Dieser Text könnte easy gehen. Folgendes stünde darin: Quo vadis, Debattenkultur? Es geht ihr nicht gut, der Debattenkultur, sie ist vergiftet, verroht, verkümmert, kaputt, am Tiefpunkt, schlimmer denn je, es gibt nur noch Schwarz und Weiß, für ein falsches Wort kann man jederzeit komplett gelyncht werden, alle sind immer gleich so empört, und das ist selber schon wieder so empörend und das wiederum ist ermüdend und früher war das nicht so. Schuld sind das Internet, Corona, Minderheiten, Frank Plasberg, wer noch? Egal, reicht, ist ja nur Kolumne, hehe. Ergebnis wäre dann, dass alle mal bisschen runterfahren sollen, es kämen Wörter vor wie »Ambivalenzen«, »Resilienz« und »offline«, richtig viel »offline«, und ganz wichtig auch: »zuhören«. Und dann her mit den Likes!
Aber leider wurde das alles schon gesagt, und das Lustige daran ist: Teilweise stimmt es natürlich, aber darauf können sich dann doch auch sehr viele einigen. Verdächtig! Debattenkulturpessimismus ist der Kitt, der Leute aus allen möglichen politischen Lagern zusammenhält: Gemeinsam gegen die Verrohung – ja, es wäre fast eine Bewegung, wenn irgendwer sich mal bewegen würde.
Um es gleich zu sagen: Mir ist absolut klar, dass ich für manche Teil dieser verrotteten Debattenkultur bin, aber ganz ehrlich, ich kann es halt nicht besser, also nehmen wir, was wir kriegen können, würde ich vorschlagen.
Das Problem fängt schon mit dem Begriff »Debattenkultur« an
Das Problem mit der Kritik an einer angeblich immer schlimmer werdenden Debattenkultur fängt schon mit dem Begriff »Debattenkultur« an. Fun Fact: Laut Wikipedia kommt »Debatte« vom französischen »débattre«, »(nieder-)schlagen«, da könnte man natürlich sagen: Alles richtig gemacht, Leute. Komisch, denn laut meinem Offline-Französisch-Wörterbuch heißt »débattre« auch »diskutieren« und »verhandeln«, aber das ist so ein altes Ding mit CD-ROM (!) hintendrin, also weiß man nicht, ob man das noch ernst nehmen sollte. Jedenfalls: »Debattenkultur« enthält »Debatte« und »Kultur«, und da geht es schon los. Vieles von dem, was als verkommene Debattenkultur bezeichnet wird, ist eigentlich weder Debatte noch Kultur.
Denn meist geht es dabei um Internetkommentare, die irgendwie lausig sind, die man aber überhaupt erst mal als Debattenbeiträge anerkennen muss, um sie dann als Verrohung zu diagnostizieren. Früher hätte man bei den meisten dieser Beiträge »lästern« oder »mobben« oder »Scheiße labern« gesagt, und es hätte gereicht. Ja, Hass und digitale Gewalt sind ein Problem, ein richtig großes: aber man braucht sie nicht zu »Debatte« und »Kultur« zu adeln, im Gegenteil, man sollte sie benennen, um sie nicht zu normalisieren. Wer Gewalt meint, soll »Gewalt« sagen.
Das zweite Problem mit der angeblich immer schlimmer werdenden Debattenkultur ist das »immer schlimmer werden«: Wie sicher sind wir uns da? Wann soll diese Zeit gewesen sein, in der es eine richtig gute Debattenkultur gab? Als es noch Duelle gab? Als im Bundestag noch gewettet wurde, ob eine bestimmte Politikerin einen BH trägt oder nicht? Als Nikel Pallat in einer Talksendung eine Axt rausholte, um einen Tisch zu zerschlagen, oder als Joschka Fischer erklärte: »Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!« – oder wann genau? War diese gute Zeit zufällig in der Studienzeit der Leute, die sich heute danach zurücksehnen?
Talkshows leben davon, dass Leute sich über sie aufregen
Als Beispiel für die schrottige Debattenkultur müssen oft Talkshows herhalten, und es stimmt natürlich, dass »Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt« von 1964 alles schlägt, wo Boris Palmer oder Wolfgang Kubicki vorkommen. Es stimmt, dass Talkshows oft mehr Show als Talk sind, aber: Man muss die nicht gucken. Talkshows leben davon, dass Leute sich über sie aufregen. An einem Tag, an dem man sich im Internet über das sinkende Niveau von Talksendungen beschwert, könnte man auch ein zweistündiges Interviewformat im Deutschlandfunk hören oder sich in einen Online-Lesekreis einloggen, aber das ist dann wieder zu viel verlangt.
Auf den Zustand einer allgemeinen Debattenkultur aus dem schlechtesten Fernsehprogramm und den beklopptesten Social-Media-Kommentaren zu schließen, ist selbst nicht gerade Debattenhochkultur. Es ist, als würde man sich über die Esskultur eines Landes informieren und dann ausschließlich an gammeligen Autobahnraststätten und vergessenen Snackautomaten gucken. Man würde was erfahren, aber halt nur sehr begrenzt.
Sicherlich gibt es Leute, die einfach nur zurückwollen in eine Zeit ohne Social Media, ohne Shitstorms und Tränen-Lach-Emojis. Aber das dürften die wenigsten sein. Für alle anderen gibt es immer noch die Möglichkeit, sich auszusuchen, wo man seine Aufmerksamkeit und Energie reinsteckt. Das ist leichter gesagt als getan, sicher. Aber es geht.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Joschka Fischer (Vizekanzler und Außenminister a.D) Foto: stephan-roehl.de Veranstaltung „Europa im Aufbruch? Ideen für eine progressive Politik“ in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin