Erdoğan und die Generäle
Erstellt von Redaktion am Sonntag 9. August 2015
Türkei – alte Mächte, neue Fronten
Sophia, Istanbul, Turkey
von Günter Seufert
Die Parlamentswahlen vom 7. Juni brachten der regierenden AKP unerwartete Verluste. Eine stabile Koalition ist unwahrscheinlich. Wenn Neuwahlen fällig werden, könnte Präsident Erdoğan versucht sein, Unruhen zu schüren, um sich als Retter der Nation anzubieten.
Bei der Wahl zur Großen Nationalversammlung in Ankara vom 7. Juni haben die türkischen Kurden der regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) eine schwerwiegende Niederlage beigebracht. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) errang 13,1 Prozent der Wählerstimmen und schaffte damit den Sprung über die 10-Prozent-Hürde und den Einzug ins Parlament.
Mit dem Gewinn von 80 Sitzen sorgte die von fast allen Kurden gewählte HDP dafür, dass die AKP die absolute Mehrheit verlor und künftig nur noch mit einem Koalitionspartner regieren kann. Zugleich bedeutete dieses Wahlergebnis das Ende von Erdoğans Träumen, die Verfassung in Richtung eines autoritären Präsidialsystems umzubauen.
Nur zehn Tage nach der AKP -Schlappe, am 18. Juni, versuchten Staatspräsident Recep T. Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, das türkische Militär zu veranlassen, in Syrien einzumarschieren. An einem 110 Kilometer langen Grenzabschnitt sollten 18 000 türkische Soldaten bis auf 33 Kilometer tief in syrisches Territorium vorrücken, um eine Pufferzone zu erobern, die zunächst zwei Jahre besetzt bleiben sollte. Dabei handelt es sich um das syrische Gebiet zwischen der Stadt Azaz im Westen und dem Ort Dscharābulus im Osten, der sich zurzeit unter Kontrolle des Islamischen Staats (IS) befindet.
Die Kritik des Auslands an dem militärischen Unternehmen wollte die Regierung mit der Botschaft kontern: Die Türkei „macht Ernst“ mit ihrem Kampf gegen den IS. Für die türkische Öffentlichkeit kam die plötzliche Entschlossenheit ihrer Regierung zum Krieg vollkommen überraschend. Noch erstaunter wurde vermerkt, dass es dabei nicht gegen die syrischen Kurden, sondern gegen den IS gehen sollte. Denn Ankara hatte den IS anfangs verharmlost und später wenig unternommen, um zu verhindern, dass ein kontinuierlicher Nachschub von Menschen und Material über die Türkei an die Dschihadisten fließen konnte.
Erdoğan und die Generäle
Noch als der IS am 10. Juni 2014 in der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul einzog, war er in den Augen Ankaras nur ein Zusammenschluss irakischer Sunniten, die von der schiitischen Regierung in Bagdad zu Unrecht ausgegrenzt waren und die früher oder später auf eine vernünftige Politik umschwenken würden. Als die Kämpfer im September 2014 die syrisch-kurdische Stadt Kobani aushungerten, war ganz offensichtlich, dass Erdoğan fast sehnsüchtig auf den Fall der Stadt wartete. Auch als im August 2014 etwa 40 000 kurdischsprachige Jesiden vor dem IS fliehen mussten, war die AKP-Regierung nicht zu einer Unterstützung des Kampfs gegen den dschihadistischen Protostaat bereit. Ankara verweigerte damals den USA für ihre Luftangriffe gegen den IS die Nutzung des Militärflughafens Incirlik. An dieser Politik hält die türkische Regierung bis heute fest.
Quelle: le monde diplomatique >>>>> weiterlesen
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Fotoquelle: Wikipedia – Author OscarKosy
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