Umgang – Erinnerungskultur
Erstellt von Redaktion am Dienstag 10. August 2021
Eine Utopie der Erinnerung
Kalter Schrott und Stein reichte den Politiker-Innen schon immer als Erinnerung
Von Hannah Peaceman
Das Gedenken an die Shoah ist oft ritualisiertes Gedächtnistheater. Es sollte jedoch ein verbundenes Erinnern unterschiedlicher Ereignisse sein.
Am 10. Juli 2021 ist Esther Bejarano im Alter von 96 Jahren verstorben. Sie überlebte das Vernichtungslager Auschwitz als junge Frau und kämpfte seitdem gegen Faschismus und Rassismus – stets an der Seite von Betroffenen rechter und neonazistischer Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Sie verstand es, die Kontinuitäten und Nachwirkungen des Nationalsozialismus und der Shoah in der Gegenwart immer wieder hervorzuheben, zu kritisieren und zu bekämpfen. Dabei zögerte sie nicht, ihre Geschichte als Überlebende von Auschwitz mit den Perspektiven von Überlebenden von neonazistischer Gewalt der Gegenwart zu verbinden.
Die gesellschaftliche Erinnerung an die Shoah geht auf diese jahrzehntelangen Kämpfe von Überlebenden, ehemaligen Exilant:innen und Aktivist:innen zurück. Zugleich haben diese Kämpfe stets über eine staatlich-offizielle Erinnerungskultur hinausgewiesen.
Denn in jedem Konflikt um eine Gedenktafel, um einen Gedenkkranz, einen Gedenktag oder um eine Straßenumbenennung ging (und geht) es immer auch darum, den gesellschaftlichen Status quo der postnationalsozialistischen Gegenwart zu kritisieren. Überlebende waren nie die passiven Opfer, zu denen sie in manch einer Gedenkstunde gemacht werden. Sie waren und sind die Zeug:innen des Geschehenen, handelnde Akteure der Gesellschaft und Kämpfer:innen um Gerechtigkeit und um eine bessere Welt, wie man an Bejarano und vielen anderen Überlebenden immer sehen konnte.
In den letzten Jahren hat sich auch die Erinnerung an die rassistische und antisemitische Gewalt nach 1945 in diese Erinnerungskultur eingeschrieben. Die Verbindung von Nationalsozialismus und postnazistischer Gewalt ist dabei nicht bloß eine rhetorische Bezugnahme, sondern zugleich politische Analyse der historischen Kontinuitäten. Die Erinnerungen daran gehören zusammen, weil auch die Taten in einem historischen Zusammenhang stehen.
Diese Erinnerungspraxis verweist auf die Diskrepanz zwischen dem staatlich gepflegten Selbstbild der geläuterten Nation und der gesellschaftlichen Realität der kontinuierlichen Gewalt gegen die „anderen“. Sie setzt die konkrete Benennung von Taten, Täter:innen und Strukturen gegen das Erstaunen nach neonazistischen Anschlägen, dass „so etwas in Deutschland nochmal möglich ist“.
Keine Statistenrolle
Diese Praxis setzt die Forderung nach konkreter Aufarbeitung gegen das abstrakte „Nie wieder“. Sie setzt Empathie mit den Opfern gegen die Selbstvergewisserungen der Täter:innen und ihrer Nachfahren. Sie setzt Erinnerung als eingreifende Praxis gegen eine ritualisierte, abgeschlossene Erinnerungskultur. Sie schafft Orte der Solidarität zwischen Betroffenen. Überlebende finden darin Kraft und Stärke, weil sie ihre Geschichten selbst erzählen, anstatt zu Statisten im Gedächtnistheater gemacht zu werden.
Das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ war ein solcher Ort selbstbestimmten Gedenkens zwischen Überlebenden des NSU sowie anderer neonazistischer Anschläge, politischen Initiativen – und eben auch Bejarano als Überlebende der Shoah.
In diesem Land werden immer noch Verstorbene als Helde geehrt welche für zwei Kriege Mitverantwortlich zeichneten !
Es war von einem breiten Bündnis antirassistischer und antifaschistischer Initiativen organisiert worden, um den Überlebenden und Angehörigen der rechtsterroristischen Mordserie Raum zum Sprechen zu geben, um anzuklagen, um zu beklagen und um einzuklagen. Bejarano sagte dort: „Wir alle haben die Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, solidarisch mit den Opfern rassistischer Gewalt zu sein und ihnen zur Seite zu stehen, zuzuhören und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie nie wieder alleine sein werden. Auch das Tribunal ist jetzt ein Teil einer Rache an den Nazis!“
Empathie und Solidarität
Die Verbindung zwischen dem Nationalsozialismus und der neonazistischen Gewalt der Gegenwart nahm Ibrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags von Mölln 1992, in der Abschlussrede des Tribunals auf. Er kritisierte Gedenkpolitiken, die ohne Berücksichtigung der Wünsche der Überlebenden stattfinden: „72 Jahre nach dem Holocaust steht immer noch die Frage, wie man mit Opfern und Betroffenen und deren Gedenken umgehen soll.“ Er plädierte dafür, dass die Perspektiven der Überlebenden im Zentrum stehen. Nur so seien Empathie und Solidarität möglich.
Auch die „Möllner Rede im Exil“ ist Teil eines solchen Kampfes. Sie entstand, weil Verantwortliche der Stadt Mölln der hinterbliebenen Familie ein selbstbestimmtes Gedenken an den Brandanschlag, an Yeliz Arslan, Ayşe Yılmaz sowie Bahide Arslan verweigerten und sie in Ibrahim Arslans Worten zu „Statisten“ machte. Die Möllner Rede im Exil wird seit 2013 durch die hinterbliebene Familie sowie durch einen solidarischen Freundeskreis an wechselnden Orten und mit unterschiedlichen Redner:innen organisiert.
Arslan und Bejarano (vertreten durch ihren Sohn Yoram) begegneten sich erneut während der Möllner Rede im Exil 2017. „Um es klar auszusprechen, ohne das Wegschauen und das Decken nach 1945 hätte es das Oktoberfestattentat, Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und Mölln und den NSU so nicht geben können. Es hätten aus den Erfahrungen und Ereignissen des Nationalsozialismus die richtigen Konsequenzen gegen den Hass gezogen werden müssen“, so Bejarano.
Die eigene Geschichte
Arslan und Bejarano fanden Worte, um ihre eigenen Geschichten für die Geschichten anderer zu öffnen und sich selbst in der Geschichte der anderen zu verorten. Natürlich waren ihre Erfahrungen nicht die gleichen; aber sie teilten eine gemeinsame Haltung, die sie aus ihren Erfahrungen heraus entwickelt hatten. Arslan versprach Bejarano, die Erinnerung fortzuführen, was jetzt – im Angesicht ihres Todes – eine neue Bedeutung bekommt.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Berlin: Holocaust-Denkmal
Source: taken by myself on May 21, 2005
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Unten — Der Kriegsgräberfriedhof befindet sich in Berlin-Moabit in der Wilsackerstraße. Die Gedenktafel befindet sich rechts vom Eingang außen an der Freidhofsmauer.