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RENTENANGST

Wann fällt Macron ?

Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 19. März 2023

Frankreich: Rentenreform um jeden Preis?

Von Steffen Vogel

Es ist eine Kraftprobe mit ungewissem Ausgang: Mit seiner geplanten Rentenreform hat Emmanuel Macron große Teile des Landes gegen sich aufgebracht. Die Gewerkschaften rufen vereint wie lange nicht zu Streiks auf, Millionen Menschen strömen zu den Großdemonstrationen. Bereits zu Beginn waren die Proteste massiver, als es selbst die klassenkämpferische Gewerkschaft CGT erwartet hatte. In Umfragen lehnen drei Viertel der Französinnen und Franzosen das Vorhaben ab. Derzeit ist es sogar alles andere als ausgemacht, dass Macrons Reform bis zum geplanten Abschluss der parlamentarischen Beratungen am 27. März eine Mehrheit in der Nationalversammlung finden wird.

Das stellt den französischen Präsidenten vor ein gewaltiges, aber zu einem guten Teil selbstverschuldetes Dilemma: Macron hat seine politische Glaubwürdigkeit an das Gelingen dieser seiner wichtigsten innenpolitischen Reform geknüpft. Daher steht und fällt mit ihr auch seine Bilanz als Staatschef. Kapituliert Macron vor dem Volkszorn, wird er unweigerlich als gescheiterter Modernisierer gelten. Schaltet er hingegen auf stur und setzt die Reform gegen den Mehrheitswillen und am Ende nötigenfalls sogar per Dekret durch, riskiert er eine weitere Spaltung des Landes, zulasten der französischen Demokratie.

Die massive Ablehnung, die der Rentenreform allenthalben entgegenschlägt, selbst aus Teilen der Regierungsfraktion, erklärt sich nur zum Teil aus den konkreten Plänen von Macron und Premierministerin Élisabeth Borne. Diese sind weniger weitreichend als noch im ersten, durch die Pandemie gestoppten Anlauf von 2019.[1] So soll der Rentenbeginn nun von 62 auf 64 Jahre angehoben werden, statt wie ursprünglich geplant auf 65 Jahre. Da das Vorhaben aber Gruppen stärker belastet, die in der Arbeitswelt ohnehin benachteiligt sind, fügt es sich in den Augen vieler in das größere Panorama einer zunehmend von Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägten Gesellschaft – und in das Bild einer abgehobenen Elite, die blind ist für die soziale Lage einer Mehrheit der Französinnen und Franzosen. Damit sind alle Zutaten vorhanden, die es für eine harte Auseinandersetzung braucht – vor allem in einer politischen Kultur, in der Konflikt wichtiger ist als Konsens.

Von außen betrachtet mag die Empörung irritieren. Denn das französische Rentensystem ist überdurchschnittlich teuer und extrem komplex: Die jährlichen Kosten entsprechen knapp 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, in Deutschland sind es zehn, im OECD-Schnitt acht Prozent.[2] Zudem existieren gleich 42 Rentensysteme, die oft nur bestimmten Berufsgruppen offenstehen und teils hoch defizitär sind. Allein schon die von der Regierung geplante Abschaffung zumindest eines Teils der vielen Spezialkassen würde eine Reform rechtfertigen. Dass Millionen Menschen vermeintlich dafür demonstrieren, weiterhin mit 62 Jahren in den Ruhestand eintreten zu dürfen, erscheint gerade in Deutschland, wo schon die Rente mit 70 debattiert wird, wie aus der Zeit gefallen.

Tatsächlich aber gehen bereits jetzt viele Französinnen und Franzosen deutlich später in Rente, zumindest sofern ihr Körper es mitmacht. Denn um eine abschlagsfreie Rente erhalten zu können, müssen sie 42 Beitragsjahre vorweisen, künftig sollen es 43 Jahre sein. Genau diese zeitgleiche Erhöhung des Renteneintritts und der Beitragsjahre führt aber zu Ungerechtigkeiten, insbesondere mit Blick auf drei Gruppen. Das gilt erstens für Menschen, die nicht studiert haben: Wer mit 20 Jahren erwerbstätig wird, kann bisher mit 62 Jahren in den Ruhestand gehen. Nach der neuen Regelung hätte er hingegen erst mit 63 lange genug Beiträge eingezahlt und würde ein weiteres Jahr später das Renteneintrittsalter erreichen – müsste also zwei Jahre länger arbeiten. Für Akademiker hingegen ist die Altersgrenze schon jetzt ohne Belang, da sie aufgrund ihres Studiums ohnehin länger arbeiten müssen, um abschlagsfrei zu sein. Wer künftig beispielsweise mit 23 Jahren die Uni abschließt, hat nach dem neuen System die fälligen Beitragsjahre an seinem 66. Geburtstag beisammen, also nur ein Jahr später als zuvor. Und für alle, die noch länger studieren, greift wie bisher die Höchstgrenze von 67 Jahren, ab der jeder spätestens ohne Abzüge in Rente gehen darf. Akademiker leiden damit weniger unter der Reform als ihre geringer qualifizierten Altersgenossen – die überdies schon jetzt weniger von ihrer Rente haben. Denn nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen stirbt statistisch gesehen beispielsweise eine Arbeiterin drei Jahre früher als eine Managerin, und ein Arbeiter lebt sogar über sechs Jahre kürzer als ein Manager.[3] Diese im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle Ungleichheit würde durch die Reform noch verstärkt.

Ähnlich ergeht es, zweitens, den Müttern, für die sich die Anrechnung von Kindererziehungszeiten ungünstig auswirkt. Dadurch werden sie im Durchschnitt etwas länger zusätzlich arbeiten müssen als Männer. Auch in diesem Fall verschärfen die Regierungspläne bestehende Ungerechtigkeiten: Da Frauen im Schnitt deutlich weniger verdienen als Männer, fallen ihre Renten entsprechend um 40 Prozent niedriger aus – in deren Genuss sie nun obendrein später kommen würden.[4] Selbst der Minister für Parlamentsbeziehungen, Franck Riester, musste einräumen, Frauen würden durch die Reform „ein wenig bestraft“.[5]

So aber fühlen sich, drittens, insgesamt viele ältere Arbeitnehmer. Derzeit ist in Frankreich nur ein knappes Drittel der über 60jährigen noch im Beruf, in der EU liegt der Durchschnitt immerhin bei 45 Prozent.[6] Selbst wer körperlich fit genug und arbeitswillig ist, findet ab einem gewissen Alter in Frankreich schwerer einen Job als anderswo. Ein höheres Renteneintrittsalter bedeutet für viele daher nicht, dass sie länger im Beruf bleiben müssen, sondern dass sie länger arbeitslos sein werden. Auch das trifft geringer Qualifizierte häufiger als Akademiker. Es sind diese sozialen Unwuchten, die derzeit landesweit Menschen auf die Straße treiben.

Ungerecht, aber notwendig?

Die Befürworter von Macrons Plänen bemühen dagegen den Sachzwang. So erklärte der ehemalige Fraktionschef der Regierungspartei, Gilles Le Gendre ganz offen: „Ich sage nicht, dass diese Reform gerecht ist, sondern dass sie notwendig ist.“ Die Regierung argumentiert, angesichts der alternden Bevölkerung drohe den Rentenkassen ein Milliardendefizit, das früher oder später das Rentensystem gefährden werde. Ihre Reform sei daher unabdingbar, um den Solidarvertrag zu retten.[7]

Wie hoch dieses Defizit tatsächlich ausfallen wird, ist allerdings stark umstritten, auch weil es von schwer kalkulierbaren Faktoren wie der erwarteten Arbeitslosenquote abhängt. Macrons Kritiker werfen ihm vor, bewusst ein düsteres Bild zu zeichnen, tatsächlich gehe es ihm bei seiner Reform vor allem um die erwarteten Mehreinnahmen von 20 Mrd. Euro jährlich, die er unter anderem zur von der EU angemahnten Haushaltskonsolidierung einplanen könnte.[8]

Den Sozialstaat verteidigen

Quelle          :        Blätter-online            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben        —     Manifestation contre la réforme des retraites au Mans, le 15 mars 2023

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