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RENTENANGST

Was von Trump bleibt

Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 1. Dezember 2020

Zwischen Wahn und Wirklichkeit

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Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Das vorläufige Ende der Trump-Ära hat uns eine geschichtliche Atempause verschafft. Die müssen wir nutzen, um zu verstehen, was da geschah.

Die kluge Marilyn Monroe hat bei der antikommunistischen Hexenjagd den Typus ihrer Verfolger treffend beschrieben: „halbfaschistischer Hampelmann“. Einen, den man mit Fug eine Apotheose des halbfaschistischen Hampelmanns nennen kann, scheint die Welt gerade loszuwerden. Uffa! Noch mal gut gegangen. Keine weiteren vier Jahre Lügen, Hetze, Narzissmus und schiere Blödheit. Oder?

Es bleibt ja dieser fiese Nachgeschmack: Fast die Hälfte der amerikanischen Wähler*innen haben sich aus all dem, was sich Donald Trump in seiner Regierungszeit zuschulden hat kommen lassen, nichts gemacht. Sie wollten mehr davon! Der Trumpismus als postpostdemokratische Episode des Niedergangs wird den USA und dem Rest der Welt bleiben. Und bei uns? AfD-Wähler*innen, Coronaleugner*innen, Ver­schwö­­rungs­fantas­t*in­nen, Rassist*innen und toxischer Chauvinismus, wo man hinsieht. Von klammheimlicher Zustimmung zu alledem ganz zu schweigen. Wir waren doch schon einmal so viel weiter auf dem Weg zu Aufklärung, Humanismus, Gerechtigkeit und Toleranz! Hat jedenfalls ein Teil der betroffenen Gesellschaften geglaubt.

Ein beunruhigend großer Teil unserer Mitmenschen scheint entschlossen, Personen, Ideen, Bewegungen zu folgen, die weder rational zu erklären noch moralisch zu rechtfertigen sind. Besonders erschreckend ist das, wenn man Menschen, denen man lange freundschaftlich verbunden war, sozusagen über Nacht an eines dieser anti­rationalen und antiethischen Milieus verliert. Der Bruch mit der großen Erzählung von Demokratie und Rechtsstaat, Aufklärung und Humanismus, Wirklichkeit und Wissenschaft geht mitten durch die Familien, die Nachbarschaften, die Arbeits­welten, die Vereine. Oft ist dieser Bruch so fundamental, dass es kaum zur Versöhnung kommen kann.

Ich persönlich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, mich mit jemandem noch einmal an einen Tisch zu setzen, der von jüdischen Weltverschwörern mit 5G-Strahlen raunt, die soziale Verantwortung von Maske und Abstand zur „Diktatur“ erklärt oder es für notwendig hält, auch auf Kinder zu schießen, um „illegale Einwanderer“ abzuschrecken. Und ich erwarte auch keine Versöhnungsangebote von der anderen Seite. Aber mit einer Definition der Bruchlinie ist es nicht getan. Wir hinterlassen unseren Nachkommen nicht nur einen Planeten in Gefahr und eine Gesellschaft in Auflösung, sondern auch Erzählungen, Wissen und Bilder. Auch um die lohnt es sich zu kämpfen. Und wenn uns die Weltgeschichte mit dem vorläufigen Ende der Trump-Ära eine Atempause verschafft, dann muss die auch für Versuche genutzt werden, zu verstehen, was da geschah.

Die Gier, möglichst viel vom Kuchen abzubekommen, scheint größer als die Angst, er könnte vergiftet sein

Matthias Laurenz Gräff - "Trump. The Killing Machine".jpg

Es gibt die Wahrheit des Materialismus, die Karl Marx in „Die heilige Familie“ formulierte: „Die ‚Idee‘ blamierte sich immer, soweit sie von dem ‚Interesse‘ unterschieden war.“ Tatsächlich erweist sich immer wieder, dass hinter ideologischem Getöse nichts als egoistisches Interesse zum Vorschein kommt. Daraus lässt sich für die Defekte dieser Zeit eine einfache Richtlinie ableiten: Folge der Spur des Geldes! Universaler lautet das Credo: It’s the economy, stupid! Aber das lässt sich auch umkehren: It’s the stupidity, economist! Das (ökonomisch-egoistische) Interesse erzeugt unter Druck eine so fundamentale Form der Dummheit, dass sie sich sogar gegen das eigene Interesse wendet.

Umkehren lässt sich vielleicht auch der Marx-Satz: „Das ‚Interesse‘ blamiert sich oft, wenn ihm die Idee in die Quere kommt.“ Insofern sich als „Idee“ eine Abbildung tieferer Leidenschaften verstehen lässt: Begehren, Hass oder Angst. Materialistische Rationalist*innen können nur den Kopf schütteln angesichts des Verhaltens von Menschen, die sich so entgegen den eigenen Interessen verhalten. Zum Beispiel in Wahlkabinen oder auf Straßenevents. Und was ist mit Autor*innen, Fern­seh­­kö­ch*in­nen, Kabarettist*innen, Schau­spie­­le­r*in­­nen, Wissenschaftler*innen et cetera, die ihre Verträge aufs Spiel setzen, nur um bösartige politische Phantasmen zu verfolgen? Interesse (die Hoffnung, Aufmerksamkeit zu Geld zu machen) oder doch Idee (die Ansteckungsgefahr skrupelloser Entwirklichung)?

Quelle        :   TAZ-online            >>>>>          weiterlesen


Grafikquellen        :

Oben      —      March for Science in New York City, 22 April 2017. The March began in Central Park and made its way over to Broadway, down to Times Square.

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