritisiert (alle Kritik, die den Namen auch verdient, ist radikal, sie setzt an der Wurzel des jeweiligen Problems an)? Da man ja für Meinungsfreiheit ist, kann man schlecht den Inhalt kritisieren, wenn er einfach nur die evidenten Selbstzerstörungstendenzen des Kapitalismus reflektiert. Es wird dann die Form beanstandet. Zupass kommt dem Verlag der Umstand, dass er Telepolis immer noch kein Korrektorat spendierte.

Rötzer war noch offiziell Chefredakteur, er ging im November in Urlaub, da schickte mir Harald Neuber zu jedem meiner Texte, die im Rahmen einer Serie das Thema Kapitalismus und Hunger behandelten, Beanstandungen eines Heise-Verlagsmitarbeiters, der für Telepolis zuständig ist. Gewissermassen der Chef des Chefredakteurs. Dieser beklage immer wieder die Rechtschreibfehler in den Texten, die massenhafte Unterernährung und den millionenfachen Hungertod in einem selbstzerstörerischen System anprangerten, das zugleich massenhaft Lebensmittel zerstört und das Klima ruiniert. Diese Aufgabe wurde später wohl Forentrolls oder dem Anhang Neubers angetragen. Seitdem wurde jeder meiner Texte pingeligst auf Formfehler untersucht und an mich mit entsprechenden Mahnungen weitergeleitet, während natürlich alle anderen TP-Texte weiterhin nur so von Fehlern strotzen, da Telepolis kein Korrektorat hat. Autoren wussten hingegen von solchen Vorgängen nichts zu erzählen. Und selbstverständlich sind auch Neuberts Artikel mit Fehlern gespickt. Der Fachausdruck dieser Mobbing-Strategie lautet Gaslighting.12 So etwas lernt mal wohl im Bundestag, wohin es ja nur die besten und effizientesten Mobbing-Maschinen schaffen. Diese Strategie wurde erst im April im Verlauf zunehmender Auseinandersetzungen eingestellt.

Auf meine Frage, wieso all die anderen Autoren ihrer Rechtschreibfehler wegen nicht belästigt werden, antwortete Neuber mir sinngemäss, ich solle mich um meinen eigenen Dreck scheren. Das wirklich Witzige daran ist, dass Herr Neuber wirklich keine, wie soll mensch es vorsichtig ausdrücken, Leuchte ist, wenn es um mehr als die blosse positivistische Aneinanderreihung von Fakten, Fakten, Fakten geht.13 Neuber ist Verdinglichung im Endstadium, Sachdebatte eins seiner Lieblingswörter. Beim Herrn Neuber handelt es sich um einen Chefredakteur, den ich buchstäblich auf einen Wikipedia-Artikel verweisen musste, damit er nachliest, was Satire bedeutet (dies hier ist es leider nicht).

Der Chefredakteur von Telepolis versteht nicht, wie das Moderationssystem seines Ladens funktioniert, er führt sich in den Foren wie ein Internettroll auf, der es tatsächlich nicht lassen kann, mich auch noch öffentlich zu verhöhnen und zu provozieren.14 Ein Formsteilnehmer, der mit Neuber zu tun hatte, beschrieb ihn als einen äusserst zynischen Charakter, der einem „die Nackenhaare zu Berge“ stehen lasse. Er sei herablassend und verhöhne die Leser. Und das ist es eben, was von populistischen Linken nach dem opportunistischen Burnout oft übrig bleibt, wenn man zu lange genötigt ist, den Unsinn zu glauben, denn man aus blossem Kalkül unters Volk bringt.

Und dennoch ist Neuber als Mitglied eines national-sozialen Linksparteirackets der richtige Mann am richtigen Ort. Denn sein Job besteht eigentlich darin, Telepolis von Kritik zu säubern und das einstmals gegebene Themenspektrum einzuengen, ohne dass dies sofort auffiele. Unter bestimmten Bedingungen sind nominell linke Kräfte dazu prädestiniert, reaktionäre Politik oder Entscheidungen durchzusetzen. Zumeist ist dies der Fall, wenn erkämpfte Freiräume oder Errungenschaften beseitigt werden sollten, ohne dass dies sofort evident wird. Who you gonna call, wenn es gilt, unliebsame linke Gespenster aus einer Publikationsplattform zu vertreiben, die es Jahrelang mit dieser Meinungsfreiheit gar zu toll getrieben hat? Die Linkspartei selbstverständlich!

In Ahnung eben dieser Zusammenhänge habe ich Neuber Anfang 2021 das Versprechen abgerungen, weiterhin im gewohnten Ausmass das bisher übliche Themenspektrum bearbeiten zu können. Schlimmer kann es ja kaum werden, nicht? Selbstverständlich wurde diese Zusage wenig später, als Herr Neuber fester im Sattel sass, gebrochen.

Zwischenfazit: Telepolis ist keine kritische Nische im deutschen Medienzirkus mehr – meiner Ansicht nach besteht Neuberts Aufgabe faktisch darin, diese bröckelnde Fassade eine Zeit lang aufrechtzuerhalten, indem rechtsoffener Opportunismus als Opposition verkauft wird. Die Beseitigung der Früher üblichen Meinungsvielfalt bei TP lässt sich eindeutig belegen.

Unwissenheit ist Stärke

Wie lief das ganze nun konkret ab? Während intern mir gegenüber rundweg erklärt wurde, dass nun Schluss mit Lustig sei, dass nun andere Seiten aufgezogen würden, entblödete der neue Chefradakteur in Forenbeiträgen, Telepolis als letzten Hort eines breiten, demokratischen Diskurses zu verkaufen. Neuber, der seine Eignung als Chefredakteur auch dadurch unter Beweis stellte, dass er Wagenknecht für Dieter Dehms Weltnetz-TV15 interviewen konnte, ohne in einen Lachkrampf zu verfallen oder vor Scham in den Boden zu versinken, scheint ganz in der Trollgrube aufzugehen, die die Telepolis-Foren bilden. Er behauptete in einem Forumsbeitrag von 14.04.2021 wörtlich:16

„Der Unterschied zwischen „Spiegel“ und „Telepolis“ ist, dass Telepolis einen breiten und demokratischen Diskurs bewahrt, während der „Spiegel“ abweichende Meinungen abkanzelt.“

Nun, wie sieht der „breite und demokratische Diskurs“ unter dem neuen Chef aus? Was ist der Unterschied zwischen den etablierten Medienmainstream und Telepolis? Spoiler: Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass Telepolis öffentlich vorgibt, anders, demokratischer zu sein, während intern Freiräume plattgemacht werden. Es ist eine Art „Deutsche Demokratische Republik“ der deutschen Publizistik. Eine Mail vom 07.04.2021, in der ich aufgefordert wurde, doch endlich die Versuche sein zu lassen, einstmals gegebene publizistische Freiheiten wahrzunehmen, gibt eindeutig Auskunft darüber:

„Tom, ich schätze, du weisst schon Bescheid. Die Politik im Haus hat sich verändert. Hätte sich, wie es aussieht, auch verändert, wenn Florian Rötzer geblieben wäre. Ein Grund, warum Florian nicht länger bleiben wollte, lag auch daran. Harald ist da jetzt mittendrin. Und anders als früher werden Themen genau angeschaut. Ich hoffe ja auch, dass das irgendwann wieder lässiger wird.“

Breit? Eng? Who cares! Freiheit ist ja auch Sklaverei und Wörter blosse Hülsen, Werbeflächen gleich, die man eben zu Werbezwecken nutzt. Nein, ich wusste nicht Bescheid. Die offizielle Version lautete, Rötzer müsse nun wirklich altersbedingt ausscheiden. Laut dieser Darstellung aber wollte Rötzer die Beseitigung des offenen Charakters von Telepolis nicht mittragen. Dies aber bereitet der Linkspartei-Seilschaft, die nun den Laden übernommen hat, keinerlei Skrupel – während man nach Aussen so tut, als ob Telepolis weiterhin ein Alternativmedium wäre. Es ist somit keine Polemik, hier zu konstatieren, dass pseudolinke Opportunisten geradezu dazu prädestiniert sind, gegebene Freiheiten zu schleifen. Was wäre wohl geschehen, wenn ein Chefredakteur mit bürgerlichen Hintergrund – etwas aus dem Umfeld der FDP oder CDU – dasselbe versucht hätte, was nun Neuber bei Telepolis relativ geräuschlos exekutierte? Hätte ihm jemand geglaubt, dass es da noch einen Unterschied zwischen SPON und TP gäbe?

Worum ging es konkret in der Korrespondenz, in der mir mitgeteilt wurde, dass sich nun die Spielregeln ändern? In einem Text sollte die mit Nazis durchsetzte Querdenker-Bewegung beleuchtet und ihre – nun ja – zuvorkommende durch die Polizei kritisiert werden. Ein Thema, das ich seit Jahren bearbeitete, in dem besagten Ebook zum Faschismus im 21. Jahrhundert ausführte (das der Heise-Verlag trotz mehrmaliger öffentlicher Aufforderungen immer noch nicht aus seinem Programm genommen hat!), und das selbst bürgerliche Mainstream-Blätter17 behandeln. Bei Telepolis war mir das Realisieren selbstverständlicher antifaschistischer Berichterstattung plötzlich faktisch verboten.

Nochmals: Was bei Rötzer selbstverständlich war, was selbst kurz vor seiner – nun ja – „Pensionierung“ unter Verweis auf die Realität durchgesetzt werden konnte, wurde unter Neuber faktisch verboten. Während dieser rechtsoffene Wahnbewegung samt Nazianhang in vielen Städten der Bundesrepublik18 von der Polizei19 immer öfter Narrenfreiheit20 gewährt wurde, wurde ein halbes Dutzend Anfragen bezüglich dieses Themas von der neuen Redaktionsleitung abgelehnt. Der Unterschied zwischen Telepolis und dem Mainstream besteht somit darin, dass simple antifaschistische Berichterstattung zu diesem Thema bei Telepolis nicht realisierbar ist. Da wurde so genau hingeschaut, bis es nicht mehr möglich ist, irgendwas Kritisches über die Querdenker, über die Faschisierung der Bundesrepublik – sowohl im Staatsapparat wie auf den Strassen – zu schreiben.

Die sich draussen auf den Strassen vollziehende Realität21 spielt für Neuber, im Gegensatz zu Rötzer, schlicht keine Rolle mehr. Ich konnte dann die Redaktion im Rahmen eines faulen Kompromisses (mensch will ja weiterschreiben) dazu bewegen, das Thema wenigstens in einem Interview zu diskutieren, in dem ein Gewerkschaftler den ganzen Querdenker-Unrat samt Nazianhang als eine „rechtsradikale Sammlungsbewegung“ charakterisieren konnte.22 Hinzu kam noch ein Telefongespräch mit einem Telepolis-Autoren, der mir in freundlichen Worten mitteilte, ich solle aufhören, die Redaktion mit diesem antifaschistischen Thema zu belästigen, da Herr Neuber sehr wütend auf mich sei. Nochmals, zum mitschreiben: Kritik an den „Querdenkern“, an einer evidenten „rechtsradikalen Sammlungsbewegung“, an die sich auch Frau Wagenknecht anbiedert,23 ist unter dem ehemaligen Linkspartei-Mitarbeiter Neuber nicht mehr möglich. Dies ist ein klarer erster Beweis dafür, dass es sich bei Telepolis um ein Querfrontorgan handelt.

Freiheit ist Sklaverei

Wo die Redaktion nicht mehr „genauer draufgeschaut“, das sind all die Elaborate des Chefredakteurs, in denen eben jener wirre Querdenker-Schwachsinn unter dem Anschein einer verdinglichten, einseitigen Faktenhuberdei bedient wird. Ich habe mir die Mühe gegeben, dies in aller Deutlichkeit an einem konkreten Beispiel darzulegen, wo Neuber eine einseitige Tatsachenbeschreibung betreibt, um die Narrative der Querdenker zu bedienen.24 Schwurbeln – aber bitte mit Niveau, damit es diskutabel wird: Das ist es, was das rotbraune Linkspartei-Racket, das Telepolis mit offensichtlicher Verlagsdeckung übernommen hat, unter einem „breiten und demokratischen Diskurs“ versteht.

Der Querdenker-Wahn soll präsentabel werden, um auf dieser populistischen Welle reitend politisches Kapital zu akkumulieren. Neuber verfolgt hier faktisch nur dieselbe Taktik wie Wagenknecht. Diese ist ebenfalls bemüht, mit Halbwahrheiten und Verdrehungen von Zusammenhängen zu operieren, um bei der präfaschistischen Querdenker-Bewegung zu punkten, wie Recherchen im Frühjahr offenlegten.25

Doch wie sieht der „breite und demokratische Diskurs“ unter Herrn Neuber aus? Wahnwichtel, Folienkartoffel diskutieren unter sich; etwa bei einer Artikelserie, bei der Neuber das von Pandemieverharmlosern, Verschwörungsideologen und Querdenkern frequentierte Magazin Rubikon in seiner Ursprungsform als eins jener – I shit you not – „kritischen emanzipatorischen Medien“ bezeichnete, die die „für einen pluralen, demokratischen Diskurs wichtige Funktion“ hätten, sich „den Einschränkungen des öffentlichen Debattenraumes entgegenzustellen“. Dies schreibt der Herr Neuber gut zwei Monate, nachdem mir klargemacht wurde, dass die Debattenräume bezüglich eben der rechtsoffenen Schwurbler, die nun „emanzipatorisch“ sein sollen, bis auf weiteres geschlossen würden und ich die Fresse zu halten hätte.

Unverschämtheit siegt. Dies ist übrigens schon der typische Freiheitsbegriff der neuen Rechten, der hier durchscheint, wo Freiheit erst dann wirklich herrscht, wenn der präfaschistische Wahn mit sich selbst in Diskurs tritt und keine Kritik mehr an ihm möglich ist. Es ist ein inzestuöses ideologisches Selbstgespräch, mit dem hier die schale Simulation echter früherer Auseinandersetzungen auf TP betreiben wird. Schon Sarrazin hat sich immer als verfolgte Unschuld, als Opfer des politisch korrekten Meinungsterrors imaginiert, um zugleich Kritiker mit Prozessen zu überziehen.26

Die Masche des Herrn Neuber, wie sie auch in der Neuen Rechten üblich ist, besteht aber darin, reaktionäre Inhalte mit linken Wörtern, eigentlich nur noch mit Worthülsen zu belegen, die ihres konkreten Gehalts entkleidet, faktisch als Reklamewörter verwendet werden: Rubikon war demnach ein „emanzipatorisches Medium“, die Lockdowns seien „repressiv“27 (und nicht etwa die Landespolizeigesetze), das sporadische Vorgehen des gegen aggressive Querdenker-Seilschaften im Staatsapparat wecke Anlass zur Sorge um den Rechtsstaat28, Kritik an Querdenkern im akademischen Betrieb sei „undemokratisch“ (das von jemandem, der Kritik an seinen Querschlägern rigoros unterbindet!),29 etc.

Nochmals, zur Klarstellung: Es ist nicht das Hauptproblem, dass diese wirren Elaborate veröffentlicht werden, es geht darum, dass Kritik an der Verbreitung von Narrativen der Querdenker und der Neuen Rechten bei Telepolis unter Neuber nicht mehr möglich ist. Wenn jemand Unsinn schreibt, dann muss es möglich sein, darauf eine kritische Replik zu formulieren. Dies war unter Rötzer der Fall, dies ist unter Neuber nicht mehr möglich, da er meines Erachtens einem national-sozialen Linksparteiracket angehört, dass vom krisenbedingt aufschäumenden Wahn profitieren will (Seit Kurzem mit dem offiziellen Segen der sogenannten „Linkspartei“).30

Und selbstverständlich wurde alles noch schlimmer, die Seilschaft traute sich immer mehr, sobald sie das Gefühl hatte, fest im Sattel zu sitzen. Die früheren Zusagen waren längst vergessen. Alles Bisherige war Vorlauf für das, was noch kommen sollte, als ich auf rechte Narrative auf Telepolis kritisch reagieren wollte, die den reaktionären „Cancel Culture“ Diskurs bedienten und Partei für Boris Palmer, den berüchtigten Rechtsausleger der Grünen, ergriffen. Es müsse ja wohl noch möglich sein, kritisch die ideologische Mechanik dieser rechten Diskurswaffe zu erhellen? Von wegen: Meine Replik darauf wurde erstmals in meiner 13-Jährigen Mitarbeit bei Telepolis massiv umgeschrieben (ohne vorherige Anfrage), wobei die Passagen zu rechten Umtreiben im Staatsapparat, zu den Querdenkern und zur Wagenknecht „entschärft“ wurden.

Dennoch versicherte man mir auf Nachfrage, dass Telepolis kein Organ der Wagenknecht-Fraktion der Linkspartei sei, obwohl meine Kritik an dieser Politikerin, in deren Umfeld sich der neue Chefredakteur bewegte, „entschärft“ werden müsse. Da der Redakteur, der dieses „Umschreiben“ vornehmen musste, tagelang über massive Überarbeitung klagte, habe ich dem zugestimmt. Die unterschiedlichen Versionen, wie sie ursprünglich eingereicht,31 und später bei TP veröffentlicht wurden,32 sind frei einsehbar.

Das muss mensch in aller Ruhe reflektieren, wie mit Kritik an „Cancel Culture“ hier umgegangen wurde: Eine Kritik der rechten Selbstdarstellung als Zensuropfer, als „verfolgte Unschuld“, wird bei Telepolis zensiert, da sie sonst „gecancelt“ werden müsste. Wie gesagt: Telepolis ist ein Querfront-Magazin, in dem solche rechten Narrative gepflegt und gegen Kritik verteidigt werden. Auch wenn es die anständigen „Genoss:innen“ des LCM nicht wahrnehmen wollen, da sie offensichtliche keine Antifaschisten sind. Das ist keine Satire, sondern bittere Realität bei einer ehemaligen publizistischen Nische, nachdem diese von dem national-sozialen Racket der Linkspartei übernommen worden ist. Ob es noch schlimmer kommen kann? Tja…

Herr Neuber etablierte in Zusammenhang mit Zensurmassnahmen den Texten, die seiner rotbraunen Blattlinie widersprachen, die Praxis, meine Honorare zu kürzen. Die Logik ist bestechend: So ein Umschreiben (also der Zensurvorgang) stelle für die Redaktion einen zusätzlichen Arbeitsaufwand her. Folglich müssten meine Honorare gekürzt werden. Faktisch lief es darauf hinaus, politisch missliebige Texte unter irgendwelchen Vorwänden mit Honorarreduzierung zu belegen. Wie niedrig konnten da die Honorare ausfallen? Mitunter, hierzu später mehr, musste ich Artikel umsonst schreiben. Zuckerbrot und Peitsche, ausgeteilt in Gestalt der Honorarhöhe: dies ist die neue Debattenfreiheit beim Querfrontblatt Telepolis, wo Kritik an dem neurechten Unsinn einer angeblichen „Cancel Culture“ so richtig ins Geld gehen kann.

Die neue Ödnis

Apropos Racket: Hierunter ist – in seiner Anfangsphase – die krisenbedingte Verrohrung der im Kapitalismus üblichen Karriere-Seilschaften zu verstehen, die perspektivisch bei dem härter werdenden Konkurrenzkampf die Grenzen der Legalität überschreiben. Die Mitgleiter des Rackets versuchen in der an Intensität gewinnenden Krisenkonkurrenz ökonomische oder politische Machtquellen zu okkupieren, wobei die unbedingte Loyalität der eigenen Gruppe gegenüber mit dem Krieg gegen Fremdgruppen oder Individuen einhergeht, mit denen höchstens vorübergehende Waffenstillstände geschlossen werden. Die Fischer-Gang,33 die die Grünen übernahm, war eine klassische opportunistische Seilschaft. Unter den prekären Bedingungen der Linkspartei, wo schon mal Ermittlungsverfahren wegen Wahlmanipulationen eingeleitet werden, droht der Übergang zu Racketstrukturen.34

Kann es noch schlimmer kommen? Guess what? Ich musste nicht nur um die Publikation eines jeden Textes kämpfen, der noch Kritik formulieren wollte an diesem gefährlichen Umtreiben. Bald ging es auch noch darum, zu prüfen, ob die Redaktion nicht meine Artikel nachträglich den Wünschen des berüchtigten Telepolis-Forums anpasst. Das war das nächste Kapitel: Mein Text wurden nachträglich – ohne meine Zustimmung oder mein Wissen – umgeschrieben, um den Wünschen eben dieses Rackets nachzukommen. In einem Antisemitismus-Text erwähnte ich die diesbezüglichen Vorwürfe gegenüber den Linkspartei-Rechtsausleger Dieter Dehm, für dessen Weltnetz-TV (nein, dies ist keine NPD-Webpräsenz, das heisst wirklich so!) Neuber in seiner Zeit als Bundestagsmitarbeiter der Linkspartei tätig war. Nach ein paar Wochen stellte ich fest, dass diese Passage plötzlich verschwunden war.35 Was war passiert? Ein Forenteilnehmer, wohl aus dem Umfeld Dehms, beschwerte sich darüber,36 dass diese Information im Text enthalten sei – die wurde dann umgehend modifiziert. Schliesslich wird Herr Dehm nun von seinem früheren Weltnetz-Journalisten bei regelrechten Freakshows auf Telepolis „interviewt“.37

Die Seilschaft interviewt sich selbst. Und die Seilschaft, die im Verlauf der sich zuspitzenden Krisenkonkurrenz zu einem Racket mutiert, sorgt auch für ihre Leute. Überdurchschnittlich oft kommen nun Linkspartei-Politiker aus der Wagenknecht-Fraktion bei Telepolis in Selbstdarstellungen, Elaboraten oder Interviews zu Wort. Mit Neuber rückte auch eine ganze Horde von politisch abgetakelten Linkspartei-Zombies aus dem Umfeld des Wagenknecht-Flügels ein, die eigentlich nichts weiter tun, als eben die national-soziale Linie der Lieblingslinken38 der Deutschen Rechten zu propagieren (Die Satiresendung Die Anstalt39 hat übrigens die ideologische Funktion Wagenknechts als Durchlauferhitzer der Neuen Rechten im vergangenen Juli genial parodiert).

Das Problem an dieser Injektion rechter Ressentiments in linker Hülle besteht darin ist, dass mit der Zeit – bei bewusst von der Redaktion unterdrückter Auseinandersetzung – sich einfach das Bild von dem, was Links ist, verschiebt, ins Reaktionäre rückt (dies dürfte auch die Intention der Redaktion sein). Von zunehmend rar werdenden Ausnahmen abgesehen, „diskutieren“ nun auf Telepolis die Wahnwichtel und Folienkartoffeln der Deutschen Querfront (Sorry: Querdenker) untereinander, während viele Texte einfach die wagenknechtsche Querfront-Ideologie (Zentrales Dogma: Migration, Minderheiten und Ausländer sind schlecht für deutsche Arbeiter) bewusst oder unbewusst in immer neuen Variationen und Abstufungen wiederholen. Klar: Nicht jeder, der dort publiziert, ist Teil des Rackets. Doch so verhält es sich immer mit Blattlinien: man sucht sich die Autoren, deren Aussagen einem politisch in den Kram passen.

Ich werde hier nicht mit dem Finger auf einzelne Autoren zeigen, sondern typische Elemente dieser Querfront-Agitation skizzieren. Neben der Werbung für Verschleierungsideologien oder aggressivsten Antiamerikanismus, der oftmals mit der Apologie autoritärer und faschistischer Regime oder Bewegungen einhergeht, wird derzeit vor allem Pandemieverharmlosung betrieben. (Dies kann sich aber auch ändern. Die Bewegung formierte sich, gemeinsam mit Reichsbürgern, Verschwörungsspinnern und Rechtsextremen, 2014 im Verlauf sogenannter Montagsdemos, die das Thema Friedenspolitik okkupieren wollten und faktisch als Durchlauferhitzer für Pegida fungierten. Die Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel, damals noch Arbeitgeberin von Neuber, hat diese Bewegung trotz des dort evidenten Antisemitismus grösstenteils positiv eingeschätzt).40

Gerne werden auch explizit rechte Themen wie Ausländer- und Clankriminalität, oder Migrationskriminalität thematisiert. Charakteristisch sind auch Polemiken, die sich gegen den Kampf um Minderheitenrechte richten (kompatibel zum Narrativ der Neuen Rechten als „Identitätspolitik“ verteufelt), wo schon mal Lenin oder Mao hierfür in Anschlag genommen werden. Neben dem links verbrämten Kampf gegen die Minderheitenemanzipation ist – wie schon ausgeführt – das rechte Narrativ der Cancel Culture beliebt, das eine Gutmenschenverschwörung imaginiert, die aufrechte Klartextredner mit ihren unbequemen Wahrheiten zu schweigen bringen würde. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auch Partei für rechte Hetzer ergriffen. Verharmlosung der Neuen Rechten und das totschweigen rechter Umtriebe findet vor allem durch Nichtbeachtung dieses Themas, bei formellen Distanzierungen, statt. Da der Faschismus historisiert wird, sieht die Querfront den Antifaschismus ebenfalls als eine Sache der Vergangenheit – weshalb dieses Thema, wenn überhaupt, in Gestalt historischer Beiträge über den zweiten Weltkrieg oder die Nachkriegszeit auftaucht.

Kritik an den Querdenkern, die diesen Namen auch verdienen würde, ist ohnehin tabu. Gefährliche Impfverweigerer werden zu Märtyrern stilisiert. Stattdessen wird versucht, dieses rechtsoffene Spektrum als eine, wenn auch unvollkommene, so doch im Prinzip unterstützenswerte Bewegung darzustellen – ganz so, wie es Hänsel 2014 vorgab. Überhaupt wird gerne der Rekurs auf den Bewegungscharakter der Querdenker gerne als Brücke zwischen Links und Recht verwendet: bei Telepolis geht dann alles in einem grossen Bewegungsbrei auf: von den Querdenkern bis zu den Taliban41 – alles ist hier eine Bewegung. (Nur gut, das die Nazis keine Bewegung waren).

Gerne wird diese mit Nazis durchsetzte Bewegung auch als Opfer von Presse, Verleumdung oder Polizeigewalt dargestellt (während es, wie dargelegt, es nicht möglich ist, die unverkennbaren Sympathien im Staats- und Polizeiapparat für die Querdenker zu thematisieren). Ein klassisches Beispiel für eine Linke Querfront-Argumentation liefert etwa der österreichische Flüchtlingskritiker und Verleger Hannes Hofbauer, der in seinem Promedia-Verlag ein ganzes Buch darüber publizierte, wieso Migration aus Linker Sicht schädlich und verdammenswert sein solle. Nun machen Linksparteipolitiker Werbung für die Bücher Hofbauers auf Telepolis, er wird auch gerne zitiert.42 Wagenkencht zitierte ebenfalls Hofbauer in ihren neuen Buch. Und bei Pro Media veröffentlicht auch ein Ernst Wolff, der oft bei Ken Jebsen auftaucht und schon mal an einer „Wissenskonferenz“ der AfD teilnimmt.43 Die Übergänge von der Querfront zur Neuen Rechten sind fliessend.

Was also ist Telepolis? Ein national-soziales Linkspartei-Racket, das mit sich selbst diskutiert und den Forentrolls immer neues Futter zuwirft, um die Trollgruben bei Laune zu halten – immer in der Hoffnung, dies würde sich in wachsender politischer Zustimmung auszahlen. Die Fassade der einstigen anarchischen Nische im deutschen Medienzirkus – wo allen Problemen und Einschränkungen zum Trotz tatsächlich auch mal Beachtliches publiziert werden konnte – ist nahezu abgebröckelt. Ödnis macht sich breit, die aus der Verengung des Meinungsspektrums, aus der Marginalisierung von Kritik und der Verbannung echten Widerspruchs und Streits resultiert. Die Möglichkeit, radikale Kritik zu üben, die einstmalige Themenvielfalt bei TP – wo ja tatsächlich auch mal Spinner ihren Auftritt hatten –, sie sind einer vom Querfrontdenken bestimmten Blattlinie gewichen, einer Publikationsstrategie, bei der zentrale Texte unter dem Gesichtspunkt der Amalgamierung rechter und linker Strandpunkte/Haltungen ausgewählt werden. Eine Zeit lang mag der Schein noch trügen, die alte Fassade noch halten, doch letztendlich wird es evident werden, dass die einstige Publikationsfreiheit der schalen Simulation von Meinungsvielfalt im Rahmen einer Querfrontstrategie gewichen ist, bei der ohnehin nur die Klientel aus der grossen, rechtsoffenen Szene mit immer neuen Wahnfutter versorgt wird.

Grün ist die Hoffnungslosigkeit

Politischer Opportunismus, wie er hier im Zusammenhang mit dierser pseudolinken Seilschaft dargelegt wird, die faktisch auf den Zug der an Fahrt gewinnenden, präfaschistischen Querdenkerbewegung aufsprang,44 besteht darin, die eigene politische Fahne nach dem von rechts wehenden Wind auszurichten. Faktisch geht es nur noch darum, rechte Inhalte in linke Rhetorik zu verkleiden, wie es gerade an Frau Wagenknechts neusten Buch evident wird.45

Opportunismus hat aber auch eine ökonomische Dimension, er passt sich an den Geldstrom an, um ökonomische Interessen oder systemische Sachzwänge in Ideologie (als Rechtfertigung all dessen, was eigentlich nicht gerechtfertigt werden kann) zu verpacken und hiervon konkret, monetär zu profitieren. Es lohnt sich für „Linke“ schlicht, sich devot gegenüber Herrn Neuber uns seinem Racket zu zeigen, die ganze Antifa-Geschichte mal hinten anzustellen und so zu schreiben, wie man es von ihnen erwartet. Die eigene Meinung wird hierbei aus einem Karrierekalkül an die herrschende Meinung anpasst, bis nichts mehr von Ich übrig bleibt, bis die opportunistische Lüge zum Glaubenssatz gerinnt und man anfängt, die Ideologie, die man aus opportunistischen Kalkül verbreitete, selber zu glauben. Das Endresultat ist dann oftmals der oben erwähnte Zynismus.

Was kann angesichts der eskalierenden Klimakrise nicht mehr gerechtfertigt werden? Über einen Zeitraum von mehr als 12 Jahren war es mir möglich, auf Telepolis die Entfaltung der Klimakrise46 darzulegen, vor deren Unterschätzung47 zu warnen und den kausalen Zusammenhang48 zwischen dieser und dem Wachstumszwang des Kapitals49 zu benennen. Telepolis war das einzige einigermassen reichweitenstarke Medium, auf dem es möglich war, die kausale Verbindung zwischen Kapital und kapitalistischer Klimakrise klar darzulegen. Diese Unvereinbarkeit des derzeitigen Wirtschaftssystems mit effektivem Klimaschutz, also letztendlich mit dem Überleben der menschlichen Zivilisation, liegt inzwischen empirisch klar auf der Hand. Die Kerngrösse, die dies belegt, sind die global siegenden CO2-Emissionen, die der Kapitalismus nur um den Pries einer Weltwirtschaftskrise kurzfristig absenken kann.50

Meine diesbezügliche Arbeit wurde von den Bescheidwissern und Geistesleuchten in den Telepolis-Foren jahrelang mit Klimaleugnung, Spott und Häme begleitet, bis plötzlich selbst den grössten Deppen klar wurde, dass dies keine realitätsferne Apokalyptik ist, sondern eine weitgehend zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit, konkret der Selbstzerstörungstendenzen des kapitalistischen Weltsystems. Als wohl auch im Verlag endlich der Groschen fiel, dass ich mit dieser Argumentation schlicht recht hatte, war plötzlich Schluss mit Lustig. Die Übernahme von Telepolis durch die Linkspartei-Seilschaft bildete den perfekten Anlass, um eine weitere kritische Bearbeitung des Themas Kapitalismus und Klimakrise schlich zu verbieten. Konkret wurde dies während der Auseinandersetzungen um die klimapolitische Einschätzung von Elektroautos exekutiert.

Wie läuft so etwas ab? Nachdem ich einen Text publizierte, der die Bestrebungen zum massenhaften Bau von Elektroautos als eine klimapolitische Mogelpackung beschrieb und für eine grundlegende Verkehrswende plädierte,51 wurden mir in Mails von den neuen Redakteurinnen und Redakteuren angebliche Fehler im Text vorgehalten, die aufgeregte Forenten der Redaktion in empörten Mails meldeten. Mein Text wurde ohne vorherige Absprache verändert, weil ein Schwarm von Forumsnutzern der Ansicht war, dass das E-Auto der Königsweg sei.

Lösung der Klimakrise

Was war geschehen? Der Heise-Verlag unterhält das Portal Heise-Autos, das als „Hochburg der E-Auto Fanboys“ gilt, wie es im Artikelforum hiess.52 Dort habe „jeder einen Tesla oder träumt davon“, wobei alle der „festen Überzeugung“ seien, dadurch „einen wichtigen Beitrag zur Klimarettung zu leisten“. Diese Ansammlung von Mittelklasse-Schnöseln, die unter Klimaschutz vor allem Subventionen für die Solaranlage auf dem Eigenheim und den ersehnten Tesla verstehen, hat beim Verlag sich darüber beschwert, dass da bei Telepolis jemand ihre Vorstellung von Klimaschutz anzweifelte.

Der Heise-Verlag dürfte sicherlich grosse Pläne mit dieser Webpräsenz haben, die zu einem zentralen Nachrichtenportal beim Umstieg auf das E-Auto ausgebaut werden könnte. Man bedenke nur das Wachstumspotenztal! Eine Unverschämtheit, das da jemand – auch noch in einer Hauspostille! – diesen kommenden Reibach auch nur infrage stellt. An dem Ton der meisten Forumsbeiträge zu dem Text, dieser unverwechselbar deutschen Mischung aus Arroganz und Ignoranz, die die durch Standesschranken abgekapselte deutsche Mittelklasse kennzeichnet, wurden die Reihenhausbesitzer kenntlich, die ihre Geld- und Subventionsgeilheit mit Klimaschutz verwechseln.

Dass eine Verlagssparte ihre ökonomischen Interessen vermittels Telepolis zu artikulieren versuchen würde, wäre unter Rötzer schlicht undenkbar gewesen. Auf so etwas bin ich in den 13 Jahren, in denen ich dort Texte fabrizierte, nie gekommen. Doch würde die neue, aus – sagen wir es doch ruhig – ehemaligen Linken bestehende Redaktion sich diesen tollen Wachstumsaussichten widersetzen? Die Frage zu stellen, heisst, sie zu beantworten. Die Redaktion erklärte mir, dass ein Artikel veröffentlicht werden würde, um mich zu korrigieren. Es wurde ein Mietmaul – sorry, das heisst Influencer – aus dem Umfeld der Grünen aufgegabelt, der in der gleichen verdinglichten Vorgehensweise wie Neuber angebliche Fakten, konkret neue Studien aneinanderreihte, um das E-Auto zu rehabilitieren und mich öffentlich der Unfähigkeit zu bezichtigen.53

Nach kurzer Recherche konnte ermittelt werden, dass die zentrale neue Studie, die gegen mich in Anschlag geführt wurde, schlicht mit manipulierten Zahlen arbeitete.54 Die Annahme reduzierter CO2-Emissionen bei der Batterieproduktion basierte auf Zukunftsprognosen, die aber als bereits erreichte Realität dargestellt wurden. Der Hintergrund: Derzeit tobt ein milliardenschwerer Kampf zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen um die Ausgestaltung der Mobilitätswende, der mit harten Bandagen geführt wird – und bei dem auch mal Studienautoren unter Druck gesetzt werden, um neue, „bessre“ Studien zu liefern.

Was sagte Neuber als Sachdebattenfetischist, dem angeblich nur Fakten was gelten, zu dieser spannenden Story, die ja einfach nur auf Fakten basiert? Er weigerte sich anfänglich, diese überhaupt zu bringen. Die Realität, die dem ökonomischen Interesse seines Verlags widersprechen, gilt dem neuen Chef von Telepolis nichts. Wenn es sein muss, wird das einstige Alternativmagazin zum Automagazin, und der Chefredakteur auch mal zum Autodealer – Pardon, zum Elektroautoverkäufer. Es folgten tagelange Auseinandersetzungen, in denen ich eine Replik regelrecht erkämpfen musste, die mit immer neuen Auflagen verbunden war (etwa nicht mehr als 5000 Zeichen). Und natürlich kostete mich das alles etwas: die gesamte Honorarhöhe. Ich musste den Text, der eigentlich nur manipulierte Fakten zurechtrückte, umsonst schreiben. Darauf bestand Herr Neuber. Zudem dürfe ich nicht polemisieren, da sonst weitere öffentliche Kritiken gegen mich veröffentlicht würden. Gott bewahre, wer würde schon gegen die deutsche Autoindustrie polemisieren wollen, die jahrelang effektiven Klimaschutz auf europäischer ebene verhinderte!55 (Merke: Bei Telepolis dürfen inzwischen nur die wirren Querdenker-Versteher aus dem politischen Umfeld von Herrn Neuber polemisieren – wenn sie es nur könnten.56)

Altenahr - 8 Tage nach der Flut.jpg

Dies war auch mein letzter Text, den ich – nach 13 Jahren! – zum Themenkomplex Kapital und Klimakrise bei Telepolis unterbringen konnte. Versuche, noch einen Text zum Thema Ressourcenverschwendung und Elektromobilität bei Telepolis zu platzieren, belieben erfolglos (Man will ja Heise-Autos nicht verärgern!). Bei den zwei wichtigsten Themen der gegenwärtigen Krisenperiode – der Thematisierung der kapitalistischen Klimakrise und der Neuen Rechten – wurde ich somit durch die Seilschaft der Linkspartei um Neuber binnen weniger Monate marginalisiert.

So langsam dämmerte mir im April und Mai 2021, dass es nur noch schlimmer werden kann, da es diesen Leuten, die sich im Fahrwasser Wagenknechts bewegen, eventuell nur darum gehen könnte, an mir ein Exempel zu statuieren, da ich Frau Wagenknechts national-sozialen Drang schon früh kritisierte.57 Niemand darf Wagenknecht kritisieren, das ist die Maxime des Wagenkencht-Rackets. Neben all diesen obig geschneiderten Auseinandersetzungen liefen natürlich noch die üblichen Gewalt- und Todesdrohungen, die immer mal wieder aus den Telepolis-Foren gegen mich gerichtet wurden. Aber das wurde – vor allem nach 2015 – irgendwann zur Routine.

Den Wahnsinn einer massenhaften Elektromobilität machte übrigens derselbe Influencer, der mich mithilfe manipulierter Emissionszahlen der Unfähigkeit überführen sollte, in einem Folgetext evident. Wie viele Elektroautos sollen es bitte sein? Wie wäre es mit 50 Millionen?58 So, let’s do the fuckin math: Die weltweit grösste Anlage zur CO2-Ausscheidung, die jüngst in Island in Betrieb ging, kann binnen eines Jahres 4000 Tonnen des Treibhausgases der Atmosphäre entnehmen. Selbst die manipulierte Studie, auf die sich die Kritik an meinem Text stütze, zu geht davon aus, dass „nur“ noch 8,5 Tonnen CO2 beim Bau eines Elektroautos anfallen (eigentlich waren es 17 Tonnen). Selbst wenn diese Zukunftsprognosen irgendwann wahr werden sollten, würden deutsche Autohersteller beim Bau von 2000 E-Autos mehr CO2 ausstossen, als in Island der Atmosphäre in der derzeit Weltgrössten CO2-Anlage entnommen wird. Und diesen gemeingefährlichen kapitalistischen Irrsinn verkaufen und die Grünen als Klimapolitik

Eigentlich scheinen hier im Kleinen die opportunistischen Grundzüge einer Rot-Rot-Grünen Koalition auf: Durch Greenwashing wird die Fortsetzung der kapitalistischen Klimazerstörung legitimiert, während zugleich Kritik daran marginalisiert und mundtot gemacht wird. Das Linkspartei-Racket ist buchstäblich bereit, der Kariere im hier und jetzt die Zukunft zu opfern – denn es ist wirklich illusorisch, darauf zu hoffen, dass die Flut erst nach uns käme. Glaubt Herr Neuber daran, dass die massenhafte E-Autoproduktion das Klima retten wird? Ich schätze, es ist ihm scheissegal. Nach mieiner Einschätzung wird er all das Schreiben und all das Unterdrücken, was ihm sein Fortkommen ermöglicht.

Während man faktisch Kapitalinteressen exekutiert und Werbung machen lässt für den klimapolitischen Wahnsinn einer massenhaften Produktion von E-PKW, lässt sich die Redaktion aber auch nicht die Gelegenheit entgehen, über das „Kungeln“ von Politik und Wirtschaft in „etablierten Medien“ zu klagen. Telepolis soll ja irgendwie ein Alternativremedium sein – und Unverschämtheit siegt.59 Neuber ist somit jemand, unter Berufung auf „breite demokratische Diskurse“ intern Meinungsvielfalt und Kritik beseitigt, sowie intern klimaschädliche Kapitalinteressen durchdrückt, während zugleich eben dies in TP-Artikeln beim „Mainstream“ der Medien kritisiert wird.

Fazit: Schwurbeln statt Kritik

Selbstverständlich muss abschliessend abermals betont werden, das Querfrontler, also die Kräfte, die sich in der Mischszene zwischen Links und Rechts um die Querdenker bewegen (die mit den „Montagsdemonstrationen“ begann), nicht automatisch als Rechte oder verkappte Nazis zu bezeichnen sind. Viele der ehemaligen Linken mögen sich aus gutgemeinten Gründen dieser Wahnbewegung anschliessen. Es gibt hier sicher eine ganze Gemengelage von Motiven: von verblendetem Idealismus, über schlichte Wut auf ein unverstandenes System, bis zum beschrieben Opportunismus in all seinen Schattierungen (vom karrierefördernden Selbstbetrug, über Ignoranz, simples Geldinteresse,60 bis zur gezielten Karriereplanung im rotbraunen Spektrum).

Derweil scheint das Spitzenpersonal dieses Spektrums durchaus bewusst die Kooperation mit der Neuen Rechten zu suchen, wie ausgerechnet das Satiremagazin Titanic bei einer Telefonstreich-Aktion in Erfahrung brachte. Hierbei gaben sich Titanic-Redakteure als der bayrische Politiker und Impfgegner Aiwanger aus, um bei den Rechtsauslegern der CDU und der Grünen für eine breite Querfront gegen die Impflicht zu werben. Max Otte, bei der CDU am rechten Rand in der „Werte Union“ aktiv, gilt als Scharnier zur AfD – und er prahlte gegenüber den angeblichen Aiwanger mit seinen guten Kontakten zu Wagenknecht, die für ein solches Vorhaben leicht zu gewinnen wäre. Abwegig wären solche geheimen Kontakte nicht: Wagenknecht ist gern gesehene Autorin bei rechtskonservativen und rechtspopulistischen Blättern, in denen sie gegen die Linke agitiert, sodass hier von Zufall oder Ignoranz nicht die Rede sein kann. Dieter Dehm verkehrt ebenfalls gerne mit Gestalten des Quzerfront-Spektrums.61

Unabhängig von der Motivationslage der einzelnen Akteure und Mitläufer beleibt die Tatsache bestehen, dass es sich bei der Querfront um den Anfangs erwähnten Transformationsriemen handelt, der der neuen Rechten verblendetes Menschenmaterial zuführt. Doch vor allem in Deutschland besteht in der gegenwärtigen Krisenlage ein extrem hoher Bedarf an politischen und ideologischen Verlaufsformen, in denen sich ein in Totalitäre strebender Extremismus der Mitte konkretisieren kann, ohne dass sofort Parallelen zum Nationalsozialismus evident werden. Zu gross ist immer noch die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen des deutschen Faschismus, als dass offen faschistische Tendenzen eine reelle Chance auf den Durchmarsch hätten. Die Querfront, in ihrer aktuellen Gestalt als Querdenker, ist somit als eine präfaschistische Übergangsform zu begreifen, die in Wechselwirkung mit kommenden Krisenschüben munter weiter mutieren wird. Die Träume vom Staatsteich,62 die weit verbreitete63 Kumpanei64 zwischen Querdenkern und der Polizei,65 sie deuten auf den autoritären Charakter dieser Bewegung hin, die im weiteren krisengang einen objektiv faschistischen Charakter annehmen dürfte.

Und die Aussichten dieses opportunistischen Querfront-Rackets sind gar nicht mal so übel, da es kaum progressive Alternativen gibt. Alle bürgerlichen Blätter stehen hinter Wagenknecht als der Lieblingslinken der deutschen Rechten. Es gibt kaum noch progressive Medien, die die national-sozialen Umtreibe von Frau Wagenknecht kritisieren würden: Telepolis ist nun ihr „Bewegungsorgan“. Der Freitag befindet sich ganz auf Wagenknecht-Linie, das Neues Deutschland wird von einer Linkspartei abgewickelt, die gerade ihren Frieden mit den national gesinnten Sozialisten in ihren Reihen gemacht hat.66

Über die Gründe, die den Heise-Verlag dazu veranlassten, diesem illustren Haufen die Kontrolle über Telepolis zu überlassen, kann nur spekuliert werden. Und wieso denn auch nicht (Neuber war ja vor 2021 eine unauffällige Marginalie bei TP, die allenfalls durch ungewöhnlich durchschnittliche, ideenlose Texte auffiel)? Mir gegenüber wurde aus dem Redaktionsumfeld angedeutet, dass dies auf Empfehlung Rötzers geschah, der in seiner Endzeit – wie Anfangs dargelegt – immer stärkere Anfälligkeit für dieses Spektrum an den Tag legte, sozusagen infiziert schien vom Forenwahn, dem er anfangs wohl der Zugriffe wegen freie Bahn liess. Eventuell können noch persönliche Kontakte eine Rolle gespielt haben. Dehm wohnt in Hannover, wo auch der Heise-Verlag seinen Standort hat. Kontakte zwischen Dehm und Verlagsmitarbeitern, oder dessen Eigner, bei denen in Hinterzimmerdeals die Nachfolge ausgehandelt wurde, wären im üblichen Niedersachsensumpf durchaus denkbar. Der Verschwörungsglaube, der in diesem rotbraunen Milieu so dominant ist, stellt ja eigentlich nur eine Projektion dar, bei der die kapitalistische Welt in ihrer Widerspruchsentfaltung eben so imaginiert wird, wie man selber beim politischen Hauen und Stechen agiert.

Für kapitalistische Unternehmen wie den Heise-Verlag scheint überdies gerade in Krisenzeiten die Entsorgung von Kritik so erwünscht wie problematisch zu sein – es muss ja relativ geräuschlos geschehen. Die Wertkritik wurde nur so lange geduldet, wie sie einen gewissen Unterhaltungswert bot und für gute Zugriffszahlen sorgte. Sie wurde aber nie ganz ernst genommen. Sobald aber selbst dem Verlag klar wurde, dass ihre Krisenbeschreibung zutrifft – samt der daraus resultierenden praktischen Maxime, wonach die Überwindung des Kapitalismus eine Überlebensfrage ist -, waren ihre Tage gezählt. Ihre Marginalisierung erfolgte gerade deswegen, weil der Wertkritik das historische Verdienst zukommt, die Weltkrise des Kapitals richtig analysiert und prognostiziert zu haben.

Zudem unterstützen kapitalistische Unternehmen – wer hätte das gedacht? – gerne politische Kräfte, die ihren ökonomischen Interessen entgegenkommen. Der Heise-Verlag ist das grösste publizistische Sprachrohr der deutschen IT-Industrie, und die wünscht sich nicht sehnlicher, als dass die übermächtige US-Konkurrenz aus dem europäischen Markt zurückgedrängt wird, um diesen selber übernehmen zu können.67 Der fanatische Antiamerikanismus der Querfront, Ausdruck einer verkürzten, ins nationalsozialistische abdriftenden „Kapitalismuskritik“, bildet eine perfekte Brücke zu dem strategischen Interesse des IT-Verlags, der hier ja auch Kräfte hegt und pflegt, die bei Gelegenheit noch nützlich sein könnten. Wagenknecht hat dies auch in ihrem letzten Machwerk explizit als politisches Ziel ausgesprochen, wie selbst das LCM in einer Rezension bemerkte. Am Ende des Buches gehe es Wagenknecht um Datenschutz, doch passe „dieses Kapitel nicht wirklich in das Buch und scheint nur dazu [zu] sein, um tatsächlich einmal ein aktuelles Thema ansprechen zu können“.68 So sind sie oft, die den Fetischismus des Kapitals ignorierenden Klassenkampf-Marxisten, die überall nur Interessen wittern, um sie nicht nicht wahrzunehmen, wenn sie darüber mal bei ihren Rezensionen stolpern.

Die neue Telepolis-Devise lautet nun: Schwurbeln (aber bitte mit Niveau!), Querdenker-Wahn, national-soziale Ausgrenzung, Identitätsscheisse und neurechte Ressentiments statt radikaler Kritik am Kapitalismus. Dies ist in etwa die Wagenkencht-Linie, die Neuber brav exekutiert – was sich ja auch perfekt mit den Interessen des Heise-Verlags als eines kapitalistischen Unternehmens deckt. In der manifesten Krise des Kapitals, die selbst von dem rotbraunen Rand der Linkspartei nicht mehr ignoriert werden kann, sollen sich die Menschen lieber im Querdenkerwahn verlieren, anstatt das System, das ihnen die ökologischen Lebensgrundlagen entzieht, infrage zu stellen. Heise macht hier im Kleinen nur das nach, was auch Springer mit BILD und Welt, oder Murdoch mit der News Corporation vorexerzieren. Die Rackets der Linkspartei sind geradezu prädestiniert für diesen Job.

Somit haben tatsächlich die Studienobjekte meines TP-Buches zum Faschismus im 21. Jahrhundert Telepolis übernommen. Dies ist keine Polemik, sondern traurige Tatsache. Zugleich ignoriert der Heise-Verlag, der offenbar sogar meine Suchmaschienenergebnisse von Verweisen auf Telepolis säubern liess, immer noch die Aufforderungen, meine Ebooks aus seinen Programm zu nehmen und diesen absurden Zustand endlich zu beenden.

Entscheidend war aber wohl, dass die Abwicklung von Telepolis als einer publizistischen Nische relativ geräuschlos von nominal „Linken“ organisiert werden konnte. Zugleich kann der Verlag hoffen, die „Marke“ Telepolis ohne all die nervige Kritik am Leben zu halten, solange die alten Kulissen und die Erinnerungen an das Alternativmagazin noch halten. Nominell Linke können unter Umständen für das Kapital tatsächlich nützlicher sein, als konservative Kräfte.

Fussnoten:

1 http://www.konicz.info/?p=4502

2 http://www.konicz.info/?p=4352

3 http://www.konicz.info/?p=4352

4 https://weltnetz.tv/video/198-weltnetztv-staaten-muessen-unabhaengig-werden-vom-terror-der-finanzmaerkte

5 https://www.heise.de/tp/features/Querfront-als-Symptom-3952540.html?seite=all

6 https://www.heise.de/tp/features/Putin-unser-der-du-bist-im-Kreml-3504407.html?seite=all

7 https://de.wikipedia.org/wiki/Streik_bei_der_Berliner_Verkehrsgesellschaft_1932

8 https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/525/im-wirtschaftswunderland-7450.html

9 https://www.heise.de/tp/features/Gemeinsam-gegen-Rothschild-3365791.html?seite=all

10 https://www.heise.de/tp/features/Die-Verbrechen-des-Bill-Gates-4727474.html

11 https://www.heise.de/tp/features/Leipziger-Corona-Randale-4951210.html

12 https://en.wikipedia.org/wiki/Gaslighting

13 https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Markwort

14 https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Zwischen-den-Corona-Wellen/Re-Antwort-Konicz/posting-39146236/show/

15 https://weltnetz.tv/video/198-weltnetztv-staaten-muessen-unabhaengig-werden-vom-terror-der-finanzmaerkte

16 https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Was-uns-die-Covid-19-Daten-sagen-und-was-nicht/Re-Kuhblender-erstellt-Gutachten-bei-rechtsberugerischen-Gerichtsurteil/posting-38718416/show/

17 https://www.mopo.de/hamburg/meinung/massiver-polizeieinsatz-am-1–mai-den-querdenkern-waere-das-nicht-passiert-38348254/?dmcid=sm_fb_p&utm_source=pocket_mylist-

18 https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/stuttgart/kusterer-verteidigt-polizei-nach-querdenken-demos-100.html

19 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-querdenken-beamte-soldaten-100.html

20 https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-wilden-protesten-in-berlin-schluss-mit-der-toleranz-gegenueber-radikalen-corona-skeptikern/26308660.html

21 https://twitter.com/ver_jorg/status/1438191043313291266

22 https://www.heise.de/tp/features/Die-Corona-Proteste-sind-eine-rechtsradikale-Sammlungsbewegung-6022346.html

23 https://www.youtube.com/watch?v=FtuEgrJjFJg

24 http://www.konicz.info/?p=4355

25 https://www.youtube.com/watch?v=FtuEgrJjFJg

26 https://www.heise.de/tp/features/Die-extremistische-Gesellschaft-3395118.html

27 https://www.heise.de/tp/features/Unerfolgreich-6182421.html

28 https://www.heise.de/tp/features/Justiz-gegen-Corona-Richter-Einschuechterung-Rechtsbeugung-oder-beides-6128336.html?seite=all

29 https://www.heise.de/tp/features/Wie-die-Pandemie-Wissenschaft-und-Lehre-bedroht-5993915.html?seite=all&utm_source=pocket_mylist

30 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/linke-in-weimar-sahra-wagenknecht-und-oskar-lafontaine-bei-susanne-hennig-wellsow-im-wahlkampf-a-7cf51130-85ec-4cc3-8340-ceff043eb08c

31 https://www.patreon.com/posts/kampf-um-orginal-52797896

32 https://www.heise.de/tp/features/Kampf-um-Normalitaet-6048183.html?seite=all

33 https://www.spiegel.de/politik/durchmarsch-der-fischer-gang-a-1b0e11d4-0002-0001-0000-000013521573

34 https://www.tagesschau.de/investigativ/lutze-saarland-linkspartei-101.html

35 https://www.heise.de/tp/features/Die-Rothschilds-als-antisemitisches-Feindbild-6027349.html

36 https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Die-Rothschilds-als-antisemitisches-Feindbild/Dieter-Dehm-zum-Antisemiten-zu-erklaeren-sollte-wohl-unter-der-Wuerde-von-TP-sein/posting-38789498/show/

37 https://www.heise.de/tp/features/Sputnik-V-wurde-ignoriert-und-verunglimpft-6045638.html?seite=all

38 https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/525/im-wirtschaftswunderland-7450.html

39 https://www.zdf.de/comedy/die-anstalt/die-anstalt-clip-4-194.html

40 https://www.heise.de/tp/features/Gemeinsam-gegen-Rothschild-3365791.html?seite=all

41 https://www.heise.de/tp/features/Taliban-Die-Entstehung-einer-sozialen-Bewegung-6175657.html

42 https://www.heise.de/tp/features/Der-unendliche-Ausnahmezustand-5987568.html

43 https://taz.de/Wissenskongress-von-AfD-Funktionaeren/!5250915/

44 https://www.heise.de/tp/features/Das-Elend-der-identitaeren-Politik-6111563.html?seite=all

45 https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/525/im-wirtschaftswunderland-7450.html

46 https://www.heise.de/tp/features/Mit-Vollgas-gegen-die-Wand-3419257.html

47 https://www.heise.de/tp/features/Die-Dialektik-des-Klimawandels-3364883.html

48 https://www.heise.de/tp/features/Die-grosse-Klimaverschwoerung-3383723.html

49 https://www.heise.de/tp/features/Kapital-als-Klimakiller-4043735.html?seite=all

50 https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/systemfrage-oder-barbarei

51 https://www.heise.de/tp/features/Mogelpackung-Elektromobilitaet-5987309.html?seite=all

52 https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Mogelpackung-Elektromobilitaet/Re-Kann-es-sein-dass-Telepolis-gerade/posting-38541288/show/

53 https://www.heise.de/tp/features/Ist-die-Elektromobilitaet-wirklich-eine-Mogelpackung-5999032.html

54 https://www.heise.de/tp/features/Mogelpackung-Mogelpackung-6004821.html

55 https://www.heise.de/tp/features/Klimapolitischer-Schwindel-fuer-Fortgeschrittene-4210218.html?seite=all

56 https://wolfwetzel.de/index.php/2021/09/08/ueber-jungle-world-nach-afghanistan-ins-dschungelcamp/

57 https://www.heise.de/tp/features/Nationalsozial-in-den-Wahlkampf-3580672.html?seite=all

58 https://www.heise.de/tp/features/Wie-wir-in-Deutschland-50-Millionen-Elektroautos-aufladen-koennen-6030221.html

59 https://www.heise.de/tp/features/Journalismus-aus-freien-Stuecken-fuer-das-Kapital-6053775.html?

60 https://netzpolitik.org/2020/querdenken-der-geschaeftige-herr-ballweg/

61 https://www.tagesspiegel.de/politik/friedensmahnwachen-rechte-linke-verschwoerungtheoretiker-die-neue-querfront/11165150.html

62 https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/reichsbuerger-querdenker-101.html

63 https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-03/polizei-querdenker-corona-demos-kassel-neutralitaet-polizeigewalt

64 https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/passt-herzgeste-auf-demo-zur-neutralitaetspflicht-der-polizei,SUXhFpQ

65 https://www.watson.de/deutschland/coronavirus/558270343-kassel-das-sind-die-videos-und-bilder-wegen-der-die-polizei-in-der-kritik-steht

66 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/linkspartei-wagenknecht-parteiausschlus-schiedsgericht-100.html

67 https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8696/

68 https://lowerclassmag.com/2021/04/30/endgegner-studentin-sahra-wagenknechts-die-selbstgerechten/

Grafikquellen          :

Oben     — Das Einwohnermeldeamt (vorne links), das Stadthaus und die Berswordt-Halle am Friedensplatz in Dortmund.