Zwölf Jahre Merkel
Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 20. Juli 2017
Europa am Abgrund
Pandas aus China sind einer Mutti wichtiger als „Ihr“ Volk
von Hauke Brunkhorst
Die Kanzlerin geht gegen die neoimperiale „America first“-Strategie Donald Trumps in die Offensive. Völlig zu Recht fordert sie die Emanzipation Europas von den Vereinigten Staaten: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. […] Wir Europäer müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen.“ Doch Angela Merkel übersieht dabei eines allzu gerne: Die Europäische Union liegt heute schon fast in Trümmern – und zwar nicht zuletzt infolge der deutschen Politik der letzten Dekade, die von ihr selbst betrieben wurde.
Angela Merkels erklärter Plan besteht seit Jahren darin, den aus den Zeiten früherer Souveränität verbliebenen Rest „parlamentarischer Mitbestimmung so (zu) gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.“ Die marktkonforme Demokratie als Zielsetzung: Das war auch ans eigene Parlament adressiert, dem so die Entmachtung angekündigt wurde. Dabei ist die Beschränkung des Parlaments, das Art. 20 Abs. 2 und 3 GG zur umfassenden, demokratischen Selbstbestimmung verpflichtet, auf bloße Mitbestimmung – in einer Marktwirtschaft, deren Produktionsverhältnisse (gegen den ausdrücklichen Wortlaut von Art. 15 GG) überdies seinem Zugriff entzogen sind – schlicht verfassungswidrig. Unter der Prämisse der Marktkonformität bleibt für die „Würde der Demokratie“ (Jürgen Habermas) nur noch die Straße: Occupy Wall Street als neue Außerparlamentarische Opposition.
Dieses rein ökonomistische Agieren beginnt schon in Merkels erster Amtszeit, nämlich mit der Weltwirtschaftskrise, die im September 2008 offen ausbrach. Seither ist es in Europa zu einer Kumulation multipler Krisen gekommen, die keine nationalen, keine globalen, sondern europäische Krisen sind, die aber in der Politik Angela Merkels – im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Helmut Kohl – vor allem national-egoistische Antworten gefunden haben.
Die Weltwirtschaftskrise wurde noch mit dem größten, global koordinierten Konjunkturprogramm der Geschichte beantwortet und so zwar nicht überwunden, aber immerhin eingehegt und auf diese Weise in eine nach wie vor bedrohliche Latenz zurückversetzt. Doch kaum war die größte Gefahr gebannt und waren die Banken mit Steuergeldern gerettet, wurden die Staaten erneut zu Bittstellern der Geldhäuser und Investoren, von denen sie sich das fehlende Geld jetzt leihen mussten. Die Zinserträge, die ihnen Krise und Zusammenbruch versüßten, steckten Banken, Automobilkonzerne und Investoren gleich wieder in hoch spekulative Finanzprodukte, während Kindergärten und Schulen leer ausgingen und die säkulare Stagnation den sozialen Abstieg breiter Bevölkerungsschichten besiegelte.
Von der Weltwirtschaftskrise zur Spaltung Europas
In der Eurozone wurde die Weltwirtschaftskrise spätestens mit der griechischen Tragödie – und unter der Führerschaft Angela Merkels und Wolfgang Schäubles – zur sozialen Krise Europas. Da die Mittel für Abwrackprämien, verlängertes Kurzarbeitergeld und Bankenrettungen von den Nationalstaaten allein aufgebracht werden mussten, verteilten sich die Folgelasten im einheitlichen Währungsraum des Kontinents höchst ungleich. Während die Arbeitslosenzahlen im reichen Deutschland niedrig blieben und wenige Jahre nach Ausbruch der Krise – bei steigenden Gewinnen, stagnierenden Löhnen und breitem Niedriglohnsektor – in die Nähe der Vollbeschäftigung zurückgekehrt sind, ist vor allem die Jugendarbeitslosigkeit im armen europäischen Süden in die Höhe geschnellt und seither nicht mehr zurückgegangen. Faktisch bedroht sie seit Jahren eine ganze Generation mit dem sozialen Tod. Das gilt für den gesamten Nordwesten in seiner Beziehung zum Süden der Eurozone. Gleiche Regeln auf einem schief gelegten Spielfeld, auf dem die einen von oben nach unten und die andern von unten nach oben spielen, erzeugen – dem Ordoliberalismus zum Trotz, der in der deutschen Politik zur Allparteienerwartung geworden ist – keine gleichen Wettbewerbsbedingungen.
Die ungerechte Verteilung der Lasten ist ins transnationale und mittlerweile auch ins nationale europäische Verfassungsrecht fest einbetoniert worden Während horizontale Ungleichheiten zwischen Geschlechtern, sexuellen Orientierungen, Religionsgemeinschaften und Ethnien weiter verringert wurden, was ein großer, durch das europäische Antidiskriminierungsrecht verstärkter Fortschritt ist, wuchsen die vertikalen Ungleichheiten ins Unermessliche, was ein mindestens so großer, durch das europäische Wettbewerbsrecht verstärkter und durch die ungleichen Lebensbedingungen der Eurozone beschleunigter Rückschritt ist.
Entrechtung qua Urteil und Gesetz
An alledem hat die Politik der stärksten Macht in Europa entscheidenden Anteil. Der massive Rückschritt sozialer Gleichheitsrechte machte aus Bürgern „Kunden mit Rechten“ (Oliver Nachtwey) und faktisch auch die Fortschritte horizontaler Emanzipation wieder zunichte, indem er die Emanzipation aller Frauen, aller Homosexuellen und aller Ethnien in marktkonformes Empowerment für die jeweils Besserweggekommenen zurückverwandelt. Aus der solidarischen Gesellschaft als Projekt werden solitäre Projekte in der Gesellschaft. Die Konsequenz: Die schwarze, jüdische, vorbestrafte, wohnungslose Homosexuelle in der Peripherie von Paris, Brüssel oder Mailand hat nichts von ihren Rechten, denn sie kann sich dem misogynen, rassistischen, antisemitischen und homophoben Milieu gar nicht entziehen, das die schlecht bezahlte, aber schwer bewaffnete lokale Polizei des Ghettos ebenso prägt wie die meisten seiner depravierten Bewohner. Ihre neu gewonnene Freiheit hat keinen „fairen Wert“ (John Rawls).
Hoch signifikant für diese faktische Entrechtung der lohnabhängigen sozialen Klassen sind die Urteile des Europäischen Gerichtshofs seit der Jahrtausendwende. In Sachen horizontaler Emanzipation sind sie fast durchgängig progressiv, in Sachen vertikaler Emanzipation fast durchgängig regressiv. Während französische Obdachlose in Belgien Anspruch auf Sozialhilfe haben, sind lettische Arbeiter, die für lettische Unternehmen auf schwedischen Baustellen tätig sind, von schwedischen Lohnabschlüssen und schwedischen Arbeitsbedingungen ausgeschlossen und drücken auf den schwedischen Arbeitsmarkt. Das ist nur eines von einer ganzen Serie von races to the bottom, in dem es nur darum geht, wer als Erster die soziale Differenz in die Höhe, die demokratische Selbstbestimmung auf den Nullpunkt und die Menschenrechte mit den Geflüchteten aus dem Land jagt.
Unter Führung Angela Merkels, und in Nachfolge von Gerhard Schröders Agenda 2010, ist der Kampf zwischen armen und reichen, entwickelten und unterentwickelten Nationalstaaten um Wettbewerbsvorteile an die Stelle der sozialstaatlich institutionalisierten Klassen- und Verteilungskämpfe getreten. Claus Offe nennt den konstitutionalisierten Kampf um Wettbewerbsfähigkeit treffend das „hidden curriculum“, die versteckte Verfassung, Europas. Da jeder Rückfluss der Gewinne des exportstarken Nordwestens in den importabhängigen Süden durchs Unionsverfassungsrecht und die Interessen der großen Banken blockiert wird, ist die demokratische Solidarität Europas verbraucht, noch bevor sie sich über den Kontinent ausbreiten kann.
Anfang der 1990er Jahre war diese ausschließlich „marktkonforme“ Entwicklung in Europa keineswegs ausgemachte Sache: Damals gab es noch zwei halbwegs solidarische Optionen: nämlich erstens die Gemeinschaftswährung erst einzuführen, nachdem annähernd gleiche Lebensbedingungen vorausgesetzt werden konnten (das war die Option des Ordoliberalismus); oder zweitens den Euro nur zusammen mit einer Europäischen Wirtschaftsregierung einzuführen, die demokratisch legitimiert und mächtig genug wäre, solche Bedingungen herzustellen (das war die Option von Jacques Delors sozialem Europa). Stattdessen lief der zwischen Deutschland und Frankreich ausgehandelte Kompromiss auf die schlechteste aller Möglichkeiten hinaus. So bekamen wir, was niemand wollte, unter extrem ungleichen Lebensbedingungen eine Gemeinschaftswährung ohne demokratische Legislative und ohne gewählte Regierung. Dadurch verwandelte sich die Eurozone noch am Tag ihrer Gründung in „ein missgebildetes System aus neunzehn Staaten ohne eigene Zentralbank und einer Zentralbank ohne Staat.“
Der Euro war trotzdem erfolgreich, aber der Erfolg hatte einen hohen Preis. Er hat die Integration der Eurozone praktisch irreversibel gemacht. Wer raus will, muss mit einer doppelten, nämlich ökonomischen und politisch-moralischen Katastrophe rechnen, und davor ist die griechische Regierung, als Wolfgang Schäuble ihr 2015 die Pistole auf die Brust setzte, mit gutem Grund zurückgewichen. Dabei war „schon lange vor Einführung des Euro in den hoch integrierten Rechts- und Wirtschaftssystemen der späteren Eurozone klar, dass die grenzüberschreitende ökonomische Verflechtung […] so weit fortgeschritten (war), dass die Eskalation nationaler Protektionismen nicht nur das Ende der Union bedeuten, sondern auch die europäische Wirtschaft geradewegs in die Katastrophe stürzen müsste.“
Angela Merkel beantwortete die Krise der EU mit ihrer heute schon legendären, erpresserischen, aber zutreffenden Aussage: „Stirbt der Euro, stirbt Europa.“ Dieser fiskalpolitischen Erkenntnis folgte jedoch keine Politik der solidarischen Lastenteilung, um die Krise nachhaltig zu bekämpfen. Stattdessen wurden insbesondere die Griechen mit Schulden, die ihnen die Banken in dieser schwindelerregenden Höhe nur deshalb aufgedrängt hatten, weil sie wussten, dass Deutschland, Frankreich und die USA sie im Krisenfall raushauen würden, allein gelassen. Deutschland hingegen hat, wie eine Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung nachweist, an der Kapitalflucht aus Griechenland 100 Mrd. Euro verdient, was die Höhe deutscher Bürgschaften für Griechenland fast abdeckt.
Inzwischen hat die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank die Schwachen und die Starken auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet, und das ist unter den gegenwärtigen Bedingungen immer noch ein großer Fortschritt – auch für die Schwachen, deren Schwäche dadurch aber faktisch verewigt wird. Hier zeigt sich: Das soziale Band des Euro-Regimes, das Europa heute zusammenhält, ist keines, das aus sozialen Kämpfen und Interaktionen, sondern aus Technologien und Systemimperativen geflochten ist. Das Regime des Euro ist der seltene Fall einer fast reinen Form der Systemintegration ohne Sozialintegration. Das Euro-Regime ist eine hochspezialisierte, geldpolitisch vereinseitigte, technische Regierung aus Bankern und Richtern, deren Gesetzgebung noch im Augenblick der Entscheidung – durch das Wort des Präsidenten „whatever it takes“, die Mehrheit des Direktoriums oder des Gouverneursrats – mit zumeist irreversiblen und weitreichenden Folgen exekutiert wird. Die zuständigen Gerichte können die Entscheidung dann sehr viel später kaum noch revidieren, nur noch bestätigen und allenfalls die zukünftigen Kompetenzen der Bank minimal modifizieren.
Damit ist das Regime des Euro zusammen mit dem immer schon hegemonialen Wettbewerbsrecht und der Priorität des Privateigentums zur fast unabänderlichen, nur durch einstimmigen Beschluss aller Gliedstaaten wandelbaren, substantiellen Verfassung Europas geworden. Es hat Demokratie und Menschenrechte an den veränderlichen und anpassungsfähigen Rand abgedrängt – ohne dass dies, trotz der Affinität dieses Regimes zu den Interessen der herrschenden Klassen Europas, die sozialen Akteure wirklich gewollt hätten.
Quelle : Blätter >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle : Grafikquelle : Twitter — Steffen Seibert https://twitter.com/regsprecher