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RENTENANGST

JE SUIS MONTAIGNE

Erstellt von Gast-Autor am 3. März 2015

Der Gestank des eigenen Mistes ist jedem der liebste Duft

File:Misthaufen.jpg

Autor: Botho Cude

Rationalgalerie

Datum: 02. März 2015
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Buchtitel: Von der Kunst, das Leben zu lieben
Buchautor: Michel de Montaigne
Verlag: Die Andere Bibliothek

Ein Tagebuch, das ein hervorragender Mann und guter Beobachter führt, ist unter allen Umständen von großem Wert … so habe ich kürzlich mit großem Interesse die Reisen Montaignes gelesen, und manchmal haben sie mir noch besser gefallen als seine Essais.
Goethe zu Soret am 22. 1. 1830 /1/

An Montaignes Schriften haben sich bedeutende deutsche Übersetzer versucht. Am Beginn steht Johann Daniel Tietz (1753 f.), gegen Ende des 18. Jahrhunderts folgt die klassische Verdeutschung durch Johann Joachim Bode (1793 ff.), die in revidierter Fassung von Otto Flake und Wilhelm Weigand 1921 neu aufgelegt wurde. Im 20. Jahrhundert erscheinen die Auswahlen von Paul Sakman (1932) und Arthur Franz (1953). Schließlich hat der vor kurzem verstorbene Hans Stilett in der Anderen Bibliothek eine moderne Übersetzung der Essais (1998) und des Reisetagebuchs (2002) vorgelegt. Zum 30jährigen Jubiläum der Anderen Bibliothek wurde nun von Christian Döring die Blütenlese Stiletts aus Montaignes Schriften von 2005 neu herausgegeben.

Hans Stilett ist bemüht, die knappe und spontane, reichlich mit Sentenzen gespickte Schreibweise Montaignes für heutige LeserInnen nachzuempfinden. Dieses Stilexperiment darf als gelungen gelten, auch wenn begreiflicherweise auf eine Adaption der Latinismen in Montaignes Syntax verzichtet wurde. /2/ Trotzdem will mir scheinen, dass der über 400 Jahre alte Text in der Übersetzung Bodes von 1793 auf uns echter wirkt.
Der Sammelband Stiletts enthält thematisch geordnet Auszüge aus den Essais und dem Reisetagebuch. Der Herausgeber verfeinert den „Salat“ seines Autors, indem er das Werk einer Kompilation unterzieht. Die klassischen Zitate werden in gebundene Sprache gebracht und in der Herkunft nicht verifiziert, wie in älteren Ausgaben üblich. Streichungen sind nicht kenntlich gemacht, die in Kleinstformat beigefügten Abbildungen nicht untertitelt.
Auch warum den Buchdeckel ein flaues Bildnis Molières als Sganarelle im „Eingebildeten Kranken“ ziert, bleibt uns verborgen. Montaigne starb 1592 mit 59 Jahren an einem Steinleiden. Erst dreißig Jahre später wurde Jean-Baptiste Poquelin geboren, den wir als Molière verehren.

Michel de Montaigne entstammt einer wohlhabenden Kaufmannsdynastie. Die Familie erwarb mit ihren Landgütern anscheinend auch den Adelstitel. Nach dem ererbten Gut Montaigne in der Picardie legt Michel Eyquem sich als erster seines Geschlechts den Titel „de Montaigne“ zu.
Er wird 1533 geboren als Sohn des in Bordeaux beamteten Pierre Eyquem und der Anthoinette Louppes de Villeneuve, die einem begüterten, (vermutlich) marranischen Geschlecht entstammt. /3/ Vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahr lässt ihn der Vater von einem deutschen Arzt namens Horstanus (Horst), der angeblich kein Wort Französisch versteht, in lateinischer Sprache erziehen. Wir sehen, die pädagogischen Experimente der Renaissance konnten es mit denen unserer Zeit an Aberwitz durchaus aufnehmen. Nach humanistischer Schulbildung und Studium wird Montaigne mit 21 Jahren Rat am Steuergericht, später Rat am Parlament von Bordeaux.

1562 beginnt in Frankreich ein über dreißigjähriger konfessioneller Bürgerkrieg zwischen Hugenotten und katholischer Liga, den erst Heinrich IV. 1598 mit dem Edikt von Nantes beendet. Montaigne berichtet: Tausendmal habe ich mich zu Hause mit dem Gedanken schlafen gelegt, man könnte mich in dieser Nacht verraten und ermorden. (S. 9)
Weil ihn die Jurisprudenz auch moralisch nicht befriedigt, zieht er sich 1570, nachdem er das Erbe des Vaters angetreten hat, als Landedelmann auf sein Gut Montaigne zurück, dient aber noch mehrmals den französischen Königen Heinrich III. und Heinrich IV. als Kammerherr in heiklen diplomatischen Missionen und versucht zwischen den verfeindeten Parteien ausgleichend zu wirken. Wer sich in Religionskriegen unparteiisch gibt, schwebt in akuter Lebensgefahr. Die beiden Heinriche werden von katholischen Fanatikern gemeuchelt (nach heutigem Sprachgebrauch: von Terroristen ermordet).

Montaigne beginnt 1572 mit dem Schreiben seiner Essais. Es ist das Jahr der Pariser Bluthochzeit. Das katholische Establishment massakriert in der Bartholomäusnacht in Paris und den Provinzen zehntausende Hugenotten. Diese Mordbefugnis der Staatsmacht gegenüber einheimischen Partikularisten erinnert uns aktuell an Vorgänge in der Ukraine.
1580 erscheinen die Essais in zwei Bänden, ein dritter Band folgt 1588. Bis zu seinem Lebensende bessert der Autor am Manuskript.

Seit 1577 leidet Montaigne an Nierenkoliken. Deshalb unternimmt er nach der Herausgabe der Essais 1580 eine Bäderreise nach Italien über Deutschland und die Schweiz. In Rom begegnet er Papst Gregor XIII. und lässt die Essais von der päpstlichen Zensur absegnen. Erst 1667 kommen sie auf den Index Romanus. Über die Reise führt er ein Tagebuch (zuerst erschienen 1774). In Italien erreicht ihn die Nachricht, dass er zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt wurde. 1583 erfolgt seine Wiederwahl für weitere zwei Jahre. Es sind schwere Zeiten. Pest und Bürgerkrieg bedrohen die Stadt.

Zu allen Zeiten finden philosophische LeserInnen in Montaignes Essais eine ihnen adäquate Weltauffassung, das passende Lebensgefühl. Der junge Goethe wird das französische Original gelesen haben. Montaigne, Amyot, Rabelais, Marot waren meine Freunde, und erregten in mir Anteil und Bewunderung, /4/ schreibt Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ über seine Studentenzeit in Straßburg. Viele Ansichten des Autors müssen auf damalige Leser noch revolutionär gewirkt haben. In der Folge sind sie als bildungsbürgerliches Allgemeingut verinnerlicht worden.
Der Hauptgegenstand seiner Beobachtungen ist er selbst, der Mensch Montaigne, und insofern wir alle als Menschen. Ich gebe mich nicht damit ab zu sagen, was in der Welt zu tun ist – damit geben sich genug andere ab –, sondern ich sage, was ich in ihr tue. (S. 87)
Die Essais betrachten Mode, Sprache und Stil, Recht und Religion, Vergangenheit und Gegenwart, Aberglauben und Skepsis, die Kindererziehung und das Sterben aus der Sicht des honnête homme.

Anders, als es uns die wohlgeordnete Auswahl Stiletts suggeriert, werden von Montaigne die sittlichen Probleme seiner Zeit in loser Folge behandelt. Dabei bewahrt er gegenüber allen Dogmen (einschließlich denen der Kirche) kritische Distanz. Zuzeiten des Renaissancehumanismus erkennen kluge Köpfe die Religion per se als eine Mixtur aus Tradition und Wunderglauben. Montaigne fasst das so: Wir sind Christen in der gleichen Weise, wie wir Bewohner des Périgord oder Deutsche sind. /5/ Die Frage nach dem rechten Glauben lässt er offen und untermauert seine kritische Betrachtungsweise sicherheitshalber mit klassischen lateinischen Zitaten. Sein erkenntnistheoretischer Agnostizismus gipfelt in dem berühmten Credo: Was weiß ich?

Die Blütenlese Hans Stiletts verkürzt Montaignes ursprünglich spontane Niederschrift und sortiert sie in moderne Schubladen. Die Methode erinnert von Ferne an die überlieferten Epitome aus antiken Autoren. Entstanden ist ein optimistisches Montaigne-Brevier für jugendliche Einsteiger, die auf gelehrten Ballast gut verzichten können. Vielleicht auch deshalb beschwört der Herausgeber in seinem Vorwort Montaignes Lebensfreude und Heiterkeit. Der ewige Ruhm Montaignes fußt jedoch auf seinem nüchternen Skeptizismus und seiner vorurteilsfreien Toleranz. Alle Umdeutung bleibt problematisch.
Aber letztlich gilt auch hier: Was weiß ich?

Anmerkungen
/1/ Frederic Soret, Zehn Jahre bei Goethe, Brockhaus, Leipzig 1929, S. 352
/2/ vgl. Klemperer, Hatzfeld, Neubert, Die Romanischen Literaturen von der Renaissance bis zur französischen Revolution, Athenaion 1926, S. 278 f.
/3/ vgl. Philo-Lexikon, Jüdischer Verlag 2003, S. 487
/4/Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe), Bd. 16, S. 513 (Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, Elftes Buch)
/5/ zit. nach: Kindlers Neues Literaturlexikon, München 1998, Bd. 11, S. 884


Grafikquelle :     „© Superbass / CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons)“

 

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Die kaputte Welt der Wikinger

Erstellt von Gast-Autor am 26. September 2014

Museales in schwieriger Zeit

Autor: Botho Cude

Rationalgalerie

Datum: 25. September 2014

Da fanden sie Halfdan Hochbein, und Einar ließ ihm einen „Adler“ auf den Rücken schneiden mit dem Schwerte und alle Rippen von dem Rückgrat ablösen und die Lunge dort herausziehen, und er gab sie Odin zum Siege für sich.
Die Geschichte von Jarl Thorfinn dem Mächtigen /1/

Ein Jahrtausend lang galten die Wikinger als die Geißel des frühen Mittelalters. Ihre Blütezeit rechnen die Mediävisten etwa vom Jahr 800 bis 1050. Die Bezeichnung „Wikinger“ entstammt dem Altnordischen und bedeutet schlicht Pirat. Die Etymologie des Worts ist nicht abschließend geklärt, hat aber wohl mit der Seefahrt zu tun. Die von den Zeitgenossen als Wikinger, Normannen und Waräger bezeichneten Völkerschaften entstammen dem heutigen Norwegen, Schweden und Dänemark. Sie besiedelten die Inseln des Nordatlantiks, darunter Island und Grönland, die Küsten von Nord- und Ostsee, und errichteten Reiche in Skandinavien, England, Irland, Nordfrankreich und Russland.

Die Wikinger führten ein schlichtes Dasein, das in heutigen Comics und Zeichentrickfilmen pädagogisch verzeichnet wird. Anders als Orm der Wikinger, Hägar der Schreckliche und die rote Vicki vermuten lassen, spielten Kinder nicht die Hauptrolle. Der typische Wikinger verbrachte den Winter daheim, erzählte am Herdfeuer blutrünstige Seeräuberpistolen, schwängerte sein Weib und traf sich im Frühling mit den Spießgesellen, um den nächsten Beutezug auszubaldowern. Dann ließen die Mannen die Langboote zu Wasser und verwüsteten die Küsten der umliegenden Meere. Die emanzipierte Wikingerfrau kümmerte sich im Sommer um Haus und Hof. Ihr oblag die Kindererziehung, das Durchprügeln der Sklaven und die Ernte. So erklären sich die hoch gewachsenen Schwedinnen, wie wir sie von der Popgruppe Abba kennen und vielleicht die Erfindung der Plateausohle in den 70ern, die den Mitteleuropäer endlich auf Augenhöhe brachte.

Zurück zum frühen Mittelalter, das nicht umsonst das dunkle genannt wird, denn es war eine finstere gewalttätige Zeit. Die Historiker haben nach nunmehr 1000 Jahren festgestellt, dass den Wikingern „eine negative Konnotation“ anhaftet. /2/ Da schien es höchste Zeit für eine Präsentation, die diese kriegerischen Horden aufwertet. Das Dänische Nationalmuseum in Kopenhagen, das London British Museum und das Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin haben sich zusammengetan und eine sehenswerte Ausstellung organisiert, zu der zahlreiche Museen Europas Objekte beigesteuert haben. Nur Island fehlt. Vermutlich fehlte einfach das Geld, denn in der Einleitung zum Katalog spricht Matthias Wemhoff, der Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte, von Finanzierung mit Eigenmitteln „in schwieriger Zeit“. /3/
Jetzt ist die Wanderausstellung in Berlin im Martin-Gropius-Bau angekommen. Sie ist imposant und kindgerecht, und sie zeigt die Wikinger ein wenig von der Schokoladenseite.

Das Sahnestück unter den Exponaten ist das Roskilde-Schiff 6 aus der Zeit Knuts des Großen. Es maß einst 37 m und ist damit das größte je gefundene Langschiff der Wikinger. Solche „Wogenwölfe“ (altisländisches Kenningar für Schiffe) waren in der Wikingerzeit das, was heute die Flugzeugträger für die NATO sind. Die Roskilde 6 besteht aus den komplett erhaltenen Kielbalken und lädierten Planken und Spanten, die in eine moderne Stahlgitterkonstruktion gebettet sind. Ein begehbarer hölzerner Nachbau wäre bestimmt aufregender gewesen, aber kaum zu transportieren.
Der monumentale Runenstein des Königs Harald Blauzahn, entstanden um 965 und fast 2 ½ m hoch, ist aus gleichem Grund als bunt bemalte Pappmaché-Replik zu bewundern. Der „Taufstein Dänemarks“ trägt die Inschrift: König Harald ließ diese kumbl [Denkmäler] machen nach Gorm, seinem Vater, und Thyra, seiner Mutter, jener Harald, der für sich gewann ganz Dänemark und Norwegen und der die Dänen zu Christen machte. /4/

Die Hauptmasse der Ausstellungsstücke entstammt Bodenfunden. Emsige Archäologen haben durch Grabraub die Museen mit Gürtelschnallen, Gewandfibeln und Schmuck gefüllt. Und weil der Wikinger seinem Nachbarn nicht trauen durfte, wenn er auf große Fahrt ging, graben Schatzsucher heute noch Hortfunde aus. Diese Preziosen machen ein Gutteil der Exponate aus. Der Kunstsinn der Wikinger lässt sich daraus erahnen, wie sie in der Fremde erbeutetes Geschmeide mit Vorliebe zu Hacksilber verarbeiteten, das sich so besser aufteilen und transportieren ließ. Kriegszüge, aber auch der Handel mit Beute und blonden Sklaven trieben die Wikinger bis Konstantinopel und brachten sie mit den Arabern in Verbindung. Daher könnten sie als erste das Schachspiel nach Europa gebracht haben. Dem berühmten Lewis-Schachfigurenfund entstammen drei aus Walrosselfenbein geschnitzte „Schildbeißer“ in der Ausstellung, eine späte Reminiszenz an die Berserker der Sage.

Ein ganzer Raum ist dem Handwerkszeug des Wikingers gewidmet. In raffiniert gestellten Vitrinen, die den Betrachter zum Mäandern nötigen, werden reichlich rostzerfressene Mordinstrumente präsentiert, Axtköpfe, Lanzenspitzen und Ulfbhert-Schwerter. Diese gemarkten Klingen waren übrigens Importe aus dem Frankenreich. Sie galten als die Rolex unter den Schwertern und wurden gern gefälscht.

Für den deutschen Katalog haben Bundespräsident Gauck und Ihre Majestät Königin Margarethe von Dänemark Geleitworte geliefert. Er krönt seine gewundene Würdigung mit „einem großen europäischen Traum“, sie schätzt die Wikinger als Seefahrer, Bootsbauer und Gründer des Königreichs Dänemark. Die Queen hat very british auf jegliches Statement verzichtet. Im Vorwort klopfen sich die Museumsdirektoren ordentlich auf die Schulter und sprechen von kulturellen Wechselwirkungen.
Der Katalog selbst präsentiert sich als eine Kulturgeschichte der Wikinger. Die Ausstellungsstücke werden fünf Themenkomplexen zugeordnet: Kontakte und Austausch, Krieg und Eroberung, Macht und Herrschaft, Glaube und Ritual, Die Schiffe der Wikinger. Die prachtvolle Bebilderung wurde um mittelalterliche Buchillustrationen und Fotomaterial zu Landschaft, Architektur und Grabungen vermehrt. Dagegen kommen die historischen Ereignisse im Begleittext etwas zu kurz.
So wird die Staatengründung der Waräger in Russland sehr stiefmütterlich behandelt, obwohl dortige Museen köstliche Exponate geliefert haben. Seltsam wirkt die Marginalisierung Islands, das anscheinend nichts zur Ausstellung beigesteuert hat. Schließlich verdanken wir den Isländern einen Großteil der schriftlichen Überlieferung der Wikingerzeit. Im Katalog wird immerhin erwähnt, dass DNA-Untersuchungen für die männlichen Isländer skandinavische, für die Frauen dagegen irische Herkunft belegen. /5/ Das Geschehen ist aus den isländischen Sagas längst bekannt.

Auf eine „Ehrenrettung“ der Wikinger als Händler, Kulturbringer und Staatengründer lässt sich gut verzichten. Sie stellt den untauglichen Versuch dar, heutige ethische Maßstäbe auf längst vergangene Zeiten zu übertragen. Die alten Haudegen wären in brüllendes Gelächter ausgebrochen, wenn man ihnen auf ihren Zügen die Verbreitung von Kultur und Verbindung der Völker durch Handel unterstellt hätte. Es trieb sie schlicht und einfach die Gier, ein Motiv, das uns bekannt vorkommt.

Anmerkungen
/1/ Die Geschichten von den Orkaden, Dänemark und der Jomsburg (Sammlung Thule, Bd. 19), Diederichs, Jena 1924, S. 27
/2/ DIE WIKINGER (Ausstellungskatalog der Staatlichen Musen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz), Hirmer, München 2014, S. 80
/3/ ebenda, S. 11
/4/ ebenda, S.158
/5/ ebenda, S. 50

DIE WIKINGER Ausstellung des Museums für Vor- und Frühgeschichte im Martin-Gropius-Bau in Berlin (bis 4. 1. 2015)

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Fotoquelle: Wikipedia – Urheber Steen Weile, Notmark, Denmark

Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 3.0 nicht portiert“ lizenziert.

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Humboldts Anschauung der Welt

Erstellt von Gast-Autor am 26. August 2014

In Deutschland gehören netto zwei Jahrhunderte dazu,
um eine Dummheit abzuschaffen.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/65/Humboldt1805-chimborazo.jpg

Autor: Botho Cude

Rationalgalerie

Datum: 25. August 2014
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Buchtitel: Kosmos
Buchautor: Alexander von Humboldt
Verlag: Die Andere Bibliothek

Die Natur ist eine Gans, man muß erst sie zu etwas machen.
Goethe /1/

„Die Andere Bibliothek“ hat uns in der letzten Zeit mit einigen schätzbaren Großdrucken beglückt. Jetzt ist Alexander von Humboldts ursprünglich fünfbändiger „Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ in einem voluminösen Wälzer von über 900 Seiten im Quart-Format neu aufgelegt worden. Beigefügt ist im Reprint der „Physikalische Atlas“ von Heinrich Berghaus, seinerzeit gedacht als Hilfsmittel beim Studium von Humboldts „Kosmos“.

Alexander von Humboldt (1769 – 1859) war wohl eines der letzen Universalgenies. Und so befasst er sich im „Kosmos“ nicht nur mit den Geowissenschaften und der Astronomie. Auch die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, die Entdeckungsreisen, Landschaftsmalerei und Naturdichtung sind Gegenstand seiner Betrachtungen. Seit Humboldts Zeit sind die Spezialwissenschaften in ungeheurem Maß fortgeschritten und ein Einzelner kann heute aus dem schier unendlichen Material schwerlich ein mehrbändiges Kompendium verfertigen. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass sich schon Humboldt bei seiner Ausarbeitung des „Kosmos“ die umfassende Unterstützung von befreundeten Fachgelehrten sicherte.

Eckermann berichtet unter dem 11. Dezember 1826: Ich fand Goethe in einer sehr heiteren aufgeregten Stimmung. „Alexander von Humboldt ist bei mir gewesen“, sagte er mir sehr belebt entgegen. „Was ist das doch für ein Mann! Ich kenne ihn so lange und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt. Er wird einige Tage hier bleiben, und ich fühle schon, es wird mir sein, als hätte ich Jahre verlebt.“ /2/

Damals beginnt Alexander von Humboldt den Stand der Naturwissenschaft seiner Zeit über die Erde und das Universum zu formulieren. Vor dem Berliner Publikum hält er im Winter 1826/27 Kosmos-Vorlesungen an der Universität und zeitgleich die populären Kosmos-Vorträge an der Singakademie. Sie bilden den Grundstock für sein Werk „Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“. Der „Kosmos“ erschien von 1845 bis 1862 in fünf Bänden und beschäftigte den Autor in den letzten 30 Jahren seines fast 90jährigen Lebens. Anders als die französisch verfassten wissenschaftlichen Hauptwerke über seine Forschungsreise durch Südamerika war der „Kosmos“, wie zuvor schon die „Ansichten der Natur“ (1808), zuerst für den deutschen Leser konzipiert und sollte ein großer buchhändlerischer Erfolg werden. Weit über 80.000 Exemplare wurden von Cotta verkauft. Wenn man Heinrich Berghaus Glauben schenken darf, erhielt Humboldt als Honorar für sein epochales Werk vermutlich insgesamt nur 5.000 Taler. /3/

Sprachlich glanzvoll sind die ersten beiden Bände. Der Eingangsband enthält nach einleitenden Betrachtungen als „Naturgemälde“ eine geraffte Abschilderung des damals bekannten Weltraums und der Erde von gravitätischer Schönheit. Allerdings ähnelt unser heutiges durchgeknalltes Universum dem stationären Weltraum des Biedermeiers weniger als eine computergesteuerte Großbäckerei dem soliden Backofen aus „Hänsel und Gretel“. Auch Humboldts Ausführungen zur Naturgeschichte sind nur noch historisch zu nehmen.
Der zweite Band eröffnet mit der Geschichte des Naturstudiums. Die Dichter und Denker der Völker werden herangezogen, beginnend mit Hesiods „Werken und Tagen“ über Vergils „Georgica“ und Lönnrots Sammlung des „Kalevala“ bis hin zu Bernardin de St. Pierres „Paul und Virginia“. Am Ende stehen Georg Forster und Charles Darwin. Dann widmet sich Humboldt der Landschaftsmalerei, insofern sie die Natur abschildert. Es folgt die Geschichte der Erkenntniß des Weltganzen (S. 240), als deren Ausgangspunkt Humboldt den Mittelmeerraum annimmt. Quellenforschung zur Geographie seit den alten Griechen, Geschichte der Eroberungszüge und Entdeckungsreisen und der Fortschritt von Astronomie und Naturwissenschaft sind fesselnde Lektüre auch für uns moderne LeserInnen.
Der dritte Band des „Kosmos“ referiert den damaligen Erkenntnisstand der Astronomie. Der Sternhimmel und unser Sonnensystem werden abgehandelt. Der dynamische entwicklungsgeschichtliche Ansatz unterscheidet die Darstellung von den seinerzeit gängigen astronomischen Handbüchern. Der literarische Anspruch tritt zurück, die wissenschaftliche Materialsammlung dominiert.
Im vierten Band wendet sich Humboldt den tellurischen Erscheinungen zu. In Erweiterung des Naturgemäldes aus Band Eins betrachte er die Erde als Ganzes (Größe, Gestalt usw.) Dann befasst er sich mit der Reaktion des Erdinnern, d. h. mit dem weltweiten Vulkanismus und resultierenden Veränderungen der Erdkruste. Die magmatischen Gesteine werden behandelt. Auch in diesem Band dominiert der Materialreichtum.

Naturgemäß konnte der greise Autor mit einem solchem Monumentalwerk nicht zu Ende kommen. Der posthume fünfte Band enthält nur noch ein größeres Fragment zur Geologie (Vulkanismus, Gebirgsformationen) und den Apparat.
Der beigelegte „Physikalische Atlas“ von Heinrich Berghaus, zuerst erschienen 1845-48 bei Perthes in Gotha, bietet auch die Teilgebiete, zu deren Ausarbeitung Humboldt aber nicht mehr gekommen ist: „Meteorologie und Klimatographie“, „Hydrologie und Hydrographie“, „Geologie“, „Magnetismus der Erde“, „Pflanzengeographie“, „Geographie der Tiere“, „Anthropographie“ und „Ethnographie“. /4/
Der Apparat des fünften Bandes fehlt in der Neuausgabe, vermutlich um die einbändige Edition nicht unnötig aufzublähen. Interessierte LeserInnen werden auf den fünften Band der Erstausgabe verwiesen, der aber antiquarisch Goldstaub ist.
Die Anmerkungen haben die Herausgeber zweckmäßig dem Text beigeordnet. Humboldt hatte sie seinerzeit ans Ende des jeweiligen Bandes gesetzt.

Der „Kosmos“ wandte sich an den bildungshungrigen Bürger des Biedermeiers. Er war ein herausragendes Produkt der naturwissenschaftlichen Aufklärung des 19. Jahrhunderts, beileibe kein Handbuch für Kolonisatoren. Die unendliche physische Welt bot keinen Platz mehr für Gott. Das machte Humboldts Weltbetrachtung den klerikalen Kreisen suspekt. Auch deshalb galt sein Charakter manchen Zeitgenossen als problematisch.
Die Biographen schildern Humboldt durchweg als einen äußerst höflichen, viel zu großzügigen Menschen und allzu freimütigen Gesprächspartner. Wenn einer ein sehr langes Leben in einem bedeutenden Bekanntenkreis mit einem hervorragenden Gedächtnis und kritischer Weltsicht verbindet und den Mund nicht halten kann, pflegt einiges zusammen zu kommen.
Im Jahr 1855 sprach der alte Herr zu einem Potsdamer Lehrer: „In Deutschland gehören netto zwei Jahrhunderte dazu, um eine Dummheit abzuschaffen, nämlich eins, um sie einzusehen, das andere aber, um sie zu beseitigen.“ /5/

Anmerkungen
/1/ Biedermann, Goethes Gespräche, Leipzig 1909, Bd. 2, S. 437
/2/ Goethes Gespräche mit J.P. Eckermann, Leipzig 1908, Bd. 2, S. 279
/3/ vgl. die Gespräche Alexander von Humboldts, Berlin 1959, S. 409
/4/ Kosmos, Die Andere Bibliothek 2014, Editorische Notiz, S. 934
/5/ Gespräche Alexander von Humboldts, Berlin 1959, S. 365

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Safranskis Goethe

Erstellt von Gast-Autor am 11. März 2014

Kunststück des Lesens

Datei:Goethe (Stieler 1828).jpg

Autor: Botho Cude

Rationalgalerie

Datum: 10. März 2014
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Buchtitel: Goethe Kunstwerk des Lebens
Buchautor: Rüdiger Safranski
Verlag: Hanser

Das Närrischste ist, daß jeder glaubt, überliefern zu müssen was man gewußt zu haben glaubt.
Goethe, Maximen und Reflexionen 583 /1/

Wir heute besitzen geistig den ganzen Goethe aus der Übersicht unendlicher Äußerungen, die er getan. Wir haben ein kaum übersehbares Material an Schriftlichem jeder Art, das über Goethes Verkehr mit Menschen jeder Art Kunde gibt. Dazu eine umfangreiche Literatur, die Goethes innerste Gefühle, die er niemandem aus seiner Umgebung vielleicht anvertraute, nun aus seinen Werken heraus zu empfinden erlaubt.
Herman Grimm, Goethe aus nächster Nähe (1898) /2/

Nie schien es leichter, Goethes Leben zu schreiben. Aber die unmenschliche Menge des Gedruckten, die sich seit Herman Grimms bedeutendem Essay inkommensurabel vervielfacht hat, macht dieses Ansinnen zu einer Materialschlacht. Während Schiller, Kleist und Büchner bereits vorbildlich und EU-konform für die Pisa-Generation aufgearbeitet wurden, harrte der Europäer Goethe noch seiner Generalüberholung. Nun hat es Rüdiger Safranski unternommen, uns den renovierten Goethe zu präsentieren.

Bei der heutigen Unterstützung durch die Sekundärliteratur kann ein Profi keine unbrauchbare Goethebiografie verfassen. Mit steigendem Lebensalter ist zunehmend jeder Tag im Leben des Meisters dokumentiert. Die wahre Kunst besteht in der richtigen Auswahl aus der Masse des Verfügbaren.

Eingangs des 20. Jahrhunderts wurden zwei bahnbrechende Goethebiografien geschrieben. Wilhelm Bode verfasste „Goethes Leben“, das in neun Bänden leider nur bis 1797 reicht, weil der Autor über seinem Werk starb. Der Däne Georg Brandes schrieb im 1. Weltkrieg „Goethe“, ein Buch, das dessen Leben und Dichten erstmals entwicklungsgeschichtlich und psychologisch betrachtet.

Rüdiger Safranski fußt konzeptionell auf Brandes. Er ist fokussiert auf die Werksinterpretation und begnügt sich mit einer bloß summarischen Biografie. Manchmal entsteht der unterschwellige Eindruck, als habe Safranski sein Räsonnement mit den Worten des Dichters garniert. Vor-, Zwischen- und Nachbetrachtung des Autors offenbaren uns eine neuzeitliche Sicht auf das Phänomen Goethe, die man im biografischen Kontext eher vermisst. Dabei gilt durchgehend, was Gero von Wilpert in seinem verdienstvollen Goethe-Lexikon unter dem Stichwort Siegmund Freud schreibt: Dazu vgl. Faust (von 1765) „Du hörest ja, von Freud ist nicht die Rede.“ /3/

Handwerklich ist die Biografie perfekt gearbeitet. Jedes Goethewort ist kursiv gedruckt und im Apparat ausgewiesen. Das gilt auch für alle anderen Zitate, die in Anführungsstriche gesetzt sind. Außerdem findet sich im Anhang eine kurze Chronik von Goethes Leben und ein üppiges Literaturverzeichnis. Nur das Personenregister ist nicht ganz vollständig. Joseph von Hammer-Purgstall fehlt, der Übersetzer von Hafis´ Diwan.

Safranski ist wie viele Goethegläubige der Selbststilisierung des großen Mannes aufgesessen. In seinen autobiografischen Schriften entwickelt Goethe eine Zielgerichtetheit, der sein realer Lebensweg nur entfernt entspricht. Die Flucht vor der Frankfurter häuslichen Enge in das Duodezfürstentum, das kümmerliche Sichbescheidenmüssen infolge der Kleinheit der Verhältnisse, der unentwegte Kampf mit dem unerfreulichen Zeitgeschehen wirken auf den späten Betrachter mitnichten pyramidal. Dreimal ist Goethes bürgerliche Existenz durch Kriege bedroht. Den Siebenjährigen erlebt er als Kind im Elternhaus durch Einquartierung, den ersten Koalitionskrieg 1792 als Kombattant, die Napoleonischen Feldzüge hautnah mit Besatzung inklusive leiblicher Bedrohung durch Marodeure. Als ihm Napoleon Paris als Wohnort schmackhaft zu machen versucht, ist Goethe vielleicht auch deshalb durchaus interessiert.

Alles Anekdotische wurde ausgespart. Ein Beispiel gefällig, liebe LeserInnen? 1808 begegnet er einer Verehrerin, der Berliner Bürgersfrau Dutitre. Ick hatte mir vorgenommen, den großen Goethe doch och mal zu besuchen und wie ick durch Weimar fuhr, ging ick nach seinem Garten und gab dem Gärtner einen harten Taler, daß er mir in eine Laube verstecken und einen Wink geben sollte, wenn Goethe käme. Und wie er nun die Allee runter kam, und der Gärtner mir gewunken hatte, da trat ick raus und sagte: Angebeteter Mann! Da stand er stille, legte die Hände auf den Rücken, sah mir groß an und fragte: Kennen Sie mir? Ick sagte: Großer Mann, wer sollte Ihnen nicht kennen! und fing an zu deklamieren:
Festgemauert in der Erde
Steht die Form aus Gips gebrannt!
Darauf machte er einen Bückling, drehte sich um und ging weiter. /4/
In höherem Alter wird der Dichter zu einer Art Denkmal und Reisende aus aller Herren Länder suchen ihn heim. Der Studiosus Heinrich Heine etwa antwortet auf Goethes Frage: „Womit beschäftigen Sie sich jetzt?“ „Mit einem Faust.“ /5/ Da fällt es schwer, die Contenance zu bewahren. Das „Kunstwerk des Lebens“ (so ist die Biografie untertitelt) besteht über weite Strecken darin, das Widrige zu meiden.

Safranski streift nur Goethes langen Marsch durch die Institutionen, der wie nachmals Joschka Fischer als jugendlicher Steinewerfer beginnt und als korpulenter Staatsminister endet. Auch die Sehnsucht nach jungen Frauen vereint die beiden. Noch warten wir auf Joschkas Theaterstücke.

Goethes Liebesleben kommt zu kurz. Er soll keine unehelichen Nachkommen hinterlassen haben. Sein Herzog dagegen wird das weimarische Genom kräftig aufgefrischt haben. Der war hinter den Weiberröcken her wie der Teufel hinter den armen Seelen.

Es war ein Kaufmann in Stützerbach, der drei mannbare Töchter hatte und von der herzoglichen Rowdybande öfters heimgesucht wurde. Wenn die Ilmenauer mündliche Überlieferung glaubhaft ist (und sie war zumindest in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts noch intakt), haben sich Goethe und sein Herzog in die Töchter des Kaufmanns geteilt. Dann ist da noch die unwirtliche Höhle am Herrmannstein, in der Johann Wolfgang mit Charlotte übernachtet hat. Vielleicht können unsere Thüringer LeserInnen uns einigen Aufschluss geben, den wir bei Safranski vergebens suchen. Klopstocks väterliche Mahnung an den jungen Wilden wird vom Autor abqualifiziert, wie wir es von der moralinsauren Goethebiografik gewohnt sind. Karl Eduard Vehse, ein guter Kenner der Weimarer Hofgeschichte, schreibt diplomatisch: Goethe blickte später nur höchst ungern auf die ersten wilden weimarischen Jahre und mochte kaum die Haupttummelplätze derselben wieder sehen. /6/

Weil es sich für ein Nationalheiligtum wie Goethe so geziemt, schreibt Safranski weitestgehend humorfrei. Nur mit Schiller hat er sich einen kleinen Scherz erlaubt: „Die Kraniche des Abakus“, die vielleicht schönste von Schillers Balladen (S. 419), wobei er uns im Zweifel lässt, ob mit Abakus die quadratische Deckplatte über dem dorischen Kapitell oder das Rechenbrett gemeint ist.

Ein wenig verwundert es, dass Safranski bei der Besprechung der Prosa-Iphigenie des Jahres 1779 auf die metrische Fassung Goethes zurückgreift, die erst Jahre später in Rom entstand. Herder blieb es vorbehalten, in Weimar die Jamben zu korrigieren. Der wird später mit Bezug auf Goethes Trauerspiel „Die natürliche Tochter“ witzeln: Dein natürlicher Sohn ist mir lieber. Die problematische Freundschaft der beiden Klassiker wird nur spärlich beleuchtet. Dafür erfahren wir viel von Fichte, über den sich Goethe im Zweiten Teil des „Faust“ lustig macht, indem er dem Baccalaureus Worthülsen aus dessen Philosophie in den Mund legt.
Mitunter verstolpert sich Safranski im eigenen Bildungsschutt. Was soll uns ein Kapitel „Der taoistische Goethe“ mitteilen? Über einige Chinoiserien sind Goethes Kenntnisse des Reichs der Mitte nie hinausgekommen. Doch was fördert es mich, daß auch sogar der Chinese/ Malet, mit ängstlicher Hand, Werthern und Lotten auf Glas? (Venezianische Epigramme 34b) /7/

Viele Realien vermisst man. Das äußere Leben lässt sich Tag für Tag der Goethe-Chronik entnehmen. Aber zu einer Lebensbeschreibung gehört mehr. Wie sah Goethe aus? Wir erfahren es nicht. Dazu passend finden sich im Buch keinerlei Illustrationen bis auf drei kümmerliche, beschnittene und getönte Abbildungen von Goethes Gesicht auf dem Schutzumschlag.
Wie sah Goethes Diätetik aus? Wie viel Alkohol konsumierte er in den unterschiedlichen Lebensaltern? Was aß er gern? An welchen Krankheiten, Manien und Phobien litt der große Mann? Entlegene Quellen, die früher teils schamhaft übergangen wurden, gehören zitiert. All das habe ich schmerzlich vermisst. Auch erfahren wir fast nichts von Goethes Leben im Gartenhaus. Die frühen Weimarer Sturm-und-Drang-Jahre sind von Safranski ziemlich stiefmütterlich abgehandelt worden.

Schwerer wiegt jedoch, dass die literarischen Vorbilder übergangen werden. Herder hatte einst den jungen Goethe mit Johann Georg Hamann bekannt gemacht. Goethe behauptet, Hamann sei der Autor, von dem er am meisten gelernt, notiert Johann Kaspar Lavater im Juli 1774. /8/ Goethe war zeitlebens von diesem Mystiker und Sprachphilosophen fasziniert und schreibt in Dichtung und Wahrheit: Ich gebe die Hoffnung nicht auf, eine Herausgabe der Hamannschen Werke entweder selbst zu besorgen, oder wenigstens zu befördern. /9/
Der von Goethe hochgeschätzte Lord Byron wird nur in der Schlussbetrachtung namentlich erwähnt.

Goethes Dichtungen wirken durch sich selbst. Wer bei seiner Goethe-Lektüre Erklärungsbedarf verspürt, der ist mit dem Kommentar und Anmerkungsapparat beispielsweise der Münchner Werksausgabe gut beraten.
Rüdiger Safranski hat eine aktuelle Interpretation der Hauptwerke abgeliefert, aber die packende Lebensgeschichte Goethes für unsere Tage steht noch in den Sternen geschrieben.

Anmerkungen
/1/ Goethe, Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe, Bd. 17, S. 826
/2/ Herman Grimm, Das Jahrhundert Goethes, Stuttgart 1948, S. 15
/3/ Gero von Wilpert, Goethe-Lexikon, Stuttgart 1998, S. 342
/4/ Biedermann, Goethes Gespräche, Leipzig 1909, Bd. 5, S. 79
/5/ H. H. Houben, Gespräche mit Heine, Potsdam 1948, S. 99
/6/ Karl Eduard Vehse, Der Hof zu Weimar privat, Köln 2011, S. 79
/7/ Goethe, Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe, Bd. 3.2, S.132
/8/ Biedermann, Goethes Gespräche, Leipzig 1909, Bd. 1, S. 43
/9/ Goethe, Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe, Bd. 16, S. 548

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Willkommen im Neuen Jahr

Erstellt von Gast-Autor am 2. Januar 2014

Liebe FreundInnen der RATIONALGALERIE!

Autor: Botho Cude

Rationalgalerie

Datum: 02. Januar 2014

Nie wurde von Menschenwürde so viel geredet und geschrieben und nie stand die Schnüffelei dermaßen im Flor.
Ernst Jünger (1988)

Kam euch das vergangene Jahr 2013 auch etwas zu ernst vor, liebe LeserInnen? Statistisch haben in den Nachrichten die Busunglücke abgenommen und die Wetterkatastrophen sind häufiger geworden. Andauernd wurde gerettet.
Endlich brachte der smarte junge Mann aus den Staaten ein wenig Stimmung in die Bude. Einen Moment war man versucht zu glauben, dass die Schweden einen Nobelpreis außer der Reihe vergeben würden. Aber seit dem Tod Karls XII. sind sie extrem vorsichtig geworden im Umgang mit den Großmächten.

Irgendwann in den bleiernen Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts beklagte ich mich bei Norbert Randow über die permanente Überwachung durch die Staatssicherheit. Da sagte der verewigte Freund zu mir: „Es ist gut, wenn sie alles über uns wissen. Dann müssen sie uns nicht mehr foltern.“ Das war bestimmt nicht ernst gemeint.
Wie gut man auf uns aufpasst, dürften manche unserer LeserInnen längst geahnt haben. Aber als Edward Snowden auspackte, waren die meisten von dem Lauf der Dinge doch etwas überrascht. Normalerweise (so kennen wir es aus den Hollywoodschinken) steigt beim Showdown der Held (Bruce Willis oder Will Smith) nach einer Rundreise durch die Welt des Bösen, voller Dreck und Blut, am Weißen Haus aus einem verbeulten Taxi, erhält vom Präsidenten einen Orden und sabbert eine schöne Frau ab. Der Superschurke verschwindet in einer Erdspalte, einem Atompilz oder wird von einem Kometen erschlagen. Diesmal kam unser Held nach Hongkong, aber nicht etwa, um dort 007 auf einem U-Boot zu treffen. Er flog weiter nach Moskau ins Reich der Finsternis und informierte die Welt. Bolschoje spassibo, Wladimir Wladimirowitsch!

Woher wusste wohl der damalige Innenminister in Nullkommanichts, dass so ein Teufelskerl kein Asyl erhalten kann? Jedem Meuchelmörder gönnt die deutsche Bürokratie drei Monate Bearbeitungszeit. Empörung schlug bekanntlich in Regierungskreisen erst hoch, als verlautbarte, die Kanzlerin sei abgehört worden. Und zeitgleich erschienen in amerikanischen Gazetten verquaste Berichte über ihre östliche Sozialisierung. Die NSA hatte ihnen das pikante Detail zugespielt. Immer wenn Mutti auf ihrem Partyhandy mit einem Gesinnungsgenossen sprach, drückte sie zum Schluss die Endetaste. Wie wir nunmehr wissen, sind die Dinger darauf ausgelegt, den Raum abzuhören, auch wenn sie vermeintlich ausgeschaltet sind. Und so schnitten die Techniker in der amerikanischen Botschaft unzählige Male den abschließenden Stoßseufzer mit: In der DDR war alles besser.
Genug der ollen Kamellen.

Im Neuen Jahr gibt es viel zu tun, liebe LeserInnen. Packen wir es aus!
In der Ukraine geht der Boxeraufstand in die nächste Runde. Und in Russland starten die putzigen Pussys die punkfarbene Revolution. Deshalb muss Präsident Gauck auch nicht bei den olympischen Spielen in Sotschi antreten. Aber zum Nachweis, dass er nicht gedopt hat, sollte er trotzdem eine Urinprobe abgeben. Griechenland wird weiter gerettet. Die EU spendiert Milliarden für einen unterseeischen Bahnhof in der Ägäis, den Herr Mehdorn irgendwann zum Flughafen umbaut.

Damit wenden wir uns der Heimat zu. Deutschland wird von der schwergewichtigsten Koalition aller Zeiten regiert. Anscheinend hält der Wähler nichts vom schlanken Staat und hat deshalb die FDP aussortiert. Die gefräßigen Raupen haben sich in der Provinz verpuppt. Pünktlich zur nächsten Legislaturperiode wollen sie als liberale Zitronenfalter wieder in den Bundestag flattern. Rösler und Westerwelle, die nicht länger Zitronen falten dürfen, streiten noch, wer von ihnen ins Dschungelcamp darf, um dort lebendige Kröten zu schlucken.

Aus den Satiresendungen wissen wir, dass sich über Mutti keine guten Witze reißen lassen. Priol und Pelzig haben aufgegeben, um nicht weitere vier Jahre über die Raute witzeln zu müssen. Das war der schwerste Kollateralschaden der letzten Wahl. Und über Frank Walter gibt´s auch nichts zu lachen. Er ist seiner Chefin irgendwie ähnlich.

Was bleibt zu tun?
Heißt uns hoffen! Nämlich dass der große Blonde mit dem schwarzen Humor irgendwie die Fahrradmaut durchkriegt, damit die Autofahrer sorglos rechts abbiegen können.
Lasset uns beten! Und zwar für unsere Ursula, dass sie die Tretminen im Kanzleramt vermeidet, die Kollege Altmaiers Bullmastiff dort hinterlässt.
Helft alle blasen! Denn unmöglich kann der Siggibär mit seinem kurzen Hemd genug Wind machen, um die Energiewende hinzukriegen.
Beendet das Fasten! Die Dicke wird das Ministerium für Freizeit und Fitness umkrempeln wie einen alten Hut. Als Mindestlohn darf sie Muttis Hosenanzüge auftragen.
Schüttelt die Hände! Dem Vereinigungsparteitag von CDU und SPD steht nichts mehr im Weg.

Schließlich wollen wir noch einen Blick über den großen Teich riskieren, liebe LeserInnen. Der Chef der Jahn-Behörde ist zweifellos der geeignete Experte, um die NSA zu übernehmen. Dann dürfen wir alle Einsicht in unsere alten Emails beantragen, die wir irgendwann verschusselt haben. Zum Dank wird durch die GröKaZ in der Hauptstadt die Mohrenstraße politisch korrekt in Obamaallee umbenannt. Das klingt ein wenig wie das Gegröhl auf der Fanmeile.

Wir wanken glorreichen Zeiten entgegen.
Haltet durch, liebe LeserInnen!

Die RATIONALGALERIE wünscht euch
ein diskretes und keimfreies Jahr 2014.

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Grafikquelle   : Silvesterfeuerwerk

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Von Atlantis bis Xanadu

Erstellt von Gast-Autor am 7. November 2013

Bronzezeitliches Fresko aus Akrotiri auf Santorin – Schiffsprozession aus einer mit einem
Kanal umgebenen Inselstadt zu einer Stadt auf einer anderen Insel oder dem Festland

Umberto Ecos Handbuch der Hirngespinste

Autor: Botho Cude

Rationalgalerie

Datum: 06. November 2013
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Buchtitel: Die Geschichte der legendären Länder und Städte
Buchautor: Umberto Eco
Verlag: Hanser

Träume sind nur der Abfall von Neuronengewittern im Gehirn.
Moderne Weisheit

Umberto Eco, die ragende Pinie auf einem Parnass voller Latschenkiefern, hat sich hoffentlich damit abgefunden, dass er den Mogelpreis nie kriegen wird. Zwischen den großen Romanen erholt er sich, indem er lehrreiche Bilderbücher für Erwachsene macht, die er mit seinen köstlichen Lesefrüchten garniert. 2009 erschien „Die unendliche Liste“, die für euch, liebe LeserInnen, in der RATIONALGALERIE rezensiert wurde. Jetzt hat Eco einen kunterbunten Prachtband verfertigt, der die geografischen Irrtümer und Spekulationen, die mythischen Orte und traditionellen Lügengeschichten von Orient und Okzident aus den ersten Quellen dokumentiert. Auch die Neuzeit mit ihrem uferlosen esoterischen Unfug und den überbordenden literarischen Fiktionen wurde nicht vergessen. Antike Reliefs, mittelalterliche Miniaturen, Gemälde durch die Zeitalter, alte Buchillustrationen und moderne Filmplakate bebildern das Opus. Naturgemäß sind deutscher Historismus, französisches Fin de Siècle und englischer Viktorianismus reichlich repräsentiert mit prächtigen Ölschinken voll praller Nymphenhinterbacken, wallender Odinsbärte und zingernder Blitze, wunderschön anzusehen, ohne dass darum das Dargestellte irgendwie realer würde.

Der elende Zustand der Heimat hat fabulierfreudige Skribenten zu allen Zeiten dazu verführt, ihre Träume in ferne Länder zu verpflanzen. Alles andere wäre Anstiftung zum Aufruhr gewesen. Umberto Eco entführt uns in seinem Kompendium zu verrückten und fatalen Orten, die schon unsere Vorfahren entdecken wollten, ohne sie jemals finden zu können, egal, ob Eldorado oder Schloss Silling.

Der Aufbau der fünfzehn Kapitel bleibt sich gleich. Am Anfang steht immer eine kenntnisreiche Einführung des Meisters in die Ideengeschichte der kuriosen Artefakte, gespickt mit sprechenden Bildern. Dann folgen ausgewählte Texte der maßgebenden Autoren.
Eco beginnt sein Handbuch mit der Geschichte von der Gestalt der Erde. Im Anfang war sie bekanntlich platt wie ein Spiegelei (Hesiod). Zu Beginn des Mittelalters erhob sich in der Scheibenmitte ein riesiger Berg, hinter dem nachts die Sonne verschwand (Kosmas). In der frühen Neuzeit bekam die Erde Birnenform (Columbus). Erst dann wurde sie zur Kugel, wie von Aristoteles vorhergesagt. Schließlich vermaß man den Erdball im Barock und seitdem ist er abgeplattet wie eine Pampelmuse. Natürlich faszinieren die Antipoden, die mit dem Kopf nach unten an der Erde hängen.

Die geografischen Phantasien waren ursprünglich nur Räuberpistolen, die sich Reisende am Lagerfeuer erzählten. Mit dem Gilgamesch-Epos (unerwähnt) beginnt die fiktionale Reiseliteratur. Zweitausend Jahre später berichtet die Thora vom Land Ophir und dem der Königin von Saba. Seit Homer und Herodot haben die alten Griechen das Sagen. Nicht der attische Bauer überlieferte seinem Sohn die Mär von der Insel Atlantis, sondern Platon schrieb sie nieder in den Dialogen Timaios und Kritias. Angeblich hatten ägyptische Priester dem weisen Solon diesen Bären aufgebunden. Bereits im Altertum galt der platonische Bericht als ein Märchen, erfunden zu pädagogischen Zwecken (die Schlechten werden versenkt). Was nicht verhindert hat, dass sich seitdem ganze Völkerscharen auf die Suche nach Atlantis begeben haben. So wechseln Phantasmagorien in die Realität.

Die Ungeheuer und Wundermänner der fernen Länder des Orients folgen auf dem Fuße. Von Basiliken, Drachen und den Greifen, mit deren Hilfe sich Alexander der Große in die Luft erhebt, bis zu John Mandevilles Bericht über den Priesterkönig Johannes spannt sich der Bogen.
Die Paradiese reichen vom Garten Eden bis Eldorado. Erstaunt liest der Önologe, dass das Paradies des Korans auch einen Bach enthält, der Wein mitführt, den zu trinken ein Genuss ist.
Mehrere Kapitel handeln von Inseln. Da sind zum einen die sagenhaften: Atlantis, Ultima Thule, die Insel des heiligen Brendan, Morus’ Utopia und Swifts fliegendes Laputa; zum andern die heute realen: Taprobane (einst Ceylon, nunmehr Sri Lanka), die Salomon-Inseln und die Terra Australis.
Die Berichte über geheimnisvolle Städte sind zumeist literarische Fiktion, wie Campanellas Sonnenstadt. Baco von Verulam schildert in Neu-Atlantis die Musterstadt Bensalem. Johann Valentin Andreae erfindet Christianopolis. Am Ende steht Italo Calvinos Fedora („Die unsichtbaren Städte“).
Weitere Kapitel füllen wüste Mythen, wie der Alte vom Berge, der Gral, Graf Dracula, Agartha, Shambala und Rennes-le-Château, ohne dass damit der Fundus wahnhafter Ideen irgendwie erschöpft würde, liebe LeserInnen.

Öfters begegnen wir der obskuren Ideenwelt des Nationalsozialismus. Hörbigers Welteislehre und Neuperts Hohlwelttheorie werden ebenso referiert wie Otto Rahns Gralssuche, Thulegesellschaft und Vril-Mythos inklusive. Alfred Rosenberg vermutete gar in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ die Urheimat des nordischen Menschen in Atlantis. Warum als Illustrationen Porträtfotos von Hitler, Himmler und Goebbels sowie Plastiken Thoraks und Brekers herhalten mussten, erschließt sich nicht ganz. Vermutlich wollte Eco auf das Missverhältnis zwischen banalen Kleinbürgerphysiognomien und olympischen Muskelmännern hindeuten. Hier hätte man eher Albert Speers Modell der Welthauptstadt Germania und die abstrusen Entwürfe von Wilhelm Kreis zu Totenburgen in der Ukraine erwartet. Oder auch Berlusconis monströses Mausoleum von Pietro Cascella.

Das Erdinnere und der Polmythos bringen uns auf die Neuzeit und die utopische Literatur. Im Innern ist der Planet übrigens vorzugsweise von riesigen Pilzen überwuchert. Edward Bulwer Lyttons „Das kommende Geschlecht“ und Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (unzitiert) eröffnen den Reigen. Wunderbarerweise erwähnt Eco sogar Wladimir A. Obrutschews „Plutonien“, wenn auch nur en passant. Dieses und „Das Sannikowland“ waren Lieblingsbücher meiner Kindheit. Was fehlt hier? Gewiss ein Stückchen aus Dürrenmatts „Winterkrieg in Tibet“. Das große Finale liefert Jorge Louis Borges, der Altmeister des modernen Mythos, mit seiner Erzählung vom Aleph, durch das man einfach alles auf dieser Welt beobachten kann, ähnlich wie es heute die NSA tut.

Für angehende Politikwissenschaftler, die in der Legislative Karriere machen wollen, ist dieses Buch Pflichtlektüre. Es lehrt sie nach berühmten Mustern, wie man erfolgreich das Volk verkohlt. Denn wer goldene Berge (Eldorado) und blühende Landschaften (Schlaraffenland) verspricht, kann hochelegant Raubzüge legitimieren, in denen es um Öl und Opium geht. Ganz nebenbei bekommt der Doktorand noch das korrekte Zitieren der ausgeschlachteten Literatur beigebracht.
Heute existieren profitable Industrien, die den Konsumenten mit Sciencefictionfilmen, Mangas und Computerspielen zuschütten. Zu Recht verzichtet Eco auf diese modernen Sumpfblüten der Phantastik, denen schon etliche Monografien gewidmet wurden.
„Die Geschichte der legendären Länder und Städte“ ist ein Buch, liebe LeserInnen, das nur in die Hände von klar denkenden Menschen gehört. Aber für die ist es eine Wohltat.

Fotoquelle: Wikipedia – Author pano by smial; modified by Luxo

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Die Fackel der Aufklärung

Erstellt von Gast-Autor am 11. Oktober 2013

Diderots Enzyklopädie

Autor: Botho Cude

Rationalgalerie

Datum: 10. Oktober 2013
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Buchtitel: Diderots Enzyklopädie
Buchautor: Denis Diderot u. a.
Verlag: Die Andere Bibliothek

Gewiß wird dieses Werk mit der Zeit eine Revolution im Denken bewirken, und ich hoffe, daß die Tyrannen, Unterdrücker, Fanatiker und Unduldsamen das Nachsehen haben. Wir werden der Menschheit einen Dienst erweisen; doch wir werden schon lange Staub und Asche sein, bevor man uns dafür Dank weiß.
Diderot an Sophie Volland, 25. Sept. 1762 /1/

Liebe LeserInnen,

am 5. Oktober jährt sich der Geburtstag des französischen Aufklärers Denis Diderot das dreihundertste Mal. Die Andere Bibliothek hat beschlossen, dem Heros der Lexikografie anlässlich des Jubiläums ein Denkmal zu setzen, und was könnte das anderes sein, als ein großes Buch? Es ist ein Prachtband im Quartformat geworden, der ausgewählte Artikel aus Diderots Hauptwerk enthält. Das ist die „Enzyklopädie oder Auf Vernunfterkenntnis gegründetes Lexikon der Wissenschaften, der Kunst und des Handwerks“. Verschönt wird das Buch durch die Wiedergabe von Kupferstichen, die den Tafelbänden der Enzyklopädie entnommen sind. Im Zeitalter des E-Books dürfte es den FreundInnen moderner Buchkunst zunehmend seltener vergönnt sein, solch gewichtige Köstlichkeiten in Händen zu halten.

Denis Diderot wird 1713 geboren als Sohn eines Messerschmieds in Langres. Grosse und befestigte Stadt in Champagne auff einem Berge, am Ursprung der Marne, schreibt dazu Johann Hübners Staats- und Zeitungslexicon von 1704. /2/ Er besucht das dortige Jesuitenkolleg, verlässt es 1728 vorzeitig und verzichtet somit auf die geistliche Laufbahn, geht nach Paris und macht daselbst 1732 den Magister in Jurisprudenz. Diderot heiratet 1743 und ernährt die Familie mit Übersetzungen und literarischer Gelegenheitsarbeit. Dann übernimmt er 1747 mit dem Mathematiker d’Alembert die Herausgabe der Enzyklopädie. Dieses Werk wird ihn in Europa berühmt machen. Und obwohl die ideologischen Institutionen der Zeit, voran die Sozietäten der Jesuiten und Jansenisten, ihn öffentlich angreifen, kann er sich (anders als heute Salman Rushdie) frei in der Gesellschaft bewegen. Keine fanatisierten Meuchelmörder bedrohen sein Leben.

Die Hauptfeinde der Enzyklopädisten sind der Klerus und die konservative Aristokratie und damit das von ihnen konservierte mittelalterliche Weltbild. Die Enzyklopädisten sind blind für die Schönheit der jüdischen Sagen und Mythen der Thora und belächeln die wirre Prophetie des Neuen Testaments. Für sie sind Moses, Jesus und Mohammed nur Betrüger, als die sie schon das Buch De Tribus Impostoribus zu Luthers Zeiten verlästerte.

Die Arbeit an der Enzyklopädie ist von Anbeginn von staatlicher Verfolgung überschattet. Noch vor Erscheinen des ersten Bandes wird Diderot 1749 verhaftet nach Veröffentlichung seines sensualistischen „Briefs über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden“ und für drei Monate in Vincennes eingekerkert. Das erscheint uns heute ziemlich milde, wo das Randalieren in Kirchen und Schmähgesänge auf den Herrscher Russlands mit zwei Jahren Arbeitslager geahndet werden. Diderots Freilassung erfolgt allerdings erst nach Unterzeichnung einer Selbstverpflichtung, künftig alles zu Veröffentlichende der Zensur zu unterwerfen. Von nun an werden seine Werke anonym in der „Literarischen Korrespondenz“ oder erst nach seinem Tod erscheinen. Darunter finden sich köstliche ironisch-philosophische Dialoge wie „Rameaus Neffe“ (von Goethe übersetzt), ein assoziativer Roman ohne lineare Handlung („Jakob der Fatalist und sein Herr“) und der Erstling des bürgerlichen Dramas („Der Hausvater“).

1752 werden die ersten beiden Bände der Enzyklopädie auf Befehl des Königs verboten wegen mehrerer Maximen, die darauf abzielen, die königliche Autorität zu zerstören, den Geist der Unabhängigkeit und der Revolte zu befestigen und die Grundlagen des Irrtums, der Sittenverderbnis und des Unglaubens zu errichten. /3/ Aber das Verbot zeitigt keine Folgen und so können bis 1759 sieben Bände erscheinen. Dann wird als Reaktion auf ein Attentat auf den König im Januar 1757 und die Verdammung der Enzyklopädie durch Papst Clemens XIII. im Jahr 1759 die königliche Druckerlaubnis entzogen. Aber die Mde. de Pompadour, einflussreiche königliche Maitresse, protegiert das Werk und Lamoignon de Malesherbes, Oberaufseher des Buchwesens unter Ludwig XV. und späterer Minister Ludwigs XVI., unterstützt die Enzyklopädisten. Ihm ist es wesentlich zu danken, dass das Riesenwerk zu Ende gebracht wird. Als Diderot die Hausdurchsuchung droht, verbirgt er dessen Manuskripte in seinem Haus. Was waren das für heroische Zeiten! Heute scheint es unmachbar, dass der verpimpelte deutsche Innenminister auch nur unsere harmlosen E-mails vor dem Zugriff der NSA bewahrt.

Nachfolgend wird die Veröffentlichung stillschweigend geduldet, denn die Enzyklopädie ist auch zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. In seinen besten Zeiten hat das Werk über 150 Autoren, die für die Ehre arbeiten, darunter die Großen der französischen Aufklärung, Voltaire, Montesquieu, Rousseau, Turgot, Marmontel. Unter dem Druck der Verfolgung beenden alle nach und nach die Mitarbeit, auch der Mitherausgeber d’Alembert, und am Ende bringen Diderot und der Chevalier Louis de Jaucourt, der „Lastesel der Enzyklopädie“, zu zweit den Textteil zu Ende. Jaucourt setzt dabei sein gesamtes Vermögen zu und schreibt über 17.000 Artikel!

Es ist nicht das erste Nachschlagewerk der Aufklärung. Am Anfang steht Pierre Bayles Historisches und kritisches Wörterbuch, das 1697 in Holland erschien. Das von ihm ersonnene Mittel der Querverweise treiben die Enzyklopädisten raffiniert auf die Spitze.

Z. B. wird am Ende des Artikels Eucharistie auf den Artikel „Menschenfresser“ verwiesen, was auf eine Verspottung der Lehre von der Transsubstantiation hinausläuft. Die Enzyklopädie enthält in weiser Vorsicht keine Personenartikel, mit denen sich spätere Lexika selbst zu entlarven pflegen, dafür aber alles Wissenswerte über das damalige Handwerk.

Diderot erhält für seine über zwanzigjährige Arbeit weniger als 80.000 Livres. Der Profit der Verleger wird sich auf zirka 2.400.000 Livres belaufen. Ein Gesamtexemplar der Enzyklopädie kostet etwa 900 Livre. Zum Vergleich: Ein Lyoner Seidenarbeiter verdient damals zusammen mit seiner Frau 639 Livre im Jahr. /4/ Damit ist die Klientel der Enzyklopädie beschrieben: Es eine exklusive Gruppe unter den Reichen und Mächtigen. Das Werk wird in Raubdrucken in ganz Europa verbreitet werden und macht seinen Verfasser hochberühmt. Goethe schreibt im 11. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ nach einem gewundenen Lobgesang auf die Enzyklopädie: Diderot war nahe genug mit uns verwandt; wie er denn in alle dem, weshalb ihn die Franzosen tadeln, ein wahrer Deutscher ist. /5/

Diderots Geldsorgen nehmen erst 1763 ein Ende, als die russische Kaiserin Katharina eingreift. Die Zarin kaufte die Bibliothek für 15.000 Frances, überließ sie ihm und stellte ihm obendrein eine Pension von 1.000 Frances, damit er seine eigene Bücherei verwalten könne, berichtet Mde. de Vandeul, die Tochter Diderots. /6/ Diese Pension wurde ihm übrigens auf 50 Jahre im Voraus ausbezahlt. (Ein France entspricht 1795 knapp einem Livre.)

Diderot verlässt das Unternehmen „Enzyklopädie“ kurz vor Abschluss, als ihm bewusst wird, dass die Verleger aus eigener Machtvollkommenheit den Inhalt kastriert haben. Der spätere Baron Melchior Grimm, d’Alemberts guter Freund, ist der Herausgeber der handschriftlich verbreiteten „Literarischen Korrespondenz“ aus Paris, die damals viele Fürstenhäuser Europas mit dem Neuesten aus Kultur, Kunst und Klatsch beliefert. Er berichtet unter dem 1. 1. 1771: Die Drucklegung des Werkes ging schon ihrem Ende entgegen, als Herr Diderot einen seiner großen philosophischen Artikel unter dem Buchstaben S nachlesen musste und ihn völlig verstümmelt fand. … Er sah die besten Artikel von seiner wie von seiner Helfer Hand durch und fand fast überall das gleiche Durcheinander… Die Entdeckung versetzte ihn in einen Zustand der Raserei und Verzweiflung, den ich nie vergessen werde. /7/

1773 gönnt sich Diderot endlich die Reise zu seiner Gönnerin Katharina II. von Russland. Katharina hatte seinerzeit nach dem Verbot der Enzyklopädie generös angeboten, den Druck des Werks in Russland fortzusetzen. Diese noble Geste, liebe LeserInnen, gemahnt uns an das Asyl, das der Despot Putin dem von den Wächtern der Demokratie verfolgten Whistleblower Edward Snowden gewährt hat.
Nicolas Chamfort, dem die französische Revolution das Schlagwort „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ verdankt, hat die folgende Anekdote überliefert: Diderot hatte während seines Aufenthalts in Rußland leibeigene Bauern, Muschiks, bemerkt, entsetzlich arm, von Ungeziefer zerfressen. Er entwarf der Kaiserin ein schreckliches Bild ihres Elends. „Denken Sie denn, sie sollten sich um Häuser kümmern, in denen sie doch nur zur Miete wohnen?“, antwortete Katharina. – Dem russischen Bauern gehört wirklich nicht einmal sein Körper. /8/

Als Diderot St. Petersburg verlässt, sind Kaiserin und Philosoph von einander etwas enttäuscht.

Denis Diderot stirbt 1784 in Paris. So entgeht ihm die französische Revolution, der wir auch den Begriff des Terrorismus verdanken. Sein einstiger Beschützer Malesherbes kehrt 1792 aus der Emigration zurück, um König Ludwig XVI. vor dem Konvent zu verteidigen. Vergebens. Der Bürger Louis Capet wird 1793 guillotiniert. Malesherbes’ Kopf rollt im Jahr darauf.

Anmerkungen

/1/ Denis Diderot, Briefe an Sophie Volland, Reclam Leipzig 1986, S. 218 f.
/2/ Johann Hübner, Reales Staats- und Zeitungslexicon, Gleditsch 1704, Sp. 598
/3/ Diderots Enzyklopädie, Die Andere Bibliothek 2013, S. 29 (Vorwort)
/4/ Vgl.: Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, Reclam Leipzig 1972, S. 10
/5/ Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke 16, Münchner Ausgabe 2006, S. 520
/6/ Voltaires Briefwechsel mit Friedrich dem Grossen und Katharina II., Hans von Hugo Verlag 1944, S. 187 (Anm.)
/7/ Melchior Grimm, Paris zündet die Lichter an, Dieterich 1977, S. 325
/8/ Nicolas Chamfort, Aphorismen und Anekdoten, R. Piper o. J., S. 125

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