Wohnen als Lebensmittel
Erstellt von Redaktion am Sonntag 26. Juni 2022
Mieter, vor allem in Städten, sind die Verlierer der Wohnungskrise
Von Max Rathke
Die Wohnungskrise verschärft den Gegensatz zwischen Mietern und Vermietern. Die Politik bietet keine Lösungen. Mieter müssen deshalb ihre Interessen selbst wahrnehmen.
Es ist eigentlich ein bescheidener Wunsch. Jeder Mensch will eine günstige Wohnung, die Licht, Luft und Raum zur freien Entfaltung bietet. Doch für die Mehrheit der Mieterinnen und Mieter in Deutschland wird dieser Wunsch immer mehr zu einem unerfüllbaren Traum. Sie sind die Verlierer der Wohnungskrise, die sich insbesondere im letzten Jahrzehnt stetig verschärft hat.
Denn der Anteil des Einkommens, der durch die Miete gefressen wird, ist in den letzten 30 Jahren stark angestiegen. Das verdeutlichen Daten des Instituts der deutschen Wirtschaft. So mussten Anfang der 1990er Jahre Mieterhaushalte im Mittel 15 Prozent ihres Nettoeinkommens für die Kaltmiete ausgeben. Mittlerweile sind es ungefähr 25 Prozent.
Besonders verschärft hat sich die Lage für Großstadtmieter. Ein Forschungsteam um den Soziologen Andrej Holm ermittelte, dass die Hälfte aller dortigen Mieterhaushalte mehr als 30 Prozent des Nettoeinkommens für die Warmmiete aufwendet. Gut ein Viertel der Haushalte müssen sogar jeden Monat mindestens 40 Prozent ihres Einkommens an den Vermieter überweisen. Die kommende Steigerung der Nebenkosten ist hier noch nicht berücksichtigt.
Die Profiteure dieser Entwicklung sitzen am anderen Ende der Nahrungskette. Die reichsten 10 Prozent haben am stärksten von den steigenden Preisen am Wohnungsmarkt profitiert. Sie herrschen über fast zwei Drittel des gesamten Immobilienvermögens. Im letzten Jahrzehnt konnte diese kleine Elite allein durch die steigenden Immobilienpreise Vermögensgewinne von 1,5 Billionen Euro realisieren.
Was wir als „Rückkehr der Wohnungsfrage“ erleben, ist das Aufflackern einer historischen Krise, die schon seit Beginn der kapitalistischen Gesellschaft schwelt. „Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden.“ Diese Beschreibung ist 150 Jahre alt und stammt von Friedrich Engels.
Engels analysiert in diesem Aufsatz, warum sich die Wohnungsfrage im Kapitalismus immer wieder neu stellt. Im Kern ist der Mietvertrag „ein ganz gewöhnliches Warengeschäft“ zwischen zwei Bürgern. Das Interesse des Vermieters an einer profitablen Verwertung seines Immobilienkapitals und das Interesse des Mieters an guten Wohnbedingungen stehen dabei im Gegensatz zueinander. Der gesellschaftliche Kontext, in dem sich dieser Gegensatz vollzieht, führt zur Entstehung eines strukturellen Machtgefälles.
Das Machtgefälle zwischen Mieter und Vermieter hat seine Ursache in der kapitalistischen Produktionsweise. Sie erzeugt eine große Masse eigentumsloser Arbeitskräfte, die – weder räumlich noch sozial gebunden – nur mithilfe der Lohnarbeit überleben kann. Die wirtschaftliche Dynamik führt zur räumlichen Zusammenballung von Kapital und Menschen in globalen Metropolregionen. Im Kapitalismus ist Boden eine Ware und die Verteilung urbaner Räume vollzieht sich nach Marktgesetzen. Konkret bedeutet das: Die zahlungskräftigsten Akteure erhalten den ersten Zugriff. Unter diesen Bedingungen lohnt sich die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum für Geringverdiener nicht. Wer nicht genug zahlt, zählt nicht. Und so beschreibt Engels, wie Mieter in regelmäßigen Abständen aus ihren Quartieren an die Ränder der Städte vertrieben werden. Er beschreibt, wie Vermieter ihre Gewinne durch alle möglichen Tricks und „Prellereien“ über die vereinbarte Miete hinaus zu steigern versuchen. Schilderungen, die heute bei von Gentrifizierung und überhöhten Nebenkosten betroffenen Mietern Déjà-vus auslösen.
Die Verschärfung der Wohnungskrise im letzten Jahrzehnt hat die Umverteilung der Macht zwischen Vermietern und Mietern nochmals beschleunigt. Seit 2010 steigen die Preise für Baugrund und Wohnimmobilien unablässig an. Nach der Finanzkrise wurden Investitionen in Immobilien lukrativer. Seitdem strömt immer mehr anlagensuchendes Kapital auf den Wohnungsmarkt. Wachsender Zuzug in die Städte und eine viel zu geringe Bautätigkeit begünstigen diese Dynamik zusätzlich. Weil die Wohnungspreise steigen, werden immer weniger Mieter zu Eigentümern. Diejenigen, die es noch können, treibt die Angst vor hohen Mieten zum Immobilienkauf. Infolgedessen dreht sich die Preisspirale weiter, wodurch sich am Ende abermals die Attraktivität des „Betongolds“ erhöht.
Die Zuspitzung des Gegensatzes zwischen Eigentümern und Nichteigentümern am Wohnungsmarkt erfordert die selbstständige Organisierung der Mieter. Sie können ihre Lage nur verbessern, wenn sie die Vereinzelung überwinden und gemeinsam für ihre Interessen kämpfen. Einen anderen Weg gibt es für sie nicht.
Denn die herrschende Politik reagiert, indem sie Illusionen nährt. Mehr sozialer Wohnungsbau, Mietenbremsen und Erhaltungssatzungen sollen nach Aussage der regierenden Ampelkoalition für Entlastung sorgen. Die Hoffnung ist allerdings trügerisch. Steigende Bodenpreise sowie die Rohstoff- und Klimakrise werden den Neubau unvermeidlich immer teurer machen. Mietpreisbremsen und Erhaltungssatzungen haben sich in der Praxis als stumpfe Waffen gegen steigende Mieten erwiesen.
Viele Mieter versuchen deshalb, ihr Recht vor Gericht durchzusetzen. Aber der rechtliche Weg mündet häufig in einer Sackgasse. Gerichtsverfahren kosten viel Geld und viele Nerven. Die meisten Mieter haben dafür keine Ressourcen übrig. Noch aussichtsloser ist der rechtliche Weg bei mächtigen Gegnern wie der Vonovia, dem größten Wohnungsunternehmen in Deutschlands, dem mehr als 355.000 Wohneinheiten gehören. Selbst wenn das Unternehmen weiß, dass es verlieren wird, geht es häufig den Weg durch alle Instanzen, um den Rechtsstreit in die Länge zu ziehen. Der milliardenschwere, börsennotierte Konzern bezahlt die Rechtskosten aus der Portokasse.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Unternehmenszentrale Vonovia SE
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