Zeit muss weh tun
Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 28. Oktober 2018
Was den Franzosen die Liebe,
ist den Deutschen die Zeit
Von Uli Hannemann
Nun werden die Uhren wieder umgestellt. Vielleicht zum letzten Mal? Sicher ist zumindest: Über nichts wird so erbittert gestritten wie über Zeit.
Das letzte Stündchen der halbjährlichen Zeitumstellung hat nun wohl auch in der Europäischen Union geschlagen. In einer Online-Befragung der EU-Bürger stimmten über 80 Prozent gegen die Umstellung und von diesen wiederum die meisten für eine dauerhafte Beibehaltung der Sommerzeit.
„Sommerzeit“, das klingt in ihren Ohren einfach gut. „Geilomat“, denkt es in ihnen schwer auf Sparflamme, „für immer Sommerzeit, alter Schalter – ich schmeiß erst mal die ganzen dicken Klamotten weg.“ Ein fataler Fehlschluss. Denn die Sommerzeit kann zwar tatsächlich etwas Schönes sein, aber eben nur zur entsprechenden Jahreszeit.
Die Sommerzeit im Winter ist hingegen ein Muster ohne Wert. Sie heißt dann einfach nur so (Ähnliches kennen wir vom „Walfisch“ und vom „Falschen Hasen“), es schneit aber trotzdem – das haben vor allem die hoffnungsfrohen Finnen nicht bedacht, die die Umfrage initiierten.
Im Zuge des Klimawandels bekommen die Idioten dennoch Oberwasser. Auf einmal erscheinen ihre kindlich anmutenden Wünsche wider Erwarten doch erfüllbar: das ganze Jahr lang Ferien; Bushäuschen aus Lebkuchen; Oma, Bello und Miezi sollen niemals sterben; für immer Sommerzeit. Freibad im November, Kirschen im Februar. 2018 lief die Chose ja immerhin schon nonstop von Anfang April bis Mitte Oktober. Die fehlenden fünf Monate kriegen wir auch noch warm und trocken.
Der Preis, den zukünftige Generationen dafür bezahlen, ist den Sommerfreaks egal. Nach ihnen die Sintflut. Das ist allerdings sehr kurzsichtig gedacht, denn wenn es in unseren Breiten nur noch Sommer gibt, wird es früher oder später auch mit Miezi, Bello, Oma und den Idioten selbst den Bach runtergehen. Kann das den Leuten bitte einer mal erklären?
Ein Flickenteppich der Zeitzonen
Die Abschaffung an sich soll dann EU-weit gelten. Es bleibt jedoch den einzelnen Staaten überlassen, ob sie sich für permanente Sommer- oder Winterzeit entscheiden. Bei dem zunehmenden Zerfall Europas in Klein- und Kleinststaaten (nächste Kandidaten: Sachsen, Schottland, Fifa) werden wir bald alle hundert Kilometer die Uhr umstellen dürfen. Das ergibt einen Flickenteppich der Zeitzonen, ähnlich den Zoll- und Grenzschranken im Deutschland des Mittelalters.
Apropos Deutschland. Das Verhältnis der Deutschen zu Uhr- und Jahreszeit scheint im Vergleich zum Rest der Welt ein ganz besonderes, ja nachgerade fanatisches zu sein. So kamen 70 Prozent der europäischen Umfrageteilnehmer aus Deutschland – und das bei 28 teilnehmenden Ländern. In Deutschland nahmen damit fast 4 Prozent der Bevölkerung teil – in Großbritannien waren es 0,02 Prozent.
Wie herrlich man in Deutschland über die Zeit streiten kann. Eine derartiges Engagement für die tote Essenz der Langeweile sucht man im Rest der Welt vergeblich. Während sich andernorts Mode und Esskultur entwickelten, stellte man überall in Deutschland öffentliche Uhren auf, weithin sichtbare Säulengötzen zur Anbetung der Pünktlichkeit und zur Eile mahnend. Immer neuere, lautere, dissonantere Wecker wurden entwickelt, Teufel mit Uhrwerk und Geißeln der Menschheit.
Bei der Zeit hört der Spaß auf
Zeit muss wehtun – da versteht der Deutsche keinen Spaß. Auch in Kunst und Kultur, Politik und Geschichte kommt man um die Zeit nicht herum. Volkslieder sind voller Anspielungen auf die Jahreszeit; zahllose Redewendungen von „Morgenstund hat Gold im Mund“ über „Früher Vogel fängt den Wurm“ bis hin zu „Die Zeit heilt alle Wunden“ heben die zentrale Bedeutung der Zeit hervor. Bei der Bestimmung historischer Zeiträume geht es mit den Deutschen sogar derart durch, dass an dieser Stelle die gewohnte Logik zu leiden beginnt.
So werden die zwölf Jahre von 1933 bis 1945 von den einen „tausendjähriges Reich“ genannt, während dieselbe Epoche von anderen als „Fliegenschiss“ bezeichnet wird. Gegen solche Messtoleranzen wirkt selbst ein System aus Gallonen, Zoll und Steinen wie ein Ausbund an metrischer Strenge.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Zeit Raum Anstrengung
Quelle | Manuel Roier (http://kinaesthetics.co.at/Konzepte/Zeit%20Raum%20Anstrengung.jpg) |
Urheber | MH-Kinaesthetics (Maietta-Hatch-Kinaesthetics; http://kinaesthetics.com) |
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2.) non Oben — Überflutete Bushaltestelle in Worms nach tagelangem Dauerregen während des Hochwassers in Mitteleuropa 2013
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Unten — Berlin zur Zeit der Sommerolympiade
Berlin bei Nacht.- Ecke Cafe Kranzler in der Straße Unter den Linden. Am Cafe ist eine Olympiafahne angebracht. | |
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Attribution: Bundesarchiv, Bild 146-1988-100-15 / CC-BY-SA 3.0