Westlich-politische Arroganz
Erstellt von Redaktion am Sonntag 12. Juni 2022
Ein Fall von Westsplaining
Den in sich Selbstverliebten Scheingrößen der Politik überfällt bestimmt ein Schwindelgefühl der Angst, wenn sie den roten Teppich und das Tschingderassassa verlassen müssten, um ihren zumeist nicht anwesenden Volk direkt in die Augen zu sehen.
Von Elisa-Maria Hiemer
Belehrend und historisch unsensibel: Was der Krieg in der Ukraine über deutsche Denkweisen verrät.
Sehr angenehme Menschen. Sehr kooperative Behörden“ – so lautete Friedrich Merz’ Urteil über die Ukraine, das er Anfang Mai aus dem Nachtzug auf seiner Reise nach Kiew twitterte. Diese Betonung lässt auf das Bild schließen, das der Absender von der Ukraine vor Reiseantritt hatte: das gegenteilige oder wahrscheinlich gar keins. Vielleicht war es auch eine Spitze gegen den ukrainischen Botschafter Melnyk, der im deutschen Diskurs durch seine direkte Wortwahl und Forderungen wahlweise als „untragbar“ oder gar als „Nazi-Versteher“ betitelt wird.
Überhaupt scheinen wir Deutschen gerne Länder verstehen zu wollen. Wussten Sie, dass das Wort „Putin-Versteher“ mittlerweile ins Englische Eingang gefunden hat? Leider scheitern wir allzu oft daran, diesem Wunsch nach Erkenntnis eine gewisse Portion Selbstreflexion angedeihen zu lassen. Wir verlieren uns darin, auf aktuelle Bedrohungen mit einseitigen kulturhistorischen Erklärungen zu reagieren, die letztlich darauf abzielen, die eigene Passivität zu rechtfertigen.
Das funktionierte auch schon in den 1990ern während der Jugoslawienkriege erstaunlich gut: Der politische und intellektuelle Diskurs jener Zeit stellte die Region als brutalen und unzivilisierten Vorhof Europas dar und versuchte so – unbewusst oder nicht – dem Krieg eine kulturhistorische Deutung zu geben. Zwei Konzepte, die damals wie heute benutzt wurden, sind Othering und Westsplaining.
Beides sind nicht nur abstrakte Begriffe, sie wecken vor allem Emotionen bei denen, die damit zum Objekt werden: Othering meint das Beschreiben von Eigenschaften einer Gruppe als andersartig. Die Kategorisierung dient der Aufrechterhaltung der stärkeren Position jener Gruppe, die das Urteil fällt. Sozusagen die kulturtheoretische Erklärung für den moralischen Fingerzeig „Die waren schon immer so“. Wie schnell sich damals die Berichterstattung in Klischees über die „halbbarbarischen“ Völker verlor, zeigt Maria Todorova in ihrem Buch „Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil“.
Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wird oft von der historischen Verflochtenheit mit Russland gesprochen. Das ist per se nicht falsch, nur wird hierbei oft unhinterfragt das Kalte-Kriegs-Narrativ der Bruderstaaten übernommen und den Nationen eine emotionale Verbundenheit angedichtet, aus der sich für die Staaten des Westens ableitet: Besser nicht eingreifen, die regeln das schon unter sich.
Nach einer friedlichen Kriegslösung zu rufen ist leicht, wenn man selbst in Frieden leben kann
Nach einer friedlichen Kriegslösung zu rufen ist leicht, wenn man selbst in Frieden leben kann. Hier kommt Begriff Nummer zwei, Westsplaining, ins Spiel. „Ihr habt keine Ahnung von Russland“, schrieb der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch zuletzt in der NZZ: Die Länder Mitteleuropas blicken auf eine leidvolle, von Gewalt geprägte Geschichte mit Russland zurück. Polen plädierte schon früh für die aktive Unterstützung der Ukraine – erfolglos. Stattdessen werden hierzulande prorussische Narrative vornehmlich von einer politischen und intellektuellen Generation geschaffen, die von Gorbatschows Politik der Annäherung geprägt wurde. Manche reden sogar vom Krieg „um“ die Ukraine, was die Verhandelbarkeit der ukrainischen Souveränität suggeriert und den „legitimen russischen Ansprüchen“ auf das Territorium gefährlichen Nährboden gibt.
Die deutsche Vergangenheit ist ein Grund, weshalb die deutsche Regierung auf militärische Forderungen zurückhaltend reagierte. Aber genau diese Vergangenheit sollte uns auch Anlass geben, unsere Haltung den östlichen Nachbarstaaten gegenüber zu überdenken. Neben der systematischen Zerstörung und Ermordung der jüdischen und polnischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs trug Deutschland dazu bei, Polen für 123 Jahre von der europäischen Landkarte verschwinden zu lassen. Wie muss es sich für Pol*innen anfühlen, heute in Sicherheitsbedenken nicht ernst genommen zu werden? Oder für Ukrainer*innen, wenn deutsche Politiker*innen mahnen, doch bitte den richtigen Ton zu treffen?
Westsplaining meint also auch die historische Ignoranz, die mit einem Überlegenheitsgefühl einhergeht, moralisch wie politisch das einzig Richtige zu tun. Insbesondere das Verhältnis zu den Visegrád-Staaten Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn ist fragiler denn je.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Angela Merkel – Αντώνης Σαμαράς