DEMOKRATISCH – LINKS

                      KRITISCHE INTERNET-ZEITUNG

RENTENANGST

Umkämpfte Zwischenräume

Erstellt von Redaktion am Samstag 19. Februar 2022

Zypern – und die  Grenze zur Türkei

Von Daniel Meier

In den vergangenen Jahren sind in verschiedenen Grenzgebieten im Nahen Osten sogenannte Ausnahmegebiete entstanden. Entmilitarisierte und durch die UN kontrollierte Zonen gab es bereits vorher. Die neuen Gebiete existieren jedoch jenseits internationalen Rechts und sind das Resultat unilateraler Entscheidungen.

Das syrische Gouvernement Idlib und der nordwestliche Teil des Gouvernements Aleppo sind seit 2018 de facto Enklaven unter der Kontrolle von Anti-Assad-Kräften, die sich auf ihre Schutzmacht Türkei stützen. Dieser Fall zeigt, wie ein Grenzgebiet zugleich zum Schauplatz eines Bürgerkriegs und – wegen der Rolle der Türkei – zum Streitobjekt der internationalen Politik werden kann.

Ob man von „Pufferzone“, „Niemandsland“ oder „Sicherheitszone“ spricht – all diese Begriffe bezeichnen ein politisches Ausnahmeregime im Sinne eines für Zivilisten gesperrten Gebiets oder einer entmilitarisierten Zone oder eines territorialen Arrangements, das auf einen früheren Konflikt zurückgeht. Im Nahen Osten sind in den vergangenen Jahren im Zuge strategisch motivierter militärischer Besetzungen mehrere solcher Zonen entstanden.

Seit den 1990er Jahren steht der Begriff „Grauzone“1 für Gebiete, die sich der Kontrolle durch den Zentralstaat entziehen. Dass er in einer von zahlreichen Unsicherheiten geprägten Phase nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aufkam, ist kein Zufall. In der Folge wurden die theoretischen Begrifflichkeiten in verschiedene Richtungen weiterentwickelt. So erfuhr das Konzept der Puf­fer­zone2 eine Ehrenrettung, wobei allerdings kritisiert wird, dass die vorwiegend militärstrategische Lesart des Begriffs das Schicksal der Betroffenen ignoriert. Und das Wort Niemandsland3 kann heute ein abgeschlossenes, aufgegebenes Gebiet bezeichnen, dessen Bevölkerung sich auf ungewöhnliche Weise selbst organisiert.

Um die unterschiedlichen territorialen Eigenheiten abzudecken, schlagen wir den Begriff „Zwischenraum“ vor. Gemeint ist damit ein geschlossenes, kaum reguliertes, schwach institutionalisiertes, fragiles und zugleich bewegliches Territorialgebilde, dessen Bewohner sich sozusagen in Verbannung befinden, zugleich aber die Chance wahrnehmen, ihre Umgebung neu zu definieren und zu verändern.4

Dabei ist zu unterscheiden zwischen international anerkannten Zwischenräumen und solchen, die es nicht sind. Zur ersten Kategorie zählt die Pufferzone und das Niemandsland, die durch staatliche oder internationale Institutionen geschaffen wurden, um sicherzustellen, dass die Rechte der dort lebenden Menschen trotz des territorialen Sonderstatus eingehalten werden.

Die rechtliche Anerkennung solcher Zwischenräume, die etwa aus Vereinbarungen zwischen Kriegsparteien resultiert, garantierte eine gewisse Stabilität, schließt aber weitere Veränderungen keineswegs aus. Eine solche völkerrechtliche Absicherung wurde ursprünglich im Genfer Abkommens von 1951 kodifiziert, um im Konfliktfall kurzfristig den Schutz der Zivilbevölkerung sicherzustellen. Später wurde sie immer wieder verlängert, womit sie sich zu einem permanenten Mittel der Postkonfliktregelung weiterentwickelt hat.

Ein Beispiel für eine solche zum Dauerzustand gewordene Regelung ist die von den Vereinten Nationen seit 1974 überwachte „Green­line“ zwischen dem griechischen und dem türkischen Teil Zyperns (siehe Karte). Dasselbe gilt für die von der UNO überwachte entmilitarisierte Pufferzone zwischen Israel und Syrien auf dem Golan, die nach dem Oktoberkrieg von 1973 eingerichtet wurde.

Cyprus-administration-map-german.PNG

Nach dem Motto „good fences make good neighbours“ sollte in beiden Fällen eine befriedete, entmilitarisierte Grenze die Beziehung zwischen zwei Nachbarn verbessern. Doch die Realität vor Ort hat die Grenzen dieses Modells aufgezeigt; und da die eigentlichen Konfliktursachen nicht diskutiert oder verhandelt wurden, haben sich die provisorischen Lösungen verstetigt.

Im Zypernkonflikt mangelt es am politischen Willen beider Konfliktparteien. So wurde der Annan-Plan von 2003, der ein wiedervereinigtes Zypern in Form einer „bizonalen Föderation“ unter dem Dach der EU vorsah, von den griechischen Zyprern in einem Referendum abgelehnt.5 Und auf dem Golan konnte die UN-Mission nicht verhindern, dass Israel das seit 1967 besetzte Gebiet 1981 annektiert hat.

Die Möglichkeiten der UN sind in solchen Fällen selbst dann begrenzt, wenn eine UN-Mission starke Unterstützung erfährt, wie etwa im Südlibanon, wo 14 000 Soldaten der Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon (Unifil) stationiert sind. Das zeigen die wiederholten Verletzungen der Blauen Linie, auf die sich die israelische Armee 2000 zurückgezogen hat und die seitdem die Unifil-Zone im Süden begrenzt, sowie die anhaltenden Spannungen zwischen der Hisbollah und Israel.

Eine zweite Kategorie sind territoriale Arrangements, die von Staaten oder nichtstaatlichen Akteuren – Letztere zuweilen mit staatlicher Unterstützung – im Gefolge von Krieg und Staatszerfall durchgesetzt wurden. Da der Status dieser Gebiete international nicht anerkannt ist, werden sie von lokalen Milizen dominiert und fragmentiert, die oft von benachbarten oder anderen Staaten alimentiert werden. Die Kontrolle dieser Gebiete erfolgt nach willkürlichen Regeln ohne jegliche Rechtsgarantie für die Bevölkerung und häufig ohne ausländische Beobachter.

Diese Territorien kann man als „Ausnahmeräume“7 bezeichnen. Beispiele jenseits des Nahen Ostens sind die separatistischen Repu­bli­ken Donezk und Luhansk in der Ukraine, die heute zur russischen Einflusssphäre gehören, oder das syrische Gouvernement Idlib, das von islamistischen Gruppen kontrolliert wird. Solche international nicht anerkannten Gebiete haben meist nur eine kurze Lebensdauer, da sie geopolitischen Veränderungen stärker ausgeliefert sind und eine hohe institutionelle Instabilität auf­weisen.

Im Nahen Osten liegt es auch an der Last der Geschichte, dass bestimmte Gebiete politisch instrumentalisiert werden. Dort hatten seit Ende der 19. Jahrhunderts die Mandatsmächte Frankreich und Großbritannien eigenmächtig Grenzen gezogen, wie es ihren jeweiligen Interessen entsprach: die Briten zum Beispiel beim Feilschen um einen irakischen Zugang zum Persischen Golf; die Franzosen, als sie 1939 den zum französischen Mandatsgebiet gehörenden Sandschak Alexandrette an die kemalistische Türkei abtraten, um Ankara zur Neutralität im bevorstehenden Krieg anzuhalten.

In dieselbe Kategorie gehören – viel später – der israelische Zugriff auf palästinensisches, syrisches und ägyptisches Gebiet, insofern damit das Recht des Stärkeren in der Nahostregion etabliert wurde. Desgleichen haben die meisten Regime in den arabischen Ländern versucht, von Minderheiten bewohnte Gebiete zu „nationalisieren“, zum Beispiel die der Kurden im Irak, in der Türkei, in Iran und Syrien oder das der Sahrauis in Marokko. Das geschah jeweils unter Missachtung der Rechte und im Widerspruch zu den legitimen Ansprüchen dieser Bevölkerungsgruppen. All dies zeigt, dass die heutigen „Zwischenräume“ im Nahen Osten nicht aus dem Nichts entstanden sind.

Im Kalten Krieg setzte sich die Vorstellung durch, dass strategische Interessen an bestimmte Territorien wichtiger sein können als die Rechte und die Belange der jeweiligen Bevölkerung. Ein schlagendes Beispiel ist die sowjetische Besetzung Afghanistans im Jahr 1980.8 Aber auch der Jemen hatte das Pech, in den Strudel der globalen Auseinandersetzung zu geraten, die seit Ende der 1960er Jahre mehrfach zu Grenzstreitigkeiten zwischen dem sozialistischen Südjemen und Saudi-Arabien führte.

Irgendwie gehörte selbst die israelische Besetzung des Südlibanon von 1978 in den Kontext der Ost-West-Konfrontation. Denn die sorgte dafür, dass die Kluft zwischen Palästinensern, die einen „revolutionären Kampf“ proklamierten, und Israel, das von den USA unterstützt wurde und das eine UN-Resolution missachtete, die seine Libanon-Invasion verurteilte, noch größer wurde. Mit ihrem Teilabzug von 1985 überließ die israelische Armee eine rund 10 Kilometer breite „Sicherheitszone“ der Südlibanesischen Armee (SLA), einer von Tel Aviv finanzierten Miliz, die als Puffer zwischen den palästinensischen Fedajin und Israel fungierte.

Ab 1982 wurde die Ost-West-Dynamik im Libanon zunehmend von einem Konflikt überlagert, der sich zu einem nationalen Befreiungskampf entwickelte, in dem die schiitische Hisbollah-Partei eine zentrale Rolle spielte.

Die Bevölkerung des Südlibanon war vom Rest des Landes durch eine militärische Grenze abgeschnitten und wurde von Israel kontrolliert. Sie lebte 22 Jahre lang unter dem Joch einer Macht und einer politischen Ordnung, die auf Kollaboration, Willkür und Angst beruhte. Was dieses System von Rechtsstaatlichkeit hielt, machte etwa das von der SLA kontrollierte Khiam-Gefängnis deutlich, das im Herzen dieser Pufferzone lag. Hier waren palästinensische und libanesische Aktivisten ohne Gerichtsverfahren jahrelang eingesperrt und wurden systematisch gefoltert.

Seit den nuller Jahren beherrscht ein anderes abgeschottetes Gebiet die Schlagzeilen aus der Region: der Gazastreifen. Auch dort wurde die Bevölkerung als Geisel genommen und leidet unter den Maßnahmen, die auf den Rückzug Israels 2005 folgten. Besonders schwer wiegt die räumliche Isolation, die auch die Küstenzone mit einschließt. Bei jeder militärischen Auseinandersetzung (2008, 2012, 2014 und 2021) zeigt sich erneut die unglaubliche politische Verachtung an den unmenschlichen Sanktionen, die 2 Mil­lio­nen Menschen im Gazastreifen verarmen lassen und entwürdigen.9

Die Weigerung des Westens, mit den als „Terroristen“ bezeichneten politischen Akteuren in Gaza ins Gespräch zu kommen, läuft auf eine stillschweigende Anerkennung des Sanktions­regimes hinaus. Dabei handelt es sich allerdings um eine Form kollektiver Bestrafung, die einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt. Dieser „Zwischenraum“ erscheint damit als ein von Israel errichtetes und vom Westen gebilligtes Gebilde, das den Gazastreifen zu einem offenen Gefängnis macht.

Quelle        :      LE Monde diplomatique             >>>>>       weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —       Warnschild an der Pufferzone am Ledra Palace (2003)

Kommentar schreiben

XHTML: Sie können diese Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>