Von Aleppo bis Mariupol
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 17. Mai 2022
Das verdrängte Lehrstück
Wer von den Beiden ist denn der bessere Kriegsführer ?
von Kristin Helberg
Viele müssen bei den schrecklichen Bildern aus Mariupol an das von faschistischen Bombern zerstörte Guernica denken. Und manche fühlen sich angesichts der Leichen in den Straßen von Butscha an das Massaker von Srebrenica erinnert. Für Millionen Syrerinnen und Syrer ist das bitter. Denn die Assoziation „Guernica“ hätten bereits die Bilder aus Aleppo, wenn nicht schon viel früher die aus dem tschetschenischen Grosny hervorrufen müssen: Die Menschen in Syrien heben seit zehn Jahren Massengräber aus – etwa nach dem Massaker in Daraya Ende August 2012, als Soldaten und Milizionäre des Regimes tagelang von Haus zu Haus gingen und mehr als 200 Einwohner des Ortes südwestlich von Damaskus hinrichteten. Die absichtsvolle Terrorisierung von Zivilisten durch Luftangriffe, die in der spanischen Stadt Guernica 1937 zum ersten Mal erprobt wurde, hat Wladimir Putin in Tschetschenien gelernt und in Syrien optimiert. Und das Ermorden wehrloser Bewohner eroberter Gebiete haben russische Soldaten womöglich aus Syrien übernommen. Doch anders als die Ukraine ist Syrien noch immer – oder schon wieder – ganz weit weg.
Dabei zeigt sich dort seit Jahren, welche Mittel der russische Präsident für einen Sieg einzusetzen bereit ist – selbst dann, wenn dieser Sieg nur mittelbar sein eigener ist. In Syrien hält Putin ein despotisches Regime an der Macht, und da seine längste und umfangreichste Militärintervention ab 2015 auf Einladung von Präsident Baschar al-Assad erfolgte, ist sie an sich nicht völkerrechtswidrig. In der Ukraine hingegen greift der Kreml-Chef eine demokratisch gewählte Regierung von außen an – den Regimewechsel, den er dem Westen in Damaskus zu Unrecht unterstellt, betreibt er jetzt in Kiew selbst.
Putins Methoden – die willkürliche Bombardierung von Wohnvierteln, gezielte Raketenangriffe auf zivile Infrastruktur, das Abriegeln von Stadtteilen und Aushungern ihrer Bewohner – sind in Syrien ohne Konsequenzen geblieben und gehen deshalb weiter. Anfang 2022 griffen russische Kampfjets eine Wasserpumpstation, mehrere Hühnerfarmen und ein kleines Flüchtlingslager in Idlib an.[1] Doch für Russlands syrische Opfer – in dem Fall eine Mutter und zwei Kinder – interessiert sich in Europa schon lange niemand mehr. Diese Ignoranz rächt sich nun, denn es ist die Straffreiheit für seine in Syrien begangenen Völkerrechtsverbrechen, die Putin ermutigt hat, die Ukraine in dieser Form anzugreifen.
Die Blockade des Völkerrechts
Der Krieg in Syrien ist allerdings nicht nur ein Lehrstück für Putins militärisches Vorgehen, sondern auch für seinen Umgang mit Verhandlungspartnern, internationalen Organisationen und deren humanitärer Hilfe. Seit 2011 hält Russland im Weltsicherheitsrat seine schützende Hand über den durch einen bewaffneten Aufstand bedrängten Machthaber Assad. Moskau verhinderte zwischen Oktober 2011 und Juli 2020 mit seinem Veto 16 UN-Resolutionen zu Syrien. Völkerrechtsverbrechen des syrischen Regimes können deshalb nicht an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag überwiesen werden.
Zugleich wird die milliardenschwere, zu 80 Prozent von den USA und Europa finanzierte UN-Hilfe vom Assad-Regime zum Machterhalt missbraucht. Denn Hilfsgüter müssen in Absprache mit Damaskus verteilt werden und erreichen deshalb nicht die bedürftigsten, sondern die besonders loyalen Syrer. Nur die von Extremisten kontrollierte Provinz Idlib, Zufluchtsort für Millionen Assad-Gegner, erhält noch direkte humanitäre Hilfe aus dem Ausland – über den letzten von ursprünglich vier grenzüberschreitenden Hilfskorridoren, die die UN für die Versorgung von Regionen außerhalb der Kontrolle des Regimes eingerichtet hatte.
Diese grenzüberschreitende Hilfe muss alle sechs Monate vom Weltsicherheitsrat verlängert werden, dann bettelt der Westen bei Putin darum, humanitär helfen zu dürfen. Bei der nächsten Abstimmung im Juli 2022 könnte sich der Kreml-Chef für die gegen Russland verhängten Sanktionen rächen, indem er die direkten Hilfslieferungen nach Idlib per Veto beendet.
Wann immer UN-Resolutionen von Putin nicht gänzlich verhindert werden können, weicht Moskau sie inhaltlich so auf, dass sie seine Verbündeten absichern. Bestes Beispiel dafür ist die Resolution 2254 aus dem Dezember 2015 – jenes UN-Dokument, auf das sich alle Akteure im Syrien-Konflikt bis heute berufen. Diese Resolution – das Ergebnis intensiver Gespräche zwischen Moskau und Washington, die im Oktober 2015 mit der Internationalen Syrien-Kontaktgruppe die einzig ernst gemeinte diplomatische Initiative zur Lösung des Konflikts ergreifen – fordert ein Ende der Angriffe auf Zivilisten, den ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe und die Freilassung von willkürlich verhafteten Personen. Doch es gibt eine Hintertür, die Moskau seither offenhält: den „Anti-Terror-Kampf“.
Der Text erlaubt ausdrücklich die Fortsetzung des Kampfes gegen Terrorgruppen wie den IS und die Nusra-Front und „mit ihnen verbündete Gruppen“, ihre Rückzugsgebiete sind von der Waffenruhe ausgenommen und sollen „ausgelöscht“ werden. Das ist der Freibrief, den das Assad-Regime braucht, um sämtliche oppositionelle Regionen in Homs, Ost-Aleppo, dem Umland von Damaskus, Daraa und Idlib weiter abzuriegeln, zu bombardieren und so seinen Krieg gegen Zivilisten ungestört fortzusetzen – seit September 2015 mit Putins Luftunterstützung. Nach Angaben des Moskauer Generalstabs flog die russische Luftwaffe in den ersten Jahren bis zu 42 Kampfeinsätze und 157 Angriffe pro Tag. Bis Anfang 2019 sammelten 68 000 russische Militärangehörige Kampferfahrung in Syrien – stets mit Blick auf mögliche andere Kriegsschauplätze.
Vorbild Tschetschenien
Was den Einsatz bloßer Feuerkraft angeht, folgt auch die Syrien-Intervention einem historischen Vorbild – den Tschetschenien-Kriegen der Neunzigerjahre. Ohne Rücksicht auf Zivilisten beschoss das russische Militär damals Grosny, das die Vereinten Nationen 2002 zu der am schwersten zerstörten Stadt der Welt erklärten.
15 Jahre später ermöglichen neu entwickelte Lenkraketen in Syrien die absichtsvollen Angriffe auf zivile Infrastruktur, die das Leben der Menschen vor Ort zur Hölle machen. In der Ukraine sind bislang vor allem Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, Regierungsgebäude und Behörden dokumentiert, in Syrien nehmen die Piloten seit Jahren Krankenhäuser, Schulen und Marktplätze ins Visier. Dies belegen Berichte syrischer und internationaler Nichtregierungsorganisationen, UN-Untersuchungen sowie Medienrecherchen zu einzelnen Operationen. Der modernen Militärtechnik des Kreml haben die syrischen Rebellen – egal ob moderat, islamistisch oder dschihadistisch – nichts entgegenzusetzen, denn im Gegensatz zur ukrainischen Armee bekommen sie trotz jahrelanger Forderungen keine Flugabwehrraketen von ihren Verbündeten. Außerdem setzt Russland in Syrien – und ersten Berichten zufolge auch in der Ukraine – Brandbomben, Streumunition und Vakuumbomben ein, die in ziviler Umgebung laut Genfer Konvention verboten sind.
Die gemeinnützige Nichtregierungsorganisation Airwars, die in Syrien die Luftangriffe sämtlicher Kriegsparteien dokumentiert, geht von mindestens 23 000 Zivilisten aus, die im Zeitraum von September 2015 bis September 2021 durch russische Angriffe getötet wurden, darunter 4831 Kinder.
Desinformation und Propaganda
Um diese Form der Kriegsführung zu rechtfertigen, muss der Gegner diskreditiert und entmenschlicht werden. Offiziell bekämpft Putin deshalb in Syrien nur „Terroristen“, in der Ukraine sind seine Feinde sämtlich „Neonazis“ und „Faschisten“. Das Verbreiten von Desinformation und Propaganda hat Moskau zur wirksamen Kriegswaffe ausgebaut.
Beispielhaft dafür ist die Hetzkampagne gegen die syrische Zivilschutzorganisation Weißhelme, die Trägerin des Alternativen Nobelpreises 2016. Die Rettungskräfte, die nach ihren weißen Helmen benannt sind, suchen nach Verschütteten, arbeiten als Sanitäter und Feuerwehr. Daneben dokumentieren sie die Folgen der Luftangriffe mit Hilfe von Hand- und Helmkameras, was sie für Russland gefährlich macht – schließlich zeigen ihre Videos regelmäßig die zivilen Opfer russischer Raketeneinschläge. Seit September 2016 versuchen russische UN-Vertreter und Medien deshalb, die Weißhelme zu diffamieren. Sie verbreiten Gerüchte, Spekulationen, Halbwahrheiten und Lügen, um die von der Organisation gesammelten Beweise unglaubwürdig erscheinen zu lassen und die Weißhelme selbst zu einem legitimen Angriffsziel zu machen.
Quelle : Blätter-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Рабочий визит в Россию Президента Сирии Башара Асада. Встреча с Президентом России Владимиром Путиным
- CC VON 4.0
- Datei:Baschar al-Assad in Russland (2015-10-21) 09.jpg
- Erstellt: 20. Oktober 2015
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Unten — Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789
- GemeinfreiHinweise zur Weiternutzung
- File:Declaration of the Rights of Man and of the Citizen in 1789.jpg
- Hochgeladen: 4. Juli 2020
Erstellt am Dienstag 17. Mai 2022 um 12:57 und abgelegt unter Asien, Kriegspolitik, Kriminelles, Positionen. Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed. Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.