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Von Atlantis bis Xanadu

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 7. November 2013

Bronzezeitliches Fresko aus Akrotiri auf Santorin – Schiffsprozession aus einer mit einem
Kanal umgebenen Inselstadt zu einer Stadt auf einer anderen Insel oder dem Festland

Umberto Ecos Handbuch der Hirngespinste

Autor: Botho Cude

Rationalgalerie

Datum: 06. November 2013
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Buchtitel: Die Geschichte der legendären Länder und Städte
Buchautor: Umberto Eco
Verlag: Hanser

Träume sind nur der Abfall von Neuronengewittern im Gehirn.
Moderne Weisheit

Umberto Eco, die ragende Pinie auf einem Parnass voller Latschenkiefern, hat sich hoffentlich damit abgefunden, dass er den Mogelpreis nie kriegen wird. Zwischen den großen Romanen erholt er sich, indem er lehrreiche Bilderbücher für Erwachsene macht, die er mit seinen köstlichen Lesefrüchten garniert. 2009 erschien „Die unendliche Liste“, die für euch, liebe LeserInnen, in der RATIONALGALERIE rezensiert wurde. Jetzt hat Eco einen kunterbunten Prachtband verfertigt, der die geografischen Irrtümer und Spekulationen, die mythischen Orte und traditionellen Lügengeschichten von Orient und Okzident aus den ersten Quellen dokumentiert. Auch die Neuzeit mit ihrem uferlosen esoterischen Unfug und den überbordenden literarischen Fiktionen wurde nicht vergessen. Antike Reliefs, mittelalterliche Miniaturen, Gemälde durch die Zeitalter, alte Buchillustrationen und moderne Filmplakate bebildern das Opus. Naturgemäß sind deutscher Historismus, französisches Fin de Siècle und englischer Viktorianismus reichlich repräsentiert mit prächtigen Ölschinken voll praller Nymphenhinterbacken, wallender Odinsbärte und zingernder Blitze, wunderschön anzusehen, ohne dass darum das Dargestellte irgendwie realer würde.

Der elende Zustand der Heimat hat fabulierfreudige Skribenten zu allen Zeiten dazu verführt, ihre Träume in ferne Länder zu verpflanzen. Alles andere wäre Anstiftung zum Aufruhr gewesen. Umberto Eco entführt uns in seinem Kompendium zu verrückten und fatalen Orten, die schon unsere Vorfahren entdecken wollten, ohne sie jemals finden zu können, egal, ob Eldorado oder Schloss Silling.

Der Aufbau der fünfzehn Kapitel bleibt sich gleich. Am Anfang steht immer eine kenntnisreiche Einführung des Meisters in die Ideengeschichte der kuriosen Artefakte, gespickt mit sprechenden Bildern. Dann folgen ausgewählte Texte der maßgebenden Autoren.
Eco beginnt sein Handbuch mit der Geschichte von der Gestalt der Erde. Im Anfang war sie bekanntlich platt wie ein Spiegelei (Hesiod). Zu Beginn des Mittelalters erhob sich in der Scheibenmitte ein riesiger Berg, hinter dem nachts die Sonne verschwand (Kosmas). In der frühen Neuzeit bekam die Erde Birnenform (Columbus). Erst dann wurde sie zur Kugel, wie von Aristoteles vorhergesagt. Schließlich vermaß man den Erdball im Barock und seitdem ist er abgeplattet wie eine Pampelmuse. Natürlich faszinieren die Antipoden, die mit dem Kopf nach unten an der Erde hängen.

Die geografischen Phantasien waren ursprünglich nur Räuberpistolen, die sich Reisende am Lagerfeuer erzählten. Mit dem Gilgamesch-Epos (unerwähnt) beginnt die fiktionale Reiseliteratur. Zweitausend Jahre später berichtet die Thora vom Land Ophir und dem der Königin von Saba. Seit Homer und Herodot haben die alten Griechen das Sagen. Nicht der attische Bauer überlieferte seinem Sohn die Mär von der Insel Atlantis, sondern Platon schrieb sie nieder in den Dialogen Timaios und Kritias. Angeblich hatten ägyptische Priester dem weisen Solon diesen Bären aufgebunden. Bereits im Altertum galt der platonische Bericht als ein Märchen, erfunden zu pädagogischen Zwecken (die Schlechten werden versenkt). Was nicht verhindert hat, dass sich seitdem ganze Völkerscharen auf die Suche nach Atlantis begeben haben. So wechseln Phantasmagorien in die Realität.

Die Ungeheuer und Wundermänner der fernen Länder des Orients folgen auf dem Fuße. Von Basiliken, Drachen und den Greifen, mit deren Hilfe sich Alexander der Große in die Luft erhebt, bis zu John Mandevilles Bericht über den Priesterkönig Johannes spannt sich der Bogen.
Die Paradiese reichen vom Garten Eden bis Eldorado. Erstaunt liest der Önologe, dass das Paradies des Korans auch einen Bach enthält, der Wein mitführt, den zu trinken ein Genuss ist.
Mehrere Kapitel handeln von Inseln. Da sind zum einen die sagenhaften: Atlantis, Ultima Thule, die Insel des heiligen Brendan, Morus’ Utopia und Swifts fliegendes Laputa; zum andern die heute realen: Taprobane (einst Ceylon, nunmehr Sri Lanka), die Salomon-Inseln und die Terra Australis.
Die Berichte über geheimnisvolle Städte sind zumeist literarische Fiktion, wie Campanellas Sonnenstadt. Baco von Verulam schildert in Neu-Atlantis die Musterstadt Bensalem. Johann Valentin Andreae erfindet Christianopolis. Am Ende steht Italo Calvinos Fedora („Die unsichtbaren Städte“).
Weitere Kapitel füllen wüste Mythen, wie der Alte vom Berge, der Gral, Graf Dracula, Agartha, Shambala und Rennes-le-Château, ohne dass damit der Fundus wahnhafter Ideen irgendwie erschöpft würde, liebe LeserInnen.

Öfters begegnen wir der obskuren Ideenwelt des Nationalsozialismus. Hörbigers Welteislehre und Neuperts Hohlwelttheorie werden ebenso referiert wie Otto Rahns Gralssuche, Thulegesellschaft und Vril-Mythos inklusive. Alfred Rosenberg vermutete gar in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ die Urheimat des nordischen Menschen in Atlantis. Warum als Illustrationen Porträtfotos von Hitler, Himmler und Goebbels sowie Plastiken Thoraks und Brekers herhalten mussten, erschließt sich nicht ganz. Vermutlich wollte Eco auf das Missverhältnis zwischen banalen Kleinbürgerphysiognomien und olympischen Muskelmännern hindeuten. Hier hätte man eher Albert Speers Modell der Welthauptstadt Germania und die abstrusen Entwürfe von Wilhelm Kreis zu Totenburgen in der Ukraine erwartet. Oder auch Berlusconis monströses Mausoleum von Pietro Cascella.

Das Erdinnere und der Polmythos bringen uns auf die Neuzeit und die utopische Literatur. Im Innern ist der Planet übrigens vorzugsweise von riesigen Pilzen überwuchert. Edward Bulwer Lyttons „Das kommende Geschlecht“ und Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (unzitiert) eröffnen den Reigen. Wunderbarerweise erwähnt Eco sogar Wladimir A. Obrutschews „Plutonien“, wenn auch nur en passant. Dieses und „Das Sannikowland“ waren Lieblingsbücher meiner Kindheit. Was fehlt hier? Gewiss ein Stückchen aus Dürrenmatts „Winterkrieg in Tibet“. Das große Finale liefert Jorge Louis Borges, der Altmeister des modernen Mythos, mit seiner Erzählung vom Aleph, durch das man einfach alles auf dieser Welt beobachten kann, ähnlich wie es heute die NSA tut.

Für angehende Politikwissenschaftler, die in der Legislative Karriere machen wollen, ist dieses Buch Pflichtlektüre. Es lehrt sie nach berühmten Mustern, wie man erfolgreich das Volk verkohlt. Denn wer goldene Berge (Eldorado) und blühende Landschaften (Schlaraffenland) verspricht, kann hochelegant Raubzüge legitimieren, in denen es um Öl und Opium geht. Ganz nebenbei bekommt der Doktorand noch das korrekte Zitieren der ausgeschlachteten Literatur beigebracht.
Heute existieren profitable Industrien, die den Konsumenten mit Sciencefictionfilmen, Mangas und Computerspielen zuschütten. Zu Recht verzichtet Eco auf diese modernen Sumpfblüten der Phantastik, denen schon etliche Monografien gewidmet wurden.
„Die Geschichte der legendären Länder und Städte“ ist ein Buch, liebe LeserInnen, das nur in die Hände von klar denkenden Menschen gehört. Aber für die ist es eine Wohltat.

Fotoquelle: Wikipedia – Author pano by smial; modified by Luxo

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