Von São Paulo lernen
Erstellt von Redaktion am Montag 22. November 2021
Die Ernährung ist klima-, umwelt -schädlich + schadet der Gesundheit
Maulsperren für Politiker-Innen
Von Annette Jensen
Internationale Erfahrungen zeigen, dass Bürgerräte zu klugen und durchaus radikalen Vorschlägen in der Lage sind. Nötig sind ein radikaler Umbau und mehr demokratische Beteiligung.
Die heutige Art der Ernährung führt in den Abgrund. Was wir essen und trinken, ist für 21 bis 37 Prozent der klimaschädlichen Gase verantwortlich. Das beginnt bei abgeholzten Regenwäldern für Tierfutter, geht über klimaschädlichen Kunstdünger bis hin zu hohem Fleischkonsum und immenser Lebensmittelverschwendung. Hinzu kommen aufwendige Transportketten: Wer heute eine Tiefkühlpizza in den Einkaufswagen legt, entscheidet sich für ein Produkt, dessen Zutaten mit hoher Wahrscheinlichkeit aus mehreren Kontinenten stammen. Dabei ist die Klimakatastrophe längst nicht das einzige Umweltproblem, das das heutige Ernährungssystem mitverursacht. Hinzu kommen Artensterben und der gestörte Stickstoff-Phosphor-Kreislauf – beides ist bedrohlich für die Zukunft der Menschheit. Zwar findet vieles davon nicht unmittelbar in den Städten statt – aber ohne die dortige Nachfrage gäbe es einen Großteil der Probleme nicht. Fast 100 Städte aus aller Welt haben sich deshalb mit der Glasgow-Erklärung „Ernährung und Klima“ selbst verpflichtet, eine neue, ganzheitliche Ernährungspolitik zu entwickeln. Zu den Unterzeichnenden gehören unterschiedliche Kommunen wie São Paulo und Malmö, Darebin in Australien und Okene in Nigeria. Deutsche Städte fehlen bisher. Klimaschutz wird hier vor allem als Energie- und Mobilitätsproblem wahrgenommen – und oft steht im Land der Ingenieure und Maschinenbauer Technik im Zentrum.
Ernährung ist aber auch ein Gerechtigkeits-, Wirtschafts-, Kultur- und Bildungsthema. Über 800 Millionen Menschen hungern weltweit, vor allem solche in ländlichen Regionen. Der Klimawandel, aber auch der Anbau von Energiepflanzen und Futtermitteln für den Weltmarkt rauben ihnen die Lebensgrundlage. Zugleich nehmen Übergewicht, Adipositas und Allergien weltweit zu. Zentrale Ursache dafür sind hochverarbeitete Lebensmittel, die viel Zucker als Füllstoff enthalten und die Bakterien im Dickdarm verhungern lassen. Wer im Kindesalter überschüssige Kilo ansammelt, wird dieses Problem oftmals nicht mehr los. Für diese Menschen bedeutet das oft Scham – und für die Krankenkassen hohe Kosten wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
„Entlang der gesamten Nahrungsmittelkette [haben sich] nicht nachhaltige Dynamiken verfestigt …, die in erster Linie von industriellen Nahrungs- und Landwirtschaftssystemen herrühren“, analysiert die Glasgow-Erklärung. Nötig seien integrierte und ganzheitliche Ansätze. Dafür müssten vielfältige Gruppen einbezogen werden – von den Arbeiter*innen in der Land- und Lebensmittelwirtschaft über zivilgesellschaftliche Gruppen und Forschende bis hin zu Indigenen und Jugendlichen.
In weiten Teilen der deutschen Politik ist allerdings noch nicht angekommen, dass ein radikaler Umbau des Ernährungssystems nötig ist. Bisher bewegt sich die Debatte auf eher niedrigem Niveau. Da geht es darum, ob die Politik das Recht hat, Grillfreunden ihr Nackensteak madig zu machen oder ein Veggie-Tag in Kantinen einen zu starken Eingriff in die individuelle Freiheit darstellt. Der politische Umgang erinnert an die Aufforderung an das Titanic-Orchester, weiterzuspielen, um die Passagiere nicht zu beunruhigen.
Den Lobbyist-Innen muss ein Lebenslanges Berufsverbot ausgesprochen werden.
Weil Regierungen in Deutschland auf allen Ebenen das Problem nicht in angemessener Weise angehen, müssen die nötigen Anstöße von woanders kommen. Sinnvoll wäre es, auf Bundesebene einen Bürger*innenrat einzurichten, der durch Zufallsauswahl per Los zusammengesetzt ist. Internationale Erfahrungen zeigen, dass Bürger*innenräte zu klugen und durchaus radikalen Vorschlägen in der Lage sind – auch weil Lobbyisten dort keinen Einfluss haben. Stattdessen können sie Expert*innen einladen und befragen.
An Expertise mangelt es nicht. So hat der Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), Johan Rockström, zusammen mit anderen Wissenschaftler*innen einen Speiseplan entwickelt, mit dem sowohl der Planet Erde gesund bleiben als auch die gesamte Erdbevölkerung gut ernährt werden könnte. Pro Kopf und Tag bedeutet das im Durchschnitt: 550 Gramm Obst und Gemüse, 230 Gramm Vollkorngetreide, 75 Gramm Hülsenfrüchte, 50 Gramm Nüsse, 250 Gramm Milchprodukte, 13 Gramm rotes Fleisch, 29 Gramm Geflügel und 28 Gramm Fisch. Wie so etwas umzusetzen ist, ist allerdings noch eine ungelöste Frage.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Ein Paar In-N-Out Cheeseburger. Mittagessen