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Erstellt von Redaktion am Sonntag 29. Juli 2018

Rassismus in Sachsen

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Von Gesa Steeger

In Nordsachsen werden Flüchtlinge attackiert, Linke verleumdet und Rechte steuern den Diskurs. Kommt Ihnen das bekannt vor?

Dietel ist nicht da. Kretzschmar erhält keinen Applaus. Röglin kommt zum nächsten Pro­gramm­punkt. Drei Männer, ein Abend, eine Geschichte, die ihren Anfang nimmt im Stadtrat Wurzen.

Man trifft sich im Plenarsaal. Helles Holz, dunkle Ölgemälde, viel Platz nach oben. Aus drei Fenstern schaut man auf die Kirche mit ihrem weißen Glockenturm, der weit über Wurzen hinaus­ragt. Draußen schreien Schwalben im Tiefflug. Gegen 18 Uhr füllen ältere Damen und Herren die drei Stuhlreihen für Besucher, zwischen ihnen ein breiter Mann in Schlappen, rotem Shirt und schwarz-goldenem Kragen: ein ehemaliger NPD-Stadtrat.

Oberbürgermeister Jörg Röglin, der Einzige an diesem Abend im Anzug, kommt zu Punkt 11 der Tagesordnung. Auf die Liste gesetzt hat ihn Christoph Dietel, Vorsitzender des Neuen Forums für Wurzen. Eine Bürgerbewegung, die an die AfD erinnert, aber nicht die AfD sein will. In einer Petition fordert Dietel die Streichung der Gelder für das „Netzwerk für demokratische Kultur“ (NDK). Ein Verein, der sich um Geflüchtete kümmert und die Zivilgesellschaft fördern möchte.

Dietels Vorwurf: Das Netzwerk für Demokratische Kultur erwecke bei Einwanderern die falsche Idee, willkommen zu sein, und verleumde die Wurzener: „Darüber hinaus ist der Verein im höchsten Maße für Wurzens Ruf als BRAUNES HERZ DES MULDENTALS verantwortlich.“ Genau so steht es in der Petition, die im Stadtrat ausliegt.

Alle 26 Abgeordneten – die AfD sitzt nicht im Stadtrat – recken grüne Zettelchen nach oben. „Die Petition ist abgelehnt“, sagt Jörg Röglin, so knapp und routiniert wie ein Richter beim Urteilsspruch. Jens Kretzschmar, Stadtrat der Linken, geht zum Rednerpult, eine braune Box, hinter der er fast verschwindet. Er ist ein schmaler Mann, keiner, der sich gern breit macht. Die Petition richtet sich gegen ihn, Kretzschmar hat das NDK gegründet. Er sagt: „Sie versuchen, Integration in unserer Stadt schlechtzureden, und beschimpfen alle, die etwas damit zu tun haben. Ist das Ihre Vorstellung von Kommunalpolitik?“

Kretzschmar hält eine Rede ins Nichts. Dietel ist nicht aufgetaucht. So ging das in letzter Zeit öfter in Wurzen. Christoph Dietel setzt die Themen, sorgt für Aufregung, und wenn es losgeht, ist er nicht da. Müde Gesichter bei den Abgeordneten. Kein Applaus. Zwei Stadträte klopfen leise auf den Tisch. Die Versammlung kommt zum nächsten Punkt. Ein Abend, wie bestellt und nicht abgeholt.

Mit Nazis Haus an Haus

Wurzen, Landkreis Leipzig, Nordsachsen, im Juni 2018. Das sind Islamgegner, nächtliche Aufmärsche vor Asylunterkünften und Hetze im Netz. Das sind Flüchtlingshelfer und linke Aktivisten, die immer weiter an den Rand gedrängt werden. Das sind Nachbarn, die seit 25 Jahren mit Nazis Haus an Haus wohnen. Das sind drei Männer im Streit, um eine Stadt, ihre Bewohner und den öffentlichen Diskurs.

Da ist Christoph Dietel, früher Bürgerrechtler, heute wieder auf der Straße gegen das System.

Da ist Jens Kretzschmar, früher Punk, heute „Gutmensch“, noch immer am Stören.

Da ist Jörg Röglin, früher glühender Sozialist, heute ein SPD-Mann, wie eingeklemmt zwischen den Rändern.

Ihr Streit zeigt, was mit der gesellschaftlichen Mitte passiert, wenn die konservativ-bürgerliche Mauer nach rechts zerbröselt, Politik immer lauter wird und Freund-Feind-Denken den Dialog ersetzt. Es ist ein Streit, der nicht nur in Wurzen tobt, nicht nur in Sachsen, sondern in ganz Deutschland. In Wurzen haben sie nur früher damit angefangen.

Erinnerungen an die 1990er Jahre. In den ersten Jahren der neuen Republik feiern Nazis die Sommersonnenwende im Umland und Führers Geburtstag mit Partys im Jugendclub. Das Innenministerium von Sachsen und der Verfassungsschutz sprechen damals von Wurzen als einer Hochburg des neuen Rechtsextremismus. Von einem harten Kern aus 30 Neonazis und etwa 300 Unterstützern.

Spricht man heute mit Wurzenern über diese Zeit, erzählen sie von jungen Glatzen, die Streife fuhren. Um den Bahnhof rum, fünf Jungs in einem Auto, der Baseballschläger immer dabei. Von Überfällen auf linke Kneipen und dem Obdachlosen, dem sie im März 1996 mit einer Luftdruckpistole das linke Auge rausschossen.

„Multikulti Endstation“

Die Glatzen von früher sind mittlerweile Geschäftsleute. In Wurzen betreiben sie ein Sonnenstudio, eine Autowerkstatt und einen Versandhandel für rechte Musik, der im aktuellen Bericht des Verfassungsschutzes Sachsen als „einer der wichtigsten rechtsextremistischen Vertriebe im Freistaat Sachsen“ gelistet ist.

Wurzen im März 2018: Rund 150 Männer und Frauen versammeln sich auf dem Marktplatz. Die Leipziger Volkszeitung berichtet und druckt Bilder: An einem Baum in der Mitte des Marktplatzes baumeln bunte Ostereier an kahlen Ästen. Ein paar selbst gebastelte Pappschilder: „Heimatliebe ist kein Verbrechen“. „Multikulti Endstation“. Vor einem Banner des Neuen Forums für Wurzen steht Christoph Dietel, ein kräftiger Mann mit hoher Stimme, die sich überschlägt, wenn er sich aufregt, das Mikrofon in der rechten Hand: „Wir wollen unsere Vaterstadt retten.“ Hinter ihm stehen seine Anhänger wie eine Mauer. Applaus.

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Im Februar 2018 hat Dietel das Neue Forum für Wurzen gegründet. Ein lockeres Gebinde aus Geschäftsleuten, Handwerkern und Unternehmern. Die beiden Kovorsitzenden sind die führenden Gastronomen der Stadt. Flankiert wird Wurzens bürgerliche Mitte von NPD-­Kadern und Rechtsextremen. Im März stehen sie das erste Mal auf dem Marktplatz. Ende Mai laden sie zur Bürgerstunde, unter Ausschluss der Presse. Auf Face­book hat die Seite 824 Likes.

Der Name der Gruppe bezieht sich auf die Bürgerbewegung der DDR. Christoph Dietel ist damals ganz vorn dabei, ein Bürgerrechtler der ersten Stunde. Für die Meinungsfreiheit, gegen das System. Auch heute scharrt er wieder Leute um sich, nur dieses Mal in einem anderen Lager: „Das, wogegen wir uns’89 wehren mussten, war weniger gefährlich als das, was jetzt über uns zu kommen droht. Es erfüllt sich der Urtraum des radikalen Islam, Europa zu besitzen!“, warnt er im März auf dem Marktplatz von Wurzen.

Statt der SED jetzt also der Islam. Statt dem Ausländer an sich wie in den Neunzigern die Wirtschaftsflüchtlinge, die sich in das deutsche Sozialsystem einnisten.

Wurzen hat rund 4 Prozent Arbeitslosigkeit, die Häuser sind renoviert, von den Balkonen hängen rote Geranien. Es gibt eine Schwimmhalle, ein Kulturhaus, zehn Kindergärten, vier Grundschulen, mittwochs ist Wochenmarkt.

Steine, Pyros, gelockerte Radmuttern

Quelle    :        TAZ         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen    :

Oben    —       Detail des Ehrenmals für die Gefallenen des 1. Weltkrieges am Alten Friedhof in Wurzen

Quelle Eigenes Werk
Urheber Jwaller

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Unten     —      Marktplatz in Wurzen

Quelle Eigenes Werk
Urheber Joeb07

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