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Vom Alltag in Venezuela

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 2. Mai 2019

Mit 600 Bolívar in Caracas

Viviendas del barrio Petare.jpg

Von Franceska Borri aus Caracas

Millionen Venezolaner leiden Hunger – auch unsere Autorin. Wie es ist, in der venezolanischen Hauptstadt vom Mindestlohn zu leben? Ein Test.

 Maduro oder Guaidó? Wer hat recht? Wer hat Schuld an all dem hier? Der Imperialismus, der Sozialismus? Ist es die Schuld der USA, die Venezuelas Konten eingefroren haben, die des Sozialsystems, die einer Regierung, die Geld zum Fenster rausschmeißt und dann pleite geht? Was war Chávez? Was war diese Revolution wirklich? Nach drei Tagen weiß ich nur eins: Ich habe Hunger.

Ich habe einfach nur Hunger.

Venezuela hat eine Bevölkerung von 32 Millionen. Nach Angaben der Vereinten Nationen leiden 4,4 Millionen davon unter Wassermangel, 3,7 Millionen haben zu wenig zu essen, 2,8 Millionen fehlen notwendige Medikamente.

Und 3,4 Millionen sind bereits gegangen.

Im Durchschnitt nimmt man in Venezuela 12 Kilo im Jahr ab. Was als „Maduro-Diät“ verhöhnt wird, zeigt sich in den trüben Augen meiner Mitbewohner in der Misión Vivienda an der Avenida Libertador, einer der Hauptstraßen von Caracas. Hier lebe ich, ich will wissen, wie das ist in einem der sozialen Wohnungsbaukomplexe, die noch von Chávez für die Bedürftigen geplant worden waren. Das waren damals 2,9 Millionen Menschen. Es ist ein zwölfstöckiges Gebäude, mit acht Wohnungen in jeder Etage. Und es ist so etwas wie eine Gemeinschaft.

Ich wohne bei Mariela Herrera, 48, einer Krankenschwester, und ihrem Sohn. Alle zusammen besitzen wir ein Kilo Reis, ein halbes Kilo Mehl, drei Karotten und eine Scheibe Käse. Aber als ich meinen Keksvorrat hervorhole, schlägt die arbeitslose Nachbarin vor, in den sechsten Stock zu gehen und ihn mit Eliana Beitze zu teilen, einer 49-jährigen Pförtnerin, die an Sklerose leidet und erschöpft auf einer dünnen Matratze auf dem Boden liegt. Sie muss sich entscheiden zwischen Medikamenten oder Abendessen. Und zwischen Medikamenten für sie oder für ihre Tochter. Die ist 17 und Diabetikerin mit einer fleckigen, lilafarbenen Haut. Sie bieten mir Regenwasser an.

Aber ich würde alles trinken. Inzwischen habe ich Durst, einfach Durst. Ich habe seit elf Stunden nichts getrunken.

Origami aus Geldscheinen

Ich wohne hier, und ich habe mich entschieden, wie alle anderen von 600 Bolívar am Tag zu leben, dem Mindestlohn. Ich weiß nicht wirklich, wie viel das ist. Ein Dollar sind ungefähr 3.000 Bolívar, aber es gibt eine Inflation im siebenstelligen Prozentbereich, und der Bolívar ist eigentlich nur noch bedrucktes Papier. Wörtlich. Die Scheine werden für Origami benutzt. Kein Mensch weiß mehr, was irgendetwas kostet.

Vertical Slum Invasion in Caracas.jpg

Denn es hängt davon ab, ob man mit Bolívar oder Dollar zahlt. Und in einem normalen Laden oder einem staatlichen. Oder auf dem Schwarzmarkt. Und ob du Cash zahlst oder per Handy oder mit einer Kreditkarte. Allerdings gibt es gar kein Bargeld mehr, weil nicht genügend Geld da ist, um Geld zu drucken. So leihe ich mir eine Kreditkarte. Sei vorsichtig damit, werde ich gewarnt – aber nicht wegen des Geldes auf der Karte, sondern wegen der Karte selbst: Es gibt kein Plastik mehr. Das ist mehr wert als all deine Ersparnisse.

Es ist Jahre her, dass hier noch jeder wusste, was alles kostet. Venezuela produziert nur Öl. Und mit dem Öl importiert es alles, was es braucht: sieben von zehn Produkten. Deshalb hängt es vom Dollar ab. Im Jahr 2003 führte Chávez einen festen Wechselkurs ein. Oder genauer: mehrere feste Wechselkurse. Drei. Einen für öffentliche Unternehmen. Einen für private Unternehmen und Bürger, für Umtausch von bis zu 3.000 Dollar. Und einen für alles andere.

2015 stieg der Finanzanalyst Raúl Gallegos für die Recherche zu seinem Buch „Crude Nation“ im Renaissance Hotel ab. Das Zimmer kostete ihn pro Nacht 9.469 Bolívar. Also 1.503 Dollar, oder 789 Dollar, oder 190 Dollar – oder sogar 53, nach dem Schwarzmarktkurs. Je nach dem Wechselkurs, der für jemanden legal oder durch Bestechungsgelder zugänglich war, war Venezuela das Land, wo du nur 1,50 Dollar für einen BigMac zahlst oder aber 17.333 für ein Iphone6.

Wie hat das Venezuela von Chávez also wirklich ausgesehen?

In Wahrheit hängt Venezuela nicht nur vom Öl ab, sondern auch von jenen USA, die es so wenig leiden kann, und die doch die Hauptkäufer sind. Die Einzigen, die Raffinerien für Venezuelas schweres Rohöl haben. Als 2015 die Ölpreise um 70 Prozent fielen, erklärte US-Präsident Barack Obama Venezuela zum Sicherheitsrisiko. Unter Trump griffen dann Sanktionen: Trump untersagte alle finanziellen Transaktionen mit Venezuela, und er verhindert Venezuelas Zugriff auf den Gewinn von Citgo, der Venezuela gehörenden US-Kraftstoffkette.

Natürlich stoßen diese Maßnahmen auf Kritik der UN: Das Völkerrecht verbietet jeden Versuch, eine ausländische Regierung mit Gewalt zu stürzen, sei es militärisch oder mit anderen Mitteln. Statt die Regierung allerdings zu schwächen, ging sie gestärkt daraus hervor. Das ist keine Krise, sagt Maduro: Das ist ein Wirtschaftskrieg.

Bewaffnete verteidigen die Revolution

Bei Demonstrationen gegen Maduro hört man nur drei Worte: Luz, agua, comida – Strom, Wasser, Essen. Bei denen für Maduro nur eins: Sabotaje – Sabotage. Nur ein Wort verwenden beide Seiten: Usurpation.

Wir sind auf der Avenida Fuerzas Armados. Zwei Männer stürmen in einem roten T-Shirt einen Protest gegen Maduro. Sie gehören zu den Colectivos, bewaffneten Anhängern der Regierung. Ihr Logo ist überall in Caracas, auf allen Wänden: Ein Mann mit Gewehr, und darunter die Schrift: „In Verteidigung der Revolution“. Sie sind lokale Gruppen. Nachbarschaftsgruppen, theoretisch für soziale Arbeit gegründet. Aber niemand weiß, wer sie wirklich sind, und vor allem: Wer über sie bestimmt.

Auch deshalb ist die Opposition so schwer. Mit dem Stromausfall, die alles noch komplizierter macht. Heute ist Demonstrationstag, Guaidó hat zur Mobilisierung aufgerufen, und mit ein paar Aktivisten laufe ich durch Caracas: Aber wir finden nichts. Seit gestern funktionieren unsere Handys nicht, und das Internet auch nicht. Wir haben keine Ahnung, wo die Demo sein soll.

Schließlich finden wir sie vor der U-Bahn-Station Chacao. Sie besteht aus gerade mal 16 Personen. Sie haben zwei Pfannen dabei, einen Farbeimer, eine blecherne Marmeladendose ein paar Rasseln, dazu selbst gemachte Trommeln, mit Löffel als Trommelstöcken. Sie sind 16, als sie anfangen und 16, als sie wieder gehen. Niemand schließt sich an. Wenn allerdings die Ampeln auf Rot schalten, dann hupen die Fahrer im Rhythmus der Trommeln. Unterstützung. Busse fahren vorbei, volle Busse, und die draußen dranhängen, verfluchen Maduro und zeigen den Daumen hoch.

„Nicht gewöhnt zu arbeiten“

„Es geht hier nicht nur um Politik. Es ist vor allem eine Kulturfrage“, sagt Katy Camargo, 42, die bekannteste Aktivistin von Petare, dem ärmsten Slum von Caracas. „Wie in allen Ölländern sind wir es gewohnt, alles vom Staat zu bekommen. Als das Gesundheitssystem kaputtging, wechselten wir zu Privatkliniken. Als das Bildungswesen den Bach runterging, wechselten wir zu Privatschulen. Wir haben uns angepasst. Immer, Denn letztlich hatten wir Öl. Wir sind es nicht gewohnt, für Veränderungen zu arbeiten, uns einzubringen“, sagt sie. Bestenfalls hupen.

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„Man erwartet hier von der Opposition, für Veränderung zu sorgen“, sagt sie. „Und die Opposition erwartet von Guaidó, das Leben aller zu verändern. Aber so wie das Problem nicht nur aus Maduro besteht, besteht die Lösung auch nicht aus Guaidó.“

Quelle       :         TAZ           >>>>>>            weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben        —         „Slums in Petare“   –    Viviendas en el barrio de Petare, Edo. Miranda, Venezuela.

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