Was bleibt
Erstellt von Gast-Autor am Mittwoch 12. November 2014
Christa Wolfs Moskauer Tagebücher
Autor: U. Gellermann
Datum: 11. November 2014
—–
Buchtitel: Moskauer Tagebücher
Buchautor: Christa Wolf
Verlag: Suhrkamp
Heute würde Christa Wolf – lebte sie denn noch – als Russland-Versteherin bemerkt und gegeißelt werden. Denn sie kannte die Sowjetunion gut, dieses Nationenkonglomerat, das ob seiner gemeinsamen russischen Verständigungssprache und der gemeinsamen Geschichte russisch dominiert und geprägt war. Sie, die sehr deutsche Schriftstellerin, hätte weder das Leid, das wir den Russen angetan haben, vergessen, noch die Hoffnung, die Sozialisten in aller Welt mit dem ersten sozialistischen Land verbanden, und dessen Selbstzerstörung sie aus der Nähe beobachtete und notierte. Genau in diesen Tagen, in denen sich das russisch-deutsche Verhältnis um jeden Tag verschlechtert, an dem die USA die deutschen Verhältnisse diktieren, liegen die „Moskauer Tagebücher“ der Schriftstellerin vor. In dieser Arbeit – sorgsam ediert von Gerhard Wolf – kann man dem nachspüren, was der Untertitel der Tagebücher verheißt: „Wer wir sind und wer wir waren“.
Gleich bei der ersten Reise 1957 trifft Christa Wolf eine lebendige Hoffnung auf ein anderes, besseres System: Auf eine Kellnerin, die Größen der Weltliteratur „Pushkin, Lermontow, Gogol usw.“ liest, und die darüber mit der Schriftstellerin redet. Die Begebenheit erinnert an das Lenin-Zitat von der Köchin, die in Lage sein muss, die Staatsmacht auszuüben; an eine emanzipatorische Idee, die weit über das alltägliche Geschwätz von der Freiheit hinausragt, in jenes Reich der Freiheit, in dem die materiellen und geistigen Bedingungen des Einzelnen die Freiheit aller garantieren. Lange Jahre später, auf der sechsten Reise, trifft sie auf den Schriftsteller Efin Etkind, der wegen seiner Unterstützung Solschenyzins ins Ausland emigrieren musste. Es ist dieser Schriftsteller, der in der Stasi-Akte zu Christa Wolf erwähnt wird. Eine Notiz des russischen Geheimdienstes hatte den Kontakt der Autorin mit dem verfemten Etkind vermerkt. Und von ihm findet sich auch, auf den letzten Seiten der Tagebücher, eine Kurzgeschichte, die von der brutalen Judenverfolgung in der Sowjetunion der frühen 50er Jahre handelt.
Zwischen den Polen einer sozialistischen Morgenröte, die für Christa Wolf über den Trümmern des deutschen Faschismus erglühte, und deren trübe reale Abenddämmerung bis in die Perestroika reichte – dem unzureichenden Versuch der alten Sowjetunion eine neue Verfassung zu geben – bewegen sich die Notizen der Schriftstellerin. Es sind die Erinnerungen der großen Autorin, die unerschrocken hinschaute, nachdachte, schrieb und doch „nicht auf den Traum von einem sozialistischen Deutschland verzichten“ wollte. So jedenfalls schrieb es der russische Dichter und Dissident Lew Kopelew in seinem Aufsatz auf, mit dem er die ebenso dumme wie eklige Reich-Ranicki-Kampagne gegen die vorgebliche „Staatsdichterin“ energisch zurück wies. Auf den Seiten dazwischen treffen wir auf alle möglichen russischen Menschen und Zustände, aber auch auf Max Frischs russisches Tagebuch (Frisch und Wolf trafen sich auf einer Schriftsteller-Reise in der Sowjetunion), auf russische Autoren und Funktionäre und auf ein bemerkenswertes, überraschend aktuelles Interview, das Christa Wolf auf ihrer siebten Russlandreise 1973 mit dem Schriftsteller Konstantin Simonow geführt hat.
Simonow, der den Krieg der Deutschen gegen die Russen im Range eines Oberst der Roten Armee und als Kriegsberichterstatter erlebte und die Mordbrennerei mit eigenen Augen gesehen hatte, war nicht vom Hass gegen die Deutschen erfüllt. In seinem Gespräch mit Christa Wolf glaubte er entschieden zu wissen, dass es keine europäische Zukunft ohne das gäbe, was die Deutschen und die Russen verbindet. Und er wußte nicht nur vom „Hamburger Aufstand“ zu erzählen, sondern hatte eben auch von Lessing, Goethe und Schiller bis hin zu Heinrich Böll den Kanon der deutschen Literatur gelesen. Simonow zählt zu der langen Reihe russischer Autoren, die den Krieg zum zentralen Thema ihrer Arbeit machten. Es ist nicht zufällig, dass es kaum Deutsche gibt, die aus diesem Krieg, den die Russen den „Großen Vaterländischen“ nennen, Literatur entwickelt haben. Und es ist auch kein Zufall, dass die wenigen Schriftsteller, die sich dieses Themas annahmen – Erich Loest, Hermann Kant und Dieter Noll – in der DDR zu Hause waren. Im Westen – sieht man von den unerträglichen, die Wehrmacht reinwaschenden Groschen-Romanen der „Landser“-Heftchen ab – wurde der Vernichtungskrieg ebenso beschwiegen wie lange Zeit der Holocaust. Über den Krieg in Russland schweigt das vereinte Deutschland bis heute.
Was bleibt, was ist geblieben? Es bleibt ein weiteres, posthumes Buch einer aussergewöhnlichen Schriftstellerin. Ein Buch, das die Haltung von Christa Wolf spiegelt: Aufrichtig, anständig, selbstkritisch und nachdenklich. Ein Buch, das wie ein Steinbruch sein könnte, aus dem Erkenntnis-Stein für Erkenntnis-Stein für den Bau eines europäischen Hauses unter Einschluss Russlands entnommen werden könnte – wenn die politische Macht nicht in den Händen von geschichtsvergessenen Idioten läge.
—————————————————————————————————————————
Grafikquelle :
Christa Wolf (Oktober 1989)