Verstörte Erinnerungskultur
Erstellt von Redaktion am Montag 18. Oktober 2021
Erinnerungskultur ist nicht aus Beton
Steine – Deutschlands Politiker Schwachsinn in seiner hässlichster Blüte
Von Hanno Loewy
Darf man den Holocaust mit den Kolonialverbrechen vergleichen? Anmerkungen zu einer Debatte, die keine einfachen Antworten braucht.
Ist das ein neuer Historikerstreit? Der australische Historiker Dirk Moses hat sich kritisch gegen einen neuen „Katechismus der Deutschen“ positioniert. Gegen eine selbstgerechte Erinnerung an den Holocaust, die andere Massenverbrechen verdrängen würde. Relativiert er damit den Holocaust? Oder setzt er damit gar das Geschäft der Holocaustleugner fort?
Worum geht es in diesem Streit? Um die Frage, ob es legitim ist, den Holocaust mit anderen Massenverbrechen zu vergleichen? Um die Singularität dieses Massenverbrechens? Oder um die Frage nach dem Zusammenhang von Erinnerungskultur und Politik?
Es gibt recht banale Antworten auf die ersten beiden Fragen. Keine Deutung eines historischen Ereignisses käme je ohne einen Vergleich aus. Die Frage ist eher, welcher Vergleich einen Gewinn an Erkenntnis verspricht. Und natürlich ist jedes Ereignis singulär. Aber manche Ereignisse haben eine universelle Bedeutung, die dazu einlädt, sie zum Maßstab anderer Ereignisse zu machen. Das kann auch zur Falle werden.
Dirk Moses’ Text verstört auch viele Leser*innen, die seiner politischen Kritik am Missbrauch der Geschichte zur Legitimation staatlicher Identität durchaus etwas abgewinnen. Da ist etwas Überschießendes im Ton, selbst da, wo man ihm gern zustimmen würde. Aber haben deswegen seine Kritiker recht?
„USA-SA-SS“
Moses weiß, dass die Geschichte der Diskussion über den Holocaust eine Geschichte der politischen Kontexte ist. Er verweist auf populäre Gleichsetzungen, wie sie vor fünfzig Jahren gang und gäbe waren. Linksradikale haben damals auf Demos gegen den Vietnamkrieg – „USA-SA-SS“ gerufen.
Heute geben manche von ihnen bei der rechtskonservativen Presse in Deutschland den Ton an. Zu den lautesten Kritikern von Dirk Moses’ Polemik gehören gerade jene, die im Zeichen einer vollkommen banalisierten Totalitarismusthese von den „zwei deutschen Diktaturen“ reden und Kommunismus und Nationalsozialismus gleichsetzen.
Im linken politischen Spektrum hingegen wurde der Holocaust jahrzehntelang als bloßer Exzess des Faschismus und Kapitalismus, des Imperialismus oder Kolonialismus banalisiert. Dirk Moses bietet also ein neues Vergleichsparadigma an, dass sich bei näherem Hinsehen als gar nicht so neu erweist.
Die globale Migration zwingt Europa und die USA dazu, die Geschichte des Kolonialismus neu zu verhandeln, als etwas, das eben nicht fern von uns liegt. Es hat seine Spuren in den Erfahrungen von Menschen eingegraben, die Teil unserer Gesellschaften geworden sind. Seit die Geschichte des Kolonialismus und seines Erbes neu verhandelt werden müssen, wächst ihr eine neue Sprengkraft zu – in der politischen Aushandlung von öffentlicher Aufmerksamkeit und dem Recht auf Anerkennung.
Dabei hat auch der linke, sich neuerdings beunruhigend identitätspolitisch formierende Diskurs über die Geschichte von Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei seine blinden Flecken. Denn Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei waren keineswegs nur weiße Phänomene.
Der Völkermord an den Armeniern, die arabische Kolonisierung von Teilen „Schwarzafrikas“ und innerafrikanische Gewaltverhältnisse gehören in diese Geschichte ebenso wie der belgische Völkermord im Kongo, mit dem das 20. Jahrhundert der Völkermorde begann. Oder der Genozid der ruandischen Hutu an den Tutsi, der nicht zuletzt auch auf den Rassismus belgischer Kolonialherren zurückverweist.
Der Holocaust und die Kolonialgeschichte
Es ist legitim, Zusammenhänge zwischen Holocaust und Genoziden der Kolonialgeschichte herzustellen. Auch die Entwicklung traditioneller Judenfeindschaft zum eliminatorischen Antisemitismus lässt sich nicht ohne dessen Verbindung mit dem zeitgenössischen Rassismus erklären.
Aber damit erklärt sich der Holocaust noch lange nicht aus der Kolonialgeschichte. Genauso wenig lässt sich die internationale Verbreitung des Antisemitismus und seine Wirkung als Nationalisten aller Couleur verbindende Weltanschauung allein aus der Geschichte des Rassismus erklären. Moses selbst wirft in seiner Polemik das Kolonialismusparadigma kurzerhand hinter sich, wenn er davon spricht, „dass alle Genozide durch Sicherheitsparanoia betrieben werden“. Da wird es dann wirklich banal.
Gegen all diese Relativierungen haben sich die verschiedensten Wissenschaftler und politisch Engagierte in Deutschland nicht nur gewendet, um als „gute Menschen dazustehen“, wie Moses in denunziatorischem Gestus schreibt. Sie haben in schmerzhaften geschichtspolitischen Kämpfen nicht zuletzt miteinander gestritten.
Es gibt in Deutschland schon lange eine intensive Diskussion darüber, wie sehr sich Schuldbewusstsein auch in Selbstgerechtigkeit verwandeln kann, wenn man sich bequem im Stolz auf die eigene Erinnerungskultur einrichtet. Nein, es gab nicht nur die entglittene Walser-Rede und deren Auschwitz-Keulen-Rhetorik, es gab ernsthafte linke und liberale Kritik an sinnentleerten und politisch missbrauchten Gedenkritualen.
Erinnerungskultur ist nicht nur das Produkt einer erfolgreichen Sühnearbeit und Selbsterforschung. Und sie ist genauso wenig nur eine Vereinnahmung der Opfer im Zeichen eines neuen Nationalismus oder einer islamophoben Abwehr der neuen „Anderen“ Europas. Erinnerungskultur ist auf eine paradoxe Weise Resultat eben jener tatsächlichen Singularität des Holocaust. Es geht nicht darum, dieses Geschehen nicht erklären zu können. Es geht darum, dass hier tatsächlich etwas Negativ-Universelles gemeint war.
„Gegenrationalität“ und symbolisches Handeln
Das Verbrechen war aus der Perspektive seiner Opfer nicht verstehbar und nicht voraussehbar. Die Nationalsozialisten und die mit ihnen verbündeten Nationalisten vieler europäischer Staaten haben von den Juden tatsächlich nichts gewollt außer ihr Verschwinden von diesem Globus. Damit wurde jede ökonomische oder sonstige Berechenbarkeit des Handelns, das sogar in einer Beziehung zwischen Mörder und Opfer noch besteht, aufgekündigt.
Diese „Gegenrationalität“, wie Dan Diner sie genannt hat, macht aus dem Geschehen nichts Unerklärliches. Sie verweist allerdings auf ein Terrain, auf dem Historiker*innen sich ungern bewegen – dem des symbolischen Handelns.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Berlin, Germany: Holocaust Memorial
Source: taken by myself on May 21, 2005
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Unten — Sklaventransport in Afrika
Slaves being transported in Africa, 19th century engraving
Scanned from book: „Lesebuch der Weltgeschichte oder Die Geschichte der Menschheit“, by Wilhelm Redenbacher, 1890. Copyright expired. (https://archive.org/details/lesebuchderweltg00rede)
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