Was ist eine Grenze?
Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 26. Oktober 2017
Südossetien ist ein Staat, finden Russland und Südossetien.
Aus Bonn, Gori und Gugutiantkari Daniel Schulz
Es ist ein Teil Georgiens, finden Georgien und der Rest der Welt. Dazwischen versucht ein deutscher Ex-Soldat, einen neuen Krieg zu verhindern.
Was ist eine Grenze? Eine Grenze ist, wenn du nicht mehr scheißen gehen kannst, weil auf den staubigen paar Metern Weg von deinem Haus zum Plumpsklo plötzlich Stacheldraht liegt. Oder wenn du auf dem Feld arbeitest, ja auf dem, neben dem auch deine Verwandten begraben liegen, und dann kommen Männer und bauen einen Zaun um diese Gräber. Wenn du im Winter in deinen Garten gehst, um Holz zu hacken und erst fünf Tage später wieder auftauchst, das Gesicht zerschlagen, das ist eine Grenze.
Dabei ist sie an manchen Stellen nicht mehr als eine Reihe grüner Zaunpfähle, kein Maschendraht dazwischen, nur Luft, die in der Hitze flimmert. „Wir gehen da schön außenrum, wir wollen die Russen nicht provozieren“, sagt Hans-Heinrich Schneider zu den anderen Männern aus seinem Team. Er ist 66 Jahre alt und wohnt eigentlich in Bonn. Er könnte mit seiner Frau hinten auf der Terrasse ihres Hauses die Bratwürste aus Mecklenburg-Vorpommern essen, die sie beide so mögen. Stattdessen steht er mit seinen brauen Wanderschuhen im Schlamm eines aufgeweichten Feldwegs zwischen den Dörfern Ditsi und Gugutiantkari in Georgien. Schneider überwacht die Grenze.
Okay, gerade sucht er im Modder nach der Stelle, an der seine Patrouille gestern Nacht stecken geblieben ist. Es ist halb eins und 34 Grad im Schatten. Die Augustsonne hat alle Wege steinhart gebrannt, aber ein paar Bauern haben die Felder bewässert, ohne Bescheid zu sagen. Schmatzend saugt der Sand an den Reifen der beiden blauen Jeeps, mit denen Schneider und seine Leute gekommen sind. An beiden Jeeps weht die Fahne der Europäischen Union.
Hier in Georgien, einem Land mit vier Millionen Einwohnern zwischen Russland, der Türkei und dem Iran, zwischen Europa und Asien soll die EU den Frieden mit einer Grenzkontrollmssion überwachen. Ihre Beobachter haben keine Waffen, nur Ferngläser, Nachtsichtgeräte und Kameras mit riesigen Teleobjektiven. Sie kamen nach einem acht Tage dauernden Krieg im August 2008 ins Land. Damals kämpften georgische gegen südossetische und russische Truppen um die Kontrolle über Südossetien, ein Gebiet mit 75.000 Einwohnern im Norden Georgiens und an der Südgrenze von Russland. Die georgische Armee verlor, und Russland erkannte Südossetien als Staat an. Georgien betrachtet es als sein illegal besetztes Territorium.
30 Meter Knick im Zaun, sein größter Erfolg
Ist die Grenze also wirklich eine Grenze? Ja, sagt die Regierung von Südossetien. Ohne diese Grenze wäre ihr Land nur das, als was es der größte Teil der Welt sieht: ein Teil von Georgien. Ja, sagen die Regierungen von Russland, Nicaragua und Venezuela; auch der pazifische Inselstaat Nauru hat Südossetien anerkannt. Russland hat nach Schätzungen der EU-Beobachter 4.500 Soldaten stationiert, die klarmachen, wie ernst es ihm mit seinem Ja ist. Nein, sagen die Politiker in der Hauptstadt Tiflis und die meisten Georgier, das ist keine Grenze, sondern eine Okkupationslinie. Die georgische Regierung vermeidet alles, was so aussieht, als würde sie Südossetien als Ausland behandeln.
Deshalb hat Hans-Heinrich Schneider heute Morgen keinen georgischen Grenzposten oder Soldaten gesehen, als sein Jeep in Richtung der Zaunpfähle fuhr, die die Linie zwischen Georgien und Südossetien markieren, sondern ausschließlich normale Polizisten. Er stoppte nicht an Checkpoints der Armee, sondern an kleinen grauen Häusern mit Schrägdach, an denen in großen schwarzen Buchstaben „Polizei“ steht. Auf Englisch, damit es die ganze Welt versteht. Je näher man der Grenze kommt, desto mehr sehen die Polizisten wie Soldaten aus. Aus Pistolen werden Maschinenpistolen und aus Maschinenpistolen Sturmgewehre. Dort, wo man die grünen Schilder schon sehen kann, auf die Russen und Südosseten groß und in weiß „Staatsgrenze“ geschrieben haben – ebenfalls in Englisch –, tragen die georgischen Männer in den blauen Uniformen Granaten am Gürtel. Spezialtruppen des Innenministeriums.
Etwa fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an der Hans-Heinrich Schneider sich Schlamm angesehen hat, macht die schnurgerade Zaunreihe plötzlich einen Knick, als hätte sie sich mal eben überlegt, links abzubiegen. Ungefähr 30 Meter geht das so, dann macht sie wieder einen Knick und läuft in die gleiche Richtung weiter wie zuvor. Dieser Knick ist Hans-Heinrich Schneiders größter Erfolg. „Ja, die Sache mit den Gräbern“, sagt er. „Das gab richtig Ärger.“
2013 war das, im Mai. Auch damals war Schneider Chef des Feldbüros der Monitoring-Mission in Gori. Das ist die Geburtsstadt des sowjetischen Diktators Josef Stalin und eine von drei Städten, aus denen die EU-Beobachter auf Patrouille fahren, die südossetische Hauptstadt Tschinwali liegt gut 30 Kilometer nördlich. Damals, im Mai 2013, riefen die russischen Soldaten die Hotline an.
Offiziell reden die georgische Regierung auf der einen Seite und die russische Armee und die südossetischen Politiker auf der anderen nicht miteinander. Dafür gibt es die Hotline. Wer ein Problem hat, ruft bei den Leuten von der EU an. Und die rufen dann die anderen an. Georgische Bauern würden Südosseten bedrohen, sagten die Anrufer damals ins Telefon. Als Hans-Heinrich Schneider ankommt, sieht er: georgische Bauern, georgische Polizisten, russische Soldaten. Geschrei, Drohungen, Fäuste, Maschinenpistolen. Alle telefonieren, die Russen mit Moskau und Tschinwali, die Georgier mit Tiflis.
Die Bauern hatten sich mit ein paar Bauarbeitern angelegt, die weitere Zaunpfähle einschlagen wollten. Weil der Zaun sie von fünf Gräbern ihrer Verwandten abgeschnitten hätte, sagt Hans-Heinrich Schneider, „natürlich regen die sich da auf.“ Aber auch die Gegenseite ist wütend. „Wehe, du gehst noch einen Schritt weiter“, droht ihm der Vizechef der südossetischen Grenztruppen. Wenn Schneider das erzählt, den Kopf leicht zur Seite gelegt, lächelnd, dann klingt das wie ein Bauernschwank, ein Nachbarschaftsstreit in einem brandenburgischen Dorf. Nur dass hier aus solchen Lokalpossen ein Krieg werden kann.
„Ich habe versucht, das kleinzuhalten“, sagt Hans-Heinrich Schneider. Er ruft einen Offizier bei den Russen an, ein Hardliner, sagt Schneider, aber sie vertrauen einander, nennen sich beim Vornamen. Hans sagt Juri, Juri sagt Hans. Um ein oder zwei Uhr ist Hans-Heinrich Schneider bei den Gräbern angekommen, abends gegen sieben Uhr fährt er wieder. Der Zaun wird weiter gebaut, aber um die Gräber herum. Hans-Heinrich Schneider hat den Georgiern geholfen, ein paar Meter ihres Landes zurückzubekommen. Die Bauern können zu den Gräbern. Alles gut.
Aber die Regierung in Tiflis ist nicht glücklich.
„Aus ihrer Sicht habe ich sie quasi dazu gezwungen, mit den Russen über den Grenzverlauf zu verhandeln, und ihn damit legitimiert“, sagt Hans-Heinrich Schneider. Je mehr man über die Grenze redet, desto mehr wird sie tatsächlich zu einer. Hat er seine Kompetenzen überschritten? Die EU-Beobachter sollen sich darum kümmern, dass beide Seiten mehr miteinander reden, Vertrauen schaffen. Aber keine Partei ergreifen. „Dienst nach Vorschrift war das sicher nicht“, sagt Hans-Heinrich Schneider. Aber Dienst nach Vorschrift will er auch nicht machen. Er ist freier als andere, weil er auch Pensionär sein könnte. Sich in Bonn um den Alfterer Sport-Club kümmern – 700 Mitglieder, Leichtathletik, Radfahren, Volleyball. Er ist der Geschäftsführer, läuft selbst zweimal die Woche, aber keine Marathons mehr in seinem Alter. Er hat keine Karriere zu verlieren, er will auch keine mehr machen. Es ist schwer, Schneider zu drohen.
Es sei denn, man wüsste: Er hat Angst, bald für immer nach Hause zu müssen.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — South Ossetia map. – Landkarte
2.) von Oben — Grenzzaun nahe Khurvaleti Ort
Attribution: Jelger Groeneveld