Alle fünfeinhalb Wochen wird in Deutschland ein Mensch von Polizisten erschossen.

Gesamtansicht des Neptunbrunnens mit der Elbe-Figur (links)
Ein Dossier
Manuel F. steht splitternackt im Neptunbrunnen mitten in Berlin. Einen Moment später ist er tot – von einem Polizisten vor laufender Kamera erschossen. Für einen Augenblick nimmt im Juni 2013 eine breite Öffentlichkeit Anteil an einer Problematik, die sonst kaum beachtet wird: Regelmäßig kommen Menschen in Deutschland durch Schüsse aus Dienstpistolen ums Leben. Doch eine systematische Aufklärung fehlt, die Polizei behandelt jeden Fall als Einzelfall.
Nach Recherchen der taz starben in Deutschland seit 1990 mindestens 269 Menschen durch Polizeischüsse. 2016 erreichte die Zahl der Todesfälle den höchsten Stand seit 1999: 13 Menschen kamen ums Leben. 2017 scheint sich dieser Trend noch zu verstärken. Fast alle Opfer sind Männer, nur selten haben sie selbst eine Schusswaffe. Und immer häufiger trifft es Menschen mit psychischen Erkrankungen – wie Manuel F., der unter Schizophrenie litt und an diesem Tag auch noch unter Drogen stand.
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Reportage: Der Fall Suscenko

Am 11. März 2015 wird Grigorij Suscenko von Polizisten in Memmingen erschossen. Wieso gelingt es sechs ausgebildeten Beamten nicht, einen lediglich mit Messern Bewaffneten zu überwältigen, ohne ihn zu erschießen? Eine Rekonstruktion des Tathergangs
AUS MEMMINGEN ERIK PETER (TEXT UND FOTO)
Grigorij Suscenko bereitet seine Brotzeit zu, füllt Kaffee in die Thermoskanne. Dann verstaut er seine Sachen in einem Rucksack, als wäre dies ein ganz normaler Arbeitstag. Doch in einem Detail weicht die Vorbereitung vom alltäglichen Ritual ab: Suscenko versteckt unter seiner Kleidung mehrere Messer. Der 48-Jährige rechnet damit, dass die Polizei nach ihm sucht. Kurz nachdem er am Mittag des 11. März 2015 das Mehrfamilienhaus am Rande der oberschwäbischen Kleinstadt Memmingen verlässt, ist er tot – erschossen von einem Beamten.
Ein Mann in einer psychischen Ausnahmesituation, bewaffnet mit einem Messer, erschossen in vermeintlicher Notwehr – der Fall Grigorij Suscenko ist in vielerlei Hinsicht typisch. Und er ist keine Seltenheit: Seit 1990 sind in Deutschland mindestens 269 Menschen von Polizisten erschossen worden. Im Jahr 2016 starben 13 Menschen auf diese Weise – so viele wie seit den 1990er Jahren nicht mehr. 2015 waren es zehn; einer davon ist Grigorij Suscenko. Doch hinter seinem Tod steckt eine individuelle und tragische Geschichte. Nachgegangen wird den Hintergründen in solchen Fällen nur selten; die Frage, wie es so weit kommen konnte, bleibt oft unbeantwortet.
Drei Wochen nach dem Tod sitzt Sylvia King auf ihrer Couch und scheint durch die Wand in das angrenzende Ein-Zimmer-Apartment zu schauen, in dem Grigorij Suscenko wohnte. „Sie müssen den Falschen erwischt haben“, sagt King. Ihren ehemaligen Nachbarn in der ersten Etage des neungeschossigen Wohnhauses beschreibt sie als „freundlich“ und „ruhig“. Als Dank für entgegengenommene Pakete habe er ihr hin und wieder eine Schachtel Pralinen oder einen selbst geangelten Fisch gebracht. Dass er wie ein Verbrecher im Kampf mit der Polizei ums Leben gekommen ist, macht sie fassungslos.
Suscenko tritt an seinem Todestag kurz vor 13 Uhr vor seine Haustür – da warten bereits sechs Polizisten in Zivil auf ihn. Sie wollen einen Haftbefehl vollstrecken. Als Suscenko die Beamten bemerkt, lässt er seinen Rucksack mit dem Proviant fallen und zückt ein Taschenmesser. Klingenlänge: knapp neun Zentimeter. Die Polizisten versetzt das in höchste Alarmbereitschaft – so haben sie es in ihrer Ausbildung gelernt.
Den Blick auf seine Verfolger gerichtet, versucht sich Suscenko langsam zu entfernen. Das Messer in der Hand, läuft er rückwärts den Weg entlang, der etwa 60 Meter bis zu einer Straße führt. Drei Polizisten folgen ihm unmittelbar, zwei haben ihre Waffe gezogen. „Ich dachte zunächst, das sei ein Spiel“, sagt eine Rentnerin, die die Szene zufällig von ihrem Balkon aus beobachtet. Erst als die Polizisten lautstark rufen, der Mann solle das Messer fallen lassen, wird ihr klar, dass es ernst ist. Suscenko erreicht die Höflerstraße, eine kaum befahrene Gasse. Ab hier ist der Zeugin der Blick durch eine Tanne versperrt. Die drei Schüsse, die fallen werden, kann sie nur hören. Zwei treffen Suscenko in die Brust, einer davon tödlich.
Wie die Mehrheit aller Erschossenen war Grigorij Suscenko weder mit einer Pistole bewaffnet noch mussten die Polizisten eine akute Straftat unterbinden. Typischerweise ereignen sich die meisten Fälle dieser Art im privaten Raum – und auch bei Suscenko können keine Augenzeugen oder Videoaufnahmen dabei helfen, das Geschehen zu rekonstruieren.
Die Ermittlungen
Bei dem Memminger Staatsanwalt Christoph Ebert laufen die Ergebnisse der Ermittlungen, die mit dem Bayerischen Landeskriminalamt eine externe Behörde übernimmt, zusammen. Der taz sagt Ebert, laut Tatortbericht und Obduktion seien die tödlichen Schüsse aus einer Distanz von nur einem Meter gefallen. Ein toxikologisches Gutachten habe bestätigt, dass die Polizisten zuerst Pfefferspray einsetzten – doch davon habe sich Suscenko nicht stoppen lassen.
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Gefährlich überfordert

kommentar von Erik Peter
Duisburg, 7. Januar. Berlin, 31. Januar. Herten, 19. Februar. Gortz, 13. April. Herne, 16. April. Essen, 27. April. Emmendingen, 4. Mai. Sieben Menschen haben Polizisten in Deutschland seit Jahresbeginn erschossen. Sieben Einzelfälle – mit auffälligen Gemeinsamkeiten: Bei sechs Toten gibt es Hinweise auf eine psychische Erkrankung, ebenfalls sechs waren mit einem Messer bewaffnet. Außer bei einem SEK-Einsatz waren die Schützen normale Streifenpolizisten.
Niemals in den vergangenen 27 Jahren gab es zu diesem Zeitpunkt des Jahres so viele Polizeitote. Damit setzt sich ein Trend fort, der sich neuerdings andeutete. Die Zahl der bei Einsätzen erschossenen BürgerInnen steigt. Dem Ausmaß tödlicher Polizeischüsse in Deutschland ist die taz in einem Rechercheprojekt nachgegangen. Das Ergebnis: Seit 1990 wurden mindestens 269 Menschen von Polizisten erschossen; durchschnittlich ein Toter alle fünfeinhalb Wochen.
Sämtliche Fälle wurden auf einer eigenen Internetseite zusammengetragen und ausgewertet. Dadurch wird eine Problematik offengelegt, die es hierzulande kaum ins öffentliche Bewusstsein schafft. Tote durch Polizeischüsse werden eher als US-amerikanisches Problem betrachtet, nicht als deutsches.
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Grafiquellen :
Oben : Berlin-Mitte – Der Neptunbrunnen
Eisenacher (Manfred Brueckels) – commons Image:Neptun 1a.jpg: 14:56, 18. Jun 2006 . . Stephan Herz . . 2272×1704 (1.181.967 Bytes) ({{Information| |Description=Neptunbrunnen (i. e. Neptunes Fountain), Berlin. General view. |Source=own picture |Date=2006 |Author=Manfred Brueckels |Permission={{PD-user-de|Eisenacher}} |other_versions= – }} Category: Berlin [[Category: Buildings and)
- GemeinfreiHinweise zur Weiternutzung
- File:Neptun 1a 2.jpg
- Erstellt: 1. Januar 2006
Mitte : Memmingen – An der Stadtmauer
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Attribution: Richard Mayer |
Unten :
- Gemeinfrei
- File:Polizei.jpg
- Hochgeladen: 25. Januar 2006