Transformative Zeiten
Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 2. Oktober 2021
Eine mediale Kompletterneuerung ist angesagt.
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Ein Schlagloch von Georg Diez
Die traditionellen Medien scheitern daran, sich in Ton und Inhalten zu öffnen. Eine mediale Kompletterneuerung ist angesagt – ähnlich wie die politische.
Die Wahl ist vorbei, ein neues Parteiensystem ist entstanden, so konnte man jedenfalls hören von einem Politiker in einer der Fernsehsendungen, die sich schon lange als Nebenspielstätten des demokratischen Prozesses etabliert haben – seit Jahren, seit Jahrzehnten, und eigentlich, so könnte man meinen, sollten mit dem Abgang von Angela Merkel (16 Amtsjahre) auch die Sendungen von Frank Plasberg (20 Amtsjahre), Sandra Maischberger (18 Amtsjahre), Maybrit Illner (22 Amtsjahre) und Anne Will (14 Amtsjahre) ins digitale Nirvana verabschiedet werden:
Der politisch-mediale Komplex braucht eine Kompletterneuerung. Wie eingefahren und eng die Denkweisen sind, die Redeweisen, die Körper- und Sprachlosigkeit des Fernsehdiskurses, konnte man bei den Fernsehdebatten der Kandidat*innen erleben.
Besonders eklatant dabei war der Widerspruch zwischen vorgeblicher formaler oder inhaltlicher Neutralität oder Objektivität (ein Lieblingswort gerade von Leuten, die selbst nicht besonders objektiv sind, was auch schwer möglich ist, weil die Wirklichkeit einen fast automatisch zum Partisanen macht) und inhaltlicher Schlagseite in der Fragestellung: „Können Sie ausschließen, dass es Steuererhöhungen geben wird?“
So lautete eine oft paraphrasierte Etüde in Engstirnigkeit, in der vieles von den Verdrehungen des öffentlichen Diskurses deutlich wurde. Denn diese Frage hat ja selbst eine klare Agenda, die Steuersenkung, die recht losgelöst ist von aktuellen ökonomischen Diskursen, die im Gegenteil von einer ganz anderen Art von staatlicher expansiver Wirtschaftspolitik ausgehen, gerade im Kontext des Klimawandels, wo Investitionen zum Beispiel in neue Energien dringend notwendig sind.
Kein Platz für Zweifel
Indem die Frage aber als neutral präsentiert wurde (und gleichzeitig den Fragesteller zum Fürsprecher eines intuitiv angenommenen Mehrheitswillens macht, denn er – es war in diesem Fall ein Mann – stellte sie sehr offensichtlich im Namen einer Bevölkerung, die aber möglicherweise sehr anders oder differenzierter dachte), wurde der Ton gesetzt und die Steuersenkung zum Lackmustest politischer Vernunft. Und das ist eben das eigentlich Verzerrende an dieser Art von medialer Selbstpräsentation:
Die Annahme von Vernunft auf der eigenen Seite, der Verdacht der Unvernunft auf der anderen Seite, und damit die Fortsetzung der Erzählung von politischer Rationalität, wie sie den demokratischen Prozess fast notwendigerweise prägt – oft zum Nachteil der sprachlichen oder inhaltlichen Durchlässigkeit, weil Zweifel, Zaudern, Emotionen, Scheitern, das Experiment, die Unsicherheit im Tun, in diesen Krisenzeiten fast unausweichlich und sogar wünschenswert, in angeblich vernunftgeleiteten Systemen nur schwer einen Platz finden.
Aber Vernunft war eben eher selten im politisch-demokratischen Prozess zu beobachten – sonst hätte ein rationaler Diskurs über die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Klimawandels im Zentrum der Debatten gestanden: Politiker*innen fast aller Parteien taten sich jedoch immer noch schwer, die Notwendigkeiten als solche zu benennen. Diese Aufgabe wurde an die Demonstrierenden von Fridays for Future delegiert, eine Art Apo der Vernunft.
Und auch fast allen Medien (wenn sie nicht offen gegen Klimapolitik agitierten) fehlte letztlich die klare, konstruktive und im Grunde objektive Herangehensweise, den Klimawandel als zentral und zukunftsentscheidend zu benennen – und den Raum zu bieten, in dem Veränderungen geschehen könnten. Stattdessen wurde dieser Raum, diskursiv, immer wieder eingeschränkt.
Apo der Vernunft
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Armin Laschet (CDU) am Wahlabend der NRW Landtagswahl am 14. Mai 2017 in Düsseldorf
Unten — Georg Diez (Journalist, Der Spiegel), Foto: <a href=“http://www.stephan-roehl.de“ rel=“nofollow“>www.stephan-roehl.de</a> Veranstaltung „Baustelle Neuer Generationenvertrag“ in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin