Wahlfiasko, Behördenmurks
Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 21. Oktober 2021
Eine Liebeserklärung an den »failed state« Berlin
Das ist nicht Berlin, das ist Deutschland – Berlin zeigt sich nur als stinkender Kopf.
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Warum Berlin so dysfunktional ist? Die Stadt wurde nicht einfach nur kaputtgespart. Es liegt auch an der Niemandsverantwortung, der bürokratischen Entsprechung des Niemandslands.
Es gibt im hyperkontroversen 21. Jahrhundert nicht mehr viele Themen, die in Deutschland größte Einigkeit versprechen, aber die Berliner Stadtschmähung gehört dazu. Weil die Stadt nicht funktioniert, immer noch nicht, immer wieder nicht. »Failed State Berlin« ist sogar eine eigene politische und mediale Gattung geworden, mit dem ikonischen Flughafendebakel als Maskottchen.
Bürgeramtstermine gibt es nicht, Kaputtes wird nicht repariert, Straßenbaustellen kommen mit der Geschwindigkeit der Kontinentaldrift voran, niemand ist für irgendwas zuständig, über Jahre fuhr das wichtigste Verkehrsmittel der Stadt, die S-Bahn, unregelmäßig oder gar nicht, Geburtsurkunden dauern mit Glück zwei Monate, vorher gibt es kein Kindergeld, wenn das Geburtskrankenhaus in einem anderen als dem Wohnbezirk ist, weil, kein Scherz, die Bezirke untereinander nicht vernetzt sind. Mein Lieblingsfoto des dysfunktionalen Berlin ist eine digitale Echtzeitanzeige für Straßenbahnhaltestellen. Überall auf dem Planeten steht dort, wann welche Bahn als Nächstes kommt, womit man endlich den gedruckten Fahrplan abgeschafft hat. In Berlin steht auf der Anzeige regelmäßig: »Bitte beachten Sie den Fahrplanaushang«.
Meist wird gegen das »Rote Berlin« aus konservativer Richtung geschossen, ein einfaches Ziel. Aber die Frage, warum genau Berlin so ist, wie es ist, wird irritierend selten gestellt und noch seltener beantwortet. Dafür muss man tiefer bohren.
Die Wahl des Berliner Landesparlaments bietet sich als Ausgangspunkt an, der jüngste Beweis der spektakulären Kaputtheit. Der »Tagesspiegel« hat in seinem glänzenden Newsletter Checkpoint versucht, die verschiedenen Wahlfiaskos zu sortieren. Das ist nicht leicht, denn es gibt buchstäblich Hunderte Versagenspunkte, hier eine Auswahl:
- In einem Wahlbezirk in Reinickendorf wurden beim zeitgleich stattfindenden Volksentscheid 2146 Stimmen abgegeben. Bei 1382 Wahlberechtigten dort ergibt das eine Wahlbeteiligung von 150 Prozent. In 17 Wahlbezirken lag die Wahlbeteiligung über 100 Prozent, in einem Briefwahlbezirk in Tempelhof-Schöneberg sogar 159 Prozent – Weltrekord!
- In Charlottenburg-Wilmersdorf haben alle 22 Wahlbezirke das exakt gleiche, vorläufige amtliche Endergebnis gemeldet. Die Begründung ist noch etwas grotesker als die Tatsache selbst: Die Zahlen wurden geschätzt, weil die Verantwortlichen »nicht erreicht« werden konnten.
- In einzelnen Wahllokalen betrug die Zahl der ungültigen Stimmen bis zu 70 Prozent – weil die falschen Wahlzettel auslagen. Und falsche Wahlzettel müssen als ungültig gewertet werden.
Dieser letzte Punkt führt auf die Spur der Gründe für Berlin als stadtgewordenes Verwaltungsversagen. Falsche Wahlzettel lagen aus, weil die Kisten mit den Wahlzetteln falsch beschriftet worden waren, wie wiederum der »Tagesspiegel« herausfand. Und zwar von der Druckerei beziehungsweise dem Dienstleister, den die Druckerei mit der Wahlzettelpackung beauftragt hatte. Die falsche Beschriftung fiel bereits im August auf, aber da war ein Gutteil der Wahlzettel schon an die Wahlbezirke ausgeliefert. Die Landeswahlleitung reagierte sofort – haha, natürlich nicht. Sie schickte bloß ein amtliches Zusatzblatt hinterher. Mit der Bitte, die Wahlzettel zu überprüfen. Was bei Paletten und Aberpaletten höchstens stichprobenartig hätte funktionieren können, wenn überhaupt. Es gab in Berlin pro Person fünf Wahlzettel. Bei 2.470.693 Wahlberechtigten und der Praxis, für alle Fälle rund 130 Prozent der maximal benötigten Wahlzettel zu drucken, ergab das grob überschlagen 15 Millionen Papiere.
Warum kann ein Fehler, der Mitte August bemerkt wird, bis Ende September nicht behoben werden? Eine Berliner Legende ist der nächste Schritt auf der Spurensuche nach den Urgründen, es gibt in Berlin nämlich eine organisatorische Besonderheit: die Niemandsverantwortung, die bürokratische Entsprechung des Niemandslands. Für überraschend viele Dinge in Berlin ist niemand zuständig. Was aber niemanden daran hindert, jeweils die Verantwortung oder die Schuld weiterzuschieben.
Nur noch ein Funktionsskelett um ein Organisationsvakuum herum
Ein Satz aus einem Insiderbericht zum Wahldebakel bei den Briefwahlunterlagen (ja, auch das hat nicht funktioniert) konkretisiert die Spur: »Die Briefwahlunterlagen werden händisch durch Leiharbeiter gepackt und dann an die PIN AG übergeben. Bei fast einer Million angeforderter Unterlagen entstehen in Akkordarbeit Fehler. In 30 Jahren hat es das Land Berlin nicht geschafft, diese Arbeit durch eine zuverlässige Maschine zu ersetzen.« Mit der PIN AG hatte es übrigens schon 2016, 2017 und 2019 bei Wahlen Probleme gegeben. Aber das Land Berlin schreibt wegen eines Rahmenvertrags den Dienstleister vor, deshalb darf die Verwaltung niemand anderen beauftragen.
Leiharbeiter, PIN AG, 30 Jahre kein Fortschritt, konsequenzenloses Dauerversagen – langsam entblättert sich der Kern. Die Niemandsverantwortung in der Administration muss, wie die vielen anderen Dysfunktionalitäten, als Symptom betrachtet werden. So reagieren Leute, die überfordert sind, zu schlecht ausgebildet oder sich alleingelassen fühlen. Die meisten Verwaltungsgrotesken der Stadt Berlin sind durch die Überlastung der Mitarbeitenden und lebensferne Überbürokratie entstanden oder begünstigt worden.
Berlin wurde kaputtgespart oder besser: noch kaputtergespart. Es hat schon vorher nicht allzu viel funktioniert. Über Jahre wurde nichts investiert. Nicht in Digitalisierung, nicht in Weiterbildung, nicht in sachkundiges Personal, nicht in irgendwas. Es wurden so viele Stellen teilweise über Jahrzehnte nicht neu besetzt, dass sich oft nur noch ein Funktionsskelett um ein Organisationsvakuum herum aufrechterhalten ließ. Die Justiz ist deshalb ein Trümmerhaufen. Das Berliner Kammergericht war wegen eines Trojaners über Monate weitgehend außer Gefecht. Es hatte teilweise über 20 Jahre alte Software in Betrieb. Bei der Berliner Staatsanwaltschaft gab es vor 15 Jahren 22 Wirtschaftsreferenten, also Leute, die die komplexen Finanzstrukturen der Organisierten Kriminalität erkennen und nachvollziehen könnten. Heute gibt es noch acht Wirtschaftsreferenten, von denen drei dauerhaft krankgeschrieben sind.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Oben — Linien U2, U5, U8 – Eingänge zum U-Bahnhof auf dem Alexanderplatz
IngolfBLN – Berlin – U-Bahnhof Alexanderplatz Uploaded by Magnus Manske
- CC BY-SA 2.0
- File:Berlin – U-Bahnhof Alexanderplatz (7811726782).jpg
- Created: 19 August 2012
Unten — Sascha Lobo; 10 Jahre Wikipedia; Party am 15.01.2011 in Berlin.…
André Krüger, http://boschblog.de/ – Supplied by author
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- File:Wp10 20110115 IMG 9974.jpg
- Erstellt: 15. Januar 2011
Erstellt am Donnerstag 21. Oktober 2021 um 13:50 und abgelegt unter Berlin, Kriminelles, Positionen, Überregional. Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed. Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.