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Wir hatten Juden erwartet,

Erstellt von Redaktion am Samstag 21. November 2020

– aber es kamen Russen

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Von Erica Zingher

Unsere Autorin kam 1995 aus Moldau nach Deutschland, so wie viele andere Jüdinnen und Juden aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Sie sollten das jüdische Leben wieder erblühen lassen – doch eine echte Chance gab man ihnen nicht

Es ist der 22. Januar 2020, und ich sitze auf der Beerdigung meines Opas. Draußen reihen sich Gräber aneinander, ein Friedhof, wie es ihn tausendfach in Deutschland gibt, drinnen, in der Trauerhalle, kann ich meinen eigenen Atem sehen, während ich auf den glänzenden Sarg blicke. Ich friere. Aus den Boxen kommt Debussys „Clair de Lune“, später Chopin. Mein Opa hat klassische Musik geliebt. Nachdem meine Familie vor 25 Jahren aus Moldau nach Deutschland gekommen war, verkroch er sich in einem kleinen Zimmer, las staatsnahe russische Nachrichten, hörte Musik, meistens Klassik Radio. Geredet hat er selten.

Als die Musik verstummt, ist nur noch das Schluchzen meiner Oma zu hören. Niemand spricht. Weil ich nicht weinen will, bohre ich meine Fingernägel immer tiefer in meine Handinnenseite. Die Tränen fließen trotzdem. Ich weine über den Tod meines Opas. Über sein Leben, das für ihn in der Fremde endete. Über die vielen Versäumnisse unserer Familie, die sein Tod offenlegte. Ich weine, weil sich endlich ein Knoten in mir löst.

Später, nach der Beerdigung, sitzen meine Familie und ich im Wohnzimmer meiner Oma. Es ist mit Teppichen ausgelegt, russisches Klischee. Von der Decke hängt ein Kronleuchter, an den Wänden hängen seit jeher drei Bilder, die gratis mit den Rahmen kamen: ein Wasserfall, eine Blumenvase, eine Schlucht. David, mein 16-jähriger Bruder, und mein Onkel Tolja streiten sich um den Radiosender, aus der Küche dirigiert meine Oma, wo Kartoffeln, geräucherter Fisch, eingelegte Tomaten und Kaviarbrötchen ihren Platz auf dem Esstisch finden sollen. Wir sprechen russisch und essen russisch, so wie früher in Moldau.

Mein Bruder und mein Onkel haben sich geeinigt, wir hören russischen Rock, Sender Awtoradio, heben unsere Gläser, trinken auf meinen Opa: mein Onkel, mein Vater und seine Partnerin Natascha, ihre Mutter, mein Bruder David, meine Oma, meine Mutter, eine Nachbarin. Wir essen und trinken so viel Wein und Wodka, bis wir uns wieder erinnern wollen. An unsere 25 Jahre Deutschland.

Oma sagt: Gena, also mein Opa, habe es ja versucht mit dem Arbeiten. Er fing als Müllmann an, den Job hatte das Arbeitsamt ihm kurz nach der Einreise zugeteilt. Eines Tages saß er mit seinen deutschen Kollegen zusammen, sie machten Pause und aßen, als sie ihn beschimpften: Du scheißrussisches Schwein, hau ab mit deinem nach Knoblauch stinkenden Essen, hätten sie gesagt. Kotlety hatte er gegessen, Frikadellen. Danach ging Gena nicht mehr hin. Er wollte sich von niemandem beschimpfen lassen.

Ich habe viele solcher Erfahrungen in mich hineingefressen, sagt Oma. Es hat lange gedauert, bis die Leute verstanden haben, dass ich auch ein Mensch bin.

Wir haben in Deutschland sofort aufgehört, Knoblauch ins Essen zu tun, sagt die Nachbarin, eine Russlanddeutsche.

Und Papa sagt: Vor dem Leben in Deutschland warst du Schweißer, wie Opa, vielleicht Ärztin, Ingenieurin oder Jurist. Und dann kommst du hierher, hops, und du bist niemand.

Viele haben damit ihren Frieden gefunden, ist man sich einig am Tisch. Nur einer nicht, denke ich, mein Opa. Er hat alles hinter sich gelassen, um ein Leben in der Fremde aufzubauen, in einem Land, das ihn, uns, unbedingt wollte, und am Ende starb er, krank und enttäuscht, und es reichte nur für eine billige Sozialbestattung.

Wir sollten das jüdische Leben in Deutschland wieder aufblühen lassen, wünschte man sich

So wie meine Familie und ich kamen zwischen 1995 und 2005 mehr als 200.000 Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Menschen, die man später als „jüdische Kontingentflüchtlinge“ bezeichnete. Lange galt ihre Einwanderung als Erfolgsgeschichte. Sie, wir, waren die guten Migrant:innen. An unsere Ankunft war Hoffnung geknüpft: Wir sollten das jüdische Leben in Deutschland wieder aufblühen lassen. Bald darauf, Mitte der 1990er Jahre, wurden Migrant:innen aus dem ehemaligen Ostblock als Problem wahrgenommen – und dann gar nicht mehr. Man hat diese Menschen, uns, ­vergessen.

25 Jahre später frage ich mich, was eigentlich dran ist an dieser Erfolgsgeschichte. Sicher, einige von uns sind heute in der deutschen Mittelschicht angekommen. Aus uns ist etwas geworden: Wir sind Journalist:innen, Au­to­r:in­nen, Musiker:innen, Theater­ma­che­r:in­nen. Einer ist sogar Europaabgeordneter.

Doch über die Kränkungen, Enttäuschungen und Anstrengungen, die diese Erfolge mit sich gebracht haben, spricht niemand. Von denen, die es nicht nach oben geschafft haben, weiß kaum eine:r. Wer denkt an unsere Großeltern, unsere Eltern?

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Auch in meiner Familie wurde nicht über Ängste, Hoffnungen und zerplatzte Träume gesprochen. Auch nicht über Erdniedrigungen und Verletzungen. Es war, als hätten wir uns 1995 mit der ersten Sekunde auf deutschem Boden zum Schweigen verpflichtet. Vielleicht weil es so einfacher war, klarzukommen. Vielleicht aus Scham. Und weil wir nie einen Ort, eine Sprache fanden. Denn viele Erlebnisse passten nicht ins Bild, das man für uns vorgesehen hatte. Das der Bilderbuchjuden, deren Lebensinhalt darin bestehen sollte, irgendwie jüdisch zu sein und Deutschland damit einen Dienst zu erweisen.

Am Abend der Beerdigung meines Opas ruft meine Oma mich zu sich. Sie hält seine alte Kamera in der Hand. In den ersten Jahren in Deutschland hatte er noch viel fotografiert, irgendwann ließ er es bleiben. Ob ich die Kamera nicht haben möchte, fragt meine Oma, ich fotografiere ja gerne. Zurück in Berlin, wo ich wohne, finde ich einen alten Film in der Kamera, wahrscheinlich von Anfang der 2000er. Auf den entwickelten Fotos sind meine Großeltern zu sehen, mein Vater und Onkel. Es sind Fotos von einem Geburtstag. Mittagessen in der Küche, mein Bruder beim Spielen.

Ich beginne Fragen zu stellen: Wie war das mit unserer Ausreise? Ich selbst war zwei Jahre alt und kann mich nicht erinnern. Was ist schiefgelaufen bei unserer Einwanderung, unserer Integration? Was wollten wir von Deutschland – und was wollte dieses Land von uns? Ich lese die wenigen wissenschaftlichen Texte, die es über russisch-jüdische Einwanderung gibt, lese Politiker:inneninterviews, alte Reportagen.

Der Umbau der Sowjetunion, die Perestroika ab Ende der 1980er Jahre, war eine Zeit, die von großer Unsicherheit geprägt war. Der damalige Generalsekretär und spätere Präsident Michail Gorbatschow hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Land wirtschaftlich und politisch umzukrempeln. Das Ergebnis waren leere Regale in den Geschäften und Kriminalität im Land. Die Menschen waren verängstigt und hatten die Schuldigen schnell gefunden: die Juden. Die nationalistischen Bewegungen wurden immer lauter, Gerüchte über anstehende Pogrome verbreiteten sich, es kam zu Übergriffen. Viele jüdische Familien packten damals ihre Sachen und brachen auf nach Israel und in die USA.

Andere wollten nach Ostberlin. Im Juli 1990 bekannte sich die erste und letzte frei gewählte DDR-Regierung dazu, bedrohte jüdische Zuwan­de­r:in­nen aufzunehmen. In der Sowjetunion verbreitete sich die Nachricht schnell. Allein 2.000 russische Jüdinnen und Juden kamen im Sommer 1990 in die DDR.

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Ungefähr zur selben Zeit flüsterte ein Freund meines Opas ihm etwas von Kanada ins Ohr. Der Freund erzählte, einige Familien hätten sich entschieden, dorthin auszureisen. Ob wir nicht mitkommen wollten? Mein Opa war unsicher. In ein fremdes Land reisen, ohne Zusage, dort bleiben zu können? Er winkte ab. Es brauchte einen Krieg, bis mein Opa den Mut fand, zu gehen.

1991 schaute die Welt auf Deutschland, Wiedervereinigung, endlich wieder ein Land. Die Ministerpräsidentenkonferenz beschloss am 9. Januar 1991 die Aufnahme jüdischer Migran­t:in­nen. Parallel: Freidrehende Nazis, täglich rechte Übergriffe, Brandanschläge auf Asylbewerberheime. Da kam es ganz gelegen, Jüdinnen und Juden aufzunehmen und zu zeigen: Von diesem neuen Deutschland geht keine Bedrohung aus. Doch ein Einwanderungsland wollte man nicht sein. Und auch der israelische Botschafter betonte, dass Jüdinnen und Juden kein Asyl in Deutschland bräuchten, da sie ja in Israel willkommen seien. Also beschloss man, eine besondere politische Grundlage zu schaffen: Die russisch-jüdischen Einwander:innen wurden zu Kontingentflüchtlingen. Dies gab ihnen die Möglichkeit, nach dem damals geltenden Aufenthaltsrecht in die Bundesrepublik einzureisen, ohne eine Verfolgung nachweisen zu müssen.

Quelle       :        TAZ          >>>>>            weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben      —         The en:Treptower Park war memorial in Berlin. Self taken, 2006.

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2.) von Oben      —     Alt-Treptow, Berlin, Germany – Treptowers and Molecule Man as seen from Spree (image edited: perspective corrected)

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Unten       —    The Spree, Treptow, Berlin, Germany, June 2019

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