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Wir sind längst Cyborgs

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 30. Dezember 2020

Geht ein Science-Fiction-Traum in Erfüllung?

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Für Flüchtlinge wurden die Heizungen abgestellt ?

von Alex Hern

Oder beginnt die absolute Überwachung?  Mit iPhones und Smartbrillen erweitert Technologie unsere Körper.

Zu Beginn der Covid-19-Pandemie gingen Apple-Ingenieure eine seltene Zusammenarbeit mit Google ein. Ziel war die Entwicklung eines Systems, mit dem sich die individuellen Interaktionen einer ganzen Bevölkerung nachverfolgen lassen, um so frühzeitig potenziell ansteckende Überträger zu isolieren. Das in halsbrecherischer Geschwindigkeit entwickelte Tool wird inzwischen in vielen Covid-19-Apps weltweit verwendet, etwa vom britischen Gesundheitssystem NHS. Die Apps wurden aus verschiedenen Gründen kritisiert: Dafür, dass sie auf alten Handys nicht funktionieren oder dass sie sich stark auf die Akkulaufzeit auswirken. Eine Kritik wurde dabei jedoch nicht laut: Was passiert, wenn man ohne sein Handy aus dem Haus geht? Denn: Wer macht das schon? Die grundlegende Annahme, dass wir die Bewegung von Leuten verfolgen, indem wir ihre Telefone verfolgen, ist inzwischen Fakt.

Durch die Welle globaler Lockdowns werden wir abhängiger denn je von unseren Tech-Geräten, und die Branche boomt. Der Umsatz von Apple bricht weiter Rekorde – und das, obwohl es eine der ersten großen Firmen war, die ernsthaft von Corona beeinträchtigt wurden. Fabrikschließungen in China brachten die Lieferkette so in Verzug, dass das iPhone 12 mit einem Monat Verspätung auf den Markt kam. Dennoch bleibt Apple mit Abstand das größte börsennotierte Unternehmen der Welt: Dieses Jahr wuchs sein Wert um 50 Prozent auf zwei Billionen US-Dollar, 334 Milliarden mehr als die Nummer zwei, Microsoft.

Es fallen einem nur wenige Produkte ein, die uns im täglichen Leben rein physisch näher sind als das Smartphone. Brillen, Kontaktlinsen und implantierte medizinische Geräte etwa. Ohne dass wir es merken, macht Apple uns zu Organismen, die symbiotisch mit Technologie leben: teils Mensch, teils Maschine.

Wir sourcen unsere Adresskalender, Tagesplaner und To-do-Listen an Geräte aus. Wir brauchen auch kein Basis-Faktenwissen über die Welt mehr; bei Bedarf schauen wir es einfach nach. Aber wenn Sie denken, dass ein Smartphone oder eine Apple Watch Sie noch lange nicht in einen Cyborg verwandeln, könnten die neuesten Pläne des Unternehmens Ihre Meinung ändern. Schon 2022 könnten Smartbrillen mit einem integrierten Computer auf den Markt kommen, die uns im wörtlichen Sinne die Welt durch Apples Augen sehen lassen, indem sie eine digitale Schicht zwischen uns und die Welt legen.

Kybernetische Organismen

Der Begriff Cyborg – kurz für „kybernetischer Organismus“ – wurde 1960 von Manfred Clynes und Nathan Kline geprägt. Im Rahmen ihrer Raumfahrtforschungen beschäftigten sie sich damit, wie der Einbau von mechanischen Komponenten dabei helfen könnte, „die Aufgabe der Anpassung des menschlichen Körpers an jede x-beliebig gewählte Umgebung zu lösen“. Es war ein sehr medizinisches Konzept: Die beiden Wissenschaftler stellten sich zum Beispiel eingepflanzte Pumpen vor, die automatisch Medikamente abgeben.

In den 1980ern drückten Genres wie Cyberpunk die Faszination von Autoren für das damals entstehende Internet aus. Tieren wurden Computerchips, Maschinen-Körperteile oder Chromzähne eingepflanzt. „Das war das Beste, das wir damals hinkriegen konnten“, lacht darüber heute der US-amerikanische Science-Fiction-Autor und Futurist Bruce Sterling, dessen Mirrorshades-Anthologie für viele das Genre definiert. Solche cyberpunkigen Ideen funktionierten nicht richtig, so Sterling: Derlei Implantante seien nicht „biokompatibel“. Organisches Gewebe reagiert schlecht, es bildet Narbengewebe oder, noch schlimmer, wächst an der Nahtstelle nicht zusammen. Während Science-Fiction noch die matrixartige Vision von Metall-Buchsen in weichem Fleisch verfolgte, nahm die Realität also einen anderen Verlauf. „Wenn man 2020 nach Cyborgs sucht“, erklärt Sterling, „dann ist die Apple Watch ein Beispiel. Sie ist bereits ein medizinisches Überwachungsgerät, mit einer ganzen Reihe von Gesundheits-Apps. Wenn man wirklich das Innere seines Körpers manipulieren will, kann die Uhr das besser überwachen als irgendetwas Anderes.“

Dabei war der Start der Apple Watch holprig. Das Unternehmen versuchte, sie als zweite Wiedergeburt des iPhone zu verkaufen. Doch anstatt SMS von einem Gerät zu schicken, das nicht genug Platz für eine Tastatur hat, wollten die Nutzer*innen ihr neues Accessoire lieber als Fitness-Tracker nutzen. Bei der zweiten Auflage der Uhr konzentrierte sich Apple daher stärker auf die Gesundheitsfunktion. Jetzt kann die Uhr die Herzfrequenz sowie den Sauerstoffgehalt Ihres Blutes messen; sie kann warnen, wenn Sie sich in einer Umgebung befinden, die ihr Gehör schädigen könnte; ja sogar die Notfallnummer rufen, wenn Sie fallen. Dazu kann sie Ihre Aktivitäten beim Joggen, Schwimmen, Gewichtheben und Tanztraining nachverfolgen. Und natürlich kommen weiter E-Mails auf Ihr Handgelenk.

St Patricks Day, Downpatrick, March 2011 (071).JPG

Sterling weist darauf hin, dass es für eine Vielzahl von Gesundheitsdiensten, die wir früher als Science-Fiction betrachtet hätten, keinen Bedarf für einen implantierten Chip in unserem Kopf gibt. Es reicht die teure Uhr am Handgelenk. Das heißt aber nicht, dass die gesamte Vision des Cyberpunks der Welt der Fiktion überlassen wurde. Es laufen wirklich Menschen mit Roboter-Körperteilen herum – und auch hier hat Apple starken Einfluss. „Ich glaube, dass Apple, mehr als jede andere Marke, sich wirklich um das Benutzererlebnis kümmert. Sie testen und testen und testen, und überprüfen und überprüfen und überprüfen. Das haben wir von ihnen übernommen“, sagt Samantha Payne, Chief Operating Officer von Bristols Open Bionics. Das Unternehmen, das sie 2014 mitbegründete, stellt den „Hero Arm“ her, eine Bionikhand mit mehreren Greifmöglichkeiten. Durch die rasante Entwicklung der 3D-Druckertechnologie gelang es Open Bionics, die Kosten für die hochentwickelten Prothesen auf wenige tausend Euro zu senken – vor zehn Jahren noch lagen sie locker bei 80.000 Euro.

Anstatt ein naturgetreues Design anzuvisieren, lehnt Open Bionics seine Produkte an Cyborg-Optiken an. „Alle anderen Prothesenhersteller vermitteln den Eindruck, dass man versuchen sollte, eine Behinderung zu verbergen, dass Sie versuchen müssen, sich anzupassen“, sagt Payne. „Unser Unternehmen vertritt da eine starke Gegenposition.“ Im November entwarf die Firma einen Arm, der dem einer Figur im Videospiel Metal Gear Solid V ähnelt – rot und schwarz, glänzendes Plastik, „kompromisslos bionisch“. Die Reaktionen waren zum Teil verstörend: „Es gab viele Sience-Fiction-Fans, die sagten, sie würden wirklich überlegen, sich die Hand abzuhacken“, erzählt Payne. Manche Menschen mit Behinderung, die in ihrem täglichen Leben auf Technologie angewiesen sind, sehen in dem Cyberpunk-Design daher eine Exotisierung der Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind.

Die Innovationen auf diesem Feld reichen beinahe bis in die Sphäre der Superkräfte: Schwerhörige iPhone-Besitzer*innen etwa können ihre Hörgeräte nicht nur über Bluetooth mit ihrem Telefon verbinden. Sie können das Telefon sogar als Mikrofon einrichten und es näher an ihr Gegenüber heranrücken, um so den Lärm eines belebten Restaurants oder eines überfüllten Hörsaals auszublenden. Bionische Ohren gefällig?

„Die Vorstellung, dass alle Menschen heute Cyborgs sind, hat definitiv etwas“, sagt Payne. „Eine verrückt hohe Zahl von Menschen auf der Welt besitzt ein Smartphone, und so sind alle diese Leute technologisch erweitert. Ist man von dieser Technologie abhängig, um das tägliche Leben zu bewältigen, etwa wenn sie dem Körper eingepflanzt ist, dann ist das noch extremer. Aber wir alle nutzen jeden Tag die ungeheure Macht des Internets.“

Quelle      :      Der Freitag-online         >>>>>>          weiterlesen

www.theguardian.com         —      Alex Hern 

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Grafikquellen     :

Oben       —      hypnotoad


Unten       —     Market Street, Downpatrick, County Down, Northern Ireland, March 2011

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