Wider die Eskalation der Angst
Erstellt von DL-Redaktion am Freitag 1. Januar 2016
Journalismus und Zuwanderung
ANGST
Unbekannte Frauen und Kinder aus Vietnam kurz bevor sie in My Lai getötet wurden.
von Charlotte Wiedemann
Deutschland hat sich verändert. Die Redaktionen sollten das auch tun. Welche Medien braucht die Einwanderungsgesellschaft? Drei Thesen.
Was bedeutet guter Journalismus, wenn eine Gesellschaft aus immer mehr Zugewanderten besteht? Wie nie zuvor stehen Redaktionen heute unter dem Druck einer täglichen Welle von Hass-Kommentaren. Und wie nie zuvor seit dem Ende des Nationalsozialismus werden Kollegen mit Mord bedroht, offen, öffentlich. Deshalb zunächst Chapeau allen, die diesem Druck standhalten! Doch die Probleme wurzeln tiefer. Können Medien, so wie sie bisher funktionieren, überhaupt zum Gelingen einer Einwanderungsgesellschaft beitragen?
Professioneller Journalismus findet heute in einem radikal veränderten Umfeld statt – und professionell soll hier bedeuten: eine bezahlte Tätigkeit für privatwirtschaftliche oder öffentlich-rechtliche Medien (Print, Online, Rundfunk, Fernsehen). Radikal verändert ist das Umfeld zunächst, weil gesellschaftliche Mobilisierung heute ohne diese Altmedien und teils auch gegen sie möglich ist, und zwar durch eine Zivilgesellschaft, die sich rechts bis rechtsradikal geriert. Zugleich verlangt die moderne Einwanderungsgesellschaft ein neues, dem Gemeinwohl nützendes Selbstverständnis von Journalisten. Dazu drei Thesen.
Erstens. Ein Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte zeigt: Deutschland ist zur Einwanderungsgesellschaft geworden gegen die Medien. Sie haben die Entwicklung mehr behindert als gefördert, sie waren das Schlusslicht beim Marsch in eine neue Zeit. Dies zeigt sich zunächst an jedem Konferenztisch: Während im übrigen Deutschland jeder Fünfte eine familiäre Migrationsgeschichte erzählen kann, ist es in den Redaktionen jeder Fünfzigste. Schützenvereine sind heute interkultureller als Journalistenrunden.
Wichtiger aber ist: Medien haben über Jahre entscheidend das negative Image muslimischer Einwanderer geprägt. Die „Islamisierung des Abendlandes“ begann nicht bei Pegida, sondern auf den Titeln des Spiegels. Die Medien tragen insbesondere Verantwortung für die Verachtung, mit der die deutsche Öffentlichkeit auf die muslimische Frau blickt.
Bis heute illustrieren Redaktionen das Thema Bildungsdefizite am liebsten mit einem Kopftuch. So ist denn auch eine neue Generation hoch gebildeter Musliminnen in Deutschland gegen die Medien herangewachsen. Das enorme Selbstbewusstsein dieser jungen Frauen entstand im Kampf gegen die Geringschätzung, die ihnen an jedem Zeitungskiosk entgegenschlug.
Journalisten reagieren gereizt, wenn man sie auf die Wirkung ihrer Branche anspricht. Medienleute nehmen zwar gern Vorrechte und Privilegien in Anspruch, die ihnen als Kollektiv gewährt werden, bis hin zum Presserabatt für private Anschaffungen. Doch wenn es um die Folgen ihres kollektiven Handels geht, will niemand Verantwortung übernehmen: Bitte nichts verallgemeinern!
Tatsächlich aber sind wir Journalisten zuständig: nämlich für die hochgiftigen Altlasten jahrelanger Meinungsmache. Sie kommen nun als Kondensat zurück, mit Aufschriften wie AfD oder Le Pen, und quellen aus den Kommentarfunktionen.
Neue Position beziehen
Quelle: TAZ >>>>> weiterlesen
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Fotoquelle: Wikipedia – Urheber Ronald L. Haeberle – Gemeinfrei