Theoretiker und Empiriker
Erstellt von Redaktion am Mittwoch 6. November 2019
Politische Vermessung der Welt
Von Helke Ellersiek
An der Uni Leipzig ist ein erbitterter Streit in der Politikwissenschaft entbrannt. Theoretiker*innen und Empiriker*innen verhandeln über die Deutungshoheit der politischen Lehre und darüber, welche Frage wichtiger ist: Wie ist die Welt oder wie soll sie sein?
Die Kartons sind noch nicht ausgepackt, seine Stimme hallt von den nackten Wänden wider. Der Neue, Professor Ireneusz Pawel Karolewski, hat sich noch gar nicht richtig einrichten können, gerade erst ist er hier im Geisteswissenschaftlichen Zentrum der Universität Leipzig angekommen. „Das ist noch eine Baustelle“, entschuldigt er sich.
Der karge Raum ist Teil des Leipziger Instituts für Politikwissenschaft, Karolewski ist seit Anfang des Monats hier Professor für Politische Theorie und – ganz neu – für Demokratieforschung. Und doch liefert er in Leipzig schon Stoff für einen heftigen Streit um die dortige Politikwissenschaft und die Deutungshoheit der Lehre.
Die Politische Theorie ist eine der drei Grundpfeiler der Politikwissenschaft – neben der Vergleichenden Regierungslehre und den Internationalen Beziehungen. Fehlt eine dieser drei Säulen, ist das Studium unvollständig. Manche würden sogar sagen: Ohne die Politische Theorie fehlt der Politikwissenschaft das selbstkritische Korrektiv. Beobachter*innen sehen nun genau das in Leipzig eintreten: eine Amputation der Politischen Wissenschaften. Die spontane Reaktion in den Unifluren lautet: „Die Politische Theorie in Leipzig ist tot.“ Manche sagen auch: Die Theorie in den Sozialwissenschaften steht in ganz Deutschland unter Druck.
Das findet zum Beispiel der Hamburger Politikprofessor Peter Niesen, Sprecher der Sektion Politische Theorie in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. „Ich habe keine Kritik an der Besetzungsentscheidung, das ist mir wichtig zu betonen“, sagt er: „Wohl aber an den doppelten Anforderungen der Ausschreibung, die in der Tendenz zu einer Entprofessionalisierung führen können, weil die Stelleninhaberinnen sich weder in der Lehre noch in der Forschung vorrangig der Politischen Theorie widmen können.“ Das Problem beginnt bereits mit dem Titel: „Politische Theorie und Demokratieforschung“ soll einen Konflikt vereinen, der als „Positivismusstreit“ seit den 1960er Jahren erbittert geführt wird. Dabei stehen Empiriker*innen den Theoretiker*innen gegenüber. Erstere halten es für möglich, Gesellschaft so messen und erklären zu können wie Naturwissenschaften die Natur. Sie sehen nur das als „Wissen“ an, was sie wahrnehmen und überprüfen können. Die Empirie will so Probleme erklären und Lösungsansätze liefern. Ihnen gegenüber stehen die Theoretiker*innen. Sie werfen den Positivist*innen vor, sich die Welt messbar zu machen und sehen dabei wichtige Aspekte der Gesellschaft, die sich nicht in Statistiken oder Interviews ausdrücken lassen, ausgeklammert. Oder einfach ausgedrückt: Während sich die Empirie damit beschäftigt, was ist, fragt sich die Theorie, was sein soll.
Eigentlich sind beide Seiten Kernbestandteile der Politischen- und Sozialwissenschaften. Doch der Hamburger Niesen sieht die Theorie bedrängt, wenn ihr zunehmend die Empirie aufgeladen wird. Seit der Nachkriegszeit sei es Konsens gewesen, dass an jedem Politikinstitut mindestens eine Person nur für die Theorie zuständig ist. In der neuen empirischen Anforderung wie nun in Leipzig – aber auch in Stuttgart oder Konstanz – sieht der Professor eine Verschiebung der Politikwissenschaft hin zur Empirie. Er sagt: „Die sich spaltende Soziologie ist da ein aus meiner Sicht fragwürdiges Vorbild.“
Damit meint er, dass vor zwei Jahren eine Gruppe Empiriker*innen die „Akademie für Soziologie“ gegründet hat – mit Schwerpunkt in quantitativer Sozialforschung, dem Statistik dominierten und Drittmittel starken Teil der Soziologie. Vorsitzender ist der Leipziger Sozialforscher Holger Lengfeld, der Gründungsaufruf stammt von seinem Institutskollegen Roger Berger, der Vorsitzender der Berufungskommission der Leipziger Theorieprofessur war.
Der Unterschied: Empirie sagt, was ist, Theorie fragt, was sein soll
Karolewski, der neue Professor für Politische Theorie und Demokratieforschung, sieht kein Problem in der Doppelbeschreibung seines Jobs. In Sakko und weißen Sneakern lehnt er in seinem Bürostuhl und sagt: „Theorie muss sich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit messen. Sie muss immer politische Anwendung finden oder anwendungsfähig sein.“ So weit, so unstrittig. Doch er sagt auch: „Zur politischen Theorie gehört automatisch auch die Empirie, sonst ist es politische Philosophie.“ Überhaupt sehe er die Politikwissenschaft den Sozialwissenschaften verpflichtet, nicht der Philosophie: „Philosophie beschäftigt sich mit Philosophen. Das kann faszinierend sein, hat aber nicht viel mit der politischen Wirklichkeit zu tun.“
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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