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Zeit für soziale Unruhen ?

Erstellt von Redaktion am Freitag 13. Mai 2022

DER ZYNISCHE SIEG DES MACRONISMUS

Die Mitglieder erörterten mit Emmanuel Macron - 51830991330 - über die Prioritäten des französischen Ratsvorsitzes.jpg

Von Serge Halimi

Um die rechtsextreme Marine Le Pen zu verhindern, sahen sich auch viele Linke genötigt, für Amtsinhaber Macron zu stimmen. Die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni bieten eine neue Chance. Ein linkes Bündnis mit Jean-Luc Mélenchon an der Spitze strebt die Mehrheit in der Nationalversammlung an.

Mit der Wiederwahl von Emmanuel Macron endet ein Duell, das die überwältigende Mehrheit der französischen Wählerschaft gern vermieden hätte. Damit beginnt eine weitere fünfjährige Präsidentschaft, die keinerlei Aufbruchstimmung oder Hoffnung weckt.

Macron wurde ohne Alternative im Amt bestätigt, obwohl 69 Prozent der Fran­zö­s:in­nen der Meinung sind, dass die Lage im Land sich in den vergangenen fünf Jahren verschlechtert hat, 51 Prozent Macrons Programm für gefährlich halten und 72 Prozent glauben, dass er vor allem die Interessen der Privilegierten bedient.1

Die Zahlen zeigen: Die Ablehnung der extremen Rechten war der einzige Grund, warum Millionen Links­wäh­le­r:in­nen zähneknirschend für den Präsidenten stimmten, obwohl ihnen eher danach ist, gegen ihn auf die Straße zu gehen. Gelegenheit zum Protest wird es reichlich geben: sinkende Kaufkraft, höheres Renteneintrittsalter, klimapolitische Untätigkeit, harte Maßnahmen gegen Arbeitslose.

Vor fünf Jahren präsentierte das britische Wochenmagazin The Economist in seiner Begeisterung über die Wahl Macrons ein Cover, auf dem der neue Präsident übers Wasser schreitet, mit triumphierendem Grinsen im Gesicht. Damals empfand die globale Bourgeoisie, die der Brexit und der Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus in Panik versetzt hatten, Macrons Sprung auf die internationale Bühne als Gegenschlag: als Zurückweichen des rechtsgerichteten „Populismus“ in Europa vor dem „progressiven“ Liberalismus und der Globalisierung.

Von dieser Illusion ist heute nicht mehr viel übrig. Die öffentliche Debatte dreht sich – jenseits der Gesundheitskrise, der Probleme bei der Energieversorgung und des Ukrainekriegs – zunehmend um Themen wie Souveränität, Kaufkraftverlust, Abwanderung der Industrie und die „ökologische Planung“. Dank dieser Themen konnte die systemkritische Linke – die „gauche de rup­ture“ – im ersten Wahlgang vom 10. April deutlich zulegen.

Frankreichs extreme Mitte

Aber auch die rechtsextremen Nationalisten, die Macron mit seiner Politik angeblich stoppen wollte, erzielten starke Zugewinne. Im ersten Wahlgang holten die drei rechtsextremen Kan­di­da­t:in­nen ­zusammen 32,3 Prozent der abgegebenen Stimmen2 und damit mehr als Macron (27,8 Prozent). Bei der Stichwahl zwei Wochen später bekam Ma­rine Le Pen 2,6 Millionen Stimmen mehr, der Titelverteidiger dagegen 2 Millionen Stimmen weniger als vor fünf Jahren.

Dass François Hollandes ehemaliger Wirtschaftsminister die Wiederwahl dennoch geschafft hat, verdankt er dem Wählerpotenzial der Sozialisten – obwohl seine Politik alles andere als sozialistisch war. Komplettiert wurde sein Erfolg durch die Stimmen der gemäßigten Rechten, deren Erwartungen er mit seinen finanz- und sozialpolitischen Entscheidungen präzise bediente. Vor so viel Virtuosität könnte man beinahe den Hut ziehen.

Seit in der Fünften Republik der Präsident direkt vom Volk gewählt wird, kam es in den meisten Stichwahlen zum Duell zwischen einem rechten und einem linken Bewerber. Dieses Szenario wurde am 10. April zunichte gemacht, als die beiden alten Protagonisten in die Bedeutungslosigkeit abstürzten: Les Républicaines (LR) und die Parti So­cia­liste (PS) kamen zusammen auf nur 6,5 Prozent der Stimmen. 2012 waren es noch 55,81 Prozent gewesen.

So wurde Macron sowohl von der Rechten als auch von der bürgerlichen Linken gekürt, die sich seit François Mitterrands wirtschaftspolitischer Kehrtwende von 1983, dem Maastricht-Vertrag von 1992 und dem europäischen Verfassungsvertrag von 2005 mit einer neoliberalen Politik angefreundet (und begnügt) hatten. Statt das Offensichtliche zuzugeben, präsentiert sich der alte und neue Präsident als Demiurg einer bunt zusammengewürfelten „Ideologie“, die einem einzigen Zweck dient: Sie erlaubt ihm, nach Belieben zu agieren. „Das Projekt der extremen Mitte“, dozierte er kurz vor seiner Wiederwahl vor handverlesenen Journalisten, sei der „Zusammenschluss mehrerer politischer Familien, von der Sozialdemokratie über die Grünen und die Mitte bis zu einer Rechten, die teils bonapartistisch, teils orléanistisch und teils proeuropäisch ist.“3

Gruppen eines derart weiten politischen Spektrums auf diese Weise zusammenzuspannen, ist weder theo­retisch noch historisch haltbar. Aus soziologischer Sicht jedoch bilden diese Kräfte den heutigen „bürgerlichen Block“, die „Partei der Ordnung“, das „Frankreich von oben“. Also die Koa­lition all jener Leute, die durch die Gelbwestenbewegung in Panik gerieten und entsprechend erleichtert waren, als diese mit harter Hand unterdrückt wurde.

Dieses Publikum feierte Emmanuel Macron bei seiner Pariser Großkundgebung am 2. April mit Ovationen, als er lautstark erklärte: „Allen Krisen zum Trotz haben wir unsere Versprechen gehalten. Um das Übel der Massenarbeitslosigkeit zu beenden, mussten wir beim Steuersystem, beim Arbeitsrecht und in der Arbeitslosenversicherung alte Tabus angreifen.“ Als weitere „Tabus“ vergaß er, das Wohngeld und die Vermögensteuer zu erwähnen.

Angesichts dessen überrascht nicht, dass der Präsident in gutbürgerlichen und konservativen Wahlbezirken wie Neuilly, dem Pariser 16. Arrondissement oder Versailles seine Stimmenzahl von 2017 verdoppeln und die LR-Kandidatin Valérie Pécresse vernichtend besiegen konnte.4 Hier drängt sich eine historische Parallele zum Schicksal der französischen Monarchisten auf: Die hatten nach der Niederschlagung der Arbeiterbewegung im Juni 1830 und der Pariser Kommune 1871 politisch ausgedient, nachdem die Republikaner der Bourgeoisie demonstriert hatten, dass sie mit dem Plebs genauso gnadenlos verfahren konnten.

Kurzum: Mit Macron an der Macht ist die bürgerliche Rechte ebenso überflüssig geworden wie eine sozialistische Partei, die sich schon längst zum So­zial­liberalismus und zur kapitalistischen Globalisierung bekennt. Dass jetzt beide zusammen hinweggefegt wurden, kommt einer politischen Flurbereinigung gleich.

Das „Projekt der extremen Mitte“ spricht insbesondere konservative Wählerschichten an, wobei wohlhabende Rent­ne­r:in­nen und leitende Angestellte umso stärker vertreten sind, je mehr Geld sie in der Tasche und je mehr Jahre sie auf dem Buckel haben.5 Das Gewicht dieser Gruppe wird durch ihre außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung verstärkt, die bei den 60- bis 69-Jährigen 88 Prozent betrug.

Umgekehrt geht die Wahlbeteiligung bei der jungen Generation und bei den unteren Schichten, die deutlich größere Sympathien für Jean-Luc Mé­len­chon oder Marine Le Pen hegen, immer weiter zurück: Am ersten Wahlgang beteiligten sich nur noch 54 Prozent der 25- bis 34-Jährigen; 2017 waren es noch 72 Prozent. Deshalb bemüht sich der Anführer der radikalen Linken, der bei Studierenden in den Metropolen und jungen Proletariern in den Vorstädten sehr populär ist, diese Gruppen für den „dritten Wahlgang“ zu mobilisieren, also für die Wahlen zur Nationalversammlung am 12. und 19. Juni. Das ist ein ehrgeiziges Vorhaben, denn zur Parlamentswahl geht normalerweise nur die Hälfte der Wahlberechtigten – und vor allem die Wohlhabenden und Älteren.

Mélenchon hat allerdings schon etliche Herausforderungen gemeistert. Zum einen holte die radikale, systemkritische Linke am 10. April 21,95 Prozent der abgegebenen Stimmen, während sie im übrigen Europa durch die linke Mitte an den Rand gedrängt wurde (Deutschland, Spanien, Portugal), sich dem Liberalismus gebeugt hat (Griechenland), gar nicht erst existiert (baltische Staaten, Osteuropa) oder vernichtend geschlagen wurde (Italien). Zum anderen brachte Mélenchon den Grünen (4,63 Prozent) und vor allem den auf der Linken lange dominanten Sozialisten (1,74 Prozent) eine demütigende Niederlage bei.

Marginalisierung der etablierten Parteien

Angesichts dessen wurde Jean-Luc Mélenchon von Pablo Iglesias, der seit der Wahlniederlage seiner Podemos-Bewegung als politischer Kommentator auftritt, zur „Referenzgröße der euro­päischen Linken“ ernannt. Diese Rolle ist dem französischen Parteiführer kaum streitig zu machen. Er selbst erklärt seinen Erfolg so: „Wir sind nie von unseren Grundprinzipien abgewichen. Wir haben uns nicht damit begnügt, gegen die Welt zu sein, in der wir leben. Wir haben eine andere Welt entworfen.“6

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Ein gutes Ergebnis im ersten Wahlgang ist jedoch keine Garantie für einen Sieg. Mélenchon erklärte, dass es ihm nicht mehr ums Zuschauen, sondern ums Regieren gehe. Allerdings ist das politische Kräfteverhältnis für die französische Linke nach wie vor extrem ungünstig. Schließlich belegte Mélenchon nur Platz 3 hinter einem rechten Kandidaten und einer rechtsextremen Kandidatin (Emmanuel Macron und Marine Le Pen), gefolgt von einem weiteren Rechtsextremen und einer weiteren rechten Bewerberin (Éric Zemmour und Valérie Pécresse).

Und doch siegt manchmal die Dynamik über die Arithmetik. Mélenchons gutes Ergebnis in der ersten Runde machte seine Wäh­le­rin­nen und Wähler zum Zünglein an der Waage im zweiten Wahlgang. Deshalb lief seine Kampagne in der Endphase erfolgreicher als am Anfang. „Keines der Themen, die den rechten Wählern am Herzen liegen, stand im Wahlkampf für die zweite Runde im Fokus“, bedauerte das ultrakonservative Le Figaro Magazin.7 Tatsächlich wurden Themen wie Sicherheit, Identität und Islam durch eine Debatte über Kaufkraft, öffentliche Daseinsvorsorge und Renten in den Hintergrund gedrängt. Womit Macron in die Defensive geriet, weil seine Vorhaben in diesen Bereichen unpopulär sind.

Da die Linke ihre eigene Politik umsetzen will – statt Schönheitskorrekturen an der Politik ihrer Gegner vorzunehmen –, führt ihr das Resultat des ersten Wahlgang aber auch vor Augen, wie viel noch zu tun bleibt.

Quelle   :     LE Monde diplomatique-online            >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —  Der französische Präsident Macron hat den Abgeordneten am Mittwoch die wichtigsten Ziele und die politische Strategie für das französische Semester zur Steuerung der EU dargelegt. In einer Debatte im Straßburger Plenarsaal erklärte Präsident Macron, dass die Versprechen, auf denen die EU gegründet wurde – Demokratie, Fortschritt und Frieden – jetzt bedroht sind, und forderte eine Verpflichtung, „ihnen neues Leben einzuhauchen“.

Ein Kommentar zu “Zeit für soziale Unruhen ?”

  1. bremerderZweite sagt:

    Ein wirklich sehr lehrreicher Bericht über die politische Situation im zweitgrößten EU-Land Frankreich.

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