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RENTENANGST

Wokeness auf Wiedervorlage

Erstellt von Redaktion am Dienstag 4. Oktober 2022

Ein  Blich zurück zeigt:
Keines der Schreckensszenarien ist jemals eingetreten

Ein Debattenbeitrag von Rene Rusch

Die Argumentationslinien gegen vermeintliche „Wokeness“ sind 30 Jahre alt.  Ein Ausnahmefall wird zur Norm erklärt und als Beleg für die Gefährlichkeit von Wokeness präsentiert.

Winnetou“ wird verboten. „Layla“ landet auf dem Index. Die Ärzte canceln sich selbst und singen nicht länger von der „fetten Elke“. In immer schnellerem Takt wird von immer neuen Ungeheuerlichkeiten berichtet. Verantwortlich dafür soll eine rasant um sich greifende Ideologie sein, genannt Wokeness. Will man den Kritikern glauben, steht nicht weniger auf dem Spiel als die offene Gesellschaft. Folgerichtig entfacht jeder einzelne dieser Kampfbegriffe hitzige Debatten.

Die Bereitschaft, Wokeness, aber auch so genannte Identitätspolitik und Cancel Culture so zu diskutieren, als handele es sich dabei um neue Phänomene, ist erstaunlich. Schließlich sind sämtliche Argumente, die aktuell zu hören sind, 1:1 aus dem über dreißig Jahre alten Anti-Political-Correctness-Diskurs kopiert.

Der Ausgangspunkt jeglicher Debatten zum Thema ist das Aufbegehren marginalisierter Gruppen. Diese wollen auf Diskriminierungen aufmerksam machen und setzen sich für gesellschaftliche Teilhabe ein. Man könnte dies unter Überschriften wie Selbstermächtigung oder Herrschaftskritik besprechen – tatsächlich sind es aber die vermeintlichen Gefahren und Zumutungen, welche von Political Correctness & Co. ausgehen, die Schlagzeilen produzieren.

Schreckgespenst #1 ist das drohende Ende der Meinungsfreiheit. Die angeblichen Sprechverbote werden als Vorboten eines autoritären Zeitalters gedeutet. Argumentiert wird dabei seit 1991(!) nach dem gleichen Schema: Weil heute jemand auf einer Uni an einem Vortrag gehindert wird, drohen uns morgen Zustände wie in Orwells 1984. Ein Ausnahmefall wird zur Norm erklärt und als Beleg für die inhärente Gefährlichkeit von Wokeness präsentiert.

Wie es sich für Schauergeschichten gehört, haben jene, die hinter den Bedrohungen stehen, etwas von einem Phantom: Schließlich ist so gut wie niemand zu finden, der sich selbst als „politisch korrekt“ oder „woke“ deklarieren würde. Die Bezeichnungen existieren in erster Linie als negativ besetzte Fremdzuschreibungen. Jene, die mit diesen arbeiten, haben zwar Unmengen an Text produziert, konnten ihre Gegenspieler aber nie dingfest machen. In aller Regel sind es nicht näher definierte „Sprachpolizisten“, „Tugendterroristen“, neuerdings „Lifestyle-Linke“ und „Social Justice Warriors“, von denen die Gefahr ausgehe. Charakterisiert werden sie als naiv und realitätsfern. Statt Vernunft zu gebrauchen, übten sie sich im Moralisieren. Sie sind wehleidig, überempfindlich, hypersensibel. Ihre folgenschwerste Eigenschaft demnach: der Hang zum Autoritarismus. Angeblich wollen sie Andersdenkende „zum Schweigen bringen“ oder „mundtot“ machen. Der „Social Justice Warrior“ von heute wird dabei exakt gleich beschrieben wie der politisch korrekte „Gutmensch“ aus dem vorigen Jahrhundert

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Warum ist es von Bedeutung, dass die aktuellen Angriffe allesamt Kopien sind? Um dies zu beantworten, gilt es, das Dilemma zu veranschaulichen, vor dem die PC-Kritik und deren Klone stehen: Die hysterischen Warnungen sind keine adäquate Beschreibung der Wirklichkeit. Wenn die kritisierten „Ideologien“ so mächtig wären – warum nehmen sie dann keinen Einfluss auf die realpolitischen Machtverhältnisse? Während der über drei Jahrzehnte, in denen vom linken „Meinungsterror“ fantasiert worden ist, hatten CDU/CSU fast ein Dauer Abo auf die Kanzlerschaft inne. In Österreich sitzt die ÖVP gar ohne Unterbrechung auf der Regierungsbank; die FPÖ saß seit 1999 drei Mal in einer Regierung. Die rechtspopulistische SVP ist seit über 20 Jahren stärkste Partei in der Schweiz. Auch bei den Massenmedien kann mitnichten von einer politisch korrekten Vorherrschaft gesprochen werden: Die meistgelesene Zeitung ist seit jeher die Bild-Zeitung. FAZWeltFocus sind einer woken Ausrichtung ebenso unverdächtig.

Auf dem Buchmarkt und in den neuen Medien leben eine Menge Menschen sehr gut davon, dass sie publizieren, was angeblich nicht gesagt werden könne – die PC-Kritik ist längst Mainstream.

Um die Diskrepanz zwischen Narrativ und Wirklichkeit zu kaschieren, behelfen sich die Anti-Wokeness-Warriors mit einem simplen Trick: Sie verlagern ihre Schreckensbilder in die Zukunft. So gut wie nie behaupten sie, dass die freie Rede im Hier und Jetzt substanziell eingeschränkt wäre. Stattdessen „greift etwas um sich“ oder „ist auf dem Vormarsch“. Die neue alte PC-Kritik behandelt im Grunde keine faktischen Zustände. Ihr Standardmodus ist das Verkünden von Prophezeiungen.

Quelle             :      TAZ-online         >>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —       „#StayWoke“ Hashtag auf einem Plakat während eines Protests im Dezember 2015 in Minneapolis

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