Wirtschaft und Corona
Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 21. Mai 2020
Unsere Normalität kehrt nicht zurück
von Adam Tooze
Der erste Impuls zu Beginn des coronabedingten Lockdowns bestand in einer Suche nach historischen Analogien – 1914, 1929, 1941? Doch in den Wochen, die seither ins Land gegangen sind, ist eines immer deutlicher geworden: die historische Neuartigkeit des Schocks, den wir gerade erleben. Die Wirtschaft befindet sich derzeit nahezu in freiem Fall. Sollte sie weiter in ihrer derzeitigen Geschwindigkeit schrumpfen, läge das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in zwölf Monaten um ein Drittel niedriger als Anfang 2020. Diese Schrumpfungsrate ist vier Mal schneller als während der Großen Depression der 1930er Jahre. Noch nie zuvor ist es zu einer solchen Bruchlandung gekommen. Es gibt etwas Neues unter der Sonne. Und es ist entsetzlich.
Noch vor wenigen Wochen, Anfang März, lag die Arbeitslosigkeit in den USA auf einem Rekordtief. Doch schon Ende März war sie auf ungefähr 13 Prozent emporgeschossen. Das ist der höchste Wert, der seit dem Zweiten Weltkrieg verzeichnet wurde. Die genaue Zahl ist unbekannt, da das amerikanische System zur Registrierung von Arbeitslosigkeit nicht dafür geschaffen wurde, eine solch schnelle Zunahme zu erfassen. An drei aufeinanderfolgenden Donnerstagen ist die Zahl jener, die erstmals Arbeitslosengeld beantragten erst um 3,3 Millionen hochgeschnellt, dann um weitere 6,6 Millionen und schließlich Mitte April erneut um 6,6 Millionen. Bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit, so der Ökonom Justin Wolfers, steigt die Arbeitslosigkeit in den USA pro Tag um 0,5 Prozent.[1] Es ist nicht länger unvorstellbar, dass sie bis zum Sommer auf 30 Prozent angewachsen sein könnte.
Die westlichen Ökonomien stehen damit einem weitaus tieferen und brutaleren ökonomischen Schock gegenüber als sie ihn je zuvor erfahren haben. Normale Konjunkturzyklen beginnen für gewöhnlich bei den verletzlicheren Sektoren der Wirtschaft – Immobilien und Bauwirtschaft beispielsweise oder Schwerindustrie, die auf Unternehmensinvestitionen angewiesen ist – oder bei Sektoren, die im globalen Wettbewerb stehen wie die Kraftfahrzeugindustrie. Zusammen beschäftigen diese Sektoren in den USA weniger als ein Viertel der Arbeitskräfte. Daher überträgt sich der geballte Abwärtstrend in diesen Sektoren auf den Rest der Ökonomie nur als gedämpfter Schock.
Der coronabedingte Lockdown trifft jedoch direkt die Dienstleistungen – Einzelhandel, Immobilien, Bildung, Unterhaltung, Restaurants –, in dem heute 80 Prozent der Amerikaner arbeiten. Also fällt das Ergebnis unmittelbar und katastrophal aus. In Sektoren wie dem Einzelhandel, der jüngst unter scharfen Druck durch die Online-Konkurrenz geraten ist, könnte sich der zeitweilige Lockdown als ein endgültiger erweisen. In vielen Fällen werden die Läden, die Anfang März schlossen, nicht wieder öffnen. Die Jobs werden dauerhaft verlorengehen. Millionen von Amerikanern und ihre Familien stehen vor einer Katastrophe.
Erschütternde Aussichten
Dieser Schock ist nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Viele europäische Länder federn die Auswirkungen des Abschwungs mit Kurzarbeitergeld ab. Dies wird den Anstieg der Arbeitslosigkeit dämpfen. Doch der Kollaps der wirtschaftlichen Aktivität lässt sich nicht verbergen. Der Norden Italiens etwa ist nicht bloß ein luxuriöses Touristenziel, sondern erwirtschaftet 50 Prozent des nationalen BIP. Deutschlands BIP wird Prognosen zufolge stärker schrumpfen als das der Vereinigten Staaten, weil die Bundesrepublik von ihrer Exportabhängigkeit heruntergezogen wird. Generell sind die jüngsten Prognosen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchweg apokalyptisch. Am härtesten könnte es Japan treffen, obwohl das Virus dort mit Stand Mitte April nur mäßige Auswirkungen hatte.
In reichen Ländern wie diesen können wir wenigstens versuchen, den Schaden zu schätzen. China erließ am 23. Januar als erstes Land einen Shutdown. Laut den jüngsten offiziellen Zahlen liegt Chinas Arbeitslosigkeit bei 6,2 Prozent, der höchsten Zahl, seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1990, als die Kommunistische Partei Chinas zögerlich einräumte, dass Arbeitslosigkeit nicht nur ein Problem der kapitalistischen Welt ist. Aber diese Zahl ist eindeutig eine grobe Untertreibung der Krise in China. Inoffiziell wurden möglicherweise nicht weniger als 205 Millionen Wanderarbeiter in den Zwangsurlaub geschickt, mehr als ein Viertel der chinesischen Erwerbsbevölkerung.[2] Wie man den Schaden für die indische Ökonomie durch Premierminister Narendra Modis abrupten Shutdown beziffern soll, sei dahingestellt. Von Indiens 471 Millionen Menschen umfassender Erwerbsbevölkerung haben nur 19 Prozent einen Anspruch auf Sozialleistungen, verfügen zwei Drittel nicht über einen formalen Arbeitsvertrag und sind mindestens 100 Millionen als Wanderarbeiter tätig.[3] Viele von ihnen wurden auf eine überstürzte Flucht zurück in ihre Dörfer geschickt. Seit der Teilung des Landes 1947 hat es nichts vergleichbares mehr gegeben.
Die wirtschaftlichen Nachwirkungen dieser gewaltigen menschlichen Dramen trotzen jeder Kalkulation. Uns bleibt nur die eintönige, aber nicht weniger bemerkenswerte Statistik, dass dieses Jahr – zum ersten Mal seitdem nach dem Zweiten Weltkrieg einigermaßen zuverlässige Aufzeichnungen über das BIP berechnet wurden – die Schwellenländer schrumpfen werden. Ein ganzes Modell globaler wirtschaftlicher Entwicklung ist schleudernd zum Halten gekommen.
Die Finanzkrise abwenden
Dieser Kollaps resultiert nicht aus einer Finanzkrise. Er ist nicht einmal das direkte Ergebnis der Pandemie. Vielmehr entspringt er einer bewussten politischen Wahl, die selbst eine radikale Neuheit darstellt. Es zeigt sich, dass es einfacher ist, eine Wirtschaft zu stoppen als sie zu stimulieren. Aber auch die Bemühungen, die zur Abfederung der Auswirkungen unternommen werden, sind historisch beispiellos. In den Vereinigten Staaten hat der Kongress schon in den ersten Tagen des Shutdowns ein Konjunkturpaket verabschiedet, das bei weitem das größte ist, das Amerika in Friedenszeiten je gesehen hat. Weltweit wurde der Geldhahn aufgedreht. Das fiskalisch konservative Deutschland hat einen Notstand erklärt und seine Begrenzung der öffentlichen Verschuldung aufgehoben. Insgesamt sehen wir die größte vereinte finanzielle Anstrengung seit dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Wirkung wird sich in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. Schon jetzt aber ist klar, dass die erste Runde nicht reichen könnte.
Eine noch dringlichere Aufgabe besteht darin, die Flaute nicht in eine immense Finanzkrise münden zu lassen. Allgemein heißt es, die US-Zentralbank Federal Reserve (Fed) unter ihrem Vorsitzenden Jerome Powell folge dem Drehbuch von 2008. Das stimmt: Tag für Tag bringt sie neue Programme hervor, um jeden Winkel des Finanzmarktes zu unterstützen. Neu ist jedoch das Ausmaß, in dem die Fed eingreift. Um den epischen Schock des Shutdowns auszugleichen, hat sie eine immense Liquiditätswelle mobilisiert. Ende März kaufte die Fed jeden Tag Anlagen im Wert von 90 Mrd. US-Dollar. Das ist mehr pro Tag als sie in unter Ben Bernanke, der sie während der Finanzkrise leitete, in den meisten Monaten erwarb. Jede einzelne Sekunde tauschte die Fed Staatsanleihen und Hypothekenverbriefungen im Wert von nahezu einer Millionen Dollar in Bargeld um. Am Morgen des 9. April, als erneut eine erschreckende Arbeitslosenzahl veröffentlicht wurde, kündigte die Fed an, sie werde für zusätzliche 2,3 Billionen Dollar Anlagenkäufe tätigen.
Diese enormen und unmittelbaren Ausgleichsmaßnahmen haben bislang einen sofortigen globalen finanziellen Zusammenbruch verhindert. Aber nun stehen wir einer langwierigen Periode gegenüber, in der sinkender Konsum und nachlassende Investitionen zu einer weiteren Schrumpfung führen. 73 Prozent der amerikanischen Haushalte geben an, im März einen Einkommensverlust erlitten zu haben. Für viele ist dieser Verlust katastrophal und stürzt sie in akute Not, Zahlungsverzug und Bankrott. Verspätete Zahlungen bei Privatkrediten werden zweifellos stark ansteigen und zu anhaltenden Schaden im Finanzsystem führen. Alle nicht notwendigen Ausgaben werden verschoben. Der Benzinverbrauch ist in Europa um 88 Prozent gesunken. Der Automarkt ist mausetot. Automobilhersteller in Europa und Asien sitzen auf gigantischen Mengen unverkaufter Fahrzeuge.
Quelle : Blätter >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — A l’occasion du Salon du livre des Rendez-vous de l’Histoire à Blois, rencontre avec Adam Tooze autour de son ouvrage „Le déluge 1916-1931“ aux éditions Belles lettres.
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Unten — Theater District, New York, NY, USA
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