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Wahlen in der Türkei

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 1. Juni 2023

Urnengang im Kartenhaus

Ein Debattenbeitrag von Cem-Odos Güler

Erdoğan hat ein fragiles Finanzsystem mit starken Abhängigkeiten geschaffen. Die wirtschaftliche Dauerkrise erhöht auch den Druck auf die Demokratie.

Recep Tayyip Erdoğan dürfte in einem Punkt richtiger liegen, als er selbst denken mag. Als der türkische Präsident in der Nacht zu Montag seinen Wahlsieg verkündete, sagte er, seine Mitbürger hätten bei der Abstimmung „ihren Willen an den Urnen verteidigt“. Immer wieder hat er in seiner Kampagne den demokratischen Willen der Türkei betont, und man muss sagen, dass er recht behalten hat – entgegen seiner eigenen Politik, die Opposition im Land systematisch zu schwächen.

Es scheint paradox: In der Türkei wählt eine Mehrheit erneut Erdoğan, einen religiös-nationalistischen Präsidenten, der das Land zuletzt in eine massive Wirtschaftskrise geführt hat. Der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu kämpft sich auf 48 Prozent der Stimmen. Das ist angesichts der geschwächten Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und einer massiven Denunziationskampagne gegen ihn ein Erfolg.

Genau hierin zeigt sich auch der demokratische Wille in der Türkei, den Erdoğan eigentlich meinen sollte: Trotz ihrer systematischen Benachteiligung ist die Opposition der Regierung bei einer Wahl so gefährlich geworden wie in den vergangenen 20 Jahren nicht. Das ist angesichts der hohen Erwartungen, die durch Prognosen über einen Sieg der Opposition beflügelt wurden, zwar ein schwacher Trost für die Menschen in der Türkei. Doch die demokratischen Institu­tio­nen im Land haben sich als bemerkenswert resilient erwiesen.

Das zeigt sich an der hohen Wahlbeteiligung mit über 86 Prozent am 14. Mai und noch 84 Prozent bei der Stichwahl am Sonntag. Die Be­ob­ach­te­r*in­nen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bezeichneten die Wahlen als „gut organisiert“. Kritik äußerte die Organisation dagegen wiederholt an den ungleichen Wettbewerbsbedingungen und „einem ungerechtfertigten Vorteil des Amtsinhabers“ etwa wegen einer klaren Benachteiligung der Opposition in den Medien des Landes und „den anhaltenden Beschränkungen der Meinungsfreiheit“.

Wahlbetrug unwahrscheinlich

Trotzdem haben auch die Oppositionsparteien bis zuletzt keinen Einspruch gegen das Wahl­ergebnis erhoben. Die CHP von Kemal Kılıçdaroğlu hatte nach eigenen Angaben anderthalb Jahre an der Wahlvorbereitung gearbeitet und dabei auch die parteiinterne Wahlbeobachtungsmission massiv verstärkt. Im Vorfeld der Stichwahlen bezeichnete die CHP ihre Anstrengungen diesbezüglich als „sehr erfolgreich“. Man muss davon ausgehen, dass die Türkei wirklich so abgestimmt hat, wie es das Ergebnis zeigt.

Der Alltag in der Türkei wird derzeit von einer massiven Wirtschaftskrise bestimmt, für deren Fortgang viele Menschen im Land Erdoğan verantwortlich machen, darunter durchaus auch seine eigenen Wähler*innen. Nach seiner Wiederwahl verlor die türkische Lira erneut an Kraft: Der Wechselkurs zum Euro liegt bei inzwischen etwa 22 zu 1, noch 2017 waren 4 Lira etwa 1 Euro wert.

Wer Schulden im Ausland hat, und das trifft auf die privatwirtschaftlichen Unternehmen in der Türkei in großem Maße zu, muss diese Verbindlichkeiten immer teurer bezahlen. Mit schuldenfinanzierten Ausgaben wird die Wirtschaftsleistung weiter aufrechterhalten. Erdoğan übt dafür auch Druck auf die Zentralbank aus, damit sie den Leitzins niedrig hält und Unternehmen günstige Kredite aufnehmen können.

Die Auswirkungen dieser Geldpolitik sind in der Türkei überall zu spüren: an dem Run auf Sachwerte, an den massiven Preissteigerungen bei Immobilien, an den stark gestiegenen Lebensmittelpreisen. Die Inflation vernichtet die Kaufkraft der Menschen, dennoch wird die Konjunktur des Landes durch ein massives Kreditprogramm weiter aufgeheizt. Die National-Religiösen haben in der Türkei ein fragiles Kartenhaus geschaffen, das bei dem leisesten Stoß in sich zusammenzufallen droht.

Erdoğan hat sich unentbehrlich gemacht

Was passiert, wenn die Nachfrage vollends einbricht? Was passiert, wenn die Vereinigten Arabischen Emirate als einer der größten Gläubiger der Türkei ihre Kreditvergabe überdenken? Erdoğan hat sich in dieser fragilen Wirtschaftsordnung unentbehrlich gemacht: Er verteilt die auf Pump finanzierten Konjunkturgewinne in Form von Mindestlohnsteigerungen und Rentenerhöhungen. Diese Geldspritzen verpuffen wegen der Inflationsrate zwar direkt wieder, schaffen aber kurzzeitige Linderungen, die besonders vor den Wahlen auf Zuspruch stoßen.

Quelle      :         TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Recep Tayyip Erdoğan, Angela Merkel, Rita Süssmuth, Halil Akkanat

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Unten     —   https://twitter.com/Smiley007de

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte   

2 Kommentare zu “Wahlen in der Türkei”

  1. Regenbogenhexe sagt:

    Özdemir verurteilt Wiederwahl Erdoğans von Türken in Deutschland
    Landwirtschaftsminister Cem Özdemir hat sich erschüttert über die türkischen Wahlberechtigten in Deutschland gezeigt, die mit einer deutlichen Mehrheit für Erdoğan gestimmt haben – »ohne für die Folgen einstehen zu müssen.«
    Nachdem bei der Stichwahl um das türkische Präsidentenamt eine deutliche Mehrheit der Wahlberechtigten in Deutschland für Recep Tayyip Erdoğan gestimmt hat, zeigte Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir sich betroffen.

    Auf Twitter schrieb der Grünenpolitiker : »Mich interessiert was in Deutschland los ist, wo die Anhänger von Erdoğan feiern, ohne für die Folgen ihrer Wahl einstehen zu müssen. Das müssen viele Menschen in der Türkei durch Armut & Unfreiheit.« Diese Menschen seien »zurecht wütend«. Özdemir erklärte: »Darüber wird zu reden sein!«

    https://www.spiegel.de/ausland/tuerkei-cem-oezdemir-verurteilt-wiederwahl-von-recep-tayyip-erdogan-von-tuerken-in-deutschland-a-3d9b2767-0ff8-4234-9f44-d4621f7f90f3#:~:text=%C3%96zdemir%20verurteilt%20Wiederwahl%20Erdo%C4%9Fans,Folgen%20einstehen%20zu%20m%C3%BCssen.%C2%AB

  2. Regenbogenhexe sagt:

    Türkei-Wahl: Schlag gegen alle progressiven Kräfte
    Deniz Seyhun und Tarek Shukrallah zum Ausgang der Türkei- Wahl.

    In der Türkei ist der Autokrat Recep Tayyip Erdogan als Staatspräsident knapp wiedergewählt worden. Das Ergebnis ist ein harter und beängstigender Schlag gegen alle progressiven Kräfte in der Türkei, und ist nicht zuletzt auch eine massive Bedrohung für die gesamte Region.

    Der Sieg Erdoğans war nur möglich, weil er demokratische und rechtsstaatliche Fundamente abgeschafft und ein System zu seinen Gunsten erschaffen hat. Die Medien sind fasst unter der kompletten Kontrolle der Regierung. Während des Wahlkampfes und auch sonst gibt es quasi eine Dauerbeschallung der Regierung, welche auch hierzulande konsumiert wird. Freier Journalismus ist unmöglich und wird geahndet. Selbst bei Straßenreportagen müssen die Menschen Konsequenzen fürchten. Mediale Auftritte der Oppositionellen gab es nur vereinzelt. Einem gemeinsamen öffentlichen Auftritt der beiden Spitzenkandidaten ist Erdogan ausgewichen.

    Schon unmittelbar nach seiner Wiederwahl hat Erdogan deutlich gemacht, dass sein Wahlsieg eine Kampfansage ist. Betroffen sind alle, die nicht in sein islamistisches Weltbild passen. Oppositionelle Kräfte, wie die HDP (Demokratische Partei der Völker, im Wahlkampf YSP) und auch die TİP (Arbeiterpartei der Türkei) brauchen jetzt stärker als zuvor unsere Solidarität. Wer dieser Tage Erdoğan zur Wahl gratuliert, unterstützt damit ein Regime, das Oppositionelle unterdrückt und Menschenrechte missachtet. Gleichzeitig zeigen sich die gleichen Politiker*innen empört über die Anhängerschaft Erdogan’s in Deutschland.

    Außerhalb der Türkei hat Deutschland die weltweit größte türkische Community vorzuweisen – mit rund drei Millionen Menschen, wovon die Hälfte in der Türkei nicht wahlberechtigt ist. Wie so oft wird aus der Mehrheit der Wählenden eine „Mehrheit der Deutsch-Türken“ gemacht. Von den Türkeistämmigen in Deutschland beteiligt sich nur ein Viertel an türkischen Wahlen. Die Hälfte vom Rest der verbliebenen wahlberechtigten „Deutsch-Türken“ wiederum verzichtet komplett darauf, ihre Stimme bei einer Türkei-Wahl abzugeben. Studien legen nahe, dass diese über zwei Millionen türkeistämmigen „Nicht-Wähler“ das Programm und die Ziele Erdoğans mehrheitlich ablehnen. Tatsächlich machen die knapp 500.000 (65 Prozent von 750.000) Erdoğan-Wählenden weniger als 17 Prozent der Türkeistämmigen in Deutschland aus.

    https://dielinke.berlin/aktuelles/tuerkei-wahl-schlag-gegen-alle-progressiven-kraefte/

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