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Ovadias Wahl

Erstellt von Redaktion am 24. November 2013

Ovadias Wahl

Autor Uri Avnery

ALS RABBI Ovadia das erste Mal auf der politischen Bühne erschien, stieß ich einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

Hier war der Mann, von dem ich träumte: der charismatische Führer der orientalischen Juden, ein Mann des Friedens, der Vertreter moderater religiöser Traditionen.

„Rabbi Ovadia“, wie ihn alle nannten, der in dieser Woche im Alter von 93 Jahren starb, wurde in Bagdad geboren, kam als 4Jähriger Junge nach Palästina und gewann als religiöser Gelehrter hohe Achtung. Während des 48er Krieges war er der Oberrabbiner von Ägypten, später der sephardische Oberrabbiner von Israel. Als seine Ernennung wegen einer obskuren politischen Intrige nicht wiederholt wurde, gründete er eine neue politische Partei, die Shas, die schnell eine Kraft in der israelischen Politik wurde.

Er zog meine Aufmerksamkeit das erste Mal auf mich, als er, im Gegensatz zu den meisten andern prominenten Rabbinern, entschied, dass das jüdische religiöse Gesetz, die Halachah, erlaubt, Teile von Erez Israel um des Friedens willen herzugeben. Das „Retten von Leben“ hat Priorität.

BEVOR WIR weiterfahren, lasst mich einige Ausdrücke erklären. Die Ausdrücke „sephardisch“ und „orientalisch“ werden oft verwechselt. Aber sie bedeuten nicht ganz dasselbe.

Sepharad bedeutet „Spanien“. Sephardische Juden sind die Nachkommen der Juden, die von ihrem katholischsten Königspaar Ferdinand und Isabella 1492 aus Spanien vertrieben wurden Fast alle von ihnen scheuten das christliche antisemitische Europa und siedelten in Ländern unter wohlwollender muslimischer Herrschaft von Marokko bis Bulgarien.

Das ottomanische Reich gründete sich auf ein System von „millets“, religiös-ethnische Gemeinschaften, die sich unter ihren eigenen Führern, Gesetzen und nach den eigenen Traditionen selbst regierten. Die Juden wurden im ganzen Reich von dem Hakham Bashi, dem Oberrabbiner regiert, der natürlich ein Sepharde war. Dies war eine säkulare Ernennung – nach jüdischem Gesetz gibt es keinen Oberrabbiner, keinen jüdischen Papst. Alle Rabbiner sind gleich – jeder Jude kann dem Rabbiner eigener Wahl folgen.

Als die Briten Palästina übernahmen, waren sie dazu bewegt auch einen ashkenasischen Oberrabbiner zu ernennen. Seitdem haben wir zwei Oberrabbiner in diesem Land, einen sephardischen und einen ashkenasischen; jeder hält die Tradition seiner Gemeinde aufrecht.

Doch die große Mehrheit der Juden aus islamischen Ländern sind keine Sepharden. Heute wollen sie lieber Orientalen (Mizrachim) genannt werden. Doch die Termini Sepharde und Orientale überschneiden sich und bekamen mehr oder weniger dieselbe Bedeutung.

DIE ANZAHL der Leute, die an dem Begräbnis von Rabbi Ovadia teilnahmen, sind auf 800 000 geschätzt worden – mehr als die ganze jüdische Bevölkerung am Gründungstag des Staates Israel. Selbst wenn man annimmt, dass diese Zahl weit übertrieben ist, so war dieses Ereignis außerordentlich. Jerusalem war praktisch blockiert; der Leichenwagen konnte kaum den Friedhof erreichen.

All diese Hunderttausende – alle Männer – trugen die „Uniform“ der orthodoxen Juden – schwarze Gewänder, weiße Hemden, große schwarze Hüte. Viele weinten und jammerten – es grenzte an eine Massenhysterie.

Die Trauerreden der religiösen und weltlichen Führer und Kommentatoren waren voll Superlative. Er wurde der größte sephardische Jude der letzten 500 Jahre genannt, ein „Großer der Thorah“, dessen Lehren noch in die nächsten Jahrhunderte hinüber wirken würden.

Ich muss gestehen, dass ich nie ganz seine Größe als Denker, ob religiös oder sonst wie verstanden habe. Er erinnerte mich immer an etwas, das Yeshayahu Leibowitz einmal zu mir sagte, dass die jüdische Religion vor 200 Jahren gestorben sei und nichts als leere Rituale hinterlassen habe.

Rabbiner Ovadia schrieb 40 Bücher, Beurteilungen und Interpretationen des religiösen Gesetzes. Während ashkenasische Rabbiner gewöhnlich dahin tendieren, mit religiösen Anordnungen härter zu verfahren, tendierte Josef dahin, es leichter zu machen. In diesem folgte er der orientalischen Tradition, die immer viel moderater war (wie bis vor kurzem der Islam)

Josef erlaubte Witwen von gefallenen Soldaten, wieder zu heiraten (eine komplizierte Prozedur nach der Halakhah). Er entschied, dass die äthiopischen Falashen Juden sind und deshalb die Erlaubnis haben, nach dem Rückkehr-Gesetz nach Israel zu kommen. In zahllosen individuellen Fällen machte er es für die Leute einfacher, strengen Einschränkungen auszuweichen. Da in Israel große Bereiche privater Angelegenheiten, wie Heirat und Scheidung, nach dem religiösen Gesetz von Rabbinern geregelt werden, war dies auch für säkulare Leute sehr wichtig.

Aber ein tiefer Denker? Ein moderner Weiser? Da habe ich meine Zweifel. Wie ein Kommentator es wagte, darauf hinzuweisen, hat der neue Papst in wenigen Monaten mehr getan, um die theologische und soziale Einstellung seiner Kirche zu ändern, als Ovadia in seiner Lebenszeit. Das Reformjudentum hat weit mehr getan, um das Judentum zu modernisieren

ABER MEINE anfängliche Würdigung und endliche Enttäuschung mit diesem Rabbiner betreffen keine religiösen Fragen.

Rabbi Ovadia war eine überragende Persönlichkeit in der israelischen Politik. Fast die Hälfte aller israelischen Bürger ist orientalischen Ursprungs. Bis zu seinem Erscheinen waren sie eine unterprivilegierte Klasse, weit entfernt von den Zentren der Macht, oft gedemütigt, ganz uneinig. Alle Versuche, sie in eine politische Kraft zu verwandeln, misslangen elendiglich.

Und dann kam der Rabbiner. Er gründete eine machtvolle Partei, die oft als Schiedsrichter in der israelischen Politik diente. Er gab den Orientalen ihre verlorene Würde zurück. Er vereinigte sie. Das war eine große Errungenschaft.

Aber wozu? Ich hatte gehofft, wenn einmal die orientalischen Juden ihre Selbstachtung zurückgewonnen hätten, würden sie sich an ihre Vergangenheit erinnern, an das Goldene Zeitalter der jüdisch-muslimischen Zusammenarbeit und Zusammenleben im mittelalterlichen Spanien, als die jüdische Dichtung in der arabischen Sprache blühte, als der große religiöse Denker Moses Maimonides der persönliche Arzt von Saladin war, dem muslimischen Heerführer, der die Kreuzfahrer vernichtete.

Mit dieser Hoffnung wählte ich Josefs Schützling und politischen Bannerträger Aryeh Deri, der in Marokko geboren wurde; er war wie sein Meister ein Mann des Friedens und sprach sich öffentlich für eine Übereinkunft mit den Palästinensern aus.

Aber der Traum löste sich in nichts auf. Die Shas-Partei wandte sich immer mehr dem rechten Flügel zu und unterstützte ihre extreme antiarabische Politik. Der Rabbiner, ein großer Experte im Fluchen auf Arabisch und Hebräisch, verfluchte die Araber genauso wie seine jüdischen Opponenten. (Einmal verkündigte er, dass am Todestag von Shulamit Aloni für ihn ein Festtag sein werde. Aloni, eine linke Führerin, feierte Josefs Todestag nicht).

Es gibt viele Gründe – psychologische und soziologische dafür, dass die orientalische Gemeinde anti-arabisch und gegen Frieden eingestellt ist. Es ist nicht nur Josefs und Deris Schuld. Aber sie taten nichts dagegen. Im Gegenteil, sie liefen mit der Menge indem sie den Prozess noch beschleunigten.

Rabbi Ovadia beherrschte die Shas- Partei wie ein Papst, wählte ihre Führer aus und – setzte sie ab –ganz wie er wollte. Die Partei hat keine demokratische Institution, keine interne Wahlen. Der Rabbi traf alle Entscheidungen selbst. Indem er sich dem antiarabischen Chor anschloss, beging er eine schwere Sünde – obwohl er nie sein Urteil aufhob, die besetzten Gebiete aufzugeben, um Leben zu retten.

DA ER zur Partei der Unterdrückten gehörte, hätte man erwarten können, dass Shas wenigstens die führende Rolle im sozialen Protest übernehmen würde.

Und tatsächlich sprachen Rabbi Ovadia und seine Untergebenden endlos über das Elend der orientalischen Massen, über die Armen und Behinderten. Aber im realen Leben taten sie absolut nichts, damit dieses Elend durch die Regierungspolitik, durch soziale Reformen, durch Stärkung des Wohlfahrtsstaates u.ä. gelindert werde. Tatsächlich klagten ihre Gegner sie an, absichtlich ihre Wählerschaft in Unwissenheit und Armut zu belassen, um sie so in einem Zustand der Abhängigkeit zu lassen.

Die nüchterne Tatsache ist, dass Ovadia und seine Partei ihre beträchtliche politische Macht für Erpressung ausnutzten, um aus der Regierung immense Geldmengen für ihr unabhängiges Bildungssystem und für nichts anderes herauszuziehen. Dieses System erstreckt sich vom Kindergarten bis in die höheren Talmudschulen. In ihnen wird nichts weiter als heilige Texte gelehrt. Etwa so, wie in den muslimischen Koranschulen. Ihre Absolventen sind nicht in der Lage, sich der arbeitenden Bevölkerung anzuschließen. Natürlich dienen sie auch nicht in der Armee.

Am Tag nach der Beerdigung, als Benjamin Netanjahu seinen Kondolenzbesuch bei der Familie machte, sprachen die Söhne nicht über Frieden und Sozialreformen mit ihm. Sie sprachen mit ihm nur über die bösen Absichten, dass ihre Kinder in der Armee dienen müssen.

Böse Zungen sprachen über die Kontrolle von Josefs Familie über ein riesiges privatwirtschaftliches Empire, das sich auf die Koscher-Bestätigungsindustrie gründete. Bewunderer von Rabbi Ovadia bestanden darauf, dass ihre Lebensmittel von einer seiner Vertrauenspersonen als streng koscher abgesichert wurden – natürlich gegen einen Preis. Niemand weiß, wie viel Kapital sich bei diesem Josef-Familien-Empire angesammelt hat.

FÜR NICHT-ORTHODOXE jüdische Israelis, die noch die Mehrheit darstellen, war Rabbi Ovadia eine exzentrische und sogar eine liebenswürdige Persönlichkeit.

Das Fernsehen liebte seine Art und Weise, wie er die Gesichter seiner hohen oder niedrigen Besucher sozusagen liebevoll betatschte. Seine Flüche sind ein Teil der Folklore geworden (Einmal nannte er Netanjahu eine „blinde Ziege“)

Seine Kleidung machte ihn unverwechselbar. Auch nachdem er den Posten des Sephardischen Oberrabbiner aufgeben musste, bestand er darauf, bis zum Ende den Hut mit goldener Borte zu tragen wie die türkische Uniform dieses Büros.

Wie die meisten Führer dieses Typs hinterlässt er keinen Nachfolger. Es gibt keinen zweiten Rabbi Ovadia, und es wird für lange Zeit keinen geben. Eine Autorität auf persönlicher Führung, Charisma und Gelehrsamkeit benötigt Jahrzehnte. Kein Kandidat ist in Sicht. Selbst das Überleben der Shas-Partei unter Deri ist nicht gesichert.

Für mich ist es eine traurige Geschichte. Israel braucht einen großen sephardischen Führer, der in der Lage ist, die Massen für Frieden und sozialen Fortschritt zu mobilisieren. Ich hoffe nur, dass er noch vor dem Messias kommt.

(Aus dem Engl.: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Der Spielverderber

Erstellt von Redaktion am 20. November 2013

Der Spielverderber

Autor Uri Avnery

BENJAMIN NETANjAHU erweckte mein Mitleid. Aus meiner 10 jährigen Mitgliedschaft in der Knesset weiß ich, wie unerfreulich es ist, vor einem leeren Saal zu sprechen.

Seine ewig gestrigen Genossen – ein pathetischer Rest von Casinobesitzern und ausgebrannter Zionisten des rechten Flügels – saßen auf der Galerie, und eine aufgeblasene israelische Delegation saß im Saal. Doch unterstrichen sie nur die allgemeine Leere. Deprimierend.

Wie anders doch bei Präsident Hassan Rouhanis Empfang! Da war der Saal überfüllt; der Generalsekretär und die andern Würdenträger eilten von ihren Sitzen, um ihm am Ende zu gratulieren. Die internationalen Medien konnten nicht genug von ihm bekommen.

Netanjahu hatte auch Pech. Es war am Ende der Sitzung, jeder beeilte sich, nach Hause oder zum Einkaufen zu gehen. Keiner war in der Stimmung, noch eine Lektion jüdischer Geschichte zu hören. Genug ist genug.

Es kam noch schlimmer. Die Rede wurde durch einen die Welt erschütternden Vorfall total in den Schatten gestellt: die Schließung der US-Bundesregierung. Der Zusammenbruch des gefeierten US-Systems der Regierungsgewalt – etwas wie ein administrativer 9/11 – es war ein faszinierender Anblick. Netanjahu konnte nicht konkurrieren.

VIELLEICHT GAB es bei den Delegierten unseres Ministerpräsidenten ein klein wenig Schadenfreude ihm gegenüber.

Bei seiner Rede vor der UN-Vollversammlung im letzten Jahr nahm er die Rolle des Lehrers der Welt an, benützte primitive Unterrichtshilfen am Rednerpult, zeichnete mit roter Tinte eine Linie in die Zeichnung, die die Bombe darstellte, als wäre es eine Darstellung für die 3. Grundschulklasse

Seit Wochen ist jetzt durch israelische Propaganda den Weltführern erzählt worden, dass sie kindisch naiv seien oder nur einfach dumm. Vielleicht wollten sie dies nicht hören. Vielleicht wurden sie in ihrem Glauben bestärkt, dass die Israelis (oder noch schlimmer: die Juden) arrogant, herablassend sind. Vielleicht war es auch nur eine gönnerhafte Rede zu viel.

All dies ist sehr traurig. Traurig für Netanjahu. Er hatte so viel Mühe in diese Rede gesteckt. Für ihn ist eine Rede vor der UNO (oder dem USA-Kongress) wie eine größere Schlacht eines berühmten Generals – ein historischer Augenblick. Er lebt von einer Rede zur anderen, im Voraus jeden Satz abwiegend und immer wieder übend, auch die Körpersprache und den Tonfall, wie der vollkommene Schauspieler, der er ist.

Und hier war er, der große Shakespearianer und deklamierte „zu sein oder nicht zu sein“ vor einem leeren Saal, unhöflich von einem einzigen schnarchenden Herrn in der zweiten Reihe gestört.

KÖNNTE UNSERE Propaganda weniger langweilig sein?

Natürlich konnte sie.

Bevor Netanjahu seine Füße auf amerikanischen Boden setzte, wusste er, dass die Welt bei den Anzeichen der neuen iranischen Haltung vor Erleichterung aufatmete. Obwohl er überzeugt sein mochte, dass die Ayatollahs – wie gewöhnlich – lügen, war es weise, als Serienspielverderber zu erscheinen.

Er könnte gesagt haben: „Wir heißen die neuen Töne aus Teheran willkommen. Wir hörten mit großer Sympathie Herrn Rouhanis Rede. Zusammen mit der ganzen Welt, die durch diese illustre Versammlung vertreten ist, haben wir die große Hoffnung, dass die iranische Führung es ernst meint und dass durch ernsthafte Verhandlungen eine faire und effektive Lösung gefunden werden kann.

„Doch können wir nicht die Möglichkeit ignorieren, dass diese freundliche Offensive nur eine Nebelwand ist, hinter der Herr Rouhanis interne Feinde weiter an der Atombombe bauen, die uns alle bedroht. Deshalb erwarten wir von uns allen, äußerste Vorsicht bei den Verhandlungen walten zu lassen…“

Es ist der Ton, der die Musik macht.

STATTDESSEN DROHTE unser Ministerpräsident noch einmal – und schärfer als bisher – mit einem israelischen Angriff auf den Iran.

Er zog einen Revolver schwingend hervor, der – wie jeder wusste – leer ist.

Diese Möglichkeit bestand nie wirklich, wie ich es wiederholt bemerkt habe. Die Geographie, die Weltwirtschaft und politische Umstände machen einen Angriff auf den Iran unmöglich.

Aber selbst, wenn es zu irgendeiner Zeit real gewesen wäre, so steht es jetzt außer Frage. Die Welt ist dagegen. Die US-Öffentlichkeit ist endgültig dagegen.

Ein Angriff von Israel allein, angesichts einer resoluten amerikanischen Opposition, ist so wahrscheinlich, als würde Israel eine Siedlung auf dem Mond errichten. Ziemlich unwahrscheinlich.

Ich weiß nichts über die militärische Machbarkeit. Könnte es geschehen? Könnte unsere Luftwaffe dies ohne US-Hilfe und Unterstützung tun? Selbst, wenn die Antwort positiv wäre, die politischen Umstände verbieten es. Tatsächlich scheinen unsere militärischen Chefs an solch einem Abenteuer überhaupt nicht interessiert zu sein.

DER HÖHEPUNKT der Rede war Netanjahus grandiose Erklärung: „Wenn wir alleine stehen müssen, werden wir alleine stehen!“

Woran erinnert mich dies? Gegen Ende des Jahres 1940 erschien in Palästina – und ich vermute im gesamten britischen Empire – ein tolles Propaganda-Plakat. Frankreich war besiegt, Hitler war noch nicht in die Sowjetunion eingefallen, die US war weit davon entfernt, zu intervenieren. Das Poster zeigte den unerschrockenen Winston Churchill und einen Slogan: „Nun gut, dann eben alleine!“

Netanjahu konnte sich nicht daran erinnern, obwohl sein Gedächtnis pränatal ist. Ich nenne es „ Umgekehrten Altzheimer“ – man erinnert sich an Dinge, die sich nie ereigneten. (Er erzählte einmal lang und breit, wie er als Junge mit einem britischen Soldaten in den Straßen Jerusalems eine Diskussion hatte, obwohl der letzte britische Soldat das Land vor mehr als einem Jahr, vor seiner Geburt, verlassen hatte)

Die Phrase, nach der Netanjahu Ausschau hielt, wurde 1896 geschaffen: im Jahr als Theodor Herzl sein epochales Werk „Der Judenstaat“ veröffentlichte. Ein britischer Staatsmann prägte das Schlagwort „Splendid Isolation“, um die britische Politik unter Benjamin Disraeli und seinem Nachfolger zu charakterisieren.

Tatsächlich stammte der Slogan aber aus Kanada, als ein Politiker über Britanniens Isolierung während der napoleonischen Kriege sprach: „Niemals erschien die ‚Imperiale Insel‘ so großartig – sie stand allein und es gab eine ruhmreiche Einsamkeit!“

Sieht sich Netanjahu selbst als eine Wiedergeburt von Churchill, der stolz und unerschrocken gegen einen Kontinent stand, der von den Nazis verschlungen wurde?

Und wo bleibt dabei Barack Obama?

WIR WISSEN wo. Netanjahu und seine Gefolgsleute erinnern uns ständig daran.

Obama ist der moderne Neville Chamberlain.

Chamberlain der Beschwichtiger. Der Mann, der mit einem Blatt Papier wedelte und proklamierte: „Friede in unserer Zeit“ Der Staatsmann, der fast Zerstörung über sein Land brachte.

Bei dieser Version der Geschichte, von der wir jetzt Zeugen sind, ist es das Zweite München. Eine Wiederholung des berüchtigten Abkommens 1938 zwischen Adolf Hitler, Benito Mussolini, Edouard Daladier und Neville Chamberlain, bei dem das Sudetenland, das zur Tschechoslowakei gehörte – aber von Deutschen bewohnt war – zu Nazi-Deutschland kam und so die demokratische kleine Tschechoslowakei ohne Verteidigung ließ. Ein halbes Jahr später fiel Hitler in die Tschechoslowakei ein. Ein paar Monate später brach der 2. Weltkrieg aus, als er in Polen einmarschierte.

Historische Analogien sind immer gefährlich, besonders wenn sie von Politikern und Kommentatoren mit nur oberflächlichem historischem Wissen benützt werden.

Schauen wir uns München an: in der Analogie wird Hitlers Platz von Ali Khamenai eingenommen oder vielleicht von Hassan Rouhani. Tatsächlich? Haben sie die stärkste militärische Maschinerie, wie sie Hitler damals schon hatte?

Und sieht Netanjahu selbst aus wie Eduard Benes, der tschechische Präsident, der vor Hitler zitterte?

Und Präsident Obama, ähnelt er Chamberlain, dem Führer eines geschwächten und praktisch unbewaffneten Großbritannien, in verzweifelter Zeitnot für die Wiederbewaffnung? Ergibt sich Obama einem fanatischen Diktator?

Oder ist es der Iran, der aufgibt – oder vorgibt, seine nuklearen Ambitionen aufzugeben? Der auf seine Knie gebracht wird durch die strengen amerikanisch diktierten internationalen Sanktionen?

(Übrigens wurde die München-Analogie sogar noch verrückter angewandt, als es kürzlich in Israel für das amerikanisch-russische Abkommen zu Syrien ausgesprochen wurde. Dort übernahm Bashar al-Assad die Rolle des siegreichen Hitler, und Obama war der naive Engländer mit dem Schirm. Doch war es Assad, der seine kostbaren chemischen Waffen aufgab, während Obama nichts gab, außer dem Aufschub einer militärischen Aktion. War das München?)

KOMMEN WIR zurück zur Realität: Da gibt es gar nichts Großartiges was die Isolierung Israels in diesen Tagen betrifft.

Isolierung bedeutet Schwäche, Verlust von Macht, ein Schwinden der Sicherheit.

Es ist der Job eines Staatsmannes, Verbündete zu finden, Partnerschaften aufzubauen, die internationale Stellung seines Landes zu stärken.

Netanjahu liebt in letzter Zeit, unsere alten Weisen zu zitieren: „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?

Er vergisst den zweiten Teil desselben Satzes zu erwähnen: „Und wenn ich allein bin, was bin ich dann?“

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Die wirkliche Bombe

Erstellt von Redaktion am 10. November 2013

Die wirkliche Bombe


Autor Uri Avnery

VOR JAHREN verriet ich eines der größten Geheimnisse des Iran. Mahmoud Ahmadinejad war ein Agent des Mossad. Plötzlich hatten alle seltsamen Details seines Verhaltens einen Sinn. Seine öffentlichen Phantasien über das Verschwinden Israels. Seine Leugnung des Holocaust, was bis dahin nur typisch für einen Verrückten war.Sein Sich-Rühmen von Irans nuklearen Fähigkeiten.

Cui bono? Wem nützt es? Wer hatte Interesse an all dem Unsinn?

Da gibt es nur eine vernünftige Antwort: Israel. Sein Sich-in-Pose-werfen stellte den Iran als einen Staat dar, der beides war, lächerlich und unheimlich. Es rechtfertigte Israels Weigerung, den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag zu unterzeichnen oder die Chemiewaffen-Konvention zu ratifizieren. Es lenkte die Aufmerksamkeit von Israels Weigerung ab, über die Besatzung der palästinensischen Gebiete zu diskutieren und sinnvoll Friedens-verhandlungen durchzuführen.

FALLS ICH Zweifel an diesem internationalen Knüller gehegt hätte, hat sich dieser jetzt aufgelöst.

Unsere politischen und militärischen Führer beklagen fast offen das Ende von Ahmadinejad.

Offensichtlich entschied der Oberste Führer Ali Khamenei, dass ich Recht hatte, und hat diesen Clown beseitigt.

Es ist noch schlimmer: er hat seine tödliche Feindschaft mit der zionistischen Entität bestätigt, indem er eine Person wie Hassan Rohani in den Vordergrund schob.

Rohani ist das genaue Gegenteil seines Vorgängers. Wenn der Mossad gefragt worden wäre, den schlimmsten iranischen Führer, den sich Israel vorstellen könne, zu skizzieren, dann hätte er jemand wie ihn vorgeschlagen .

Ein Iraner, der den Holocaust anerkennt und verurteilt! Ein Iraner, der eitel Freude und Sonnenschein anbietet! Ein Iraner, der allen Nationen Frieden und Freundschaft anbietet – und sogar andeutet, dass Israel mit eingeschlossen ist, wenn es nur die besetzten Gebiete aufgebe!

Könnte man sich irgendetwas Schlimmeres vorstellen?

ICH MACHE keinen Witz. Ich meine es todernst!

Ja, noch bevor Rohani nach seiner Wahl seinen Mund öffnen konnte, wurde er rundweg von Benjamin Netanyahu verurteilt.

Ein Wolf im Schafspelz! Ein wirklicher Anti-Semit. Ein Betrüger, der die ganze Welt täuscht! Ein hinterhältiger Politiker, dessen teuflisches Ziel es ist, einen Keil zwischen Israel und die naiven Amerikaner zu treiben!

Dies ist die wirkliche iranische Bombe, bei weitem bedrohlicher als die Atombombe, die hinter einer Nebelwand von Rohanis freundlicher Rede gebaut wird.

Eine Atombombe kann eine andere Atombombe abschrecken. Aber wie kann man einen Rohani abschrecken?

Yuval Steinitz, unser gescheiterter früherer Finanzminister und der gegenwärtig für unsere „strategische Angelegenheiten“ verantwortlich ist (Ja, wirklich!), rief in Verzweiflung aus, dass die Welt vom Iran getäuscht werden wolle. Benjamin Netanyahu nannte es eine „Honigfalle“. Kommentatoren, die „offiziellen Kreisen“ aus der Hand fressen (d.h. dem Büro des Ministerpräsidenten) behaupten, dass er eine existentielle Bedrohung darstelle.

All dies, bevor er ein Wort geäußert hatte.

ALS ROHANI schließlich seine große Rede bei der UN-Vollversammlung hielt, haben sich alle verheerenden Vorahnungen als richtig erwiesen.

Während Ahmedinejad eine Massenflucht der Delegierten aus der Halle verursachte, füllte Rohani sie. Diplomaten aus aller Welt waren neugierig auf den Mann. Sie hätten die Rede ein paar Minuten später lesen können, aber sie wollten ihn selbst sehen und hören. Sogar die US sandte Abgeordnete, um anwesend zu sein. Keiner ging hinaus.

Keiner d.h. außer den Israelis.

Den israelischen Diplomaten wurde von Netanyahu befohlen, die Halle demonstrativ zu verlassen, wenn der Iraner zu sprechen anfange.

Das war eine dumme Geste. So vernünftig und effektiv wie der Wutanfall eines kleinen Jungen, wenn ihm das Lieblingsspielzeug weggenommen wird.

Dumm, weil dies Israel als Spielverderber darstellte, und zwar zu einer Zeit, als die ganze Welt nach den kürzlichen Ereignissen in Damaskus und Teheran von Optimismus ergriffen ist.

Dumm auch, weil es die Tatsache erklärt, dass Israel zur Zeit total isoliert ist.

Übrigens, hat jemand bemerkt, dass Rohani während seiner halbstündigen Rede ständig seine Stirne abgewischt hat? Der Mann hat offensichtlich gelitten. Ist ein anderer Mossad-Agent in den Wartungsraum der UN geschlichen, um die Klimaanlage abzuschalten? Oder war es nur die schwere Garderobe?

Ich wurde niemals Priester, nicht nur, weil ich ein Atheist bin (gemeinsam mit vielen Priestern, vermute ich), sondern auch wegen der Verpflichtung, die entsprechenden schweren, geistlichen Gewänder zu tragen, wie es in allen Religionen gefordert wird. Dasselbe gilt auch für Diplomaten.

Schließlich sind alle Priester und Diplomaten auch Menschen (Wenigstens viele von ihnen).

Nur ein israelisches Kabinettmitglied wagte offen das Verhalten der israelischen Delegation zu kritisieren: Yair Lapid. Was ist in ihn gefahren? Nun, Umfragen zeigen, dass der aufgehende Stern nicht weiter aufsteigt. Als Finanzminister war er gezwungen worden, sehr unpopuläre Schritte zu tun. Da er nicht über Dinge wie die Besatzung und Frieden spricht, wird er als oberflächlich angesehen. Er ist fast zur Seite geschoben worden. Seine unverblümte Kritik an Netanyahu könnte ihn zurück ins Zentrum bringen.

Doch hat er seinen Finger auf eine zentrale Tatsache gelegt, dass Netanyahu und seine Mannschaft sich genau wie früher die arabischen Diplomaten benehmen. Sie tun so, als lebten sie vor einer Generation. Das bedeutet, dass sie in der Vergangenheit stecken geblieben sind. Sie leben nicht in der Gegenwart.

In der Gegenwart zu leben, heißt, dass Politiker etwas tun müssen, was sie nicht gern tun: wieder nachdenken.

Die Dinge ändern sich, langsam, sehr langsam, aber spürbar.

Es ist viel zu früh, über die abnehmende Bedeutung des amerikanischen Empire viel zu sagen, aber man braucht keinen Seismographen, um einige Bewegung in dieser Richtung zu bemerken.

Die syrische Affäre war ein gutes Beispiel. Vladimir Putin mag gern in Judo-Haltung fotografiert werden. Beim Judo nützt man den Schwung des Gegners, um ihn zu Fall zu bringen. Das ist genau das, was Putin tat. Präsident Obama hat sich selbst in die Ecke getrieben. Er hat deutlich kampflustige Drohungen artikuliert und konnte nicht zurück. Aber die US-Öffentlichkeit ist in keiner kriegerischen Stimmung. Putin befreite ihn aus diesem Dilemma. Es hatte aber seinen Preis.

Ich weiß nicht, ob Putin solch ein guter Spieler ist, dass er sich auf eine Nebenbemerkung von John Kerry auf Bashar Assad stürzte: er habe eine Chance, auf chemische Waffen zu verzichten. Ich habe ziemlich den Verdacht, dass dieses im Voraus arrangiert war. So oder so, Obama war gerettet, und Putin war wieder im Spiel.

Ich habe über Putin sehr gemischte Gefühle. Er hat seinen tchetchenischen Bürgern gegenüber das angetan, was Assad seinen sunnitischen Bürgern jetzt antut. Seine Behandlung von Dissidenten, wie der Pussy Riot Gruppe, ist abscheulich.

Aber auf der internationalen Bühne ist Putin jetzt der Friedensmacher. Er hat den Stachel aus der chemischen-Waffenkrise herausgezogen; und er könnte möglicherweise, die Initiative ergreifen und ein politisches Abkommen für den fürchterlichen Bürgerkrieg erreichen.

Der nächste Schritt könnte sein, eine ähnliche Rolle in der iranischen Krise zu übernehmen. Falls Khamenei zu der Schlussfolgerung kommen sollte, dass sein nukleares Programm nicht so viel wert ist, wie die durch die Sanktionen verursachte wirtschaftliche Misere, dann mag er es an die US verkaufen. In diesem Fall könnte Putin eine lebenswichtige Rolle spielen: zwischen zwei knallharten Unterhändlern zu vermitteln, die eine Menge zu verhandeln haben.

(Es sei denn, Obama verhält sich wie der Amerikaner, der in einem persischen Bazar einen Teppich kaufte. Der Verkäufer verlangte 1000 $, und der Amerikaner bezahlte, ohne zu feilschen. Als ihm gesagt wurde, dass der Teppich nicht mehr als hundert Dollar wert sei, antwortete er: „Ich weiß, aber ich wollte ihn bestrafen. Jetzt wird er nicht schlafen können und sich verfluchen, dass er nicht 5000 $ verlangt hat)

WIE PASSEN wir Israelis in diese sich verändernde Szene?

Zunächst mal müssen wir anfangen nachzudenken, auch wenn wir es lieber vermeiden würden. Neue Umstände fordern neue Gedanken.

In seiner eigenen US-Aussprache machte Obama eine klare Verbindung zwischen der iranischen Bombe und der israelischen Besatzung. Diese Verbindung kann nicht unberücksichtigt bleiben. Also greifen wir zu.

Die US sind heute etwas weniger bedeutsam, als sie gestern waren. Russland ist etwas bedeutsamer, als es gestern war. Wie AIPACs sinnloser Angriff auf den Kapitol-Hügel während der syrischen Krise zeigt, ist auch diese Organisation heute ein bisschen weniger mächtig.

Denken wir noch einmal über den Iran nach. Es ist zu früh, zu folgern, wie weit sich Teheran bewegen wird, wenn überhaupt. Aber wir müssen es versuchen. Räume zu verlassen, ist keine Politik, sie zu betreten ist Politik.

Wenn wir einige unserer früheren Beziehungen mit Teheran wieder herstellen oder eben nur den Stachel aus der gegenwärtigen herausnehmen könnten, wäre dies ein sehr großer Gewinn für Israel. Dies mit einer wirklichen Friedensinitiative gegenüber den Palästinensern zu verbinden, wäre sogar noch besser.

Unser gegenwärtiger Kurs führt uns in die Katastrophe. Die gegenwärtigen Veränderungen auf der internationalen und der regionalen Bühne könnten eine Veränderung des Kurses möglich machen

Helfen wir Präsident Obama, die amerikamische Politik zu verändern, statt AIPAC dazu benützen, dass er den Kongress terrorisiert, damit er blind eine überholte Politik gegenüber dem Iran und den Palästinensern unterstützt. Strecken wir vorsichtige Fühler in Richtung Russland aus. Verändern wir unsere öffentliche Haltung, wie die iranischen Führer es mit solchem Erfolg tun.

Oder sind sie klüger als wir?

(aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Gestohlene Kriege

Erstellt von Redaktion am 3. November 2013

Gestohlene Kriege

Autor Uri Avnery

WENN JEMAND von dir etwas Kostbares stiehlt, sagen wir einen Diamanten, wirst du ärgerlich sein.

Selbst Gott sagt so etwas. Als Er einen Wurm sandte, um die  Rhizinusstaude  , die dem Propheten Jona  in der Wüste Schatten spendete, verdorren ließ, fragte er ihn  boshaft:  „Meinst du, dass du mit Recht zürnst um der Staude willen? „ (Jona4,9)
Und nun ist da jemand, der uns etwas viel Kostbareres als einen Diamanten oder eine Staude gestohlen hat.

Einen Krieg, vielleicht sogar zwei Kriege.

Also haben wir jedes Recht, wütend zu sein.

KRIEG NUMMER EINS sollte in Syrien stattfinden. Die US waren dabei, das Regime von Bashar al-Assad anzugreifen. Eine medizinische Operation: kurz, sauber, chirurgisch

Als der Kongress zögerte, wurden die Hunde der Hölle losgelassen. AIPAC sandte seine  Rottweiler auf den Kapitolhügel, um jeden  Senator oder Kongressmann, der dagegen war, in Stücke zu reißen. In Israel wurde gesagt, dass Benjamin Netanjahu sie auf ausdrücklichen Wunsch von Barack Obama dorthin sandte.

Aber die ganze Übung ging von Anfang an schief. Die Amerikaner sagten, sie würden das Assad-Regime nicht stürzen. Gott bewahre! Im Gegenteil. Assad sollte bleiben. Es war nicht nur ein Fall eines Teufels den man kennt und deshalb  gegenüber dem vorzieht, den man nicht kennt  – es war klar, dass der andere Teufel  viel schlimmer wäre.

Als ich sagte, dass die US, Russland, der Iran und Israel ein gemeinsames Interesse hätten, Assad zu stützen, sah ich einige Augenbrauen hochgehen. Aber es war einfach logisch. Keiner dieser ungebührlichen Genossen hatte ein Interesse, in Syrien eine bunte Menge gewalttätiger Islamisten an die Macht zu bringen, die  die einzige Alternative zu sein schienen, wenn der Kampf weiterging.
Bekämpft man also jemanden, von dem man wünscht, dass er bleibt? Das gibt nicht viel Sinn. Also, kein Krieg.

DIE ISRAELISCHE Wut  über einen guten Krieg, der dreist gestohlen wurde, war sogar noch größer.

Falls die Amerikaner nicht ganz bei Sinnen sind, dann wären wir praktisch schizophren.

Assad ist ein Araber, ein böser Araber. Es ist noch schlimmer: er ist der Verbündete des großen, bösen Wolfs – des Iran. Assad liefert den Korridor für den Transfer von Waffen vom Iran zur Hisbollah im den Libanon.  Wahrlich, das Zentrum der Achse des Bösen.
Stimmt, aber die Assads – Vater und Sohn und ihr unheiliger Geist – haben an ihrer Grenze mit Israel Ruhe gehalten. Seit Jahrzehnten kein einziger Schuss. Wenn er stürzt und sein Platz von  verrückten Islamisten übernommen wird – was wird dann geschehen?
Das israelische Herz sagt darum: schlagt ihn, schlagt ihn hart. Aber das israelische Gehirn sagt– ja, das gibt es irgendwo auch – sagt, halte ihn, wo er ist. Es ist ein wirkliches Dilemma.

Doch gibt es noch  eine andere Betrachtungsweise, eine viel ernstere für Netanyahu und Co: den  Iran.

ES IST eine Sache, einen kleinen chirurgischen Eingriff  zu stehlen.  Etwas ganz  anderes ist es,  einer wirklich großen Operation beraubt zu werden.

Ein israelischer Cartoon zeigte kürzlich den Präsidenten des Iran, wie er vor dem Fernsehschirm sitzt, und  sein Popcorn isst und mit Gefallen beobachtet, wie Obama in Syrien geschlagen wird.

Wie kann Obama auf den Iran Druck ausüben, fragen die israelischen Kommentatoren und Politiker, wenn er den Druck auf Syrien aufgegeben hat? Nachdem er Assad die dünne rote Linie ungestraft hat überschreiten lassen, wie will er die Iraner daran hindern, die viel dickere rote Linie zu  überqueren, die er dort gezogen hat?

Wo ist die amerikanische Abschreckung? Wo ist die Furcht, die von der mächtigen Weltmacht eingeflößt wurde? Warum würden die Ayatollas sich davon abhalten lassen, ihre Atombombe zu bauen, nachdem der amerikanische Präsident in die primitive Falle fiel, die ihm die Russen legten, wie es die Israelis sehen?

UM EHRLICH zu sein, kann ich ein bisschen Schadenfreude über die traurige Lage unserer Kommentatoren nicht unterdrücken
Als ich kategorisch feststellte, dass es keinen amerikanischen Militärschlag gegen den Iran gebe    und auch keinen israelischen, dachten einige meiner Bekannten, ich sei übergeschnappt.

Kein Krieg? Nachdem Netanyahu ihn versprochen hatte? Nachdem Obama seinem Beispiel gefolgt ist. Es muss einen Krieg geben!
Und siehe da, der Krieg verschwindet in der Ferne.

In Israels Augen  wird der Iran von einer verrückten Bande  religiöse Fanatiker beherrscht, deren einziges Ziel es ist, Israel zu vernichten. Sie sind voll damit beschäftigt, die Bombe zu bauen, mit der sie genau das tun wollen. Sie kümmern sich nicht darum, dass der  zweite Schlag von Seiten Israels  sicher ist, und der den Iran auf immer zerstören  würde. Sie sind nun mal diese Art von Leuten. Die Produktion der Bombe muss unter allen Umständen verhindert werden. Einschließlich des Kollapses der Weltwirtschaft als Folge der Schließung der Straße von Hormus.

Das ist ein klares Bild, jeder Teil ist in sich evident. Leider hat es keine Verbindung zur Realität.

DIE EREIGNISSE der letzten Zeit produzierten ein völlig anderes Bild

Es begann mit den Wahlen im Iran. Der leicht verwirrte Ahmadinejad, der pathologische Holocaustleugner, ist verschwunden. An seine Stelle wurde ein bescheiden aussehender, moderater Hassan Rouhani gewählt.

Solch eine Wahl wäre  ohne die Zustimmung des obersten Führers  Ali Khamenei unmöglich gewesen. Offensichtlich war Rouhani seine persönliche Wahl.

Was bedeutet dies? Für israelische Kommentare ist es ganz offensichtlich:  die verschlagenen, trickreichen Perser betrügen wieder die ganze Welt. Sie werden natürlich fortfahren, ihre Bombe zu bauen. Aber die naiven Amerikaner werden ihren Lügen glauben, kostbare Zeit wird verloren sein, und eines Tages werden die Iraner sagen. Jetzt haben wir die Bombe! Von jetzt ab können wir tun, was wir wollen! Besonders die zionistische Entität zerstören!

All dies ist auf pure Fantasie gebaut.  Die Iraner sind weit davon entfernt, ein primitives, selbstzerstörerisches Volk zu sein. Es ist ihnen sehr bewusst, dass sie die Erben einer glorreichen Zivilisation sind, wenigstens so alt und so reich wie die jüdische Vergangenheit. Die Idee, Königinnen zu tauschen – wir zerstören euch, ihr zerstört uns– ist lächerlich, besonders wo doch das Schachspiel, ein persisches Spiel ist (allein das Wort „Schach“  soll vom persischen Shah, (König), kommen)

Tatsächlich sind die iranischen Führer sehr vorsichtig, sehr überlegt. Sie haben nie ihre Nachbarn angegriffen. Der schreckliche, acht Jahre lange Krieg mit dem Irak war von dem leichtsinnigen Saddam Hussain begonnen worden.

Der Impuls zum Entwickeln der Bombe kam, als die machttrunkenen Neokonservativen in Washington, die meisten von ihnen zionistische Juden, ganz offen davon sprachen, den Iran als nächstes anzugreifen, direkt nach dem kurzen kleinen  Krieg, mit dem sie im benachbarten Irak rechneten.

Anscheinend hat die iranische Führung entschieden, dass es jetzt weit wichtiger ist, die Wirtschaft zu fördern, als mit der Bombe zu spielen. Während sie von Natur aus Händler sind – Basar ist auch ein persisches Wort – mögen sie die  Bombe aufgeben, damit die Sanktionen aufgehoben würden und  die Reichtümer Irans für den Wohlstand der Bürger ausgenützt werden können, die hoffen, eine fortgeschrittene  moderne Gesellschaft zu werden. Deshalb wählten Khamenei und  das Volk jemanden wie Roukhani.

IN DIESER Woche strahlte das israelische Fernsehen einen Dokumentarfilm  über das Leben der Israelis im Iran zur Zeit des Shahs aus. Es war  ein regelrechtes  Paradies (auch ein persisches Wort). Die Israelis lebten wie Gott in Frankreich. Sie bauten die gefürchtete geheime Polizei  auf(Der Savak – nicht mit dem Shaback, dem israelischen Model- zu verwechseln)Sie nahmen sich seiner Generäle an, von denen die meisten in Israel ausgebildet wurden. Sie bauten seine Industrie auf und begannen seine nuklearen  Einrichtungen zu bauen. Reine Nostalgie.

Iranisches Öl wurde nach Europa durch Israel exportiert, und zwar mittels einer Pipeline, die zwischen Elath und Askalon gelegt und vom Shah finanziert wurde. Der amerikanisch-israelisch-iranische Deal, als Iran-Gate bekannt, wurde in den frühen Tagen des Ayatollahs (buchstäblich: Zeichen des Allah)  ausgedacht.

Diejenigen, die in der Geschichte zurückgehen wollen, sollen an die Tatsache, erinnert werden,  dass die Juden Dank des  großen persischen Kaisers Cyrus , aus der babylonischen Gefangenschaft nach Jerusalem zurückkehren konnten, wie es denn auch in der Bibel berichtet wird( in den Büchern Ezra und Nehemia).

Die moderne Verbindung zwischen Israel und dem Iran wurde auf der gemeinsamen Feindschaft gegen die Araber aufgebaut und könnte leicht  wieder ins Blickfeld geraten. Politik ist wie Pornographie  ???, sie sind eine Sache der Geographie.

DIE KRIEGSMÜDE amerikanische Bevölkerung scheint geneigt zu sein, sich mit den Iranern zu arrangieren. Businessmen wollen Basarhändler treffen und hoffen,  einen Deal zu machen statt Krieg.

Zur selben Zeit ist auch in Syrien eine positive Entwicklung möglich. Jetzt, wo die USA und Russland entdeckt haben, dass sie in dieser kritischen  Region zusammen arbeiten können, mögen die beiden Seiten des Bürgerkrieges  des gegenseitigen Mordens müde sein und mit einer politischen Lösung (die ich  letzte Woche z.B. beschrieben habe) übereinstimmen.

Dies würde zwei gestohlene Kriege machen – gestohlen von jenen, die an einem primitiven Glauben festhalten und darin übereinstimmen, die einzige Lösung für jedes Problem sei die Anwendung nackter Gewalt.

Eine Dame  aus Pakistan sandte mir folgendes Wort von Bertrand Russell:

„Ich habe einen sehr einfachen Glauben, dass Leben und Freude und Schönheit besser als der staubige Tod sind, und ich denke, wenn wir  der Musik lauschen, müssen wir alle empfinden, dass die Fähigkeit, solch eine Musik zu produzieren und die Fähigkeit, Musik zu hören, eine Sache ist, die sich lohnt zu erhalten und  nicht in törichte  Zankerei geworfen werden sollte. Man mag sagen, es ist ein einfacher Glaube, aber ich denke, dass alles Bedeutsame tatsächlich sehr einfach ist.“

(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Ein guter Krieg

Erstellt von Redaktion am 27. Oktober 2013

Ein guter Krieg

Autor Uri Avnery

HIER IST wieder ein jüdischer Witz: Ein hungriger junger Jude sieht ein Ankündigungsplakat außerhalb eines lokalen Zirkus: Jeder, der auf die 50 Meter hohe Stange klettert und auf die Zeltplane unten springt, wird einen Preis von 1000 Rubeln gewinnen.

Aus Verzweiflung geht er hinein, klettert auf die Stange und, es schaudert ihn beim Hinuntersehen.

„Spring, spring!“ schreit der Zirkusdirektor.

„Springen kommt nicht in Frage!“ ruft der Jude zurück. „ Aber wie komme ich wieder runter?“

Das ist es, was Barack Obama empfand, kurz bevor die Russen die Mittel lieferten.

Die Schwierigkeit mit Krieg ist, dass er zwei Seiten hat.

Man bereitet sorgfältig einen Krieg vor. Man hat einen perfekten Plan. Zukünftige Generäle werden ihn in ihren Akademien studieren. Aber wenn man dann den ersten Schritt macht, geht alles schief. Weil die andere Seite eine eigene Vorstellung hat und sich nicht so benimmt, wie man erwartet hat.

Ein gutes Beispiel wurde (nach dem hebräischen Kalender) genau heute vor 40 Jahren durch den ägyptischen und syrischen Angriff auf Israel geliefert. Nach unserer Planung hätten sie das nicht tun sollen. Kein Ausweg. Sie wussten, dass unsere Kräfte überlegen waren und ihre Niederlage unvermeidlich.

Der Chef des Armeenachrichtendienstes, der für die Information der Geheimdienste war, prägte den berühmten Ausdruck: „ Low Probability“ (Geringe Wahrscheinlichkeit). Während Hunderte von Anzeichen darauf deuteten, dass ein Angriff drohte, brachte es die Regierung von Golda Meir und Mosche Dayan fertig, total überrascht zu sein, als die Ägypter den Suezkanal überquerten und die Syrer zum See Genezareth durchbrachen.

Einige Zeit vorher hatte ich die Knesset gewarnt, dass die Ägypter dabei seien, einen Krieg vorzubereiten. Keiner nahm es ernst. Ich war kein Prophet. Ich war nur gerade von einer Friedenskonferenz mit arabischen Delegierten zurückgekehrt. Und ein hoher ägyptischer früherer Oberst sagte zu mir, dass Anwar al-Sadat angreifen würde, wenn Israel seinen geheimen Friedens-vorschlag und den Abzug vom Sinai nicht akzeptieren würde. „Aber ihr könnt nicht gewinnen!“ protestierte ich. „Er wird nicht angreifen, um zu gewinnen, sondern um die eingefrorene Situation wieder zu bewegen“, antwortete er.

SEITDEM HATTE die Phrase „geringe Wahrscheinlichkeit“ einen bedrohlichen Klang in den Ohren der Israelis gehabt. Keiner benützt es. Aber während der letzten beiden Wochen kamen sie plötzlich wieder zurück.

So unglaublich es klingt: es wurde unserem Armeekommando neues Leben gegeben. So eifrig man die Amerikaner Syrien angreifen sehen wollte und man in Israel hinter Gasmasken her war, verkündeten sie, dass es eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit gebe, dass Bashar al-Assad mit einem Angriff auf Israel Vergeltung üben würde.

Er würde es natürlich nicht wagen. Wie könnte er? Seine Armee ist mit den Rebellen festgefahren. Sie ist auf jeden Fall unserer Armee unterlegen und nach zwei Jahren Bürgerkrieg ist sie sogar noch schwächer als sonst. Also wäre es Tollheit, von seiner Seite aus uns zu provozieren. Absolut. Sehr, sehr geringe Wahrscheinlichkeit.

Oder?

Es wäre sicher so, wenn Assads Gehirn so arbeiten würde wie das eines israelischen Generals. Aber Assad ist kein israelischer General. Er ist der syrische Diktator, und sein Gehirn arbeitet ganz anders.

Wie wäre es mit dem folgenden Szenario?

Die Amerikaner greifen Syrien mit Raketen und Bomben mit der Absicht an, die Rote Linie zu unterstreichen. Nur gerade eine kurze, begrenzte Aktion.

Assad erklärt Israel dafür verantwortlich und schleudert seine Raketen auf Tel Aviv und Dimona.

Israel rächt sich mit einem schweren Angriff auf Syriens Einrichtungen.

Assad erklärt, dass der Bürgerkrieg vorbei ist und ruft alle Syrer und die ganze arabische und muslimische Welt auf, sich hinter ihm vereint zu versammeln, um die heilige arabische Erde gegen den allgemeinen zionistischen Feind, den Unterdrücker der palästinensischen Brüder, zu verteidigen.

Die Amerikaner werden zur Verteidigung Israels eilen und—-

Und dass soll „geringe Wahrscheinlichkeit“ sein“?

DESHALB WAR ich so erleichtert als Obama selbst – als die Russen ihm halfen -von der hohen Stange herunterkam. Wow!

Was wird nun mit den chemischen Waffen geschehen? Ich mache mir wirklich wenig Sorgen. Ich dachte von Anfang an, die Hysterie darum sei bei weitem übertrieben. Assad ist in der Lage, all die gewünschten Gräueltaten auch ohne Giftgas auszuführen.

Es sollte daran erinnert werden, warum sein Vater dieses Gas an erster Stelle produzieren ließ. Er glaubte, Israel entwickle Atomwaffen. Da er nicht in der Lage war, so teure und technisch fortgeschrittene Waffen selbst herzustellen, entschied er sich für billigere – chemische und biologische – Waffen zur Abschreckung. Nach einem geheimen CIA-Bericht von 1982 produzierte Israel auch schon solche Waffen selbst.

Wir stecken also jetzt in einem langen Prozess von Verhandlungen, gegenseitigen Beschuldigungen, Inspektionen, Materialtransfer usw. Gut für viele Monate, wenn nicht für Jahre.

Inzwischen gibt es keine amerikanische Intervention. Keinen regionalen Krieg –nur das übliche gegenseitige Blutvergießen in Syrien.

ISRAEL IST wütend. Obama ist ein Waschlappen. Ein Feigling. Wie wagt er es noch, der amerikanischen öffentlichen Meinung zuzuhören? Wer wird ihm noch glauben?

Nachdem diese Rote Linie überquert war, wer wird Obama die viel breitere Linie abnehmen, die er in den Sand des Iran gezogen hat?

Ehrlich gesagt, keiner. Aber nicht wegen Syrien.

Es gibt absolut keine Ähnlichkeit zwischen der Situation in Syrien und im Iran. Selbst wenn die „begrenzte“ Aktion zu einer großen Aktion geführt hätte, was ziemlich möglich gewesen wäre, es wäre ein kleiner Krieg mit wenigen Auswirkungen auf die amerikanisch nationalen Interessen gewesen. Ein Krieg mit dem Iran ist eine völlig andere Sache.

Wie ich viele Male zuvor geschrieben habe, würde ein Krieg mit dem Iran zur unmittelbaren Schließung der Straße von Hormuz führen, eine weltweite Öl-Krise, eine globale ökonomische Katastrophe mit unvorstellbaren Konsequenzen.

Ich wiederhole: es wird keinen Amerikaner – und keinen Israeli geben, der den Iran angreift. Punkt.

TATSÄCHLICH KOMMT Obama ziemlich gut aus dieser Krise heraus.

Sein Zögern, das in Israel so viel Verachtung hervorrief, gereicht ihm zu Kredit. Es ist richtig, zu zögern, statt in den Krieg zu eilen. Im Krieg werden Menschen getötet. Selbst ein gezielter Schlag kann sehr viele Menschen töten. In der gereinigten militärischen Sprache wird dies „Kollateralschaden“ genannt.

Wir sollten es wissen. Vor Jahren begann Israel im Libanon eine winzige Operation und tötete unabsichtlich eine Menge Leute in einem UN-Flüchtlingslager.

Obama benützte militärische Gewalt in der Weise, wie sie benützt werden sollte, nicht zum Kämpfen, wenn das Kämpfen vermieden werden kann, sondern um dem diplomatischen Druck mehr Gewicht zu geben. Die Russen würden sich nicht bewegt haben, und Assad hätte sich ihrem Druck nicht gebeugt, wenn es nicht die glaubwürdige Drohung eines amerikanischen Militärschlag gegeben hätte. Sogar Obamas Entscheidung, den Kongress um Genehmigung zu bitten, war in diesem Kontext richtig. Dies lieferte die Atempause, die die russische Initiative möglich machte. Ja, die Russen sind bei dem großen Spiel wieder dabei. Sie werden auch eine Rolle bei der kommenden Konfrontation mit dem Iran spielen. Sie sind einfach zu groß, um ignoriert zu werden. Und Vladimir Putin ist ein zu schlauer, raffinierter Spieler, als dass er beiseitegeschoben werden könnte

Für Zuschauer mit literarischer Neigung ist das Zwischenspiel zwischen Obama und Putin faszinierend – so verschiedene Charaktere, solch verschiedene Motivationen. Wie der Schwert schwingende und den Dreizack schwingende Gladiator in der alten römischen Arena.

Und die UN ist auch wieder zurück. Die gute alte UN, so unwirksam, so schwach, aber so nötig in Situationen wie dieser. Gott segne sie.

ABER WAS ist nun mit Syrien los? Was mit den weiter gehenden Massakern, anderweitig als Bürgerkrieg bekannt? Wird er immer weitergehen? Kann diese Krise in eine Lösung verwandelt werden?

Ich denke, das ist möglich.

Jetzt wo die US und die Russen nicht mehr mit einander auf Kriegsfuß stehen und Iran mit einer viel vernünftigeren Stimme spricht (danke für die Grüße zu Rosh Hashana), könnten wir vielleicht vorsichtig, sehr vorsichtig an eine Lösung denken.

Ich kann mir z.B. eine gemeinsame amerikanisch-russische Initiative entlang folgender Linien vorstellen:

Syrien wird als Bundesstaat ähnlich Bosnien oder der Schweiz reorganisiert .Es wird aus konfessionellen Kantonen nach bestehenden Linien zusammengesetzt werden: Sunniten, Alawiten, Kurden und Drusen etc.

Anstelle des allmächtigen Präsidenten wird es eine kollektive oder rotierende Präsidentschaft geben. Dies würde das persönliche Problem von Assad lösen.

Dies wäre eine Lösung, mit der jeder leben könnte. Ich sehe keine andere Lösung, die ohne viel Blutvergießen adoptiert werden kann. Ich denke nicht, dass man zum Status quo ante zurück gehen kann. Die Alternative zu dieser Lösung ist endloses Blutvergießen und das Auseinander-brechen des Staates.

Falls so etwas wie diese Lösung adoptiert würde, könnte diese Krise nützliche Früchte bringen.

Was wieder zeigen würde, dass, der einzige „gute Krieg“ ein Krieg ist, der vermieden wird.

(aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

 

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Eine Förderation-Warum nicht?

Erstellt von Redaktion am 22. September 2013

Eine Förderation-Warum nicht?

Autor Uri Avnery

AVRAHAM BURG (53) war ein Mitglied der Arbeiterpartei und eine Zeit lang Präsident der Knesset. Sein verstorbener Vater war lange Zeit Kabinettminister und Führer der national-religiösen Partei, bevor diese zu einem fanatisch-messianischer Mob mutierte. Die Beziehungen zwischen Burg sen. und mir waren recht freundschaftlich, weitgehend deshalb, weil wir die einzigen beiden Mitglieder der Knesset waren, die in Deutschland geboren sind.

Burg jr., der immer noch die Kippa eines gläubigen Juden trägt, trat in die Laborpartei ein und wurde Mitglied der „acht Tauben“, einer moderaten Gruppierung innerhalb der Partei.

Letzte Woche veröffentlichte Haaretz einen Artikel, in dem Burg vorschlug, die „Zweistaaten-Lösung“ mit einer „Zweistaaten-Föderation“ zu verknüpfen. Dabei benutzte er die Metapher eines Gebäudes, dessen Erdgeschoss sich aus den Menschenrechten zusammensetzt, dessen erster Stock die zwei Staaten, Israel und Palästina – und dessen zweiter die Föderation hostet.

Das hat in mir viele Erinnerungen wachgerufen.

Im Frühjahr 1949, unmittelbar nach der Unterzeichnung des Original-Waffenstillstandsabkommens zwischen dem neuen Staat Israel und den arabischen Ländern, die in den Krieg eingegriffen hatten, bildete sich in Israel eine Gruppe, die sich für die Errichtung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels und für die Unterzeichnung eines Paktes zwischen den beiden Nationen einsetzen wollte.

Solche Gedanken wurden zu der Zeit als ketzerisch angesehen, da die tatsächliche Existenz eines palästinensichen Volkes in Israel energisch abgestritten wurde.

Sie bestand aus einem muslimischen Araber, einem arabischen Drusen und mir. Als unsere Versuche, eine neue Partei zu gründen, scheiterten, löste sich die Gruppe nach einiger Zeit wieder auf. (Kurioserweise wurden wir alle drei später Mitglieder der Knesset.)

In einem brisanten Punkt waren wir uns einig: Die Grenzen zwischen den beiden Staaten müssen für den freien Verkehr von Menschen und Waren offen sein. Wir benutzten das Wort ,„Föderation“ nicht explizit, aber so etwas hatten wir im Sinn.

Nach dem Suez-Krieg im Jahre 1956 griff eine neue Gruppe diesen Gedanken auf. Sie wurde von Nathan Yellin-Mor und mir ins Leben gerufen und lockte eine beeindruckende Vielzahl Intellektueller, Schriftsteller und Künstler an. Yellin-Mor war der ehemalige Anführer der „Kämpfer für die Freiheit Israels“, die von den Briten als die extremste jüdische Terroristenorganisation gebrandmarkt worden war und die als „Stern-Bande“ bekannt war.

Solche Gedanken wurden zu der Zeit als ketzerisch angesehen, da die tatsächliche Existenz eines palästinensischen Volkes in Israel energisch abgestritten wurde.Wir nannten uns „Semitische Aktion“ und veröffentlichten ein Dokument, „das Hebräische Manifest“, was meiner Meinung nach einzigartig war und auch bleiben wird: der vollständige und detaillierte Entwurf für einen anderen Staat Israel. Es enthielt unter anderem den Plan für die Errichtung eines arabisch-palästinensischen Staates an der Seite Israels und für eine Föderation zwischen Israel, Palästina und Jordanien, die den Namen „die Jordanische Union“ erhalten sollte.

In den 1970-er Jahren brachte Abba Eban den Gedanken einer „Benelux-Lösung“ in Umlauf; dieser Name stammt von der Vereinbarung zwischen Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, die einer Föderation gleichkam. Zu meiner Überraschung gebrauchte Yassar Arafat genau dieselbe Bezeichnung, als ich ihn zum ersten Mal im Jahre 1982 während der Belagerung von Beirut traf: „Eine Föderation zwischen Israel, Palästina und Jordanien – und eventuell auch noch dem Libanon – warum nicht?“ Er wiederholte denselben Gedanken, mit denselben Worten bei unserem letzten Treffen, kurz vor seinem mysteriösen Tod.

Im Laufe der Zeit verzichtete ich das Wort „Föderation“. Ich war zu dem Schluß gekommen, dass dieser Begriff beide Seiten zu sehr abschrecken würde. Die Israelis befürchteten, eine Föderation könnte Israels Souveränität beschneiden, wohingegen die Palästinenser darin eine weitere zionistische List sahen, die Besatzung mittels anderer Methoden beizubehalten. Aber eigentlich liegt es doch auf der Hand, dass zwei Staaten in einem so kleinen Land wie dem historischen Palästina auf Dauer nicht Seite an Seite existieren können, ohne eine enge Beziehung miteinander zu haben.

Man muss daran erinnern, dass der Original-UN-Teilungsplan bereits eine Art Föderation beinhaltete, jedoch ohne dieses Wort explizit zu erwähnen. Diesem Plan zufolge sollte der arabische Staat mit dem jüdischen Staat in einer Wirtschaftsunion vereint bleiben.

DIE WELT ist voll von Föderationen und Konföderationen und keine gleicht der anderen. Jede besitzt eine eigene Struktur, die sich durch die Gegebenheiten vor Ort und aus der Geschichte heraus entwickelt hat. Alle basieren auf einem Pakt – auf Latein „foedus“, daher der Begriff.

Der furchtbare Bürgerkrieg in den USA wurde zwischen einer Föderation (dem Norden) und einer Konföderation (dem Süden) ausgefochten. Die Föderation wurde als enge Union mit einer starken zentralen Regierung konzipiert, die Konföderation hingegen als lockere Kooperation zwischen halb-autonomen Staaten.

Die Liste ist lang. Die Schweiz bezeichnet sich selbst als eine Konföderation. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist Russland nun eine Föderation. Deutschland ist eine „Bundesrepublik“, usw.

Eine Föderation zwischen Israel und Palästina, mit oder ohne Jordanien, muss hinsichtlich ihrer besonderen Gegebenheiten ihren eigenen Charakter finden .

Aber das Wichtigste ist das Timing.

Da Burg seinen Vorschlag mit einem Gebäude verglichen hat, folgt daraus, dass von unten nach oben, Stockwerk für Stockwerk, erbaut werden muss. So sehe ich es auch.

Der erste Stock ist die Zweistaaten-Lösung. Diese muss als allererstes umgesetzt werden. Jeder Gedanke an das, was danach folgen könnte, ist ohne sie gegenstandslos.

Das bedeutet die Gründung des Staates Palästina in den Grenzen von 1967, mit Ostjerusalem als seiner Hauptstadt, als einen freien unabhängigen und souveränen Nationalstaat des palästinensischen Volkes.

Solange dieser Grundgedanke nicht realisiert wird und keine Lösung aller damit zusammenhängender Probleme („Kernfragen“) vereinbart wird, hat alles andere nur wenig Bedeutung.

Die Besatzung ist eine blutende Wunde und sie muss vor allem anderen im Rahmen des Friedens geheilt werden. Zwischen dem Unterdrücker und dem Unterdrückten kann kein ernsthaftes Gespräch über eine Föderation zustande kommen. Eine Föderation setzt Partner voraus, die den gleichen Status, wenn nicht sogar die gleiche Stärke, haben.

Die Zweistaaten-Lösung verspricht Frieden – zumindest einen formellen Frieden, der den hundert Jahre alten Konflikt beendet. Sobald Frieden erlangt wird, kann – und sollte – man über die nächste Stufe nachdenken, seine Vertiefung und seine Umwandlung in die Alltagsrealität, die das Leben der Menschen formt.

SETZEN WIR einmal voraus, dass diese Verhandlungsrunden oder andere zukünftige Verhandlungsrunden zu einem formellen Friedensvertrag – und dem Ende aller gegenseitigen Ansprüche führen, wie John Kerry es formuliert hat. Das ist der Zeitpunkt, wo eine Föderation in Betracht gezogen werden sollte.

An was denken wir dabei? An eine enge Föderation oder eine lockere Konföderation? Welche Funktionen sind beide Seiten bereit, freiwillig von der nationalen auf eine föderalistische Ebene zu übertragen?

Höchstwahrscheinlich wird Israel seine Entscheidungsfreiheit hinsichtlich seiner Beziehungen zur weltweiten jüdischen Diaspora so wie hinsichtlich der Einwanderung nicht aufgeben. Das Gleiche gilt für Palästinas Beziehungen zur arabischen Welt und im Hinblick auf die Rückkehr der Flüchtlinge.

Was ist mit den ausländischen Beziehungen im Allgemeinen? Ich glaube, dass bei allen bereits bestehenden Föderationen und Konföderationen, eine zentrale Autorität für diese federführend ist. In unserer Situation stellt dies ein Problem dar. Militär- und Sicherheitsangelegenheiten sind sogar noch problematischer.

So, wie ich es sehe, wird eine Föderation hauptsächlich wirtschaftliche und menschenrechtliche Angelegenheiten, Bewegungsfreiheit und dergleichen, betreffen.

Aber der wichtigste Punkt ist dieser: die Verhandlungen zwischen dem Staat Israel und dem Staat Palästina, die eine Föderation betreffen, müssen frei von jeglichem Druck sein und nach Treu und Glauben auf Augenhöhe geführt werden.

WIRD DIES das Ende der Straße zu einem wahrhaftigen Frieden sein? Ich neige dazu, zu glauben, dass dies nur die ersten wenigen Schritte auf dem Weg dorthin sind.

Wenn die Zweistaaten-Lösung der erste Stock, und die Föderation der zweite Stock, könnte man sich vorstellen, dass der dritte Stock eine regionale Union würde, analog zur Europäischen Union.

Bei den gegenwärtigen Unruhen in unserer Region kann man sich nur schwer vorstellen, dass der Arabische Frühling zu irgendeiner Stabilität führen wird. Doch wir haben nur ein kurzes Gedächtnis. Die EU war der direkte Nachkomme des grausamsten aller Kriege – des 2. Weltkrieges – mit Millionen Europäern unter den Opfern.

Eine regionale Union (ich pflegte sie „Semitische Union“ zu nennen), die Israel und Palästina einschließt, wird in einer Welt, in der regionale Gruppierungen eine immer wichtigere Rolle einnehmen, für alle Partner von Vorteil sein.

Aber der oberste Stock einer neuen Ordnung wird eine Art Weltregierung sein, die schon jetzt bitter benötigt wird. Ich bin ziemlich sicher, dass sie Realität werden wird, noch bevor dieses Jahrhundert vorüber ist. Sie ist nicht viel utopischer als vor einhundert Jahren die Idee einer Europäischen Union, die zuerst von einer Handvoll weitsichtiger Idealisten aufgebracht wurde.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es viele Probleme, die auf der nationalen, ja sogar regionalen Ebene nicht mehr gelöst werden können: Die Rettung unseres Planeten vor einer Umweltkatastrophe. Die Reglementierung einer globalisierten Wirtschaft. Die Verhinderung von Kriegen und Bürgerkriegen. Die Sicherstellung der Menschenrechte überall. Das Erzielen der wirklichen Gleichberechtigung für Frauen. Der Schutz von Minderheiten. Das Ende von Hunger und Krankheiten. All das bedarf einer neuen Weltordnung.

Solch eine Ordnung wird notwendigerweise einer weltweiten Föderation ähneln. Das bedeutet nicht, den Wegfall der Nationalstaaten. Diese werden wahrscheinlich auch weiterhin bestehen bleiben, so wie sie auch heute noch innerhalb der Europäischen Union bestehen, nur mit eingeschränkter Souveränität.

Kann solch eine Weltordnung demokratisch sein? Sie muss es. Eines Tages wird die Menschheit ein Weltparlament wählen, so wie die Europäer heute ein europäisches Parlament wählen, das ständig neue Verantwortungsbereiche übernimmt.

DIES SIND Zukunftsträume, jedoch ist es schon jetzt lohnenswert, darüber nachzudenken.

Aber unsere heutige Aufgabe besteht darin, endlich Frieden zu erlangen, einen Frieden zwischen zwei Nationen, die in Harmonie in zwei Schwesternstaaten leben.

(ins Deutsche übersetzt v. Inga Gelsdorf i.A. v. Ellen Rohlfs/Uri Avnery)

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Ein Bürgerkrieg ?

Erstellt von Redaktion am 15. September 2013

Ein Bürgerkrieg ?

Autor Uri Avnery

Zur Zeit ist es üblich, zu sagen: „Die Zwei Staaten-Lösung ist tot“, oder: „Die Zeit für eine Zwei-Staaten-Lösung läuft aus.“

Warum tot? Wie tot? Das gehört zu dem, was keinen Beweis braucht. Die Aussage macht es.

Bedrängt man jedoch diejenigen, die nicht um die Zwei-Staaten-Lösung trauern, geben sie als Begründung an: „Es gibt zu viele Siedler in der Westbank und Jerusalem. Sie können nicht umgesiedelt werden. Das ist zu problematisch.“

Stimmt das?

Zwei Beispiele werden angeführt: die Beseitigung der Siedlungen im Norden des Sinai auf Befehl Menachem Begins nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit Ägypten und die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen auf Befehl von Ariel Sharon.

Wie furchtbar diese waren! Erinnern Sie sich noch an die herzzereißenden Szenen im Fernsehen, die weinenden Soldatinnen, die die Siedlermädels forttrugen, an die Auschwitz-Pyjamas mit dem gelben Stern, die die Siedler getragen haben, an das Stürmen der Hausdächer, an die Rabbis mit ihren Torarollen, die in den Synagogen unisono weinten.

All das nur wegen einer Handvoll Siedlungen. Was geschieht wohl, wenn eine halbe Million Menschen fortgeschafft werden müssen? Entsetzlich! Undenkbar!

Nonsens.

In Wirklichkeit war der Abtransport der Siedler aus dem Gazastreifen nichts als eine gut inszenierte Tragikomödie. Niemand wurde getötet. Niemand wurde ernsthaft verletzt. Niemand beging Selbstmord. Nachdem sie ihre zugeteilten Rollen gespielt hatten, zogen alle Siedler ab. Lediglich eine Handvoll Soldaten und Polizeibeamter haben sich den Befehlen widersetzt. Die meisten Soldaten führten die Befehle der demokratisch gewählten Regierung aus.

Wird das Gleiche nochmals geschehen? Nicht unbedingt. Westbank-Siedler von den Bergkuppen im Herzen des biblischen „Großisraels“ zu entfernen, ist etwas Anderes.

Lassen Sie uns das aus nächster Nähe betrachten.

Die erste Planungsphase ist, das Problem zu analysieren. Wer sind die Siedler, die umgesiedelt werden müssen?

Nun, vor allem bilden sie keine homogene monolithische Kraft. Wenn man von „den Siedlern“ spricht, hat man eine Menge halbbesessener religiöser Fanatiker vor Augen, die jeden Moment den Messias erwarten und bereit sind, jeden zu erschießen, der sich ihnen nähert, um sie aus ihren Festungen zu vertreiben.

Das ist pure Einbildung.

Natürlich gibt es auch solche Siedler. Sie bilden den harten Kern. Das sind diejenigen, die man im Fernsehen sieht, diejenigen, die in palästinensischen Dörfern Moscheen in Brand setzen, diejenigen, die palästinensische Bauern auf ihren Feldern angreifen, diejenigen, die Olivenbäume ausreißen. Sie haben lange Haare, Seitenlocken, tragen die obligatorische Kleidung mit den Fransen unter oder über ihren Hemden, tanzen ihre skurrilen Tänze. Sie sind vollkommen anders als gewöhnliche Israelis.

Fast alle dieser Juden sind neugeboren (in Hebräisch heißt es: „ Jene, die sich zurückbegeben in Reue“) und werden von den wahren orthodoxen Juden, die ihre Töchter nicht mit ihnen verheiraten würden, zutiefst verachtet. Aber sie bilden nur eine winzig kleine Minderheit.

Viel bedeutender ist der sogenannte „national-religiöse“ Kern, die tatsächliche Führung des Siedlungsunternehmens. Sie glauben, dass Gott uns dieses Land – und zwar das gesamte Land – gegeben hat, und viele von ihnen glauben, dass Gott ihnen auch befohlen hat, das Land zwischen dem Meer und dem Fluss (dem Mittelmeer und dem Jordan) von Nicht-Juden zu säubern. Einige von ihnen glauben, sowieso, Nicht-Juden seien keine vollkommenen Menschen, sondern etwas zwischen Mensch und Tier, wie von der Kabbala behauptet wird.

Diese Gruppe hat eine ungeheure politische Macht. Sie hat die sukzessiven Regierungen aus allen Parteien dazu gebracht, sie manchmal widerwillig, manchmal mehr als bereitwillig, dort zu plazieren, wo sie (nun) ist.

Diese Siedler leben in kleineren Siedlungen konzentriert, die über die gesamten besetzten Gebiete verstreut sind. Sie sind in die Armee und in den Regierungsapparat infiltiert und schüchtern die Politiker ein. Ihre Partei ist die „Jewish Home“ (Jüdische Heimat), deren Vorsitz Naftali Benett, der „Bruder“ von Ja’ir Lapid, hat, ebenso haben sie jedoch auch enge Beziehungen zu der aufstrebenden jungen Führung des Likud und zu dem Gefolge Liebermanns.

Jede Regierung, die Frieden schafft, muss sich mit ihnen auseinandersetzen. Sie bilden jedoch eine Minderheit unter den Siedlern.

Die meisten Siedler hören darauf weniger. Sie sind in den Siedlungsblocks konzentriert, die sich einige Kilometer in den besetzten Gebieten entlang der Grünen Linie aneinanderreihen.

Sie werden „Lebensqualität-Siedler“ genannt, weil sie dorthin gezogen sind, um die klare Luft und die pitoreske Aussicht auf die muslemischen Minarets auf den benachbarten Hügeln zu genießen, jedoch hauptsächlich, um ihre Traumvillas mit den roten Schweizer-Ziegeldächern fast geschenkt zu bekommen. Sie konnten nicht davon träumen, diese jemals im eigentlichen Israel zu erwerben.

Eine Kategorie an für sich selbst sind die Orthodoxen. Ihr riesiges, natürliches Wachstum drängt sie aus ihren Städten und Wohngebieten im eigentlichen Israel und sie benötigen dringend neue Unterkünfte, die ihnen die Regierung nur allzu gerne bereitstellt – in den besetzten Gebieten. Sie haben dort bereits mehrere Städte (gegründet), eine von ihnen ist Modi’in Illit, die Grenzstadt, die auf den Ländereien von Bil’in, liegt, dem Dorf, das einen tapferen (gewaltlosen) Kampf führt, um diese zurückzubekommen.

In Ostjerusalem sind die Siedlungen eine völlig andere Geschichte. Die hunderttausenden israelischen Juden, die in den neuen Wohngebieten dort leben, halten sich selbst keineswegs für Siedler, sie haben alles, was die Grüne Linie betrifft, vergessen. Tatsächlich sind sie ziemlich überrascht, wenn man sie daran erinnert. Sie mag nur ein paar Häuserblöcke entfernt sein.

All diese Kategorien – und die vielen Unter-Kategorien – müssen separat behandelt werden. Für jede gibt es eine unterschiedliche Lösung.

Nehmen wir der Diskussion wegen an, in neun Monaten würde der Traum von Kerry wahr werden. Es würde einen unterzeichneten Friedensvertrag geben, der alle Probleme löst, einschließlich eines vereinbarten Zeitplans für dessen Umsetzung.

Nehmen wir weiterhin an, dieser Vertrag würde von einer breiten Mehrheit in einem israelischen Referendum (und auch in einem palästinensischen) bewilligt. Das gäbe unserer Regierung die politische und moralische Macht, das Siedlungsproblem zu bewältigen.

Für die Jerusalemiten hatte Bill Clinton eine einfache Antwort: Lass sie dort, wo sie sind. Zeichne die Karte von Jerusalem neu, so dass „was Jüdisch ist, ein Teil Israels -, was Arabisch ist, ein Teil Palästinas ist.“

Unter Berücksichtigung der immensen Schwierigkeit, das Omelett dahingehend auseinanderzupflücken, hat es seine Reize, besonders, wenn den Palästinensern die vollständige Souveränität über den Tempelberg und die Altstadt zurückgegeben wird (und die Westmauer mit dem jüdischen Viertel in Israel bliebe).

Für die großen Siedlungsblocks ist die Lösung mehr oder weniger bereits vereinbart: ein Gebietstausch.
Die Siedlungen, die hart an der Grenze sind, werden von Israel annektiert, (im Gegenzug) wird ein gleich großes israelisches ( eventuell jedoch nicht gleichwertiges) Gebiet an Palästina übergeben.

Das könnte nicht so einfach sein, wie es klingt. Nur die Siedlungen, oder auch das Gebiet um sie herum oder zwischen ihnen, annektieren? Und, was ist mit Ariel, der „Hauptstadt der Siedler“, die 20 km in der Westbank liegt? Ein Korridor? Eine Enklave? Und Ma’alah Adumim, das, wenn es dem jüdischen Teil Jerusalems angegliedert würde, die Westbank in zwei Teile teilen würde. Es gibt viel zu diskutieren.

Die „Lebensqualität“-Siedler müssen ausgezahlt werden. Das ist eine simple Frage des Geldes. Geben Sie jedem von ihnen ein gleichwertiges oder sogar besseres Appartement in der Nähe von Tel Aviv und die meisten von ihnen werden sich darauf stürzen. Tatsächlich ergaben einige Umfragen, dass eine ziemlich große Anzahl von ihnen sogar heute umziehen würde, wenn ihnen ein solches Angebot unterbreitet würde. (Wir schlugen das Yitzhak Rabin vor, aber er lehnte es ab.)

Bleibt noch der harte Kern der Siedler übrig, die „Ideologischen“, die Gott dienen, indem sie auf gestohlenem Land leben. Was ist mit denen?

Die einfachste Lösung wurde von Charles de Gaulle vorgeschlagen. Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages, der der Besetzung Algeriens nach Hunderten von Jahren ein Ende setzte, kündigte er an, dass die französische Armee das Land an einem bestimmten Datum verlassen werde. Er sagte zu mehr als einer Million Siedlern , viele von ihnen bereits in der vierten oder fünften Generation: Wenn ihr fortgehen wollt, geht fort. Wollt ihr bleiben, so bleibt. Das Ergebnis war ein wilder Massenexodus in letzter Minute von historischem Ausmaß.

Ich kann mir keinen israelischen Führer vorstellen, der kühn genug ist, diesem Beispiel zu folgen. Noch nicht einmal Sharon, ein rücksichtsloser Mensch, ohne Mitgefühl, wagte es.

Natürlich könnte die israelische Regierung diesen Siedlern sagen: „Wenn ihr euch mit der palästinensischen Regierung arrangiert, könnt ihr bleiben, so wie es palästinensische Bürger (oder sogar israelische Bürger) tun.“

Einige naive Israelis sagen: „Warum nicht? Es gibt anderthalb Millionen arabische Bürger in Israel? Weshalb können keine hunderttausend Israelis in Palästina sein?“

Unwahrscheinlich. Die Araber in Israel leben auf ihrem eigenen Gebiet, das ihnen seit Jahrhunderten gehört. Die Siedler leben auf „ enteignetem“ Gebiet und sie haben mit Recht den Hass ihrer Nachbarn geerntet. Ich sehe keine Möglichkeit, wie eine palästinensische Regierung dies genehmigen könnte.

Verbleibt noch der harte Kern vom harten Kern. Jene, die die Siedlungen nicht gewaltlos räumen würden. Man wird sie mit Gewalt fortschaffen müssen auf Befehl einer starken Regierung, die von dem Großteil der Bevölkerung, deren Meinung in einem Referendum ermittelt wurde, unterstützt wird.

Ein Bürgerkrieg? Nicht wirklich. Nicht wie der amerikanische Bürgerkrieg, noch wie der gegenwärtige syrische. Aber trotzdem ein harter, gewalttätiger, brutaler Kampf, in dem Blut vergossen werden wird.

Erwarte ich das? Sicherlich nicht. Erschreckt es mich? Ja, das tut es. Denke ich, dass wir deshalb die Zukunft Israels, den Frieden, die Zwei-Staaten-Lösung, die einzige Lösung, die es gibt, aufgeben sollten?

Nein.

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Der Truthahn unter dem Tisch

Erstellt von Redaktion am 8. September 2013

Der Truthahn unter dem Tisch

Autor Uri Avnery

WENN ES einen Konflikt zwischen zwei Parteien gibt, ist der Weg zu einer Lösung klar: Man setzt sie in den selben Raum, lässt sie ihre Differenzen ausdiskutieren und lässt sie mit einer vernünftigen Lösung, die von beiden Parteien akzeptiert wird, wieder herauskommen.

Zum Beispiel, ein Konflikt zwischen einem Wolf und einem Lamm. Setzen Sie sie beide in den selben Raum, lassen Sie sie ihre Differenzen austragen und wieder herauskommen mit …

Einen Moment ‚mal, nur der Wolf kommt wieder heraus. Aber, wo ist das Lamm?

WENN ES einen Konflikt zwischen zwei Parteien gibt, die wie ein Wolf und ein Lamm sind, dann muss man eine dritte Partei in den Raum setzen, nur, um sicherzustellen, dass die 1. Partei die 2. Partei nicht zum Dinner verspeist, während die Gespräche weitergehen.

Das Machtverhältnis zwischen Israel und der Palästinensischen Autorität ist wie das zwischen einem Wolf und einem Lamm. In fast jeder Hinsicht – wirtschaftlich, militärisch und politisch hat Israel eine gewaltige Übermacht.

Das ist eine harte Tatsache. Es liegt an der dritten Partei, dies auszugleichen.

Kann sie es tun? Wird sie es tun?

ICH HABE John Kerry schon immer geschätzt. Er strahlt Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit aus, die er auch tatsächlich zu besitzen scheint. Seine hartnäckigen Bemühungen verdienen Anerkennung. Die Ankündigung dieser Woche, dass er sogar endlich die ersten Schritte für Gespräche zwischen den Parteien erreicht hat, gibt Anlass zu Optimismus.

Wie Mao sagte: „Ein Marsch über tausend Meilen beginnt mit einem einzigen Schritt.“

Die Parteien haben einem Delegiertentreffen zugestimmt, um die vorläufigen Einzelheiten auszuarbeiten. In der kommenden Woche soll es in Washington stattfinden. So weit, so gut.

Die erste Frage dabei ist: „Wer wird der Dritte im Bund sein? Es sickerte durch, dass der Hauptkandidat für diese delikate Aufgabe Martin Indyk sein soll, ein früherer Beamter beim Außenministerium.

Diese Wahl ist problematisch. Indyk ist ein Jude und sehr in jüdische und zionistische Aktivitäten involviert. Er wurde in England geboren und wuchs in Australien auf. Zweimal diente er als US-Botschafter in Israel.

Die rechten Israelis lehnen ihn ab, weil er bei Organisationen der Linken aktiv ist. Er ist Direktoriumsmitglied des „New Israeli Fund“, der moderate israelische Friedensorganisationen subventioniert und deshalb von den Extrem-Rechten aus dem Umfeld von Binyamin Netanyahu dämonisiert wird.

Die Palästinenser mögen sich wohl fragen, ob es unter den 300 Millionen US-Bürgern keinen einzigen Nicht-Juden gibt, der diese Aufgabe übernehmen könnte. Seit vielen Jahren waren fast alle amerikanischen Offiziellen, die sich mit der israelisch-arabischen Problematik befasst haben, Juden. Und fast alle von ihnen blieben später als Funktionäre bei zionistischen Ideenfabriken und anderen Organisationen.

Wenn man die USA aufgefordert hätte, als Vermittler bei Verhandlungen, sagen wir ‚mal, zwischen Ägypten und Äthiopien, zu fungieren, hätte sie dann einen äthiopischen Amerikaner dafür ausgewählt?

ICH BIN Indyk mehrmals begegnet, hauptsächlich bei diplomatischen Empfängen (außer bei Empfängen der US-Botschaft, da war ich nie eingeladen.) Einmal sandte ich ihm ein Schreiben, das mit seinem Namen verknüpft war.

Die Geschichte von dem „Indyk“ kennt jeder, der sich in jüdischer Volkskunde auskennt. Sie wurde von einem einflussreichen jüdischen Rabbi, Rabbi Nachman aus Braslaw (1772 – 1811), erzählt, der auch noch heute in Israel viele Anhänger hat.

Es war einmal ein Prinz, der an der Wahnvorstellung litt, dass er ein „Indyk“ sei (was in Jiddisch „Truthahn“ heißt – aus dem Hebräischen „indische Henne“). Er saß nackt unter dem Tisch und aß lediglich Brotkrümel, die man ihm zuwarf.

Nachdem kein Arzt ihn heilen konnte, übernahm ein weiser Rabbi diese Aufgabe. Er streifte seine Kleider ab, setzte sich nackt unter den Tisch und begann, sich auch wie ein Truthahn zu verhalten. Schritt für Schritt überzeugte er den Prinzen, dass ein „Indyk“ Kleidung tragen -, regelmäßige Nahrung zu sich nehmen – und letztendlich sogar am Tisch, anstatt unter ihm, sitzen kann. Auf diese Weise wurde der Prinz geheilt.

Wenn Indyk tatsächlich gewählt wird, mögen einige sagen, diese Geschichte habe einen direkten Einfluss auf seine zukünftige Aufgabe. Zwei nackte „Indyks“ sitzen nun unter dem Tisch und seine Aufgabe wird es sein, sie dazu zu bringen, am Tisch zu sitzen und ernsthaft über Frieden zu sprechen.

Es stimmt, dass die Palästinenser daran gewöhnt sind, Brotkrumen zugeworfen zu bekommen, aber nun könnten sie richtige politische Nahrung verlangen.

DIE CHANCEN jedweder Friedensverhandlungen kann man anhand der Atmosphäre, die auf beiden Seiten herrscht, anhand der Terminologie, die angewandt wird und anhand der internen Diskussionen, die geführt werden, einschätzen.

Sie sind nicht sehr begeisternd.

In Israel verwendet niemand das Wort „Frieden“. Sogar Tzipi Livni, die auf unserer Seite mit den Verhandlungen beauftragt werden wird, spricht lediglich von einem „Endstatusabkommen“, dass zwar „dem Konflikt“ – aber keinesfalls der Besatzung – ein Ende bereiten würde.

Die meisten Israelis ignorieren das Ereignis völlig, weil sie glauben, dass das Ziel von Netanyahu und Mahmoud Abbas einzig und allein der Abbruch der Verhandlungen ist, und zwar derart, dass jeder von ihnen versucht, die Schuld dafür dem anderen in die Schuhe zu schieben. Auch die meisten Palästinenser sind dieser Meinung. Frieden liegt definitiv nicht in der Luft.

Dennoch beweist eine in dieser Woche durchgeführte Umfrage, dass die große Mehrheit der Israelis – 55 gegenüber 25 (oder in Prozent ausgedrückt, 69% gegenüber 31%) – im Falle eines Referendums für ein vom Premierminister erzieltes Friedensabkommen stimmen würde.

Die Rechten befürworten den Gedanken, ein Referendum bezüglich eines Friedensabkommens durchzuführen, die Linken jedoch opponieren. Ich bin dafür. Ohne eine solide Mehrheit wäre der Abbau von Siedlungen ohnehin für jede Regierung so gut wie unmöglich. Und ich bin davon überzeugt, dass jedes konkrete Abkommen, das von einer glaubwürdigen palästinensischen Führung akzeptiert und von den USA empfohlen wird, im Falle eines Referendums ein überwältigendes „Ja“ erzielen würde.

DIE MEISTEN Experten meinen, Israel solle keine Endphase der Verhandlungen anstreben, sondern lediglich ein bescheidenes „Zwischenabkommen“. Sie zitieren das alte jüdische Sprichwort: „Derjenige, der zu viel erreichen will, erreicht gar nichts.“

Ich stimme dem nicht zu.

Vor allem gibt es ein Sprichwort, das besagt, dass man keinen Abgrund mit zwei Sprüngen überqueren kann. Man kann in der Mitte nicht anhalten.

Dieses Sprichwort führten wir bei Yitzak Rabin nach Oslo an.

Der fatale Fehler des Oslo-Abkommens war, dass es alles in allem nur ein Zwischenabkommen war. Für die Palästinenser stand fest, dass dessen Ziel war, in allen besetzten Gebieten, einschließlich Ostjerusalem, den Staat Palästina zu errichten. Für die israelische Seite ging dies überhaupt nicht klar daraus hervor. Da es kein Abkommen darüber gab, wurde jede Übergangsmaßnahme zu einem Streitobjekt. Wenn Sie mit dem Zug von Paris nach Berlin fahren wollen, sind die Zwischenstationen völlig anders, als die, die Sie auf dem Weg von Paris nach Madrid passieren.

Während der endlosen Streitigkeiten um einen „sicheren Übergang“ zwischen der Westbank und dem Gazastreifen, um den „dritten Rückzug“ und dergleichen, gab Oslo seine arme Seele auf.

Der einzige Weg, einen Fortschritt zu erzielen, ist vor allem, eine Einigung bei den „Kernfragen“ zu erreichen. Deren Lösung könnte sich über einige Zeit hinziehen – allerdings würde ich auch das nicht empfehlen.

Der israelisch-palästinensische Frieden ist ein riesiger Schritt in der Geschichte beider Völker. Wenn wir den Mut dazu haben, lasst ihn uns um Himmels Willen tun, ohne uns auf den Boden zu werfen und zu weinen.

IM AUGENBLICK ist das große Rätsel: „Was hat Kerry jeder Seite heimlich versprochen?“

Seine Methode erscheint vernünftig. Da beide Seiten sich in keinem Punkt einigen konnten und jeder von dem anderen verlangte, die Verhandlungen „ohne Vorbedingungen“ einzugehen, selbst jedoch Vorbedingungen stellte, hat Kerry einen anderen Weg gewählt.

Er basiert auf einer einfachen Logik: Bei dem amerikanisch-israelisch-palästinensischen Dreieck müssen fast sämtliche Entscheidungen zwei zu eins getroffen werden. Praktisch braucht jede Seite die amerikanische Unterstützung, damit ihre Forderungen akzeptiert werden. Anstatt das Unmögliche zu versuchen, ein israelisch-palästinensisches Abkommen auf der Basis von Verhandlungen zu erreichen, gab Amerika jeder Seite das Versprechen, sie in bestimmten Punkten zu unterstützen.

Zum Beispiel, es ist nur eine Vermutung, ein Versprechen, dass die USA die Palästinenser bezüglich des Grenzverlaufs unterstützt, der auf der Grünen Linie mit einem akzeptablen Gebietstausch basieren wird, sowie außerdem auch bezüglich des Einfrierens von Siedlungen für die Dauer der Verhandlungen. Auf der anderen Seite wird die USA Israel im Hinblick auf die Definition, „jüdischer“ Staat, und im Hinblick auf die (Nicht)-Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge unterstützen.

In der Vergangenheit hat die USA ohne Scham derartige Versprechen gebrochen. Zum Beispiel hat Bill Clinton Yasser Arafat vor dem Treffen in Camp David fest versprochen, im Falle eines Scheiterns keiner Seite die Schuld zu geben. (Da das Treffen ohne die kleinste Vorbereitung zustande gekommen war, war ein Scheitern vorhersehbar.) Nach der Konferenz machte Clinton zu Unrecht Arafat voll und ganz für das Scheitern des Treffens verantwortlich, ein widerwärtiger Akt politischer Berechnung, der nur dazu diente, seiner Frau in New York zur Wahl zu verhelfen.

TROTZ SOLCHER negativen Erfahrungen setzt Abbas sein Vertrauen in Kerry. Es scheint so, als ob dieser die Gabe besäße, Vertrauen zu erwecken. Hoffen wir, dass er es nicht verspielt.

So, mit oder ohne einen Truthahn, um den Wolf vom Verschlingen eines Lamms abzuhalten und trotz aller Enttäuschungen der Vergangenheit, lassen Sie uns hoffen, dass die Verhandlungen dieses Mal wirklich in Gang kommen und zum Frieden führen. Die Alternative ist zu düster, um darüber nachzudenken.

(ins Deutsche übersetzt v. Inga Gelsdorf, i.A. v. Ellen Rohlfs/Uri Avnery)

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Uri Avnery wird 90

Erstellt von Redaktion am 8. September 2013

„Wir wollten keinen Judenstaat“

 

Lieber Uri Avnery,

90 Jahre auf dieser Erde sind eine lange Zeit. Du hast diese Zeit meistens genutzt, um dich für andere einzusetzen. „Edel sei der Mensch – hilfreich und gut“ – diese Worte von Goethe beschreiben in diesem Zusammenhang deinen Charakter.

 Wir gratulieren Dir zu deinem 90. Geburtstag und danken Dir, dass wir Deine regelmässigen Kolumnen auf unserem Blog veröffentlichen dürfen. Wir wünschen Dir noch viele Jahre dieses Schaffens.

Redaktion Demokratisch-Links
Köln u. Ahlen

„Wir wollten keinen Judenstaat“

Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery wird 90. Ein Gespräch über eingerostetes Deutsch, seine Zeit als Soldat und die Freundschaft mit Jassir Arafat.

Rein äußerlich ist der fast 90-jährige Uri Avnery vom 70-jährigen kaum zu unterscheiden. Noch immer schlank und agil, mit vollem weißen Haar und Bart. Seine Wohnung in Tel Aviv liegt in zweiter Reihe zum Strand, überall Bücherregale und Fotos. Fast immer stand seine Frau Rachel hinter der Kamera. Nach 58 gemeinsamen Jahren starb sie im Mai 2011. Beide stammten aus gutbürgerlichen Familien, beide kamen aus Deutschland, unterschiedlich waren sie trotzdem. Er der abstrakte Denker, sie eher emotional. Er introvertiert, sie offen. Er der Optimist, sie eher Pessimistin. Avnery ließ den toten Körper gegen alle jüdischen Regeln verbrennen und die Asche ins Meer streuen. Dort, wo es bis zu seiner Wohnung durchschimmert.

sonntaz: Sie waren zehn Jahre alt, als Sie aus Deutschland emigrierten. Woran erinnern Sie sich besonders lebhaft?

Uri Avnery: Ich war Augenzeuge der Nazibewegung und damit sehr bewusster Beobachter dessen, was in Deutschland 1931 bis 33 passiert ist. Aber es gab auch schöne Zeiten auf Norderney, in Travemünde und natürlich in Hannover, der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Wir waren vier Kinder, ich war der Jüngste. Mein Vater war von Beruf Bankier. Er war beim Gericht in Hannover Treuhänder, Konkursverwalter. Meine Mutter war teilweise seine Sekretärin und hauptsächlich Hausfrau. Es war eine ziemlich gewöhnliche Familie.

War es für den zehnjährigen Helmut Ostermann, wie Sie damals hießen, ein traumatisches Erlebnis, aus seinem gewohnten Umfeld gerissen zu werden?

Ich habe in dem Moment aufgehört, Helmut zu sein, als ich in Jaffa landete. Der Umzug war alles andere als traumatisch, er war ein Abenteuer, der Beginn eines zweiten Lebens. Ich war vom ersten Augenblick an sehr eingenommen von der arabischen Kultur, und ja, wir waren so froh aus Deutschland herauszukommen. Es war eine Erlösung.

Gab es in Ihrer Familie Holocaustopfer?

Außer meinen Eltern, den Geschwistern und mir sind alle umgekommen.

Quelle:    TAZ >>>>> weiterlesen

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Fotoquelle: Wikipedia Author Uri Avnery (supplied by the subject). Original uploader was Eviv at he.wikipedia

This work has been released into the public domain by its author, Uri Avnery. This applies worldwide.

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Kerry und Chutzpa

Erstellt von Redaktion am 11. August 2013

Kerry und Chutzpa

Autor Uri Avnery

WENN MAN zufällig am Ben Gurion-Flughafen auf John Kerry trifft, mag man sich fragen, ob er kommt oder geht. Er fragt sich das vielleicht selbst.

Seit vielen Wochen hat er jetzt die meiste seiner kostbaren Zeit für Treffen mit Benjamin Netanyahu und Mahmoud Abbas verbracht, indem er versuchte, die beiden zusammen zu bringen.

Man braucht mit dem Wagen etwa eine halbe Stunde, um vom Office des Ministerpräsidenten in Jerusalem zur Mukata’ah des palästinensischen Präsidenten in Ramallah zu kommen. Aber die beiden sind von einander weiter entfernt als die Erde vom Mars.

 Kerry hat es auf sich genommen, die beiden zu einander zu bringen – vielleicht irgendwo im Weltraum. Auf dem Mond zum Beispiel.

 ZU EINANDER KOMMEN aber wofür?

Da liegt der Hase im Pfeffer. Das Ziel scheint, ein Treffen um des Treffens willen zu sein

Wir haben diese Prozedur seit vielen Jahren beobachtet. Auf einander folgende amerikanische Präsidenten haben es unternommen, die beiden Seiten bei uns zu einander zu bringen. Es ist ein amerikanischer Glaube, der in angelsächsischer Tradition wurzelt, dass, wenn zwei vernünftige, anständige Leute zusammenkommen und ihre Differenzen ausräumen, die Sache in Ordnung kommen werde. Es ist fast automatisch: treffen – reden – übereinstimmen.

Leider funktioniert es bei Konflikten zwischen Nationen nicht ganz auf diese Weise; bei Konflikten, die oft tiefe historische Wurzeln haben können. Bei Treffen zwischen Führern solcher Nationen wünschen sie oft nur, alte Anklagen gegen einander zu schleudern, mit dem Ziel, die Welt davon zu überzeugen, dass die andere Seite verkommen und verachtenswert ist.

Jede Seite oder beide mögen daran interessiert sein, die Treffen für immer hinauszuzögern. Die Welt sieht, wie sich die Führer treffen, der Vermittler und die Fotografen hart arbeiten und jeder spricht endlos über den Frieden, Frieden, Frieden.

Ich erinnere mich an einen skandinavischen Gentleman mit Namen Gunnar Jarring. Erinnert man sich an ihn? Nein? Man mache sich keine Vorwürfe. Man kann ihn getrost vergessen. Ein wohl meinender schwedischer Diplomat (und Türkologe), der von den UN in den frühen 70er-Jahren gebeten wurde, die Ägypter und die Israelis zu einander zu bringen, um zwischen ihnen ein Friedensabkommen zu erreichen.

Jarring nahm seine historische Mission sehr ernst. Er reiste unermüdlich zwischen Kairo und Jerusalem hin und her. Sein Name wurde in Israel ein Witz- und in Ägypten wahrscheinlich auch.

Die damaligen Protagonisten waren Anwar Sadat und Golda Meir. Wie wir damals berichteten, gab Sadat Jarring eine bedeutsame Erklärung mit: wenn er die ganze Sinai-Halbinsel zurückbekäme, die Israel 1967 erober hat, sei er bereit, Frieden zu machen. Golda wies den Vorschlag sofort zurück. Da gab es natürlich kein Treffen.

(Ein volkstümlicher Witz dieser Zeit war: Golda und Sadat standen sich am Suezkanal gegenüber: Golda schrie: „Make Love – not War!“ Sadat schaute durch sein Fernglas auf sie und antwortete: „Better war!“)

Jeder weiß, wie dieses Kapitel endete. Nachdem Golda alles zurückgewiesen hatte, griff Sadat an , gewann anfänglich einen Überraschungssieg – und die ganze politische Welt geriet in Bewegung, Golda wurde abgesetzt, und nach vier Jahren Yitzhak Rabin kam Menachem Begin zur Macht und stimmte Sadats Friedensvorschlag zu, den er vor dem Krieg gemacht hat. Die 1000 israelischen Soldaten und unzählige Ägypter, die in diesem Krieg starben, sahen ihn nicht.

Übrigens Jarring starb 2002, unbesungen und vergessen.

KERRY IST nicht Jarring. Zunächst, weil er keine machtlose internationale Organisation vertritt, sondern die einzige Superweltmacht. Die volle Macht der Vereinigten Staaten von Amerika steht ihm zur Verfügung.

Oder doch nicht?

Das ist die wirklich relevanteste – tatsächlich, die einzig relevante – Frage in diesem Augenblick.

Er benötigt eine Menge, um seinen Herzenswunsch zu erfüllen: das Treffen – nicht nur das Treffen, sondern DAS TREFFEN – zwischen Netanjahu und Abbas.

Das sieht wie eine einfache Aufgabe aus, Netanjahu erklärt mit seiner gewöhnlichen Aufrichtigkeit dass er ihn zu treffen wünsche. Ja, dass er begierig sei, ihn zu treffen. Mit dem glänzenden Charme eines erfahrenen TV-Moderators, der die Macht der Bilder kennt, hat er vorgeschlagen, auf halbem Weg zwischen Jerusalem und Ramallah (beim berüchtigten Kalandia-Checkpoint), ein Zelt aufzuschlagen und sich dort mit Abbas und Kerry zusammen zu setzen, bis ein vollständiges Abkommen über alle Punkte des Konfliktes erreicht sei.

Wer kann einem so großzügigen Angebot widerstehen? Warum – zum Kuckuck – springt Abbas nicht auf und greift mit beiden Händen nach diesem Angebot?

Aus einem sehr einfachen Grund.

Allein der Anfang neuer Verhandlungen wäre ein politischer Triumpf für Netanjahu. Tatsächlich ist es das, was er wirklich wünscht – die Zeremonie, den Bombast, das Händeschütteln der Führer, das Lächeln, die Reden voller Wohlwollen und natürlich Gerede über Frieden.

Und dann? Nichts. Verhandlungen, die endlos weitergehen, Monate, Jahre, Jahrzehnte. Wir haben dies alles schon gesehen. Yitzhak Shamir, einer von Netanjahus Vorgängern, prahlte damit, er würde Verhandlungen auf immer hinauszögern.

Der Profit wäre für Netanjahu klar und unmittelbar. Er würde als der Mann des Friedens angesehen werden. Die gegenwärtige Regierung, die rechteste und nationalistischste, die Israel jemals gekannt hat, wäre rehabilitiert. Die Menschen in aller Welt, die einen Boykott Israels auf allen Gebieten predigen, würden beschämt und entwaffnet sein. Die zunehmende Besorgnis in Jerusalem über die „Delegitimierung“ und „Isolierung“ Israels würde erleichtert werden.

Was würde die palästinensische Seite davon haben? Nichts. Kein Stopp des Siedlungsbaus. Nicht einmal die Entlassung der alten Gefangenen, die seit mehr als 20 Jahren im Gefängnis schmachten. (Wie jene, die bei der Rückkehr von Gilat Shalit an die Hamas entlassen wurden. Sorry, keine Vorbedingungen!)

Abbas verlangt, dass das Ziel der Verhandlungen im Voraus ausgesprochen wird: die Errichtung des Staates Palästina mit Grenzen, die sich auf die von vor 1967 gründen. Das Fehlen dieses Statements aus den Oslo-Verträgen von 1993 führte schließlich zu ihrem Scheitern. Warum den Fehler zweimal machen?

Abbas wünscht außerdem ein Zeitlimit für die Verhandlungen. Etwa ein Jahr.

Natürlich verweigert Netanjahu dies. Im Augenblick versucht der arme Kerry, etwas zusammen zu basteln, das den Wolf befriedigen würde, während er das Lamm am Leben hält. Gäbe man z.B. Abbas amerikanische Zusicherungen ohne Israels Zusicherung.

BEI ALL diesem Gezänk wird eine Grundtatsache ignoriert

Es ist wieder der Elefant. Der Elefant im Zimmer, dessen Existenz Netanjahu leugnet und den Kerry zu ignorieren versucht.

Die Besatzung.

Man nimmt gewöhnlich an, dass die Verhandlungen zwischen Gleichen stattfindet. Auf allen Karikaturen erscheinen Netanjahu und Abbas gleich groß. Das amerikanische Bild von zwei vernünftigen Leuten, die mit einander reden, setzen zwei mehr oder weniger gleiche Partner voraus.

Aber das ganze Bild ist grundsätzlich falsch. Die vorgeschlagenen „Verhandlungen“ sind zwischen einer allmächtigen Besatzungsmacht und einem fast völlig machtlosen, besetzten Volk. Zwischen Wolf und Lamm.

(Noch einmal einen alten israelischen Scherz: Kann man einen Wolf und ein Lamm zusammen halten? Natürlich kann man das; wenn man täglich ein neues Lamm dazugibt.)

Die israelische Armee operiert frei in der ganzen Westbank, einschließlich Ramallahs. Falls Netanjahu entscheidet, könnte sich Abbas morgen in einem israelischen Gefängnis wiederfinden, zusammen mit den alten Leuten, die Netanjahu sich weigert, frei zu lassen.

Weniger drastisch: die israelische Regierung kann jeden Moment – je nach Wunsch – mit dem Transfer großer Summen Zollgeldes, die es zu Gunsten der palästinensischen Behörde einsammelt, stoppen, wie sie es schon mehrfach getan hat. Dies bringt die PA automatisch an den Rand des Bankrotts.

Da gibt es Hunderte Möglichkeiten, eine raffinierter als die andere, mit denen die Besatzungs-behörden und die Besatzungsarmee das Leben für den einzelnen Palästinenser und seine Gemeinschaft als Ganzes unerträglich machen kann.

Was können die Palästinenser tun, um Druck auf die israelische Regierung auszuüben? Sehr wenig.

Es gibt die Drohung einer dritten Intifada. Dies beunruhigt die Armee, aber jagt ihr keine Angst ein. Die Antwort wird mehr Unterdrückung und Blutvergießen sein. Oder eine andere Resolution der UN-Vollversammlung, die Palästina in den Rang eines vollen Mitgliedes der Weltorganisation bringen würde. Netanjahu würde wütend sein, aber der tatsächliche Schaden wäre begrenzt.

JEDER DRUCK, um wirkungsvolle Verhandlungen zu beginnen, die – sagen wir mal – in einem Jahr zu einem Friedensabkommen führen würde, muss vom Präsidenten der Vereinigten Staaten Amerikas kommen.

Das ist so offensichtlich, dass es kaum noch erwähnt werden muss.

Dies ist der springende Punkt.

Kerry kann Geld, sogar eine Menge Geld mit sich bringen, um die Palästinenser zu bestechen oder verheerende Drohungen in ihre Ohren flüstern, um sie dahin zu bringen, sich mit Netanjahu in seinem imaginären Zelt zu treffen. Aber das ist fast bedeutungslos.

Die einzige Chance, wirkliche Verhandlungen zu beginnen, bedeutet für Barack Obama, sein ganzes Gewicht in die Bemühungen zu legen, dem Kongress und der äußerst mächtigen Pro-Israel-Lobby entgegen zu treten und beiden Seiten den amerikanischen Friedensplan zu diktieren. Wir wissen alle, wie er aussehen muss – eine Kombination von (Bill) Clintons Entwurf und der panarabischen Friedensinitiative.

Wenn John Kerry nicht in der Lage ist, diesen Druck auszuüben, dann sollte er es nicht einmal versuchen. In gewissem Sinn ist es wirklich eine Zumutung, hierher zu kommen und Dinge in Bewegung setzen, wenn er keine Mittel hat, eine Lösung zu erzwingen. Das ist fast eine Unverschämtheit.

Oder, wie man im Hebräischen sagt: eine Chuzpa.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Besatzung? Welche Besatzung?

Erstellt von Redaktion am 14. Juli 2013

Besatzung? Welche Besatzung?

Autor Uri Avnery

Jede Person ist mit einem gewissen Verleugnungsmechanismus ausgestattet, den sie anwendet, um Scham, Furcht, Schuld und Schmerz nicht sichtbar zu machen, in das sie mit ihrem unlauteren Handeln verwickelt ist. Statt ihrem Versagen in die Augen zu sehen und die Realität anzunehmen und sich mit ihr zu befassen, begibt sie sich einfach in einen Zustand des Nicht-Wissens.

Aber Leugnung kostet den Leugner einen hohen Preis. Die geistige Anstrengung, sich in Selbsttäuschung zu ergeben, verursacht schweren geistigen Schaden. Derjenige, der Tatsachen leugnet, gibt zu, dass er ein psychisches Problem hat. Er benötigt psychische Behandlung.

Seit 46 Jahren leben wir in dieser Situation. Wir leugnen eines der wesentlichsten Phänomene unserer nationalen Existenz, wenn nicht gar das zentralste: die Besatzung. Wir können die abgedroschene Metapher des riesigen Elefanten im Wohnzimmer gebrauchen, dessen Gegenwart wir leugnen. Ein Elefant? Was für ein Elefant?

Hier? Wir gehen um den Elefanten auf Zehenspitzen herum und wenden unsern Blick ab, so müssen wir ihn nicht sehen. Schließlich existiert er ja nicht.

Wir herrschen absolut über ein anderes Volk. Dies beeinflusst jede Sphäre unseres nationalen Lebens – unsere Politik, unsere Wirtschaft, unsere Werte, unser Militär, unser Rechtssystem, unsere Kultur und vieles andere. Aber wir sehen sie nicht – und wir wollen sie nicht sehen – was geschieht nur wenige Fahrminuten von unserm Haus entfernt, jenseits der schwarzen Linie, die als Grüne Linie bekannt ist. Wir haben uns an diese Situation gewöhnt, dass wir sie für normal halten. Aber die Besatzung ist in sich eine anormale, vorübergehende Situation.

Nach dem Völkerrecht geschieht eine Besatzung dann, wenn ein Staat das Gebiet eines anderen Staates während Kriegszeiten erobert und dann als Besatzer festhält, bis Frieden geschlossen wird. Wegen der zeitweiligen Natur einer Besatzung legt das Völkerrecht strenge Beschränkungen auf den Besatzungsstaat. Es ist nicht erlaubt, seine eigenen Bürger in das besetzte Gebiet zu transferieren; es ist verboten, dort Siedlungen zu bauen; es ist verboten Land an sich zu reißen, und so weiter.

Israel hat etwas völlig Neues erfunden: die ewige Besatzung, Weil 1967 kein Druck auf Israel ausgeübt wurde, die besetzten Gebiete frei zu geben, kam Moshe Dayan mit der brillanten Idee – die Besatzung auf immer zu halten . Falls Israel die Gebiete annektiert hätte, würde es gezwungen worden sein, der besetzten Bevölkerung die Bürgerrechte zu gewähren. Doch in einem Zustand der Besatzung konnte es die Herrschaft aufrecht erhalten, ohne der Bevölkerung irgendwelche Rechte zuzugestehen – keine Menschenrechte, keine Bürgerrechte und gewiss keine nationalen Rechte. Ein reales Ei des Kolumbus.

Wir sind – wenigstens in unsern Augen – ein moralisches Volk. Wie lösen wir den Widerspruch unserer extremen Moralität und unserer offensichtlichen unmoralischen Umstände? Ganz einfach: Wir streiten alles ab.

„Macht korrumpiert“, sagte der britische Staatsmann Lord Acton.

„Und absolute Macht korrumpiert absolut.“ Die Besatzung ist die absoluteste Macht, die es gibt. Sie hat alles Gute in uns korrumpiert – es hat die Armee korrumpiert, die die Besatzung aufrecht erhält, die Soldaten, die gezwungen werden, die zivile Bevölkerung jede Nacht zu terrorisieren, die Regierungsinstitutionen, die im Dunklen am Gesetz vorbeigehen, die Gerichte, die die Besatzungsgesetze erfüllen und das ganze Land, das täglich das Völkerrecht verletzt.

Wenn wir uns selbst fragen, was ist mit unserm Land geschehen, müssen wir nur unsere Augen öffnen und den Elefanten ansehen.

„Derjenige, der bekennt und den Weg verlässt, findet Gnade“, sagt uns das Buch von Salomos Sprüchen. Es genügt nicht, zuzugeben und zu erkennen, dass eine Sünde begangen wurde; wir müssen den falschen Weg verlassen, den wir genommen haben. In unserm Fall müssen wir – um unsere Seelen und unsern Staat zu retten – die besetzten Gebiete aufgeben.

Doch bevor wir umkehren können, müssen wir zuerst zugeben, dass etwas falsch ist.

(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Wessen Staat ?

Erstellt von Redaktion am 30. Juni 2013

Wessen Staat ?

Autor Uri Avnery

KANN EIN Gesetz lächerlich und gefährlich sein?

Natürlich. Man erlebe die gerade laufende Initiative unserer Regierung mit, die ein Gesetz erlassen will, das den Staat Israel zu einem „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ erklären würde.

Lächerlich 1. – weil, wer oder was ist das „jüdische Volk“? Die Juden der Welt sind ein gemischter Haufen. Ihre einzige offizielle Definition ist religiöser Art. Selbst in Israel ist man nur dann ein Jude, wenn die Mutter eine Jüdin war. Dies ist eine rein religiöse Definition. In der jüdischen Religion zählt in diesem Fall der Vater nicht (Es wird halb im Scherz gesagt, dass man nie ganz sicher ist, wer der Vater ist.) Wenn ein Nichtjude sich dem jüdischen Volk anschließen möchte, muss er- oder sie – in einer religiösen Zeremonie zum Judentum konvertieren. Nach dem israelischen Gesetz hört man auf, ein Jude zu sein, wenn man eine andere Religion annimmt. Das sind alles rein religiöse Definitionen. Das hat nichts mit nationaler Zugehörigkeit zu tun.

Lächerlich 2. Die Juden in aller Welt gehören anderen Nationen an. Sie sind von unsern Gesetzgebern nicht gefragt worden, ob sie einem Volk angehören wollen, das vom Staat Israel vertreten wird. Sie werden automatisch von einem fremden ausländischen Staat angenommen. In einer Weise, die eine andere Art und Weise von Annexion ist.

Es ist aus verschiedenen Gründen gefährlich. Zu allererst, weil es die Bürger Israels ausschließt, die keine Juden sind – anderthalb Millionen muslimische und christliche Araber und etwa 400 000 Immigranten aus der früheren Sowjetunion, denen es erlaubt wurde, nach Israel zu kommen, weil sie irgendwie mit Juden verwandt sind. Als vor kurzem der Armeestabschef anstelle von Blumen kleine israelische Flaggen auf die Gräber gefallener Soldaten legte, übersprang er das Grab von solch einem nicht-jüdischen Soldaten, der sein Leben für Israel gab.

Die Möglichkeiten dieses Gesetzes sind sogar für die Zukunft noch gefährlicher. Von da ist es nur noch ein kleiner weiterer Schritt bis zu einem Gesetz, das automatisch allen Juden in aller Welt die Staatsbürgerschaft verleiht; das würde die Zahl der jüdischen Bürger von Groß-Israel verdreifachen und eine riesige jüdische Mehrheit in einem Apartheidstaat zwischen dem Mittelmeer und Jordan schaffen.

Von dort würde wieder nur ein kleiner Schritt alle Nicht-Juden in Israel ihrer Staatsbürgerschaft berauben..

Der (jüdische) Himmel ist die Grenze.

DOCH Bei dieser Gelegenheit würde ich mich gern noch mit einem anderen Aspekt befassen: dem Terminus „Nationalstaat“.

Der Nationalstaat ist eine Erfindung der letzten Jahrhunderte. Wir neigen dazu, zu glauben, dass er die natürliche Gestalt einer politischen Struktur ist, und dass er immer da gewesen sei. Das ist ganz falsch. Sogar in der westlichen Kultur gingen ihm mehrere andere Modelle voraus, wie z.B. feudale Staaten, dynastische Staaten usw.

Neue soziale Formen werden geschaffen, wenn neue wirtschaftliche, technologische und ideologische Entwicklungen es erfordern. Eine Form, die möglich war, als der durchschnittliche Europäer sich nie weiter als ein paar Kilometer von seinem Geburtsort entfernte, wurde unmöglich, als Straßen und Eisenbahnen die Bewegung von Menschen und Waren dramatisch veränderten. Neue Technologien schufen immense industrielle Potentiale.

Damit Gesellschaften mit einander in Wettbewerb treten können, mussten Strukturen geschaffen werden, die groß genug waren, um einen großen Binnenmarkt aufrecht zu erhalten und eine Militärmacht, die stark genug ist, sie zu verteidigen (und wenn möglich, Land der Nachbarn an sich zu reißen.) Eine neue Ideologie, Nationalismus genannt, festigte die neuen Staaten. Kleinere Völker wurden unterworfen und in die neuen großen nationalen Gesellschaften eingegliedert: Hokus-Pokus: der Nationalstaat.

Dieser Prozess brauchte ein oder zwei Jahrhunderte, um allgemein zu werden. Zionismus war eine der letzten europäischen Nationalbewegungen. Wie bei anderen Erscheinungen – wie dem Kolonialismus und dem Imperialismus – war er ein Nachzügler. Als Israel gegründet wurde, waren die europäischen Nationalstaaten schon fast überholt.

DER 2. WELTKRIEG beschleunigte das Ende des Nationalstaates aus praktischen Gründen. Riesige wirtschaftliche Einheiten wie die USA und die Sowjetunion lassen Länder wie Spanien und Italien, und sogar wie Deutschland und Frankreich zu klein erscheinen, um mit ihnen in Wettbewerb zu treten. Der gemeinsame europäische Markt entstand. Große wirtschaftliche Föderationen ersetzten die alten Nationalstaaten.

Neue Technologien beschleunigten den Prozess. Die Veränderung ging immer schneller voran. Während sich neue regionale Strukturen bildeten, waren sie schon wieder überholt. Die Globalisierung ist ein nicht rückgängig zu machender Prozess. Keine Nation oder Kombination von Nationen kann die apokalyptischen Probleme der Menschheit lösen.

Der Klimawandel ist ein globales Problem, das dringend weltweite Zusammenarbeit benötigt. So ist es auch mit der Gefahr durch nukleare Waffen, die womöglich bald auch von gewalttätigen nicht-staatlichen Gruppen erworben werden. Ein in Timbuktu aufgenommenes Foto kann im Nu in Kamchatka gesehen werden. Ein Hacker in Australien kann ganze Industrien in Amerika lahm legen. Blutige Diktatoren können vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag gebracht werden. Ein junger Amerikaner kann das Leben von Leuten in Zimbabwe revolutionieren. Tödliche Seuchen können innerhalb Stunden von Äthiopien in Schweden sein.

Praktisch ist die Welt jetzt eine Welt. Aber das menschliche Bewusstsein ist viel, viel langsamer als die Technologie. Während der Nationalstaat anachronistisch geworden ist, lebt und tötet der Nationalismus noch immer.

WIE KANN die Kluft überbrückt werden? Die Europäische Union ist ein lehrreiches Beispiel.

Am Ende des 2. Weltkrieges haben nachdenkliche Leute erkannt, dass ein 3. Weltkrieg das Ende Europas bedeutet, wenn nicht gar das Ende der Welt. Europa musste vereint werden, aber der Nationalismus war ein Hindernis. Am Ende wurde ein von Charles de Gaulle vorgeschlagener Kompromiss angenommen: die Nationalstaaten würden bleiben, aber ein Teil wirklicher Macht würde an eine Art Staatenbund übergehen.

Dies war sinnvoll. Der gemeinsame Markt wurde geboren und ständig erweitert, eine gemeinsame Währung wurde angenommen. Und jetzt droht ein wirtschaftliches Erdbeben, das ganze Gebäude zusammenbrechen lassen.

Warum? Nicht wegen des Überschusses von Konzentration, sondern wegen eines Mangels davon.

Ich bin kein Ökonom. Tatsächlich lehrte kein berühmter Professor mich je Wirtschaftswissenschaft (oder was anderes). Ich versuche nur mit gesundem Menschenverstand, dieses Problem wie alle anderen zu begreifen.

Gesunder Menschenverstand sagte mir von Anfang an, dass eine gemeinsame Währung nicht ohne eine gemeinsame ökonomische Regierungsform bestehen kann. Es kann unmöglich funktionieren, wenn jeder kleine „Nationalstaat“ innerhalb der Währungszone sein eigenes Staatsbudget und seine eigene Wirtschaftspolitik hat.

Die Gründungsväter der USA standen demselben Problem gegenüber und entschieden, einen Bundesstaat und keinen Staatenbund – in andern Worten eine starke zentrale Regierung zu bilden. Dank dieser weisen Entscheidung kann Illinois einspringen, wenn Nebraska ein Problem hat. Die Wirtschaft aller 50 Staaten wird praktisch von Washington DC gelenkt. Die gemeinsame Währung bedeutet nicht nur dieselben Geldscheine, sondern auch dieselbe mächtige Zentralbank.

Jetzt sieht sich Europa demselben Problem gegenüber. Es wird entweder auseinanderbrechen – eine unvorstellbare Katastrophe – oder das De Gaulle‘sche Rezept verlassen. Verschiedene Nationalstaaten – von Malta bis Schweden – müssen ein großes Stück ihrer Unabhängigkeit und Souveränität aufgeben und dies den verhassten Bürokraten in Brüssel abgeben. Ein Budget für alle.

Falls dies geschieht – ein großes „falls“ – was wird vom Nationalstaat bleiben? Es wird nationale Fußballteams mit allem nationalistischen und rassistischen Spektakel geben. Frankreich kann weiter in Mali mit Einverständnis seiner europäischen Hauptpartner einfallen. Die Griechen können weiter stolz auf ihre alte Vergangenheit sein. Belgien wird sich weiter mit seinen bi-nationalen Problemen herumschlagen. Aber der Nationalstaat wird mehr oder weniger eine leere Hülse sein.

Ich sage voraus, wie ich es schon vorher tat, dass am Ende dieses Jahrhunderts (wenn einige von uns nicht mehr sein werden) es eine Art Weltregierung geben wird. Sie wird wahrscheinlich mit einem andern Namen bezeichnet werden, aber die größeren Probleme, denen sich die Menschheit gegenüber sieht, werden von starken und wirksamen internationalen Körperschaften geregelt. Es wird neue Probleme geben (wie immer): wie soll bei solch einer globalen Struktur die Demokratie aufrecht erhalten werden, wie sollen die menschlichen Werte aufrecht erhalten werden, wie kann man aggressive Emotionen, die jetzt in Kriegen freigesetzt werden, in harmlose Aktivitäten lenken?

Wie wird es dem Nationalstaat in dieser tapferen neuen Welt gehen? Ich bin davon überzeugt, dass es ihn noch als kulturelles und nostalgisches Phänomen mit gewissen lokalen Funktionen geben wird, so wie die heutigen Gemeindeämter. Wahrscheinlich wird es sogar mehr Nationalstaaten geben, wenn die Staaten von den meisten ihrer Funktionen befreit sind. Sie werden sich wohl in ihre verschiedenen Teile aufspalten. Die Bretonen und Korsen, die vom Nationalismus gezwungen wurden, sich der größeren Einheit, Frankreich genannt, anzuschließen, mögen sich wünschen, innerhalb einer geeinten Welt in einem eigenen Staat zu leben.

VERLASSEN WIR das Reich wilder Spekulationen und kehren wir zu unserer kleinen Welt zurück: Was ist es um den Nationalstaat des jüdischen Volkes?

So lang wie die Welt aus Nationalstaaten besteht, werden wir unsern eigenen haben. Und nach derselben Logik wird das palästinensische Volk auch einen eigenen haben.

Unser Staat kann aber kein Nationalstaat einer nicht bestehenden Nation sein. Israel muss und will der Nationalstaat der israelischen Nation sein, der allen israelischen Bürgern gehört, die in Israel leben, Araber und andere Nicht-Juden eingeschlossen – und keinem andern sonst.

Israelische Juden, die eine enge Beziehung zu Juden in aller Welt empfinden, und Juden in aller Welt, die eine enge Beziehung zu Israel haben, können sicherlich ihre Beziehungen vertiefen. Und so können arabische Bürger ihre Beziehungen zur palästinensischen Nation und der arabischen Welt im Ganzen aufrecht erhalten. Und die nicht-jüdischen Russen mit ihrem russischen Erbe. Selbstverständlich. Aber das betrifft nicht den Staat als solchen.

Wenn eines Tages der Frieden zu diesem gequälten Teil der Welt kommt, könnten die Staaten Israel und Palästina sich einer regionalen Organisation anschließen, die sich vom Iran bis Marokko erstreckt, nach dem Muster der EU.

Sie wollen ein Teil des Menschheitsmarsches in Richtung einer funktionierenden modernen weltweiten Struktur sein, die den Planeten rettet, Kriege zwischen Staaten und Gemeinden verhindert und außerdem das Wohlbefinden der Menschen (ja auch der Tiere) überall fördert.

Eine Utopie? Gewiss. Aber so würde die heutige Realität für Napoleon ausgesehen haben.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)

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Der Esel des Messias

Erstellt von Redaktion am 16. Juni 2013

Der Esel des Messias

Autor Uri Avnery

„DIE ZWEI-STAATEN-Lösung ist tot!“ dieses Mantra ist in letzter Zeit von so vielen zuverlässigen Kommentatoren so oft wiederholt worden, dass es wahr sein muss.

Nun, das ist es nicht.

Ich erinnere an ein oft wiederholtes Zitat von Mark Twain: „Der Bericht von meinem Tod war eine Übertreibung.“

INZWISCHEN ist dies eine intellektuelle Masche geworden. Die Zweistaatenlösung zu befürworten, bedeutet, dass man altmodisch, altbacken, schwerfällig, ein Fossil aus einer längst vergangenen Ära ist. Das Hissen einer Flagge der „Ein-Staatenlösung“ bedeutet, dass man jung ist, nach vorne schaut, einfach „cool“ ist.

Tatsächlich zeigt dies nur, wie sich Ideen in Kreisen drehen. Als wir Anfang 1949, direkt nach dem Ende des ersten israelisch-arabischen Krieges erklärten, dass die einzige Antwort der neuen Situation die Errichtung eines palästinensischen Staates, Seite an Seite mit Israel ist, hatte die Ein-Staaten-Lösung schon einen langen Bart.

Die Idee eines „bi-nationalen Staates“ war in den 30er Jahren en vogue. Seine Hauptbefürworter waren wohlmeinende Intellektuelle, viele von ihnen Koryphäen der neuen Hebräischen Universität, wie Judah Leon Magnes und Martin Buber. Sie wurden von der Hashomer Hatzair -Kibbuz-Bewegung bestätigt, die später die Mapam-Partei wurde.

Dies hat nie Anklang gefunden. Die Araber glaubten, dass es ein jüdischer Trick sei. Bi-Nationalismus wurde auf dem Prinzip der Gleichheit zwischen den beiden Bevölkerungen in Palästina aufgebaut – 50 % Juden, 50% Araber. Da die Juden zu jener Zeit aber viel weniger als die Hälfte der Bevölkerung waren, war der arabische Verdacht verständlich.

Auf der jüdischen Seite sah der Gedanke lächerlich aus. Das Wesen des Zionismus war, einen Staat zu haben, wo Juden die Herren ihres Schicksals sein würden, möglichst in ganz Palästina.

Zu jener Zeit sprach keiner von einer „Ein-Staaten-Lösung“, weil es schon einen Staat gab – den Staat Palästina, unter britischer Mandatsherrschaft. Die Lösung wurde „bi-nationaler Staat“ genannt – und dieser starb im Krieg von 1948, ohne betrauert zu werden.

WAS HAT diese wunderbare Auferstehung dieser Idee verursacht?

Nicht eine neue Liebesgeschichte zwischen den beiden Völkern. Solch ein Phänomen würde wunderbar, ja sogar wundersam gewesen sein. Wenn Israelis und Palästinenser ihre gemeinsamen Werte, die gemeinsamen Wurzeln ihrer Geschichte und Sprachen entdeckt hätten und ihre gemeinsame Liebe für dieses Land – Dies würde absolut großartig sein?

Aber leider, wurde die erneuerte „Ein-Staat-Lösung“ nicht durch eine andere unbefleckte Empfängnis geboren. Ihr Vater ist die Besatzung, ihre Mutter die Verzweiflung.

Die Besatzung hat de facto schon einen Staat geschaffen – einen üblen Staat der Unterdrückung und der Brutalität, in dem die Hälfte der Bevölkerung (oder etwas weniger als die Hälfte) die andere Hälfte fast all ihrer Rechte beraubt – der Menschenrechte, der wirtschaftlichen und politischen Rechte. Die jüdischen Siedlungen dehnen sich rasch aus, und jeder Tag bringt neue Geschichten des Leids.

Gute Leute auf beiden Seiten haben die Hoffnung verloren. Aber Hoffnungslosigkeit regt nicht zum Handeln an – sie führt zur Resignation.

GEHEN WIR zum Anfang zurück. „Die Zwei-Staaten-Lösung ist tot.“ Wie kommt dies? Wer sagt das? In Übereinstimmung mit welchen wissenschaftlichen Kriterien ist der Tod bestätigt worden?

Im Allgemeinen wird die Ausbreitung der Siedler als das Zeichen des Todes zitiert. In den 80erJahren sprach der respektierte israelische Historiker Meron Benvenisti aus, dass die Situation jetzt nicht mehr „umkehrbar“ wäre. In jener Zeit waren kaum 100 000 Siedler in den besetzten Gebieten (abgesehen von Ost-Jerusalem, das durch allgemeinen Konsens ein separates Problem ist). Nun behaupten sie, 300 000 zu sein, aber wer zählt sie? Wie viele Siedler bedeuten Un-Umkehrbarkeit? 100-,3000-,500-, 800-Tausend?

Die Geschichte ist wie ein Treibhaus von Umkehrbarkeit. Empires wuchsen und brachen zusammen. Kulturen blühten und verdorrten. So geschah es auch mit sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. Nur der Tod ist unumkehrbar.

Ich kann an ein Dutzend verschiedener Wege denken, um das Siedlungsproblem zu lösen; von zwangsweiser Vertreibung bis zum Austausch von Gebieten bis zu palästinensischer Staatsbürgerschaft. Wer glaubte damals, dass die Siedlungen im Nord-Sinai so leicht aufzulösen waren? Dass die Evakuierung der Siedlungen im Gazastreifen eine nationale Farce werden würde?

Am Ende wird es wahrscheinlich zu einer Mixtur verschiedener Wege, den Umständen entsprechend, geben.

All die Herkulesprobleme des Konfliktes können gelöst werden – wenn es einen Willen gibt. Es ist der Wille, der das Problem darstellt.

DIE, DIE die Ein-Staat -Lösung vertreten, denken an die Erfahrung Süd-Afrikas. Für sie ist Israel ein Apartheidstaat wie das frühere Südafrika, und deshalb muss die Lösung ähnlich wie in Süd-Afrika sein.

Die Situation in den besetzten Gebieten – und auch im eigentlichen Israel -ähnelt tatsächlich sehr dem Apartheidregime. Das Apartheid-Beispiel mag mit Recht in politischen Debatten zitiert werden. Aber in Realität gibt es sehr wenig Ähnlichkeit – falls überhaupt – zwischen den beiden Ländern.

David Ben-Gurion gab einmal den südafrikanischen Führern einen Rat: die Teilung. Konzentriert die weiße Bevölkerung im Süden in der Kap-Region, und tretet die andern Teile des Landes an die Schwarzen ab. Beide Seiten Süd-Afrikas wiesen diese Idee wütend ab, weil beide Seiten an ein einziges, vereintes Land glaubten.

Sie sprachen weithin dieselbe Sprache, gehörten zur selben Religion und waren in dieselbe Wirtschaft integriert. Der Kampf ging um die Herren-Sklaven-Beziehung mit einer kleinen Minderheit, die das Zepter über eine massive Mehrheit schwang.

Nichts davon stimmt mit unserem Land überein. Hier haben wir es mit zwei verschiedenen Nationen zu tun, zwei Bevölkerungen von etwa derselben Größe, zwei Sprachen, zwei (oder eher drei) Religionen, zwei Kulturen, zwei völlig verschiedenen Wirtschaften.

Eine falsche Aussage führt zu falschen Schlussfolgerungen. Die eine von ihnen ist, dass Israel wie Südafrika durch einen internationalen Boykott auf die Knie gebracht werden kann. Was Südafrika betrifft, so ist das eine gönnerhaft imperialistische Illusion. Der Boykott – moralisch und so bedeutend er war – tat nicht seinen Job. Es war der Kampf der Afrikaner selbst, ihre mutigen Streiks und Aufstände, die den Sieg brachten. Einige lokale weiße Idealisten standen ihnen bei.

Ich bin ein Optimist und ich hoffe, dass schließlich (und endlich) jüdische Israelis und palästinensische Araber Schwesternationen werden, die in Harmonie Seite an Seite leben. Aber um an diesen Punkt zu kommen, muss es eine Periode geben, in der man friedlich in zwei neben einander liegenden Staaten lebt, hoffentlich mit offenen Grenzen.

DIE LEUTE, die jetzt von der „Ein-Staaten-Lösung“ sprechen, sind Idealisten. Aber sie richten eine Menge Schaden an. Und nicht nur, weil sie sich und andere daran hindern, für die einzig realistische Lösung zu kämpfen.

Wenn wir zusammen in einem Staat leben wollen, hat es keinen Sinn, gegen die Siedlungen zu kämpfen. Wenn Haifa und Ramallah in einem Staat sein werden, welchen Unterschied macht es dann, wenn eine Siedlung bei Haifa oder bei Ramallah liegt? Aber der Kampf gegen die Siedlungen ist absolut wesentlich, es ist das Hauptschlachtfeld im Kampf für den Frieden.

Seltsamerweise ist die EIN-Staat-Lösung das gemeine Ziel der extrem zionistischen Rechten und der extrem anti-zionistischen Linken. Und da die Rechte unvergleichlich stärker ist, ist es die Linke, die der Rechten hilft und nicht anders herum.

Theoretisch sollte es so sein, weil die Anhänger der Ein-Staat-Lösung glauben, dass die Rechten nur den Boden für ihr zukünftiges Paradies vorbereiten. Die Rechte vereint das Land und macht der Möglichkeit eines unabhängigen Staates Palästina ein Ende. Sie werden die Palästinenser allen Schrecken der Apartheid unterwerfen und vielem mehr, da es für die südafrikanischen Rassisten nicht das Ziel war, die Schwarzen zu vertreiben und zu ersetzen. Aber zu gegebener Zeit – vielleicht in nur wenigen Jahrzehnten oder nach einem halben Jahrhundert – wird die Welt Großisrael zwingen, den Palästinensern die vollen Rechte zu gewähren- und Israel wird Palästina werden.

Nach dieser linken Theorie wird die Rechte, die jetzt den einen rassistischen Staat schafft, in Wirklichkeit „der Esel des Messias“, das legendäre Tier, auf dem der Messias zum Triumpf reiten wird.

Das ist eine wunderschöne Theorie, aber was ist die Versicherung, dass dies wirklich geschehen wird? Und bevor das letzte Stadium beginnt, was wird mit dem palästinensischen Volk geschehen? Wer wird die Herrscher von Groß-Israel zwingen, das Diktat der Weltöffentlichkeit zu akzeptieren?

Wenn Israel sich jetzt weigert, sich der Weltmeinung zu beugen, und es den Palästinenser n ermöglicht, ihren eigenen Staat auf 28% des historischen Palästina zu haben, warum sollten sie sich in Zukunft der Weltmeinung beugen und Israel im Ganzen aufgeben?

Indem wir über einen Prozess sprechen, der sicherlich noch 50 Jahre oder mehr dauert, wer weiß, was bis dahin geschieht? Welche Veränderungen der Welt werden in der Zwischenzeit geschehen? Welche Kriege und andere Katastrophen werden die Welt vom palästinensischen Problem ablenken?

Würde man wirklich das Schicksal einer Nation nach einer weit hergeholten Theorie wie diese aufs Spiel setzen?

NEHMEN WIR für einen Moment an, dass die „Ein-Staat-Lösung“ Wirklichkeit würde, wie würde sie funktionieren?

Werden dann israelische Juden und palästinensische Araber in derselben Armee dienen, dieselben Steuern zahlen, nach denselben Gesetzen leben, zusammen in denselben Parteien arbeiten? Wird es soziale Interaktionen unter ihnen geben? Oder wird der Staat in einem unendlichen Bürgerkrieg versinken?

Ander e Völker fanden es unmöglich, in einem Staat zusammen zu leben. Man denke an die Sowjetunion, Jugoslawien, Serbien, Tschechoslowakei, Cypern, der Sudan. Die Schotten wollen sich vom vereinten britischen Königreich trennen. So auch die Basken und die Katalonier in Spanien. Die Franzosen in Kanada und die Flamen in Belgien sind unruhig. Soweit ich weiß, haben nirgendwo in der ganzen Welt seit Jahrzehnten zwei verschiedene Völker darin übereingestimmt, einen gemeinsamen Staat zu bilden.

NEIN, DIE Zwei-Staatenlösung ist nicht tot. Sie kann nicht sterben, weil sie die einzige Lösung ist, die es gibt.

Verzweiflung kann bequem und verlockend sein. Aber Verzweiflung ist keine Lösung.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)

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Nein, wir können nicht!

Erstellt von Redaktion am 9. Juni 2013

Nein, wir können nicht!

Autor Uri Avnery

EIN BOTSCHAFTER ist ein ehrenwerter Mann, der ins Ausland gesandt wird, um dort zum Besten seines Landes zu lügen, schrieb ein britischer Staatsmann vor etwa 400 Jahren. Das trifft natürlich auf alle Diplomaten zu.

Die Frage ist nur, ob der Diplomat nur gegenüber anderen lügt – oder auch zu sich selbst.

Ich frage das in diesen Tagen, während ich die mühsamen Bemühungen von John Kelly, dem neuen amerikanischen Außenminister, verfolge, um einem israelisch-arabischen „Friedensprozess“ in Gang zu bringen.

Kerry scheint ein ehrenwerter Mann zu sein; ein ernst zu nehmender Mann; ein geduldiger Mann. Aber glaubt er wirklich, dass seine Anstrengung ihn irgendwohin führt?

IN DIESER Woche hatte er tatsächlich einen bemerkenswerten Erfolg.

Eine Delegation arabischer Außenminister, einschließlich des palästinensischen, traf sich mit ihm in Washington. Sie wurde vom qatarischen Ministerpräsidenten geleitet – ein Verwandter des Emirs natürlich – dessen Land eine immer prominentere Rolle in der arabischen Welt spielt.

Bei der Konferenz betonten die Minister, dass die Arabische Friedensinitiative noch immer gültig ist.

Diese Initiative, die vor 10 Jahren durch den saudischen Kronprinz (und gegenwärtigen König) Abdallah auf den Weg gebracht wurde, wurde von der ganzen Arabischen Liga im März 2002 bei der Gipfelkonferenz in Beirut unterzeichnet. Yassir Arafat konnte an der Konferenz nicht teilnehmen, weil Ministerpräsident Ariel Sharon ihm ankündigte, falls er das Land verlasse, würde es ihm nicht erlaubt werden, zurückzukehren. Aber Arafat akzeptierte offiziell die Initiative.

Es muss daran erinnert werden, dass bald nach dem 1967er-Krieg, die arabische Gipfelkonferenz in Khartum die drei Neins verkündete: Nein zum Frieden mit Israel, Nein zur Anerkennung Israels, Nein zu Verhandlungen mit Israel. Die neue Initiative war das totale Gegenteil dieser Resolution, geboren aus Demütigung und Verzweiflung.

Die Saudi-Initiative wurde einstimmig bei der Gipfelkonferenz in Riad 2007 bestätigt. Alle arabischen Herrscher waren da, einschließlich Mahmoud Abbas von Palästina, der auch zustimmte, nur Muammar Gaddafi von Libyen war nicht da.

Die Initiative sagt eindeutig, dass alle arabischen Länder das Ende des arabisch-israelischen Konfliktes verkünden, Friedensverträge mit Israel unterzeichnen und normale Beziehungen mit Israel aufnehmen würden. Dafür müsste sich Israel bis zu den Grenzen vom 4. Juni 1967 (der sog. Grünen Linie) zurückziehen. Der Staat Palästina mit seiner Hauptstadt Ostjerusalem würde dann errichtet. Das Flüchtlingsproblem würde dann durch ein Abkommen gelöst werden (d.h. ein Abkommen mit Israel.)

Wie ich damals schrieb, wenn irgendwer uns Mitte Mai 67 gesagt hätte, die arabische Welt würde uns solch ein Angebot machen, dann würde er in eine Psychiatrie eingeliefert worden sein. Aber jene von uns, die sich für eine Akzeptanz der arabischen Initiative aussprachen, wurden als Verräter gebrandmarkt.

In seiner Konferenz mit den arabischen Ministern in dieser Woche hatte John Kelly Erfolg und brachte sie einen Schritt weiter. Sie stimmten darin überein, dass die Grüne Linie von 1967 durch Landtausch verändert werden könnte. Dies bedeutet, dass die großen Siedlungen entlang der Grenze, wo die Mehrheit der Siedler wohnt, Israel zugesprochen werden – dafür würde Palästina (minderwertiges) israelisches Land bekommen.

ALS DIE Initiative 2002 das erste Mal über die Medien ausgestrahlt wurde, suchte die israelische Regierung verzweifelt nach einem Ausweg.

Die erste Entschuldigung, die ihr einfiel – damals wie immer – war das Flüchtlingsproblem. Es ist leicht, in Israel mit dem Alptraum von Millionen Flüchtlingen, die Israel überfluten würden, Panik zu schaffen. Das würde ein Ende der Jüdischkeit des jüdischen Staates bedeuten.

Sharon, der damalige Ministerpräsident, ignorierte bewusst die entscheidende Klausel, die von den Saudis in ihren Plan eingesetzt wurde: damit es eine „ auf einander abgestimmte“ Lösung geben könnte. Dies bedeutete klar, dass Israel das Vetorecht für jede Lösung zugesprochen bekam. Praktisch würde dies einer Rückkehr einer symbolischen Zahl Flüchtlingen gleichkommen, falls überhaupt.

Warum hat die Initiative überhaupt die Flüchtlinge erwähnt? Nun weil kein Araber einen Friedensplan veröffentlichen konnte, der sie nicht erwähnt. Genau so waren die Libanesen gegen die Klausel, gerade weil dies die Flüchtlinge im Libanon lassen würde.

Doch die Flüchtlinge sind immer ein nützlicher Buhmann. Damals und jetzt.

EINEN TAG bevor die anfängliche Saudi-Initiative dem Beiruter Gipfel am 27 März 2002 vorgelegt wurde, geschah etwas Schreckliches: Hamas-Terroristen führten in Netanya ein Massaker aus mit 40 Toten und Hunderte von Verletzten. Es war am Vorabend von Pessach, dem frohen jüdischen Festtag.

Die israelische Öffentlichkeit war aufgebracht. Sharon reagierte sofort, dass unter diesen Umständen die arabische Friedensinitiative nicht einmal angesehen werden würde. Es ist egal, dass das Verbrechen von Hamas begangen wurde mit dem ausdrücklichen Zweck der Sabotage der Saudi-Initiative und um Arafat zu schwächen, der sie unterstützte. Sharon gab verlogener Weise Arafat die Schuld für die blutige Tat – und das war das Ende.

Seltsamerweise – oder vielleicht auch nicht – ereignete sich in dieser Woche etwas Ähnliches. Am selben Tag, an dem die arabische verbesserte Initiative veröffentlicht wurde, tötete an einem Checkpoint ein junger Palästinenser mit einem Messer einen Siedler – der erste getötete Jude in der Westbank nach mehr als anderthalb Jahren.

Das Opfer Evjatar Borowsky war ein 31 jähriger Vater von fünf Kindern – was für einen orthodoxen Mann üblich ist. Er war Bewohner der Yitzhar-Siedlung in der Nähe von Nablus, der vielleicht extremsten anti-arabischen Siedlung in der ganzen Westbank. Er sah ganz und gar wie ein ideologischer Siedler aus – blond, mit Bart, von osteuropäischem Aussehen, mit langen Schläfenlocken und einer großen, farbigen Kippa. Der Täter kam aus der palästinensischen Stadt Tulkarem. Er wurde angeschossen, ernsthaft verletzt und ist jetzt in einem israelischen Krankenhaus.

Vor dem Vorfall hatte Netanjahu sehr ernsthaft daran gearbeitet, eine Erklärung zu formulieren, die die Friedensinitiative zurückweisen würde, ohne die Amerikaner zu beleidigen. Nach dem Mord entschied er, dass dies nicht mehr nötig sei. Der Terrorist hat seine Arbeit getan. (Ein altes jüdisches Sprichwort drückt es so aus: „Die Arbeit des Gerechten wird von anderen getan“.)

Die Justizministerin Zipi Livni, die den Auftrag hat, die (nichtexistierenden) Verhandlungen mit den Palästinensern zu führen, und Präsident Shimon Peres begrüßten das erneute arabische Abkommen. Aber Livnis Einfluss auf die Regierung ist gleich Null, und Peres ist jetzt in Israel eine Witzfigur.

FALLS DER amerikanische Außenminister wirklich glaubt, er könne unsere Regierung langsam und nach und nach zu einer „sinnvollen“ Verhandlung mit den Palästinensern anstoßen, dann hat er sich selbst etwas vorgemacht. Falls er dies nicht glaubt, versucht er, anderen etwas vorzumachen.

Es hat seit Ehud Barak nie wirkliche Verhandlungen mit den Palästinensern gegeben. Er kam 2000 von der Camp David Konferenz mit dem Slogan zurück: „Wir haben keinen Partner für den Frieden“. Damit zerstörte er die israelische Friedensbewegung und brachte Sharon an die Macht.

Vor diesem gab es auch keine wirklichen Verhandlungen. Yitzhak Shamir verkündete, er wäre froh, Jahrzehntelang zu verhandeln. (Shamir erklärte übrigens, es wäre eine Tugend „fürs Vaterland zu lügen“.) Dokumente wurden produziert und verstaubten, Konferenzen wurden fotografiert und vergessen, Abkommen wurden unterzeichnet und änderten kaum etwas an der Realität. Nichts – außer der Siedlungsaktivität.

Warum ? Wie käme jemand zu der Überzeugung, ab jetzt würde alles anders sein?

Kerry will den Arabern einige Worte mehr entlocken. Von Netanjahu noch ein paar Versprechen. Es könnte sogar eine festliche Eröffnung einer neuen Verhandlungsrunde geben, ein großer Sieg für Präsident Obama und Kerry.

Aber nichts wird sich ändern. Verhandlungen werden sich hinziehen und hinziehen …

Aus demselben Grund, weswegen es in der Vergangenheit keine Bewegung gab, wird es auch in der Zukunft keine Bewegung in Richtung Frieden geben – wenn nicht ….

WENN NICHT. Wenn nicht Obama den Stier an den Hörnern packt, was er anscheinend ausgesprochen ungern tun würde.

Die Hörner des Stiers sind die Hörner der Dilemmata, auf denen Israel sitzt.

Es ist die historische Wahl, der wir gegenüber stehen: Großisrael oder Frieden?

Frieden, jeder vorstellbarer Friede, der die absolute Basis der arabischen Initiative wäre, bedeutet, Israel zieht sich aus den besetzten palästinensischen Gebieten und dem Gazastreifen zurück und der Staat Palästina wird in der Westbank und im Gazastreifen mit seiner Hauptstadt Ostjerusalem errichtet. Kein Falls, kein Aber, kein Vielleicht,

Das Gegenteil von Frieden ist Israels Herrschaft über das ganze Land zwischen Meer und dem Jordan – in der einen oder anderen Form (In letzter Zeit haben einige verzweifelte israelische Pazifisten dies angenommen – in der absurden Hoffnung, dass in diesem Großisrael Israel den Arabern Gleichheit gewähren würde.)

Falls Präsident Obama den Willen und die Macht hat, die Regierung Israels zu zwingen, diese historische Entscheidung zu treffen und den Frieden zu wählen, egal, wie hoch der politische Preis für den Präsidenten sein mag, dann sollte er voranschreiten.

Falls dieser Wille und diese Macht nicht bestehen, ist die ganze große Bemühung ein Täuschungsmanöver, und ehrenhafte Männer sollten sich solch einer Sache nicht hingeben.

Sie sollten sich beiden Seiten gegenüber ehrlich verhalten und beiden Seiten und der Welt sagen:

„Nein, wir können nicht.“

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Die Russen kamen

Erstellt von Redaktion am 2. Juni 2013

Die Russen kamen

Autor Uri Avnery

ALS UNS die große Einwanderungswelle um 1990 aus der Sowjetunion erreichte, waren wir froh.

Zunächst, weil wir glauben, dass jede Einwanderung für das Land gut sei. Ich bin davon überzeugt, dass dies für alle Länder der Fall ist.

Zweitens, weil wir überzeugt waren, dass diese spezielle Gruppe von Immigranten unser Land in die richtige Richtung stoßen würde.

Diese Leute – so sagten wir uns – sind 70 Jahre lang in einem international eingestellten Geist erzogen worden. Sie haben gerade eine grausame Diktatur gestürzt. Sie müssen begeisterte Demokraten sein. Viele von ihnen sind keine Juden, sondern nur Verwandte (manchmal entfernte Verwandte) von Juden. Also haben wir hundert Tausende säkulare, internationalistische und nicht nationalistische neue Bürger, genau das, was wir brauchen. Sie würden ein positives Element dem demographischen Cocktail, das Israel ist, hinzufügen.

Außerdem: da die vorstaatliche jüdische Gemeinschaft im Land (dem sog. „Yishuv“) zum großen Teil aus Immigranten des zaristischen und früh revolutionären Russland bestand, würden sich die neuen Immigranten sicher leicht mit der allgemeinen Bevölkerung mischen.

So dachten wir wenigstens.

DIE GEGENWÄRTIGE Situation ist genau das Gegenteil.

Die Immigranten aus der früheren Sowjetunion – im Jargon zusammengefasst als „die Russen“ – haben sich überhaupt nicht mit den anderen vermischt. Sie sind eine gesonderte Gemeinde, die in einem selbstgemachten Ghetto lebt.

Sie sprechen weiter russisch. Sie lesen ihre eigenen russischen Zeitungen, alle fanatisch nationalistisch und rassistisch. Sie wählen ihre eigene Partei, die von dem in Moldawien geborenen Evet (jetzt Avigdor) Lieberman angeführt wird. Sie haben praktisch keinen Kontakt mit andern Israelis.

In ihrem ersten beiden Jahren im Lande wählten sie hauptsächlich Yitzhak Rabin von der Labor-Partei, aber nicht, weil er Frieden versprochen hat, sondern weil er ein General und für sie ein hervorragender Mann des Militärs war. Von da ab haben sie die extreme Rechte gewählt.

Die sehr große Mehrheit von ihnen hasst Araber, weist den Frieden zurück, unterstützt die Siedler und wählt rechtsgerichtete Regierungen.

Da sie jetzt fast 20% der israelischen Bevölkerung ausmachen, ist dies ein wichtiger Faktor, der Israel nach rechts stößt.

WARUM UM Himmelswillen?

Da gibt es mehrere Theorien, wahrscheinlich sind alle von ihnen richtig.

Einmal hörte ich von einem hochrangigen russischen Funktionär: „Während des Sowjetregimes waren Juden sowjetische Bürger wie alle anderen auch. Als die Union aus einander brach, zog sich jeder in seine eigene Nation zurück. Die Juden wurden in einem Vakuum gelassen. Also gingen sie nach Israel und wurden dort israelischer als all die anderen Israelis. Selbst die Nicht-Juden unter ihnen wurden israelische Super-Patrioten“.

Eine andere Theorie lautet: „Als der Kommunismus in Russland zusammenbrach, trat der Nationalismus (oder die Religion) an seine Stelle. Die Bevölkerung blieb bei ihrer totalitären Haltung, mit Verachtung für Demokratie und Liberalismus und dem Verlangen nach einem starken Führer. Es gab auch einen weit verbreiteten Rassismus der „weißen“ Bevölkerung der nördlichen Sowjetunion gegenüber den „dunklen“ Völkern des Südens. Als die russischen Juden (und Nichtjuden) nach Israel kamen, brachten sie diese Haltung mit sich. Sie ersetzten die verachteten Armenier, Tschetschenen und all die anderen durch Araber. Diese Einstellung wird täglich von den russischen Zeitungen und TV-Stationen in Israel genährt.

Ich bemerkte diese Haltung, als ich 1990 das erste Mal die Sowjetunion während der Ära von Mikhail Gorbachows Glasnost besuchte. Ich konnte es vorher nicht besuchen, weil mein Name regelmäßig von jeder Liste von Leuten gestrichen wurde, die häufig eingeladen wurden, um den Ruhm des sowjetischen Vaterlandes zu sehen. Ich weiß nicht, warum. (Seltsam genug ist, dass ich auch von der Liste der in die US-Botschaft am 4. Juli eingeladenen Würdenträger gestrichen wurde; und einige Jahre hatte ich große Schwierigkeiten, ein amerikanisches Visum zu erhalten. Vielleicht weil ich gegen den Vietnamkrieg demonstriert hatte. Ich muss einer der wenigen Leute in der Welt sein, die darauf stolz sein können, dass er auf der schwarzen Liste von beiden stand, von der CIA und dem KGB.)

Ich flog nach Russland, um ein Buch über das Ende des kommunistischen Regimes in Ost-Europa zu schreiben. (Es wurde auf Hebräisch unter dem Titel „Lenin lebt nicht mehr hier “ veröffentlicht). Rachel und ich liebten Moskau sehr, aber wir brauchten nur wenige Tage, um den ungezügelten Rassismus rund um uns staunend zur Kenntnis zu nehmen. Dunkelhäutige Bürger wurden mit nicht verhüllter Verachtung behandelt. Wenn wir auf den Markt gingen und mit den Verkäufern scherzten, alles Leute aus dem Süden, mit denen wir sofort Kontakt hatten, dann distanzierte sich der nette, ernst dreinschauende russische Übersetzer ganz offen.

MEINE FREUNDE und ich haben uns jeden Freitagabend seit etwa 50 Jahren getroffen. Als die Russen begannen zu kommen, traf sich unsere Runde in Tel Avivs Cafe Kassit, dem Treffpunkt von Schriftstellern, Künstlern und ähnlichen Leuten.

Eines Tages bemerkten wir, dass sich eine Gruppe junger russischer Immigranten ihre eigene Tafelrunde geschaffen hatte. Voller Sympathie – aber auch Neugierde- schlossen wir uns zuweilen ihnen an.

Am Anfang funktionierte dies ganz gut. Einige Freundschaften wurden geschlossen. Aber dann geschah etwas Seltsames. Sie distanzierten sich von uns, indem sie uns klar machten, dass wir für sie nur unkultivierte nahöstliche Barbaren seien, nicht wert, mit ihnen, die mit Tolstoi und Dostojewskij aufgewachsen seien, zu kommunizieren. Dann verschwanden sie überhaupt aus unserm Blickfeld.

Ich wurde letzten Freitag daran erinnert, als eine ungewöhnlich hitzige Diskussion an unserm Tisch ausbrach. Wir hatten einen Gast, eine junge „russische“ Naturwissenschaftlerin, die die Linke anklagte, dass ihre Gleichgültigkeit und ihre gönnerhafte Haltung gegenüber der russischen Gemeinde diese veranlasst habe, sich den Rechten zuzuwenden. Eine renommierte Friedensaktivistin reagierte wütend: sie behauptete, dass die Russen schon mit einer fast faschistischen Haltung hierhergekommen seien.

Ich stimmte mit beiden überein.

ISRAELS EINSTELLUNG gegenüber neuen Immigranten ist immer etwas seltsam gewesen.

Führer wie David Ben-Gurion hat die zionistische Einwanderung behandelt, als wäre es nur ein Transportproblem. Sie gaben sich außerordentlich viel Mühe, um Juden aus aller Welt nach Israel zu bringen, aber als sie dann hier waren, ließen sie sie sich selbst versorgen. Materielle Hilfe wurde gegeben, eine Wohnung wurde bereit gestellt, aber fast nichts wurde getan, um sie in die Gesellschaft zu integrieren.

Dies traf auch für die Masseneinwanderung der deutschen Juden zu, die in den 30erJahren kamen, die orientalischen Juden in den 50erJahren und die russischen in den 90ern. Als die Masse der russischen Juden die USA bevorzugten, setzte unsere Regierung die amerikanische unter Druck, ihre Tore ihnen vor der Nase zu schließen, so waren sie praktisch gezwungen, hierher zu kommen. Als sie kamen, ließ man sie sich in Ghettos versammeln, statt sie dahin zu bringen, sich unter uns zu verteilen und zu leben.

Die israelische Linke war keine Ausnahme. Als einige schwache Bemühungen, sie ins Friedenslager zu ziehen, erfolglos blieben, wurden sie alleine gelassen. Die Organisation Gush Shalom, zu der ich gehöre, verteilte einmal 100 000 Kopien unserer Vorzeigeveröffentlichung („Wahrheit gegen Wahrheit “, die Geschichte unseres Konfliktes auf Russisch) Als wir nur eine einzige Antwort erhielten, waren wir entmutigt. Offensichtlich interessierten sie sich einen Dreck für die Geschichte dieses Landes, von der sie nicht die geringste Ahnung haben.

UM DIE Bedeutung dieses Problems zu verstehen, muss man sich die Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft wie sie tatsächlich ist, vor Augen halten. (Ich habe mehrere Male darüber in der Vergangenheit geschrieben). Sie besteht aus fünf Gruppierungen von fast gleicher Größe:

a.) Juden europäischen Ursprungs, genannt Ashkenasim, zu denen die meisten der kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Elite gehören. Die Linke ist fast vollkommen dort konzentriert.

b.) Juden orientalischen Ursprungs, oft (fälschlicherweise) Sephardim genannt, aus arabischen und muslimischen Ländern. Diese „Misrahim“ sind die Basis des Likud.

c.) Die religiösen Juden, die die ultra-orthodoxen Haredim einschließen, sowohl Ashkenazim als auch Orientale, sowie auch national-religiöse Zionisten, die die Führung der Siedler einschließt

d.) Die arabisch-palästinensischen Bürger, die vor allem in drei großen geographischen Gruppen leben.

e.) Die „Russen“

Einige dieser Gruppen überschneiden sich am Rande, aber das Bild ist eindeutig. Die Araber und viele der Ashkenasim gehören zum Friedenslager, alle anderen gehören geschlossen zum rechten Flügel.

Deswegen ist es absolut dringend, wenigstens Teile der orientalischen Juden, die religiösen und – ja – die „Russen“ zu gewinnen, um eine Mehrheit für Frieden zu gewinnen. Meiner Meinung nach ist das im Augenblick die bedeutendste Aufgabe des Friedenslagers.

AM ENDE der wütenden Debatte an unserm Tisch versuchte ich beide Seiten zu beruhigen.

Es ist nicht nötig, sich darüber zu zanken, wie die Schuld zu verteilen sei. Es gibt genug Schuld für alle.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Ein Lob auf die Emotionen

Erstellt von Redaktion am 26. Mai 2013

Ein Lob auf die Emotionen

Autor Uri Avnery

ES WAR eine bewegende Erfahrung. Momente, die nicht nur den Verstand berührten, sondern auch – und vor allem – das Herz.

Am letzten Sonntag, am Vorabend von Israels Gedenktag für die Gefallenen unserer Kriege, war ich zu einer Veranstaltung eingeladen, die von der Aktivistengruppe „Kämpfer für den Frieden“ und dem „Forum israelischer und palästinensischer trauernder Eltern“ organisiert wurde.

Die erste Überraschung war, dass sie überhaupt stattfand. In der allgemeinen Atmosphäre der Entmutigung des israelischen Friedenslagers nach den letzten Wahlen, als fast niemand wagte, das Wort „Frieden“ in den Mund zu nehmen, ist solch eine Veranstaltung ermutigend.

Die zweite Überraschung war ihre Größe. Sie fand statt in einem der größten Hallen des Landes, in Halle 10 von Tel Avivs Messegelände. Sie hat mehr als 2000 Sitze. Eine Viertelstunde vor Beginn war die Teilnehmerzahl deprimierend dürftig. Eine halbe Stunde später war sie propenvoll. (Wie viele Tugenden das Friedenslager auch haben mag, Pünktlichkeit gehört nicht zu ihnen)

Die dritte Überraschung war die Zusammensetzung der Zuhörer. Da waren ziemlich viele Weißhaarige, einschließlich meiner selbst, aber die große Mehrheit war aus jungen Leuten zusammen gesetzt, mindestens die Hälfte von ihnen junge Frauen, energisch, sachlich, sehr israelisch.

Ich hatte das Gefühl, ich sei bei einem Staffellauf. Meine Generation gibt den Stab an die nächste Generation weiter. Das Rennen, der Staffellauf geht weiter.

ABER DAS Außerordentliche der Veranstaltung war natürlich ihr Inhalt. Israelis und Palästinenser trauerten gemeinsam um ihre toten Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern, Opfer des Konfliktes und der Kriege, der Besatzung und des Widerstandes (bzw. des Terrors).

Ein Araber aus einem Dorf sprach ruhig von seiner Tochter, die auf ihrem Schulweg von einem Soldaten getötet wurde. Eine jüdische Mutter sprach von ihrem Sohn, einem Soldaten, der in einem der Kriege getötet wurde. Alle in gedämpften, ruhigen Ton. Ohne Pathos. Einige sprachen Hebräisch, einige Arabisch.

Sie sprachen von ihrer ersten Reaktion nach dem Verlust, von Hassgefühlen, von Rachedurst – und dann von dem langsamen Wandel des Herzens. Die Erkenntnis, dass die Eltern auf der andern Seite, dem Feind, genau so fühlten wie sie, dass der Verlust, ihre Trauer, ihr Schmerz genau so waren wie die eigenen Gefühle.

Seit Jahren treffen sich die trauernden Eltern von beiden Seiten regelmäßig, um Trost in der Gemeinschaft zu finden. Unter allen Friedensgruppen, die im israelisch-palästinensischen Konflikt handeln, ist dies vielleicht die das Herz bewegendste Gruppe.

ES WAR für die arabischen Teilnehmer gar nicht leicht, zu diesem Treffen zu kommen. Zuerst wurde ihnen von der Armee das Betreten Israels verweigert. Gabi Lasky, der unbeugsame Anwalt vieler Friedensgruppen (einschließlich von Gush Shalom) musste mit einem Antrag vor dem Obersten Gericht drohen, nur um eine begrenzte Konzession zu bekommen: 45 Palästinensern aus der Westbank wurde erlaubt, daran teilzunehmen.

(Es ist eine Routinemaßnahme der Besatzung: vor jedem jüdischen Feiertag ist die Westbank komplett von Israel abgeschnitten – außer für die Siedler natürlich. So werden die meisten Palästinenser mit den jüdischen Feiertagen bekannt.)

Was bei dieser Veranstaltung so besonders war, bestand darin, dass die israelisch-arabische Verbrüderung auf rein menschlicher Ebene stattfand – ohne politische Reden, ohne die Slogans, die – ehrlich gesagt – ein bisschen abgedroschen klingen.

Zwei Stunden lang waren wir alle von menschlichen Emotionen übermannt, von einem tiefen Gefühl für einander. Und das war ein gutes Gefühl.

ICH SCHREIBE dies mit besonderem Nachdruck, weil ich die Bedeutung der Emotionen im Kampf für Frieden stark empfinde.

Ich selbst bin keine sehr emotionale Person. Aber mir ist äußerst bewusst, dass im politischen Kampf Emotionen einen Platz haben. Ich bin stolz darauf, dass ich folgenden Satz geprägt habe „ In der Politik ist es irrational, das Irrationale zu ignorieren“ oder „In der Politik ist es rational, das Irrationale zu akzeptieren.“

Es ist eine große Schwäche der israelischen Friedensbewegung. Sie ist äußerst rational – in der Tat vielleicht zu rational. Wir können leicht beweisen, dass Israel Frieden braucht, dass wir ohne Frieden ein Apartheidstaat werden, wenn nicht gar etwas Schlimmeres.

In der ganzen Welt sind die Linken nüchterner als die Rechten. Wenn die Linken mit einem logischen Argument für Frieden, für Versöhnung mit den früheren Feinden, für soziale Gleichheit und Hilfe für die Benachteiligten darlegen, antworten die Rechten mit einer Salve emotionaler und irrationaler Slogans.

Doch Volksmassen werden nicht durch Logik bewegt. Sie werden durch Gefühle angesprochen.

Ein Ausdruck von Gefühlen – und ein Generator von Gefühlen ist die Sprache der Lieder. Man kann die Intensität einer Bewegung an ihren Melodien abschätzen. Kann sich jemand die Märsche von Martin-Luther-King ohne das Lied: „We shall overcome“ vorstellen? Wer kann sich den irischen Kampf ohne seine vielen schönen Lieder vorstellen? Oder die Oktober Revolution ohne seine Massen stürmischer Melodien?

Die israelische Friedensbewegung hat ein einziges Lied hervorgebracht: einen traurigen Appell der Toten an die Lebenden. Yitzhak Rabin wurde innerhalb von Minuten nach dem er es gesungen hatte ermordet; sein blutbeschmierter Text wurde in seinem Anzug gefunden. Aber all die vielen Dichter und Komponisten der Friedensbewegung haben nicht ein einziges aufrüttelndes Lied hervorgebracht – während die Aufhetzer aus einem Reichtum religiöser und nationalistischer Hymnen schöpfen können.

ES IST gesagt worden, dass man seinen Feind nicht mögen muss, um mit ihm Frieden zu schließen. Man macht mit dem Feind Frieden, wie wir das hunderte Male gesagt haben. Der Feind ist die Person, die man hasst.

Ich habe niemals ganz daran geglaubt, und je älter ich werde, umso weniger tue ich es.

Nun stimmt es, man kann nicht von Millionen Menschen auf beiden Seiten erwarten, dass sie einander lieben. Aber der Kern der Friedensmacher, der Pioniere, kann seine Aufgabe nicht erfüllen, wenn es nicht eine Spur gegenseitiger Sympathie zwischen ihnen gibt.

Ein gewisser Typ israelischer Friedenaktivisten akzeptiert diese Binsenwahrheit nicht. Manchmal hat man das Gefühl, dass sie wirklich Frieden wollen – aber nicht wirklich mit den Arabern. Sie lieben den Frieden, weil sie sich selbst lieben. Sie stehen vor dem Spiegel und sagen zu sich selbst: Sieh, wie wunderbar ich bin! Wie menschlich! Wie moralisch!

Ich erinnere mich, wie viel Feindseligkeit in gewissen fortschrittlichen Kreisen ich verursachte, als ich unser Friedens-Symbol entwickelte: die gekreuzten Fahnen Israels und Palästinas. Als einer von uns dieses Emblem bei einer Peace-Now-Demonstration in den späten Achzigerjahren zeigte, verursachte es einen Skandal. Er wurde unhöflich gebeten, wegzugehen, und die Bewegung entschuldigte sich öffentlich.

Um einer wirklichen Friedensbewegung Schwung zu verleihen, muss man sie mit dem Geist der Empathie für die andere Seite erfüllen. Man muss ein Gefühl für ihre Menschlichkeit, ihre Kultur, ihr Narrativ, ihre Ziele, ihre Ängste und Hoffnungen haben. Und dies gilt natürlich für beide Seiten.

Nichts kann schädlicher für Friedenschancen sein, als die Aktivitäten fanatischer pro-Israelis und pro-Palästinenser im Ausland, die denken, dass sie ihrer bevorzugten Seite helfen, wenn sie die andere Seite dämonisieren. Mit Dämonen macht man keinen Frieden.

VERBRÜDERUNG ZWISCHEN Palästinensern und Israelis ist ein Muss. Keine Friedensbewegung kann ohne dies Erfolg haben.

Und hier sind wir zu einem schmerzlichen Paradox gekommen: Je mehr diese Verbrüderung nötig wäre, desto weniger ist sie vorhanden.

Während der letzten paar Jahre wuchs die Entfremdung zwischen beiden Seiten. Yasser Arafat war sich der Notwendigkeit des Kontaktes sehr bewusst und tat viel, um sie zu fördern. (Ich drängte ihn ständig, hier mehr zu tun.) Seit seinem Tod schwand diese Bemühung.

Auf der israelischen Seite sind Friedensbemühungen immer weniger populär geworden. Verbrüderung findet jede Woche in Bilin und auf andern Schlachtfeldern statt, aber die großen Friedensorganisationen sind nicht allzu eifrig daran beteiligt.

Auf der palästinensischen Seite gibt es eine Menge Groll, ein (gerechtfertigtes) Gefühl, dass die israelische Friedensbewegung nicht erreicht hat, was sie versprochen hat. Ja, noch schlimmer, gemeinsame öffentliche Begegnungen könnten von der palästinensischen Seite als eine Form von „Normalisierung“ mit Israel angesehen werden, so etwas wie Kollaboration mit dem Feind.

Dies muss sich ändern. Nur eine allgemeine Kooperation großen Umfangs zwischen den Friedensbewegungen beider Seiten kann die Öffentlichkeit – beider Seiten – überzeugen, dass Frieden möglich ist.

DIESE GEDANKEN gingen mir durch den Kopf, als ich den einfachen Worten der Palästinenser und Israelis bei dieser großen Gedenkveranstaltung lauschte.

Es war alles da: der Geist, die Emotion, die gegenseitige Empathie, die Zusammenarbeit.

Es war ein menschlicher Augenblick – so sollte alles anfangen.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs.

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Ideokratie

Erstellt von Redaktion am 5. Mai 2013

Ideokratie

Autor Uri Avnery

ENDLICH HAT sich unser Ministerpräsident für die „Einsatzfehler“, die zum Tode von neun Türken während des Angriffs auf die Mavi Marmara geführt haben, bei den Türken entschuldigt. Es war das Schiff, das die israelische Blockade des Gazastreifens zu brechen versuchte.

Er hat zwei Jahre und zehn Monate gebraucht, um dies zu tun.

Halleluja!

Aber die wirkliche Entschuldigung hätte nicht an die Türken gehen sollen, sondern an die Israelis. Und nicht nur wegen der Fehler, die die Soldaten begangen haben.

DIE GANZE Affäre war von Anfang bis Ende ein Akt puren Schwachsinns. Von Anbeginn an.

Dies ist im Nachhinein leicht zu sagen. Aber meine Freunde und ich wiesen öffentlich auf die Dummheit dieser Aktion hin, bevor sie anfing.

Wie wir damals sagten, war der Schaden mit dem Stoppen des türkischen Schiffes viel größer als der Schaden, der – wenn überhaupt – verursacht worden wäre, wenn das Schiff sein Ziel hätte erreichen dürfen.

Was hätte denn im schlimmsten Fall passieren können? Das Schiff hätte vor der Küste des Gazastreifens geankert, die internationalen Aktivisten an Bord hätten einen begeisterten Empfang erlebt, Hamas hätte einen kleinen Sieg gefeiert und das wär‘s gewesen. Eine Woche später hätte sich keiner mehr darum gekümmert oder daran erinnert.

Offiziell war die Blockade von der israelischen Marine aus einem einzigen Grund auferlegt worden, um zu verhindern, dass Waffen den von der Hamas beherrschten Gazastreifen erreichen können. Wenn dies eine ernsthafte Sorge gewesen wäre, hätte die Blaue Marmara auf hoher See gestoppt und nach Waffen durchsucht werden können, um sie dann weiter fahren zu lassen. Das wurde nicht einmal in Erwägung gezogen.

Von da an ging es nur um Prestige, politisches oder persönliches Ego. Kurz gesagt um Schwachsinn.

Bei einer militärischen Aktion weiß niemand im Voraus, was geschehen wird. Die Dinge entwickeln sich nie wie geplant. Mit Verlusten muss gerechnet werden. Und wie gesagt wird: das erste Opfer in einem Krieg ist der Kriegsplan.

Der Plan ging schief. Statt geduldig den Angriff in internationalen Gewässern über sich ergehen zu lassen, hatten die Türken die unglaubliche Unverschämtheit, die Soldaten mit Stöcken und Ähnlichem „anzugreifen“. Die armen Soldaten hatten keine andere Wahl, als sie zu erschießen.

Vernünftig wäre nun gewesen, sich sofort zu entschuldigen, den Familien der Opfer großzügige Kompensationen zu zahlen und die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen.

Aber nicht so bei uns Israelis. Weil wir im Recht sind. Wie immer. Es liegt in unserm Wesen, im Recht zu sein. Wir können nicht anders.

(Ich erinnere mich an eine Fahrschule der britischen Armee in Palästina: In der Mitte standen die Reste eines zerstörten Autos mit der Aufschrift: „Aber Er hatte Recht!“)

Wir misshandelten die Passagiere, stahlen ihre Fotoapparate und anderen persönlichen Besitz und ließen sie nur nach gründlicher Demütigung gehen. Wir klagten sie an, gefährliche Terroristen zu sein. Beinahe hätten wir noch Entschädigungen für unsere Soldaten verlangt, die schließlich die wirklichen Opfer waren.

DIE REINSTE Dummheit von allem wurde durch die Tatsache illustriert, dass die Türkei unser engster Verbündeter in der Region war.

Die beiden Militärs hatten sehr enge Beziehungen geknüpft. Die Nachrichtendienste beider Länder waren wie Siamesische Zwillinge. Wir verkauften ihnen riesige Mengen militärischer Ausrüstung und Waffen. Wir führten gemeinsame Militärmanöver durch.

Auch zwischen beiden Völkern bestanden herzliche Beziehungen. Jedes Jahr verbrachte eine halbe Million Israelis ihre Ferien an der türkischen Küste. Der türkische Ausdruck für Touristen „alles eingeschlossen“ wurde in Israel zum Sprichwort.

Die türkisch-israelischen Flitterwochen begannen gleich, nachdem David Ben Gurion die „Strategie der Peripherie“ schuf – eine Allianz der nicht-arabischen Länder, die die arabischen Länder umgaben. Die Türkei sollte dabei eine bedeutende Rolle spielen, zusammen mit dem Iran des Shah, mit Äthiopien, Tschad und anderen.

Was lief falsch? Apologeten der Idiokraten behaupten, dass sich die Beziehungen zur Türkei sogar ohne die blaue Marmara verschlechtert hätten, da sie von der EU schon abgewiesen und gedemütigt worden sei und sie sich der arabischen Welt zuwende. Eine religiöse Partei hatte auch die Macht von den säkularen Erben des großen Atatürk übernommen und besonders die der Armee. Wäre es angesichts dieser Entwicklungen nicht klug gewesen, sogar noch sorgfältiger als vorher mit unsern Beziehungen zur Türkei umzugehen?

Stattdessen benahm sich unser stellvertretender Außenminister, ein Danny Ayalon, so ausgesprochen idiotisch, dass es in der Schule für Diplomaten als abschreckendes Beispiel gelehrt werden sollte. Er lud den türkischen Botschafter ein, um ihm einen Verweis zu verpassen, bot ihm einen Sitz an, der merklich tiefer als sein eigener war und prahlte mit der Demütigung.

Was sich tatsächlich ereignete, war, dass Ayalon das Treffen in seinem Arbeitszimmer in der Knesset hielt. In all diesen Räumen – einschließlich dem meinigen vor langer Zeit – stand ein normaler Stuhl und ein niedriges Sofa. Der türkische Diplomat fühlte sich ganz bequem und fühlte sich nicht beleidigt. Aber als Ayalon die Journalisten hereinbat, machte er sie auf die Demütigung aufmerksam. Sie veröffentlichten dies und veranlassten so, dass die türkische Öffentlichkeit vor Zorn explodierte.

Der Text der Entschuldigung war schon vor mehr als zwei Jahren formuliert. Die israelische Armee bat die Regierung, dies zu akzeptieren. Aber unser damaliger Außenminister Avigdor Lieberman legte sein beträchtliches Gewicht auf die Waage und setzte sein Veto ein. Wir sind eine stolze Nation mit einer stolzen Armee, die aus stolzen Soldaten besteht. Israelis entschuldigen sich nicht. Niemals.

DA NETANJAHU Lieberman fürchtet, muss er sich sehr umsichtig verhalten.

Lieberman ist jetzt ein Minister im Wartestand. Er kann sein Ministeramt nur wiedergewinnen, falls er – wenn überhaupt – von der Bestechung frei gesprochen wird, wegen der er angeklagt wurde. Aber er ist noch immer der Chef einer Partei, von der Netanjahu wegen parlamentarischer Unterstützung abhängig ist.

So ein kompliziertes Manöver muss natürlich gut vorbereitet sein. Die Entschuldigung war längst mit den Türken vereinbart worden. Präsident Obamas Besuch in Israel sollte die Gelegenheit sein, die auch dem Präsidenten die Aura eines erfolgreichen Vermittlers gab. Aber der Deal wurde erst während der allerletzten Minuten seines Besuches angekündigt.

Warum? Sehr einfach, um Netanjahu die Möglichkeit zu geben, zu behaupten, dass alles spontan geschah: während eines Telefongesprächs, das von Obama initiiert war. Daher hätte er sich unmöglich vorher mit seinem Kabinett und mit Lieberman beraten können.

Kindisch? Infantil? Tatsächlich.

NUR IN Israel? Ich bezweifle es. Ich fürchte, dass in den meisten Ländern, den großen wie auch kleinen, entscheidende Angelegenheiten des Staates so gemanagt werden. Und nicht nur heutzutage.

Es ist ein erschreckender Gedanke, und deshalb wird er von den meisten Leuten nicht akzeptiert. Sie wollen glauben, dass ihr Geschick in den Händen von verantwortlichen Führern mit hervorragender Intelligenz liegt. Genau wie sie sich weigern, zu glauben, dass der Himmel leer ist und kein allmächtiger Übervater mit unbegrenztem Mitleid dort wartet, um auf ihre Gebete zu antworten.

Das erste historische Beispiel äußerster Inkompetenz, das mir ins Gedächtnis kommt, ist der Ausbruch des 1. Weltkrieges. Eine Gruppe nationalistischer Serben tötete den österreichischen Thronfolger. Ein beklagenswerter Vorfall, aber sicher kein Grund für einen Krieg, in dem mehrere Millionen Menschen elendiglich umkamen.

Aber die Trottel, die den 84jährigen Kaiser in Wien umgaben, dachten, dies wäre eine Gelegenheit, einen leichten Sieg zu erringen und überbrachten den Serben ein Ultimatum. Der russische Zar, umgeben von Herzögen und Erzherzögen, wollte seinen slawischen Brüdern helfen und mobilisierte seine Armee. Sie wussten wahrscheinlich nicht, dass entsprechend einem lange zuvor vorbereitetem Militärplan, – in so einem Fall die deutsche Armee – Frankreich angreifen und zerschlagen sollte, bevor die schwerfällige russische Armee ihre Mobilisierung fertigstellen und die deutsche Grenze erreichen konnte. Der deutsche Kaiser, ein seelisch gestörter Jugendlicher, der nie erwachsen wurde, handelte entsprechend. Die Briten, die es nie liebten, von zu klugen Leuten beherrscht zu werden, eilten dem armen Frankreich zu Hilfe. Und so ging es weiter.

Konnten all diese Führer komplette Dummköpfe gewesen sein? Wurde Europa von einer alles beherrschenden Idiokratie regiert? Vielleicht. Aber vielleicht sind vernünftige, intelligente Leute unter ihnen. Ist es, dass diese Macht nicht nur korrumpiert, wie Lord Acton in seinem bekannten Ausspruch sagte, sondern auch verblödet.

Auf jeden Fall habe ich in meinem Leben so viele normale Menschen kennen gelernt, die, nachdem sie zur Macht gekommen waren, so viele dumme Dinge taten, dass letzteres der Fall sein muss.

ICH WÜNSCHTE, ich hätte die Willenskraft, nicht noch einmal den klassischen jüdischen Witz über den Türken zu erzählen, den ich unmittelbar nach dem Mavi Marmara-Vorfall zitierte, zu widerstehen.

Es geht um die jüdische Mutter im Russland des 19.Jahrhunderts, deren Sohn aufgerufen war, in der Armee des Zaren zu dienen. und zwar im Krieg gegen die ottomanische Türkei. „Überanstreng‘ dich nicht“; fleht sie ihn an, „töte einen Türken, und dann ruh dich aus. Töte noch einen, und ruh dich wieder aus, töte …“

„Aber was dann, wenn der Türke mich tötet?“ unterbricht der Junge.

„Dich töten?“ antwortet die Mutter erschreckend und überrascht. „Aber warum? Was hast du ihm getan?!“

Lasst uns einen Türken töten, und uns dann entschuldigen …..

(Aus dem Englischen, vom Verfasser autorisiert)

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Die Rede, die nicht gehalten wurde

Erstellt von Redaktion am 28. April 2013

Die Rede, die nicht gehalten wurde

Autor Uri Avnery

Vorbemerkung: Ich schrieb diesen Text am Mittwoch, einen Tag vor Obamas Rede in Jerusalem.  Wie sich herausstellte, kam ich näher an seine aktuelle Rede, als ich hoffte. Diese Passagen sind fast identisch. Einige Leser  wollen vielleicht die Texte vergleichen, um zu sehen, was er ausgelassen hat.

 LIEBE BÜRGER Israels,

Ich habe das Gefühl, ich muss direkt zu euch sprechen, und besonders zu den jungen jüdischen Leuten unter euch, um euren Verstand zu erreichen und eure Herzen zu berühren.

Um dies zu tun, verzichtete ich auf die große Ehre, in eurer Knesset zu sprechen, wie meine Vorgänger es getan haben. Die Knesset ist – wie alle Parlamente – aus Politikern zusammengesetzt, aber dieses Mal möchte ich direkt zu euch sprechen.

ICH KOMME als wahrer Freund. Ein wahrer Freund ist verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, wie er sie sieht. Ein wahrer Freund schmeichelt euch nicht. Er verdreht nicht die Wahrheit, um euch ein gutes Gefühl zu geben.

Ich weiß, wenn ausländische Präsidenten oder Präsidentinnen euer Land besuchen, fühlen sie sich verpflichtet, Euch zu sagen, wie wunderbar ihr seid, wie brillant eure Führer, wie großartig eure Leistungen. Ich denke nicht, dass ein wahrhafter Freund dies tun muss.

Wenn du betrunken bist, sagt ein wahrer Freund nicht, nimm das Auto. Ein wahrer Freund bittet um die Schlüssel für den Wagen.

Wenn du vor Macht und Erfolg trunken bist, wird ein wahrhafter Freund dich nicht anstacheln, unverantwortlich zu handeln. Ein wahrer Freund bittet  dich, dich zu beruhigen, nachzudenken, deine nächsten Schritte sorgfältig abzuwägen.

Das ist heute mein Ziel.

ICH KANN euch ehrlich sagen, dass ich den Staat Israel immer bewundert habe, der nur 13 Jahre vor mir geboren wurde.

Ihr habt einen lebendigen Staat aus dem Nichts geschaffen. Nur wenige Jahre nach dem schrecklichen Holocaust, einem der größten Verbrechen in den Annalen der Menschheit, hat sich dieses Volk aus der Asche erhoben und sich selbst eine mächtige Präsenz unter den Nationen geschaffen. Ihr habt eine blühende Demokratie geschaffen. Eure Wissenschaft, Landwirtschaft, High-Tech-Industrie und all die anderen Errungenschaften auf vielen Feldern haben den Neid vieler geweckt. Eure militärischen Fähigkeiten werden von allen anerkannt.

Keiner mit Augen im Kopf kann die großen Ähnlichkeiten der Geschichte unserer beiden Nationen leugnen. Als kleine Gruppe von Pionieren, von religiöser Verfolgung getrieben, haben wir uns zu mächtigen Nationen entwickelt. Wider Erwarten haben wir neue Zivilisationen aufgebaut. Jeder von uns hat eine „leuchtende Stadt auf dem Berge“ erbaut Wir haben beide Freiheit und Unabhängigkeit in der Mitte eines schrecklichen Krieges erreicht, der unsere bloße Existenz bedrohte. Wir beide mussten früher und noch vor kurzem viele andere Kriege kämpfen. Wir beide können auf unsere Vergangenheit mit Stolz und Genugtuung zurückschauen.

Aber wir beide wissen genau so, dass diese Geschichte auch dunkle Schatten einschließt. Wir sind mit dem Volk, das vor uns in unsern Ländern lebte, hart umgegangen. Wir müssen uns für vieles entschuldigen. Wir sollten das Böse nicht unterdrücken, während wir das Gute feiern.

OBWOHL VON Feinden bedroht – wie alle von uns – kann Israel nach vorne in eine glänzende Zukunft schauen. Doch dunkle Wolken bedrohen diese Aussicht. Einige davon – es tut mir leid, dies sagen zu müssen – sind Folgen eures eigenen Handelns.

Genau darüber möchte ich zu euch sprechen.

Während der letzten vier Jahre habe ich die Ereignisse in diesem Land mit wachsender Besorgnis verfolgt, in der Tat sogar mit großen Ängsten für eure Zukunft.

Keine Nation – ob sie groß oder klein ist – kann ohne Frieden gedeihen. Krieg ist der Fluch der Menschheit. Er vergröbert unsern Geist, konsumiert unsere Ressourcen, verbreitet Tod und Zerstörung. In unserer Zeit, in der immer mehr tödliche Massenvernichtungswaffen entwickelt werden, bedroht der Krieg unsere bloße Existenz.

Dennoch scheint es unter euch eine seltsame Aversion gegenüber dem Frieden zu geben. Friedenstifter werden als Feinde angeprangert. Selbst ich bin als „Zerstörer Israels“ bezeichnet worden, weil ich zu Beginn meiner ersten Amtszeit versuchte, zwischen euch und euren Nachbarn Frieden zu bringen.

Mir wird erzählt, dass in eurer letzten Wahlkampagne alle Parteien das Wort „Frieden“ gezielt vermieden haben. Das klingt für mich unglaublich. Ihr braucht Frieden, vielleicht mehr als jedes andere Volk auf Erden.

Mir wurde auch erzählt, dass die meisten Israelis, während sie sich nach Frieden sehnen, fest glauben, dass „Frieden unmöglich sei“. Frieden ist nie unmöglich, wenn bereitwillige Männer und Frauen ernsthaft um ihn kämpfen.

Die Geschichte ist voll unerbittlicher Feinde, die nach jahrhundertelangen Konflikten Frieden machten. Seht  euch den Frieden an, den mein Land mit Deutschland und Japan nach dem schrecklichen Krieg machte, der vor noch nicht langer Zeit tobte. Seht auf den Frieden zwischen Frankreich und Deutschland nach vielen Generationen Krieg. Und Israel selbst hat tatsächlich Frieden mit Deutschland gemacht und lebt mit ihm in Freundschaft – so bald schon nach der Shoa.

Angenommen, der Konflikt zwischen euch und dem palästinensischen Volk sei komplexer als andere – ich sage euch, der Frieden zwischen euch ist nicht nur notwendig – er ist auch möglich.

FRIEDEN BEGINNT damit, dass man den Feind als menschliches Wesen ansieht, dass man ihm in die Augen schaut.

Das sollte eigentlich für Juden leicht sein. Steht nicht in unsern Heiligen Schriften, unserm gemeinsamen Erbe, Gott habe alle Menschen nach seinem Bild geschaffen? Hat nicht euer großer spiritueller Lehrer Hillel euch gesagt, dass die Grundlage jedes moralischen Verhaltens das ist, dass man dem anderen nicht das antut, was einem selbst verhasst ist?

Mir wurde auch gesagt, in letzter Zeit sei eine wachsende Welle von Rassismus unter euch offensichtlich geworden, es  habe sogar  schon Lynchfälle gegeben, viele Jungen und Mädchen verkünden stolz, sie seien Rassisten.

Ich finde das unglaublich. Juden? Rassisten? Nach Jahrhunderten als Opfer langer rassistischer Verfolgung? Kaum ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust?

Ich bin eine dunkelhäutige Person. Zum Glück haben meine Vorfahren nie das schreckliche Übel der Sklaverei erlebt. Anders als Millionen Afrikaner wurde meines Vaters Familie nicht aus dem Dorf ihrer Vorfahren in Kenia gekidnappt. Aber das Üble der Sklaverei hat sich tief in meine Seele geprägt. Der entsetzliche Anblick des Lynchens ist noch vor meinen inneren Augen lebendig.

So auch die Freiheitsmärsche, bei denen entschlossene tapfere, schwarze Leute rassistischem Mob, Gewehren und scharfen Hunden trotzten. Wir werden auf immer den weißen jungen Männern und Frauen dankbar sein, die sich diesen Märschen anschlossen, viele von ihnen waren Juden. Ich kann einfach nicht verstehen, wie ein Jude in Israel ein Rassist sein und darauf auch noch stolz sein kann. Was  – ums Himmels willen – lernt ihr in euren Schulen?

ICH BIN nicht hierhergekommen, um  euch einen Frieden aufzuzwingen.

Frieden sollte nicht aufgezwungen werden. Er sollte aus dem Herzen kommen und  mit dem Verstand gebilligt werden.
Lasst mich ein paar Dinge mit euch teilen, die mir selbstverständlich scheinen:
Frieden muss sich hier auf das gründen, was man allgemein als „Zwei-Staaten-Lösung“ bezeichnet. Zwei Staaten für zwei Völker, für die Israelis und  für die Palästinenser.

Es ist nicht nur die beste Lösung – es ist die einzige Lösung.

Diejenigen, die andere Lösungen vorschlagen, täuschen sich selbst. Es gibt keine andere Lösung.

Es muss einen palästinensischen Staat geben, Seite an Seite mit Israel. Eure Väter und Mütter wären mit nichts weniger als einem eigenen Staat zufrieden, und die Palästinenser wollen nichts weniger als genau auch dies. Freiheit und Unabhängigkeit unter ihrer eigenen Flagge ist das Recht aller Menschen. Ihr solltet die ersten sein, die das verstehen.

Der Staat Palästina muss alle palästinensischen Gebiete, die 1967 besetzt wurden, einschließen. Veränderungen der Grenzen müssen zwischen den beiden Regierungen abgestimmt werden und die ausgetauschten Gebiete müssen gleich groß sein.

Jerusalem, diese wunderbare Stadt, in der wir uns jetzt treffen und die mich begeistert, muss zwischen beiden Völkern geteilt werden. Was arabisch ist, sollte die Hauptstadt Palästinas, was jüdisch ist, sollte die Hauptstadt Israels werden, die dann endlich von allen Staaten anerkannt wird.

Die Sicherheit Israels muss von der Welt abgesichert und garantiert werden, besonders von den USA. Aber ebenso die Sicherheit Palästinas.

Offensichtlich können die Millionen palästinensischer Flüchtlinge nicht nach Israel zurückkehren. Gerechtigkeit kann nicht mit Ungerechtigkeit gegenüber den gegenwärtigen Bewohnern wieder hergestellt werden. Aber wir müssen eine große internationale Anstrengung machen, um die Flüchtlinge großzügig zu entschädigen; und wenigstens einer symbolischen Anzahl sollte erlaubt werden, ihr Rückkehrrecht in Anspruch zu nehmen.

Diese Friedensbedingungen liegen seit langer Zeit auf dem Tisch. Die Zeit ist gekommen – ja längst überfällig – um sie in einen dauerhaften Friedensvertrag umzuwandeln. Die anderen arabischen Nationen, deren lobenswerter Friedensplan auch seit vielen Jahren auf dem Tisch liegt, sollten Partner bei dieser Anstrengung sein.

Meine Regierung wird die Unterzeichnung einer feierlichen Sicherheitsgarantie als ihre Pflicht für beide Seiten betrachten.

EIN WORT zu den Siedlungen.

Die US  haben immer betont, dass sie nach dem internationalen Gesetz illegal sind. Das ist auch jetzt und immer der Fall.

Diejenigen Israelis, die nach dem gegenseitig anerkannten Austausch  noch auf palästinensischem Gebiet bleiben wollen, müssen nach Israel repatriiert werden. So sanft wie möglich. Mit so viel Mitleid wie möglich. Mit so großzügiger Entschädigung wie möglich. Aber sie können nicht ohne Erlaubnis der Regierung Palästinas bleiben.

Viele von ihnen haben sich in den besetzten Gebieten extra deshalb dort angesiedelt, um den Frieden unmöglich zu machen. Es sollte ihnen nicht erlaubt werden, dieses Ziel zu erreichen.

ICH BIN heute – so bald nach der Vereidigung eurer neuen Minister – hergekommen, bevor sich eure neue Regierung an die Arbeit macht, weil ich eine große Dringlichkeit empfinde.

Die Zeit vergeht, die Siedlungen breiten sich aus, die Chancen für Frieden werden weniger. Deshalb müssen wir jetzt handeln.

Wenn ihr auf eurem jetzigen Kurs weitergeht, wird eine Katastrophe über Euch kommen. Ihr seid schon eine Minderheit im Land zwischen Mittelmeer und dem Jordan, und diese Minderheit wird noch kleiner. Sehr bald werdet ihr vor der Wahl stehen zwischen einem ruhmreichen Israel, das zu einem ekelhaften Apartheidstaat, einem Pariastaat unter den Nationen wird – oder einem Staat, der von einer arabischen Mehrheit regiert wird. Auf jeden Fall wird es das Ende des zionistischen Traumes sein.

Sagt mir nicht und sagt auch nicht zu euch selbst, dass ihr da nichts tun könnt.

Ihr seid die Menschen der Zukunft. Die Zukunft ist euer Leben. Es liegt an euch, euch ein Leben in Frieden zu sichern.

Ja, ihr könnt es!!!

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Den Siegern die Beute

Erstellt von Redaktion am 21. April 2013

Den Siegern die Beute

Autor Uri Avnery

IN DEN Tagen nach den israelischen Wahlen, ließ Yair Lapid, der große Sieger, wissen, dass er der nächste Außenminister sein möchte.

Kein Wunder. Es ist ein höllischer Job. Man kann nichts falsch machen, weil der Außenminister für nichts verantwortlich ist. Ernste ausländische Fiaskos liegen immer vor der Tür des Ministerpräsidenten, der jedenfalls die Außenpolitik bestimmt. Der Außenminister reist rund um die Welt, hält sich in Luxushotels mit einer Küche für Feinschmecker auf, hat seine Fototermine in Gesellschaft von Königen und Präsidenten, erscheint fast täglich im Fernsehen. Das reine Paradies.

Für jemanden, der öffentlich erklärte, dass er bald – vielleicht in anderthalb Jahren – Ministerpräsident werden will, ist dieser Posten sehr vorteilhaft. Die Leute sehen ihn unter den Großen der Welt. Man sieht „ministerpräsidentenhaft“ aus.

Außerdem ist keine Erfahrung nötig. Für Lapid, der vor weniger als einem Jahr in die Politik ging, ist dies ideal. Er hat alles, was ein Außenminister braucht: gutes Aussehen und fotogene Qualität. Schließlich machte er seine Karriere beim Fernsehen.

Warum wurde er nicht Außenminister? Warum ließ er sich das Finanz-ministerium aufhalsen – der bei weitem anstrengendste Job, der einen Politiker aufbauen oder kaputt machen kann?

Sehr einfach, weil an der Tür des Außenministeriums ein großes Schild hängt: Besetzt.

DER LETZTE Außenminister, Avigdor Lieberman war wahrscheinlich die am wenigsten passende Person des Landes für diesen Job. Er ist kein Apollo. Er hat ein brutales Aussehen, verschlagene Augen und einen geringen Wortschatz. Er ist nirgends in der Welt beliebt, außer in Russland und dessen Trabanten. Er ist von den meisten seiner internationalen Kollegen gemieden worden. Viele sehen ihn rundweg als einen Faschisten an.

Aber Netanyahu fürchtet sich vor Lieberman. Ohne Liebermans parlamentarische Sturmtruppe hat der Likud nur 20 Sitze – nur eine mehr als Lapid. Und innerhalb der vereinigten Partei könnte Lieberman in einer nicht allzu entfernten Zukunft Netanjahu ersetzen.

Lieberman ist gesetzlich gezwungen worden, das Außenministerium zu verlassen. Das Gesetz verbietet einer angeklagten Person, in der Regierung zu dienen. Seit vielen Jahren schwebt eine dunkle juristische Wolke über seinem Haupt. Ermittlungen, die folgten, erregten den Verdacht riesiger Bestechungen; schließlich entschied der Staatsanwalt, sich mit einer Anklage über Betrug und Vertrauensbruch zu begnügen: ein unbedeutender Diplomat, der Lieberman eine geheime Akte zukommen ließ, die die Ermittlungen über ihn betrafen, wurde mit einer Botschafterstelle belohnt.

Netanyahus Furcht vor Lieberman verleitete ihn, ihm zu versprechen, dass der Posten des Außenministers nicht vergeben werde, bis zum Endurteil über seinen Fall. Wenn er freigesprochen wird, wird seine gehobene Position auf ihn warten.

Dies mag eine einzigartige Vereinbarung sein. Nachdem Lapids Wunsch, ihm zu folgen, blockiert war, erklärte Lieberman in dieser Woche triumphierend: „Jeder weiß, dass das Außenministerium der Beitenu-Partei gehört“.

DAS IST eine interessante Behauptung. Es könnte sich lohnen, über ihre Auswirkungen nachzudenken.

Wie kann ein Regierungsamt einer Partei „gehören“?

In Feudalzeiten belohnte der König seine Edlen mit einem vererbbaren Lehnsgut. Jeder Edelmann war in seiner Domäne wie ein kleiner König, theoretisch schuldete er dem Herrscher Treue, aber in der Praxis war er fast unabhängig. Sind moderne Ministerien solche Lehnsgüter, die dem Parteichef „gehören“?

Dies ist eine Frage des Prinzips. Von Ministern erwartet man, dass sie dem Land und dessen Bürgern dienen. Theoretisch sollte der für dieses Amt geeignetste Mann/ die geeignetste Frau ernannt werden. Die Parteizugehörigkeit spielt natürlich eine Rolle. Der Ministerpräsident muss schließlich eine wirksam arbeitende Koalition aufbauen. Doch der wichtigste Gesichtspunkt selbst in einer Demokratie mit vielen Parteien sollte die Fähigkeit des Kandidaten für dieses besondere Amt sein.

Leider ist dies selten der Fall. Obgleich kein gewählter Ministerpräsident soweit gehen sollte wie Ehud Barak, der 1999 fast ein sadistisches Vergnügen zeigte, als er jeden seiner Kollegen in ein Ministerium setzte, für das er am wenigsten tauglich war. Shlomo Ben Ami, ein milder Professor der Geschichte, wurde ins Polizeiministerium – auch bekannt als Ministerium für Innere Sicherheit – gesetzt , wo er für einen Vorfall verantwortlich war, in dem mehrere arabische Bürger erschossen worden waren. Yossi Beilin, der von originellen politischen Ideen übersprudelte, wurde ins Justizministerium geschickt u.s.w.

Ich erinnere mich an eine Zusammenkunft mehrerer neuer Minister bei einem diplomatischen Empfang bald danach. Sie waren alle verbittert; ihre Kommentare waren nicht druckreif.

Aber das war nicht der Punkt. Der springende Punkt war, dass durch die Ernennung von Ministern, die ihren anvertrauten Aufgaben gar nicht gewachsen waren, Barak gegenüber den Interessen des Staates großen Schaden angerichtet hat. Man vertraut seinen Körper nicht einem Arzt an, der in Wirklichkeit ein Jurist ist, so wie man auch sein Geld nicht einem Banker anvertraut, der in Wirklichkeit ein Biologe ist.

DOCH DIE Idee der Verleihung politischer Ämter schwebte jetzt über dem ganzen Prozess der Kabinettsbildung. Die Zuerkennung von Ministerien ähnelt mehr einem Streit unter Dieben um die Beute als einem verantwortlichen Prozess, die Ministerien mit Männern und Frauen zu besetzen, die für die Sicherheit und das Wohlergehen der Nation verantwortlich sind.

Der Streit, der die Bildung der neuen Regierung mehrere entscheidende Tage lang behindert hat, ging um das Bildungsministerium. Lapid wünschte es für seine Nummer zwei, einen orthodoxen, (wenn auch moderaten) Rabbiner. Der Amtsinhaber Gideon Sa’ar klammerte sich mit all seiner Kraft an das Amt und organisierte Petitionen zu seinen Gunsten unter Lehrern, Bürgermeistern und anderen.

Dies hätte ein legitimer Kampf sein können, wenn es über Fragen der Bildung gegangen wäre. Zum Beispiel hat Sa’ar, ein fanatischer Likudmann, seine Schüler an religiöse und nationalistische Orte im Groß-Erez-Israel geschickt, um sie mit patriotischem Geist zu erfüllen. Er war auch mehr darauf konzentriert, dass seine Schüler in internationalen Tests ihre Fähigkeiten beweisen, als auf Bildung als solche.

Aber keiner sprach über diese Themen. Es war ein reiner Kampf um das Amt. In mittelalterlichen Zeiten könnte dies mit Lanzen in einem Turnier ausgefochten worden sein. In diesen zivilisierten Tagen benützen beide Seiten politische Erpressung. Am Ende siegte Lapid

ICH BIN kein großer Bewunderer von Zipi Livni und ihrem Auftreten wie das eines verzogenen Gör. Aber ich bin froh über ihre Ernennung zur Justizministerin.

Ihre beiden Vorgänger hatten die Absicht, den Obersten Gerichtshof zu zerstören und dem „juristischen Aktivismus“ ein Ende zu setzen (dies scheint heutzutage in vielen Ländern ein Problem zu sein. Regierungen wollen die Macht des Gerichtes aufheben, anti-demokratische Gesetze ungültig zu machen). Auf Zipi kann man sich verlassen, den Obersten Gerichtshof zu stärken, der von vielen als „die letzte Bastion der israelischen Demokratie“ angesehen wird.

Viel problematischer ist die Ernennung von Moshe Ya’alon als Verteidigungs-minister. Er bekam diesen Job, weil gerade niemand da war, der an seiner Stelle hätte ernannt werden können. Israelis nehmen ihre Verteidigung sehr ernst, und man kann da – sagen wir mal – keinen Gynäkologen in dieses Amt wählen.

„Bogy“ – wie ihn jeder nennt – ist ein früherer Stabschef der Armee und ein sehr mittelmäßiger. Als er seine üblichen drei Pflichtjahre als Stabschef beendet hatte, weigerte sich Ministerpräsident Ariel Sharon, ihm das sonst fast automatisch gewährte vierte Jahr zu geben. Bogy war verbittert und klagte, dass er immer hohe Stiefel hätte tragen müssen, weil es im Verteidigungsministerium und im Generalstab so viele Schlangen gibt. Er wird sie jetzt wieder benötigen.

Seine vielen Kritiker nennen ihn „Bock“ – deutsch und jiddisch für Ziegenbock – und meinen damit einen Mangel an Intelligenz. Er ist ein Militarist, der alle Probleme durch das Fadenkreuz eines Gewehrs sieht. Er kann sich der Treue von Israels großer Armee von Ex-Generälen (oder „De-Generälen“, wie ich sie zu nennen pflege) sicher sein.

DIE PROBLEMATISCHSTE Ernennung von allen ist die Wahl von Uri Ariel für den entscheidenden Posten des Wohnungsbauministers.

Uri Ariel ist der Erz-Siedler. Er war der Gründer einer Siedlung, ein Führer der Siedlerorganisation, ein Verantwortlicher im Verteidigungsministerium, das offiziell für die Siedlungen verantwortlich ist. Er war auch Direktor des Jüdischen Nationalfonds (JNF), ein bedeutendes Instrument des Siedlungsunternehmens. Er kam in die Knesset, als Rehavam Seewi, der Führer der sehr extremen Rechten von einem palästinensischen Schlägertrupp ermordet worden war.

Dieses Ministerium an so eine Person zu übergeben, bedeutet, dass der größte Teil seiner Ressourcen in eine hektische Erweiterung der Siedlungen geht, von denen jede ein Nagel für den Sarg des Friedens ist. Doch Lapid unterstützte diese Ernennung mit all seiner neu gefundenen politischen Schlagkraft als Teil seiner „brüderlichen“ Bande mit Naftali Bennett, der jetzt der Pate der Siedler-bewegung ist. Bennett erhielt auch das für die Siedlungen äußerst wichtige Finanzkomitee der Knesset.

Praktisch bedeutet das, dass die Siedlungen den Staat erobert haben; Lapids großer Sieg mag sich als Katastrophe für Israel entpuppen.

Der brüderliche Packt zwischen Lapid und Bennett machte es ihnen möglich, den armen Netanyahu zu erpressen, um (fast) alles zu bekommen, was sie verlangten – außer dem Außenministerium.

Wie würde sich Lapid als Finanzminister anstellen? Schwer zu sagen. Da er in allen wirtschaftlichen Fragen völlig unwissend ist und keinerlei Erfahrung hat, wird er vom Ministerpräsidenten über sich und der ministeriellen Bürokratie unter sich abhängig sein. Finanzbeamte sind ein knallharter Haufen mit einer durch und durch neo-liberalen Einstellung. Lapid selbst hängt diesem Glauben an, der von vielen Israelis „schweinischer Kapitalismus“ genannt wird – ein von Shimon Peres erfundener Terminus.

EINES VON Lapids Hauptwahlversprechen war, der „alten Politik“ ein Ende zu machen, die für all das Böse und Hässliche in unserm politischen Leben bis jetzt verantwortlich gemacht wird. Nicht umsonst , sagt er, wird es eine neue Politik geben, eine Ära voll glänzender Ehrenhaftigkeit und Transparenz, verkörpert durch selbstlose und patriotische Führer, so wie die Mitglieder seiner neuen Partei.

Nicht umsonst nannte er diese seine Partei: „Es gibt eine Zukunft“.

Nun, die Zukunft ist angekommen, und sie sieht verdächtig wie die Vergangenheit aus. Tatsächlich gleicht die ‚neue Politik‘ sehr der ‚alten Politik‘.

Sehr, sehr alt. Sogar die alten Römer sollen gesagt haben: „Dem Sieger die Beute!“ Doch Yair kennt kein Latein.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Hungerstreikende Häftlinge

Erstellt von Redaktion am 17. April 2013

Bericht über Haftbedingungen in israelischen Gefängnissen

File:Free Gaza.gif

Der Hungerstreik des palästinensischen Häftlings Samer Issawi dauert weiter an. Nachrichten über den Tod mehrerer palästinensischer Häftlinge erreichen die Öffentlichkeit. Angesichts dieser Ereignisse veröffentlichen die Ärzte für Menschenrechte – Israel einen neuen, von medico mitfinanzierten Bericht über die Situation palästinensischer Häftlinge in israelischen Gefängnissen, insbesondere der hungerstreikenden Gefangenen. Der Bericht enthüllt, wie der israelische Gefängnisdienst und die Gefängnisärzteschaft gravierend gegen die Medizinethik und die Menschenrechte der Gefangenen verstoßen. Gesundheit und Leben der hungerstreikenden Häftlinge sind in Gefahr.

Protest gegen willkürliche Inhaftierungen

Der Kampf der palästinensischen Häftlinge sorgt für Schlagzeilen, seit im letzten Jahr fünf Häftlinge in den Hungerstreik traten, um gegen die sogenannte Administrativhaft zu protestieren. Dieses altbewährte Mittel aus der britischen kolonialen Werkzeugkiste nutzen die israelischen Behörden, um unliebsamen organisierten Widerstand zu unterbinden: Unter dem Vorwand, es lägen für die Verhaftung sicherheitsrelevante Gründe vor, werden Universitätsdozenten, Studenten, Journalisten, Intellektuelle, Gewerkschafter und Mitarbeiter von bäuerlichen Organisationen oder auch Aktivisten festgesetzt. Mitunter jahrelang – ohne Prozess und ohne Gerichtsurteil, ja ohne dass die Häftlinge (oder ihre Anwälte) überhaupt wissen, wessen sie beschuldigt werden.

Im Verlauf der Auseinandersetzungen schlossen sich 1.600 Häftlinge den fünf Streikenden als Zeichen der Solidarität und als Protest gegen die Haftbedingungen in einem Massenhungerstreik an. Erst die Hungerstreiks machten die israelische und die internationale Öffentlichkeit auf die willkürliche Politik der israelischen Behörden gegenüber palästinensischen Häftlingen aufmerksam. In Israel versuchten Medien und Politik die Hungerstreiks der palästinensischen Gefangenen als bloße Taktik von Terroristen herunterzuspielen. Die Ärzte für Menschenrechte betonen dagegen das politische und emanzipatorische Potential von Hungerstreiks. Sie verweisen auf die historischen Beispiele in Indien, wo Mahatma Gandhi für indische Einheit und Unabhängigkeit hungerte, und in Irland, wo der Tod von zehn Hungerstreikenden IRA-Mitgliedern das Bewusstsein über die britische Unterdrückung weltweit schärfte.

Das Recht auf Gesundheit – verweigert

Schon zu Beginn der Hungerstreiks betreuten die Ärzte für Menschenrechte – Israel viele der Häftlinge. Freiwillige Ärzte besuchten die Hungerstreikenden und überwachten ihren Gesundheitszustand. Sie ließen sich nicht durch das oft beleidigende oder geradezu feindsinnige Verhalten des Gefängnis-Gesundheitspersonals einschüchtern. Da der Israelische Gefängnisdienst sich weigerte, unabhängige Ärzte zu den Hungerstreikenden zuzulassen, mussten sie sich vor Gericht Zugang zu ihren Patienten verschaffen. Die israelischen Gerichte ihrerseits machten sich zu Komplizen der Gefängnisdienste. Sie weigerten sich, den Besuch unabhängiger Ärzte grundsätzlich zu erlauben, sodass jeder Besuch neu vor Gericht verhandelt werden musste.

Die Gefängnisbehörde und die ihr unterstehenden Ärzte haben jedoch nicht nur alles unternommen, um unabhängige Ärzte daran zu hindern, die Gesundheitssituation der Streikenden zu untersuchen. Sie weigerten sich auch, den unabhängigen Ärzten die Patientenakte der Streikenden auszuhändigen, obwohl dies im Israelischen Patientenrechtgesetz vorgesehen ist. Auch die Gefängnisärzte versuchten zu verhindern, dass unabhängige Ärzte hinzugezogen würden und bewiesen damit, dass sie sich mehr um Konformität mit den Vorgaben des Israelischen Gefängnisdienstes als um die Einhaltung ihres hippokratischen Eids sorgen. Sie beteiligten sich an Zwangsernährungen und weigerten sich, Patienten an zivile Krankenhäuser zu überweisen, obwohl der Zustand der Patienten dies dringend erforderlich machte. Wenn Hungerstreikende doch an zivile Krankenhäuser überwiesen wurden, erlaubten sie es, diese an ihre Betten zu fesseln. Sie behandelten Patienten gegen ihren Willen und mitunter gewaltsam. Auch dokumentierten sie Fälle von körperlichen und seelischen Misshandlungen nicht, über die Patienten wiederholt geklagt hatten.

Sicherheit vor Patientenwohl

Damit machte sich die Gefängnisärzteschaft schwerer Verstöße gegen die Medizinethik schuldig, so die Ärzte für Menschenrechte. Grund hierfür sei die Tatsache, dass die Ärzteschaft in den Gefängnissen sich nicht in erster Linie den Patienten, in diesem Fall den Hungerstreikenden, verpflichtet fühle. Sie sehen sich vielmehr auch oder vor allem in der Pflicht, den Interessen des israelischen Gefängnisdienstes nachzukommen, der vor allem nach Sicherheitserwägungen handelt.

Auf der Basis des Berichts fordern die Ärzte für Menschenrechte – Israel konkrete institutionelle Veränderungen. Diese sollen sicherstellen, dass das für palästinensische Häftlinge zuständige Gesundheitspersonal medizinethische Standards einhält und nur noch der Gesundheit seiner Patienten verpflichtet ist. Den Ärzten für Menschenrechte ist aber gleichzeitig klar, dass das Verhalten des Gesundheitspersonals tief in der politischen Kultur und der allgemeinen israelischen Einstellung zu palästinensischen Häftlingen wurzelt. Um dem Problem wirklich wirksam begegnen zu können, müsste Israel aufhören, mithilfe von Administrativhaft und der Unterdrückung von Häftlingen politischen Druck auszuüben.

Spendenstichwort:

medico unterstützt seit vielen Jahren die Arbeit der Ärzte für Menschenrechte – Israel. Dazu gehören Besuche bei hungerstreikenden Häftlingen, juristische Auseinandersetzungen und Fallstudien, die wöchentlichen Fahrten der mobilen Klinik in die Westbank oder die laufenden Kosten der Offenen Klinik für Migranten. Weil alle BewohnerInnen in Israel/Palästina ein Recht auf Gesundheit haben – ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft oder ihres Aufenthaltstatus. Spenden Sie bitte unter dem Stichwort Israel/Palästina.

Quelle: medico

Tsafrir Cohen

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„Ich bin ein Bi’liner“!

Erstellt von Redaktion am 14. April 2013

„Ich bin ein Bi’liner“!

Autor Uri Avnery

DIES GESCHIEHT nicht alle Tage: ein Kulturminister freut sich öffentlich, weil ein Film seines Landes NICHT mit dem Oscar ausgezeichnet wird. Und nicht nur ein Film, sondern zwei.

Es geschah in dieser Woche. Limor Livnat, noch Kulturministerin der letzten Regierung, sagte zum israelischen Fernsehen, sie sei glücklich darüber, dass Israels zwei Einsteiger für Oskars in der Kategorie Dokumentarfilme es nicht bis zum Ende schafften.

Livnat, eines der extremsten Likud-Mitglieder, hat wenige Chancen, in die geringer werdende Anzahl von Likudministern der nächsten Regierung zu gelangen. Vielleicht war ihr Ausbruch –die Filme betreffend – dafür gedacht, ihre Aussichten zu verbessern.

Sie griff nicht nur die beiden Filme an, sondern empfahl den halb-offiziellen Stiftungen, die israelische Filme finanzieren, freiwillig Selbst-Zensur auszuüben, und solchen unpatriotischen Filmen die Unterstützung zu verweigern. Das würde sicher stellen, dass sie erst gar nicht produziert würden.

Die beiden Dokumentarfilme sind in ihrer Art sehr unterschiedlich.

Der eine „Töte zuerst!“ ist eine Sammlung von Zeugnissen von sechs auf einander folgenden Chefs des Allgemeinen Sicherheitsdienstes, Israels interner Nachrichtendienst, verschiedentlich bekannter unter seinen Initialen Shin Bet oder Shabak. In den US werden seine Funktionen vom FBI durchgeführt. (Der Mossad ist das Äquivalent zum CIA.)

Alle sechs Chefs üben scharfe Kritik an den israelischen Ministerpräsidenten und Kabinettsminister der letzten Jahrzehnte. Sie klagen sie der Inkompetenz, der Dummheit und Schlimmeren an.

Der andere Film „Fünf zerbrochene Kameras“ erzählt die Geschichte der wöchentlichen Protestdemonstrationen gegen den Trennungszaun im Dorf Bil‘in, wie sie durch die Kamera von einem der Dorfbewohner gesehen wird.

Man mag sich wundern, wie zwei solcher Filme es fertig brachten, an die Spitze der akademischen Preise ja, bis zum ersten Preis zu kommen. Meine eigene (vollkommen unbewiesene) Vermutung ist, dass die jüdischen Akademiemitglieder für ihre Auswahl stimmten, ohne sie tatsächlich gesehen zu haben, indem sie vermuteten, dass ein israelischer Film auf jeden Fall koscher ist. Aber als die Pro-Israel-Lobby einen Krawall begann, sahen sich die Mitglieder die Filme an, schauderten und gaben den Spitzenpreis an den Film „Suche nach dem Zuckermann“.

ICH HATTE noch keine Gelegenheit, den Film „Töte zuerst!“ anzusehen. Ich werde deshalb nicht über ihn schreiben.

Aber ich habe die „5 zerbrochenen Kameras“ mehrfach gesehen – zum einen im Film und die anderen Male vor Ort.

Limor Livnat behandelt ihn als „israelischen“ Film. Aber diese Kennzeichnung ist ziemlich problematisch.

Zunächst werden Dokumentarfilme nicht wie bei anderen Kategorien nach ihrer Nationalität aufgelistet. Also war er nicht offiziell „israelisch“.

Zweitens: einer seiner beiden Ko-Produzenten protestierte vehement gegen diese Bezeichnung. Für ihn ist es ein palästinensischer Film.

Sachlich gesehen, ist jede nationale Bezeichnung problematisch. Alles Material wurde von einem Palästinenser, Emad Burnat, gefilmt. Aber der Ko-Editor Guy Davidi, der das gefilmte Material in die Endfassung brachte, ist ein Israeli. Die Finanzierung kam von israelischen Stiftungen. Also wäre es fair, wenn man sagen würde, es sei eine palästinensisch-israelische Koproduktion.

Dies stimmt auch für die „Schauspieler“: die Demonstranten sind Palästinenser und Israelis. Die Soldaten sind natürlich Israelis. Einige Mitglieder der Grenzpolizei sind Drusen. (Araber, die einer islamischen Randgruppe angehören).

Als der letzte von Emad Burnats Söhnen geboren wurde, entschied er sich, einen einfachen Fotoapparat zu kaufen, um die Wachstumsstadien des Jungen fest zu halten. Er träumte nicht davon, Geschichte zu dokumentieren. Aber er nahm seinen Fotoapparat mit sich, wenn er sich der wöchentlichen Demonstration seines Dorfes anschloss. Und von da an in jeder Woche.

BIL’IN IST ein kleines Dorf westlich von Ramallah, nahe der Grünen Linie. Nur wenige Leute hatten jemals vor dem Kampf davon gehört.

Ich hörte zum ersten Mal vor etwa acht Jahren davon, als Gush Shalom, die Friedensorganisation, zu der ich gehöre, gebeten wurde, an einer Demo gegen die Enteignung eines Teils seines Landes teilzunehmen. Auf diesem Land sollte eine neue Siedlung, Kiryat Sefer („Stadt des Buches“), gebaut werden.

Als wir dort ankamen, standen erst wenige neue Häuser dort. Auf dem größten Teil des Landes wuchsen Olivenbäume. Bei den folgenden Protestdemos sahen wir, wie die Siedlung zu einer großen Stadt heranwuchs, vollkommen belegt von ultra-orthodoxen Juden, Haredim genannt, „diejenigen, die (Gott)fürchten“. Ich ging mehrfach durch diese Siedlung, als es keinen andern Weg gab, um Bil‘in zu erreichen, und ich sah dort keine einzige Person, die nicht die schwarze Kleidung und den schwarzen Hut dieser Gemeinschaft trug.

Die Haredim sind an sich keine Siedler. Sie gehen nicht aus ideologischen Gründen dort hin, sondern nur, weil sie für ihre große Familie mit vielen Kindern mehr Platz benötigen. Also siedelt die Regierung sie dort an.

Was die erste Demonstration für mich so erinnerungswürdig machte, war, dass die Dorfältesten in ihrem Resümee die Bedeutung der Gewaltlosigkeit betonten. In jener Zeit wurde von Seiten der Palästinenser noch nicht viel über Gewaltlosigkeit gesprochen.

Gewaltlosigkeit war und blieb eine der außerordentlichen Qualitäten des Bil‘iner Kampfes. Von der ersten Demonstration an von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr ist Gewaltlosigkeit das Markenzeichen der Proteste geworden.

Ein anderes Markenzeichen war die unglaubliche Erfindungsgabe. Die Älteren haben diese Aufgabe längst der jüngeren Generation übergeben. Seit Jahren bemühen sich die jungen Dorfbewohner darum, jeder einzelnen Demo einen besonderen symbolischen Inhalt zu geben. Bei einer Gelegenheit wurden Demonstranten in Käfigen mit Eisenstangen getragen. Ein andermal trugen wir alle Mahatma-Gandhi-Masken. Einmal brachten wir einen berühmten holländischen Pianisten mit, der auf einem LKW mitten im Gedränge Schubert spielte. Bei noch einem Protest ketteten die Demonstranten sich selbst an den Zaun. Und bei einer weiteren Demonstration fand ein Fußballmatch mit Blick auf die Siedlung statt. Einmal im Jahr werden Gäste aus aller Welt zu einem Symposium über den palästinensischen Kampf eingeladen.

DER KAMPF ist hauptsächlich gegen den Trennungszaun gerichtet, der dafür gedacht ist, Israel von den besetzten palästinensischen Gebieten zu trennen. In bebauten Gebieten ist es eine Mauer, in offenen Räumen ein Zaun, der auf beiden Seiten von einem breiten Streifen Land für Patrouillenwege und Stacheldraht geschützt wird. Der offizielle Zweck ist es, Terroristen daran zu hindern, nach Israel zu gelangen und dort sich in die Luft zu jagen.

Wenn dies der wirkliche Grund wäre und die Mauer auf der Grenze –also der Grünen Linie – gebaut wäre, könnte keiner etwas dagegen sagen. Jeder Staat hat das Recht, sich selbst zu schützen. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. In vielen Teilen des Landes schneidet die Mauer/ der Zaun tief in palästinensisches Gebiet, angeblich, um die Siedlungen zu schützen, in Wirklichkeit aber um Land zu annektieren. Dies ist auch in Bil‘in der Fall.

Der Originalzaun schneidet das Dorf vom größten Teil seines Landes ab, das zur Vergrößerung der Siedlung bestimmt ist, die jetzt Modiin Illit (Ober-Modiin) genannt wird. Das wirkliche Modiin ist ein angrenzendes Stadtgebiet innerhalb der Grünen Linie.

Im Lauf des Kampfes wandten sich die Dorfbewohner auch an das israelische Oberste Gericht, das schließlich einen Teil ihrer Klage akzeptierte. Die Regierung bekam eine Order, den Zaun etwas näher zur Grünen Linie zu verlegen. Dies ließ noch immer viel Land für die Siedlung.

Praktisch annektiert die Mauer/ der Zaun fast 10% der Westbank an Israel. (Im Ganzen besteht die Westbank aus nur 22% des Landes Palästina, wie es vor 1948 war.)

NACHDEM EMAD Burnat mit dem Fotografieren angefangen hatte, konnte er nicht mehr damit aufhören; Woche um Woche „schoss“ er Fotos der Proteste, während die Soldaten auf die Demonstranten schossen (ohne Anführungszeichen).

Tränengas, mit Gummi-ummantelte Stahlkugeln werden jede Woche vom Militär benützt und manchmal sogar scharfe Munition. Doch bei allen Demonstrationen, bei denen ich Zeuge war, gab es keinen einzigen Gewaltakt von Seiten der Demonstranten selbst – von den Palästinensern, den Israelis oder den internationalen Aktivisten. Die Demonstration startet gewöhnlich in der Mitte des Dorfes, nahe der Moschee. Wenn das Freitagsgebet endet, (Freitag ist der muslimische Feiertag), schließen sich einige der Frommen den Jugendlichen an, die draußen warten, und der Marsch zum Zaun, der ein paar Kilometer entfernt liegt, beginnt.

Am Zaun geschieht der Zusammenstoß. Die Demonstranten drängeln nach vorne und schreien, die Soldaten werfen Tränengas, Lärmgranaten und Gummikugeln. Die Gaskanister treffen auch Leute. Rachel, meine Frau z.B., hatte Monate lang einen großen blauen Fleck an ihrem Oberschenkel, wo ein Kanister sie getroffen hatte. (Rachel hatte schon lange eine schwere Lebererkrankung und wurde von ihrem Arzt streng gewarnt, nicht in die Nähe von Tränengas zu kommen. Aber sie konnte nicht widerstehen, Fotos aus der Nähe aufzunehmen. Sie starb vor zwei Jahren)

Wenn es erst mal zum Handgemenge kam, begannen gewöhnlich Jungs und Jugendliche vom Rand her mit dem Steine-werfen gegen die Soldaten. Es ist eine Art Ritual, ein Test für Mut und Männlichkeit. Für die Soldaten ist es ein Vorwand, die Gewalt zu verstärken, Menschen zu treffen und sie mit Gas zu vertreiben.

Emad zeigt dies alles. Der Film zeigt, wie sein Sohn zwischen den Demonstrationen vom Baby zum Schuljungen heranwächst. Er zeigt auch Emads Frau, die ihn bittet, aufzuhören. Emad wurde verhaftet und ernsthaft verletzt. Einer seiner Verwandten wurde getötet. Alle Organisatoren des Dorfes wurden immer wieder verhaftet – auch ihre israelischen Kameraden. Ich gab bei mehreren Verhandlungen vor dem Militärgericht, das in einem großen Militär-Gefangenenlager war, Zeugnis ab.

Die israelischen Demonstranten sieht man kaum im Film. Aber von Anfang an spielten Israelis eine bedeutende Rolle bei den Protesten. Die israelischen Hauptteilnehmer sind die „Anarchisten gegen die Mauer“, eine sehr mutige und kreative Gruppe (Der Gush Shalom-Aktivist Adam Keller wird bei einer Nahaufnahme gezeigt, wie er versuchte, eine in Deutschland gelernte Methode von passivem Widerstand anzuwenden.)

Wenn der Film den israelischen und internationalen Demonstranten nicht ganz gerecht wird, so ist es nur verständlich. Der Zweck war es, den palästinensischen gewaltfreien Widerstand zu zeigen.

Im Lauf des Kampfes wurden Emads Fotoapparate einer nach dem anderen zerbrochen. Er benützt jetzt den Fotoapparat Nr. 6.

DIES IST eine Geschichte von Heldentum, der heldenhafte Kampf eines einfachen Dorfes um seine Ländereien und seine Heimat. Lange nachdem Limor Livnat vergessen ist, wird man sich an die Schlacht von Bil’in erinnern.

Präsident Barak Obama wäre gut beraten, sich diesen Film anzusehen, bevor er nächstens Israel und Palästina besucht.

Vor einigen Jahren wurde ich gebeten, in Berlin die Laudatio bei einer Feier zu halten, bei der dieses Dorf Bil‘in und die „Anarchisten gegen die Mauer“ für ihren Mut ausgezeichnet wurden.

Indem ich Präsident John Kennedys berühmte Rede in Berlin ein wenig veränderte, sagte ich, jeder anständige Mensch auf der Welt sollte stolz erklären: „Ich bin ein Bil‘iner!“

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Frieden + Wassermelonen

Erstellt von Redaktion am 31. März 2013

Frieden + Wassermelonen

Autor Uri Avnery

EINE DER interessantesten und längsten privaten Debatten meines Lebens führte ich mit dem großartigen Dr. Nahum Goldmann. Das Thema: Amerikanische Friedensinitiativen.

Es war natürlich eine ungleiche Debatte. Goldmann war 28 Jahre älter als ich. Während ich nur Herausgeber eines israelischen Nachrichtenmagazins war, war er eine international bekannte Persönlichkeit, Präsident der zionistischen Weltorganisation und des Jüdischen Weltkongresses.

Als ich Mitte der 50er-Jahre nach einer Persönlichkeit Ausschau hielt, die vielleicht David Ben Gurion im Amt des Ministerpräsidenten ablösen könnte, dachte ich an Goldmann. Er hatte das notwendige Format und war bei moderaten Zionisten beliebt. Was nicht weniger bedeutsam war: er hatte eine klare Meinung. Vom ersten Tag des Staates Israel an hatte er vorgeschlagen, dass Israel eine „nahöstliche Schweiz“ werden möge, neutral zwischen den USA und der Sowjetunion. Für ihn war Frieden mit den Arabern für die Zukunft Israels absolut notwendig.

Ich besuchte ihn in einer luxuriösen Suite in Jerusalems Nobelherberge, dem King David-Hotel. Er trug einen seidenen Morgenrock, und als ich ihm meinen Vorschlag unterbreitete, antwortete er: „Schau, Uri, ich liebe ein gutes Leben. Luxus-Hotels, gutes Essen und schöne Frauen. Wenn ich Ben Gurion herausfordern würde, würde all dieses verschwinden. Seine Leute würden mich diffamieren, wie sie es mit Dir tun. Warum sollte ich all dies riskieren?“

Wir begannen auch eine Diskussion, die erst mit seinem Tod – etwa 27 Jahre später – endete. Er war davon überzeugt, die USA wünsche zwischen uns und den Arabern Frieden und eine große amerikanische Friedensbemühung sei schon in Sichtweite. Dies war keine abstrakte Hoffnung. Er versicherte mir, dass er sich gerade mit den höchsten Politikern getroffen habe und dass er es von den höchsten Autoritäten wüsste. Das waren Informationen aus erster amerikanischer Hand.

Goldmann war einer, der sich regelmäßig mit bedeutenden amerikanischen, sowjetischen und anderen politischen Persönlichkeiten traf und nie versäumte, dies in seinen Gesprächen zu erwähnen. Da ihm von den amtierenden US-Präsidenten, Ministern und Botschaftern zugesichert worden sei, dass die US gerade dabei seien, den Israelis und den Arabern Frieden aufzuzwingen, sagte er mir, ich solle nur warten. „Du wirst sehen“.

DIESER GLAUBE an einen aufgezwungenen amerikanischen Frieden hat die israelische Friedensbewegung jahrzehntelang nicht losgelassen. In Erwartung des bevorstehenden Besuches von Präsident Obama in Israel im nächsten Monat hebt er noch einmal sein müdes Haupt.

Jetzt endlich wird es geschehen. Zu Beginn seiner zweiten Amtszeit wird Barak Obama sein Zögern, seine Ängste und Inkompetenz, die seine erste Amtszeit kennzeichneten, abschütteln. AIPAC wird nicht in der Lage sein, ihn weiter zu terrorisieren. Ein neuer, starker und entschlossener Obama wird auftauchen und alle Köpfe an einander schlagen. Die führenden Kräfte werden mit Gewalt zum Frieden gezwungen.

Dies ist eine sehr bequeme Überzeugung. Dies befreit uns von der Pflicht, etwas Unpopuläres zu tun und selbst etwas zu wagen. Es ist also sehr tröstlich. Die israelische Linke ist schwach und ohne Leben? Doch haben wir einen Verbündeten, der den Job tun wird. Wie das kleine Kind, das den Rabauken mit seinem großen, mächtigen Bruder droht.

Diese Hoffnung ist immer wieder und wieder zerborsten. US-Präsidenten kamen und gingen, jeder mit seinem Gefolge jüdischer Berater, Mitarbeiter im Weißen Haus und Außenministerium und Botschafter. Und nichts geschah.

Natürlich hat es amerikanische Friedensinitiativen in Hülle und Fülle gegeben. Von Nixons „Rogers Plan“ über Carters Camp-David-Abkommen betreff einer palästinensischen Selbstregierung, bis zu Clintons Parameters und Bushs Roadmap gab es eine Menge davon, jede überzeugender als die vorausgegangene. Und dann kam Obama, der neue Mann, energisch und entschlossen und verhängte über Benjamin Netanjahu für mehrere Monate einen Baustopp des Siedlungsbaus, und … nichts geschah.

Keine Friedensinitiative und keine Wassermelonen, wie wir auf Hebräisch sagen (Eine aus dem Arabischen ausgeliehene Redensart). Wassermelonen haben eine sehr kurze Saison.

LANGSAM ABER sicher begann sogar Goldmann an der Illusion der amerikanischen Intervention zu zweifeln.

Bei unsern Konversationen versuchten wir, den Code dieses Rätsels zu brechen. Warum – um Gottes willen – taten die Amerikaner nicht, was die Logik diktierte? Warum übten sie keinen Druck auf unsere Regierung aus? Warum machten sie kein Angebot, das unsere Führer nicht ablehnen konnten? Kurzum , warum keine effektive Friedensinitiative?

Es konnte doch nicht im amerikanischen Interesse sein, einer Politik zu folgen, die sie zum Hassobjekt der Massen der ganzen arabischen und einem großen Teil der muslimischen Welt machte? Verstanden die Amerikaner nicht, dass sie dabei waren, ihre Kunden in der arabischen Welt zu hintergehen – wie diese Regierenden nicht müde wurden, sie bei jedem Treffen zu mahnen?

Ein offensichtlicher Grund war die wachsende Macht der Pro-Israel-Lobby seit den frühen 50ern. AIPAC allein hat nun mehr als 200 Angestellte in sieben Büros in den USA. Fast jeder in Washington DC lebt in tödlicher Furcht vor ihr. Die Lobby kann jeden Senator oder Kongressmann aus seinem Amt werfen, der ihren Zorn erregt. Man sehe sich nur an, was gerade jetzt Chuck Hagel geschieht, der das Undenkbare zu sagen wagte: „Ich bin ein amerikanischer Senator und kein israelischer Senator!“

Die beiden Professoren Mearsheimer und Walt wagten es zu sagen: die pro Israel-Lobby kontrolliert die amerikanische Politik.

Aber diese Theorie ist nicht ganz zufriedenstellend. Was ist mit der Spionage-Affäre rund um Jonatan Pollard, der lebenslang in den USA im Gefängnis bleibt trotz immensen israelischen Druckes, ihn zu entlassen?

Kann eine Weltmacht wirklich von einem kleinen ausländischen Land und einer mächtigen internen Lobby veranlasst werden, jahrzehntelang gegen die eigenen nationalen Grundinteressen zu handeln?

EIN ANDERES Motiv, das oft erwähnt wird, ist die Macht der Rüstungsindustrie.

Als ich jung war, wurde niemand mehr verachtet als die Händler des Todes. Diese Zeiten sind längst vorbei. Die Länder, einschließlich Israels sind stolz auf den Verkauf von Waffen an die verabscheuungswürdigsten Regime.

Die US liefern uns riesige Mengen der raffiniertesten Waffen. Zwar werden uns viele von ihnen als Geschenk gegeben – doch ändert dies das Bild nicht. Die Rüstungsindustrie wird von der US-Regierung bezahlt, als eine Art öffentlichen Arbeitsprojektes, das sogar begeistert (und besonders) von den Republikanern unterstützt wird. Seitdem die Waffen nach Israel geliefert werden, sehen sich einige arabische Länder gezwungen, große Mengen für sich selbst zu bestellen und sich dabei dumm und dämlich zu zahlen. Sieh Saudi Arabien!

Diese Theorie, die einmal sehr populär war, befriedigt auch nicht wirklich. Keine Industrie ist mächtig genug, eine Nation dazu zu zwingen, ein halbes Jahrhundert lang gegen ihre eigenen Interessen zu handeln.

Dann ist da noch die „ beiden gemeinsame Geschichte“. Die USA und Israel sind sich sehr ähnlich, nicht wahr? Sie haben beide ein anderes Volk vertrieben und leugnen dies. Gibt es einen großen Unterschied zwischen der Nakba der amerikanischen Urbevölkerung und der palästinensischen? Zwischen den amerikanischen und zionistischen Pionieren, die in der „Wüste“ Wurzeln schlugen und eine neue Nation aufbauten? Gründen sich nicht beide auf dasselbe Alte Testament und glauben, Gott habe ihnen ihr Land gegeben (ob sie nun an Gott glauben oder nicht)?

Imitieren unsere Siedler, die einen neuen “Wilden Osten“ in den besetzten Gebieten schaffen, nicht den „Wilden Westen“ der amerikanischen Filme? (Vor ein paar Tagen zeigte das israelische Fernsehen einen Avri Ran, der sich selbst als „Souverän“ der Westbank ausgab und beide terrorisierte , die Palästinenser und die Siedler, nach Land grabschte, egal wem es gehört, der Armee sagt, was zu tun ist, offen die israelische und andere Regierungen verachtet und dabei ein Multi-Millionär wird. Hollywood vom Feinsten)

Aber all dies gilt auch für Australien (mit dem wir uns grade im Streit befinden), Kanada, Neu-Seeland und den lateinamerikanischen Nationen. Doch haben wir mit ihnen nicht dieselbe Beziehung.

Noam Chomsky, der brillante Linguist, hat eine Antwort: Israel ist nur ein Lakai des amerikanischen Imperialismus, der in dieser Region seine Interessen vertritt. Eine Art unsinkbarer Flugzeugträger. Ich sehe es nicht so. Wenn der amerikanische Hund mit dem israelischen Schwanz wedelt, so wedelt der Schwanz mit dem Hund.

WEDER GOLDMANN noch ich fanden eine befriedigende Antwort auf dieses Rätsel.

Acht Monate vor seinem Tod erhielt ich von ihm völlig unerwartet einen Brief, der mich überraschte. Auf Deutsch geschrieben (das wir nie untereinander sprachen), auf seinem Briefpapier war eine Art Entschuldigung: Ich hätte immer recht gehabt – keine amerikanische Friedensinitiative sollte erwartet werden; die Gründe blieben unerklärlich.

Der Brief trug das Datum vom 30.Januar 1982, fünf Monate vor Ariel Sharons blutiger Invasion in den Libanon, der im Voraus von Alexander Haig, dem damaligen amerikanischen Außenminister, genehmigt worden war und vermutlich auch vom Präsidenten Reagan.

Der Brief war eine Reaktion auf einen Artikel, den ich ein paar Tage zuvor in dem von mir herausgegebenen Magazin Haolam Hazeh geschrieben hatte und in dem ich fragte: „Wollen die Amerikaner wirklich Frieden?“

Goldmann schrieb: „Auch ich stellte mir manchmal diese Frage, obschon der Mangel an staatsmännischer Klugheit der amerikanischen Außenpolitiker nicht zu unterschätzen ist. Ich könnte ein ganzes Buch schreiben, dass Amerika Frieden will und andere Beispiele bringen, dass es keinen Frieden will.“

Er erwähnte Amerikas Furcht, die Sowjets drängen in den Nahen Osten, und ihre Überzeugung, Frieden ohne russische Teilnahme, sei nicht möglich. Er enthüllte auch die Tatsache, dass ein russischer Diplomat ihm gesagt hätte, es habe ein amerikanisch-russisches Einverständnis gegeben, eine Friedenskonferenz in Genf abzuhalten, dass Moshe Dayan aber die amerikanischen Juden aufgerufen hätte, dies zu sabotieren. Die Russen waren darüber sehr verärgert.

Während er noch viele Namen nennt, fasst er zusammen: „ Im Moment würde ich sagen, ohne ganz sicher zu sein, dass eine Kombination der amerikanischen diplomatischen Unfähigkeit einerseits, ihrer Furcht vor einer Beteiligung der Russen an einem Frieden andrerseits dazu die innenpolitische Angst vor der pro-israelischen Lobby, nicht nur Juden, sondern auch Männer wie der Senator (Jack)Jackson u. a., die Ursachen für die völlig verständnis- und ergebnislose amerikanische Politik im Nahen Osten sind, die Israel noch teuer zu stehen kommen wird.“

ABGESEHEN VOM Rückgang russischen Einflusses, gilt jedes Wort auch heute noch, am Vorabend von Obamas Besuch – also 31 Jahre später.

Wieder hoffen viele Israelis und Palästinenser auf eine amerikanische Friedensinitiative, die auf beide Seiten Druck ausübt. Wieder leugnet der Präsident jede solche Absicht. Wieder werden die Resultate des Besuches wahrscheinlich Enttäuschung und Verzweiflung sein.

Gerade jetzt gibt es auf dem Markt weder Wassermelonen – noch eine reale US-Friedensinitiative.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Die Suabis

Erstellt von Redaktion am 24. März 2013

Die Suabis

Autor Uri Avnery

DER EINZIGE Beitrag von Yair Lapid zu israelischer Folklore ist bis jetzt sein Ausspruch, er werde keinen Schritt machen, um Benjamin Netanyahu zu blockieren, da dies bedeuten würde, sich mit „den Suabis“ zu verbinden.

Das muss ausländischen Lesern erklärt werden. Die Suabi-Familie ist eine große Hamula (eine große Sippe) in Nazareth und in den benachbarten Orten. Mehrere Mitglieder dieser Familie dienten seit den frühen Tagen Israels in der Knesset, alle als Mitglieder zionistischer Parteien oder arabischer Fraktionen, die mit zionistischen Parteien verknüpft waren.

Das augenblickliche Mitglied der Knesset, das diesen angesehenen Namen trägt, ist Frau Chanin Suabi, die 44jährige Vertreterin der arabisch- nationalistischen Balad-Partei. Der Gründer der Partei, Asmi Bishara, hat Israel verlassen, nachdem er wegen Sicherheitsdelikten angeklagt wurde. Er sagte, er könne sich wegen schwerer Diabetes keinen Gefängnisaufenthalt leisten.

Chanin jedoch wird weithin um ihrer selbst willen gehasst. Sie hat ein Talent, das jüdischen Israelis auf die Nerven geht. Sie ist mit Absicht provokativ, scharf und macht einen wütend. Einmal wurde sie physisch angegriffen, als sie am Knesset-Rednerpult eine Rede hielt, und zwar von einer Anbeterin Avigdor Liebermans. Sie zuckte nicht zurück.

Was sie berühmt (oder verhasst) machte, war ihre kühne Entscheidung, an Bord des türkischen Schiffes Mavi Marmara zu gehen, um zu versuchen, die Blockade zu brechen und Gaza mit allerlei dort Notwendigem zu erreichen. Der Vorfall, bei dem neun Türken von israelischen Kommandos erschossen wurden, löste einen Tsunami von Emotionen in Israel aus. Chanin Suabi wurde als Verräterin gebrandmarkt. Viele arabische Bürger bewunderten ihren Mut, aber das hinderte ihre Partei nicht, einen Sitz bei den vor kurzem erfolgten Wahlen zu verlieren. Doch Suabi behielt ihren Sitz in der neuen Knesset.

Sie gehört nun zu denen, die am meisten gehasst werden. In einem kürzlich erschienenem Artikel setzte ein führender Journalist ihr Foto neben das von Sarah Netanyahu und nannte die beiden die am meisten gehassten Frauen Israels – die eine auf der Linken, die andere auf der Rechten.

Falls also Lapid sich geweigert hätte, mit Chanin zu kooperieren, hätten nur wenige jüdische Israelis ihn kritisiert. Was einen Sturm von Protesten auslöste, war ein einziger Buchstabe. Lapid weigerte sich nicht, mit Chanin Suabi zusammen zu arbeiten, sondern mit „den Suabis“ – im Plural. Dies wurde verstanden, als habe er alle Mitglieder der drei arabischen Fraktionen in der Knesset gemeint.

„Rassist!“ der Schrei kam von allen Seiten. „Unentschuldbar!“ „Unerträglich!“ „Abscheulich!“

DIESE SCHREIE könnten überzeugend gewesen sein, wenn man von einer Tatsache absieht: bei allen gegenwärtigen Bemühungen, eine neue Regierungskoalition zu schaffen, schlug kein einziger vor, „arabische“ Fraktionen mit ein zu beziehen.

Es gibt drei „arabische“ Fraktionen („arabisch“ in Anführungszeichen, weil eine von ihnen, die kommunistische „Hadash“ , ein jüdisches Knesset-Mitglied, den populären Dov Hanin, hat. Doch die Wähler der Partei sind fast alle Araber. Die Anzahl ihrer jüdischen Wähler waren dieses Mal tatsächlich weniger.)

Die Mitglieder dieser Fraktionen leben praktisch in einem parlamentarischen Ghetto. Sie funktionieren wie andere Mitglieder, haben volle Rechte, einer von ihnen ist ein Vize-Knessetpräsident und leitet Sitzungen, theoretisch könnten sie sogar ihre Reden auf Arabisch halten, obwohl alle vorziehen hebräisch zu reden.

Doch gibt es so etwas wie eine Glaswand zwischen ihnen und ihren Kollegen. Unter den jüdischen Mitgliedern besteht eine stillschweigende Übereinkunft, sie sollten nicht in Koalitionen mit eingeschlossen werden. Am nächsten kamen sie 1993, als Yitzhak Rabin von ihrer Unterstützung abhängig war, ohne sie in seine Koalition aufzunehmen. Ohne dies wäre das Oslo-Abkommen nie zustande gekommen, noch wäre Rabin ermordet worden. Die erbittertste Verurteilung seiner Politik war: er hätte keine „jüdische Mehrheit“ gehabt und hätte mit Hilfe der arabischen Fraktionen „unser von Gott verheißenes Land“ weggegeben. Einer der extremsten Ankläger war Benjamin Netanyahu.

MAN MAG sehr wohl fragen, wie die Araber überhaupt in die Knesset gekommen sind.

Dies stand unter keinen Umständen von vornherein fest. Schließlich wurde in Israels Unabhängigkeitserklärung der neue Staat als ein „jüdischer“ erklärt. Warum sollte es Arabern erlaubt sein, sich daran zu beteiligen, für den jüdischen Staat die Gesetze zu erlassen? Warum sollten sie überhaupt Bürger sein?

Darüber gab es während der Gründung des Staates 1948 bei geheimen Beratungen eine lebhafte Debatte. Es war David Ben-Gurion, der die endgültige Entscheidung traf. Er machte sich Gedanken über die Weltmeinung, besonders zu einer Zeit, als Israel um die Mitgliedschaft in der UN kämpfte. Da Ben-Gurion ein Politiker war, konnte er gut die nationalen Interessen mit seinen eigenen verbinden.

Die erste Knesset wurde im Januar 1949 gewählt, während der Krieg noch andauerte. (Ich erinnere mich, wie ich nach meiner Verwundung nahe dem Militär-Erholungsheim wählen ging.) Zu jener Zeit standen die nach der Massenflucht und -vertreibung in Israel verbliebenen Araber unter einer Militärregierung, die das Leben jedes einzelnen Arabers bis ins kleinste Detail vom Militärgouverneur völlig abhängig machte.

Ben-Gurion sah dazu, dass die arabischen Bürger – während sie sich einer freien Wahl erfreuten – seine Partei, die Mapai, wählten. Den Ältesten der Familienclans wurde gesagt, das Leben würde für sie unerträglich, wenn sie nicht die vorgeschriebene Anzahl von Stimmen für diese Partei aufbrächten. Jedem einzelnen wurde gesagt, wie seine Leute wählen müssten – für Mapai selbst oder für eine der arabischen Fraktionen, die von Mapai genau für diesen Zweck aufgestellt wurde.

Ohne diese gefangenen Stimmen wäre es für Ben-Gurion schwierig gewesen, seine Koalitionen während seiner 15 Jahre Amtszeit aufrecht zu erhalten.

NACH DER Nakba des 1948er-Krieges standen die zurückgebliebenen etwa zweihundert Tausend „israelischen Araber“ unter Schock. Weder hatten sie die Mittel noch wagten sie es, in irgendeiner Weise gegen die Regierung zu opponieren.

Die einzige Ausnahme waren die Kommunisten. Während des 1948er-Krieges war die zionistische Führung eng mit Stalin verbündet, der uns mit fast allen Waffen versorgte. Dieses Bündnis dauerte einige Jahre, bis Israels enger werdende Beziehungen mit den USA und Stalins zunehmender anti-semitischen Paranoia dem ein Ende setzte.

Zu jener Zeit hatte die israelische kommunistische Partei eine starke Position innerhalb der arabischen Gemeinde in Israel aufgebaut. Praktisch war sie eine arabische Partei, obwohl Moskau aus eigenen Gründen diktierte, dass der Generalsekretär jüdisch sein müsse. Die Beziehungen zwischen der Parteiführung und der Regierung waren voller Widersprüche – während die Partei wegen Israels Verbindungen mit Moskau geduldet war, wurde sie vom Shin Bet immer wieder einmal als 5.Kolonne verfolgt.

Da keine andere arabische Partei (außer Mapais zuvor erwähnten arabischen Quislingen) überhaupt toleriert wurde, erfreuten sich die Kommunisten dessen, was sie praktisch zu einem Monopol auf der arabischen Straße werden ließ. Ihre Macht in den arabischen Städten und Dörfern in Israel kam nahe an die absolute Machtposition, die Mapai bis 1977 in der jüdischen Bevölkerung hatte. Weh, den Arabern, die wagten, gegen sie zu opponieren!

Nachdem Ben-Gurion 1963 aus seiner eigenen Partei ausgestoßen worden war, wurde die Einstellung den Arabern gegenüber nach und nach liberaler. Die Militärregierung wurde 1966 offiziell aufgehoben (dies war eine meiner ersten Abstimmungen in der Knesset). Schließlich wurde erlaubt, neue arabische Parteien aufzustellen und in die Knesset einzutreten. Die Beziehungen zwischen Arabern und dem Staat traten in eine neue Phase – eine Phase, die sehr schwierig zu definieren ist.

ISRAEL WIRD offiziell als „Jüdischer und demokratischer Staat“ definiert. Mancher sieht dies als Oxymoron an – wenn er jüdisch ist, kann er nicht demokratisch sein; wenn er demokratisch ist, kann er nicht jüdisch sein. Die offizielle Doktrin meint dazu, dass der Staat seinem Wesen nach jüdisch sei, dass aber alle seine Bürger die gleichen Rechte hätten (oder haben sollten).

Nüchtern betrachtet, ist Israel mit diesem grundsätzlichen Widerspruch nie wirklich klar gekommen: welche Stellung hat eine nationale Minderheit in einem Staat, der völlig mit der nationalen Mehrheit identifiziert wird? Wie können arabische Bürger in einem Staat wirklich gleich sein, wenn dieser behauptet „der Nationalstaat des jüdischen Volkes“ zu sein?

Von dem Rückkehrgesetz, das nur für Juden und ihre Nachkommen gilt, über das Bürgerschaftgesetz, das einen scharfen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden macht, bis zu einem Dutzend kleinerer Gesetze, die Leuten Privilegien gewähren, die als „Individuen definiert werden, für die das Rückkehrgesetz gilt“ – gibt es keine wirkliche Gleichheit. Praktisch durchdringt Diskriminierung – offen oder verborgen – die Gesellschaft.

Viele Israelis erklären, dass sie die Diskriminierung verabscheuen, aber behaupten, dass andere demokratische Länder ihre eigenen nationalen Minderheiten auch nicht besser behandeln.

EINE DRITTE Generation „israelischer Araber“ wächst jetzt heran. Sie lassen sich nicht mehr von der Regierung einschüchtern, aber leben in einem geistigen Limbo. Sie definieren sich selbst als Palästinenser und unterstützen den palästinensischen Kampf in den Besetzten Gebieten, werden aber auch immer mehr israelisch. Ein anderer Suabi, Abd-al-Aziz, vor vielen Jahren ein Knesset-Mitglied, prägte den Satz: „ Mein Staat ist im Krieg mit meinem Volk.“ Das gegenwärtig prominenteste arabische Knesset-Mitglied ist Ahmad Tibi, einst ein enger Berater von Yasser Arafat, ist meiner Meinung nach von allen Knesset-Mitgliedern der „israelischste“ – dem Charakter und dem Verhalten nach.

Tatsächlich sind die Araber weit mehr in die israelische Gesellschaft integriert, als den meisten Leuten bewusst ist. Viele jüdische Patienten in Regierungskrankenhäusern sind sich der Tatsache nicht bewusst, dass der Arzt und die sie pflegenden Krankenpfleger Araber sind. Bei Fußballwettkämpfen zwischen jüdischen und arabischen Teams schreien die jüdischen Hooligans „Tod den Arabern!“, und ihre arabischen Altersgenossen rufen mit gleicher Begeisterung: „Allah ist groß!“

Vor ein paar Jahren schlug Lieberman vor, die arabischen Städte und Dörfer in Israel, die nahe zur Grenze der Westbank liegen, sollten mit allen ihren Ländereien dem zukünftigen palästinensischen Staat zugeschlagen werden, und dafür sollten die jüdischen Siedlungen in der Westbank auf der anderen Seite der Grenze zu Israel gehören. Da gab es einen Sturm des Protestes vonseiten der arabischen Bevölkerung. Nicht ein einziger arabischer Sprecher unterstützte die Idee.

Doch die wachsende Bitterkeit der arabischen Bürger treibt die arabischen Mitglieder in immer extremere Positionen und zu scharfen Äußerungen, während die jüdischen Politiker des rechten Flügels in ihrem anti-arabischen Rassismus immer extremer werden. So wird die Kluft zwischen den beiden Lagern auch in der Knesset weiter statt enger.

Als Lapid seine Verachtung für die „Suabis“ zum Ausdruck brachte, hofierte er den Mainstream. Chanin Suabi fühlte sich natürlich geschmeichelt.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Können zwei zusammengehen?

Erstellt von Redaktion am 17. März 2013

Können zwei zusammengehen?

Autor Uri Avnery

„VERGLICHEN MIT der Knesset, wie sie hätte sein können , ist diese eine sehr gute Knesset!“

Dies hörte ich von mindestens zehn früheren Knesset-Mitgliedern und anderen als wir im Knesset-Foyer noch Orangensaft tranken. Ich könnte es auch selbst gesagt haben (und tat es wahrscheinlich).

Es war die Eröffnungssitzung der neuen Knesset, und frühere Mitglieder wurden zu einem Empfang mit den neuen eingeladen. Dann saßen wir im Plenum.

Bei den letzten paar Malen war ich nicht dabei, aber dieses Mal war ich neugierig, die neuen Mitglieder zu sehen – 49 von 120, eine nie da gewesene Anzahl – über einige von ihnen hatte ich nie vorher etwas gehört.

Es war wirklich ein guter Anblick. Einige von den neuen Leuten waren Führer der sozialen Protestbewegung im Sommer 2011, einige Enthüllungsjournalisten von Medien, einige Sozialarbeiter. Einige Faschisten blieben, aber die Schlimmsten waren gegangen .

Der Wandel war nicht groß genug, um Freudensprünge zu machen, aber groß genug, um froh zu sein. Bettler haben keine Auswahl.

ES WAR ein feierliches Ereignis mit Fahnen und Trompeten. Bis zu einem gewissen Punkt.

Die Juden haben kein Talent für Pomp und Ähnliches wie Engländer. In wirklich jüdischen Synagogen herrscht – nicht wie in westlich-europäischen Kopien christlicher Kirchen – Chaos.

In den zehn Jahren, in denen ich in der Knesset war, nahm ich an vielen „festlichen“ Sitzungen teil im ehrenvollen Gedenken an dieses oder jenes historische Ereignis oder diese oder jene Persönlichkeit – und keine war wirklich erbaulich. Wir haben es einfach nicht geschafft.

Diese eine war keine Ausnahme. Der Staatspräsident Shimon Peres, der viel Respekt im Ausland genießt, aber sehr wenig in Israel, kam mit einer Eskorte Motorradfahrer und Reiter an, und die Trompeten schallten. Er betrat das Knesset-Gebäude und hielt eine schwache Rede voller Plattitüden. So auch das Knesset-Mitglied (ein Jüngling von erst 77 Jahren, also 12 Jahre jünger als ich.)

Viele Mitglieder waren lässig gekleidet mit Hemden und Pullovern. Wenige trugen eine Krawatte. Sehr israelisch. Während der Reden, gingen Mitglieder rein und raus. Alle arabischen Mitglieder verließen unmittelbar nach dem Eid mit Hanin Zuabi als erste die Halle, bevor die Nationalhymne Hatikwa, angestimmt wurde.

FÜR DIE neuen Mitglieder war es natürlich ein Tag voller Emotionen. Ich erinnere mich an meinen eigenen ersten Tag. Es war tatsächlich aufregend.

Wenn ich auf Yair Lapid schaute, konnte ich es mir nicht verkneifen, an die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen ihm und mir zu jener Zeit zu denken. Wir wurden beide als Vorsitzende einer vollkommen neuen Partei gewählt, die wir gegründet hatten. Ich war 42, zur damaligen Zeit der Jüngste, und er ist 49. Wir waren beide Journalisten dem Beruf nach. Keiner von uns beiden hatte ein Abiturzeugnis. Unsere Wähler kamen aus genau demselben Bevölkerungsumfeld: in Israel geboren, gebildete und junge gut positionierte Ashkenazim.

Doch da ist die Ähnlichkeit zu Ende. Ich vertrat eine winzige Fraktion, seine ist die zweitgrößte. Ich brachte eine revolutionäre neue Perspektive für Israel mit – Frieden, einen palästinensischen Staat neben Israel, Religion und Staat getrennt, Gleichheit für arabische und orientalisch jüdische Bürger. Er bringt ein Cocktail frommer Slogans.

Nichtdestotrotz ist der erste Tag in der Knesset wie der erste Tag in der Schule. Aufregend. Jedes neue Mitglied brachte seine ganze Familie mit, die Kinder in ihrer besten Kleidung, um von der Galerie aus auf Vater oder Mutter unten in dieser stolzen Gesellschaft zu sehen.

Bei dieser ersten Sitzung ist es den alten wie den neuen Mitgliedern nicht erlaubt, etwas zu sagen, außer den drei Worten „Ich verpflichte mich (dem Staat Israel zu dienen)“. Wenn es mir erlaubt ist, einen Augenblick in Erinnerungen zu schwelgen: Ich war entschlossen, meinen Standpunkt und meine Botschaft am allerersten Tag zu präsentieren. Während ich die Knesset-Satzung studierte, entdeckte ich eine Lücke. Ich verlangte, einen Antrag für die Wahl des neuen Parlamentsvorsitzenden zu stellen, und musste so aufs Rednerpult gerufen werden. So hielt ich meine erste Rede dort: einen Vorschlag zur Ernennung eines arabischen Sprechers, um die Gleichheit aller Bürger zu symbolisieren. David Ben Gurion, der als ältestes Mitglied als vorläufiger Sprecher diente, sah mich mit Verwunderung, gemischt mit Widerwillen an, was in einem seltenen Foto unsterblich gemacht wurde.

ALS DIE Eröffnungssitzung zu Ende war und Benjamin Netanjahu wie wir alle aufstand, geschah noch etwas Seltsames: Yair Lapid sprang von seinem Sitz, rannte auf ihn zu und umarmte ihn. Es war mehr als nur eine beiläufige Geste.

Wie ich schon vorher sagte, Lapids Zukunft hängt davon ab, ob er jetzt die richtigen Entscheidungen trifft, hinsichtlich seiner Rolle in der neuen Koalition und den Bedingungen, die er stellen muss.

Spannung liegt in der Luft. Das Minimum, das Lapid benötigt, um seine Wähler zu befriedigen, liegt weit über dem Maximum, das Netanyahu sich politisch leisten kann, ihm zu geben.

Um seine Position zu stärken, hat sich Lapid mit Naphtali Bennett zusammen getan, um die orthodoxen Fraktionen draußen zu halten. Das offizielle Zie l ist, die Orthodoxen dahin zu bringen, dass auch sie ihren Armeedienst tun.

Das lässt die sehr alte Frage hochkommen, die vom Propheten Amos (3,2) ausgesprochen wurde: „Können etwa zwei miteinander wandern, sie seien denn einig mit einander?“

Bennett ist ein Ultra-Rechter. Einige seiner Kritiker nennen ihn Diät- Faschist. Er hat sich völlig auf Großisrael festgelegt, die Erweiterung der Siedlungen, und ist gegen jeden Kontakt mit den Palästinensern – außer vielleicht für das Angebot von Verhandlungen unter Bedingungen zu führen, das die Palästinenser in keiner Weise annehmen konnten.

Stimmt, Bennett hat ein Talent, seine wirkliche Ideologie hinter einer Fassade von Jovialität zu verbergen. Er gibt vor, zum selben sozialen Sektor wie Lapid zu gehören: zu den Weißen, den Ashkenazim und Liberalen, dem israelischen Gegenstück zum amerikanischen WASP (weiße angelsächsische Protestanten). Die winzige Größe seiner Kippa dient dem gleichen Zweck. (Es erinnert mich immer an den Verweis, den ein britischer Richter in Palästina aufstrebenden Anwälten gab:“ Machen Sie Ihre Resümees wie den Rock einer Dame: lang genug, um das Wichtigste zuzudecken und kurz genug, um attraktiv zu sein.“)

Doch Bennett gehört in Wirklichkeit einer ganz anderen Gruppe an: dem national-religiösen Lager der fanatischen Siedler. Der nationalistische Teil seiner Ideologie ist für ihn bei weitem wichtiger als der religiöse Teil. Mit ihm im Kabinett würde jede wesentliche Bewegung in Richtung einer Zwei-Staaten-Lösung unmöglich.

Wenn Lapid sich auch keine Gedanken darüber macht, was sagt das über ihn? Er begann seine Wahlkampagne absichtlich in der Hauptstadt der Siedler, in Ariel. Er betonte, dass Jerusalem „die ewige Hauptstadt Israels“ ungeteilt bleiben muss. Schon dies ist ein Rohrkrepierer.

Als meine Freunde und ich die Zweistaatenlösung nach dem 1948er-Krieg vorbrachten, bestanden wir darauf, dass die Grenzen zwischen Israel und Palästina offen bleiben müssen, also Bewegungsfreiheit für Menschen und Waren. Wir hatten enge und freundschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Schwesterstaaten im Sinn. Was Lapid predigt, ist genau das Gegenteil: die Zweistaatenlösung als eine endgültige und totale “Scheidung“.

WENN LAPID Bennett als seinen Lieblingsgenossen wählt, erklärt er stillschweigend und eindeutig, dass das Problem mit dem Militärdienst der Orthodoxen für ihn viel wichtiger ist als Frieden.

Wenn er den Frieden gegenüber dem Militärdienst bevorzugte, würde er die religiöse Shas-Partei anstelle von Bennett wählen. Das wäre sehr unpopulär, aber würde den Frieden möglich machen.

Shas ist eine Falkenpartei, auch wenn sie wie eine Partei der Tauben anfing. Aber wie ihre Schwesterpartei, die Torah-Juden, kümmert sie sich wirklich um nichts, außer um die engen Interessen ihrer Gemeinschaft.

Am Abend als die Labor-Partei bei den 1999er-Wahlen siegte, strömten Zehntausende freudige Wähler spontan auf Tel Avivs Rabin-Platz, um das zu feiern, was sie als Befreiung von Netanyahus (erster Regierungs-) Periode sahen. Als der Sieger Ehud Barak auf dem Balkon erschien, ging ein Schrei von den Tausenden aus: „ Nur ja nicht Shas! Nur ja nicht Shas!“

Ein paar Tage später bei der Eröffnungssitzung der neuen Knesset (Die letzte, an der ich bis diese Woche teilnahm) ging ich auf Barak zu und flüsterte ihm ins Ohr: „Nimm Shas!“

Vor vier Jahren, als Zipi Livni eine Regierung bilden konnte, statt Neuwahlen auszurufen, brauchte sie Shas. Shas verlangte wie gewöhnlich eine Menge Geld für seine Kundschaft. Statt zu zahlen, hielt Zipi ihre Tugend hoch und weigerte sich. Die Folge davon: Netanjahu kam an die Macht zurück.

Dies ist dasselbe Dilemma, dem wir jetzt gegenüberstehen. Zahle den Shas-Mann und gehe in Richtung Frieden – oder nimm Bennett und rede über „Gleichheit beim Militärdienst“. (Das ist auf jeden Fall Gerede. Ein Gesetz, um wirkliche Gleichheit beim Militärdienst zu erreichen, würde Bürgerkrieg bedeuten.)

UND WIE ist es mit dem wirklichen Boss? Ich meine nicht Sarale Netanjahu, die bei der Eröffnungsfeier auch eine Hauptrolle spielt. Ich meine Barack Obama.

Ohne Warnung kündigte er diese Woche an, dass er nach Israel komme. Unmittelbar nach der Bildung unserer neuen Regierung. Er wird auch nach Ramallah gehen.

Sollten wir nun glücklich sein oder nicht?

Kommt drauf an! Wenn es ein Trostpreis für Netanjahus Wahlrückschlag ist, dann ist es ein schlechtes Zeichen. Der erste Besuch eines US-Präsidenten seit George Bush jr. Würde dann geknüpft, Netanjahu stärken und sein Image als dem einzigen israelischen Führer mit internationalem Format bestätigen.

Aber wenn Obama dieses Mal mit der Absicht kommt, ernsthaften Druck auf Netanjahu auszuüben, um eine bedeutungsvolle Friedensinitiative zu starten, dann willkommen!

Netanjahu wird versuchen, Obama mit der „Eröffnung von Friedensgesprächen“ zu befriedigen. Das bedeutet so viel wie nichts. Selbst Bennett kann damit einverstanden sein. Ganz zu schweigen von Lapid und Livni. Ja, lasst uns reden. „Ohne Vorbedingungen.“ Das bedeutet: ohne die Siedlungsexpansion zu stoppen. Reden und weiterreden, bis zum Erbrechen und bis Obamas und Netanjahus Amtszeit vorüber sind.

Aber wenn Obama es dieses Mal ernst meint, könnte es anders sein. Ein amerikanischer oder internationaler Entwurf für die Realisierung der Zweistaaten-Lösung mit einem strengen Zeitplan. Vielleicht eine internationale Konferenz. Eine UN-Resolution ohne amerikanisches Veto.

Wenn dies geschieht, wird die neue Knesset mit all den frischen, neuen Gesichtern aufgerufen werden, um eine wirkliche Debatte zu führen und schicksalhafte Entscheidungen zu treffen. Und vielleicht, vielleicht, vielleicht – Geschichte machen.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Wehe dem Sieger !

Erstellt von Redaktion am 10. März 2013

Wehe dem Sieger !

Autor Uri Avnery

„VAE VICTIS!“ sagten die Römer – Wehe dem Besiegten.

Ich würde das Sprichwort leicht verändern: Wehe dem Sieger – „Vae Victori!“

Das bemerkenswerte Beispiel ist der erstaunliche Sieg, den Israel im Juni 1967 gewann. Nach Wochen eines sich nähernden Verhängnisses besiegte die israelische Armee in sechs Tagen drei arabische Armeen und eroberte große Teile Ägyptens, Syriens und die palästinensischen Gebiete.

Wie sich (später ) herausstellte, war dies das größte Unglück in unserer Geschichte. Berauscht von der Größe des Sieges, begann Israel auf einer Straße politischen Größenwahns weiter zu gehen, was zu den verheerenden Konsequenzen führte, von denen wir uns bis zum heutigen Tage nicht selbst befreien konnten. Die Geschichte ist voll solcher Beispiele.

Nun sind wir Zeugen des völlig unerwarteten großen Wahlerfolgs von Yair Lapid geworden. Es könnte sich herausstellen, dass es dieselbe Geschichte en miniature ist.

LAPID GEWANN 19 Sitze. Seine Fraktion ist die zweitgrößte in der Knesset mit 120 Sitzen, nach Likud-Beitenu, die 31 Sitze hat. Die Zusammensetzung des Parlamentes ist so, dass es für Binjamin Netanjahu fast unmöglich ist, eine Koalition ohne ihn zu bilden.

Der frühere Fernsehstar befindet sich in der Situation eines Kindes in einem Süßwarenladen, das sich nehmen kann, was immer es sich wünscht. Er kann sich jeden Regierungsposten auswählen, der ihm und seinen Untergebenen gefällt. Er kann dem Ministerpräsidenten fast jede Politik aufzwingen.

Genau hier beginnen seine Probleme.

Setzen Sie sich an seine Stelle und erfahre, was dies bedeuten muss..

ALS ERSTES: welchen Job sollten Sie wählen?

Als hochrangiger Partner der Koalition hat man das Recht, eines der drei wichtigsten Ministerien auszusuchen: das Verteidigungsministerium, das Außenministerium und das Finanzministerium.

Das scheint einfach zu sein? Doch denken Sie noch einmal darüber nach.

Man kann das Verteidigungsministerium übernehmen. Aber wenn Sie keinerlei Verteidigungserfahrungen haben, wenn sie nicht einmal in einer Kampfeinheit gedient haben, da der Vater Ihnen einen Job bei der wöchentlichen Armeezeitung verschafft hat (übrigens eine miese Zeitung.)

Als Verteidigungsminister würden Sie praktisch der Vorgesetzte des Stabschefs sein, fast ein Oberbefehlshaber. (Nach israelischem Gesetz ist die ganze Regierung Oberbefehlshaber des Stabschefs, aber der Verteidigungsminister vertritt die Regierung gegenüber den bewaffneten Militärs).

Also das Amt des Verteidigungsministers kommt nicht in Frage.

SIE KÖNNEN das Außenministerium übernehmen. Das wäre wirklich der ideale Job.

Da Sie ja das nächste Mal den Posten des Ministerpräsidenten übernehmen wollen, brauchen Sie Öffentlichkeit und der Außenminister bekommt viel Publicity. Sie werden auf Fotos neben Präsident Obama, Angela Merkel, Vladimir Putin erscheinen und ein Gast bei andern weltberühmten Persönlichkeiten sein. Die Öffentlichkeit wird sich daran gewöhnen, Sie in diesen angesehenen internationalen Kreisen zu sehen. Ihr telegen gutes Aussehen wird diesen Vorteil erhöhen. Die Israelis werden stolz auf Sie sein.

Außerdem ist dies der einzige Job, bei dem Sie nicht versagen können. Da die Außenpolitik heutzutage vom Ministerpräsidenten bestimmt und weithin durchgeführt wird, kann der Außenminister für nichts angeklagt werden, wenn er nicht ein vollkommener Dummkopf ist – und das sind Sie ja nicht.

Nach vier Jahren wird jeder davon überzeugt sein, dass Sie das Zeug zum Ministerpräsidenten haben.

Noch besser: Sie könnten die unmittelbare Eröffnung der Friedensverhandlungen mit den Palästinensern diktieren. Netanjahu ist nicht in der Position, dies zu verweigern, besonders da Barack Obama dasselbe fordern wird. Die Eröffnungszeremonie der Verhandlungen wird ein riesiger Triumpf für Sie sein. Ein aktueller Fortschritt wird weder verlangt noch erwartet.

ALSO, WARUM diesen Posten nicht annehmen?

Weil Sie ein großes Warnlicht sehen.

Die 543,289 Bürger, die für Sie stimmten, stimmten nicht für Sie als Außenminister. Sie stimmten dafür, dass die Orthodoxen in der Armee dienen, dass Wohnungsptrise erschwinglicher werden, dass Lebensmittelpreise runtergehen und für niedrigere Steuern der Mittelklasse. Die ausländischen Beziehungen sind ihnen völlig Wurscht, auch die Besatzung, der Frieden und ähnliche Nebensachen.

Wenn Sie sich dieser innerpolitischen Probleme nicht annehmen und ins Außenministerium gehen, wird es einen großen Aufschrei geben: Verräter! Deserteur! Betrüger!

Die Hälfte Ihrer Anhänger wird Sie sofort verlassen. Für sie wird Ihr Name unten durch sein.

Außerdem, um einer Friedensagenda zu folgen – und wenn es nur formell ist – müssen Sie die Idee verwerfen, Naftali Bennetts ultra-rechte Partei in die Koalition aufzunehmen und stattdessen die orthodoxen Parteien vorziehen. Falls es so ist, wie zwingt man die Orthodoxen, in der Armee Dienst zu tun, das wäre so, als ob man sie dahin bringen würde, Schweinefleisch zu essen?

DIE LOGISCHE Schlussfolgerung: Sie müssen das Finanzministerium wählen.

Gott bewahre!!!

Ich würde nicht dem schlimmsten meiner Feinde dieses Schicksal wünschen – und ich fühle keine Feindschaft gegenüber dem Sohn von Tommy Lapid.

Der nächste Finanzminister wird gezwungen sein, genau das Gegenteil von Lapids Wahlversprechen zu tun.

Seine erste Aufgabe würde sein, den schon längst überfälligen Staatshaushalt für 2013 zu verabschieden. Nach offiziellen Zahlen gibt es ein Minus von 39 Milliarden Shekel, was etwa 8 Milliarden Euro entspricht. Woher sollen die kommen?

Es gibt nur wenige realistische Alternativen, und alle sind schmerzlich. Es muss höhere Steuern geben, besonders für die Mittelklasse und die Armen. Lapid, ein Neoliberaler wie Netanjhu, wird von den Reichen keine Steuern verlangen.

Dann wird es drastische Kürzungen bei den Regierungsdiensten geben, wie bei Bildung, Gesundheit und dem Wohlfahrtsstaat. Im Augenblick arbeiten viele Krankenhäuser mit einer Kapazität von 140% und gefährden das Leben der Patienten. Viele Schulen gehen vor die Hunde. Niedrigere Renten werden den Alten, den Behinderten und Arbeitslosen ein erbärmliches Leben bescheren. Jeder wird den Finanzminister verfluchen. Würden Sie so Ihre politische Karriere beginnen wollen?

Da ist natürlich noch das riesige Militärbudget, aber wagen Sie dies anzugreifen? Wenn die iranische Nuklearbombe (wenigstens in unserer Phantasie) über unsern Köpfen lauert? Wenn Netanjahu nur seinen neeuesten Schreck verkündet – die syrischen Chemiewaffen, die in die Hände der radikalen Islamisten fallen könnten?

Man kann natürlich die Pensionen der Armeeoffiziere kürzen, die im Alter von 45 in Pension gehen – wie es in Israel üblich ist. Wer wagt dies?

Man könnte die immensen Summen, die in die Siedlungen investiert werden, drastisch zusammenstreichen. Wären Sie so ein Held ?

Als ob dies noch nicht genug wäre, so ist der hohe Rang der Wirtschaftsfachleute in Auflösung begriffen. Der hoch geachtete Direktor der Bank Israel, Stanley Fischer, der aus den US importiert wurde, hat gerade mitten im Semester abgedankt. Die höchsten Beamten in der Budget-Abteilung haben sich gerade in der Wolle und klagen einander an.

Sie wären sehr tapfer oder sehr töricht (oder beides), wenn Sie den Posten annehmen würden .

SIE KÖNNTEN natürlich mit etwas weniger Erhabenen zufrieden sein.

Zum Beispiel: Bildung, das Erziehungsministerium wird als eine Ministeriumstelle 2. Klasse angesehen. Aber es hat viele tausend Angestellte und das zweitgrößte Budget, nach dem Verteidigungsministerium. Aber es hat einen großen Nachteil. Jeder Erfolg würde sich erst nach Jahren zeigen.

Der abgehende Minister Gideon Sa’ar, ein Likud-Mitglied (und ein früherer Angestellter von mir) hat ein Talent, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenigstens einmal pro Woche hatte er ein neues Projekt, das viel Publicity im Fernsehen anzog. Aber ernste Errungenschaften waren selten.

Aus den Erfahrungen meiner Frau als frühere Lehrerin weiß ich, dass die häufigen vom Ministerium befohlenen „Reformen“ kaum jemals die Klassenräume erreichten. Um etwas Wirkliches zu erreichen, würde man enorme neue Summen Geldes benötigen und woher würden Sie sie bekommen?

Und würde Ihr Ego nach so einem Wahltriumph mit einem zweitklassigen Ministerium zufrieden sein? Sie könnten natürlich das Ministerium vergrößern und verlangen, dass Kultur und Sport zurückkommen, die abgetrennt wurden, um einen Job für einen anderen Minister zu schaffen. Da eines Ihrer grundsätzlichen Wahlversprechen war, die Zahl der Minister von 30 auf 18 zu reduzieren, könnte dies möglich sein.

Aber werden Ihre Wähler zufrieden sein wenn Sie sich auf Bildung konzentrieren, statt für wirtschaftliche Reformen zu arbeiten, wie Sie versprochen haben?

ALL DIESE wenig beneidenswerten Dilemmata laufen auf ein wesentliches hinaus: wen ziehen Sie als Hauptkoalitionspartner vor.

Die erste Wahl ist zwischen Bennetts 12 Sitzen und den 11 von Shas (falls sie sich mit der Torah-Judentum-Fraktion verbinden, würden dies 18 Sitze werden).

Lapid bevorzugt Bennett, sein sehr ,sehr rechtes Spiegelbild, mit dem er hofft, sein „Gleichheits-Programm“ im Militärdienst durchzusetzen – und die Streichung der Befreiung von Tausenden Torah-Studenten vom Militärdienst. Aber Sarah Netanjahu, die das Büro des Ministerpräsidenten beherrscht, hat ein Veto auf Bennett gelegt. Keiner weiß warum, aber sie kann ihn auf den Tod nicht ausstehen.

Mit Bennett als Koalitionsmitglied wird jeder reale Schritt in Richtung Frieden natürlich undenkbar.

Mit den Religiösen andrerseits würde eine Bewegung in Richtung Frieden möglich sein, aber kein wirklicher Fortschritt dahin, dass die Orthodoxen in der Armee dienen. Die Rabbiner fürchten, falls sie mit gewöhnlichen Israelis zusammenkommen, besonders mit Soldatinnen, dann würden ihre Seelen auf immer verloren sein.

(Was mich betrifft, so wäre ich bereit, mich einer Bewegung gegen Gleichheit beim Militärdienst anzuschließen. Es wär das letzte, was wir brauchen: eine Kippa-tragende Armee. Wir haben dort schon genug Kippas .)

DIES SIND einige der Fragen, denen sich der arme Lapid auf Grund seines Wahlerfolges gegenüber sieht. Seine Wähler erwarten das Unmögliche.

Er muss seine Entscheidungen sofort treffen, und seine ganze Zukunft hängt davon ab, ob er die richtigen trifft – falls es eine richtige gibt.

George Bernard Shaw drückte es so aus: „Es gibt zwei Tragödien im Leben. Die eine ist, seine Herzenswünsche nicht erfüllt zu bekommen – die andere, sie erfüllt zu bekommen.“

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Ein Schritt zur Mitte hin

Erstellt von Redaktion am 3. März 2013

Ein Schritt zur Mitte hin

Autor Uri Avnery

ES WAR die Nacht für die Optimisten.

Dienstag um 22 Uhr eins, eine Minute nachdem die Wahllokale geschlossen wurden, verkündeten die drei  Fernsehprogramme das Ergebnis ihrer  Hochrechnungen, die unmittelbar nach dem Verlassen der Wahllokale durchgeführt  wurden.

Die verheerenden Voraussagen der Pessimisten wurden total widerlegt.

Israel ist nicht verrückt geworden.

Es hat sich nicht nach rechts  bewegt. Die Faschisten  haben die Knesset nicht übernommen. Benjamin Netanjahu ist nicht gestärkt worden, im Gegenteil..

Israel hat sich zur Mitte hin bewegt.

Es war kein historischer  Wendepunkt, wie1977 die Übernahme von Menachem Begin nach Generationen der Laborpartei-Regierung. Aber es war ein bedeutender Wandel.

All dies nach einer Wahlkampagne ohne Inhalt, ohne Aufregung, ohne irgendwelche wahrnehmbare Emotionen.

Am Wahltag, der ein offizieller Feiertag ist, schaute ich wiederholt aus meinem Fenster in einer von Tel Avivs Hauptstraßen. Es gab nicht das leiseste Anzeichen dafür, dass  irgendetwas Besonderes  war. Bei den letzten Wahlen waren die Straßen voll mit Taxis und Privatwagen, die mit Parteiposter  bedeckt waren und die Wähler zu den Wahllokalen brachten. Dieses Mal sah ich  keinen einzigen.

Im Wahllokal war ich allein. Aber der Strand war überfüllt. Die Leute hatten ihre Hunde und Kinder mitgenommen, damit sie unter der strahlenden Wintersonne im Sand spielen könnten, Segelboote schwammen im blauen Meer. Hundert Tausende fuhren nach Galiläa oder in den Negev. Viele hatten ein „Zimmer“  gemietet (seltsamerweise benützen wir dies deutsche Wort, was so viel bedeutet, wie „ein Bett mit Frühstück“)

Aber am Ende des Tages hatten 66,6 % der Israelis gewählt – mehr als beim letzten Mal. Sogar die arabischen Bürger, von denen die meisten nicht während des Tages wählten, wachten plötzlich auf und drängten während der letzten zwei Stunden scharenweise zu den Wahllokalen – nachdem die arabischen Parteien in einer massiven Aktion zusammen arbeiteten, um die Wähler noch auf die Beine zu bringen.

ALS DIE Hochrechnungen, die unmittelbar nach den Verlassen der Wahllokale ausgeführt, veröffentlicht wurden, eilten die Führer von einem halben Dutzend Parteien, einschließlich Netanjahu, um Siegesreden zu halten. Ein paar Stunden später sahen die meisten von ihnen, einschließlich Netanjahu, dämlich  drein.
Die wirklichen Ergebnisse veränderten das Bild nur ein wenig, aber für einige genug, um einen sicheren Sieg in eine Niederlage zu verwandeln.

Der große Verlierer der Wahl ist Benjamin Netanjahu. Im letzten Augenblick vor Beginn der Wahlkampagne vereinigte er seine Wahlliste mit der von Avigdor Lieberman. Das machte ihn  scheinbar unbesiegbar. Keiner zweifelte daran, dass er gewinnen würde, und zwar  haushoch. Experten gaben ihm 45 Sitze, von 42 der beiden Listen aufwärts, die sie in der  zu Ende gehenden Knesset hatten.

Das würde ihn in eine Position gebracht haben, in der er die Koalitionspartner  (oder besser  die Koalitionsdiener ) nach Wunsch hätte auswählen können.

Er endete mit nur 31 Sitzen – verlor ein   Viertel seiner Stärke. Es war ein Schlag ins Gesicht. Sein Hauptwahlslogan war „Ein starker Führer, ein starkes Israel“. Nun nicht mehr stark. Er wird zwar noch mal Ministerpräsident werden, doch als ein Schatten  seiner selbst. Politisch ist er fast am  Ende.

Was  von seiner Fraktion bleibt, ist ein Viertel der nächsten Knesset. Das bedeutet, dass er in jeder Koalition, (die mindestens 61 Mitglieder benötigt), die er zusammenbringen kann, eine Minderheit sein wird.  Wenn Liebermanns Leute von dieser Zahl noch abgezogen werden, hat der eigentliche Likud nur noch 20 Sitze – nur eine mehr als der wirkliche Sieger dieser Wahlen.

DER WIRKLICHE Sieger ist Yair Lapid, was jeden – besonders ihn selbst  -außerordentlich verwunderte, mit erstaunlichen 19 Sitzen. Das macht  seine Partei zur zweitgrößten Fraktion in der Knesset – nach Likud-Beitenu.

Wie hat er dies gemacht? Nun, er hat das gute, jugendliche Aussehen und die Körpersprache eines TV-Moderators, der er  tatsächlich jahrelang war. Jeder kennt sein Gesicht. Seine Botschaft bestand aus Platituden, die niemanden aufregten. Obwohl  jetzt fast  50 Jahre alt, war er der Kandidat der jungen Leute.

Sein Sieg ist  Teil eines Generationswechsels. Wie Naftali Bennet auf der Rechten zog er die jungen Leute an, die die Nase voll hatten vom  alten System,  von den alten Parteien, den alten abgedroschenen Slogans. Sie schauten nicht nach einer neuen Ideologie, sondern nach einem neuen Gesicht. Lapids Gesicht war das am besten aussehende in dieser Runde.

Aber es kann nicht übersehen werden, dass Lapid im Zentrum  seinen nächsten Konkurrenten um  junge Stimmen schlug – nämlich  Bennet auf der Rechten. Während Lapid   keinerlei  Ideologie propagierte, tat Bennett alles nur Mögliche, um  seine zu vertuschen. Er ging in die Lokale Tel Avivs, stellte sich dort selbst als jedermanns als  guten Kerl dar und  versuchte die säkularen, liberalen jungen Leute zu gewinnen.

Während der Wahlkampagne schien Bennett der  aufgehende Stern am politischen Firmament zu sein, die große Überraschung dieser Wahl, das Symbol von Israels fataler Bewegung zur Rechten hin.

Es gibt noch eine andere Ähnlichkeit zwischen den beiden: beide arbeiteten hart. Während die anderen Parteien  sich  meistens auf das Fernsehen verließen, das ihre Botschaft hinaustrug, „bearbeitete“ Lapid das ganze Jahr über das Land, baute eine Organisation auf, redete mit den Leuten und zog Gruppen von treuen Nachfolgern an. Dasselbe machte Bennett.

Aber am Ende wenn   junge Leute zwischen den beiden wählen mussten, konnte er oder sie nicht die Tatsache übersehen, dass Lapid zu einem demokratischen, liberalen Israel gehört und für eine Zwei-Staaten-Friedenslösung eintritt, während Bennett ein extremer Anwalt für die Siedler und für Großisrael war, ein Feind der Araber und des Obersten Gerichts.

Das Urteil der jungen Leute war  eindeutig: 19 für Lapid – nur 11 für Bennett.

DIE GRÖSSTE Enttäuschung wartete auf Shelly Yachimovich. Sie war absolut sicher, dass ihre  verjüngte Arbeitspartei die zweigrößte Fraktion in der Knesset werden würde. Sie stellte sich sogar selbst als möglichen Ersatz für   Netanjahus  dar.

Sie und Lapid profitierten beide von dem riesigen sozialen Protest vom Sommer 2011, der  Krieg und Besatzung von der Agenda löschte. Sogar Netanjahu wagte nicht, den Angriff auf den Iran   und die Erweiterung  der Siedlungen auszusprechen. Aber am Ende profitierte Lapid mehr als Shelly.

Es scheint,  dass Shellys Programm, das sich zielstrebig  auf soziale Gerechtigkeit  konzentrierte, ein Fehler war. Wenn sie sich mit ihrer sozialen Plattform mit  Zipi Livni’s Partei verbunden  und deren  Agenda  für Friedensverhandlung der ihren hinzugefügt hätte, hätte sich ein  ehrgeiziger  Plan erfüllt  und  sie wäre die  Führerin der zweitgrößten Fraktion geworden.

ZIpis Niederlage – nur 6 Sitze – war bedauernswert. Sie hat sich erst vor zwei Monaten dem Wahlkampf angeschlossen, nach  langem Zögern, das  anscheinend ihr  Markenzeichen ist. Ihre  ehrgeizigen Pläne  für  die „politische  Vereinbarung“ mit den Palästinensern – nicht „Frieden“,  Gott bewahre – liefen gegen den Trend.

Diejenigen, die wirklich Frieden wünschen, wählten  (wie ich)  Meretz, die sich  einer  überwältigenden Errungenschaft rühmen konnte; sie verdoppelte ihre Stärke von 3 auf 6. Das ist auch ein großes Merkmal  dieser Wahlen.

Es scheint auch so, als hätte eine Anzahl von Juden ihre Stimme  der hauptsächlich arabisch-kommunistischen Hadash-Partei gegeben, die so auch gestärkt wurde.

DIE GANZE Sache  läuft auf zwei Zahlen hinaus: 60 für den rechten-religiösen Block,  59 für den Mitte-Links-arabischen Block. Ein einziges Mitglied hätte einen großen Unterschied gemacht.  Die arabischen Bürger hätten  leicht dieses Mitglied  liefern können.

Ich merkte, dass alle drei Fernsehstationen ihre Teams in die Hauptquartiere jeder einzelnen jüdischen Partei geschickt hatten, einschließlich jener, die es nicht einmal auf 2% gebracht hatten  (wie –Gott sei Dank – die religiöse-faschistische Kahane-Liste), aber zu keiner der drei arabischen Parteien.

Durch schweigendes Übereinkommen wurden die Araber so behandelt, als gehörten sie nicht dazu. DieLinke (oder Mitte-Links  wie sie lieber genannt werden will)  degradierten sie zur Mitgliedschaft im  „Blocking Block“, zu jenen,, die Netanjahus Fähigkeit,  eine Koalition zu bilden, blockieren könnten. Die Araber selbst wurden nicht gefragt.

Lapid, der schnell  den “blocking Bloc“  los werden wollte,  fertigte den Gedanken  kurz ab, dass er mit Hanin Zoabi  (oder überhaupt mit einer arabischen Partei) im selben Block  sein könnte. Er  verscheuchte auch den Gedanken, dass er dafür kämpft, Ministerpräsident zu werden.  Er war nicht auf solch einen Schritt  vorbereitet, da er überhaupt keine politischen Erfahrungen hatte.

SELBST OHNE den „blockierendem  Bloc“ , wird es für Netanjahu sehr schwierig, eine Koalition zu bilden.

Die Aussicht auf eine reine rechte Koalition ist verschwunden. Es ist unmöglich, mit einer Mehrheit von 61 Sitzen zu regieren. (Auch wenn Netanjahu anfangs solch eine kleine Koalition  zu bilden versuchen wird und darauf hofft, dass sich ihm später noch andere Fraktionen anschließen. Er braucht Lapid, der eine zentrale Figur in der Regierung werden würde. Tatsächlich rief ihn Netanjahu eine Stunde, nachdem die Wahllokale schlossen, an.

Auf jeden Fall wird  Netanjahu eine oder mehrere Zentrumsparteien nötig haben, und das wird die nächste Regierung weniger gefährlich  machen.

WELCHE  LEKTION lernt man aus dieser Wahl?

Der rechts-religiöse Block hat diese Wahlen verloren, aber die „Mitte-Links“ hat  nicht gewonnen, weil sie keinen glaubwürdigen Kandidaten  für das Amt des Ministerpräsidenten  aufweisen konnte, noch eine glaubwürdige alternative Regierungspartei mit einem soliden, umfassenden Entwurf für die Lösung von Israels grundlegenden Problemen.

Um solch eine neue Kraft zu schaffen, ist es absolut unerlässlich, die arabischen Bürger in den politischen Prozess als gleichwertige Partner zu integrieren. Solange man die Araber draußen hält, kastriert sich die Linke selbst. Eine neue jüdisch-arabische Linke, eine Gemeinschaft  mit einer neuen Einstellung, politischen Sprache und Interessen muss geschaffen werden – und diese Neuschaffung muss jetzt gleich beginnen.

Die Schlacht für Israel ist noch nicht verloren. Israels „Bewegung nach rechts“ ist  blockiert und nicht unvermeidbar. Wir Israelis sind viel weniger  verrückt, als wir aussehen.

Diese Schlacht hat mit einem Unentschieden geendet. Die nächste Runde muss gewonnen werden. Es hängt von uns ab.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Wen wählen?

Erstellt von Redaktion am 24. Februar 2013

Wen wählen?

Autor Uri Avnery

IN DREI Tagen werden die Wahlen stattfinden, und sie sind langweilig, langweilig, langweilig.

 Tatsächlich so langweilig, dass sogar über ihre Langweiligkeit zu reden, langweilig ist.

Aus Mangel an irgendeiner Debatte über die wirklichen Probleme werden Medienexperten dahingehend reduziert, dass sie nur die Wahlsendungen diskutieren. Einige sind gut, einige mittelmäßig, einige grauenhaft. Als ob dies ein Wettbewerb zwischen schönrednerischen Pressesprechern, Werbetextern und „Taktikern“ mit einer Öffentlichkeit wäre, die nur danebensteht.

WO IMMER ich auch Leuten begegne, werde ich wirklich besorgt gefragt: „Ich weiß nicht, wen ich wählen soll! Es gibt keine Partei, die ich wirklich schätze!“ und dann die Frage, die ich fürchte: „Was raten Sie mir, wen soll ich wählen?“

Ich habe alle vergangenen 18 Knessetwahlen ernsthaft verfolgt, außer der ersten, weil ich noch Soldat war. In mehreren war ich selbst ein Kandidat. Ich habe immer über die geschrieben, die ich bevorzuge, aber ich habe meinen Lesern nie gesagt, wie sie abstimmen sollen.

So werde ich es auch diesmal tun.

ALS ERSTES: es ist ein absoluter Imperativ zur Wahl zu gehen, es ist nötiger als je. Es geht nicht um ein „Festgelage der Demokratie“, nicht um „zivile Pflicht“ und Ähnliches Bla-bla-bla. Es ist eine lebenswichtige Notwendigkeit.

Eine Nicht-Stimme ist – schlicht und einfach – eine Stimme für Benjamin Netamjahu und seine Anhänger. Wie es jetzt aussieht, wird mehr als die Hälfte der Mitglieder der 19. Knesset zur extremen Rechten und darüber hinaus gehören, von denen – ehrlich gesagt – mindestens ein Dutzend Faschisten sind.

Nicht zu wählen bedeutet, sie sogar zu stärken.

Dies gilt besonders für die arabischen Mitbürger. Die Meinungsumfragen sagen voraus, dass fast die Hälfte von ihnen gar nicht wählen gehen wird. Dafür gibt es viele Gründe: ein allgemeiner Protest gegen den „jüdischen“ Staat, Protest gegen die Diskriminierung, Hoffnungslosigkeit, dass sich nichts ändert, Missbilligung der „arabischen“ Parteien u.a.m. Das sind alles gute Gründe.

Aber Enthaltung bedeutet, dass die arabischen Bürger sich selbst schaden. Wenn ihre Situation jetzt schlecht ist, kann sie noch viel, viel schlechter werden. Das Oberste Gericht, das sie gewöhnlich schützt, kann bis zur Ohnmacht eingeschüchtert werden. Diskriminierende Gesetze können stark vermehrt werden.

Einige von weit rechts wollen ihnen das Recht zu wählen ganz nehmen. Warum ihren Wunsch freiwillig erfüllen?

GEHEN WIR zur aktuellen Wahl.

Meine Methode ist es, alle miteinander wetteifernden Wahllisten in einer wahllosen Reihe zu notieren.

Dann streiche ich all jene aus, die ich nicht wähle, auch wenn mein Leben davon abhängen würde. Das ist der leichte Teil.

Als erstes gibt es den Likud-Beitenu. Der Likud allein ist schon schlimm genug. Die Zusammenlegung mit Avigdor Liebermans Partei Israel Beitenu macht ihn sogar noch destruktiver.

Ich stimme mit Präsident Barack Obama überein, dass Netanjahu uns in eine sichere Katastrophe führt. Diese totale Zurückweisung des Friedens, die Obsession mit den Siedlungen, die Intensivierung der Besatzung – all dies macht Israel (Israel selbst, auch ohne die besetzten Gebiete) unaufhaltsam zu einem Apartheidstaat. Schon während der ausgehenden Knessetperiode sind abscheuliche antidemokratische Gesetze verabschiedet worden. Nun, da all die moderaten Likudmitglieder entfernt worden sind, wird sich dieser Prozess weiter beschleunigen.

Mit Lieberman und seinen Gefolgsleuten, die sich dem Likud angeschlossen haben, sehen die Dinge sogar noch gefährlicher aus. Netanjahu wird noch extremer handeln müssen, aus Angst, die Führung an Lieberman zu verlieren, der jetzt die Nummer Zwei ist. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass es Liebermann noch gelingen wird, ihn irgendwann unterwegs zu ersetzen.

Das Auftauchen von Naftali Bennet als der Stern der Wahlen, macht die Sache noch verzweifelter. Es scheint, eine Regel zu sein, dass auf der israelischen Rechten keiner so extrem ist, dass nicht ein anderer gefunden werden kann. der noch extremer ist.

DIE NÄCHSTE Gruppe, die von der Liste gestrichen wird, ist die religiöse. Sie besteht hauptsächlich aus zwei Parteien, der ashkenazischen „Torah Judentum“-Partei und der orientalisch-sephardischen Shas-Partei.

Beide pflegten, was Krieg und Frieden betrifft, ganz moderat zu sein. Aber diese Zeiten sind seit langem vorbei. Generationen aus engstirnig ethnozentrischer, fremdenfeindlicher Erziehung haben eine Parteiführung fanatischer nationalistischer Rechten erzeugt. Auch Bennett wurde in diesem Lager erzogen.

Als ob dies noch nicht genug wäre: diese Parteien wollen uns die jüdische Halacha überstülpen, so wie die muslimischen Parteien der arabischen Welt die Sharia aufzwingen möchten. Sie sind fast automatisch gegen alle fortschrittlichen Ideen, wie z.B. eine schriftliche Verfassung, Trennung von Synagoge und Staat, zivile Heiraten, gleichgeschlechtliche Ehen, Abtreibung und was es sonst noch gibt. Weg mit der Liste.

VON GANZ anderem Kaliber sind die selbsternannten „Zentrums“-Parteien.

Die größte ist die Labor-Partei unter Shelly Yachimovich, die jetzt etwa bei 15% liegt.

Ich muss bekennen, Shelly mochte ich nie sehr, doch das soll meine Wahl nicht beeinflussen. Sie kann sich mehrerer Erfolge rühmen (Und sie tut es auch). Sie hat eine moribunde Partei übernommen und brachte sie wieder zum Leben. Sie hat neue und attraktive Kandidaten gefunden.

Das Problem ist, dass sie mitgeholfen hat, den Frieden von der nationalen Agenda zu streichen. Sie hat bei den Siedlern und ihren Verbündeten Annäherungsversuche gemacht. Obwohl sie Lippenbekenntnisse zur Zwei-Staaten-Lösung gab, hat sie absolut nichts getan, um diese zu fördern. Ihre einzige Sorge galt der „sozialen Gerechtigkeit“.

Sie hat zwar versprochen, nicht in eine Netanjahu-Lieberman-Regierung einzutreten, aber Erfahrung lehrt, dass man vor der Wahl geäußerte Versprechen nicht allzu ernst nehmen sollte – da lauert immer ein „nationaler Notfall“ um die nächste Ecke. Aber selbst als Vorsitzende der Opposition kann ein Friedensleugner eine Menge Schaden anrichten. Tut mir leid – diese Partei ist auch nichts für mich.

Shellys Hauptkonkurrentin ist Zipi Livni. So wie es aussieht, ist Livni genau das Gegenteil von ihr. Ihr Haupt- und fast einziges Wahlargument ist die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Mahmoud Abbas.

Sehr gut, aber Zipi und ihr früherer Boss, Ehud Olmert, waren fast vier Jahre an der Macht, während derer sie zwei Kriege anstifteten (Libanon II und Cast Lead im Gazastreifen) – und nicht einmal in die Nähe zum Frieden kamen. Warum soll man ihr jetzt glauben?

Ich habe von Zipi kein einziges Wort der Sympathie oder des Mitgefühls für das palästinensische Volk gehört. Mein Verdacht ist, dass sie wirklich an einem „Friedensprozess“ interessiert ist, aber nicht am Frieden selbst.

EIN INTERESSANTER Charakter bei diesen Wahlen ist Yair Lapid. Wofür steht er? Er sieht gut aus. Früher war er ein Fernsehansager. Er stand für gutes Fernsehen, das einzige Schlachtfeld bei diesen Wahlen. Sein Programm gleicht dem des amerikanischen „Mutterschaft und Apfelkuchen“.

Er erinnert mich an Groucho Marx: „ Dies sind meine Prinzipien. Wenn du sie nicht magst, ich hab auch noch andere.“

Für mich ist er „Diät Lapid“ verglichen mit seinem verstorbenen Vater „Tommy“ Lapid, der auch vom Fernsehen zur Politik kam. Vater Lapid war ein viel komplizierterer Charakter: sehr sympathisch beim persönlichen Kontakt, sehr aggressiv im Fernsehen, ein extremer Rechter in nationalen Dingen und ein extremer Feind des religiösen Lagers. Sein Sohn bittet nur: stimm‘ für mich, ich bin ein netter Kerl.

Er macht aus seinem Verlangen kein Geheimnis, unter Netanjahus Regierung ein Minister zu werden. Tut mir leid, diese Partei ist auch nicht für mich.

WENN MAN die arabisch-nationale Listen ignoriert, die an jüdischen Stimmen nicht interessiert sind, und jene Listen, von denen nicht erwartet werden kann, dass sie die 2%.Hürde schaffen, dann bleiben nur noch zwei Kandidaten auf der Liste: Hadash und Meretz.

Beide sind nahe an dem, von dem ich denke, dass es richtig ist: sie sind aktiv im Kampf um Frieden mit dem palästinensischen Volk und für soziale Gerechtigkeit engagiert.

Welche soll man wählen?

Hadash ist im Grunde das öffentliche Gesicht der kommunistischen Partei. Sollte mich das abschrecken?

Ich bin nie Kommunist oder Marxist gewesen. Ich würde mich als Sozialdemokrat bezeichnen. Ich habe viele Erfahrungen mit der Kommunistischen Partei, einige positive und viele negative. Es fällt mir nicht leicht, ihre orthodoxe stalinistische Vergangenheit zu vergessen. Aber das ist nicht der Punkt. Wir wählen nicht für die Vergangenheit, sondern für die Zukunft.

Hadash definiert sich selbst – und das spricht für sie – als eine gemeinsame arabisch-jüdische Partei, die einzige gemischte. (Die Partei, die ich 1984 mit zu gründen half, hat nach acht Jahren ihren Schwung verloren und verschwand.) Jedoch für die große Mehrheit der Israelis ist es eine „arabische Partei“, da mehr als 95% ihrer Wähler Araber sind. Sie hat zwar ein jüdisches Knesset-Mitglied, den sehr aktiven und lobenswerten Dov Chanin. Wenn er an der Spitze einer eigenen Liste stünde, könnte er viele junge Wähler anziehen und – durchaus denkbar – die Wahllandschaft verändern.

ALLES in ALLEM bevorzuge ich Meretz, wenn auch nicht mit Begeisterung.

Um diese 1973 gegründete Partei gibt es etwas Altes und Trostloses. Sie sagt all die richtigen Dinge über Frieden und soziale Gerechtigkeit, über Demokratie und Menschenrechte. Aber sie sagt es in einem müden und lustlosen Ton. Es gibt keine neuen Gesichter, keine neuen Ideen, keine neuen Slogans.

Eine große Anzahl führender Intellektueller, Schriftsteller und Künstler haben öffentlich dazu aufgerufen für Meretz zu stimmen. (Die Partei tat sich schwer, in diese Liste auch Linke ohne klare „zionistische“ Referenzen aufzunehmen.)

Im Großen und Ganzen gesehen, ist Meretz unter den gegebenen Umständen noch die beste Wahl. Eine bedeutende Zunahme ihrer Präsenz in der Knesset würde wenigstens Hoffnung für die Zukunft wecken.

UND ES ist die Zukunft, die zählt. Am Tag nach diesen katastrophalen Wahlen sollten die Bemühungen, eine andere Wahllandschaft zu schaffen, beginnen. Niemals wieder sollten wir mit solch einem Dilemma konfrontiert werden.

Hoffen wir, dass wir in nächster Zeit – die sehr bald sein könnte – die Chance haben, mit Begeisterung eine dynamische Partei zu wählen, die unsere Überzeugungen und Hoffnungen verkörpert.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Willkommen, Chuck!

Erstellt von Redaktion am 17. Februar 2013

Willkommen, Chuck!

Autor Uri Avnery

CHUCK HAGEL gefällt mir sehr. Ich bin nicht ganz sicher, warum.

Vielleicht ist es sein Kriegserlebnis. Er wurde für seine Tapferkeit im Vietnam-Krieg (den ich verabscheute) ausgezeichnet. Er war nur ein Sergeant. Da ich nur ein Korporal in unserm Krieg von 1948 war, sehe ich mit Begeisterung, dass ein Unteroffizier Verteidigungsminister werden soll.

Wie so viele Veteranen, die den Krieg aus nächster Nähe erlebt haben (wie ich auch), ist er ein Kriegsfeind geworden. Großartig!

JETZT WIRD Hagel von allen Neo-Con-Kriegstreibern wild angegriffen – fast keiner von ihnen hat jemals in Kriegen, in die sie andere schickten, eine Kugel an sich vorbei pfeifen gehört. Auch die vereinigten politischen Regimenter des amerikanisch jüdischen Establishments greifen ihn an.

Seine größte Sünde scheint die zu sein, dass er sich dem Krieg gegen den Iran widersetzt. Gegen einen Angriff auf den Iran zu sein, bedeutet antiisraelisch, antisemitisch zu sein und tatsächlich die Zerstörung Israels, wenn nicht gar aller Juden zu wollen. Es ist egal, dass fast alle gegenwärtigen und früheren israelischen Militär- und Nachrichtendienstchefs auch gegen einen Angriff auf den Iran sind.

Aber Benjamin Netanjahu weiß es besser.

In der letzten Woche malte der frühere hoch gelobte Chef des Shin Bet ein erschreckendes Bild von Benjamin Netanjahu und Ehud Barak bei einem Sicherheitstreffen, bei dem vor einiger Zeit über die Bombardierung des Iran diskutiert wurde. Die beiden waren in Hochstimmung, rauchten Zigarren und tranken Whisky – sehr zum Missfallen der versammelten Sicherheitschefs. In Israel werden Zigarren als protziger Luxus angesehen, und während der Arbeit Alkohol zu trinken, ist ein Tabu.

Tatsächlich, denke ich, ist die Ernennung von Hagel für Netanjahu eine Erleichterung. Nach all den Jahren, als die die iranischen Atombombe als das Ende der Welt, oder wenigstens Israels dargestellt wurde, ist die Bombe auf geheimnisvolle Weise aus Netanjahus Wahlkampagne verschwunden. Hagels Ernennung kann Netanjahu erlauben, von diesem Baum ganz und gar herunter zu klettern.

Aber der Katalog von Hagels Verbrechen ist viel umfangreicher.

Vor vielen Jahren nannte er die pro-Israel-Lobby in Washington die „Jüdische Lobby. (Unerhört!) Bis dahin glaubte man wohl, die AIPAC -Mitglieder ——- Buddhisten seien, die hauptsächlich von arabischen Milliardären finanziert würden, wie Abu Sheldon und Abel al-Adelson.

DOCH HAGELS abscheulichste Sünde wird nicht oft erwähnt. Während er als republikanischer Senator von Nebraska wirkte, äußerte er einmal die unaussprechlichen Worte: „Ich bin ein amerikanischer Senator und kein israelischer Senator!“

Hier liegt der Hase im Pfeffer.

US-Senatoren sind fast alle israelische Senatoren, und dasselbe gilt auch für die US-Kongressmänner. Kaum ein einziger von ihnen würde es wagen, die israelische Regierung bei irgendeinem Problem zu kritisieren, auch wenn es noch so klein wäre. Israel zu kritisieren, ist politischer Selbstmord. Die jüdische Lobby verwendet ihre riesigen Ressourcen nicht nur dafür, dass loyale pro-Israel-Leute gewählt und wiedergewählt werden, sondern nützt diese Ressourcen offen dafür, dass die paar Gewählten, die es wagen, Israel zu kritisieren, abgewählt werden. Sie haben fast immer Erfolg.

In seiner gegenwärtigen Wahlkampagne zeigt der Likud immer, immer wieder die Szene, als Netanjahu vor dem US-Kongress eine Rede hielt. Man sieht wie die die Senatoren und Kongressleute nach jedem einzelnen Satz applaudieren, auf und abspringen wie Kinder im Turnunterricht. Der Text des Ausschnitts besagt: „ Wenn Netanjahu spricht, hört die Welt zu!“

(Etwas Komisches: direkt nach dieser schimpflichen Szene zeigt der TV- Ausschnitt, wie sich Netanjahu an die UN-Vollversammlung wendet. Da der Applaus dort gering war – kaum einer außer Avigdor Lieberman und die andern Mitglieder der israelischen Delegation applaudierten in der halb leeren Halle – verwendeten die Editoren des Ausschnitts einen kleinen Trick: sie nahmen den Applaus aus dem US-Kongress und verlegten ihn in die UN-Versammlungshalle.)

Irgendjemand sandte mir eine Satire: wenn Hagels Ernennung vom US-Senat nicht abgewiesen werden sollte, wird Israel sein Veto-Recht anwenden müssen, um dies zu blockieren. In solch einem Fall würde der Senat eine 90%ige Mehrheit aufbringen müssen, um das Veto zu überwinden. Falls dies fehlschlagen sollte, müsste Präsident Obama einen anderen Verteidigungsminister aus der Liste von drei durch Netanjahu zusammenstellte drei Namen wählen.

Spaß beiseite, das israelische Verteidigungsestablishment macht sich über die Ernennung Hagels keine Sorgen. Es scheint ihn als jemanden zu kennen, der israelischen Forderungen gerne nachgibt. Mehrere israelische Generäle haben ihn schon verteidigt.

DIESE GANZE Episode könnte als Belanglosigkeit angesehen werden oder sogar als Spaß, wäre da nicht die Frage: warum ernannte Präsident Obama diese kontroverse Person an erster Stelle?

Eine eindeutige Antwort ist: es ist ein Racheakt. Obama hat seine Emotionen unter Kontrolle. Während all der Monate, in denen Netanjahu Mitt Romney unterstützte, reagierte Obama nicht. Aber seine Wut muss sich in ihm aufgestaut haben.

Nun ist die Zeit gekommen. Hagel zu ernennen und die pro-Israel-Lobby zu demütigen, kam auf eines heraus. In Zukunft kann noch mehr dergleichen erwartet werden. Jeder kleine Stoß aus Amerika wird in Israel als schwerer Schlag empfunden.

Übrigens könnte dieser Schlag von den oppositionellen Parteien hier benützt werden, um Netanjahu ausgesprochene Inkompetenz vorzuwerfen. Romney zu unterstützen, war einfach dumm. Um so mehr als Netanjahu, der in den USA aufgewachsen ist, sich selbst als Experte von US-Angelegenheiten sieht. Aber keine Partei wagt es, dieses Thema in unserer Wahlkampagne anzusprechen, aus Furcht nicht als Super-Patriot angesehen zu werden.

Ich erwarte nicht, dass Präsident Obama in nächster Zeit seine Haltung gegenüber Israel verändert, außer einigen kleinen Strafen wie diese hier. Aber wenn wir unsere Augen zum Horizont erheben, sähe das Bild anders aus.

Es gibt schon einen merklichen Unterschied zwischen Obama I und Obama II. Als er zum ersten Mal gewählt wurde, wählte er Chas Freemann, einen hoch geachteten Diplomaten, zum Chef des Nationalen Sicherheitsrates. Die pro-Israel-Lobby wandte sich stürmisch dagegen, und die Ernennung wurde zurückgenommen. Obama zog damals eine öffentliche Demütigung einer Konfrontation mit der Lobby vor. Wie anders ist es diesmal!

Dieser Wandel dürfte in Obamas zweiter Amtszeit sehr viel markanter ausfallen. Der Griff der Lobby auf Washington DC lockert sich ein leicht, langsam, aber deutlich.

WARUM?

Ich glaube, dass einer der Gründe der ist, dass die Wahrnehmung der amerikanisch jüdischen Öffentlichkeit sich verändert. Amerikanische Politiker beginnen zu realisieren, dass die jüdischen Wähler weit davon entfernt sind, einmütig hinter der Lobby zu stehen. Die amerikanisch jüdischen „Führer“, fast alle selbst ernannt und niemand vertretend, aber eine kleine Clique von professionellen Vertretern, wie auch die israelische Botschaft und einigen rechten Milliardären beherrschen die jüdischen Wähler nicht.

Dies wurde klar, als Netanjahu Romney unterstützte. Die Mehrheit der jüdischen Wähler unterstützte weiter Obama und die demokratische Partei.

Das ist keine plötzliche Entwicklung. Seit Jahren haben sich amerikamische Juden, besonders die jungen Juden, vom jüdischen Establishment distanziert. Sie wurden von der offiziellen israelischen Politik immer mehr desillusioniert: von der Besatzung befremdet, angewidert von den Bildern israelischer Soldaten, die hilflose Palästinenser zusammenschlagen; sie haben sich leise davon gemacht. Leise, weil sie eine antisemitische Reaktion befürchten. Juden werden von früher Kindheit an indoktriniert, dass „wir Juden zusammenhalten müssen“ angesichts der Antisemiten.

Nur ein paar tapfere amerikanische Juden sind bereit, offen – wenn auch zaghaft – Israel zu kritisieren. Aber die US-Politiker sind langsam dabei, sich der Tatsache zu stellen, dass ein großer Teil der Lobbystärke auf Bluff beruht und dass die meisten amerikanischen Juden ihr Wahlverhalten nicht von Israel bestimmen lassen.

DIE AMERIKANER müssen fast wie Engel sein – wie sollte man sonst ihre unglaubliche Geduld erklären, mit der sie die Tatsache hinnehmen, dass auf einem lebenswichtigen Sektor der US-Interessen die amerikanische Politik von einem fremden Land diktiert wird?

Mindesten seit fünf Jahrzehnten ist die Nahostpolitik der USA in Jerusalem entschieden worden. Fast alle amerikanischen Offiziellen, die sich mit diesem Gebiet befassen sind jüdisch. Der hebräisch sprechende amerikanische Botschafter in Tel Aviv konnte leicht durch den Botschafter in Washington ausgetauscht werden. Manchmal frage ich mich, ob sie bei Treffen amerikanischer und israelischer Diplomaten nicht manchmal ins Jiddische geraten.

Ich habe viele Male davor gewarnt, dass dies nicht auf immer so gehen kann. Früher oder später werden echte Antisemiten – eine widerliche Brut – diese Situation ausnützen, um Legitimität zu erlangen. Die Hybris von AIPAC könnte giftige Früchte tragen.

Seit Israel auf jedem Gebiet von US-Unterstützung abhängig ist – vom UN-Sicherheitsrat bis zu den Schachtfeldern zukünftiger Kriege – ist dies eine reale existentielle Gefahr.

Vielleicht ist die Lobby von dieser Gefahr alarmiert worden. In der augenblicklichen Affäre ist ihre Stimme bemerkenswert gedämpft. Sie wollen nicht auffallen.

DER TRAURIGSTE Teil der Geschichte ist, dass alle diese falschen „Freunde Israels“ im US-Kongress und in den amerikanischen Medien „Israel“ nicht wirklich umarmen. Sie umarmen Israels rechten Flügel, einschließlich des extremen und sogar des faschistischen rechten Flügels. Dadurch helfen sie dem rechten Flügel, ihre Macht über unser Land zu verstärken.

Die amerikanische Politik spielt eine große Rolle in der Agonie des israelischen Friedenslagers, die in der gegenwärtigen Wahlkampagne so offenkundig wird. Nur ein Beispiel: die riesigen Siedlungsbemühungen, die jetzt im Gange sind und die die Zwei-Staaten-Lösung mit Frieden immer schwieriger machen, werden von amerikanischen Juden bezahlt, die ihre Spenden über steuerfreie Organisationen schleusen. Auf diese Weise finanziert praktisch die US-Regierung die Siedlungen, die sie offiziell als illegal verurteilt.

Seit dem 19. Jahrhundert haben Zeitungen sich daran gewöhnt, ihre Berichte mit der Redensart „Frankreich protestiert“ und „Deutschland erklärt“ abzukürzen, wenn sie „die französische Regierung protestiert“ und „die deutsche Regierung erklärt“ meinen. So schreiben die Medien heute, dass „Israel“ die Siedlungen fördert, wenn es tatsächlich die israelische Regierung ist, die das tut. Mehrere geachtete Meinungsumfragen der letzten Zeit beweisen, dass die meisten Israelis Frieden auf der Basis einer Zwei-Staaten-Lösung wünschen, die aber von unserer Regierung täglich unterlaufen wird.

ZURÜCK ZU Senator Hagel: die israelische Regierung und die „Freunde Israels“ werden alles tun, um seine Ernennung zu unterminieren.

Was mich selbst betrifft, so hoffe ich, dass diese Ernennung eine neue amerikanische Politik ankündigt – eine Politik der Unterstützung für ein vernünftiges, rationales, liberales, säkulares, demokratisches Israel, das sich um Frieden mit den Palästinensern bemüht.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Eigenartige Wahlen

Erstellt von Redaktion am 10. Februar 2013

Eigenartige Wahlen

Autor Uri Avnery

IN EIN paar hundert Jahren wird ein Professor, der ein besonderes esoterisches Thema sucht, seine Studenten bitten, die israelischen Wahlen von 2013 zu untersuchen.

Die Studenten werden mit einem einmütigen Bericht zurückkommen: „Die Ergebnisse unserer Forschung sind unglaublich.“

Sie berichten, dass die israelischen Parteien und deren Wähler, die sich drei schweren  Bedrohungen gegenüber sahen, diese einfach ignoriert haben. Wie bei einer Verschwörung, beschlossen sie untereinander, einfach nicht über diese Bedrohungen zu sprechen. Stattdessen argumentierten und stritten sie über völlig unbedeutende und irrelevante Themen.

EINE BEMERKUNGSWERTE Tatsache war, dass die Wahlen vor ihrer Zeit stattfanden – sie hätten eigentlich im November 2013 stattfinden müssen – weil der Premierminister nicht in der Lage war, die Zustimmung der Knesset für das jährliche Staatsbudget zu bekommen.

Das vorgeschlagene Budget basierte auf der Tatsache, dass der Staat ein hohes Defizit entwickelt hatte, so dass drastische Maßnahmen unvermeidbar waren. Steuern mussten daher drastisch erhöht werden und soziale Leistungen mussten sogar noch mehr gekürzt werden als in den letzten vier Jahren unter der Führung von Benyamin Netanyahu.

(Dies hielt übrigens Netanyahu nicht davon ab, bei der Wahlkampagne zu verkünden, die israelische Wirtschaft sei in ausgezeichneter Verfassung und überträfe die Wirtschaft der größten westlichen Länder bei weitem.)

Im Vergleich dazu: Die kürzlichen Wahlen in den USA wurden auch im Schatten einer schweren Finanzkrise abgehalten. Zwei Grundkonzepte für die Lösung wurden von den Antagonisten präsentiert, die Hauptdebatte handelte von dem Defizit, von Steuern und sozialen Leistungen. Diese ging auch nach den Wahlen weiter und nur im letzten Augenblick vor dem Staatsbankrott wurde eine Art Kompromiss erreicht.

Nichtsdergleichen in Israel. Da gab es überhaupt keine Debatte.

Sicher, die Arbeiterpartei, für die man zirka 15 % der Wähler-Stimmen erwartet, kam tatsächlich mit einem grandiosen Wirtschaftsplan für die nächsten Jahre heraus, bei dem wichtige Universitätsprofessoren beteiligt waren. Aber dieser Plan war ziemlich irrelevant im Hinblick auf das riesige Problem, mit dem der Staat schon am Tag nach den Wahlen konfrontiert wurde: Wie auf einen Schlag das Loch im 2013-Budget mit dutzenden Milliarden Schekel füllen?

Der Likud verlor kein Wort über das Budget, das er der Knesset präsentieren wollte. Weder die Labor Party erwähnte es, noch irgendeine der anderen Dutzend oder so Parteien, die konkurrierten.

Wenn wir unsere Stimmen in die Wahlurne stecken, was wählen wir? Sicherlich weit höhere Steuern. Aber Steuern für wen? Werden die Reichen mehr bezahlen, oder wird die sagenhafte „Mittelklasse“ mehr bezahlen? Was wird gekürzt werden – die Unterstützung für die Behinderten, die Kranken, die Alten, die Arbeitslosen? Was ist mit dem ungeheuren Militärbudget? Das Budget für die Siedler? Wird Israel seine günstige Bonitätseinstufung verlieren? Rutschen wir in eine schwere Depression ab?

Es ist offensichtlich, weshalb keine Partei in die Details gehen will – jeder Vorschlag wird sie Stimmen kosten. Aber wir, das Volk – weshalb lassen wir sie so einfach davonkommen? Warum verlangen wir keine Antworten? Warum geben wir uns mit belanglosen Allgemeinheiten zufrieden, die niemand ernst nimmt?

Rätsel Nr. 1

ISRAEL wird mit einer ernsthaften Verfassungskrise konfrontiert – wenn man überhaupt solch ein Wort in einem Staat benutzen darf, der keinerlei Verfassung besitzt.

Die EDINO („Einzige Demokratie im Nahen Osten“) wird von innen heraus, auf breiter Front bedroht.

Mit der naheliegendsten Gefahr sieht sich der Oberste Gerichtshof, die stärkste verbliebene Bastion von dem, was einst eine florierende Demokratie war, konfrontiert. Der Gerichtshof versucht – eher schüchtern – die eklatantesten Aktionen und Gesetze der rechten Mehrheit der Knesset zu verhindern. Anträge an das Gericht auf Aufhebung von antidemokratischen Gesetzen werden um Jahre verschoben. (einschließlich meines eigenen Antrags auf Aufhebung des Gesetzes, das erhebliche Strafen gegen jeden erhebt, der einen Boykott von Siedlungsprodukten befürwortet. Der Fall – „Avnery gegen den Staat Israel“ – wird immer und immer wieder verschoben.)

Aber dieses furchtsame – einige würden sagen feige – Verhalten des Obersten Gerichtshofes lindert nicht den Zorn der Rechten. Naftali Bennett, der Führer der  die bei diesen Wahlen am schnellsten wachsende Partei (innerhalb von ein paar Wochen wuchs sie von 6 auf 12%) verspricht, den Gerichtshof mit seinen Favoriten zu versehen.

Israelische Richter werden von einem Komitee ernannt, bei dessen Sitzungen amtierende Richter eine große Rolle spielen. Bennett und seine Verbündeten in der Likudpartei wollen diese Regeln ändern, so dass die Richter von rechten Politikern gewählt würden. Sein erklärtes Ziel: „juristischem Aktivismus“ ein Ende zu setzen und dem Gerichtshof die Macht zu entziehen, antidemokratische Gesetze aufzuheben und administrative Beschlüsse zu blockieren, wie zum Beispiel Siedlungen auf privatem palästinensischem Land zu errichten.

Die israelischen Medien werden bereits weitgehend gedrosselt, ein schleichender Prozess, der dem nicht gänzlich unähnlich ist, was die Deutschen einmal „Gleichschaltung“ nannten.

Alle drei TV-Kanäle sind mehr oder weniger bankrott und hängen von staatlichen Gnaden ab. Ihre Redakteure sind praktisch Regierungsangestellte. Die Presse steht auch kurz vor einem Bankrott, mit Ausnahme der größten Zeitung, die Sheldon Adelson gehört und ein Netanyahu-Propagandablatt ist, das kostenlos verteilt wird. Bennett wiederholt die lächerliche Behauptung, fast alle Journalisten seien Linke (gleichbedeutend mit Verrätern). Er verspricht, dieser unhaltbaren Situation ein Ende zu bereiten.

Bennetts Äußerungen sind nur ein klein wenig extremer als die des Likuds und der religiösen Parteien.

Bei dem jährlichen Treffen der Leiter der diplomatischen Missionen Israels aus aller Welt, fragte ein ranghoher Diplomat, weshalb die Regierung gerade jetzt den Bau einer riesigen neuen Siedlung in Ostjerusalem angekündigt habe, eine Entscheidung, die von der ganzen Welt verurteilt wird. Die Frage wurde von den Diplomaten mit lautem Beifall begrüßt. Netanyahus Sprecher, der bis vor kurzem der höchste orthodoxe, Kipa tragende Armeeoffizier war, sagte den Diplomaten kurz und bündig, dass sie zurücktreten sollten, wenn sie die Politik der Regierung in Frage stellten.

Einige Wochen zuvor entschied der kommandierende General in der besetzten Westbank, der Hochschule in der Siedlung Ariel den Grad einer Universität zu verleihen. Es dürfte wohl die einzige Universität der Welt sein, die auf Erlass eines Armeegenerals gegründet wurde.

Es gibt natürlich nicht das geringste Zeichen von Demokratie und von Menschenrechten in den besetzten Gebieten. Allen NROs, die versuchen, die Geschehnisse vor Ort zu überwachen, droht der Likud an, deren internationale Finanzierung zu unterbinden.

Entfacht dieser Prozess einer Entdemokratisierung eine wütende Debatte bei diesen Wahlen? Keineswegs, abgesehen von einigen kläglichen Protesten. Damit fängt man ja keine Stimmen ein.

Das ist Rätsel Nr. 2

ABER DAS größte Rätsel betrifft die gefährlichste Bedrohung: die Frage von Krieg und Frieden. Sie ist fast völlig aus der Wahlkampagne verschwunden.

Zipi Livni hat die Verhandlungen mit den Palästinensern als eine Art Wahltrick eingesetzt – ohne Emotionen und das Wort „Frieden“ so weit wie möglich umgehend. Alle anderen Parteien, mit Ausnahme der kleinen, Meretz und Hadash, erwähnen dies mit keinem Wort.

In den kommenden vier Jahren könnte die offizielle Annektierung der Westbank an Israel zur Realität werden. Die Palästinenser wären in kleinen Enklaven eingeschlossen, die Westbank mit viel mehr Siedlungen gefüllt, eine gewalttätige Intifada würde ausbrechen, Israel wäre in der Welt isoliert, ja sogar die lebenswichtige amerikanische Unterstützung könnte ins Wanken geraten.

Wenn die Regierung ihren derzeitigen Kurs fortsetzt, wird das zu einem sicheren Desaster führen – das gesamte Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordanfluss wird zu einer Einheit unter israelischer Herrschaft werden. Dieses Groß-Israel   wird aus einer arabischen Mehrheit und einer schwindenden jüdischen Minderheit bestehen und   wird unvermeidbar zu einem Apartsheidsstaat, der von einem ständigem Bürgerkrieg geplagt wird und den die Welt meidet.

Wenn der Druck von außen oder von innen die Regierung eventuell dazu zwingen wird, der arabischen Mehrheit Zivilrechte einzuräumen, wird das Land zu einem arabischen Staat. 134 Jahre zionistischer Bemühung wird zunichte gemacht, eine Wiederholung des Königreichs der Kreuzritter.

Dies ist so offensichtlich, so unvermeidlich, dass man eine eiserne Entscheidung braucht, um nicht daran zu denken. Es scheint so, als ob alle größeren Parteien diese Entscheidung bei diesen Wahlen getroffen haben. Über Frieden zu sprechen, glauben sie, sei Gift. Die Westbank und Ostjerusalem für den Frieden zurückgeben? Nicht darüber nachdenken, Gott bewahre!

Die seltsame Tatsache ist, dass diese Woche zwei anerkannte Umfragen – unabhängig voneinander – zum selben Schluss kamen: die große Mehrheit der israelischen Wähler ist für die „Zweistaaten-Lösung“, die Schaffung eines Palästinenserstaates in den Grenzen von 1967 und für die Teilung Jerusalems. Diese Mehrheit umfasst auch die Mehrheit der Likud-Wähler und sogar etwa die Hälfte der Anhänger Bennetts.

Wie kommt das? Die Erklärung liegt in der nächsten Frage: Wie viele Wähler glauben, dass diese Lösung umsetzbar ist? Die Antwort: fast keiner. In Dutzenden von Jahren wurden die Israelis einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie sollten glauben, dass „die Araber“ keinen Frieden wollen. Selbst wenn diese sagen, dass sie ihn wollen, sei dies eine Lüge.

Wenn Frieden unmöglich ist, weshalb darüber nachdenken? Weshalb ihn in der Wahlkampagne erwähnen? Warum nicht 50 Jahre zurückgehen und behaupten, die Palästinenser existierten überhaupt nicht?

So, das ist Rätsel Nr. 3.

DIE STUDENTEN in ein paar hundert Jahren könnten zu der Schlussfolgerung kommen: „Jene israelischen Wahlen waren wirklich eigenartig, besonders, wenn man bedenkt, was in den Jahren danach geschah. Wir haben keine vernünftige Erklärung dafür gefunden.“

Der Professor könnte dann traurig seinen Kopf schütteln.

(Aus dem Englischen: Inga Gelsdorf, vom Verfasser autorisiert)

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Eine Person, die man Niemand nennt

Erstellt von Redaktion am 3. Februar 2013

Eine Person, die man Niemand nennt

Autor Uri Avnery

PLÖTZLICH wird mir bewusst, dass ein neuer Stern am politischen Firmament Israels erschienen ist. Bis gestern wusste ich nicht einmal etwas von seiner Existenz.

Eine geachtete öffentliche Meinungsumfrage stellte eine nixoneske ??? Frage: Von welchem Politiker würden Sie einen Gebrauchtwagen kaufen? Die Antwort war überwältigend. Kein einziger Politiker erreichte 10%. Außer einem, dem beachtliche 34% der möglichen Stimmberechtigten vertrauen würden: ein gewisser „Niemand“.

Dies war nicht die einzige Frage, dem die Wähler eine merkliche Vorliebe zeigten: einem mysteriösen Kandidaten. Als sie gefragt wurden, mit welchem Kandidaten sie gerne einen Abend verbringen würden, waren es nur 5%, die Shelly Yachmovitch bevorzugten, und sogar den glatten//sanften Benjamin Netanjahu zogen nur 20 % an, während „Niemand“ die Liste leicht mit 27% anführte.

Wem vertrauen Sie am meisten? Wieder gewann „Niemand“ mit 22%, ihm folgte Netanjahu mit 18%. Wer sorgt sich am meisten für Sie und Ihre Probleme? 33% stimmten für Niemand, weit danach folgte Shelly mit 17% und Netanjahu mit nur 9%.

Ich bin diesem Niemand nie begegnet. Ich weiß nicht einmal, ob er männlich oder weiblich ist, jung oder alt. Warum hatte er/sie nicht eine neue Partei gegründet, damit man sieht, dass dies ein todsicherer Tipp ist?

Da es zu spät ist, sich in den Kampf einzulassen, ist es absolut sicher, dass Netanjahu der große Sieger sein wird. Er wird der nächste Ministerpräsident. Er hat einfach keinen Konkurrenten.

IN VIELEN Sprachen, einschließlich Hebräisch, spricht man von einem „politischen Spiel“.

Doch so viel ich weiß, hat sich keiner bis jetzt ein richtiges Spiel ausgedacht, nicht einmal für Kinder.

Ich habe mir die Mühe gemacht, dies zu tun. Ich hoffe, dass es einigen meiner Leser helfen wird, sich an einem langweiligen Abend, wenn im Fernsehen keine „Realität“ gezeigt wird, die Zeit zu vertreiben.

Das Spiel geht nach Art von Lego. Jeder Block vertritt eine der Parteien. Das Ziel ist eine Regierungskoalition aufzustellen.

Da die Knesset 120 Mitglieder hat, benötigt man 61, um eine Regierung zu bilden. Man fühlt sich natürlich mit 65 sicherer, da eine große Anzahl von Mitgliedern immer in der Welt herumreist und für entscheidende Abstimmungen verzweifelt nach Hause gerufen werden muss. Israelis reisen gerne durch die Welt, besonders dann, wenn jemand anders (z.B. die Knesset) die Reisekosten übernimmt.

Um eine Koalition zusammen zu stellen, sollte man die folgenden Prinzipien befolgen:

Als erstes muss die eigene Partei stark genug sein, um jede mögliche Opposition innerhalb der Regierung selbst zu überwinden.

Die Koalition muss ausgeglichen sein, so dass man immer in der Mitte eines Problems ist.

Sie muss genug Mitglieder einschließen, so dass keine einzelne Partei groß genug ist, um die eigene durch Drohung zu erpressen, sie würde die Regierung am Vorabend einer entscheidenden Abstimmung verlassen.

Einige unglückliche Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt haben diesen Job in der Vergangenheit so hart gefunden, dass sie den Staatspräsidenten um eine Verlängerung der Zeit ersuchen mussten, die ihnen gesetzlich zustand.

Tatsächlich ist dies die wichtigste aller Entscheidungen, die man bis zu den nächsten Wahlen machen muss, einschließlich der Entscheidung über Kriege und Ähnliches. Wenn man hier etwas verkehrt macht, wird die Regierung irgendwann in einer Katastrophe enden.

DIE MEINUNGSUMFRAGEN zeigen, dass man dieses Mal einen verhältnismäßig leichten Job haben wird. Es wird von eurer/der Fähigkeit abhängen, wie erfolgreich das Ergebnis sein wird.

Zunächst das Aufbauen der Blöcke, die man auswählen muss.

Von der eigenen Liste, von Likud Beitenu, die man mit Avigdor Liebermans zusammen gelegt hat, wird erwartet, dass sie zwischen 35 und 40 Sitzen gewinnt. Alle andern Parteien werden bedeutend kleiner sein. Es gibt keine Partei, die zwischen 20 und 35 Sitzen rangiert.

Shellys Labor-Partei liegt zwischen 15 und 20 Sitzen und steht in Konkurrenz mit vier Parteien zwischen 9 und 15. Diese sind Zipi Livnis „Bewegungs-Partei ( die wirklich so heißt); Yair Lapids „Es gibt eine Zukunft“ (im Gegensatz zu jenen, die glaubten am 21.Dezember geht die Welt unter); die orientalisch-orthodoxe Chas-Partei und Naftali Bennetts „ Jüdisches-Heim“-Partei.

Naftali Bennett– Wer ist das? Er ist die große Überraschung dieser Wahlen. Er erschien von nirgend woher, ein erfolgreicher Hightech-Unternehmer mit einer winzigen Kippa, dem eine feindselige Übernahme der zum Scheitern verurteilten religiös-nationalen Partei gelungen ist. Es ist ihm gelungen, all ihre ehrwürdigen Führer hinauszuwerfen und der einzige Führer zu werden. Innerhalb weniger Wochen hat er bei der Umfrage die Anzahl der Parteiensitze verdoppelt, indem er Netanjahu von der rechten Flanke her angegriffen und Meinungen geäußert hat, die einige für ausgesprochen faschistisch halten.

Woher hat Bennett seine Sitze bekommen? Vom Likud natürlich. Bennett war einmal der Stabschef im Büro von Netanjahu; er machte aber einen fatalen Fehler, indem er mit Sarah’le, der Frau des Bosses in Konflikt geriet (manche sagen: mit dem wirklichen Boss). Nun wütet eine wilde Schlacht. Bennett klagt Netanjahu an , er würde die Zwei-Staaten-Lösung unterstützen, (an die keiner in Israel und in der Welt glaubt) und Netanjahu greift Bennett an , er habe als Soldat – Major der Reserve – einem Befehl nicht gehorcht, nachdem er „ einen Juden nicht aus seinem Haus entfernt hätte. Das in Frage kommende Haus ist natürlich in einer Siedlung auf palästinensischem Land.

Seit der Likud seit den letzten Vorwahlen selbst extremer und durch die Zusammenlegung mit Liebermans Kohorten sogar noch extremer wurde, wird die drohende Konfrontation mit Bennett ein spannender Kampf zwischen der Extremen Rechten und der noch Extremeren Rechten sein. Es gibt auch noch die Extremste Rechte: Die Anhänger des verstorbenen, unbeweinten Rabbi Meir Kahane, die wahrscheinlich doch nicht die zwei Prozenthürde nehmen.

Zurück zur Parteienliste: abgesehen von der Likud und den fünf „mittelgroßen“ Parteien gibt es sechs kleine Parteien. Der bei weitem bedeutendste von ihnen ist der Ashkenasi-Orthodoxe Block, „Tora Judentum“; dann ist da noch die Meretz, die einzig jüdische Partei, die zugibt, dass sie zum linken Flügel gehört. Gleichgroß sind die drei arabischen Parteien (einschließlich der Kommunisten, die hauptsächlich arabisch sind, aber auch einen jüdischen Kandidaten hat).

Und dann gibt es noch die arme Kadima, die größte Partei in der auslaufenden Knesset, die nun darum kämpft, die 2% Hürde zu nehmen. Sic transit gloria mundi (So vergeht der Ruhm der Welt).

SO NUN kann man sich an die Arbeit machen. Man denke daran: das Ziel sind mindestens 61 Mitglieder.

Die natürlichste Koalition würde eine Allianz auf der Rechten sein. Likud-Beitenu, das Jüdische Heim, Shas und die Orthodoxen werden wahrscheinlich zusammen rund 67 Sitze haben. Sie könnten die Politik der schnellen Erweiterung (der Siedlungen) erfüllen und die Errichtung eines palästinensischen Staates verhindern, die Besatzung auf ewig halten und sich um die Meinung der Welt den Teufel scheren.

Der Nachteil: diese Zusammensetzung würde jeden Vorwand am Festhalten einer Zweistaatenlösung und einem Wunsch nach Frieden ein Ende setzen. Man würde nackt und bloß vor der Welt stehen. Israels internationaler Status würde stark angeschlagen sein – mit möglichen verheerenden Konsequenzen.

Man wäre auch ständiger Erpressung von Seiten des zusammengelegten Shas-Orthodoxen Blockes ausgesetzt, der riesige Summen für die Ghettos verlangen würde, wie zum Beispiel höhere Zuschüsse für ihre Kinder (8-10Kinder), Befreiung von der Arbeit und dem Militärdienst und vieles andere mehr. Auch würde man nicht in der Mitte unserer Regierung sein, sondern links.

Zwei Dinge verhindern dies: man könnte sich wünschen , dass etwas Zentrum-Gewürz in das Gebräu hinzugefügt würde. Wenigstens drei Parteien sollten sich vor eurer Tür am Tag nach der Wahl anstellen: Sheli, Zipi und Yair.

Das nächste Regierungsprogramm aufzustellen, sollte kein Problem sein. Keiner der drei hat etwas gesagt, was einen stören sollte. Tatsächlich haben sie nicht viel gesagt. Also suche man etwas aus.

WARUM NICHT alle nehmen? Es würde eine Nationale Union – immer volkstümlich sein, wobei nur „die Araber“ und Meretz außen vor blieben. Eine Koalition von 100 Mitgliedern.

Aber da liegt der Hase im Pfeffer, tatsächlich sind es sogar zwei Hasen.

Zunächst wirst man in solch einer Koalition in der Minderheit sein. Man könnte nicht in der Lage sein, alle seine Marotten ins Gesetz zu bringen und den Zig-zag-weg glücklich entlanggehen.

Zweitens, wie würde man die Ministerien verteilen? Schließlich wird das die Hauptforderung – wenn nicht gar die einzige – Forderung all dieser Führer sein und auch die der eigenen Parteifunktionäre?

Da sind zum mindesten drei Kandidaten für die Verteidigung, vier für die Finanzen, zwei für das Außenministerium (wenn die Gerichte Lieberman nicht ins Gefängnis stecken.)

Hier beginnt das reale Spiel. Welche Partei soll man einschließen, welche ausschließen? Nimmt man Shelly und lässt Bennett außerhalb? Oder vielleicht Yair einschließen und Shas ausschließen (Erteile ihnen eine Lektion!) Oder nimm Zipi hinein, als Alibi für jene lästigen Amerikaner und Europäer und verhindere die „Delegitimation“ Israels und vergiss Shelly, die sagt, sie liebe die Siedler?

Wie man sieht, sind die Möglichkeiten fast unendlich. Man hat noch 25 Tage Zeit.

Nun habt Spaß am Spiel! – und viel Glück!

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Der Starke und das Süße

Erstellt von Redaktion am 13. Januar 2013

Der Starke und das Süße

Autor Uri Avnery

ES WAR ein Tag der Freude.

Freude für das palästinensische Volk.

Freude für all die, die auf Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt hoffen.

Und – auf bescheidene Weise – auch für mich persönlich.

Die UN-Vollversammlung, das höchste Forum der Welt, hat mit überwältigender Mehrheit für die Anerkennung des Staates Palästina gestimmt, wenn auch in begrenzter Weise.

Die Resolution, die auf den Tag genau vom selben Forum vor 65 Jahren angenommen wurde, die historische Teilung Palästinas zwischen einem jüdischen und einem arabischen Staat, ist endlich bestätigt worden.

ICH HOFFE, ich werde für ein paar Augenblicke einer persönlichen Feier entschuldigt.

Während des Krieges von 1948, der der ersten Resolution folgte, kam ich zu der Schlussfolgerung, dass ein palästinensisches Volk existiert und dass die Errichtung eines palästinensischen Staates neben dem neuen Staat Israel eine Vorbedingung für Frieden ist.

Als einfacher Soldat kämpfte ich in Dutzenden Gefechten gegen die arabischen Einwohner Palästinas. Ich sah wie Dutzende arabischer Städte und Dörfer zerstört und unbewohnt zurück gelassen wurden. Lange bevor ich den ersten ägyptischen Soldaten sah, sah ich, wie das palästinensische Volk, für seine Heimat kämpfte.

Vor dem Krieg hoffte ich, die Einheit des Landes, das beiden Völkern so teuer war, könnte bewahrt werden. Der Krieg überzeugte mich, dass dieser Traum für alle Zeiten zerstört ist.

Ich war noch in Uniform, als ich anfangs 1949 versuchte, eine Initiative für die Realisierung dessen zu gründen, was jetzt die Zweistaaten-Lösung genannt wird. Ich traf mich zu diesem Zweck in Haifa mit zwei jungen Arabern. Der eine war ein Muslim, der andere ein drusischer Scheich. (Beide wurden vor mir Knessetmitglieder.)

In jener Zeit sah dies wie eine unmögliche Mission aus, „Palästina“ war von der Karte gewischt. 78% des Landes war Israel geworden, die restlichen 22% zwischen Jordanien und Ägypten aufgeteilt. Die reine Existenz eines palästinensischen Volkes wurde vehement vom israelischen Establishment geleugnet, tatsächlich wurde die Leugnung ein Glaubensartikel. Viel später erklärte Golda Meir berüchtigter Weise: „So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht“. Geachtete Scharlatane schrieben volkstümliche Bücher, die „bewiesen“, dass die Palästinenser Prätendenten sind, die erst vor kurzen angekommen seien. Die israelische Führung war überzeugt, das „palästinensische Problem“ sei verschwunden – ein für alle Mal.

1949 gab es keine hundert Personen in der ganzen Welt, die an diese Lösung dachten. Kein einziges Land unterstützte diese Lösung. Die arabischen Länder glaubten noch immer, Israel werde verschwinden. Groß-Britannien unterstützte seinen Klientel-Staat, das haschemitische Königreich Jordanien. Die USA hatte ihre eigenen lokalen starken Diktatoren. Stalins Sowjetunion unterstütze Israel.

Mein Kampf war ein einsamer Kampf. Während der nächsten 40 Jahre brachte ich als Herausgeber eines Wochenmagazins dieses Thema fast jede Woche zur Sprache. Als ich in die Knesset gewählt wurde, tat ich dort dasselbe.

1968 flog ich nach Washington DC, um dort für diese Idee Propaganda zu machen. Ich wurde höflich von den zuständigen Offiziellen im Außenministerium ( Joseph Sisko) empfangen, im Weißen Haus (Harold Saunders), der amerikanischen Vertretung der UN (Charles Yost), von führenden Senatoren und Kongressleuten wie auch vom britischen Verfasser der Resolution 242 (Lord Caradon). Die gleichbleibende Antwort aller ohne Ausnahme war: ein palästinensischer Staat kommt nicht in Frage.

Als ich ein Buch veröffentlichte, das sich der Lösung widmete, griff mich die PLO in Beirut 1979 mit einem Buch an, das den Titel trägt „Uri Avnery und der Neo-Zionismus“.

Heute besteht ein Weltkonsens, dass eine Lösung des Konfliktes ohne einen palästinensischen Staat nicht in Frage kommt.

Warum sollte ich jetzt nicht feiern?

WARUM JETZT? Warum geschah es nicht vorher oder später?

Wegen der Operation Wolkensäule, dem historischen Meisterstück von Binjamin Netanjahu, Ehud Barak und Avigdor Lieberman.

Die Bibel erzählt uns von Simson, dem Helden, der mit bloßen Händen einen Löwen zerriss.

Als er zu diesem nach einiger Zeit zurück kam, hatte ein Bienenschwarm den Kadaver des Löwen zu einem Bienenkorb gemacht, in dem sie Honig produzierten. So stellte Samson den Philistern ein Rätsel: „Aus dem Starken kommt Süßes“. Dies ist ein hebräisches Sprichwort.

Nun kam aus der „starken“ israelischen Operation gegen den Gazastreifen Süßes . Es ist eine weitere Bestätigung der Regel, dass man bei Beginn eines Krieges oder einer Revolution nie weiß, was dabei herauskommt.

Eine der Resultate der Operation war, dass das Prestige und die Popularität von Hamas himmelhoch wuchs, während die palästinensische Behörde von Mahmoud Abbas in neue Tiefen sank. Das war ein Ergebnis, das der Westen unmöglich dulden konnte. Eine Niederlage der „Moderaten“ und ein Sieg der islamistischen „Extremisten“ war eine Katastrophe für Präsident Barack Obama und das ganze westliche Lager. Es musste etwas gefunden werden – und zwar dringend – um Abbas zu einem haushohen Erfolg zu verhelfen.

Zum Glück war Abbas schon auf dem Weg, eine UN-Zustimmung für die Anerkennung Palästinas als einem „Staat“ (doch noch nicht als volles Mitglied der Weltorganisation) zu bekommen. Für Abbas war es ein Schritt der Verzweiflung, Plötzlich wurde er eine Siegesfackel.

DER WETTBEWERB zwischen der Hamas- und der Fatah-Bewegung wird als Katastrophe für die palästinensische Sache gesehen. Aber es gibt auch eine andere Weise, dies zu sehen.

Gehen wir in unsere eigene Geschichte zurück. Während der 30er und 40er-Jahre war unser Befreiungskampf (wie wir ihn nannten) in zwei Lager gespalten, die einander mit wachsender Intensität hassten.

Auf der einen Seite war die „offizielle“ Führung, von David Ben Gurion geleitet, vertreten durch die „Jüdische Agentur“, die mit der britischen Verwaltung kooperierte. Ihr militärischer Arm war die Haganah, eine sehr große halb-offizielle Miliz, die von den Briten toleriert wurde.

Auf der andern Seite war die Irgun ( „Nationale militärische Organisation) , der bei weitem radikalere bewaffnete Flügel der nationalistischen „revisionistischen“ Partei von Vladimir Jabotinsky. Und diese teilte sich und eine noch radikalere Organisation entstand. Die Britten nannten sie „Sternbande“.

Die Feindseligkeit zwischen diesen Organisationen war intensiv. Eine Zeit lang kidnappten Haganah-Mitglieder Irgunkämpfer und lieferten sie der britischen Polizei aus, die sie folterte und in Lager nach Afrika schickte. Ein blutiger Bruderkrieg wurde nur durch den Irgun-Führer Menachem Begin vermieden, der alle Racheakte verbot. Im Gegensatz dazu sagten die Sternleute zur Haganah gerade heraus, sie würden jeden erschießen, der ihre Mitglieder anzugreifen versucht.

In der Rückschau können die beiden Seiten gesehen werden, als wären sie die beiden Arme desselben Körpers. Der „Terrorismus“ des Irgun und Stern unterstützte die Diplomatie der zionistischen Führung. Die Diplomaten nützten die Errungenschaften der Kämpfer aus. Um die wachsende Popularität der „Terroristen“ auszubalancieren , machten die Briten gegenüber Ben Gurion Konzessionen. Einer meine Freunde nannte den Irgun „Die Schießagentur der jüdischen Agentur“.

In gewisser Weise ist dies heute die Situation im palästinensischen Lager.

SEIT JAHREN hat die israelische Regierung Abbas mit den schlimmsten Konsequenzen gedroht, wenn er es wagen würde, zur UN zu gehen: Das Oslo-Abkommen ungültig zu erklären und die palästinensische Behörde zu zerstören, wäre das Minimum. Lieberman nannte den Schritt „diplomatischen Terrorismus“.

Und nun? Nichts. Kein Paukenschlag und kaum ein Zwinkern. Sogar Netanjahu versteht, dass die Operation Wolkensäule eine Situation geschaffen hat, in der die Unterstützung der Welt für Abbas unvermeidbar geworden ist.

Was tun? Nichts. Vorgeben, dass die ganze Sache ein Scherz sei. Wer kümmert sich schon darum? Was ist die UN eigentlich? Welchen Unterschied macht es?

Netanjahu ist mit etwas ganz anderem, das ihm in dieser Woche widerfuhr, beschäftigt. Bei den Likud-Vorwahlen wurden alle „Moderaten“ seiner Partei ohne Umstände hinausgeworfen. Kein liberales demokratisches Alibi wurde zurückgelassen. Die Likud-Beitenu-Fraktion wird in der nächsten Knesset ganz von Extremisten des rechten Flügels zusammen gesetzt sein, unter ihnen mehrere komplette Faschisten, Leute, die die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofes zerstören, die Westbank dicht mit Siedlungen bedecken und den Frieden und einen palästinensischen Staat mit allen nur möglichen Mitteln verhindern wollen.

Während Netanjahu sicher ist, die bevorstehenden Wahlen zu gewinnen und weiter als Ministerpräsident zu dienen, ist er klug genug , um nicht zu realisieren, wo er sich jetzt befindet: als Geisel der Extremisten, die ihn wahrscheinlich aus seiner eigenen Knessetfraktion hinauswerfen, wenn er nur etwas in Richtung Frieden erwähnt, und ihn zu jeder Zeit durch Lieberman ersetzen.

AUF DEN ersten Blick hat sich nicht viel verändert. Aber nur auf den ersten Blick.

Was ist geschehen: die Gründung des Staates Palästina ist nun offiziell als Ziel der Weltgemeinschaft anerkannt worden. Die „Zwei-Staatenlösung“ ist jetzt die einzig mögliche Lösung. Die Ein-Staaten-Lösung, falls es sie je gegeben hat, ist mausetot.

Natürlich ist der Apartheid-Staat Realität. Falls sich von Grund auf nichts ändert, wird er tiefer und stärker werden. Fast jeden Tag gibt es neue Nachrichten, dass er sich immer weiter etabliert ( Das Bus-Monopol hat gerade angekündigt, von jetzt an gebe es in Israel getrennte Busse für Westbank-Palästinenser.)

Aber das Streben nach Frieden, das sich auf die Ko-Existenz Israels und Palästinas gründet, hat einen großen Schritt gemacht. Einigkeit zwischen den Palästinensern sollte das Nächste sein. Die US-Unterstützung für die aktuelle Errichtung des Staates Palästina sollte bald danach kommen.

Das Starke muss zum Süßen führen.

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Ein für alle Mal

Erstellt von Redaktion am 6. Januar 2013

Ein für alle Mal

Autor Uri Avnery

DAS MANTRA dieser Runde war Ein für alle Mal.

„Wir müssen dem ein Ende setzen (den Raketen, der Hamas, den Palästinensern, den Arabern) ein für alle Mal!“ Dieser Schrei aus tiefstem Herzen wurde Dutzende Male im Fernsehen von den geplagten Bewohnern aus Israels betroffenen Städten und Dörfern des Südens gehört.

Es hat den Slogan ersetzt, der Jahrzehnte lang herrschte: „Beng und Schluss!“ Beng ist ein mundartlicher Slangausdruck für einen harten Schlag.

Er hat nichts bewirkt.

DER GROSSE Gewinner, der aus den Wolken auftaucht, ist die Hamas.

Bis zu dieser Runde hatte die Hamas eine machtvolle Präsenz im Gazastreifen, aber praktisch keinen internationalen Rang. Das internationale Gesicht des palästinensischen Volkes war Mahmoud Abbas’ Palästinensische Nationalbehörde.

Nun nicht mehr.

Die Operation Wolkensäule hat dem Hamas-Ministaat im Gazastreifen weite internationale Anerkennung gegeben. (Wolkensäule ist der offizielle hebräische Name, auch wenn der Militärsprecher anordnete, dass der englische Name für den ausländischen Gebrauch „Säule der Verteidigung“ sein sollte). Staatshäupter und eine Schar anderer ausländischer Würdenträger machten ihre Pilgerreise in den Gazastreifen.

Der erste war der mächtige und immens reiche Emir von Qatar, Besitzer von Aljazeera. Er war das erste Staatsoberhaupt, das jemals den Gazastreifen betrat. Dann kam der ägyptische Ministerpräsident, der tunesische Außenminister, der Generalsekretär der Arabischen Liga und die versammelten arabischen Außenminister ( außer dem aus Ramallah).

Bei allen diplomatischen Beratungen wurde der Gazastreifen wie ein de-facto-Staat mit einer de facto-Regierung (Hamas) behandelt. Die israelischen Medien waren keine Ausnahme. Es war für die Israelis klar, dass jedes Abkommen mit der Hamas geführt werden muss, wenn es effektiv sein soll.

Innerhalb des palästinensischen Volkes wuchs die Stellung der Hamas himmelhoch. Der winzige Gazastreifen stand allein gegen die mächtige israelische Kriegsmaschinerie auf, eine der größten und wirksamsten der Welt. Es hat sich nicht gebeugt. Das militärische Resultat wird bestenfalls unentschieden sein.

Ein Unentschieden zwischen dem winzigen Gaza und dem mächtigen Israel bedeutet einen Sieg für Gaza.

WO bleibt Mahmoud Abbas? tatsächlich nirgends.

Wer erinnert sich noch an Ehud Baraks Erklärung mitten im Krieg: „ Wir werden nicht aufhören, bis Hamas auf die Knie fällt und um einen Waffenstillstand bettelt.“

Für einen einfachen Palästinenser – ob in Nablus, Gaza oder Beirut – ist der Unterschied eklatant. Die Hamas ist mutig, stolz, aufrecht, während die Fatah hilflos, gedemütigt und verachtet ist. Stolz und Ehre spielen eine zentrale Rolle in der arabischen Kultur.

Nach mehr als einem halben Jahrhundert Demütigung ist jeder Palästinenser, der gegen die Besatzung aufsteht, ein Held der arabischen Massen innerhalb und außerhalb des Landes. Abbas wird nur mit der engen Kooperation seiner Sicherheitskräfte mit der gehassten israelischen Besatzungsarmee identifiziert.

Und die wichtigste Tatsache: Abbas hat nichts vorzuzeigen.

Wenn Abbas wenigstens eine größere politische Errungenschaft hätte vorzeigen können, könnte die Situation anders sein. Die Palästinenser sind ein sensibles Volk, und wenn Abbas nur einen Schritt näher an einen palästinensischen Staat gekommen wäre, würden die meisten Palästinenser wahrscheinlich gesagt haben: „ Nun er mag nicht glamourös sein, aber er liefert die Ware.“

Aber das Gegenteil geschieht. Die gewalttätige Hamas erringt Erfolge, der gewaltlose Abbas erreicht nichts. Wie ein Palästinenser zu mir sagte: „Er (Abbas) hat euch (den Israelis) alles gegeben, Ruhe und Sicherheit, und was hat er dafür bekommen? Ihr spuckt ihm ins Gesicht!“

Diese Runde wird nur eine Grundüberzeugung der Palästinenser stärken: „Die Israelis verstehen nur die Sprache der Gewalt.“ (Die Israelis sagen natürlich genau dasselbe über die Palästinenser.)

Falls die USA Abbas wenigstens erlauben würden, eine UN-Resolution zu bekommen, die Palästina als Nicht-Mitgliedstaat anerkennt, könnte er sich gegenüber der Hamas halten. Aber die israelische Regierung ist entschlossen, dies mit allen erreichbaren Mitteln zu verhindern. Barack Obamas Entscheidung – selbst nach der Wiederwahl – die palästinensische Bemühung zu blockieren, ist eine direkte Unterstützung für die Hamas und ein Schlag ins Gesicht der „Moderaten“. Hillary Clintons flüchtiger Besuch in Ramallah in dieser Woche wurde in diesem Kontext gesehen.

Von außen her gesehen, sieht dies wie reiner Wahnsinn aus. Warum werden die „Moderaten“, die bereit und in der Lage sind, Frieden zu schließen, unterminiert? Warum wird den „Extremisten“, die gegen den Frieden sind, geholfen ? Die Antwort wird offen von Avigdor Lieberman, jetzt Netanjahus offizielle politische Nummer zwei, gegeben: er wünscht, Abbas zu zerstören, um die Westbank zu annektieren und den Weg für die Siedler freizumachen.

NACH DER Hamas ist Muhamad Morsi der große Gewinner.

Dies ist eine fast unglaubliche Geschichte. Als Morsi zum Präsidenten Ägyptens gewählt wurde, wurde das offizielle Israel hysterisch. Wie schrecklich! Die islamistischen Extremisten haben das wichtigste arabische Land übernommen! Unser Friedensvertrag mit unserm größten Nachbarn geht zum Teufel!

Die Reaktionen der USA waren fast dieselben.

Und jetzt – weniger als vier Monate später – hängen wir an jedem Wort, das Morsi äußert.

Er ist der Man, der dem gegenseitigen Töten und Zerstören ein Ende gemacht hat! Er ist der große Friedensmacher! Er ist die einzige Person, die zwischen Israel und der Hamas vermitteln kann! Er muss das Abkommen über die Feuerpause garantieren!

Kann dies sein? Kann dies derselbe Morsi sein? Die selbe Muslimbruderschaft?

Der 61 Jahre alte Morsi (sein voller Name ist Muhamad Morsi Isa al-Ayyad. Isa ist die arabische Form für Jesus, der im Islam als Prophet angesehen wird) ist ein absoluter Neuling auf der politischen Weltbühne. Doch in diesem Augenblick verlassen sich die Führer der Welt auf ihn.

Als ich den Arabischen Frühling voll und ganz begrüßte, hatte ich an Menschen wie ihn gedacht. Jetzt loben fast alle israelischen Kommentatoren, Ex-Generäle und Politiker, die damals unheilvolle Warnungen von sich gaben, seinen Erfolg beim Erreichen des Waffenstillstandes.

WÄHREND DER Operation tat ich, was ich in solchen Situationen immer tue: ich wechselte ständig zwischen dem israelischen Fernsehsender und Aljazeera. Manchmal, wenn ich in Gedanken war, war ich für einen Augenblick unsicher, welchen Sender ich ansah.

Weinende Frauen, Verletzte werden weggetragen, Häuser in Trümmern, Kinderschuhe lagen herum, fliehende und bepackte Familien. Hier wie dort. Spiegelbilder.

Obwohl natürlich die palästinensischen Todesfälle (150) 30mal höher als die der Israelis waren – zum Teil wegen des unglaublichen Erfolgs des Iron Dome, (der die Raketen im Anflug zerstörte) und der Schutzräume, während die Palästinenser praktisch hilf- und schutzlos waren.

Am Donnerstag wurde ich zu einem Interview von Israels Kanal 2 eingeladen, dem populärsten ( und patriotischsten) israelischen Fernsehsender. Die Einladung wurde natürlich im letzten Augenblick widerrufen. Hätte ich dort reden können , hätte ich meinen Landsleuten eine einfache Frage gestellt:

War es dies wert?

All das Leiden, die Getöteten, die Verletzten, die Zerstörung, die Stunden und Tage des Terrors, die traumatisierten Kinder?

Und ich möchte hinzufügen: der ununterbrochene TV-Bericht rund um die Uhr mit einer Legion von Ex-Generälen, die auf dem Schirm erschienen und die Botschaft aus dem Büro des Ministerpräsidenten deklamierten. Und die blutrünstigen Drohungen von Politikern und anderen Trotteln, einschließlich des Sohnes von Ariel Sharon, der vorschlug, einen ganzen Stadtteil von Gazastadt oder besser noch den ganzen Streifen platt zu machen.

Jetzt, wo dies alles vorbei ist, sind wir fast genau dort, wo wir vorher waren. Die Operation – in Israel gemeinhin als die „neue Runde“ bezeichnet – war tatsächlich rund. Sie führte dorthin zurück, wo sie angefangen hat.

Die Hamas wird fest die Kontrolle über den Gazastreifen haben, wenn nicht gar fester. Die Bevölkerung des Gazastreifens wird Israel noch mehr als vorher hassen. Viele der Bewohner der Westbank, die während des Krieges zu Tausenden zu Demonstrationen für die Hamas herauskamen, werden bei den nächsten Wahlen noch mehr für die Hamas stimmen. Die israelischen Wähler werden in zwei Monaten die wählen, für die sie auch vorher stimmen wollten.

Jede der beiden Seiten feiert jetzt ihren Sieg. Man könnte eine Menge Geld sparen, wenn sie gemeinsam feiern würden.

WIE SEHEN die politischen Schlussfolgerungen aus?

Die offensichtlichste ist: mit der Hamas reden. Direkt. Von Angesicht zu Angesicht.

Yitzhak Rabin sagte einmal zu mir, wie er zu dem Schluss kam, dass er mit der PLO reden müsse: Nach Jahren der Zurückweisung, wurde ihm klar, dass sie die einzige Kraft war, die zählte. „Also war es lächerlich, mit ihnen über Vermittler zu reden.“

Dasselbe trifft jetzt auf die Hamas zu. Sie sind da. Sie werden nicht weggehen. Es ist für die israelischen Unterhändler lächerlich, in einem Raum des ägyptischen Geheimdienstes in der Nähe Kairos zu sitzen, währen die Hamas-Unterhändler in einem anderen Raum nur wenige Meter entfernt sitzen, und die höflichen Ägypter gehen hin und her.

Gleichzeitig und parallel sollten ernsthafte Bemühungen in Richtung Frieden gestartet werden.

Man sollte Abbas retten; vorläufig gibt es für ihn keinen Ersatz. Gebt ihm einen unmittelbaren Sieg, um die Errungenschaften der Hamas auszubalancieren! Stimmt für den palästinensischen Antrag für Staatlichkeit in der UN-Vollversammlung!

Bewegt euch mit dem ganzen palästinensischen Volk, einschließlich Fatah und Hamas in Richtung Frieden – dann können wir wirklich den endlosen Kriegen ein Ende setzen –

Ein für alle Mal.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Adieu, lieber Krieg !

Erstellt von Redaktion am 25. November 2012

Adieu, lieber Krieg !

Autor Uri Avnery

BENJAMIN NETANJAHU und sein Schirmherr Sheldon Adelson setzten auf Mitt Romney und benützten den Staat Israel als ihren Chip.

Sie haben verloren.

Für Adelson, den Casino-Magnaten bedeutete das nicht viel. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man.

Für Netanjahu ist das natürlich etwas völlig anderes. Er wuchs in den US auf (wo er Romney 1976 kennen lernte), und rühmte sich ein großer Experte Amerikas zu sein. Es war einer seiner Haupt- Publikumsmagneten, da die Beziehungen zu den USA für Israel so lebensnotwendig sind. Jetzt steht er zusammen mit seinem von Adelson empfohlenen Botschafter in Washington DC als Troddel da.

Beschädigt dies Netanjahus Chancen bei den bevorstehenden israelischen Wahlen? Vielleicht. Aber nur, wenn ein glaubwürdiger Gegenkandidat gefunden wird, der die Beziehungen mit Barack Obama wieder herstellen kann.

Ehud Olmert stellt sich als solcher dar und mag sich jetzt dem Wahlkampf anschließen. Einige träumen davon, dass Shimon Peres seine Präsidentschaft aufgeben und Kandidat werden würde. (Er ist zwei Wochen älter als ich.) Er hat in seinen 50 Jahren als Politiker nie eine Wahl gewonnen. Aber es gibt immer ein erstes Mal, nicht wahr?

DIE ISRAELlS sind natürlich vor allem an den jüdischen Stimmen interessiert. Das ist tatsächlich aufschlussreich.

Netanjahu machte kein Geheimnis daraus, dass er Romney voll und ganz unterstützt. Den US-Juden wurde gesagt, wenn man für den republikanischen Kandidaten stimmt, dann wählt man für Israel.

Taten sie dies? Nein.

Noch hab ich die Statistiken nicht im Detail vor mir, aber aus den Ergebnissen in Florida und anderen Staaten zu schließen, scheint mir, dass die große Mehrheit der Juden den demokratischen Kandidaten unterstützt hat, wie sie es immer getan hat.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass eine der wichtigsten Behauptungen von Netanjahu & Co sich als Trugschluss herausgestellt hat.

Netanjahu erklärt fast täglich, Israel sei der „Nationalstaat des jüdischen Volkes“. Das heißt, Israel gehört allen Juden der Welt und alle Juden der Welt gehören zu Israel. Er spricht nicht nur für die sechs Millionen jüdischen Bürger Israels, sondern für alle 13 Millionen Juden rund um den Globus (vorausgesetzt, dass auf dem Mars keine Juden entdeckt werden.)

Auch dies hat sich wieder als Fiktion erwiesen. Die amerikanischen Juden ( oder besser: die jüdischen Amerikaner) stimmten als Mitglieder der amerikanischen Nation, nicht als Mitglieder für die nicht existierende jüdische Nation. Sicher sympathisieren viele von ihnen mit Israel, aber wenn es zur Wahl kommt, wählen sie als Amerikaner. Israel spielt eine sehr kleine Rolle bei ihren Erwägungen.

Sie mögen Netanjahu stehende Ovationen geben, wie amerikanische Katholiken dies gegenüber dem Papst tun, aber sie ignorieren seine Anweisung, für einen bestimmten Kandidaten zu stimmen.

Dies ist von großer Bedeutung für die Zukunft. Bei jedem Zusammenstoß zwischen vitalen amerikanischen und israelischen Interessen, sind jüdische Amerikaner zuerst Amerikaner. In so einer zukünftigen Situation könnte eine Fehleinschätzung Netanjahus oder seines Nachfolgers sich als fatal erweisen.

ZUM BEISPIEL, was den Iran-Krieg betrifft. Die israelischen Falken können ihm Adieu sagen.

Ich bezweifle, dass sogar Romney, wenn er gewählt worden wäre, Netanjahu erlaubt hätte anzugreifen. Reden bei Wahlkampagnen würden nicht die vitalen Interessen der USA übertrumpft haben.

Auch er würde einen Blick auf die Karte mit der Meerenge von Hormuz geworfen haben und hätte geschaudert.

Wie dem auch gewesen sein mag, es gibt keine Chance, dass Obama jetzt einen israelischen Angriff tolerieren würde. Es würde einen großen Krieg mit unberechenbaren Konsequenzen für die Weltwirtschaft entfacht haben .

Die Amerikaner wünschen keinen weiteren Krieg. Sie wollen aus dem Irak und aus Afghanistan herauskommen, praktisch beide Länder ihren Feinden überlassen. Noch einen, weit größeren Krieg im Iran zu beginnen, ist undenkbar.

Dies könnte für uns das wichtigste Ergebnis dieser Wahlen sein.

UND WIE ist es mit dem israelisch-palästinensischen Frieden?

Zweifellos haben sich die Chancen verbessert.

Ich will nicht zu optimistisch klingen. Das übliche Klischee sagt, dass US-Präsidenten in ihrer zweiten Amtsperiode nicht so unter politischem Druck stehen und endlich nach ihrem Gewissen handeln können. Das stimmt sicher – bis zu einem gewissen Punkt.

Der Präsident ist auch der Führer einer Partei; und vom ersten Tag nach den Wahlen denkt die Partei an die nächsten Wahlen. Mächtige Lobbys wie die AIPAC hören nicht auf, zu existieren und werden weiter eine Menge Druck auf die israelische Rechte ausüben. Großzügige Sponsoren werden noch benötigt. In zwei Jahren sind die Zwischenwahlen.

Aber ich hoffe, Obama wird zu seiner anfänglichen Haltung zurückkommen und versuchen, beide Seiten zu ernsten Verhandlungen veranlassen. Der bevorstehende palästinensische Antrag bei der UN-Vollversammlung, ihn als einen Staat (mit Beobachterstatus) anzuerkennen, mag ein Test sein. Seine Annahme ist von großer Bedeutung, da sie die Zweistaatenlösung wieder direkt auf den internationalen Tisch legen würde. Die US hat dort kein Vetorecht, und es liegt am Präsidenten zu entscheiden, ob Druck auszuüben ist oder nicht.

Die US sind wie ein großer Flugzeugträger. Um sich zu drehen, benötigt er eine Menge Zeit und Raum. Aber selbst ein kleiner Kurswechsel kann einen großen Einfluss auf unser Leben haben.

IN ISRAEL lautet die größere Frage: Wird er sich rächen?

Zweifellos, Obama hasst Netanjahu – und mit gutem Grund. Netanjahu wird im Weißen Haus nicht willkommen sein.

Aber Obama ist ein kalter Fisch. Er wird seine persönlichen Gefühle unter Kontrolle haben.

Aber wie weit? Wird er seine Haltung gegenüber Netanjahu und seiner Politik genügend ändern, um die israelischen Friedenskräfte zu ermutigen und sogar zu unterstützen? Wird er die israelischen Wahlen beeinflussen, so wie Netanjahu versuchte, die amerikanischen zu beeinflussen?

Offen gesagt, hoffe ich es – um Israels willen.

Obamas Sieg wird den liberalen, demokratischen, säkularen, sozial-gesinnten, weniger militanten Geist in aller Welt stärken. Wenn die israelische Regierung mit ihrem jetzigen Kurs fortfährt, wird ihre Isolierung in der Welt gefährlich zunehmen. Wenn wir Netanjahu gegenüber nicht das tun, was die Amerikaner gerade jetzt gegenüber Romney taten.

WIE JEDERMANN weiß, gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen den USA und Israel.

Beide sind Einwanderungsländer. Beide wurden von weißen Siedlern aufgebaut, die ethnische Säuberungen durchführten. Beide rühmen sich ihrer riesigen Errungenschaften, während sie über die dunklen Seiten ihrer Vergangenheit ganz still sind.

Die Wahlen in beiden Ländern zeigen noch eine andere Ähnlichkeit: die sich weiter entwickelnde Kluft zwischen verschiedenen Gruppierungen der Gesellschaft. Weiße männliche Amerikaner versammelten sich hinter Romney, farbige Amerikaner und Frauen hinter Obama. Demographische Faktoren spielen eine größere Rolle. In gewisser Weise war es eine Nachhut-Aktion der dominanten weißen männlichen Elite gegen die neue Mehrheit der Schwarzen, der Hispano-Amerikaner, der Frauen und der Jugend.

Die Tea-Party-Fanatiker haben die Spaltung noch verschlimmert. Es scheint, als ob die amerikanische Nation alle paar Generationen von einer neuen Wahnsinnswelle befallen wird – die anti-anarchistische Hysterie nach dem 1. Weltkrieg, der McCarthyismus nach dem 2. Weltkrieg und jetzt die Tea-Party . Zu Amerikas Ehre muss gesagt werden, es hat eine Fähigkeit, mit diesen Wellen fertig zu werden. Aber die Tea-Party legte Romney um – trotz all seines verzweifelten Gesinnungswandels.

In Israel gibt es eine ähnliche Spaltung . Die Gesellschaft ist in Sektoren aufgeteilt, die ihre Stimme nach den Linien der Sektoren abgibt: Die Weißen (Ashkenazim), die Orientalen, die Ultra-Orthodoxen (Haredim), die National-Religiösen, die russischen Immigranten, die Araber. Der Likud ist eine Partei der Orientalen, die aber von weißen Männern dominiert wird. Lieberman gehört zur Partei der „Russen“. Zusammen mit den Religiösen verschiedener Richtungen sind sie eine mächtige Koalition. Die israelische Linke war bis jetzt nicht – wie Obama – in der Lage, eine effektive Gegen-Koalition zu bilden.

Wir brauchen einen israelischen Obama, der mit dem amerikanischen Obama für Frieden arbeitet.

Bevor es zu spät ist, bitte!

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Dürre in Texas

Erstellt von Redaktion am 4. November 2012

 Dürre in Texas

Autor Uri Avnery

JEDER IN Israel kennt diese Geschichte. Als Levy Eshkol Ministerpräsident war, liefen seine Assistenten in Panik zu ihm: „Levy, es herrscht  Dürre!“

„In Texas?“ fragte Eshkol ängstlich.

„Nein, in Israel!“ sagten sie.

„Dann macht es nichts,“ beruhigte sie Eshkol. „Wir können so viel Weizen, wie wir brauchen, von den Amerikanern bekommen.“

Das war vor etwa 50 Jahren. Seit damals hat sich nicht viel verändert. Deshalb  sind die Wahlen in zehn Tagen in den USA wichtiger für uns als unsere eigenen Wahlen in drei Monaten.

ICH MUSSTE wieder bis 3 Uhr nachts aufbleiben, um die letzte Kandidaten-Debatte live zu verfolgen. Ich fürchtete, ich würde einschlafen, aber im Gegenteil, ich blieb wach.

Wenn zwei Schachspieler in ein Spiel vertieft sind, gibt es oft eine dritte Person – wir nennen sie  den „Kibitz“ – die hinter einem der Spieler steht und versucht, ihm unerbetenen Rat zu geben. Während der Debatte tue ich dasselbe. In meiner Phantasie stehe ich hinter Barack Obama und denke über die richtige Antwort an Romney nach, bevor Obama selbst den Mund auftut.

Ich muss zugeben, dass bei dieser Debatte Obamas Antworten ein paar mal viel besser waren als meine. Zum Beispiel fiel mir keine scharfe Antwort auf Romneys Vorwurf ein, dass die US jetzt weniger Kriegsschiffe haben als vor hundert Jahren. Obamas trockene  Entgegnung–  die US-Armee habe jetzt auch weniger Pferde, war glatt genial.  Besser hätte er nicht darauf antworten können. Wer hätte so eine dämliche Bemerkung voraussehen können?

Und dann versuchte Romney, Obama auch dafür herunterzuputzen, dass er bei seiner ersten Nahostreise als amerikanischer Präsident  Israel ausgelassen hatte. Wie soll man  solch einem Tatsachenargument  begegnen? – besonders, wenn Tausende von jüdischen Pensionären in Florida auf jedes Wort lauern?

Obama traf den richtigen Ton. Er konterte, dass Romney  Israel mit einem Gefolge von Sponsoren und Spendensammlern  besucht hatte (ohne dabei  Sheldon Adelson und die andern jüdischen Sponsoren mit Namen zu nennen) stattdessen habe er, Obama  als Kandidat Yad Vashem  besucht, um sich ein eigenes Bild  von dem  grausamen Unrecht zu machen, das  den Juden angetan wurde. Touche!

Bei einer anderen Gelegenheit dachte ich, ich hätte eine bessere Antwort. Zum Beispiel, als Romney versuchte, eine Erklärung für seine Behauptung zu finden, Russland  sei der bedeutendste „geo-politische Gegner“ der USA, hätte ich folgendermaßen reagiert: „Entschuldigen Sie meine   Unwissenheit, Herr Gouverneur, aber was bedeutet ‚geo-politisch’?“  In diesem Zusammenhang war es eine hochgestochene, aber bedeutungslose Phrase.

(„Geo-Politik“ ist nicht nur ein Ineinandergreifen von Geographie und Politik. Es ist ein Weltbild, das vom deutschen Professor Hans Haushofer und anderen propagiert und von Adolf Hitler als Begründung für seinen Plan benutzt wurde, für die Deutschen einen „Lebensraum“ zu schaffen, indem er die Bevölkerung Ost-Europas vernichtete oder vertrieb.)

Ich hätte an Obamas Stelle viel mehr über die Kriege gesprochen: Nixons Vietnam, die  beiden Irak-Kriege  von Bush-Vater und -Sohn, George W.s  Bush-Krieg in Afghanistan. Ich bemerkte, dass Obama nicht erwähnte, wie er von Anfang an gegen den Irak-Krieg war. Offenbar ist  ihm  davon abgeraten worden.

MAN MUSSTE kein Experte sein, um zu bemerken, dass Romney nicht einen einzigen eigenen  Gedanken vorbrachte.  Er plapperte wie ein Papagei Obamas Stellungsnahmen nach, indem er hier und dort ein paar Worte veränderte.

Am Anfang der Kampagne während der Vorwahlen  hatte es anders ausgesehen. Damals als er um die Stimmen des rechten Flügels  buhlte, war er nahe dran, den Iran zu bombardieren, China zu provozieren, gegen die Islamisten aller Schattierungen einen Krieg zu führen, vielleicht Osama bin Laden wieder zum Leben zu erwecken, um ihn noch einmal zu töten. Dieses Mal nichts von alle dem. Nur ein sanftes „Ich stimme dem Präsidenten zu!“

Warum? Weil man ihm gesagt hatte, das amerikanische Volk habe die Nase voll von Bushs Kriegen. Es wolle keine Kriege mehr. Nicht in Afghanistan  und ganz gewiss nicht im Iran. Kriege kosten eine Menge Geld. Außerdem können Menschen  getötet werden.

Vielleicht entschied Romney im voraus, er müsste nur vermeiden, wie ein Ignorant in außenpolitischen Angelegenheiten  auszusehen. Denn das Hauptschlachtfeld  liegt ja auf wirtschaftlichem Gebiet, wo er hoffen kann, überzeugender als Obama zu wirken. So spielte er auf Nummer sicher: „Ich stimme mit dem Präsident überein…“

DAS GANZE  Konzept einer Präsidentendebatte über auswärtige Angelegenheiten ist natürlich unsinnig.  Internationale Probleme sind bei weiten zu kompliziert, die Nuancen  viel  zu fein, um sich mit ihnen in grober Weise zu befassen.  Das ist, als wolle man eine Herzoperation mit der Axt ausführen.

Man konnte leicht den Eindruck gewinnen, die Welt sei ein amerikanischer Golfplatz, auf dem die US die Völker wie Bälle herumschlagen könnten und die einzige Frage die wäre, welcher Spieler geschickter  sei oder den besseren  Golfschläger habe. Wunsch und Wille der Völker selbst sind völlig irrelevant. Was empfinden die Chinesen, die Pakistani, die Ägypter?  Wen schert das ?!

Ich bin mir nicht sicher, ob die meisten amerikanischen Zuschauer  Tunis auf der Landkarte finden würden. Also ist es sinnlos, über die Kräfte zu argumentieren, die dort agieren, zwischen  Salafisten und Muslimbrüdern zu unterscheiden, und diese jenen vorzuziehen.  Und  das alles in vier Minuten.

Für Romney sind alle Muslime offensichtlich  gleich. Islamophobie ist  heutzutage in Mode, und für Romney war das klar. Ich habe schon früher  bemerkt, dass Islamophobie nichts anderes als der moderne Cousin des guten alten Antisemitismus’ ist, der aus demselben  Sumpf des kollektiven Unterbewusstseins stammt.  Er nutzt  dieselben alten Vorurteile  und  bringt den Muslimen all den Hass entgegen, der einst  gegen die Juden  gerichtet war.

Viele Juden, vor allem die Alten in den Pflegeheimen im warmen Florida,  freuen sich darüber, wie sich die Goyim jetzt auf andere Opfer stürzen. Und dass die neuen Opfer zufällig auch die Feinde des geliebten Israels sind, umso besser. Romney glaubt sicher, wenn er seinen Hass gegen „Islamisten“ richtet, so wäre dies der leichteste Weg, jüdische Stimmen zu sammeln.

Romney hat sich viel Mühe gegeben, wenigstens ein wenig härter als Obama auszusehen.  Schließlich hatte er tatsächlich eine originelle Idee: die syrischen Aufständischen mit „schweren Waffen“ zu versorgen. Was bedeutet das? Artillerie? Drohnen? Raketen?  OK , aber für wen? Für die guten Kerle natürlich. Man sollte vorsichtig sein, dass sie nicht in die Hände der  bösen Kerle fallen.

Was für eine glänzende Idee! Aber, kann mir bitte jemand sagen, wer die guten Kerle sind und wer die bösen? Offenbar weiß es niemand, am wenigsten der CIA oder der Mossad.  Dutzende von syrischen Fraktionen sind am Werk – regional, konfessionell, ideologisch. Alle wollen Assad töten. Wer also soll die Kanonen bekommen?

All dies macht eine ernsthafte Diskussion über den Nahen Osten,  jetzt eine Region unendlicher Nuancen  und Verschiedenheiten, ganz unmöglich. Obama, der eine Menge mehr über unsere Probleme kennt als sein Gegenüber, hielt es für klüger, den Einfaltspinsel zu spielen und äußerte nichts als  aufgeblasene Plattitüden.  Etwas anderes – zum Beispiel ein Konzept für einen – Gott bewahre  – israelisch-palästinensischen Frieden , hätte die lieben  Bewohner  just des einen Altersheims beleidigen können, deren Stimmen das Wahlergebnis  in Florida  entscheiden könnten.

JEDER ERNSTE Araber oder Israeli  wäre beleidigt gewesen  von der Art und Weise, in der unsere Region in dieser Debatte von zwei Männern traktiert wurde, von denen der eine bald unser Herr und Meister sein wird.

Israel wurde bei dieser Debatte 34 mal  erwähnt – 33mal mehr als Europa, 30 mal mehr als Südamerika, fünf mal mehr als Afghanistan, vier mal mehr als China. Nur der Iran wurde öfter  erwähnt – 45 mal – aber nur im Kontext der Gefahr, die er für Israel darstellt.

Israel ist Amerikas bedeutendster Verbündeter in der Region (oder in der Welt?) Wir Amerikaner werden es voll und ganz verteidigen. Wir werden ihm alle Waffen, die es benötigt (und nicht benötigt) liefern.

Wunderbar. Einfach wunderbar. Aber welches Israel genau? Das Israel der endlosen Besatzung?  Der unbegrenzten Siedlungserweiterungen?  Der totalen Verweigerung der Rechte der Palästinenser?  Der Flut von neuen anti-demokratischen Gesetzen?

Oder ein anderes liberales und demokratisches Israel, ein Israel, in dem alle Bürger die gleichen Rechte haben?, ein Israel, das dem Frieden nachjagt und den palästinensischen Staat anerkennt?

Aber nicht nur das, was nachgeplappert wurde, war interessant, sondern auch das,  was unausgesprochen blieb. Keine automatische Unterstützung eines israelischen Angriffs auf den Iran. Überhaupt kein Krieg gegen den Iran bis  zum St. Nimmerleinstag. Keine Wiederholung von Romneys früherer Erklärung, er würde die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen. Kein Pardon für Israels Spion Jonathan Pollard.

Und am wichtigsten: keinerlei Bemühung, um das immense Machtpotential der USA und seiner europäischen Verbündeten einzusetzen, um den israelisch-palästinensischen Frieden zu erreichen, obwohl alle mit der Zwei-Staaten-Lösung,  einverstanden sind, da sie  die einzige gangbare Lösung wäre. Keine Erwähnung der arabischen Friedensinitiative, die von 23 arabischen Staaten – darunter auch die von Islamisten regierten – immer noch angeboten wird.

China, die neu aufkommende Weltmacht, wurde fast mit Verachtung behandelt. „Denen“ muss gesagt werden, wie sie sich  zu benehmen haben. Sie müssen dies oder jenes tun, müssen  aufhören, ihre Währung zu manipulieren, müssen die Arbeitsplätze wieder nach Amerika zurückschicken.

Aber warum sollten die Chinesen irgendeine Notiz davon nehmen, solange China die Staatsschulden der USA kontrolliert? Egal, sie müssen tun, was Amerika wünscht. Washington „locuta, causa finita“ ( wie die Katholiken vor den Sex-Skandalen  zu sagen pflegten: „Rom hat gesprochen, der Fall ist erledigt“)

SO UNSERIÖS wie die Debatte war, so zeigte sie doch ein sehr ernstes Problem.

Die Franzosen pflegten zu sagen, der Krieg ist zu ernst, als dass man ihn den Generälen überlassen sollte. Die Weltpolitik ist gewiss eine zu ernste Sache, als dass man sie den Politikern überlassen könnte. Politiker werden vom Volk gewählt  –  und das Volk hat keine  Ahnung .

Es war offensichtlich, dass beide Kandidaten  jedwedes Detail  vermieden, das bei den Zuhörern nur das geringste Wissen voraussetzte. 1,5 Milliarden Muslime wurden angesehen, als gäbe es nur  zwei Kategorien  – „Moderate“ und „Islamisten“.  Israel ist ein einheitlicher Block, keine  Differenzierung!?. Was wissen die Zuschauer über 3000 Jahre persische Kultur?  Es stimmt, Romney wusste – ziemlich überraschend – was oder wo Mali ist. Die meisten  Zuschauer sicherlich nicht.

Aber genau diese Zuschauer müssen jetzt schließlich entscheiden, wer der Führer der größten  Militärmacht der Welt sein wird mit enormen Folgen für  jedermann.

Winston Churchill  sagte einmal: „Die Demokratie ist die schlechteste Form der Regierung, ausgenommen all die andern Formen, die man von Zeit zu Zeit versucht hat.“

Als Beweis könnte diese Fernsehdebatte dienen.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Ulrike Vestring, vom Verfasser autorisiert)

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Der Mann mit der Uzi

Erstellt von Redaktion am 28. Oktober 2012

Der Mann mit der Uzi

Autor Uri Avnery

Es war einmal ein junger Israeli, der von Kannibalen gefangen worden war.  Sie steckten ihn in einen Kochtopf und waren dabei, unter diesem ein Feuer anzuzünden, als er noch einen letzten Wunsch zum Ausdruck brachte: „Bitte, gib mir noch  eine Ohrfeige!“

Als der Chefkannibale ihm diesen Gefallen tat, sprang der Israeli auf, zückte seinen Uzi und legte die um, die ihn gefangen genommen hatten.

Er wurde gefragt: „Wenn du die ganze Zeit die Uzi bei dir hattest, warum hast du sie dann nicht vorher  benützt?“

„ Wenn ich nicht zornig bin, kann ich das nicht tun“, antwortete er.

BARAK OBAMAs  Schlagabtausch mit Mitt Romney erinnert mich an diesen Witz. Bei der ersten Konfrontation war er lustlos und gelangweilt. Er wollte diese dumme Sache nur zu Ende bringen.

Während des zweiten Schlagabtausches, war er wie verwandelt: energisch, aggressiv, entschlossen. Kurz : zornig.

Als diese Konfrontation im TV begann, war es nach israelischer Zeit 3 Uhr morgens. Ich hätte sie aufnehmen können, um sie mir später anzusehen. Aber ich konnte nicht warten. Meine Neugierde war zu groß.

Natürlich ist die ganze Vorstellung albern. Es gibt überhaupt keine Verbindung zwischen einem rhetorischen Talent und der Fähigkeit, eine Nation zu leiten. Man kann ein ausgezeichneter Polemiker sein  und unfähig, eine vernünftige Politik zu betreiben. Israelis brauchten nur auf Benjamin Netanjahu schauen. Man kann ein entschlossener Führer sein und völlig unfähig, sich selbst auszudrücken. Zum Beispiel: Jitzhak Rabin.

Doch die Amerikaner bestehen darauf , dass ihre Führer als Vorbedingung ihre Fähigkeit als Debattierer demonstrieren, um gewählt zu werden. Irgendwie erinnert  es an die Einzelkämpfe in der Antike, als jede Seite einen einzigen Kämpfer wählte und die beiden einander zu töten versuchten, anstelle eines gegenseitigen Massenmordes. David und Goliath kommen mir da in den Sinn. Sicher war das humaner.

DIE RHETORIK war nicht an die Massen der Wähler gerichtet. Wie schon gesagt worden  ist, war sie an die „Unentschlossenen“ gerichtet, eine besondere Klasse von Leuten. Die Anrede ist vermutlich  als Ehrentitel verliehen worden, um zu unterscheiden. Für mich ist es eher wie ein Ausdruck von Verachtung. Wenn man sich drei Wochen, bevor der Gong schlägt, noch nicht  entschieden hat, ist das denn was, womit man prahlen kann?

In diesem Stadium des Spieles müssen beide Kandidaten sehr vorsichtig sein, um niemanden gegen sich aufzubringen. Das bedeutet natürlich, dass man es sich nicht leisten kann, eine definitive, klar umrissene Meinung über etwas außer über „Mutterschaft und Apfelkuchen“  zu haben – oder in Israel: „ über Zionismus und gefilte Fish“.

Man muss sich vor neuen Ideen hüten. Gott bewahre. Neue Ideen schaffen Feinde. Man mag ein paar Wähler beeindrucken, aber wahrscheinlicher ist, dass man viel mehr  davontreibt. Der Trick ist, Allgemeines kraftvoll auszudrücken.

Waffenbesitz zum Beispiel. Waffen töten. Im strengsten Vertrauen möchte ich  verraten, dass Waffen für  genau diesen Zweck produziert werden. Da es unwahrscheinlich ist, dass man von Kannibalen gekidnappt wird, warum sollte man dann um Gottes Willen eine Uzi in seinem Schrank bewahren? Um die bösen Indianer fern zu halten?

Doch sogar Obama umging dieses Thema.  Er wagte nicht, mit einer  klaren Forderung zu kommen, um dieser Plage im Ganzen ein Ende zu setzen. Man greift die Waffen-Lobby nicht an . Fast wie die Pro-Israel-Lobby. Mitt  Romney zitierte seine Erfahrungen, wie er Pro-Waffen- und Anti-Waffen-Leute zusammenbrachte, um mit ihnen einen Kompromiss auszuarbeiten. Sagen wir: Kinder werden nicht zehnmal im Jahr ihre Schulkameraden mit Maschinenpistolen niedermähen, nur  fünf mal im Jahr.

ICH MUSS zugeben, dass ich den erbitterten Streit um den Benghazi-Vorfall  nicht ganz verstehe. Vielleicht braucht man eine amerikanische Denkweise, um dies zu begreifen. Meine primitive israelische Denkweise versteht es einfach  nicht.

War es ein einfacher terroristischer Angriff, oder nützten die Terroristen eine Protestdemo als Deckung? Warum – zur Hölle – ist das wichtig?  Warum sollte der Präsident sich damit beschäftigen, das Bild auf diese oder jene Weise zu fälschen? Die Israelis wissen aus langer Erfahrung, dass nach einem verpfuschten Rettungsversuch die Sicherheitsdienste immer lügen. Das liegt in ihrer Natur. Kein Präsident kann dies ändern.

Der Gedanke, dass jedes Land seine Hunderte von Botschaften und Konsulate in aller Welt vor jeder Art eines Angriffes bewachen kann, ist naiv. Besonders wenn man ihr Sicherheits-budget kürzt.

Abgesehen von diesen besonderen Themen, sprachen beide Kandidaten über Allgemeines. Zum Beispiel: nach mehr Erdöl bohren. Aber nicht die Sonne und den Wind vergessen. Junge Leute müssen in der Lage sein, ins Gymnasium und zur Universität zu gehen, um danach einen gut bezahlten Job zu bekommen. Dem hinterhältigen Chinesen muss gezeigt werden, wer der Boss ist. Arbeitslosigkeit ist schlecht und muss abgeschafft werden. Die Mittelklasse muss gerettet werden.

Die Mittelklasse scheint (in den USA wie in Israel) die ganze Bevölkerung auszumachen.

Man fragt sich, von was sie die Mitte sind. Man hört kaum etwas von einer niedrigeren und einer höheren Klasse.

Kurzum: beide Kandidaten machten  große Unterschiede zwischen sich, aber sie sehen  verdächtig gleich aus.

AUSSER NATÜRLICH ihrer Hautfarbe. Aber wagt man dies überhaupt zu erwähnen? Nicht wenn man politisch korrekt sein will. Die offensichtlichste Tatsache  der Wahlkampagne ist auch das größte Geheimnis.

Ich kann es nicht beweisen, aber mein Gefühl sagt mir, dass bei diesen Wahlen die Rasse eine viel größere Rolle spielt, als man zuzugeben bereit ist.

Bei den Präsidentendebatten kann eine Tatsache nicht übersehen werden: dass ein Kandidat weiß ist und der andere halbschwarz. Der Unterschied wird noch deutlicher, wenn die zwei Frauen im Mittelpunkt stehen. Die eine kann kaum weißer als Ann sein  und die andere kaum schwärzer als Michelle.

Aber diese Dinge nicht zu erwähnen, lässt sie nicht verschwinden. Sie sind da. Sie spielen sicher  bei vielen Leuten eine Rolle, vielleicht unbewusst.

Man kann sich nur wundern, dass Barack Hussein Obama überhaupt an erster Stelle gewählt wurde. Es zeigt das amerikanische Volk im besten Licht. Aber wird es dieses Mal eine Gegenreaktion geben? Ich weiß es nicht.

VON ANFANG an hatte ich das Gefühl, dass Obama diese Debatte gewinnen würde. Und er gewann.

In einem früheren Artikel erwähnte ich, dass ich viele Bedenken gegenüber Obama habe. Ein wütender Leser fragte mich, welche. Obama  hat der Anti-Friedensagenda von Netanjahu nachgegeben. Nach einigen schwachen Versuchen, Netanjahu dahin zu bringen, mit dem Siedlungsbau aufzuhören, gab Obama auf .

Obama  muss seinen Teil der Schuld auf sich nehmen, denn er verschwendete vier kostbare Jahre, während denen er  dem israelisch-palästinensischem Frieden ernsthaften, vielleicht gar irreversiblen Schaden zugefügt hat. Siedlungen sind  mit fieberhafter Eile erweitert worden, die Besatzung hat noch tiefere Wurzeln geschlagen, die Zwei-Staaten-Lösung – die einzige, die es gibt – ist schwer untergraben worden.

Der Arabische Frühling, der so einfach ein Neubeginn für Frieden im Nahen Osten hätte sein können, ist vertan worden. Die Arabische Friedensinitiative, die jahrelang auf dem Tisch gelegen hat, liegt noch immer  wie eine verwelkte Blume dort.

Die amerikanische Untätigkeit an diesem Problem hat die Verzweiflung der israelischen Friedenskräfte am Vorabend  unserer eigenen Wahlen verstärkt, indem die Idee des Friedens ganz und gar  aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt wurde.

Auf der andern Seite hat Obama Netanjahu daran gehindert, einen katastrophalen Krieg zu beginnen. Er könnte das Leben von Hunderten oder gar Tausenden Menschen gerettet haben, Israelis und Iranern und vielleicht am Ende auch das von Amerikanern. Allein dafür müssen wir ihm zutiefst dankbar sein.

ICH HOFFE, dass Obama die Wahlen gewinnt. Oder eher, dass der andere Kerl sie nicht gewinnt. Im Hebräischen zitieren wir aus dem Buch Esther: „Nicht aus Liebe zu Mordechai, sondern aus Hass gegenüber Haman.“

(Ich bin versucht, wieder einen  alten jüdischen Witz vom geizigen reichen Mann im Shtetl zu zitieren, den  anlässlich seines Todes  keiner wie üblich loben wollte. Schließlich stand einer auf und sagte: „Wir wissen alle, dass er  knauserig, gemein und habgierig war, aber verglichen mit seinem Sohn war er ein Engel.“)

Dies ist natürlich eine große Übertreibung. Ich habe wirkliche Sympathie für Obama. Ich denke, dass er grundsätzlich eine dezente, wohlmeinende Person ist. Ich wünsche seine Wiederwahl – und nicht nur, weil die gegnerische Seite so besorgniserregend ist.

WENN OBAMA gewählt wird, wie wird  seine zweite Amtszeit aussehen, so weit es uns betrifft?

Die heimliche Hoffnung besteht immer, dass  ein Präsident  in seiner 2. Amtszeit sich viel weniger unterwürfig  gegenüber der „pro-Israel“-Lobby zeigt  – die in Wirklichkeit eine anti-Israel-Lobby ist, die uns in eine nationale Katastrophe führt.

Nachdem der Präsident wiedergewählt ist, wird er von seinen Sorgen über diese Lobby – deren Wähler und deren Geld  – befreit sein. Natürlich, nicht ganz. Er wird sich noch über die Zwischenwahlen zum Kongress Sorgen machen müssen und über das Schicksal seiner Partei in der nächsten Präsidentenrunde.

Er wird aber viel mehr Spielraum haben. Er wird  in der Lage sein, viel mehr für den Frieden zu tun und für einen Wandel des Nahen Ostens.

Sagen wir mit unsern arabischen Cousins: Inshallah! – wenn Gott es will!

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser  autorisiert )

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Über Bomben und Comics

Erstellt von Redaktion am 14. Oktober 2012

Über Bomben und Comics

Autor Uri Avnery

MEINE ERSTE Reaktion auf Benjamin Netanjahus Vorstellung von Comics bei der UN-Vollversammlung war Scham.

Scham darüber, dass der oberste Vertreter meines Landes sich zu so einem primitiven rhetorischen Kunstgriff  herablässt, den man fast kindisch nennen

(Ein israelischer Kommentator schlug vor, ihn mit einer Menge Papier und Tusche auf einen Teppich zu setzen, wo er nach Herzenslust malen könne.)

Er sprach vor einer halbleeren Halle (das israelische Fernsehen zeigte während seiner Rede vorsichtshalber nicht die ganze Halle), und die Zuhörerschaft bestand aus zweitklassigen Diplomaten, aber diese waren noch gut erzogene Leute. Selbst Netanjahu muss es klar gewesen sein, dass sie diese Schaustellung verachteten. Aber Netanjahu sprach gar nicht zu ihnen. Er redete mit der jüdischen Zuhörerschaft zu Hause in Israel und in den USA.

DIESE ZUHÖRERSCHAFT war stolz auf ihn. Es gelang ihm, ihre tiefsten Gefühle anzusprechen.

Um dies zu verstehen, muss man auf historische Erinnerungen zurückgreifen. Juden waren überall eine kleine, hilflose Gemeinschaft. Sie waren vollkommen vom nicht-jüdischen Herrscher abhängig.

Wann immer ihre Lage in Gefahr war, wählten die Juden die prominenteste Person aus ihren Reihen, um ihr Problem vor den Herrscher, den König oder Fürsten, zu bringen. Wenn dieser „Fürsprecher“ ( auf hebräisch Shetadlan) erfolgreich und die Gefahr abgewendet war, gewann er die Bewunderung der ganzen Gemeinde. In einigen Fällen erinnerte man sich noch Generationen lang an ihn wie an den mythischen Mordechai im biblischen Buch „Esther“.

Netanjahu erfüllte diese Funktion. Er ging direkt ins Zentrum der nicht-jüdischen Macht, das heutige Äquivalent des persischen Kaisers, und vertrat die Sache der Juden, die mit Vernichtung durch den gegenwärtigen Erben Hamans des Bösen, bedroht werden . (s. auch Buch „Esther“)

Und was für eine geniale Idee, die Zeichnung mit der Bombe vorzuzeigen! Sie wurde auf den ersten Seiten von Hunderten von Zeitungen und Nachrichtenprogrammen im Fernsehen rund um die Welt gezeigt, einschließlich der New York Times!

Für Netanjahu war dies „die Rede seines Lebens“. Um genau zu sein, wie ein TV-Kommentator trocken hinwies: es war die 8.Rede seines Lebens vor der UN-Vollversammlung.

Seine Popularität sprang in neue Höhen. Moses selbst, der höchste Fürsprecher am Hof des Pharao, hätte es nicht besser machen können.

DIE CRUX der Sache lag aber irgendwo verborgen zwischen dem Schwall von Worten.

Der „unvermeidliche“ Angriff auf Irans nukleare Einrichtungen, um einen zweiten Holocaust zu verhindern, wurde auf das nächste Frühjahr oder den Sommer verschoben. Nach der monatelangen Drohung, dass der tödliche Angriff kurz bevorstehe, jede Minute gar – es war keine Minute zu versäumen – verschwand im Nebel der Zukunft.

Warum? Was war geschehen?

Nun ja, ein Grund war die Umfrage, die anzeigte, dass Barack Obama wieder gewählt werden könnte. Netanjahu hatte beharrlich alle seine Karten auf Mitt Romney, seinen ideologischen Klon, gesetzt. Aber Netanjahu glaubt auch bedingungslos an Umfragen. Es scheint, dass seine Berater ihn davon überzeugt haben, auf Nummer sicher zu gehen. Der üble Obama mag trotz Sheldon Adelsons Millionen gewinnen. Besonders jetzt, nachdem der Milliardär George Sorros sein Geld auf den amtierenden Präsidenten gesetzt hat.

Netanjahu hatte die brillante Idee, den Iran direkt vor den US-Wahlen anzugreifen. Er hoffte, dass die Hände aller amerikanischen Politiker gebunden sein würden. Wer würde es wagen, zu diesem Zeitpunkt Israel zurück zu halten? Wer würde sich weigern, Israel zu helfen, wenn die Iraner zurückschlagen?

Aber wie so viele von Netanjahus brillanten Ideen, so ist auch diese ein Flop. Obama hat Netanjahu in klaren Worten gesagt: Kein Angriff vor den Wahlen – oder …

DER NÄCHSTE Präsident der USA – wer immer es sein mag – wird Netanjahu genau dasselbe auch nach den Wahlen sagen.

Wie ich schon früher gesagt habe (man möge mich entschuldigen, dass ich mich wieder selbst zitiere), ein militärischer Angriff auf den Iran kommt nicht in Frage. Der Preis ist unerträglich hoch. Die geographischen, wirtschaftlichen und militärischen Fakten wirken zusammen, um dies zu verhindern. Die Meerenge von Hormuz würde geschlossen werden, die Weltwirtschaft würde zusammenbrechen, ein langer und verheerender Krieg wäre die Folge.

Selbst wenn Mitt Romney an der Macht wäre, umgeben von einer Menge von Neo-Cons würde es kein bisschen diese Fakten ändern.

Obamas Sache wird durch die aus dem Iran kommenden wirtschaftlichen Nachrichten sehr gestärkt. Die internationalen Sanktionen haben erstaunliche Ergebnisse. Die Skeptiker – von Netanjahu angeführt – werden widerlegt.

Im Gegensatz zu den anti-islamischen Karikaturen ist der Iran ein normales Land mit einer normalen Mittelklasse und Bürgern mit hohem politischem Bewusstsein. Sie wissen, dass Mahmoud Achmadinejad ein Tor ist. ( Falls er tatsächlich eine Atombombe produzieren wollte, hätte er dann wirklich all diese idiotischen Reden über Israel und/oder den Holocaust gehalten? Hätte er dann nicht eher seinen Mund gehalten und im Stillen hart gearbeitet ?) Aber da er sowieso weggeht, braucht man gerade jetzt keine Revolution machen.

Das praktische Ergebnis: Tut mir leid: kein Krieg.

DIE GANZE Affäre bringt uns wieder auf die Walt-Mearsheimer-Kontroverse. Kontrolliert Israel die US-Politik? Wedelt der Schwanz mit dem Hund?

Zu einem sehr großen Teil ist dies zweifellos der Fall. Es genügt, der gegenwärtigen Wahlkampagne zu folgen und wahrzunehmen, wie beide Kandidaten mit der israelische Regierung in unterwürfiger Weise umgehen, mit einander konkurrieren, wer den andern mit schmeichelnden Worten und Unterstützung übertrifft.

Jüdische Stimmen spielen eine bedeutende Rolle in Pendelstaaten, und jüdisches Geld spielt eine große Rolle bei der Finanzierung beider Kandidaten (O tempora- o mores! Es gab einmal einen jüdischen Witz: Ein polnischer Edelmann bedrohte seinen benachbarten Edelmann: „Wenn du meinen Juden schlägst, werde ich deinen Juden schlagen!“ Jetzt bedroht ein jüdischer Milliardär einen andern jüdischen Milliardär: Wenn du deinem Goi eine Million schenkst, gebe ich meinem Goi eine Million!“)

Die Nahost-Politik des Obama-Regierungsstabes ist von zionistischen Juden besetzt bis zum US-Botschafter in Tel Aviv, der ausgezeichnet Hebräisch spricht. Dennis Ross, der den Nahost-Friedens begrub, scheint überall zu sein. Romney’s Neo-Cons sind auch meistens Juden.

Juden haben einen sehr großen Einfluss – bis zu einem gewissen Punkt. Dieser Punkt ist extrem wichtig.

Ein kleines Beispiel: Jonathan Pollard, der amerikanisch-jüdische Spion, bekam eine lebenslängliche Gefängnisstrafe. Viele Leute (einschließlich meiner selbst) halten diese Strafe für ungebührlich hart. Doch kein Amerikaner wagte zu protestieren, auch AIPAC verhielt sich ruhig, und kein amerikanischer Präsident wurde von israelischem Ersuchen zur Milde umgestimmt. Das für die Sicherheit zuständige US-Establishment sagte nein, und dabei blieb es.

Der Krieg gegen den Iran ist eine Million mal bedeutender. Er betrifft lebenswichtige amerikanische Interessen. Das amerikanische Militär ist dagegen (wie auch das israelische Militär). Jeder in Washington DC weiß, dass dies keine Nebensache ist. Es berührt die eigentliche Basis der amerikanischen Macht in der Welt.

Und wer hätte das gedacht: die USA sagen gegenüber Israel „Nein“. Der Präsident sagt kühl, in Sachen lebenswichtiger Sicherheitsinteressen kann kein fremdes Land den US-Chef-Kommandeur zwingen, rote Linien ziehen und ihn selbst in einen Krieg ziehen . Nicht einmal mit Hilfe von Zeichnungen aus einem Comicbuch.

Die Israelis sind entsetzt. Was? Wir, das von Gott erwählte Volk, sind Fremde? Genau wie andere Ausländer?

Dies ist eine sehr wichtige Lektion. Wenn sich die Dinge zuspitzen, dann ist der Hund ein Hund und der Schwanz noch immer ein Schwanz.

WAS IST es also mit Netanjahus Iran- Engagement?

Vor kurzem wurde ich von einem ausländischen Journalisten gefragt, ob Netanjahu die Beendigung der militärischen Option gegen den Iran überleben wird, nachdem er monatelang über nichts anderes geredet hat. Wie ist es mit dem iranischen Hitler? Was ist mit dem bevorstehenden Holocaust?

Ich sagte zu ihm, er solle sich darüber keine Sorgen machen. Netanjahu kann leicht damit fertig werden, indem er erklärt, die ganze Sache sei eine List gewesen, damit die Welt strengere Sanktionen gegen den Iran verhänge.

Aber war es das?

Einflussreiche Leute in Israel sind in zwei Gruppen geteilt, die zwei Meinungen vertreten.

Das erste Lager macht sich Sorgen, dass unser Ministerpräsident wirklich übergeschnappt sei. Dass er von der Idee Iran besessen sei, vielleicht krankhaft unausgewogen, dass der Iran für ihn zu einer fixen Idee wurde.

Das andere Lager ist davon überzeugt, dass die ganze Sache von Anfang an ein Trick war, um unsere Aufmerksamkeit von dem einen Problem abzulenken, mit dem wir uns wirklich befassen sollten: Frieden mit den Palästinensern.

Darin war er sehr erfolgreich. Seit Monaten stand Palästina weder auf Israels Agenda noch auf der der Welt. Palästina? Frieden? Was für ein Palästina? Was für ein Frieden? Und während die Welt auf den Iran wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf die Schlange starrt, werden Siedlungen vergrößert und die Besatzung verstärkt – und wir segeln stolz auf eine Katastrophe zu.

Und das ist keineswegs eine Geschichte aus einem Comicbuch.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Die große Unterlassung

Erstellt von Redaktion am 7. Oktober 2012

Die große Unterlassung

Autor Uri Avnery

ICH SITZE hier, um diesen Artikel auf die Minute genau zu schreiben , als vor 39 Jahren die Sirenen zu heulen anfingen.

Eine Minute vorher herrschte totale Ruhe so wie jetzt. Kein Verkehr, keine Aktivitäten auf der Straße, wenn man von ein paar radelnden Kindern absieht. Yom Kippur, der heiligste Tag für Juden, herrschte absolut. Und dann ….

Unvermeidlich beginnt die Erinnerung zu arbeiten.

IN DIESEM Jahr wurden viele alte Dokumente für die Veröffentlichung frei gegeben. Kritische Bücher und Artikel folgten.

Alle beschuldigten die Ministerpräsidentin Golda Meir und den Verteidigungsminister Moshe Dayan.

Sie sind schon direkt nach dem Krieg getadelt worden, aber nur für oberflächliche militärische Versäumnisse, die man „die große Unterlassung“ nannte. Die Unterlassung war, die Reservisten nicht mobilisiert und die Panzer nicht rechtzeitig an die Front gebracht zu haben, trotz der vielen Anzeichen, Ägypten und Syrien seien im Begriff, uns anzugreifen.

Jetzt wird zum ersten Mal die wirklich „große Unterlassung“ untersucht: der politische Hintergrund des Krieges. Die Ergebnisse haben einen direkten Bezug zu dem, was jetzt geschieht.

ES STELLT sich heraus, dass im Februar 1973, also acht Monate vor dem Krieg, Anwar Sadat seinen Vertrauensmann Hafez Ismail zum allmächtigen US-Außenminister Henry Kissinger sandte. Er bot ihm an, sofort Friedensverhandlungen mit Israel zu beginnen.

Es gab eine Bedingung und ein Datum: der ganze Sinai bis zur internationalen Grenze sollte ohne irgend eine israelische Siedlung an Ägypten zurückgegeben werden, und das Abkommen sollte spätestens bis Ende September abgeschlossen sein.

Kissinger mochte den Vorschlag und gab ihn gleich an den israelischen Botschafter Yitzhak Rabin weiter, der im Begriff war, seine Amtszeit zu beenden. Rabin informierte natürlich gleich die Ministerpräsidentin Golda Meir.

Golda schlug das Angebot sofort ab. Es folgte eine hitzige Konversion zwischen dem Botschafter und der Ministerpräsidentin. Rabin, der Kissinger sehr nahe stand, hätte das Angebot gerne angenommen.

Golda behandelte die ganze Initiative als einen weiteren arabischen Trick, sie zu veranlassen, die Sinai-Halbinsel aufzugeben und die Siedlungen, die auf ägyptischem Territorium gebaut worden waren, zu entfernen.

Schließlich war der wirkliche Zweck dieser Siedlungen – einschließlich der neuen in hellem Weiß leuchtenden Stadt Yamit – genau die Rückgabe der ganzen Halbinsel an Ägypten zu verhindern. Weder Golda noch Dayan dachten daran, den Sinai zurückzugeben. Dayan hatte schon den berüchtigten Ausspruch gemacht, er zöge „Sharm al-Sheik ohne Frieden dem Frieden ohne Sharm al-Sheik“ vor. (Sharm al-Sheik, dem schon der hebräische Namen Ophira gegeben worden war, liegt nahe der südlichen Spitze der Halbinsel, nicht weit von den Ölquellen, die Dayan auch nicht aufgeben wollte.)

Selbst vor den neuen Enthüllungen, war die Tatsache, dass Sadat mehrere Friedens-annäherungen gemacht hatte, kein Geheimnis gewesen. Sadat hatte seine Bereitschaft, ein Abkommen zu erreichen, bei seinen Gesprächen mit UN-Vermittler Dr. Gunnar Jarring zu verstehen gegeben. Dessen Bemühungen waren in Israel schon zu einem Witz geworden.

Zuvor hatte der vorherige ägyptische Präsident Gamal Abd-al-Nasser Nahum Goldman, den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses (und eine Zeit lang der Präsident der Zionistischen Weltorganisation) eingeladen, ihn in Kairo zu treffen. Golda hat dieses Treffen verhindert, und als dies bekannt wurde, gab es in Israel einen Sturm von Protesten, einschließlich des berühmten Briefes einer Gruppe von Zwölft-Klässlern, die zu verstehen gaben, dass es für sie hart werden würde, in der Armee zu dienen.

All diese ägyptischen Initiativen konnten als politische Manöver beiseite gewischt werden. Aber eine offizielle Botschaft von Sadat an den amerikanischen Außenminister konnte nicht ignoriert werden.

Golda entschied sich, auf Grund der Lektion des Goldman-Vorfalles die ganze Sache einfach geheim zu halten.

AUF DIESE Weise wurde eine unglaubliche Situation geschaffen. Diese schicksalhafte Initiative, die einen historischen Wendepunkt hätte bewirken können, wurde nur zwei Leuten zur Kenntnisnahme gebracht: Moshe Dayan und Israel Galili.

Die Rolle des letzteren muss erklärt werden: Galili war die „graue Eminenz“ Goldas, als auch ihres Vorgängers Levy Eshkol. Ich kannte Galili gut und verstand nie, wo sein Ansehen als brillanter Stratege herkam. Vor der Gründung des Staates, war er die Lichtgestalt der illegalen Hagana-Militärorganisation. Als Mitglied eines Kibbuzes war er offiziell ein Sozialist, aber in Wirklichkeit war er ein nationalistischer Hardliner. Er war es, der die brillante Idee hatte, Siedlungen auf ägyptischem Territorium zu bauen, um die Rückgabe des nördlichen Sinai unmöglich zu machen.

Die Sadat-Initiative war also nur fünf Personen bekannt: Golda, Dayan, Galili, Rabin und Rabins Nachfolger in Washington Simcha Dinitz, einem Niemand, Goldas Lakai.

So unglaublich es klingen mag: der Außenminister Abba Ebban, Rabins direkter Boss war nicht informiert. Noch waren es all die anderen Minister, der Stabschef und die anderen Führer der bewaffneten Kräfte, einschließlich der Chefs der Armee-Nachrichtendienste, wie auch die Chefs des Shin Bet und des Mossad. Es war ein Staatsgeheimnis.

Keine Debatte gab es darüber – weder öffentlich noch geheim . Der September kam und ging vorüber, und am 6. Oktober überquerten Sadats Soldaten den Suez-Kanal und erlangten einen welterschütternden Überraschungserfolg (wie die Syrer auf den Golan-Höhen).

Als direkte Folge von Goldas „großer Unterlassung“ starben 2693 israelische Soldaten, 7251 wurden verletzt und 314 wurden gefangen genommen (wobei die Zehntausende ägyptischer und syrischer Verluste noch nicht erwähnt wurden.)

IN DIESER Woche beklagten israelische Kommentatoren das totale Schweigen der Medien und Politiker zu jener Zeit.

Na ja, nicht völlig. Mehrere Monate vor dem Krieg warnte ich Golda Meir bei einer Rede in der Knesset, wenn der Sinai nicht bald zurückgegeben werde, würde Sadat mit einem Krieg beginnen, um den toten Punkt zu überwinden.

Ich wusste, worüber ich sprach. Ich hatte natürlich keine Ahnung von der Ismail-Mission. Aber im Mai 1973 nahm ich an einer Friedenskonferenz in Bologna teil. Die ägyptische Delegation wurde von Khalid Muhyi-al-Din geleitet, einem Mitglied der ursprünglichen Gruppe Freier Offiziere, von denen die 1952er-Revolution ausging. Während der Konferenz nahm er mich zur Seite und sagte mir im Vertrauen, wenn der Sinai nicht bis September zurückgegeben sei, würde Sadat einen Krieg beginnen. Sadat mache sich keine Illusionen darüber, wer siegen würde, sagte er, er hoffe aber, dass ein Krieg die USA und Israel zwingen würden, mit Verhandlungen über die Rückgabe des Sinai zu beginnen.

Meine Warnung wurde von den Medien vollkommen ignoriert. Sie behandelten wie Golda die ägyptische Armee mit abgrundtiefer Verachtung und betrachteten Sadat als Troddel. Der Gedanke, dass die Ägypter die unbesiegbare israelische Armee anzugreifen wagen würden, erschien lächerlich.

Die Medien beteten Golda an. Auch die ganze Welt, besonders Feministinnen. (Ein berühmtes Poster zeigt ihr Gesicht mit der Aufschrift: „Aber kann sie tippen?“) In Wirklichkeit war Golda eine sehr primitive Person, ignorant und starrsinnig. Mein Magazin Haolam Hazeh griff sie praktisch jede Woche an wie auch ich in der Knesset. ( Sie gab mir das einzigartige Kompliment einer öffentlichen Erklärung, sie sei bereit, „ auf die Barrikaden zu gehen“, um mich aus der Knesset zu jagen.)

Unsere Stimme war wie „eine Stimme in der Wüste“, aber sie erfüllte eine Funktion: in ihrem Buch „Marsch der Torheiten“ ) verlangte Barbara Tuchman , dass eine Politik nur dann als töricht gebrandmarkt werden könne, wenn wenigstens eine Stimme zur richtigen Zeit gewarnt hätte.

Vielleicht hätte sogar Golda nachgedacht , wenn sie nicht von so sehr sie preisenden Journalisten und Politikern umgeben gewesen wäre, die ihre Weisheit und ihren Mut zelebrierten und jedem ihrer dummen Aussprüche applaudierten.

DER GLEICHE Typ von Leuten, ja, sogar einige genau derselben, tun jetzt gegenüber Benjamin Netanjahu dasselbe.

Wieder starren wir derselben „großen Unterlassung“ ins Gesicht.

Wieder entscheidet eine Gruppe von zwei oder drei Personen über das Schicksal der Nation. Allein Netanjahu und Ehud Barak (wahrscheinlich mit Hilfe Netanjahus Frau Sara’le ) treffen alle Entscheidungen und halten „ihre Karten nah an ihrer Brust“. Den Iran angreifen oder nicht angreifen? Die Politiker und Generäle werden im Dunklen gelassen. Bibi und Ehud wissen es am besten. Ein Beitrag von anderer Seite ist nicht nötig.

Aber bedeutender als die blutigen Drohungen gegen den Iran ist das totale Schweigen zu Palästina. Die palästinensischen Friedensangebote werden einfach ignoriert wie diejenigen von Sadat in der damaligen Zeit. Die zehn Jahre alte arabische Friedensinitiative, die von allen arabischen und muslimischen Staaten unterstützt wird, existiert nicht.

Wieder werden Siedlungen aufgebaut und erweitert, um die Rückgabe der besetzten Gebiete unmöglich zu machen. (erinnern wir uns an jene, die damals behaupteten , die Besetzung des Sinai sei „irreversibel“. Wer würde es wagen, Yamit zu zerstören?)

Wieder sind es Mengen von Schmeichlern, Medienstars und Politikern, die miteinander in der Lobhudelei des „Bibi, König von Israel“ wetteifern. Wie flüssig und sanft er auf amerikanisch reden kann! Wie überzeugend seine Reden in der UN und im US-Senat seien!

Nun, Golda war mit ihren etwa 200 Wörtern schlechtem Hebräisch und primitivem Amerikanisch viel überzeugender, und sie erfreute sich der Lobhudelei der ganzen westlichen Welt. Doch wenigstens hatte sie das rechte Gefühl, den amtierenden amerikanischen Präsidenten (Richard Nixon) während einer Wahlkampagne nicht herauszufordern.

IN JENEN Tagen nannte ich unsere Regierung „Das Narrenschiff“. Unsere jetzige Regierung ist schlimmer, viel schlimmer.

Golda und Dayan führten in eine Katastrophe. Nach dem Krieg, ihrem Krieg, wurden sie hinausgeworfen – nicht durch Wahlen, nicht durch irgendein Untersuchungskomitee , sondern durch einen Volksmassenprotest, der das Land erschütterte.

Bibi und Ehud führen uns in eine andere, viel schlimmere Katastrophe. Eines Tages werden sie von den selben Leuten hinausgeworfen, die sie jetzt anhimmeln – falls sie überleben.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Botschaft von Romneyahu

Erstellt von Redaktion am 30. September 2012

Botschaft von Romneyahu

Autor Uri Avnery

ES WAR einmal, dass Präsident Richard Nixon einen gewissen Juristen für das Oberste US-Gericht ernennen wollte.

„Aber dieser Mann ist ein kompletter Troddel!“ rief ein Senator aus.

„Ja und?“ antwortete ein anderer, „Es gibt eine Menge Troddel in den USA, und sie haben ein Recht, im Gericht vertreten zu sein, genau wie jeder andere Sektor der Gesellschaft.“

Vielleicht haben die vereinten Troddel von Amerika ein Recht, Mitt Romney als Präsidenten zu wählen. Aber um der USA und um Israels willen hoffe ich, dass dies nicht geschieht.

Einige Leute sagen, Israel sei der 51. Staat der Union. Einige sagen, es sei der 1. unter den 51. Was auch immer, unser Leben – vielleicht auch unser Tod – hängt zum großen Teil vom Mann im Weißen Haus ab.

Mit all meinen Bedenken ( und ich hab eine Menge) betreffs Barack Obama, so hoffe ich doch sehr, dass er wieder gewählt wird.

BEI SEINEM letzten Anfall von Weisheit hat Romney nicht nur bekannt gegeben, dass 47% der Amerikaner Parasiten seien, sondern auch, dass „die Palästinenser“ Israel zerstören wollen. Nach ihm gebe es in dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern keine Lösung, er werde auf ewig so weitergehen.

Ich frage mich, woher er diese letzte Weisheit hat.

In Nazi-Deutschland gab es einen gewissen Herrn Dr. Otto Dietrich, einen Funktionär des Propagandaministeriums. Jeden Tag versammelte er die Herausgeber der wichtigsten Tageszeitungen in Berlin und sagte ihnen, was ihre Schlagzeile und Kommentarseite am nächsten Tag beinhalten sollte.

Das war, bevor es Fax und Internet gab. Heutzutage faxt das Büro des Ministerpräsidenten eine tägliche „Seite der Botschaften“ an Netanyahus Minister und andere Handlanger, die ihnen sagen, welche Botschaften verbreitet werden sollen.

Ich habe stark den Verdacht, dass Romney diese Seite der Botschaften direkt vor dem Treffen mit seinem Auditorium, das aus Milliardären ( oder nur Millionären) zusammengesetzt war, gelesen hat. Schließlich konnte er diese erstaunlichen Einsichten nicht von sich selbst haben, oder ?

„DIE PALÄSTINENSER“ bedeutet „alle Palästinenser“. Alle neun Millionen von ihnen in der Westbank, Ost-Jerusalem, im Gazastreifen, in Israel und – nicht zu vergessen – die Flüchtlinge in aller Welt.

Ich vermute, dass, wenn durch göttliche Intervention Israel von der Weltkarte verschwinden sollte, nur sehr wenige Palästinenser eine Träne vergießen würden. Und nicht viele Israelis würden eine Träne vergießen, wenn wieder durch göttliche Intervention alle Palästinenser aus dem Lande verschwinden würden. Wer weiß, wenn Romneys evangelikale Freunde genug beten, lässt Gott alle Russen, Chinesen, Nordkoreaner, Iraner und andere sortierte Bösewichte entmaterialisieren.

Leider gehören solche Fantasien ins Reich der Träume und Alpträume. In der wirklichen Welt verschwinden keine Völker, nicht einmal nach grausigen Völkermorden, noch können Staaten, die Atombomben besitzen, von ausländischen Feinden ausradiert werden .

Ich kenne eine ganze Anzahl von Palästinensern, und keiner von ihnen glaubt, dass Israel vernichtet werden kann. Seitdem Yasser Arafat Ende 1973 sich entschlossen hat, er müsse sich mit Israel einigen, wünscht die große Mehrheit der Palästinenser ein Abkommen, das ihnen ermöglicht, ihren eigenen Staat in einem Teil des historischen Palästinas aufzubauen. Dies wird die „Zwei-Staaten-Lösung“ genannt.

Die gegenwärtige Regierung Israels wünscht dies nicht, weil sie nicht bereit ist, 22% des historischen Palästinas, das der Staat Palästina werden würde, aufzugeben. Da sie keine lebensfähige Alternative haben, behaupten Regierungssprecher, dass „dieser Konflikt keine Lösung hat.“

Einer der Väter dieses Schlagwortes ist Ehud Barak. Nach dem gescheiterten Camp-David-Treffen erklärte Barak, damaliger Ministerpräsident, „wir haben keinen Partner für den Frieden.“ Da Barak die Hauptursache für das Scheitern des Treffens war, nannte ich ihn einen „ Friedenskriminellen“.

Netanyahu nahm dankbar Baraks Slogan auf, und jetzt glaubt die Mehrheit in Israel diese Botschaft. (Vor kurzem wurde ich hier von einer dänischen Journalistin interviewt. Ich sagte zu ihr: Wenn wir hier fertig sind, halten sie das nächstbeste Taxi an und fragen Sie den Fahrer nach dem Frieden. Er wird Ihnen sagen: “Frieden wäre wunderbar. Ich bin bereit, alle (besetzten) Gebiete zurückzugeben. Aber leider wollen die Araber keinen Frieden mit uns machen.“ Eine Stunde später rief mich die Journalistin aufgeregt an: „Ich machte genau das, was Sie sagten, und der Fahrer wiederholte Ihre Worte Wort für Wort.“)

„Keine Lösung“ gibt den Eindruck von „es wird alles so bleiben, wie es ist.“ Das ist ein Irrtum. Nichts bleibt, wie es ist. Die Dinge bewegen sich ständig, die Siedlungen wachsen, die Palästinenser werden sich erheben, die Welt ist im Fluss, die arabische Welt verändert sich, China wird eine Weltmacht, eines Tages wird ein amerikanischer Präsident die Interessen der US denen Israels voranstellen. Wo werden wir dann sein?

DAS WESENTLICHE von Romneys Aussage ist, dass die Zwei-Staaten-Lösung tot ist. Dies erinnert mich an Marc Twains berühmtes Wort: „Der Bericht von meinem Tod war eine Übertreibung.“

Es ist jetzt Mode, so zu reden. Ein Trend. Doch, verschiedene Leute haben verschiedene Gründe, dies zu glauben, dass die Zwei-Staaten-Lösung tot ist.

Eltern, Lehrer, Pädophile und Kannibalen sagen alle, sie liebten die Kinder – aber ihre Motive sind nicht dieselben. Das gilt auch hier für die Möchtegern-Bestatter der Zwei-Staaten-Lösung. Sie beschließen:

Erstens: Idealisten, die wünschen, dass Menschen verschiedener Nationen in Harmonie und Gleichheit in einem Staat zusammenleben. (Ich würde ihnen raten, die Geschichte der Sowjetunion, Jugoslawiens, Zyperns, der Tschechoslowakei, des Sudan und die augenblicklichen Situation der Franzosen in Kanada, der Schotten in Großbritannien, der Flamen in Belgien und der Basken und Katalanen in Spanien zu studieren.)

Zweitens : Araber, die glauben, dass dies ein friedlicher Weg wäre, Israel loszuwerden.

Drittens: Die Siedler, die das ganze historische Palästina unter ihre Herrschaft bringen und, wenn möglich, das Land von Nicht-Juden „säubern“ wollen.

Viertens: Israelis, die glauben, dass die Siedlungen eine Situation geschaffen haben, die „irreversibel“ ist (Meron Benvenisti, ein früherer stellvertretender Bürgermeister von Jerusalem, prägte diesen Satz schon in den 80ern, als es dort weniger als 100 000 Siedler gab. Ich sagte damals zu ihm, dass nichts außer dem Tod irreversibel sei. Die von Menschen geschaffenen Situationen können durch Menschen wieder verändert werden.)

Fünftens: Antizionisten, einschließlich jüdischer Antizionisten, die den Zionismus willkürlich mit allen seinen guten und schlechten Seiten hassen und für die allein die Existenz eines „jüdischen Staates“ schon grässlich ist.

Sechstens: die muslimischen Fanatiker, die glauben, dass Palästina ein muslimischer WAQF (Religiöse Stiftung) sei, so dass es eine Todsünde sei, einen Teil nicht-muslimischen Ungläubigen zu überlassen.

Siebtens: Jüdische Fanatiker, die glauben, dass ganz Erez Israel vom Nil bis zum Euphrat den Juden von Gott versprochen worden sei, sodass es eine tödliche Sünde sei, einen Teil Nicht-Juden abzutreten.

Achtens: Christliche Fanatiker, die glauben, dass die Wiederkunft Jesu Christi nur möglich sein wird, nachdem alle Juden der Welt sich in diesem Land versammelt hätten (ohne Platz für irgend jemand anderen).

Entschuldigt, wenn ich jemanden vergessen haben sollte.

EINIGE DIESER Leute haben etwas erfunden, das sich „Ein-Staat-Lösung“ nennt. Das ist ein Oxymoron. Es gibt ein Ein-Staat-Problem, doch es gibt keine „Ein-Staat-Lösung“

Von Zeit zu Zeit lohnt es sich, auf die grundlegenden Faktoren unseres Lebens zurück zu kommen.

In diesem Lande hier leben zwei Völker.

Keines der beiden will weggehen. Sie werden bleiben.

Während die arabischen Palästinenser, die im Lande leben , nur eine Minderheit sind, werden sie ziemlich bald die Mehrheit sein.

Beide Völker sind sehr nationalistisch.

Die beiden Völker haben verschiedene Kulturen, Sprachen, Religionen, historische Narrative, soziale Strukturen und verschiedenen Lebensstandard. Gegenwärtig – nach etwa 130 Jahren eines anhaltenden Konflikts – hat sich zwischen ihnen ein intensiver Hass aufgebaut.

Die Aussicht, dass diese beiden Völker friedlich in einem Staat zusammenleben, in derselben Armee und Polizei dienen, dieselben Steuern zahlen und dieselben Gesetze einhalten könnten, die vom gemeinsamen Parlament erlassen werden, ist gleich null.

Die Möglichkeit, dass diese beiden Völker friedlich Seite an Seite leben können, jedes mit seiner eigenen Flagge und seiner eigenen gewählten Regierung (und seinem eigenen Fußballteam) existiert bereits.

Solche Koexistenz kann verschiedene Formen annehmen: von einer losen Konföderation mit offenen Grenzen und freier Bewegung zu engeren Formen von sich entwickelnden Strukturen, wie die Europäische Union.

Ich hoffe, dass dies nicht zu kompliziert für Mitt Romney ist, um es zu verstehen. Aber dies mag irrelevant werden, wenn er – wie ich inbrünstig hoffe – nicht gewählt wird.

Ich würde es sehr ungern sehen, wenn einem Ignoranten die Gelegenheit gegeben würde, die Angelegenheiten der Welt auf unserm Rücken zu lernen .

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Meister des Unfugs

Erstellt von Redaktion am 9. September 2012

Meister des Unfugs

Autor Uri Avnery

AVIGDOR LIEBERMAN hat ein unruhiges Wesen. Von Zeit zu Zeit muss er etwas tun, irgendetwas.

Als Minister für auswärtige Angelegenheiten sollte er in den auswärtigen Angelegenheiten wirklich etwas tun. Das Problem ist, dass die auswärtigen Angelegenheiten von andern geregelt werden.

Der wichtigste Sektor unserer ausländischen Angelegenheiten betrifft die Beziehung mit den USA. Dies ist tatsächlich so wichtig, dass Benjamin Netanjahu diesen Sektor ganz für sich behält. Unser Botschafter in Washington berichtet ihm persönlich, nachdem dieser von Sheldon Adelson, dem Casino-Milliardär, ausgewählt wurde.

Die Beziehungen mit den Palästinensern werden meistens von Ehud Barak (miss-)gemanagt, der als Verteidigungsminister offiziell die Verantwortung für die besetzten Gebiete hat. Der Haupthandelnde dort ist der Shin Bet, der unter der Amtsgewalt des Ministerpräsidenten steht.

Die Beziehungen zur arabischen Welt, so wie sie sind, werden vom Mossad aufrecht erhalten, also auch unter der Jurisdiktion des Ministerpräsidenten. Praktisch treffen Netanjahu und Barak gemeinsam die Entscheidungen, natürlich einschließlich der Entscheidung, die den Iran betrifft.

Was bleibt also für Lieberman übrig? Er kann sich, so viel er will, mit Sambia und den Fidschi-Inseln beschäftigen. Er kann Botschafter für Guatemala und Uganda ernennen. Und das ist es dann schon.

Abgesehen davon, hat er ein persönliches Monopol für die Beziehungen mit den Ländern der früheren Sowjetunion. Wie kommt das? Nun, er wurde im sowjetischen Moldawien geboren und spricht fließend russisch. Obwohl er schon vor 34 Jahren, nur wenige Tage nach seinem 20. Geburtstag, nach Israel kam, wird er von den meisten Israelis für einen „Russen“ gehalten, der mit einem schweren russischen Akzent hebräisch spricht und so fremd wie möglich aussieht. Aber seine Verbindungen mit jenem Teil der Welt geht weit über kulturelle Faktoren hinaus – er ist ein leidenschaftlicher Bewunderer von Vladimir Putin und seiner Doppelgänger Alexander Lukaschenko in Minsk und Victor Yanukovych in Kiew. Er würde am liebsten dieselbe Art von Regime in Israel einführen – mit sich selbst als Doppelgänger von Putin.

Die meisten seiner Kollegen in Europa und in aller Welt meiden ihn wegen seiner Ansichten, die viele von ihnen als halb-faschistisch, wenn nicht als etwas Schlimmeres ansehen.

WIE KAM Netanjahu dazu, unter allen möglichen Jobs ihm den Job des Außenministers zu geben ? Nun, als der Führer einer Partei, die wesentlich zur Bildung einer rechten Koalition beiträgt, hatte er ein Recht auf eines der drei großen Ministerien: Verteidigung, Finanzen und auswärtige Beziehungen. Wer würde zu leugnen wagen, dass die Verteidigung ein von Gott gegebenes Lehen für Barak sei? Da Netanjahu sich selbst für ein ökonomisches Genie hält, entschied er, das Finanzministerium praktisch auch selbst zu übernehmen. Er fand einen Doktor der Philosophie, der den Vorteil hat, auf dem Gebiet der Wirtschaft unwissend zu sein; er ernannte ihn zu seinem Finanzminister. Da blieben nur noch die auswärtigen Angelegenheiten, ein sehr ungeliebtes Ministerium, für Liebermann.

Da dieses Ministerium nicht viel Aktivitäten erzeugt und so auch weniger Schlagzeilen macht, ist Lieberman gezwungen, etwa alle paar Monate etwas zu schaffen, das Aufmerksamkeit erzeugt. Er hat schon viele seiner Kollegen im Ausland beleidigt, von seinem Vertreter Danny Ayalon gut unterstützt. Dieser rühmte sich gegenüber Journalisten, er hätte den türkischen Botschafter gedemütigt, indem er ihn auf einem niedrigen Sitz Platz nehmen ließ. Da zu jener Zeit die türkische Armee noch der engste Partner der israelischen Armee in der Region war, war Barak wütend.

Lieberman benötigt auch etwas, um die Aufmerksamkeit von seiner berüchtigten Korruptions-affäre abzulenken. Seit 14 Jahren wird er über den Empfang von Millionen Dollar aus mysteriösen Quellen im Ausland gerichtlich untersucht. Einiges von diesem Geld ging über seine Tochter, die gerade über 20 war, zu Strohgesellschaften im Ausland. Der Staatsanwalt muss noch entscheiden, ob er unter öffentliche Anklage gestellt werden soll, was ihn zwingen würde, sein Amt aufzugeben.

Jetzt hat Lieberman wieder Unfug gestiftet.

VOR ZWEI Wochen wunderten sich Netanjahu und Barak, in den Zeitungen zu lesen, dass Lieberman Briefe an die Außenminister des sog. Quartetts geschrieben habe – die USA, die EU, die UN und Russland – die den nicht-existierenden „Friedensprozess“ überwachen.

In dieser Botschaft verlangte Lieberman, dass die vier den Präsidenten der Palästinensischen Autorität Mahmoud Abbas entlassen und zu sofortigen Wahlen in der Westbank aufrufen sollten.

Der Schwachsinn dieser Botschaft ist verrückt, selbst nach Liebermans Standard.

Zunächst mal hat das Quartett absolut keine Autorität, irgend jemanden in Palästina zu entlassen, auch Israel nicht. Noch kann es irgendwo zu Wahlen aufrufen.

Es stimmt, die palästinensischen Wahlen sind längst fällig. Sie hätten im Januar 2010 stattfinden sollen. Hamas hatte schon verkündet, dass sie nicht daran teilnehmen werde, also würden sie nur in der Westbank gehalten. Das würde die Spaltung zwischen der PLO und der Hamas endgültig gemacht haben – eine Spaltung, die kein Palästinenser auf beiden Seiten zu verschlimmern wünscht.

Zweitens: wenn die Hamas teilnehmen würde, wäre es denkbar, dass der nächste palästinensische Präsident Khalid Meshal wäre, der Mann, den Israel in Amman zu ermorden versuchte. Mit der Muslimischen Bruderschaft, Hamas’ Mutterorganisation, jetzt in Ägypten sicher an der Macht, wären die Chancen von Hamas bei demokratischen Wahlen wahrscheinlich sogar noch größer als das letzte Mal, als sie mit Leichtigkeit gewannen.

Drittens und am wichtigsten: Mahmoud Abbas ist bei weitem der friedensorientierteste palästinensische Führer. Und das ist der springende Punkt.

LIEBERMANN GRÜNDET seine Forderungen auf die Behauptung, Abbas sei das Haupthindernis für den Frieden – eine Behauptung, die nur wenige Experten auf der Welt teilen. Liebermans wirklicher Grund für seine Initiative mag genau das Gegenteil sein: Abbas Haltung bringt Israel in die unbequeme Lage, der Friedenszerstörer zu sein.

Abbas Bedingungen für den Anfang von Friedensverhandlungen sind wohl bekannt. Israel muss alle Siedlungsaktivitäten stoppen. Die Welt ist im Großen und Ganzen damit einverstanden.

Abbas Bedingungen für Frieden sind auch bestens bekannt. Sie wurden vor langer Zeit von Yasser Arafat formuliert: ein Staat Palästina neben Israel, mit Ostjerusalem als seiner Hauptstadt und die Rückkehr zur Grünen Grenzlinie (mit unwesentlichen und einander abgestimmtem Austausch von Land); für das Flüchtlingsproblem eine „vereinbarte“ Lösung, was die symbolische Rückkehr einer kleinen Anzahl Flüchtlinge bedeutet. Die Welt ist auch damit im Großen und Ganzen einverstanden.

Wenn Israel Frieden mit den Palästinensern wollte, könnte es nächste Woche Frieden haben, dem in der übernächsten Woche Frieden mit der ganzen arabischen Welt folgen würde – unter den Bedingungen, die die Arabische Friedensinitiative festgesetzt hatte, die praktisch identisch mit den palästinensischen Bedingungen sind.

Dies ist natürlich die Quelle von Liebermans Hass auf Abbas. Wie Netanjahu denkt er nicht im Traum daran, „Großisrael“ aufzugeben. Deshalb bevorzugt er sehr eine palästinensische Führung, die aus Hamasleuten zusammengesetzt ist – das heißt so lange, wie Hamas den Frieden zurückweist.

IN DER Praxis arbeitet die von Präsident Abbas geführte palästinensische Behörde aktiv mit Israelis auf dem einen Gebiet zusammen, das für Israelis wirklich wichtig ist: die Sicherheit.

Die meisten Israelis glauben, dass palästinensische Gewalt (anderweitig als „Terrorismus“ bekannt) durch das „Sicherheitshindernis“ gestoppt wurde: durch die Kombination von Mauern und Zäunen, die tief in die besetzten palästinensischen Gebiete hineinreichen. Doch eine Mauer kann überklettert, Tunnel können unten durchgegraben werden und Militante können durch die Checkpoints geschmuggelt werden. Wie eine amerikanische Politikerin über die Mauer zwischen den USA und Mexiko sagte: „Zeige mir eine 15 m hohe Mauer, und ich zeige dir eine 16m hohe Leiter.“ Ich habe palästinensische Jungen sogar ohne Leiter an der Mauer hochklettern gesehen.

Der wirkliche Grund für das Ende der Gewaltakte, die Israel von der Westbank bedrohten, ist die intime tägliche Zusammenarbeit der palästinensischen Sicherheitskräfte mit den israelischen Sicherheitskräften. Auf Befehl von Abbas verfolgt die palästinensische Polizei, die tatsächlich eine Militärkraft ist und von US-Offizieren ausgebildet wurde, gnadenlos die Militanten von Hamas und anderen palästinensischen Fraktionen, die den „bewaffneten Kampf“ vorziehen.

Indem Abbas diesem Kurs folgt, nimmt er sehr große Risiken in Kauf. Hamas und andere klagen ihn der Kollaboration mit der Besatzungsmacht an und vergleichen die Palästinensische Autorität mit dem Vichy-Regime in Frankreich, das mit der Nazi-Besatzung zusammenarbeitete. (Die Polizei des Marschalls Henri Pétain, eines Helden des 1.Weltkrieges, arbeitete im 2. Weltkrieg eng mit den Deutschen zusammen, u.a. half sie ihnen, die Juden zusammenzutreiben und sie nach Auschwitz zu schicken.)

Abbas ist zu der Schlussfolgerung gekommen, dass der von den Palästinensern geführte „bewaffnete Kampf“ nirgendwohin führt. Er hoffte, dass die Abwesenheit von Gewaltakten der Bevölkerung der Westbank erlauben würde, ihre eigene zivile Gesellschaft aufzubauen, die palästinensischen Institutionen zu stärken, den erbarmungswürdigen Lebensstandard zu verbessern (weit weniger als ein Zehntel des israelischen) und die Palästinensische Autorität mit ausländischer Hilfe und Legitimität abzusichern. Unter der Verwaltung seines fähigen Ministerpräsidenten Salam Fayyad funktioniert dies auch – vorläufig.

Das Risiko ist tatsächlich groß. Die Wirtschaft der Westbank – so wie sie ist – mag jederzeit ins Schwimmen geraten. Die schleichende Vergrößerung der Siedlungen erreicht einen Punkt, an dem jedes palästinensische Dorf von ihnen umgeben ist und das Leben der Palästinenser unerträglich macht – besonders seit junge Siedler fast täglich terroristische Handlungen ausführen (s o von israelischen Sicherheitsleuten benannt), physisch die Dorfbewohner angreifen, Moscheen, Häuser und Autos anzünden und Olivenbäume fällen.

Eines Tages wird der Geist des arabischen Frühlings die Westbank erreichen, und nicht einmal die PLO-Führung wird in der Lage sein, die Welle aufzuhalten.

Nahe der Verzweiflung sucht Abbas nach einer Frist, indem er die UN um Anerkennung aufruft. Der Antrag auf Anerkennung Palästinas als ein Mitgliedstaat wird vom US-Veto im Sicherheitsrat blockiert. Jetzt erwägt Abbas die Vollversammlung, in der es kein Veto gibt, zu bitten, Palästina als Mitglied, „das kein Staat ist“, aufzunehmen. Lieberman nannte dies „politischen Terrorismus“.

Die israelische Regierung hat die palästinensische Anerkennung als „einseitig“ verdammt. (Als ob die Anerkennung Israels 1948 als Mitgliedstaat in der UN „vielseitig“ gewesen wäre.) Doch sei es wie es sei, angesichts der verheerenden israelischen und amerikanischen Drohungen muss Abbas vielleicht diese Bemühung auch fallen lassen, dass seine Position nicht noch mehr gefährdet wird.

In dieser Woche ist Abbas vom iranischen Regime eingeladen worden, bei der großen Versammlung der sog. Blockfreien Staaten in Teheran teilzunehmen. Der palästinensische Führer musste abwägen, ob er die Einladung annehmen und so einen internationalen Status gewinnen oder ob er sie aus Angst vor amerikanischen Repressalien zurückweisen solle. Er entschied teilzunehmen.

INZWISCHEN HAT Liebermann schon sein Ziel erreicht: ein paar Tage lang war er in den Nachrichten und sein Gesicht mit seinen bekannten verschlagenen Augen und seinem unheimlichen Lächeln war auf allen Fernsehschirmen zu sehen.

Jetzt wird er wieder für ein paar Wochen oder Monate von der Bildfläche verschwinden, bis er eine neue Art und Weise gefunden hat, wie man Unfug anstiften könne.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Wahnsinnig oder verrückt?

Erstellt von Redaktion am 2. September 2012

Wahnsinnig oder verrückt?

BENJAMIN NETANJAHU mag verrückt sein, aber er ist nicht wahnsinnig.

Ehud Barak mag wahnsinnig sein, aber er ist nicht verrückt.

Also: Israel wird den Iran nicht angreifen.

ICH HABE es schon früher gesagt und ich werde es wieder sagen, selbst nach dem endlosen Gerede darüber. Tatsächlich ist über keinen Krieg so viel geredet worden, bevor er stattfand.

Um die klassische Filmzeile zu zitieren; „Wenn du schießen musst, dann schieße! Rede nicht!“

Von allem Gerede Netanjahus über den unvermeidlichen Krieg ragt einer seiner Sätze heraus: „Im Untersuchungskomitee nach dem Krieg werde ich selbst die Verantwortung übernehmen, ich und ich allein!“

Ein sehr enthüllendes Statement.

Erstens: ein Untersuchungskomitee wird nur nach einem militärischen Fehlschlag ernannt. Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 gab es kein solches Komitee, auch nicht nach dem Sinai-Krieg 1956 und nach dem Sechstagekrieg 1967. Es gab jedoch Untersuchungskomitees nach dem Jom Kippur-Krieg 1974 und den Libanonkriegen 1982 und 2006. Indem er das Gespenst eines anderen Komitees heraufbeschwört, behandelt Netanjahu unbewusst diesen Krieg als einen unvermeidbaren Fehlschlag.

Zweitens: nach israelischem Gesetz ist die ganze Regierung Israels Oberkommandeur der Armee. Nach einem anderen Gesetz tragen alle Minister die „kollektive Verantwortung“. Das TIME-Magazin, das immer lächerlicher wird, mag „König Bibi“ krönen, aber wir haben noch keine Monarchie. Netanyahu ist nicht mehr als der primus inter pares – der erste unter Gleichen.

Drittens: in seinem Statement drückt Netanjahu grenzenlose Verachtung gegenüber seinen Ministerkollegen aus. Sie zählen nicht.

Netanjahu betrachtet sich selbst als modernen Winston Churchill. Ich kann mich nicht erinnern, dass der, nachdem er das Amt übernommen hatte, verkündigte: „Ich bin verantwortlich für die nächste Niederlage.“ Selbst in der verzweifelten Situation jener Zeit glaubte Churchill an den Sieg. Und das Wörtchen „ich“ kam nicht groß in seiner Rede vor.

BEI DER täglichen Gehirnwäsche wird das Problem in militärischen Termini präsentiert. Die Debatte befasst sich mit militärischen Fähigkeiten und Gefahren.

Israelis sind verständlicherweise besonders besorgt über den Regen von Zig-Tausenden von Raketen, von denen man erwartet, dass sie in allen Teilen Israels – nicht nur aus dem Iran kommend – fallen werden, sondern auch vom Libanon und dem Gazastreifen. Der Minister für zivile Verteidigung gab gerade in dieser Woche sein Amt auf, und ein anderer, ein Flüchtling der glücklosen Kadima-Partei, hat sein Amt übernommen. Jeder weiß, dass ein großer Teil der Bevölkerung (einschließlich mir) völlig schutzlos ist.

Ehud Barak hat angekündigt, dass nicht mehr als mickrige 500 Israelis von feindlichen Raketen getötet werden. Ich hoffe nicht, die Ehre zu haben, zu ihnen zu gehören, obwohl ich in der Nähe des Verteidigungsministeriums lebe.

Aber die militärische Konfrontation zwischen Israel und dem Iran ist nur ein Teil des Bildes – und nicht der bedeutendste.

Wie ich in der Vergangenheit schon angedeutet habe, ist die Auswirkung auf die Weltwirtschaft, die so schon in einer tiefen Krise steckt, weit wichtiger. Ein israelischer Angriff wird vom Iran als von Amerika inspiriert angesehen, und die Reaktion wird entsprechend sein, wie dies vom Iran in dieser Woche ausdrücklich festgestellt wurde.

Der Persische Golf ist wie eine Flasche, deren Hals die Meerenge von Hormuz ist, die vollkommen vom Iran kontrolliert wird. Die riesigen amerikanischen Flugzeugträger, die zur Zeit im Golf stationiert sind, wären gut beraten, hinauszufahren, bevor es zu spät ist. Sie ähneln jenen alten Segelbooten, die Liebhaber in Flaschen zusammenbastelten. Selbst die mächtige militärische Ausrüstung der US wäre nicht in der Lage, die Meerenge offen zu halten. Einfache Land-See-Raketen würden genügen, um sie monatelang geschlossen zu halten. Um sie zu öffnen, wäre eine lange Landoperation durch die USA und ihre Verbündeten erforderlich. Ein langes und blutiges Geschäft mit ungewissen Resultaten.

Ein großer Teil der Weltölreserven müssen diese einzigartige Wasserstraße passieren. Sogar die bloße Drohung ihrer Schließung würde die Ölpreise unermesslich in die Höhe treiben. Derzeitige Feindseligkeiten werden weltweit einen wirtschaftlichen Kollaps verursachen mit hundert Tausenden – wenn nicht Millionen – von neuen Arbeitslosen.

Jedes dieser Opfer wird Israel verfluchen. Da es kristallklar sein wird, dass dies ein israelischer Krieg ist, wird sich die Wut gegen uns richten. Schlimmer noch, viel schlimmer – da Israel darauf besteht, es sei der „Staat für das jüdische Volk“, wird die Wut die Form eines nie da gewesenen Ausbruchs von Anti-Semitismus annehmen. Neumodische Islamophoben werden sich in altmodische Judenhasser verwandeln. „Die Juden sind unser Unglück“, wie die Nazis zu behaupten pflegten.

Dies mag am schlimmsten in den USA sein. Bis jetzt haben die amerikanischen Bürger mit einer bewundernswerten Toleranz zugesehen, wie ihre Nahost-Politik praktisch von Israel diktiert wurde. Doch sogar der AIPAC und seine Verbündeten werden nicht in der Lage sein, den Ausbruch öffentlicher Wut aufzuhalten. Sie werden hinweg gefegt werden wie die Wellenbrecher vor New Orleans.

DIES WIRD eine direkte Auswirkung auf eine zentrale Kalkulation der Kriegstreiber haben.

Bei privaten Gesprächen, aber nicht nur dort, behaupten sie, dass Amerika am Vorabend der Wahlen bewegungsunfähig sein wird. Während der letzten paar Wochen vor dem 6. November werden beide Kandidaten sehr große Angst vor der jüdischen Lobby haben.

Die Kalkulation von Netanjahu und Barak sieht folgendermaßen aus: sie werden angreifen, ohne sich den Teufel um die amerikanischen Wünsche zu scheren. Der iranische Gegenangriff wird gegen amerikanische Interessen gerichtet sein. Die USA werden gegen ihren Willen in den Krieg mit hineingezogen.

Doch selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass die Iraner mit äußerster Zurückhaltung gegen ihre Statements handeln und nicht amerikanische Ziele angreifen sollten, wird Präsident Obama gezwungen sein, uns zu retten, eine riesige Menge Waffen und Munition senden, unsere Antiraketen-Verteidigung aufbessern und den Krieg finanzieren. Sonst würde er angeklagt, Israel im Stich gelassen zu haben, und Mitt Romney würde als Retter des jüdischen Staates gewählt werden.

Diese Kalkulation gründet sich auf historische Erfahrungen. Alle israelischen Regierungen der Vergangenheit haben die amerikanischen Wahljahre für ihre Zwecke ausgenützt.

Als 1948 von den USA gefordert wurde, den neuen israelischen Staat gegen den ausdrücklichen Rat des Außen- und Verteidigungsministers anzuerkennen, kämpfte Präsident Truman gerade um sein politisches Leben. Seine Wahlkampagne war bankrott. Im letzten Augenblick sprangen jüdische Millionäre in die Bresche. Truman und Israel waren gerettet.

1956 war Präsident Eisenhower inmitten seiner Wiederwahlkampagne, als Israel zusammen mit Frankreich und England Ägypten angriff. Es war eine Fehlkalkulation – Eisenhower benötigte keine jüdischen Stimmen und Geld und ließ das Abenteuer stoppen. In andern Wahljahren waren die Einsätze niedriger, aber die Gelegenheit wurde immer ausgenützt, um einige Konzessionen von den USA zu erlangen.

Wird es dieses Mal funktionieren? Wenn Israel am Vorabend der Wahlen einen Krieg auslösen wird , offensichtlich, um den Präsidenten zu erpressen, wird die amerikanische Öffentlichkeit Israel unterstützen – oder wird das Gegenteil passieren? Es wird ein entscheidendes Risiko von historischen Ausmaßen sein. Aber Netanjahu ist – wie Mitt Romney – ein Protégé des Casino-Magnaten Sheldon Adelson, und er kann nicht abgeneigter gegenüber Risiken sein, als die armen Troddel, die ihr Geld in Adelsons Casino lassen.

WO SIND die Israelis bei all diesem?

Trotz der ständigen Gehirnwäsche zeigen die Umfragen, dass die Mehrheit der Israelis absolut gegen einen Angriff ist. Netanjahu und Barak werden als zwei Suchtkranke gesehen, manche sagen Größenwahnsinnige, die nicht mehr rational denken.

Einer der bemerkenswertesten Aspekte der Situation ist, dass unser Armeechef und der ganze Generalstab als auch die Chefs des Mossad und des Geheimdienstes (Shin Bet) und fast alle ihre Vorgänger vollkommen und öffentlich gegen einen Angriff sind.

Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, dass militärische Kommandeure moderater als ihre politischen Chefs sind, auch wenn dies in Israel schon mal vorgekommen ist. Man mag sich sehr wohl fragen: wie können politische Führer einen schicksalhaften Krieg beginnen, wenn praktisch alle ihre militärischen Berater, die unsere militärischen Fähigkeiten und Grenzen kennen, dagegen sind?

Einer der Gründe dieser Opposition ist, dass die Armeechefs besser als jeder andere wissen, wie vollkommen abhängig Israel von den USA wirklich ist. Unsere Beziehungen zu Amerika sind allein die Basis unserer nationalen Sicherheit.

Es scheint auch zweifelhaft, ob Netanjahu und Barak in ihrer eigenen Regierung und im inneren Kabinett die Mehrheit für einen Angriff haben. Einige von ihnen glauben, dass – abgesehen von allem anderen – der Angriff die Investoren und Touristen vertreiben und damit für Israels Wirtschaft sehr großen Schaden verursachen wird.

Wenn das so ist, warum glauben die meisten Israelis immer noch, der Angriff stehe bevor?

Die Israelis sind vollkommen davon überzeugt, dass (a) der Iran von einer Bande verrückter Ayatollahs ohne jede Vernunft regiert wird und (b) dass, wenn sie einmal im Besitz einer Atombombe sind, diese sicher auf uns fallen lassen.

Diese Überzeugungen gründen sich auf die Äußerungen von Mahmoud Ahmadinejad, in denen er erklärte, dass „er Israel vom Antlitz der Erde wegwischen“ wolle.

Aber sagte er das wirklich so? Sicher, er hat viele Male seine Überzeugung ausgedrückt, dass die zionistische Entität verschwinden werde. Aber anscheinend hat er dies nie gesagt, dass er – oder der Iran – etwas tun werde, um dieses Ergebnis zu erreichen.

Das mag nur ein kleiner rhetorischer Unterschied sein, aber in diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig.

Ahmadinejad mag auch ein großes Mundwerk haben, aber seine aktuelle Macht im Iran war niemals groß und wird schnell immer weniger. Die Ayatollahs, die wirklichen Herrscher, sind weit davon entfernt, unvernünftig/irrational zu sein. Ihr ganzes Verhalten seit der Revolution zeigt, dass sie sehr vorsichtige Leute sind, abgeneigt gegenüber ausländischen Abenteuern, beschädigt von dem langen Krieg mit dem Irak, den sie weder angefangen noch gewollt haben.

Ein mit Atombomben bewaffneter Iran mag ein unbequemer Nachbar sein, aber die Drohung eines „zweiten Holocaust“ ist ein Hirngespenst manipulierter Phantasie. Kein Ayatollah wird eine Bombe abwerfen, wenn die sichere Antwort die totale Vernichtung aller iranischen Städte sein wird und es das Ende der ruhmvollen, kulturellen Geschichte Persiens bedeutet. Die Abschreckung war ja der Sinn der israelischen nuklearen Bewaffnung.

WENN NETANJAHU & Co wirklich vor der iranischen Bombe Angst hätten, dann würden sie eines von zwei Dingen tun:

Entweder der atomaren Abrüstung der Region zustimmen, und alle atomare Aufrüstung aufgeben (höchst unwahrscheinlich).

Oder mit den Palästinensern und der ganzen arabischen Welt Frieden schließen und damit die Feindseligkeit der Ajatollahs gegenüber Israel entwaffnen.

Aber für Netanjahu ist viel wichtiger, die Westbank zu behalten und die Siedlungen auszubauen als die iranische Bombe zu verhindern.

Benötigen wir einen besseren Beweis der Verrücktheit seiner Panikmacherei.


(Aus dem Englischen : Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)

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Blutiger Frühling

Erstellt von Redaktion am 26. August 2012

Blutiger Frühling

Autor Uri Avnery

AUF EINEM Flug nach London hatte ich 1961 ein einzigartiges Erlebnis.

Unterwegs machte das Flugzeug einen Zwischenstop in Athen und eine Gruppe Araber stieg zu. Dies war als solches schon ein Erlebnis. In jenen Tagen trafen Israelis kaum jemals auf Menschen aus arabischen Ländern.

Diese drei jungen Araber saßen in der Reihe hinter mir, und irgendwie gelang es mir, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich erfuhr, sie seien Syrer. Ich erwähnte die vor kurzem geschehene Auflösung der Vereinten Arabischen Republik, die Union von Ägypten und Syrien unter der panarabischen Führung von Gamal Abd-al-Nassar.

Meine drei Nachbarn waren sehr glücklich über die Trennung. Einer von ihnen zog einen Pass aus seiner Tasche und reichte ihn mir. Es war ein völlig neues Dokument von der Arabisch-Syrischen Republik herausgegeben.

Man konnte sich über den enormen Stolz nicht irren, mit dem dieser junge Syrer mir – einem israelischen Feind – diesen Beweis von Syriens neu gegründeter Unabhängigkeit zeigte. Hier war ein syrischer Patriot – ganz einfach.

EINES DER Bücher, das in meiner Jugend einen sehr großen Einfluss auf mich ausübte, war Philip Hittis „Eine Geschichte Syriens“.

Hitti, ein maronitischer Christ, aus dem, was heute der Libanon ist, hat die Schule im ottomanischen Beirut besucht und wanderte in die USA aus, wo er der Vater der modernen arabischen Studien (Sprachen und Kultur) wurde.

Sein bahnbrechendes Buch gründete sich auf die Behauptung, dass Syrien ein Land von der Sinaiwüste bis zu den türkischen Bergen, vom Mittelmeer bis zu den Grenzen des Irak sei. Dieses Land, das auf arabisch Sham heißt, schließt die gegenwärtigen Staaten Libanon, Israel, Palästina und Jordanien ein.

Hitti erzählte die Geschichte dieses Landes aus der früh-historischen Zeit bis zur (damalig) gegenwärtigen Zeit, Schicht um Schicht, einschließlich jeder Periode und jeder Region, wie das biblische Israel und das Petra der Nabatäer. Alles war Teil der großartigen, reichen Geschichte von Sham.

Das Buch änderte meine eigene geographische und kulturelle Ansicht unseres Platzes in der Welt. Noch bevor der Staat Israel geschaffen wurde, sprach ich mich dafür aus, dass in unseren Schulen die vielseitige Geschichte Palästinas durch die Jahrhunderte (und nicht nur die jüdische Geschichte) gelehrt würde.

(Das hätte Hitti wütend gemacht. Er leugnete, dass es ein Land mit Namen Palästina gab. In einer langen öffentlichen Debatte mit Albert Einstein, einem engagierten Zionisten, behauptete Hitti, dass die Entität, die Palästina genannt wurde, von den Briten erfunden worden sei, um das Gedächtnis der Leute dafür dingfest zu machen, dass Juden einen Anspruch darauf hätten.)

VON HITTI erfuhr ich zum ersten Mal von den vielen ethnisch-religiösen Gruppen im heutigen Syrien und Libanon. Muslimische Sunniten und Schiiten, Drusen, Maroniten, Melkiten und viele andere alte und moderne christliche Konfessionen im Libanon; Sunniten, Alawiten, Drusen, Kurden, Assyrer und ein Dutzend christlicher Konfessionen in Syrien.

Die europäisch-imperialistischen Mächte, die das Ottomanische Empire nach dem 1. Welt-krieg aufbrachen, hatten kaum Respekt für die Vielfalt ihres neuen Erwerbs. Doch beide übernahmen das Prinzip des „divide et impera“ (Teile und herrsche). Die Franzosen übertrafen damit sich selbst.

In Syrien mit einer heftigen nationalistischen Opposition und einem bewaffneten Aufstand durch die Drusen konfrontiert, teilten sie das Land in kleine religiös-ethnisch-geographische Splitterstaaten. Sie spielten mit den Feindseligkeiten zwischen Damaskus und Aleppo, zwischen den Muslimen und Christen, Sunniten und Alawiten, Kurden und Arabern, Drusen und Sunniten, indem sie jedem einen eigenen „Staat“ gaben.

Ihr weitreichendstes Unternehmen, die Teilung zwischen einem von Christen dominierten „Groß-Libanon“ und dem Rest von Syrien, hatte einen dauerhaften Effekt. (Es wurde Groß-Libanon genannt, weil die Franzosen in dieses nicht nur rein christliche Regionen einschlossen, sondern auch muslimische – die Schiiten im Süden und die Sunniten in den Hafenstädten.)

ALS DIE Franzosen schließlich zum Ende des 2. Weltkrieges aus der Region verjagt wurden, blieb die Frage, ob und wie Syrien und der Libanon als Nationalstaaten überleben könnten.

In beiden gab es einen integrierten Widerspruch zwischen dem einigenden Nationalismus und der teilenden ethnisch/religiösen Tendenz . Sie adoptierten zwei verschiedene Lösungen.

Die Antwort des Libanon war die delikate Struktur eines Staates, der sich auf eine Balance zwischen den Gemeinschaften gründete. Jede Person „gehört“ zu einer Gemeinschaft. Praktisch ist jeder ein Bürger seiner Gemeinschaft, und der Staat ist nur eine Föderation der Gemeinschaften.

(Dies ist teilweise ein Erbe des byzantinischen und ottomanischen Empires, aber ohne Kaiser oder Sultan. Dies existiert auch in Israel – Juden, Sunniten, Drusen und Christen haben ihre eigenen Gerichte für Personenstandsangelegenheiten, und Mischehen können nicht geschlossen werden.)

Das libanesische System ist eine Negation der „eine-Person – eine-Stimme“-Demokratie, aber es hat einen brutalen Bürgerkrieg überlebt, mehrere Massaker, eine Anzahl israelischer Invasionen und einen Wandel der Schiiten vom letzten zum ersten Platz. Es ist robuster, als man hätte vermuten können.

Die syrische Lösung war sehr anders – eine Diktatur. Eine Reihe von starken Männern folgten einander, bis die al-Assad-Dynastie sie übernahm. Ihre überraschende Langlebigkeit hängt von der Tatsache ab, dass viele Syrer aller Gemeinschaften anscheinend einen brutalen Tyrannen einem Auseinanderbrechen des Staates in Chaos und Bürgerkrieg vorzogen.

JETZT, WIE es scheint, nicht mehr. Der syrische Frühling ist ein Spross des Arabischen Frühlings, aber unter anderen Bedingungen.

Ägypten ist viel anders als Syrien, als dass man einen Vergleich ziehen könnte. Die Einheit Ägyptens ist seit Tausenden von Jahren unbestritten gewesen. Ägyptischer Nationalstolz ist fast greifbar. Die von israelischen Kommentatoren erhobene Frage, ob der neue Präsident zuerst ein Muslim-Bruder ist oder zuerst ein Ägypter, klingt für einen Ägypter irrelevant. Die ägyptische Muslimbruderschaft ist natürlich zuerst ägyptisch. So auch die ägyptischen Kopten, die ziemlich große christliche Minderheit. (Ihr Name wie das Wort „Ägypten“ selbst kommt vom alten Namen des Landes.)

Die Einheit Ägyptens wie die Tunesiens und sogar Libyens nach dem Sturz der Diktatoren hängt offensichtlich mit dem nationalen Bewusstsein dieser Völker zusammen. Dies ist in Syrien keine gegebene Tatsache.

Wird Syrien, wenn das Monster von Damaskus schließlich gestürzt wird, überleben?

Im allen westlichen Ländern und auch in Israel sagen alle Experten hämisch voraus, das Land werde auseinanderfallen, mehr oder weniger nach dem Vorbild des kolonialen französischen Vorgängers.

Das ist gut möglich. Eine der wenigen Optionen, die Bashar al-Assad geblieben sind, ist, die Alawiten in seiner Armee zu sammeln und sich in die alawitische Festung im Nordwesten des Landes zurückzuziehen und diesen vom Rest Syriens abzutrennen.

Dies würde zu viel Blutvergießen führen. Die Alawiten würden sicher alle Sunniten ihrer Region vertreiben, und die Sunniten würden alle Alawiten aus allen anderen Regionen vertreiben. Es würde den schrecklichen Ereignissen in Indien während der Teilung des Subkontinents und der Schaffung Pakistans gleichen, wenn auch in einem viel kleineren Maßstab.

Die Drusen im Süden Syriens würden ihren eigenen Staat gründen (ein alter Traum in Israel). Die Kurden im Nordosten des Landes würden dasselbe tun, vielleicht sich dem benachbarten kurdischen Halbstaat im Irak anschließen (ein türkischer Alptraum). Was von Syrien übrig bleiben würde, würden sich die ewig mit einander konkurrierenden Städte Damaskus und Aleppo teilen.

Das ist möglich, aber nicht unvermeidlich. Es würde der bedeutendste Test für den syrischen Nationalismus sein. Besteht er überhaupt? Wie stark ist er? Stark genug, um die Trennung der Gemeinschaften zu überwinden?

Ich wage nicht zu prophezeien . Ich kann nur hoffen. Ich hoffe, dass die verschiedenen Elemente der syrischen Opposition sich einigen, um den gegenwärtigen brutalen Bürgerkrieg zu gewinnen und ein neues Syrien zu gründen.

Anders als die israelischen Kommentatoren fürchte ich mich nicht vor einer „Islamisierung“ Syriens. Es stimmt, dass die syrische Muslim-Bruderschaft immer gewalttätiger war als die ursprünglich ägyptische Organisation. Durch ihre Aktionen damals halfen sie mit, das schreckliche Massaker in Hama zu provozieren, das Hafez al-Assad ausführen ließ. Aber wie man in Kairo sieht, hat die politische Macht eine mäßigende Wirkung.

FÜR MICH bleibt ein Rätsel. Ich sehe im Internet, dass viele wohlmeinende Leute in aller Welt, besonders auf Seiten der Linken, Bashar unterstützen.

Dies ist ein Phänomen, das sich wiederholt. Da scheint es eine Art von linken Monsterfreunden zu geben. Dieselben Leute, die Slobodan Milosevic, Hosni Mubarak und Moammar Qaddafi umarmten, umarmen nun Bashar al-Assad und protestieren laut gegen amerikanisch imperialistische Pläne gegen diesen „allgemeinen Wohltäter“.

Offen gesagt, dies scheint mir ein bisschen verrückt zu sein. Es stimmt, Großmachtpolitik beeinflusst, was in Syrien geschieht, so wie sie es überall in der Welt tut. Aber der Charakter und die Aktionen von Bashar, die denen seines Vaters folgen, lassen keinen Zweifel aufkommen. Er ist ein Monster, der sein Volk abschlachtet, und der so schnell wie möglich entfernt werden muss, am besten unter UN-Führung. Wenn dies auf Grund des russischen und chinesischen Vetos unmöglich ist – warum, um Gottes Willen?! – dann müssen die syrischen Freiheitskämpfer so viel wie möglich unterstützt werden.

ICH HOFFE aus tiefstem Herzen, dass ein freies, vereinigtes, demokratisches Syrien

aus diesem Chaos auftauchen wird: noch ein Spross des arabischen Frühlings.

In sha Allah, wenn Gott will, wie unsere Nachbarn sagen würden.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Die größte Schau auf Erden

Erstellt von Redaktion am 19. August 2012

Die größte Schau auf Erden

Autor Uri Avnery

UM DIE Eröffnungszeremonie der olympischen Spiele mit einem Wort zusammenzufassen: Kitsch.

Um die Eröffnungszeremonie der olympischen Spiele mit zwei Wörtern zusammenzufassen:

Ein wunderbarer Kitsch.

EHRLICHES EINGESTÄNDNIS: Ich bin anglophil, einer der alles Englische mag.

Im Alter von 15 Jahren begann ich, für einen Anwalt zu arbeiten, der die Oxforduniversität besucht hatte. Im Büro wurde nur Englisch gesprochen. Also musste ich die englische Sprache erlernen und verliebte mich hoffnungslos in die englische Sprache und allgemein in die britische Kultur.

Mancher mag sich darüber wundern, da ich mich zur selben Zeit einer terroristischen Organisation anschloss, deren Ziel es war, die Briten zu bekämpfen, um sie aus Palästina zu vertreiben.

Bald nach meinem 15. Geburtstag trat ich vor das Zulassungsgremium des Irgun. Ich wurde gefragt, ob ich die Engländer hasse. Geblendet von einem mächtigen Projektor, antwortete ich mit „nein“. Da ich die Bestürzung auf der anderen Seite des blendenden Lichts spürte, fügte ich hinzu, ich wolle unser Land befreien, dazu müsse man doch die Briten nicht hassen.

Tatsächlich fühlten die meisten Irgunkämpfer so, denke ich. Der nominelle Chef-Kommandeur Vladimir (Ze’ev) Jabotinsky war ausgesprochen anglophil. Er schrieb einmal, der Engländer sei in den Kolonien ein brutaler Unterdrücker, aber zu Hause sei der Engländer ein anständiger und liebenswürdiger Kerl. Als Großbritannien Nazi-Deutschland den Krieg erklärte, ordnete Jabotinsky ein sofortiges Ende aller Irgun-Aktionen an. Irguns Militärkommandeur David Raziel wurde von einer Nazibombe getötet, während er den Briten im Irak beistand, als Pro-Nazis dort die Macht ergriffen hatten,

Sein Nachfolger Menachem Begin kam nach Palästina mit der polnischen Exilarmee, in der er als polnisch-englischer Übersetzer diente. In dieser Funktion hatte er oft Kontakt mit den britischen Behörden. Er erzählte mir einmal, wie er britischen Offizieren Dokumente ins King-David-Hotel brachte, in das Gebäude, das er später – als Irgun-Kommandeur – zu sprengen befahl. Jahre später empfing ihn die Königin gnädig als Ministerpräsident von Israel.

Insgesamt hatten wir im Großen und Ganzen das Gefühl, dass wir Glück hatten, gegen das britische und nicht gegen ein französisches oder amerikanisches (geschweige denn ein israelisches) Besatzungsregime zu kämpfen.

NACH DIESEM Bekenntnis noch ein zweites: Ich bin kein Sportbegeisterter.

Tatsächlich habe ich an Sport kein Interesse.

Sogar als Kind war ich der Schlechteste im Turnunterricht. Ein gutes Buch zog mich mehr an, als ein aufregendes Fußballspiel. Mein Vater nannte den Sport „Goyim-Naches“ -Vergnügen für Nicht-Juden. (Naches auf Jiddisch kommt vom hebräischen Wort Nachat = Vergnügen, Zufriedenheit).

DOCH ZURÜCK zur Olympiade – im Sommer der Finanzkrise produzierten die Briten etwas Einzigartiges: originell, aufregend, überraschend, bewegend, humorvoll. Ich lachte, als ihre Majestät aus dem Helikopter sprang; ich vergoss beinahe eine Träne, als die behinderten Kinder „God save the Queen“ sangen.

Doch schauen wir hinter den Pomp. Haben die olympischen Spiele eine tiefere Bedeutung? Ich denke ja.

Konrad Lorenz, der österreichische Professor, der das Verhalten der Tiere erforschte, um das menschliche Verhalten von Grund auf zu verstehen, behauptete, dass der Sport ein Ersatz für Krieg sei.

Die Natur hat den Menschen mit aggressiven Instinkten ausgerüstet. Als die Ressourcen auf der Erde knapp wurden, mussten Menschen – wie andere Lebewesen – gegen Eindringlinge kämpfen, um am Leben zu bleiben.

Diese Aggressivität ist so tief in unserm biologischen Erbe verwurzelt, dass es ganz sinnlos ist, zu versuchen, sie zu eliminieren. Lorenz dachte: wir müssten stattdessen ein Ventil dafür finden. Sport ist eine Antwort.

Und tatsächlich, wenn man auf die verschiedenen Manifestationen dieses menschlichen Zeitvertreibs sieht, bemerkt man Ähnlichkeiten zum Krieg. Nationale Flaggen werden von sieges-besessenen Mengen herumgetragen. Die Besiegten empfinden und benehmen sich wie Armeen nach einer verlorenen Schlacht.

In alten Zeiten wurden Kriege oft durch Duelle ausgetragen. Jede Armee pflegte einen Kämpfer zu schicken, und der Kampf auf Leben und Tod zwischen den Beiden pflegte, das Problem zu entscheiden. Dies war so bei dem legendären Kampf zwischen David und Goliath. In den heutigen Sportarten kämpft oft ein einzelner Champion für seine Nation auf dem Tennisplatz, im Judoring oder im Olympiapool.

Ein Nationalfußballteam wird auf den Wellen des Patriotismus für die Ehre seines Landes in die Schlacht getragen. Jeder Spieler ist sich zutiefst der großen Verantwortung bewusst, die auf seinen Schultern (oder in seinen Füßen) ruht. Ein geschlagenes Team sieht oft wie der bemitleidenswerte Rest aus Napoleons großer Armee aus, als sie aus Russland zurückkehrte.

In Europa, wo die nationale Souveränität nach und nach ihre Bedeutung verliert, hat der Fußball ihren Platz eingenommen. Wenn man eine Volksmenge schreiend und die Nationalfahne schwenkend durch die Straßen irgend einer europäischen Stadt ziehen sieht, berauscht vom Nationalstolz (und vom Alkohol), dann weiß man, dass ein „bedeutender“ Wettkampf stattfindet.

Die weithin verurteilten englischen Fußball-Hooligans (nach einer wilden irischen Familie in London benannt ) passen in dieses Bild. Patriotismus, Krieg und Gewalt wachsen auf demselben Baum.

Was das israelische Team betrifft, ist das Bewusstsein der nationalen Pflicht noch ausgeprägter. Israels Sportler und Sportlerinnen siegen nicht für sich selbst, sie siegen für das jüdische Volk. Jeder Sieg (einer der wenigen) ist ein nationaler Sieg, jede (leider so häufige) Niederlage ist eine Niederlage für Israel. So wird es in unsern Medien dargestellt, so sehen es die Sieger und Verlierer selbst.

IN GEWISSER Hinsicht ist Sport nicht nur ein Ersatz für Krieg, sondern auch für Religion.

Beim Sport gibt es religiösen Eifer. Es genügt, vor Beginn des Spiels in die Gesichter der Fußballspieler zu sehen, wenn sie fast hingebungsvoll die Nationalhymne singen, damit uns die Heiligkeit der Gelegenheit bewusst wird – auch wenn ein britischer Spieler aus Jamaika kommen mag und ein französischer aus Algerien.

Selbst in der untertriebenen britischen Eröffnungszeremonie wurden religiöse Untertöne deutlich. Die Fackel, die Fahne, die Hohen Priester; wie es eine englische Hymne ausdrückt „Vorwärts christliche Soldaten“, als ob sie in den Krieg ziehen wollten. So auch die muslimischen Soldaten, auch die jüdischen und wer auch immer.

In Israel rufen jüdische Sportler und Sportlerinnen oft den Allmächtigen bei ihren Kämpfen an . Sie umklammern von kabbalistischen Rabbinern gesegnete Amulette, beten und bitten um göttliche Gunst. ( Wenn zwei jüdische Teams beteiligt sind, ist nicht klar, wie die göttliche Vorsehung entscheidet, wem sie ihre Gunst schenkt. Es muss dem göttlichen Schiedsrichter einige Kopfschmerzen bereiten, wenn Juden gegen Juden spielen. )

Ich vermute, dass im alten Griechenland, wo die Olympiade begann, die Spieler verschiedene Götter und Göttinnen anriefen und hofften, den besten Gott für sich zu gewinnen. Im ausgedehnten byzantinischen Weltreich kämpften generationenlang die Sportler zweier Farben gegen einander.

Sport ist, wie er sich bei den olympischen Spielen darstellt, jetzt ein weltweiter Kult, (weniger schädlich als die meisten, ohne den Mumpitz von einigen,) ein Kult, der vereinigt, statt zu trennen. Alles zusammen: eine gute Sache.

DER VEREINIGENDE Faktor ist vielleicht das herausragende Charakteristikum dieses Ereignisses.

Hundert Millionen, vielleicht eine Milliarde Menschen rund um den Globus beobachteten dies, jeder vertreten durch seinen Champion.

Das ist mehr als eine Kuriosität. Hoffentlich ist es ein Bild der Zukunft.

Als man die Delegationen hereinkommen sah, war das ein erhebendes Erlebnis. Fast alle Nationen der Erde waren vertreten, folgten einander in schneller Folge und schwenkten ihre bunten Fahnen. Während der folgenden Tage standen sie im Wettbewerb mit einander, trafen sich, achteten einander, alles in einem Geist der Kameradschaft. Sportler und Sportlerinnen der einen Nation bewunderten die Leistungen derjenigen aus anderen Rassen; die Vorurteile verschwanden.

Es ist interessant, dieses internationale Treffen mit einem anderen Ort zu vergleichen, wo sich alle Nationen treffen: die Organisation der Vereinten Nationen. In einem Match zwischen beiden würden die Olympiade leichtes Spiel haben.

Kann sich einer ein olympisches Treffen vorstellen, bei dem einige Nationen ein offizielles Veto besitzen, um es gegen eine andere Nation anzuwenden? Kann man die integrierte Untätigkeit der UN mit der Hyperaktivität der Spiele vergleichen?

Für mich ist dies die Hauptattraktion des Ereignisses. Ich glaube stark an die Weltregierung. Ich bin überzeugt, dass sie eine absolute Notwendigkeit für das Überleben der Menschheit und des Planeten ist. Klimawandel, die Verbreitung von nuklearen Waffen, die globale Wirtschaft, weltweite Kommunikationen – all dies macht eine globale Zusammenarbeit nötig und möglich.

Ich bin ziemlich sicher, dass zum Ende des 21. Jahrhunderts es eine Art globaler Regierung geben wird, die sich auf eine globale Demokratie gründet. Die Olympischen Spiele sind ein gutes Beispiel für solch eine Realität. Alle Nationen sind vertreten, alle haben die gleichen Rechte und – am wichtigsten – alle halten dieselben Regeln ein. Im Prinzip hat jeder Kämpfer dieselbe Chance, eine Goldmedaille zu gewinnen, wie jeder andere – egal, ob er zu dieser oder jener großen oder kleinen Nation gehört.

Wäre es nicht großartig , wenn die ganze Welt nach denselben Richtlinien organisiert wäre?

FÜR EINEN Israeli war der Einzug der Delegation eine ernüchternde Erfahrung.

Wir neigen dazu, uns selbst als Mittelpunkt der Welt zu sehen, eine Macht jenseits unserer bescheidenen Größe. Doch hier würde unsere Delegation als eine unter vielen, eine der kleineren ohne den Glamour marschieren, den einige andere besitzen, ohne einen einzigen Sportler, den die ganze Menschheit kennt.

Ein guter Grund für Bescheidenheit – eine Tugend, deren wir uns gewöhnlich nicht rühmen können.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Zionismus reden

Erstellt von Redaktion am 12. August 2012

Zionismus reden

Autor Uri Avnery

„ER REDET Zionismus“ war während meiner Jugendzeit üblicherweise ein sehr abfälliger Kommentar. Es bedeutete, dass ein älterer Funktionär gekommen war, um mit einer langweiligen Rede, die weithin aus leeren Phrasen bestand, unsere Zeit zu verschwenden.

Das war vor der Gründung des Staates Israel. Seit damals ist der Terminus in den Status einer Staatsideologie, wenn nicht gar zur Staatsreligion erhoben worden. Alles, was der Staat macht, wird durch die Verwendung dieses Wortes gerechtfertigt. Einige würden sagen, dass Zionismus das letzte Refugium eines Schurken ist.

Als ich das erste Mal Prag besuchte – direkt nach dem Fall des kommunistischen Regimes – wurde mir ein Hotel mit unglaublichem Luxus gezeigt: Kronleuchter aus Frankreich, Marmor aus Italien, Teppiche aus Persien und anderes mehr. Ich habe so etwas noch nie vorher gesehen. Mir wurde gesagt, dass das Hotel für die kommunistische Elite reserviert worden war.

Damals und dort verstand ich das Wesen einer Staatsideologie. Kommunistische Regime wurden von Idealisten gegründet, die von humanistischen Werten durchdrungen waren. Sie endeten als Mafiastaaten, in denen eine korrupte Clique von Zynikern die Ideologie zur Rechtfertigung für Privilege, Unterdrückung und Ausbeutung missbrauchten.

Ich liebe keine Staatsideologien. Staaten sollten keine Ideologien pflegen.

DIE EINZIGEN, die eine offizielle Bestätigung haben, dass sie psychisch gesund sind, sind jene Leute, die aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden sind. Auf ähnliche Weise könnte ich die einzige Person in Israel sein, die eine offizielle Bestätigung hat, ich sei kein Anti-Zionist.

Folgendermaßen hat es sich zugetragen: als meine Freunde und ich 1975 den „Israelischen Rat für israelisch-palästinensischen Frieden“ gründeten, nannte uns ein Sprachrohr des rechten Flügels „Anti-Zionisten“. Ich hab mich nicht darum gekümmert, aber meine Mitgründer bestanden darauf, sie wegen Verleumdung zu verklagen.

Da ich ein paar Jahre vorher ein Buch mit dem Titel „Israel ohne Zionisten“ veröffentlicht hatte, wurde ich von den Angeklagten zu ihrem Star-Zeugen ernannt. Sie nahmen mich im Zeugenstand stundenlang in die Zange, was ich denn mit diesem Titel meine. Am Ende sagte mir die Richterin, ich solle meine Haltung gegenüber dem Zionismus in einfachen Worten definieren. Ganz spontan prägte ich einen neuen Terminus: „Post-Zionismus“.

Seit damals ist dieser Terminus als Synonym für Anti-Zionismus „enteignet“ worden.

Doch ich benütze ihn buchstäblich. Wie ich der Richterin erklärte, sei meine Stellung die, dass der Zionismus eine historische Bewegung mit ruhmreichen Leistungen war, aber auch mit dunkleren Seiten. Man kann ihn bewundern oder verdammen, aber so oder so, hat der Zionismus sein logisches Ende mit der Schaffung des Staates Israel erreicht. Zionismus war das Gerüst, das den Bau des Staates möglich machte, aber wenn das Haus fertig gebaut ist, wird das Gerüst ein Hindernis und muss abgebaut werden.

So entschied die Richterin, dass ich kein Anti-Zionist bin. Sie ordnete an, dass die Ankläger uns hohe Entschädigungen zu zahlen hatten, die uns halfen, unsere Aktivitäten zu finanzieren.

Ich halte noch immer an dieser Definition fest.

WENN HEUTZUTAGE der Terminus „Zionismus“ in Israel Anwendung findet, kann er viele verschiedene Dinge bedeuten.

Für gewöhnliche jüdische Israelis bedeutet er nicht mehr als israelischer Patriotismus, verbunden mit dem Dogma, dass Israel ein „jüdischer Staat“ oder ein „Staat für das jüdische Volk“ sei. Diese Definitionen allein erlauben viele verschiedene Interpretationen. Für den legendären „Mann (oder die Frau) auf der Straße“ bedeutet es, dass die Juden in aller Welt ein „Volk“ seien und dass Israel diesem Volk „gehöre“, obgleich Juden kein Recht in Israel haben, es sei denn, sie kommen hierher und erhalten die Staatsbürgerschaft.

Von diesem Punkt aus gehen die Definitionen in viele verschiedene Richtungen.

Zu Beginn war die dominante zionistische Farbe rot ( oder mindestens rosa). Der zionistische Traum war verbunden mit Sozialismus (nicht unbedingt die marxistische Art), eine Bewegung, die eine vorstaatliche jüdische Gesellschaft in Palästina aufbaute, den allmächtigen Gewerkschaftsbund , den Kibbutz und vieles mehr.

Für die religiösen Zionisten ( anders als die anti-zionistischen Orthodoxen) war der Zionismus Vorläufer des Messias, der sicherlich kommen wird, wenn nur alle von uns den Schabbat halten. Religiöse Zionisten wollen, dass Israel ein Staat wird, der von der Halacha regiert wird, so wie Islamisten wollen, dass ihre Staaten von der Sharia regiert werden.

Zionisten vom rechten Flügel wollen, dass der Zionismus einen jüdischen Staat im ganzen historischen Palästina meint, der nach ihrer Redensweise „das ganze Erez Israel“ genannt wird und so wenig wie möglich nicht-jüdische Bewohner hat. Dies kann leicht mit religiösen, ja, mit messianischen Visionen verbunden werden. GOTT WILL ES, so wie ER persönlich es ihnen gesagt hat.

Theodor Herzl, der Gründer, wollte einen liberalen, säkularen Staat. Martin Buber, der herausragende Humanist, war ein engagierter Zionist. Auch Albert Einstein. Vladimir Jabotinsky, das Idol der rechten Zionisten, glaubte an eine Mischung von extremem Nationalismus, Liberalismus, Kapitalismus und Humanismus. Rabbi Meir Kahane, ein absoluter Faschist, war ein Zionist. So natürlich auch die Siedler.

Fanatische Anti-Zionisten in aller Welt, einschließlich den jüdischen, würden den Zionismus als einen Monolith sehen, um ihn leichter zu hassen. Um der Liebe willen tun dies auch Liebhaber von Zion, von denen die meisten von ihnen nicht davon träumen, hierher zu kommen und hier zu leben.

Alles zusammen ein ziemlich bizarres Bild.

HEUTE IST der Zionismus in den Händen der extremen Rechten, einer Mischung von Nationalisten, religiösen Fanatikern und den Siedlern, unterstützt von sehr reichen Juden innerhalb und außerhalb Israels.

Sie beherrschen die Nachrichten, direkt (ihnen gehören die TV-Netzwerke und die Zeitungen) und metaphorisch. Jeden Tag enthalten die Nachrichten viele Themen, die den „Zionismus“ betreffen.

Um des Zionismus’ willen werden Beduinen innerhalb des eigentlichen Israels zwangsweise aus großen Teilen Landes, den sie Jahrhunderte lang bewohnten, vertrieben. Um des Zionismus’ willen erhält ein Siedlerkolleg tief in den besetzten Gebieten ( durch den Militärgouverneur !) den Status einer „Universität“, und geben damit den Organisatoren eines internationalen, akademischen Boykotts gegen Israel neuen Schwung. Hunderte neuer Gebäude werden in den Siedlungen auf privatem palästinensischen Land im Namen des Zionismus’ gebaut. In Ramallah, der Hauptstadt der palästinensischen Behörde, jagen israelische Soldaten Afrikaner, die das Land illegal betreten haben und keine israelische Einwanderungsgenehmigung haben. In der Tat verwendet unser Innenminister, dessen einzige Passion die Jagd auf afrikanische Jobsucher zu sein scheint, das Wort Zionismus in fast jedem Satz.

Im Namen des Zionismus’ sendet unser fanatisch rechter Bildungsminister alle israelischen Schulkinder auf Indoktrinierungsausflüge zu den heiligen Stätten in die besetzten Gebiete, um ihrem Bewusstsein von früh an einzuflößen, dass das Land ihnen gehört. Um ihre zionistischen Überzeugungen zu stärken, werden sie auch– wenn sie älter sind – nach Auschwitz geschickt.

Die Siedler behaupten – nicht ganz unberechtigt – dass sie die einzigen wirklichen Zionisten sind, die rechtmäßigen Erben von 130 Jahren zionistischer Siedlung und Ausdehnung. Dies gibt ihnen das Recht für ihre Aktivitäten, riesige Summen aus der Staatskasse zu erhalten, während neue Steuern selbst von den Ärmsten der Armen in Israel erhoben werden, wie die um weitere ein Prozent aufgestockte Mehrwertsteuer.

Die Jüdische Agentur, ein Ableger der Zionistischen Weltorganisation, gibt fast all seine Ressourcen an die Siedlungen.

Es gibt in der Knesset keine Fraktion (außer den Orthodoxen, den zwei kleinen arabischen und die vor allem arabisch kommunistische Fraktion) die ihre totale Ergebenheit gegenüber dem Zionismus nicht laut erklären. Tatsächlich behauptet die zionistische Linke, wahrere Zionisten zu sein als die Rechte.

WOHIN FÜHRT dies alles? Ah, da liegt der Hase im Pfeffer.

Die augenblicklich entschiedene zionistische Politik des Staates Israel umfasst ein inhärentes Paradox, das zur Selbstzerstörung führt.

Die Politik unserer Regierung gründet sich auf die Erhaltung des Status quo: das ganze historische Erez Israel/Palästina unter die israelische Herrschaft, die Westbank in einem Status der Besatzung, seine palästinensischen Bewohner ohne nationale oder zivile Rechte.

Falls zu einem gewissen Zeitpunkt in der Zukunft eine rechte Regierung entscheidet, die Westbank und den Gazastreifen „offiziell“ zu annektieren , wie Ost-Jerusalem und die syrischen Golanhöhen schon vor langen annektiert, vom Rest der Welt aber nicht anerkannt wurde, wird es kaum einen wirklichen Unterschied ausmachen . Die meisten Palästinenser sind schon auf Enklaven begrenzt, die denen der südafrikanischen Bantustans vergangener Tage ähneln.

In diesem Groß-Israel werden die Araber immer weniger überzeugend eine Minderheit von mindestens 40% darstellen, die rasch auf 50% und mehr anwächst und es immer schwieriger macht, dies einen „jüdischen Staat“ zu nennen. Der „jüdische und demokratische Staat“ wird eine Sache der Vergangenheit sein.

Natürlich würde praktisch keiner in Israel davon träumen, den arabischen Bewohnern von Groß-Israel die Staatsbürgerschaft und demokratischen Rechte zu gewähren. Falls vielleicht durch göttliche Intervention dies passiert, würde es nicht länger ein „jüdischer Staat“, Ees würde ein „arabisch palästinensischer Staat“ sein.

Der einzige Ausweg würde eine ethnische Säuberung in großem Ausmaß sein. Langsam geschieht das schon in Randgebieten. Seit einiger Zeit versuchen die Besatzungsbehörden an den Rändern der Westbank, am Rande der Wüste südlich von Hebron die ganze arabische Bevölkerung zu entfernen. In dieser Woche hat der Verteidigungsminister Ehud Barak das Gebiet zu einer Schuss- Zone erklärt, die sofort evakuiert werden müsse. Diejenigen, die dort bleiben, nehmen das Risiko auf sich, erschossen zu werden. Bauern könnten auf ihr Land zurückkehren, um dort zu arbeiten, aber nur am Schabbat und an jüdischen Feiertagen, wenn die Armee nicht dort ist. Zionismus in Aktion.

Zur Zeit leben zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan fünf Millionen Palästinenser und sechs Millionen Juden. Die ethnische Säuberung des Landes ist – gelinde gesagt – höchst unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist die Realität eines Apartheidstaates, in dem Juden bald in der Minderheit sein werden. Es ist nicht die Vision, die die zionistischen Gründungsväter hatten.

Die einzige Alternative ist der Frieden – Israel und Palästina Seite an Seite – aber das nennt man jetzt Post-Zionismus. Gott bewahre!

Unsere Führer weichen dieser Realität durch einen einfachen Kunstgriff aus: sie denken nicht darüber nach. Sie reden nicht darüber. Sie reden lieber Zionismus – eine Reihe leerer Phrasen.

Aber irgendwann in der Zukunft muss man sich den Widersprüchen des Zionismus’ stellen.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Der Chef des Mossad redet

Erstellt von Redaktion am 7. August 2012

„Golda, keiner von ihnen lebt“

Gendenkstätte in Israel für die Todesopfer der während der Olympiade
durch palästinensische Terroristen verübten Geiselnahme israelischer Sportler.

Olympische Spiele München 1972 also vor 40 Jahren! Die palästinensische Terrororganisation „Schwarzer September“ hatte während der Olympischen Sommerspiele elf Athleten der israelischen Mannschaft als Geiseln genommen – zwei von ihnen wurden bereits bei der Geiselnahme ermordet.

Zvir Samir, seinerzeit Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad wurde daraufhin von seiner Ministerpräsidentin Golda Meir einbestellt: „Ich war der Einzige, der die Anlage des Olympiadorfs in München kannte. Sie war wie ein Bienenstock, schwierig für eine Befreiungsoperation. Und es war überhaupt nicht klar, ob die Deutschen uns zum Einsatz kommen lassen würden.

Er flog nach Deutschland – und konnte doch nichts für seine Landsleute tun. Beim Befreiungsversuch durch deutsche Behörden auf dem Militärflugplatz Fürstenfeldbruck starben alle verbleibenden neun Geiseln.

Zvir Samir erinnert sich: „Keiner hat sie verhaftet. Keiner hat geschossen. An der Stelle gab es keine Scheinwerfer. Das war unfassbar. Warum hatten sie für die Scharfschützen keine Scheinwerfer aufgebaut, damit sie sehen können, wohin sie schießen!? Man konnte nichts sehen! Es war nichts vorbereitet. Wir saßen dort und durften uns nicht einmischen. Das war mir so fremd. Ich verstehe die deutsche Verfassung. Aber hier reden wir über Menschenleben. Ist das nicht wichtiger?“

Ein Interview mit Zvir Samir dem damaligen Chef des Mossad. Ein erschütterndes Dokument.

München 1972

sonntaz: Herr Samir, welche Sicherheitsvorkehrungen hat der Mossad unternommen, bevor die israelische Olympia-Delegation zu den Olympischen Spielen 1972 nach München reiste?

Zvi Samir: Spätestens nach der Entführung der El-Al-Maschine nach Algier …

… im Jahr 1968 durch die Terrororganisation „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ …

… war uns klar, dass es Widerstandsgruppen gab, die versuchen würden, israelische Einrichtungen in Europa anzugreifen. Die israelische Regierung hielt die Botschaften zu besonderer Aufmerksamkeit an. Außerdem sollten sie an die Regierungen in ihren Einsatzländern herantreten und um erhöhte Sicherheitsvorkehrungen bitten. Es hatte Überfälle auf Diplomaten gegeben. Den europäischen Verwaltungen gefiel die Idee nicht so sehr, bei diesem Krieg zwischen Israel und den Arabern mitzumachen. Sie sagten: Bringt den Konflikt nicht nach Europa. Wir werden die Botschaften natürlich bewachen, aber wir werden nicht superaktiv sein.

Und wie war die Reaktion?

Für unsere Delegationen, die ins Ausland reisten, galt, dass sie von israelischen Sicherheitsleuten begleitet wurden. Das war bei Botschaftsangehörigen so und auch bei den Sportlern, die zur Olympiade reisten. Die Beamten trugen keine Waffen bei sich. Auch das entsprach dem üblichen Vorgehen.

Wie haben Sie von der Entführung während der Spiele erfahren?

Ich war in meinem Tel Aviver Büro, als mich der Anruf erreichte, und flog sofort nach Jerusalem. Die Premierministerin Golda Meir hatte Verteidigungsminister Mosche Dajan und Vertreter des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet einberufen. Ich war der Einzige, der die Anlage des Olympiadorfs in München kannte. Sie war wie ein Bienenstock, schwierig für eine Befreiungsoperation. Und es war überhaupt nicht klar, ob die Deutschen uns zum Einsatz kommen lassen würden. Aus Deutschland kam die Nachricht, dass man dort alles versuchen würde, die Sportler zu befreien.

Was wurde während dieser Besprechung entschieden?

Quelle: TAZ >>>>> weiterlesen

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Grafikquelle   :  Das Denkmal

 

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Divide et impera

Erstellt von Redaktion am 5. August 2012

Divide et impera

Autor Uri Avnery

WAS IST mit der israelischen sozialen Protestbewegung geschehen?

Eine gute Frage. Sie wird nicht nur im Ausland, sondern auch in Israel gestellt.

Im letzten Jahr erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt in einer gigantischen Demonstration. Hunderttausende marschierten  durch Tel Aviv.

Die Regierung tat, was Regierungen in solchen Situationen tun: sie ernannte eine Kommission, die von einem  geachteten Professor mit Namen Manuel Trajtenberg geleitet wurde. Die Kommission machte einige gute, aber begrenzte Vorschläge; und ein kleiner Teil  davon wurde tatsächlich durchgeführt.

Mittlerweile hielt die Protestbewegung einen Winterschlaf. Aus keinen guten Gründen war akzeptiert worden, eine Protestbewegung  solle nur im Sommer agieren . (Ich persönlich ziehe Winterdemos vor. Die Sommer sind wirklich verdammt heiß.)

ALS DER  Sommer 2012  kam – und es ist ein besonders heißer Sommer – kam auch die Protestbewegung in Gang.

Daphni Leef, die im letzten Jahr damit begonnen hatte, rief zu einer Demonstration auf. Sie sammelte  etwa 10 000 Leute um sich, eine beachtliche Zahl, aber viel weniger als im letzten Jahr. Und das aus einem guten (oder schlechten) Grund:  genau zur selben Stunde fand kaum einen Kilometer entfernt eine andere Demonstration statt. Es ging um den Militärdienst (mehr darüber später).

Am letzten Samstagabend rief Daphni zu einer zweiten Protestdemo auf und versammelte wieder 10 000 um sich. Warum nicht mehr? Weil  ganz genau an diesem Tag und genau zur selben Stunde eine andere Demo an Tel Avivs Küstenstraße statt fand.

Was war der Unterschied zwischen  beiden? Es gab keinen. Beide behaupteten, der legitime Nachfolger des Protestes des letzten Jahres zu sein. Sie benützten dieselben Slogans. Nur ein paar Hundert erschienen auf der Küstenpromenade.

Gewöhnlich beteilige ich mich nicht an Verschwörungstheorien. Aber dieses Mal ist es schwierig, nicht den Verdacht zu haben, dass eine  verborgene Hand die alte römische Maxime „divide et impera!“ – „teile und herrsche“ anwendet. ( Sie scheint nicht von den Römern geprägt zu sein, sondern von König Ludwig XIV., der sagte: „diviser pour regner“)

DER ERFOLG von Daphnis Demonstration am letzten Samstag wurde durch ein Ereignis gefördert, das keiner voraussehen konnte.

Als der Marsch das Regierungsviertel von Tel Aviv (das frühere Dorf von Sarona, das von deutschen religiösen Siedlern Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde) erreicht hatte, ereignete sich etwas Schockierendes. Einer der Demonstranten mittleren Alters aus Haifa zündete sich selbst an und erlitt schreckliche Verbrennungen.

Juden sind keine buddhistischen Mönche und nichts dergleichen war vorher geschehen. Verzweifelte Menschen begehen Selbstmord, aber nicht öffentlich und nicht mit Feuer.  Ich denke, seit konvertierte Juden von der spanischen Inquisition verbrannt wurden, verabscheuen Juden diese Art von Tod.

Der Mann, Moshe Silman, hatte eine Leidensgeschichte durchgemacht. Letztes Jahr war er aktiv in der Protestbewegung. Er war ein kleiner Unternehmer, der zweimal pleite machte, mehrere Schlaganfälle durchlitt und dem nichts als  große Schulden blieben . Er war dabei, aus seiner kleinen Wohnung hinausgeworfen zu werden. Bevor er obdachlos würde, beschloss er , nachdem er  den Leuten rund um sich einen Abschiedsbrief gegeben hatte, sich das Leben zu nehmen.

Die meisten Anhänger der amerikanischen Lebensweise würden wahrscheinlich sagen, sein Scheitern sei seine eigene Schuld  und keiner ihm helfen müsse. Die jüdische Ethik ist anders und verlangt,  einer  verzweifelten Person sollte, auch wenn sie sich selbst in diese Situation gebracht hat,  vom Staat ein Minimum zugesichert werden,  wie  es mit der menschlichen Würde vereinbar ist.

Benjamin Netanjahu, ein leidenschaftlicher Bewunderer des freien Marktes, veröffentlichte ein Statement, bei dem er dies Ereignis als „persönliche Tragödie“ abtut. Die Demonstranten antworteten mit Postern: „Bibi, du bist unsere persönliche Tragödie!“

Silman ist zu einem nationalen Symbol geworden . Er hat der Protestbewegung einen mächtigen  Anstoß verliehen und sie hat im öffentlichen Bewusstsein wieder  ihren Platz eingenommen hat.

DOCH DIE Nachrichten beherrscht im Augenblick ein konkurrierender Protest – der den Militärdienst betrifft.

Es geht nicht darum, den Dienst in der Armee wegen der Besatzung zu verweigern. Solche Verweigerer sind wenig, und ihre mutigen Aktionen finden leider kein Echo.

Nein, es geht um eine ganz andere Sache: die Tatsache, dass 6000 gesunde und kräftige orthodoxe junge Leute jedes Jahr vom Militär- und vom Zivildienst befreit werden. Jene jungen Leute, die drei volle Jahre in der Armee Dienst tun und dann noch jedes Jahr einen Monat in der Reserve Dienst tun, haben die Nase voll. Sie verlangen „gleiche Verteilung der Pflichten“. Unter der säkularen Mehrheit und selbst unter der zionistischen religiösen Jugend ist dies ein außerordentlich beliebtes Schlagwort.

Die Beliebtheit der Bewegung kann an der Tatsache gemessen werden, dass Itzik Shmuli da ist. Shmuli ist der ehrgeizige Studentenführer, der sich im letzten Jahr Daphni angeschlossen  und sie dann im Stich gelassen hat. Vor kurzem wurde bekannt, einer von Israels  reichsten  Magnaten habe ihm 200 000 Dollar für ein Projekt gegeben.

Die Orthodoxen träumen nicht vom Militärdienst. Sie haben sehr gute Gründe. Zum Beispiel sei das Studium der Thora offensichtlich bedeutender für die Sicherheit des Staates  als der Militärdienst, da Gott – wie jeder weiß – uns so lange beschützt, wie diese Studien weitergehen.  (Ich sprach einmal mit Ariel Sharon darüber, und zu meiner Überraschung und Bestürzung stimmte er mit dieser Theorie überein) .

Der wahre Grund für die Orthodoxen ist natürlich ihre Entschlossenheit, unter allen Umständen jeden Kontakt zwischen ihren Jungen und Mädchen und gewöhnlichen Israelis zu  vermeiden, die von Alkohol, Verbrechen, Sex und Drogen  durchdrungen seien.

Netanjahu konnte leicht ohne die Orthodoxen regieren und sich auf seine säkularen Partner verlassen. Aber er weiß, dass in schlechten Zeiten die Orthodoxen zu ihm halten, während  sich die anderen davonschleichen.

In dieser Woche träumte sein produktiver Geist fieberhaft von einem Kompromiss, der alles ändern würde, während der Status quo vollkommen unverändert bleiben würde. Zum Beispiel wurde vorgeschlagen, alle religiösen Männer  einzuziehen, aber nicht im Alter von 18 Jahren wie alle anderen, sondern erst im Alter von 26, wenn tatsächlich alle  orthodoxen Männer schon verheiratet sind und vier Kinder haben, was ihre Einberufung zum Militär unmöglich macht oder enorm teuer wäre.

VOR NUR 70 Tagen  schloss sich die Kadima-Partei schnell der Regierungskoalition an. Ihre Rechtfertigung war, eine Koalition, die 80% der Knesset ausmacht, würde Netanjahu die notwendige Sicherheit geben, das militärische Einberufungsausnahmesystem total zu überholen.

Der wirkliche Grund war, dass der Kadima keine raison d’etre übrig geblieben war. Noch ist sie die größte Fraktion in der Knesset mit einem Sitz mehr als der Likud, war aber bei den nächsten Wahlen  mit völliger Vernichtung  bedroht. Ein Streit mit den  verhassten Orthodoxen könnte all dies verändern.

In der vergangenen Woche, am 70. Tag ihrer Mitgliedschaft in der ruhmreichen Koalition, verließ sie sie wieder. Sie kann nun auf die bevorstehenden Wahlen unter dem stolzen Banner  des  „Gleicher Dienst für alle“ zugehen.

DIE GESCHICHTE hat noch eine andere Seite.

Die Orthodoxen sind nicht die einzigen, die vom Militär- und Zivildienst befreit sind. Auch die arabischen Bürger, doch aus völlig anderen Gründen.

Die israelische Armee wollte nie die Araber einziehen und ihnen – Gott bewahre – militärisches Training und Waffen geben. Nur die Drusen, eine religiös-ethnische Gemeinde mit schwacher Verbindung zum schiitischen Islam machen Militärdienst , wie auch ein paar Beduinen.

Jetzt mit den überhandnehmenden Slogans „ Gleicher  Dienst für alle“ kommt auch diese Ausnahme wieder zur Sprache. Warum machen Araber keinen Militärdienst?  Warum werden sie nicht wenigstens zum Zivildienst einberufen?

Die arabischen Bürger weigern sich natürlich. Militärdienst gegen ihr eigenes Volk – ihre palästinensischen und arabischen Landsleute –  kommt nicht in Frage. Sie verweigern auch den Zivildienst  und behaupten, der Staat, der sie auf so viele Art und Weise diskriminiere, habe überhaupt kein Recht, sie überhaupt einzuberufen. Sogar wenn sozialer Dienst innerhalb der eigenen Gemeinde angeboten würde, weigern sie sich und verursachen viel Groll unter  jüdischen Jugendlichen, die zur Armee müssen, während Araber im selben Alter zur Universität gehen  oder durch Arbeiten gutes Geld verdienen können.

So ist die Bewegung für „gleichen Dienst“ in der glücklichen Lage, die beiden  von der Mehrheit am meisten gehassten Gemeinschaften: die Orthodoxen und die Araber anzugreifen. Bigotterie und Rassismus – alles im Namen der Gleichheit. Wer könnte sich mehr wünschen?

Die soziale Protestbewegung dagegen will  a l le  – auch die Orthodoxen und Araber -einschließen

NETANJAHU IST  nun mit seiner  früheren kleinen Mehrheit geblieben. Er muss eine schnelle Lösung für den Militärdienst der Orthodoxen finden, da der Oberste Gerichtshof ihm im Nacken sitzt . Das gegenwärtige Einberufungsgesetz, das vom Gericht zurückgewiesen wurde, wird Ende des Monats ungültig. Bis dahin muss ein neues Gesetz her.

Für Netanjahu wären frühe Wahlen, vielleicht im nächsten Februar,  die bevorzugte Lösung. Da im Augenblick niemand da ist, der mit seiner Beliebtheit  konkurrieren könnte, wäre ihm das sehr recht. Um neue Parteien zu gründen , dazu wäre keine Zeit mehr vorhanden.

Aber Netanjahu ist kein Spieler. Er mag kein Risiko eingehen. Bei Wahlen und bei Kriegen weiß man nie ganz sicher, wie sie ausgehen. Alles Mögliche und Unmögliche kann passieren.

Eine ausgezeichnete Alternative wäre die, die Kadima zu spalten. Die hat  gerade angefangen, die süßen Früchte der Regierung zu kosten, einige ihrer Mitglieder  mögen sich abgeneigt fühlen, sie gehen zu lassen. Der Likud  wäre nur zu glücklich, wenn er sie in seine Reihen  aufnehmen könnte.

Divide et impera ist noch immer eine nützliche Maxime.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser  autorisiert)

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Die Vergiftung Arafats

Erstellt von Redaktion am 15. Juli 2012

Die Vergiftung Arafats

Autor Uri Avnery

FÜR MICH war es keine Überraschung. Vom aller ersten Tag an war ich davon überzeugt, dass Yasser Arafat von Ariel Sharon vergiftet worden ist. Ich schrieb sogar einige Male darüber.

Es war eine einfache, logische Schlussfolgerung.

Erstens fand eine gründliche medizinische Untersuchung im französischen Militärkrankenhaus statt, wo er starb, und man fand keine Ursache für seinen plötzlichen Kollaps und Tod. Keine Spuren irgend einer lebensbedrohenden Krankheit wurden gefunden.

Die von der israelischen Propagandamaschine verbreiteten Gerüchte, Arafat habe AIDS , waren glatte Lügen. Sie waren eine Fortsetzung der von derselben Maschine verbreiteten Gerüchte, dass er schwul sei – alle waren ein Teil der unerbittlichen Dämonisierung des palästinensischen Führers. Das lief seit Jahrzehnten täglich so.

Wenn es keine offensichtliche Todesursache gibt, dann muss es eine weniger offensichtliche geben.

Zweitens wissen wir jetzt, dass verschiedene Geheimdienste Gifte besitzen, die keine Spuren hinterlassen. Dazu gehören die CIA, der russische FSB (Nachfolger des KGB) und der Mossad.

Drittens: es gab viele Gelegenheiten. Arafats Sicherheitsvorkehrungen waren entschieden zu lasch. Er pflegte jeden perfekten Ausländer zu umarmen, der sich selbst als Sympathisant der palästinensischen Sache vorstellte und setzte ihn oft bei Mahlzeiten direkt neben sich selbst.

Viertens: gab es eine Menge Leute, die ihn töten wollten und die Mittel dafür hatten, es zu tun. Der offenkundigste war unser Ministerpräsident Ariel Sharon. Er hat sogar 2004 darüber gesprochen, dass Arafat keine „Lebensversicherung“ habe.

WAS BIS vor kurzem eine logische Wahrscheinlichkeit war, ist nun Sicherheit geworden.

Eine Untersuchung seiner Sachen, die von Al-Jazeera TV in Auftrag gegeben und von einem hoch geachteten wissenschaftlichen Schweizer Institut durchgeführt und bestätigt wurde, Arafat sei mit Polonium vergiftet worden, einer tödlich wirkenden radioaktiven Substanz, die nicht aufgedeckt werden kann, wenn man nicht speziell nach ihr sucht.

Zwei Jahre nach Arafats Tod wurde der russische Dissident und frühere KGB/FSB-Offizier Alexander Litvinenko in London von russischen Agenten ermordet, die dieses Gift verwendeten. Die Ursache wurde durch Zufall von seinen Ärzten entdeckt. Er brauchte drei Wochen zum Sterben.

Näher an Israel, in Amman, wurde der Hamasführer Khaled Mash’al 1997 auf Befehl von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vom Mossad beinahe getötet. Die Mittel waren ein Gift, das innerhalb von Tagen tötet, wenn es mit der Haut in Kontakt kommt. Der Anschlag misslang, und das Leben des Opfers gerettet, als der Mossad durch ein Ultimatum von König Hussein gezwungen wurde, rechtzeitig das Gegengift zu liefern.

Wenn es Arafats Witwe Suha gelingt, seine Leiche aus dem Mausoleum in der Mukata in Ramallah, wo es zu einem nationalen Symbol wurde, exhumieren zu lassen, dann wird man zweifellos das Gift in seinem Körper finden.

ARAFATS MANGEL an angemessenen Sicherheitsregelungen hat mich immer erstaunt. Die israelischen Ministerpräsidenten sind zehnmal besser geschützt.

Ich machte ihm mehrfach Vorhaltungen. Er tat es mit einem Achselzucken ab. In dieser Hinsicht war er ein Fatalist. Nachdem sein Leben wunderbarerweise bei einer Flugzeugnotlandung in der Libyschen Wüste gerettet worden war und das aller anderen um ihn getötet, war er fest davon überzeugt, dass Allah ihn geschützt habe.

( Auch wenn er der Kopf einer säkularen Bewegung mit einem klaren säkularen Programm war, so war er doch ein praktizierender sunnitischer Muslim, der zu den Gebetszeiten sein Gebet verrichtete und keinen Alkohol trank. Doch hat er seinen Mitarbeitern seine Frömmigkeit nicht aufgezwungen.)

 Einmal wurde er in Ramallah in meiner Gegenwart interviewt; der Journalist fragte ihn, ob er die Errichtung des palästinensischen Staates noch zu seinen Lebzeiten erwarten würde. Seine Antwort war: „ Wir beide, Uri Avnery und ich, werden dies noch erleben.“ Er war so sicher darin.

ARIEL SHARONS Entschlossenheit, Arafat zu töten, war wohl bekannt. Schon während der Belagerung von Beirut im 1. Libanonkrieg war es kein Geheimnis, dass seine christlichen Agenten Westbeirut nach seinem Aufenthaltsort durchkämmten. Zu Sharons großer Enttäuschung fanden sie ihn nicht.

Sogar nach Oslo, als Arafat nach Palästina zurückkam, hatte Sharon nicht aufgegeben. Als er Ministerpräsident wurde, wurde meine Angst um Arafats Leben wieder akut. Als unsere Armee während der „Operation Defensive Shield“ Ramallah angriff, brachen sie auch in Arafats Compound, die Mukata’a, ein und kamen bis 10m vor seine Räume. Ich hatte sie mit eigenen Augen gesehen.

Zweimal gingen meine Freunde und ich während der monatelangen Belagerung mehrere Tage zur Mukata’a, um als menschlicher Schutzschild zu dienen. Als Sharon gefragt wurde, warum er Arafat nicht töten würde, antwortete er, dass die Gegenwart von Israelis dort, dies unmöglich mache.

Doch vermute ich, dass dies nur ein Vorwand war. Es war die USA, die es ihm verboten hat. Die Amerikaner fürchteten zu Recht, dass eine offensichtliche Ermordung in der ganzen arabischen und muslimischen Welt einen anti-amerikanischen Wutausbruch verursachen würde. Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin sicher, dass Sharon in Washington folgendes gesagt wurde: „Unter keinen Umständen ist es dir erlaubt, ihn in einer Weise zu töten, dass die Spur zu dir hinführt. Wenn du es machen kannst, ohne eine Spur zu hinterlassen, dann mach es.“

(Genau wie der US-Außenminister 1982 in ähnlicher Weise Sharon sagte, dass es ihm unter keinen Umständen erlaubt sei, den Libanon anzugreifen, wenn es nicht eine klare und international anerkannte Provokation gebe. Sie wurde prompt geliefert.

Durch einen unheimlichen Zufall hatte Sharon bald nach Arafats Tod selbst einen Schlaganfall und lebt seitdem im Koma.)

DER TAG, an dem Al-Jazeeras Schlussfolgerung in dieser Woche veröffentlicht wurde, ist zufällig der 30. Jahrestag meines ersten Treffens mit Arafat, das für ihn das erste Treffen mit einem Israeli war.

Es war auf dem Höhepunkt der Schlacht um Beirut. Um zu ihm zu gelangen, musste ich die Linien von vier Kriegsführenden überqueren – die der israelischen Armee, die der christlich-libanesischen Phalangemiliz, die der libanesischen Armee und die der PLO-Streitkräfte.

Ich sprach zwei Stunden lang mit Arafat. Dort, inmitten eines Krieges, in dem er jeden Moment seinen Tod erwarteten konnte, sprachen wir über einen israelisch-palästinensischen Frieden und sogar über eine Föderation von Israel und Palästina, der sich Jordanien vielleicht noch anschließen könnte.

Das Treffen, das von Arafats Büro verkündet wurde, war eine weltweite Sensation. Mein Bericht über dieses Gespräch wurde in mehreren führenden Zeitungen veröffentlicht.

Auf meinem Weg nach Hause hörte ich im Radio, dass vier Kabinettsmitglieder verlangten, mich wegen Verrats vor Gericht zu bringen. Die Regierung von Menachem Begin instruierte den Staatsanwalt , eine strafrechtliche Untersuchung zu eröffnen. Doch nach mehreren Wochen entschied der Staatsanwalt, ich hätte kein Gesetz gebrochen. (Das Gesetz wurde kurz danach selbstverständlich verändert.)

BEI DEN vielen Treffen, die ich seitdem mit Arafat hatte, wurde ich vollkommen davon überzeugt, dass er ein wirklicher und vertrauenswürdiger Partner für den Frieden sei.

Langsam begriff ich, wie dieser Vater der modernen palästinensischen Befreiungsbewegung, von Israel und den USA als Erz-Terrorist betrachtet, der Führer der palästinensischen Friedensbemühungen wurde. Wenige Persönlichkeiten hatten in ihrer Lebenszeit das Privileg, zwei auf einander folgende Revolutionen anzuführen.

Als Arafat seine Arbeit begann, war Palästina von der Landkarte und aus dem Weltbewusstsein verschwunden. Indem er den „bewaffneten Kampf“ ( alias „Terrorismus“) benützte, gelang es ihm, Palästina zurück auf die Weltagenda zu setzen.

Sein Orientierungswandel geschah direkt nach dem Krieg von 1973. Man erinnere sich: dieser Krieg begann mit überwältigenden arabischen Überraschungserfolgen und endete mit einer

Schlappe der ägyptischen und syrischen Armeen. Arafat, von Beruf Ingenieur, zog die logische Konsequenz: wenn die Araber eine bewaffnete Konfrontation selbst unter solch idealen Umständen nicht gewinnen konnten, müssten andere Mittel und Wege gefunden werden.

Seine Entscheidung, mit Friedensverhandlungen mit Israel zu beginnen, ging vollkommen gegen den Strich der palästinensischen Nationalbewegung, die Israel als fremden Eindringling betrachtete. Arafat brauchte volle 15 Jahre, um sein eigenes Volk zu überzeugen, diese Linie zu akzeptieren, indem er all seine List, taktische Geschicklichkeit und Überzeugungskraft gebrauchte. Bei dem Treffen des palästinensischen Exilparlaments, des Nationalrates 1988, wurde sein Konzept angenommen: einen palästinensischen Staat Seite an Seite mit Israel in einem Teil des Landes zu gründen. Dieser Staat mit seiner Hauptstadt Ostjerusalem und seinen Grenzen, die sich seitdem auf die Grüne Linie gründen, sind das feste und unveränderliche Ziel, das Vermächtnis Arafats an seine Nachfolger.

Nicht durch Zufall begannen meine Kontakte mit Arafat zur selben Zeit: 1974. Zunächst waren sie indirekt über seine Assistenten und dann direkt mit ihm. Ich half ihm den Weg vorzubereiten, um Kontakt mit der israelischen Führung und besonders mit Yitzhak Rabin aufzunehmen. Dies führte 1993 zum Oslo-Abkommen – das durch den Mord an Rabin vernichtet wurde.

Als er gefragt wurde, ob er einen israelischen Freund habe, nannte Arafat mich. Dies gründete sich auf seine Überzeugung, dass ich mein Leben riskiert hatte, als ich ihn in Beirut aufsuchte. Was mich betraf, so war ich dankbar für sein Vertrauen in mich, als er mich dort traf – zu einem Zeitpunkt, als Hunderte von Sharons Agenten ihn suchten.

Aber abgesehen von persönlichen Beziehungen, war Arafat der Mann, der in der Lage und Willens gewesen wäre, mit Israel Frieden zu machen – und was noch wichtiger ist: sein Volk – einschließlich der Islamisten – dahin zu bringen, dies zu akzeptieren. Dies hätte dem Siedlungsunternehmen ein Ende gesetzt.

Genau deshalb wurde er vergiftet.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Menschenjagd

Erstellt von Redaktion am 1. Juli 2012

     Menschenjagd

Autor Uri Avnery

“WIR WERDEN kein normales Volk sein, bevor wir hier nicht jüdische Huren und jüdische Diebe haben,“ sagte unser Nationaldichter Chaim Nachman Bialik vor etwa 80 Jahren.

Dieser Traum hat sich erfüllt. Wir haben jüdische Mörder, jüdische Räuber und jüdische Huren (obwohl die meisten Prostituierten in Israel von Sklavenhändlern aus Osteuropa über die Sinaigrenze importiert werden.)

Aber Bialik war auch anspruchslos. Er hätte noch hinzufügen sollen: Wir werden kein normales Volk werden, bis wir jüdische Neo-Nazis haben.

DAS ZENTRALE Thema in den Nachrichten all unserer elektronischen und gedruckten Medien ist heute die schreckliche Gefahr der „illegalen“ afrikanischen Einwanderer.

Afrikanische Flüchtlinge und Arbeitsuchende werden aus verschiedenen Gründen von Israel angezogen, keiner der Gründe ist der glühende Glauben an den Zionismus.

Der erste Grund ist geographisch. Israel ist das einzige Land mit einem europäischen Lebensstandard, das von Afrika aus ohne Überquerung eines Meeres erricht werden kann. Afrikaner können leicht Ägypten erreichen, und dann müssen sie nur noch die Sinaiwüste durchqueren, um an die israelische Grenze zu kommen.

Die Wüste ist die Heimat der Beduinenstämme, für die das Schmuggeln eine uralte Beschäftigung ist. Ob das libysche Waffen für die Hamas im Gazastreifen sind, ukrainische Frauen für die Bordelle in Tel Aviv oder Jobsuchende aus dem Sudan – für gutes Geld werden die Beduinen sie alle an ihr Ziel bringen.

Die Afrikaner – hauptsächlich von Nord- und Südsudan und Eritrea – werden vom israelischen Arbeitsmarkt angezogen. Israelis haben schon seit langem aufgehört, niedrige Arbeiten zu machen. Sie brauchen Leute, die in vornehmen Restaurants das Geschirr abwaschen, die Wohnungen reinigen und die schweren Behälter auf den Märkten tragen.

Jahrelang wurden diese Arbeiten von Palästinensern aus der Westbank und dem Gazastreifen gemacht. Nach den Intifadas hat unsere Regierung dem ein Ende gesetzt. Die Afrikaner besetzen jetzt deren Plätze.

Natürlich werden sie – nach israelischer Sichtweise – mit Hungerlöhnen bezahlt, aber genug, dass die Migranten noch Geld an ihre Familien zurückschicken können. Kleine Dollar-Summen werden dort wie ein Vermögen angesehen.

Um es möglich zu machen, Geld zu überweisen, führen die Migranten ein Hundeleben. Fast alle sind Singles, eingepfercht in alte, schmutzige Häuser in den Slums von Tel Aviv und anderen Städten, sie schielen nach den lokalen Mädchen, zur Erholung betrinken sie sich.

Die israelischen Bewohner dieser Slums, die Ärmsten der Armen, hassen sie. Sie beschuldigen sie aller möglichen Verbrechen, einschließlich Vergewaltigung, gewalttätigen Streits und Mordes. Sie glauben auch, dass sie gefährliche Krankheiten, die in Israel fast unbekannt sind, einschleppen, wie Malaria und Tuberkulose. Sie sind nicht wie die Israelis nach der Geburt geimpft worden.

Alle diese Anklagen sind natürlich weit übertrieben. Aber man kann die israelischen Slumbewohner verstehen, die mit den armen Ausländern, mit denen sie keine Verbindung haben, zusammen leben müssen.

Unter solchen Umständen blüht Rassismus. Die Afrikaner werden leicht an ihrer Hautfarbe erkannt.

Die üblichen rassistischen Slogans – „sie vergewaltigen unsere Frauen,“ „sie verbreiten unheilbare Krankheiten“, „sie sind wie Tiere“ sind zahlreich, in Israel kommt noch einer hinzu: „Sie gefährden unsern jüdischen Staat“.

Alles in allem gibt es jetzt 60 000 Afrikaner in Israel, denen noch 3000 Neuankömmlinge in jedem Monat hinzugefügt werden müssen. Dann gibt es in Israel auch eine große Anzahl von (legalen)Thais, die in der Landwirtschaft arbeiten, Chinesen und Rumänen, die in der Bauindustrie arbeiten, Philippinen, die Kranken und Alten beistehen.

(Ein im Umlauf befindlicher Witz: ein alter Palmachnik – Mitglied einer vorstaatlichen illegalen militärischen Organisation – besucht ein Veteranentreffen und ruft aus: „Wow, ich wusste gar nicht, dass so viele Philippinen in der Palmach waren!“)

Mit Israels jüdischer Bevölkerung, die sich auf 6,5 Millionen beläuft und der arabischen Bürger von 1,5 Millionen, ist es leicht, die Migranten als eine schreckliche Gefahr für die Jüdischkeit des Staates darzustellen.

WIE EIN Sumpf, der Moskitos anzieht, so zieht eine solche Situation Volksverhetzer und Aufhetzer an. Wir haben genug davon.

Vor zwei Wochen brachen Unruhen im Tel Aviver Hatikva-Viertel aus, einem der betroffenen Slums. Afrikaner wurden angegriffen, Läden, die Afrikanern gehören, wurden geplündert.

Wie durch Zauber angezogen erschienen in kürzester Zeit alle wohlbekannten faschistischen Agitatoren auf der Szene, stachelten die Menge gegen die Afrikaner und die linken „Sensibelchen“ an.

Die meiste Medienbeachtung wurde einem Likud-Mitglied des Parlamentes, Miri Regev, gegeben. Ihr genügten die üblichen Schimpfnamen nicht, sie schrie, dass die Afrikaner „ ein Krebsgeschwür“ seien.

Dieser Ausdruck aus dem Goebbelschen Lexikon schockierte viele im ganzen Land. Regev ist nicht nur eine hübsche Frau, sondern auch eine frühere Chefsprecherin der israelischen Armee (vom früheren Stabschef des verheerenden Libanonkrieges Dan Halutz ernannt, an dessen Bemerkung man sich gut erinnert: wenn ich eine Bombe über einem Wohnviertel fallen lasse, „spüre ich nur ein leichtes Rütteln am Flügel“)

Regev erreichte mit ihrer Rede die Schlagzeilen und wurde mit zahlreichen TV-Interviews belohnt, in denen man sie kennen lernen konnte. Sie sprach wie einst die Fischerfrauen. (Hier ist keine Beleidigung von Fischerfrauen beabsichtigt). Sie war, um es unverblümt zu sagen, ekelhaft.

WAS DEN Ekel betrifft: ich habe ein persönliches Hobby. Jede Woche wähle ich – streng für mich – die ekelhafteste Person im israelischen öffentlichen Leben aus. Während der letzten Wochen war mein Auserwählter Eli Yishai von der orientalisch-orthodoxen Shaspartei.

Shas wird vollkommen von einer Person dominiert: Rabbi Ovadia Josef. Er stellt ein und entlässt die politische Führung der Partei. Sein Wort ist Gesetz. Als der letzte Führer wegen Diebstahl ins Gefängnis kam, brachte Rabbi Ovadia Eli Yishai von nirgendwo her.

Als Innenminister diente Yishai vor allem als Kanal für Regierungsgelder zu den Institutionen seiner Partei. In allen anderen Funktionen hat er kläglich versagt. Es geht das starke Gerücht um, dass bei seinem in Kürze herauskommenden Bericht über den Brand im Carmelwald der staatliche Rechnungsprüfer empfehlen wird, ihn wegen krasser Inkompetenz zu entlassen.

Für Yishai ist die anti-afrikanische Hysterie ein Geschenk seines Gottes. Nachdem er der Öffentlichkeit sagte hatte, dass die Migranten Kriminelle seien, die Krankheiten mit sich bringen und den jüdischen Staat gefährden, erklärte er ihnen den Krieg.

Nun ist das ganze Land mobilisiert. Jeden Tag steht die Zahl der deportierten Afrikaner über allen Nachrichten. Yishais spezielle „Immigrantenpolizei“ wird fotografiert, wie sie Afrikaner in die Polizeiwagen stößt. Yishai erscheint täglich im TV und rühmt sich seiner Leistungen.

Auf sein Drängen hin diskutiert die Knesset eine Gesetzesvorlage, die Gefängnisstrafen (fünf Jahre) plus Geldstrafe von einer halben Million Schekel ( etwa 100 000 Euro!!) für jeden, der einen „illegalen“ Arbeiter beschäftigt, vorsieht. Zum Glück wird dieses Gesetz noch bearbeitet und wird nicht bei den Frauen des Verteidigungsministers (Ehud Barak) und des Generalstaatsanwalts (Yehuda Weinstein) angewandt, die ertappt wurden, illegale Migranten in ihren Häusern zu beschäftigen. (Ihre Ehemänner wussten natürlich nichts davon.)

Am allermeisten gibt Yishai mit der riesigen Menschenjagd an, die jetzt in Gang kommt. Afrikaner ducken sich nun in ihren miserablen Wohnungen und wagen nicht, auf die Straßen hinaus zu gehen. Nachts sind sie bei jedem Geräusch hellwach, weil sie fürchten, die Immigrationspolizei könne an ihre Türe klopfen.

Problematisch ist, dass die meisten der 60 000 Afrikaner aus Eritrea und dem Nordsudan kommen, wohin die Migranten nicht zurückgeschickt werden können, weil der Oberste Gerichtshof es verboten hat. Die Rückkehr in ihr Land würde ihr Leben in Gefahr bringen. Das lässt nur die Bürger des neuen Staates Südsudan übrig, der mit der Hilfe israelischer Militärberater und -waffen befreit worden ist. Sie werden jetzt vor den Augen der Öffentlichkeit zusammen getrieben, um deportiert zu werden.

Und was ist mit den anderen? Die Regierung ist nun fieberhaft an der Arbeit, große Zeltlager in der trockenen Negevwüste, in der Mitte von nirgendwo, aufzubauen, in denen Zehntausende von Migranten drei Jahre lang festgehalten werden sollen. Das können nur unmenschliche Bedingungen sein. Da kein anderes Land bereit ist, sie aufzunehmen, werden sie dort wahrscheinlich viel länger bleiben.

Bis jetzt gibt es dort weder Wasser noch sanitäre Anlagen; Frauen und Kinder (die in Israel geboren wurden und hebräisch sprechen) werden wohl getrennt untergebracht werden. Im Sommer mit Temperaturen, die leicht 40 Grad Celsius erreichen. Das Leben in den Zelten wird die Hölle sein.

Yishai und seine Kollegen haben ein Gespür für „gewaschene Sprache“: die Migranten werden „Infiltranten“ genannt, Deportation wird „Rückkehr“ genannt, die Gefängnislager werden „Wohnlager“ genannt. Nicht Konzentrationslager, Gott bewahre.

MIR IST bewusst, dass in verschiedenen anderen „zivilisierten“ Ländern die Migranten genau so schlecht behandelt werden oder noch schlechter. Das beruhigt mich keineswegs.

Mir ist auch bewusst, dass es ein wirkliches Problem gibt, das gelöst werden muss. Aber nicht auf diese Weise.

Als Bürger eines Staates, der sich selbst „jüdisch“ nennt oder gar der „Staat der Holocaustüberlebenden“, ekelt mich das an.

Ich habe unzählige Male über Nazi-Judenjagden gehört, als auch von amerikanischem Lynchpöbel und russischen Pogromen. Das ist natürlich kein Vergleich, aber die Bilder stecken in meinem Kopf. Ich kann mir nicht helfen.

Unsere Behandlung der afrikanischen Flüchtlinge und Migranten haben nichts mit dem alten Konflikt mit den Arabern zu tun. Sie kann nicht mit Argumenten gerechtfertigt werden, die mit Krieg und nationale Sicherheit zu tun haben.

Dies ist schlicht und einfach Rassismus.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Israelischer Senf

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2012

Israelischer Senf

Autor Uri Avnery

ES IST eine wahre Geschichte. Ich hab sie schon einmal erzählt und werde sie noch einmal erzählen.

Einer meiner Freunde in Warschau, dessen einer Elternteil jüdisch war, riet einem wohl bekannten polnischen Journalisten, Israel zu besuchen, um es selbst zu erleben.

Als der Journalist zurückkam, rief er meinen Freund an und berichtete atemlos: „Weißt du, was ich entdeckt habe? In Israel gibt es auch Juden!“

Er meinte natürlich die Orthodoxen mit ihrer schwarzen Kleidung und mit ihren schwarzen Hüten, die wie die Juden aussehen, die sich ins polnische Gedächtnis eingeprägt hatten. Sie können in jedem polnischen Souvenirladen neben andern Figuren polnischer Folklore: König, Edelmann, Soldaten etc. gesehen werden.

Wie jener Ausländer sofort bemerkte, haben diese Juden keinerlei Ähnlichkeit mit normalen Israelis, normalen Franzosen, Deutschen und eben Polen.

DIE ORTHODOXEN (auf Hebräisch „Haredim“, die gottesfürchtig sind) sind kein Teil des israelischen Staates. Sie wollen es nicht sein.

Die meisten von ihnen leben in isolierten Ghettos, die große Teile Jerusalems ausmachen, die Stadt Bnei Brak und mehrere sehr große Siedlungen in den besetzten Gebieten.

Wenn man an ein Ghetto (ursprünglich der Name eines Stadtteils von Venedig) denkt, denkt man an die demütigende Isolierung, die den Juden von etlichen christlichen Herrschern auferlegt wurde. Aber ursprünglich war es eine selbst gewählte Isolierung. Orthodoxe Juden wollten zusammenleben, getrennt von der allgemeinen Bevölkerung, nicht nur, weil es ihnen ein Gefühl der Sicherheit gab, sondern auch – und hauptsächlich – wegen ihres Glaubens. Sie brauchten eine Synagoge, die sie am Shabbat zu Fuß erreichen konnten, ein rituelles Bad, koschere Lebensmittel und viele andere religiöse Requisiten. Sie brauchen dies heutzutage in Israel und anderswo.

Aber vor allem wollen sie den Kontakt mit anderen meiden. In modernen Zeiten mit all den gefährlichen Versuchungen benötigen sie dies – weit mehr – als sonst. In den Straßen voll großer Reklameplakate unbekleideter Frauen, mit TV, das oft einen endlosen Strom sanfter (und manchmal nicht so sanfter) Pornographie bringt, und das Internet voll gefährlicher Informationen und persönlicher Kontakte – die Orthodoxen müssen ihre Kinder beschützen und sie von der sündigen israelischen Lebensweise fernhalten.

Es ist eine Sache des reinen Überlebens für eine Gemeinschaft, die seit 2500 Jahren existiert und die bis vor 250 Jahren praktisch alle Juden einschloss.

ZIONISMUS WAR, wie ich oft betonte, u.a. eine Rebellion gegen das Judentum, etwa wie Martin-Luthers Rebellion gegen den Katholizismus.

Als Theodor Herzl seine Flagge hisste, lebten fast alle osteuropäischen Juden in einer ghettoartigen Atmosphäre, von großen Rabbinern beherrscht. Alle diese Rabbiner sahen fast ohne Ausnahme den Zionismus als den großen Feind an, mehr als die Christen den Antichristen.

Und nicht ohne Grund. Die Zionisten waren Nationalisten, Anhänger der neuen europäischen Doktrin, nach der sich menschliche Kollektive zuerst auf ethnische Ursprünge, Sprache und Land, nicht auf Religion gründete. Sie war das Gegenteil zum jüdischen Glauben, dass Juden das Volk Gottes seien, vereint im Gehorsam gegenüber seinen Geboten.

Wie jeder weiß, hat Gott sein auserwähltes Volk wegen seiner Sünden aus ihrem Land vertrieben und ins Exil gebracht. Eines Tages wird Gott ihnen vergeben und ihnen den Messias senden, der die Juden, einschließlich den Toten, dann nach Jerusalem führen wird. Die Zionisten mit ihrem verrückten Wunsch, dies selbst zu tun, begingen nicht nur eine tödliche Sünde, sondern rebellierten gegen den Allmächtigen, der ausdrücklich seinem Volk verboten hat, das Heilige Land en masse zu betreten.

Herzl und fast all die anderen zionistischen Gründungsväter waren überzeugte Atheisten. Ihre Haltung gegenüber den Rabbinern war herablassend. Herzl schrieb, dass der zukünftige jüdische Staat die Rabbiner in ihren Synagogen halten würde (und die Armeeoffiziere in ihren Kasernen). Alle bedeutenden Rabbiner jener Zeit verfluchten ihn mit derben Ausdrücken.

Doch hatten Herzl und seine Kollegen ein Problem. Wie kann man Millionen von Juden, die mit ihrer alten Religion verbunden sind, für den neumodischen Nationalismus gewinnen? Er löste das Problem, indem er die Fiktion erfand, dass die neue zionistische Nation nur eine Fortsetzung des alten jüdischen „Volkes“ in einer neuen Form sei. Für diesen Zweck „stahl“ er die Symbole der jüdischen Religion und verwandelte sie in nationale um: der jüdische Gebetsschal wurde zur zionistischen (und jetzt zur israelischen) Flagge, die jüdische Menora (der Kerzenleuchter im Tempel) wurde zum Staatsemblem, der Davidstern wurde das oberste nationale Symbol. Fast alle religiösen Feiertage wurden ein Teil der neuen nationalen Geschichte.

Diese Umwandlung wurde enorm erfolgreich. Praktisch alle „jüdischen“ Israelis akzeptieren dies heute als selbstverständliche Wahrheit. Außer den Orthodoxen.

DIE ORTHODOXEN behaupten, sie und nur sie seien die wahren Juden und die rechten Erben der Jahrtausende langen Geschichte.

Sie haben damit vollkommen recht.

Die Gründungsväter erklärten, sie wollten einen „neuen Juden“ schaffen. Tatsächlich schufen sie eine neue Nation, die israelische.

David Ben Gurion, ein begeisterter Zionist, sagte, die zionistische Organisation sei das Gerüst für den Aufbau des Staates Israel gewesen und sollte abgebaut werden. Ich gehe noch weiter : Zionismus als solcher war das Gerüst und sollte jetzt abgebaut werden . Die Fiktion, dies sei ein „jüdischer“ Staat, ist die Fortsetzung einer am Anfang notwendigen Fiktion, die überflüssig und jetzt sogar schädlich geworden sein kann.

Diese Fiktion schafft die gegenwärtige Situation: die Orthodoxen werden von den Israelis wie ein Teil der jüdisch-israelischen Gemeinschaft angesehen, während sie sich wie ein fremdes Volk verhalten. Es ist nicht nur richtig, dass sie die israelische Flagge nicht grüßen (wie erwähnt, der Gebetsschal mit dem Davidstern) und sich weigern, den Unabhängigkeitstag zu feiern (übrigens wie die arabischen Bürger) – aber sie weigern sich auch, in der Armee zu dienen oder anderen nationalen Dienst zu tun.

Dies ist jetzt der Hauptzankapfel in Israel. Offiziell behaupten die Orthodoxen, alle ihre jungen Leute, die verpflichtet seien, Militärdienst zu machen – etwa 15 000 jedes Jahr – seien fleißig dabei, den Talmud zu studieren und könnten nicht einen Tag damit aufhören, geschweige denn drei Jahre wie gewöhnliche Studenten. Ein Rabbiner erklärte letzte Woche, sie dienten tatsächlich mehr dem Land als gewöhnliche Kampfsoldaten, weil sie den Schutz Gottes für den Staat sichern helfen.

Der Oberste Gerichtshof – so scheint es – ist nicht so sehr von dem göttlichen Schutz beeindruckt und annullierte kürzlich ein Gesetz, das die Orthodoxen vom Militärdienst befreit, was ein politisches Gerangel von Alternativen verursachte. Ein neues Gesetz, das den Gerichtshof umgeht, wird gerade erarbeitet.

Tatsächlich werden die Orthodoxen ihren Kindern nie erlauben, in der Armee zu dienen wegen der berechtigten Angst, sie würden von den gewöhnlichen Israelis verunreinigt – sie erfahren von Nachtclubs, TV und – Gott bewahre – von Haschisch und am schlimmsten, das Hören weiblicher Singstimmen – was nach dem jüdisch religiösen Gesetz eine totale Scheußlichkeit sei.

Die Trennung zwischen den Orthodoxen und anderen – manche sagen zwischen Juden und Israelis – ist fast vollkommen. Die Orthodoxen sprechen eine andere Sprache (Jiddisch), haben eine andere Körpersprache, kleiden sich anders, haben ein anderes Weltbild. In ihren getrennten Schulen lernen die Kinder völlig andere Fächer ( kein Englisch, keine Mathematik, keine weltliche Literatur, keine Geschichte anderer Völker).

Israels Schüler von Staatsschulen haben keine gemeinsame Sprache mit den Schülern der orthodoxen Schulen, weil sie völlig verschiedene Geschichten lernen. Ein extremes Beispiel:

Vor ein paar Jahren veröffentlichten zwei Rabbiner ein Buch „Der Königsweg“, das feststellt, dass das Töten von Kindern von Nicht-Juden gerechtfertigt sei, falls befürchtet wird, dass diese – wenn erwachsen – Juden verfolgen würden. Mehrere bedeutende Rabbiner unterstützten das Buch. Unter Druck der öffentlichen Meinung, begann die Polizei eine strafrechtliche Untersuchung wegen Hetze. In dieser Woche entschied der Generalstaatsanwalt endlich, diese Sache nicht weiter zu verfolgen, weil die Rabbiner nur religiöse Texte zitierten.

Ein orthodoxer Jude kann nicht in einem gewöhnlichen israelischen Haus essen (nicht koscher, oder nicht koscher genug). Sicherlich würde er auch seine Tochter nicht mit einem säkularen israelischen jungen Mann verheiraten lassen.

Das Verhalten gegenüber Frauen ist vielleicht der bemerkenswerteste Unterschied. In der jüdischen Religion gibt es absolut keine Gleichheit unter den Geschlechtern. Die Orthodoxen sehen ihre Frauen – und die Frauen sich selbst – hauptsächlich als Mittel zur Vermehrung an. Der Status der orthodoxen Frauen wird von der Anzahl ihrer Kinder bestimmt. In bestimmten Stadtteilen Jerusalems ist es ganz normal eine schwangere Frau in den 30ern zu sehen, die von einer Schar Kinder umgeben ist und ein Baby im Arm hält. Familien mit 10 bis 12 Kindern sind keine Ausnahme.

EIN WOHLBEKANNTER israelischer Kommentator und eine TV-Persönlichkeit schrieb vor kurzem, die Orthodoxen sollten „zusammengeschrumpft“ werden. Als Erwiderung goss ein orthodoxer Schreiber seinen Zorn über „säkulare“ Personen, die nicht gegen den Artikel protestierten, unter anderen: „den unermüdlichen Ideologen Uri Avnery“. So sollte ich meinen Standpunkt klar machen.

Als ein atheistischer Israeli respektiere ich die Orthodoxen für das, was sie sind – eine andere Entität. Man könnte auch sagen: ein anderes Volk. Sie leben in Israel, sind aber keine wirklichen Israelis. Für sie ist der israelische Staat wie jeder andere nicht-jüdische Staat, die Israelis sind wie jedes andere nicht-jüdische Volk. Der Unterschied liegt nur darin: sie haben die israelische Staatbürgerschaft. Sie können den Staat schamlos melken.

Wir finanzieren praktisch ihre ganze Existenz – ihre Kinder, ihre Schulen, ihr Leben ohne Arbeit.

Mein Vorschlag für einen aufrecht zu erhaltenden Modus vivendi wäre:

Als erstes eine vollkommene Trennung von Staat und Religion. Alle Gesetze, die sich auf Religion stützen, annullieren.

Zweitens den Orthodoxen vollkommene Autonomie gewähren. Sie sollen ihre repräsentativen Institutionen selbst wählen und in allen religiösen, kulturellen und Bildungsfragen sich selbst regieren. Sie sollten vom Militärdienst befreit werden.

Drittens sollten die Orthodoxen ihre religiösen Dienste selbst bezahlen mit Hilfe ihrer Brüder im Ausland. Vielleicht könnte es für diesen Zweck eine freiwillige Steuer geben, die der Staat dann zu der autonomen Behörde weiterleitet.

Viertens würde es kein „Oberrabbinat“ geben oder andere vom Staat ernannte Rabbiner. Diese werden ja sowieso von den Orthodoxen zurückgewiesen. (Der einmalige Yeshayahu Leibowitz, ein praktizierender Jude, nannte einmal den Oberrabbiner Shlomo Goren „den Clown mit dem Shofarhorn“)

Ich würde übrigens eine ähnliche Autonomie für die arabischen Bürger vorschlagen, falls sie es wünschen.

DA BLEIBT NOCH die Frage der sog. „National-Religiösen“. Sie sind die Nachkommen der winzigen Minderheit religiöser Juden, die sich von Anfang an der zionistischen Bewegung angeschlossen haben. Sie sind jetzt eine große Gemeinde. Nicht nur, dass sie begeisterte Zionisten sind, sie sind die ultra-ultra-Rechten, die das Siedlungsunternehmen und den gewalttätigen rechten Zionismus anführen. Sie akzeptieren nicht nur den Staat und die Armee – sie hoffen, beide anzuführen und haben schon beträchtliche Fortschritte in dieser Richtung gemacht.

Doch auch in religiösen Angelegenheiten werden sie immer extremer und nähern sich den Orthodoxen. Einige Israelis nennen beide Gruppen schon „Chardal“ ( das mit „Nareor“ übersetzt werden kann – National-Religiös-Orthodoxe) Chardal bedeutet übrigens Senf.

Was soll man mit diesem Senf bei einem autonomen Essen tun? Lasst mich einen Augenblick nachdenken.

ÜBRIGENS,WENN ein Israeli von einem Ausländer irgendwo auf der Welt gefragt wird: „Was sind Sie?“ Wird er immer antworten: „Ich bin ein Israeli.“ Er wird garantiert niemals sagen: „Ich bin ein Jude“. Außer den Orthodoxen.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Der Krieg der Lügen

Erstellt von Redaktion am 10. Juni 2012

Der Krieg der Lügen

Autor Uri Avnery

IN DIESER Woche sind es 30 Jahre her, dass die israelische Armee  die Grenze zum Libanon überquerte und den dümmsten Krieg in Israels Geschichte begann. Er dauerte 18 Jahre. Über 1500 israelische Soldaten und unzählige Libanesen und Palästinenser wurden getötet.

Fast alle Kriege sind auf Lügen gebaut. Lügen werden als legitime Instrumente des Krieges angesehen. Der 1. Libanonkrieg (wie er später genannt wurde) war ein ruhmreiches Beispiel.

Vom Anfang bis zum Ende (falls er je  geendet hat) war er ein Krieg der Täuschung und des Betruges, der Unwahrheit und der Lügenmärchen.

DIE LÜGEN begannen mit dem offiziellen Namen: „Operation Frieden in Galiläa“.

Wenn man heute Israelis fragt, dann würden 99,9% von ihnen  allen Ernstes sagen: „Wir hatten keine andere Wahl. Jeden Tag schossen sie  vom Libanon Katjuschas nach Galiläa. Wir mussten sie stoppen.“ Fernsehmoderatoren und -moderatorinnen wie auch frühere Kabinettsminister wiederholten dies – ganz ernsthaft – während der ganzen letzten Woche. Sogar Leute, die zu jener Zeit erwachsene Bürger waren.

Die einfache Tatsache ist, dass elf Monate lang vor dem Krieg kein einziger Schuss über die israelisch-libanesische Grenze abgefeuert wurde. Ein Waffenstillstand war in Kraft, und die Palästinenser auf der andern Seite der Grenze hielten ihn gewissenhaft ein. Zu jedermanns Überraschung gelang es Yassir Arafat, ihn auch allen radikalen Fraktionen aufzuerlegen.

Ende Mai 1982 traf sich der Verteidigungsminister Ariel Sharon mit dem Außenminister der USA Alexander Haig in Washington DC. Er bat um amerikanisches Einverständnis, in den Libanon einzufallen. Haig sagte, dass die USA dies nicht erlauben könne, wenn es nicht eine klare und international anerkannte Provokation gäbe.

Und siehe da, die Provokation wurde sofort geliefert. Abu Nidal, der Anti-Arafat- und Anti-PLO-Meisterterrorist, sandte seinen eigenen Cousin, um den israelischen Botschafter in London zu ermorden. Dieser wurde nur ernsthaft verletzt.

Aus Rache bombardierte Israel Beirut, und die Palästinenser schossen – wie erwartet – zurück.
Ministerpräsident Menachem Begin erlaubte Sharon, bis zu 40km in libanesisches Gebiet  vorzudringen, um die Siedlungen in Galiläa außerhalb der Schusslinie der Katjuschas zu halten.

Als einer der Nachrichtenchefs Begin  beim Kabinett-Treffen erklärte, dass Abu Nidals Organisation kein Mitglied der PLO sei, antwortete Begin mit dem berüchtigten Wort: „Sie sind alle PLO“.

General Matti Peled, zu jener Zeit mein politischer Verbündeter, glaubte fest,  Abu Nidal habe als Agent von Sharon gehandelt. Das glaubten auch alle Palästinenser, die ich kenne.

Die Lüge „ sie schossen jeden Tag auf uns“, hat sich in der öffentlichen Meinung so gehalten, dass es heute sinnlos ist, darüber zu disputieren. Es ist ein aufschlussreiches Beispiel, wie ein Mythos Besitz von der öffentlichen Meinung  nimmt, einschließlich der Leute, die erlebt haben, dass das Gegenteil der Fall ist.

NEUN MONATE vor dem Krieg erzählte Sharon mir von seinem Plan für einen neuen Nahen Osten.

Ich schrieb einen langen biographischen Artikel über ihn in Zusammenarbeit mit ihm. Er war von meiner journalistischen Integrität überzeugt, also erzählte er mir seinen Plan „ganz im Vertrauen“ und erlaubte mir, ihn zu veröffentlichen, aber ohne ihn zu zitieren. Das tat ich auch.

Sharon war eine gefährlich psychische Mischung: eine primitive Gesinnung, unberührt von irgendeiner Kenntnis von Geschichte – außer der jüdischen – und ein fatales Verlangen nach großen Plänen. Er verachtete alle Politiker – einschließlich Begin –  als kleine Leute, die keine Visionen und Phantasie haben.

Sein Plan für die Region war, wie er mir erzählte (und wie ich es neun Monate vor dem Krieg veröffentlichte):
(1)    den Libanon angreifen und dort einen christlichen Diktator einsetzen, der Israel dienen würde;
(2)    die Syrer aus dem Libanon treiben;
(3)    die Palästinenser aus dem Libanon nach Syrien vertreiben, von wo sie dann  von den Syrern nach Jordanien weiter getrieben würden;
(4)    die Palästinenser dahin zu bringen, dass sie in Jordanien eine  Revolution ausführen, König Hussein absetzen und  aus Jordanien einen palästinensischen Staat machen würden;
(5)     ein funktionales  Abkommen schließen, nach dem der palästinensische Staat (in Jordanien) die Machtfunktion in der Westbank mit Israel teilen würde.

Da er ein zielbewusster Unternehmer war, überzeugte Sharon Begin, den Krieg zu beginnen und sagte zu ihm, es sei sein einziges Ziel, die PLO 40km weit zurück zu treiben. Dann setzte er Bashir Gemayel als Diktator des Libanon ein. Dann ließ er die christlichen Phalangisten das Massaker in Sabra und Shatila ausführen, um die Palästinenser zu terrorisieren, damit sie  nach Syrien fliehen.

Die Folgen des Krieges waren das Gegenteil von seinen Erwartungen. Bashir wurde von den Syrern getötet, und sein Bruder, der dann durch israelische Kanonen gewählt wurde, war ein unfähiger Schwächling. Die Syrer  stärkten ihre Macht über den Libanon. Das schreckliche Massaker brachte die Palästinenser nicht dazu, zu fliehen. Sie rührten sich nicht von der Stelle. Hussein blieb auf seinem Thron, Jordanien wurde nicht Palästina. Arafat und seine bewaffneten Männer wurden nach Tunis evakuiert, wo sie eindrucksvolle politische Siege errangen,  als die „einzigen Vertreter der palästinensischen Volkes“ anerkannt wurden und  schließlich nach Palästina zurückkehrten .

DER MILITÄRISCHE Plan ging von Anfang an schief, genau wie der politische.  Da der Krieg in Israel als ein ruhmreicher militärischer Sieg gefeiert wurde, wurde keine militärische Lektion aus ihm gezogen – so dass der 2. Libanonkrieg etwa 24 Jahre später ein um so größeres militärisches Desaster wurde.

Die einfache Tatsache ist, dass 1982 keine Einheit der Armee  ihr Ziel erreicht hat oder  ihr Ziel nicht  zur  rechten Zeit erreicht hat. Kühner palästinensischer Widerstand in Sidon (Saida) hielt die Armee auf, und Beirut war außer Reichweite, als eine Feuerpause erklärt wurde. Sharon brach sie einfach, und erst dann gelang es den Truppen, die Stadt einzukreisen und sie von der östlichen Seite  zu betreten.

Im Gegensatz zu seinem Versprechen gegenüber Begin (mir gegenüber von einem sehr ranghohen Koalitionspartner wiederholt) griff Sharon die syrische Armee an, um die Beirut-Damaskus-Straße zu erreichen und abzuschneiden. Die israelischen Einheiten an dieser Front erreichten niemals diese  wichtige Straße, sondern erlebten eine überwältigende Niederlage bei Sultan Yaakub.

Kein Wunder. Der Stabschef war Rafael Eitan, Raful genannt. Er war von Sharons Vorgänger  Ezer Weizman ernannt worden. Zu jener Zeit fragte ich Weizman, warum er so einen  Idioten ernannt hätte. Seine  typische Antwort war: „Ich habe genug IQ für uns beide. Er wird meine Befehle ausführen.“ Aber Weizman trat zurück, und Raful blieb.

EINER DER bedeutendsten und dauerhaften Ergebnisse des 1. Libanonkrieges betrifft die Schiiten.
Von 1949 bis 1970 war die libanesische Grenze die ruhigste von allen unsern Grenzen. Leute überquerten versehentlich die Grenze und wurden zurück gebracht. Allgemein wurde gesagt, dass „der Libanon der 2. arabische Staat sein wird, mit dem Israel Friede machen wird“, weil er es nicht wage, der erste zu sein.

Die Bevölkerung auf der andern Seite der Grenze war vor allem schiitisch, damals die unterdrückteste und machtloseste von Libanons verschiedenen  ethnish-religiösen Kommunen. Als König Hussein mit Israels Hilfe  die PLO-Kräfte  im Schwarzen September 1970 vertrieb, richteten sich die Palästinenser im Südlibanon ein und wurden dort die Herrscher der Grenzregion,  die in Israel bald als „Fatahland“ bekannt wurde.

Die meistens schiitische Bevölkerung liebte ihre neuen palästinensischen Herren nicht, die Sunniten waren. Als Sharons Soldaten das Gebiet betraten, wurden sie tatsächlich mit Reis und Süßigkeiten empfangen (Ich sah es mit eigenen Augen). Die Schiiten, die Israel nicht kannten, glaubten, dass ihre Befreier die Palästinenser vertreiben und dann nach Hause gehen würden.

Sie brauchten nicht lange, um ihren Irrtum einzusehen. Sie begannen dann einen Guerillakrieg, für den die israelische Armee völlig unvorbereitet war.

Die schiitischen Mäuse verwandelten sich schnell in schiitische Löwen. Angesichts dieser Guerillas entschloss sich die israelische Regierung, Beirut und einen großen Teil des Süd-Libanon  zu verlassen und sich auf eine „Sicherheitszone“ zurück zu ziehen, die, wie erwartet, zu einem Guerilla-Schlachtfeld wurde. Die moderaten Schiiten wurden durch die neue radikalere  neue Hisb-allah (Partei Gottes) ersetzt, die schließlich die politische und militärische Hauptkraft im ganzen Libanon wurde.

Um sie zu stoppen, ermordete Israel ihren Führer Hassan al-Mussawi, der prompt durch einen weit begabteren Assistenten – Hassan Nasrallah ersetzt wurde.

Zur selben Zeit begannen Sharons Doppelgänger in Washington einen Krieg, der den Irak zerstörte, das historische arabische Bollwerk gegen den Iran. Eine neue Achse des schiitischen Irak, Hisbollah und das alawitische Syrien wurden eine dominante Tatsache.  (Die Alawiten, die Assads Syrien beherrschen, sind eine Art Schiiten. Ihr Name kommt von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten, dessen Nachkommen von den Sunniten zurückgewiesen und von den Schiiten akzeptiert wurden).

Wenn Sharon  aus seinem Koma aufwachen sollte, das seit den letzten sechs Jahren sein Schicksal  gewesen ist, wäre er von diesem Ergebnis geschockt  – das einzig praktische – seines Libanonkrieges.

EINES DER Kriegsopfer war Menachem Begin.

Viele Legenden wurden um sein Gedenken gewoben. Begin hatte viele ausgezeichnete Qualitäten. Er war ein Mann von Prinzipien, ehrenhaft und hatte persönlichen Mut. Er war auch ein großer Redner in der europäischen Tradition, fähig die Emotionen seiner Zuhörer  zu wecken.

Aber Begin war ein sehr mittelmäßiger Denker, vollkommen ohne originelle Gedanken. Sein Mentor Vladimir Jabotinsky  behandelte ihn mit Herablassung. Er war auf seine Weise naiv. Er ließ sich leicht von Sharon täuschen. Er widmete sich zielstrebig der Niederlage der Palästinenser und dem Versuch,  die Herrschaft des „jüdischen Staates“  über das ganze historische Palästina auszudehnen, kümmerte sich darum nicht wirklich um den Libanon, den Sinai oder die Golanhöhen.

Sein Verhalten während des Libanonkrieges grenzte ans Lächerliche. Er besuchte die Soldaten und stellte Fragen, die zur Zielscheibe von Witzen unter den Soldaten wurden. Im Nachhinein fragt man sich, ob er schon zu dieser Zeit psychisch krank war. Bald nach dem Sabra und Shatila-Massaker, das ihn zutiefst schockierte, zog er sich in tiefe Depressionen zurück, die noch bis zu seinem Tod nach zehn Jahren andauerte.

DIE MORAL von der Geschichte ist noch immer relevant:
Jeder Tor kann einen Krieg beginnen, nur eine sehr weise Person kann einen verhindern.

(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Aus der Vogelperspektive

Erstellt von Redaktion am 3. Juni 2012

Aus der Vogelperspektive

Autor Uri Avnery

AM 15.MAI, dem Jahrestag der Gründung des Staates Israel begehen die arabischen Bürger einen Tag der Trauer für die Opfer der Nakba („Katastrophe“) – den Massenauszug des halben palästinensischen Volkes aus dem Gebiet, das Israel wurde.

Wie jedes Jahr hat dies viel Wut erzeugt. Die Tel Aviver Universität erlaubte den arabischen Studenten eine Versammlung abzuhalten, die von ultra-rechten jüdischen Studenten angegriffen wurde. Die Haifaer Universität verbot solch eine Versammlung. Vor einigen Jahren wurde in der Knesset über ein Nakba-Gesetz debattiert, nach dem Teilnehmer an solchen Gedenkfeiern drei Jahre Gefängnisstrafe bekommen sollten. Dies wurde später modifiziert: Unterstützungsgelder von Seiten der Regierung soll von d e n Instituten zurückgezogen werden, die die Nakba erwähnen.

Die „Einzige Demokratie im Nahen Osten“ mag wohl die einzige Demokratie der Welt sein, die seinen Bürgern verbietet, an ein historisches Ereignis zu erinnern. Vergessen ist eine nationale Pflicht.

Es ist schwierig, die Geschichte des „palästinensischen Problems“ zu vergessen, weil es unser Leben 65 Jahre nach der Gründung des Staates Israels beherrscht; die Hälfte der Nachrichten in unseren Medien befasst sich – direkt oder indirekt – mit diesem einen Problem.

Eben erst hat die südafrikanische Regierung beschlossen, alle Produkte aus den Westbank-siedlungen müssten eindeutig bezeichnet werden. Diese Maßnahme, die in Europa schon besteht, wurde – ausgerechnet – von unserm Außenminister Avigdor Lieberman rundweg als „rassistisch“ verurteilt, obwohl sich Südafrika nur einem Boykott anschließt, der vor 15 Jahren von meinen Freunden und mir initiiert wurde.

Die neue Regierungskoalition hat erklärt, sie wolle die Verhandlungen mit den Palästinensern wieder aufnehmen (jeder weiß, dass dies ein hohles Versprechen ist) Eine Welle von Morden und Vergewaltigungen wurde den Arabern ( und afrikanischen Asylsuchenden) untergeschoben. Alle Kandidaten für die ägyptische Präsidentschaft versprechen, den Kampf für die Palästinenser aufzunehmen. Ranghohe israelische Armeeoffiziere haben bekannt gemacht, dass 3500 syrische und iranische Raketen, als auch Zehntausende Hisbollahraketen aus dem Südlibanon bereit liegen, um wegen Palästina auf uns abgefeuert zu werden. Und so weiter – eine tägliche Liste.

115 Jahre nach der Gründung der zionistischen Bewegung beherrscht der israelisch-palästinensische Konflikt unsere Nachrichten.

DIE GRÜNDUNGSVÄTER des Zionismus übernahmen den Slogan „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ ( geprägt wurde dieser Slogan schon 1854 von Earl Shaftesbury, einem britischen christlichen Zionisten) . Sie glaubten das „verheißene Land“ sei leer. Sie wussten natürlich, dass es in dem Land ein paar Leute gibt, aber die Zionisten waren Europäer, und für Europäer am Ende des 19. Jahrhundert, der Blütezeit des Imperialismus und Kolonialismus, zählten die Farbigen – braun, schwarz, gelb, rot oder was auch immer – nicht als wirkliche Menschen.

Als Theodor Herzl die Idee eines jüdischen Staates erfand, dachte er nicht an Palästina, sondern an ein Gebiet in Argentinien. Er beabsichtigte, dieses Gebiet von der ganzen einheimischen Bevölkerung frei zu machen – aber erst, wenn sie alle Schlangen und gefährlichen wilden Tiere getötet hätten.

In seinem Buch „Der Judenstaat“ wurden die Araber nicht erwähnt – und das ist kein Zufall.

Als Herzl es schrieb, dachte er nicht einmal an dieses Land. Das Land erscheint im Buch nur in einem winzigen Kapitel, das im letzten Augenblick hinzugefügt wurde: „Palästina oder Argentinien?“

Deshalb sprach Herzl nicht über die Vertreibung des palästinensischen Volkes. Dies wäre auf jeden Fall unmöglich gewesen, da Herzl den ottomanischen Sultan um eine Charta für Palästina gebeten hatte. Der Sultan war ein Kalif, das geistliche Oberhaupt der Muslime der Welt. Herzl war zu vorsichtig, um dieses Thema anzuschneiden.

Dies erklärt die ansonsten seltsame Tatsache: die zionistische Bewegung hat niemals eine klare Antwort auf diese allerfundamentalste Frage gegeben: wie kann ein jüdischer Staat in einem Land geschaffen werden, das schon von einem anderen Volk bewohnt wird? Diese

Frage ist bis zum heutigen Tage unbeantwortet geblieben.

Aber nur scheinbar. Irgendwo unter allem verborgen, an den Rändern des kollektiven Bewusstseins, hat der Zionismus immer eine Antwort. Sie ist so selbstverständlich, dass es nicht nötig ist, darüber nachzudenken. Nur wenige haben den Mut, es offen auszusprechen. Es liegt sozusagen im „genetischen Code“ der zionistischen Bewegung und seiner Tochter des Staates Israel.

Dieser Code sagt: ein jüdischer Staat im ganzen Land Israel. Und deshalb totale Opposition gegenüber der Errichtung eines palästinensischen Staates – zu allen Zeiten, irgendwo im Land, egal, was es kostet.

WENN EIN Stratege einen Krieg plant, bestimmt er als erstes dessen Ziel. Das ist das Hauptbestreben. Jedes andere Bestreben muss sich dementsprechend danach ausrichten. Wenn es das Hauptbestreben unterstützt, ist es akzeptabel. Wenn es dieses Hauptbestreben verletzt, muss es zurückgewiesen werden.

Das Hauptbestreben der zionistisch/israelischen Bewegung ist es, einen jüdischen Staat im ganzen Land Israel zu errichten – das Land zwischen Mittelmeer und dem Jordanfluss. Mit anderen Worten: die Verhinderung eines arabisch- palästinensischen Staates.

Wenn man dies begreift, machen alle Ereignisse der letzten 115 Jahre Sinn. All die Biegungen und Windungen, alle scheinbaren Widersprüche und Umwege, all die seltsam aussehenden Entscheidungen machen einen perfekten Sinn.

Aus der Vogelperspektive sieht die zionistisch-israelische Politik aus wie ein Fluss, der in Richtung Meer fließt. Wenn er auf ein Hindernis stößt, umfließt er es. Der Fluss fließt einmal nach rechts, einmal nach links, manchmal sogar zurück. Aber er strebt mit einer wundersamen Entschlossenheit zu seinem Ziel.

Das leitende Prinzip war, jeden Kompromiss anzunehmen, der uns gibt, was wir in jedem Stadium bekommen können, doch nie das Endziel aus den Augen zu verlieren.

Diese Taktik erlaubt uns jeden Kompromiss, außer einem: einen arabisch-palästinensischen Staat, der die Existenz eines arabisch-palästinensischen Volkes bestätigt.

Alle israelischen Regierungen haben gegen diese Idee mit allen erreichbaren Mitteln gekämpft. In dieser Hinsicht gab es keinen Unterschied zwischen David Ben Gurion, der ein geheimes Abkommen mit König Abdullah von Jordanien machte, um die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern, wie die Resolution der UN-Vollversammlung 1947 verfügt hatte, und Menachem Begin, der einen Sonderfrieden mit Anwar Sadat machte, um Ägypten aus dem israelisch-palästinensischen Krieg fern zu halten. Geschweige denn Golda Meirs berüchtigter Ausspruch: „So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht.“ Tausende anderer Entscheidungen von verschiedenen israelischen sich folgenden Regierungen sind derselben Logik gefolgt.

Die einzige Ausnahme mochte das Oslo-Abkommen sein – das auch nicht einen palästinensischen Staat erwähnt. Nach der Unterzeichnung eilte Yitzhak Rabin nicht weiter, um solch einen Staat zu gründen. Er blieb stehen, als ob er vor seiner eigenen Kühnheit erschrak. Er zögerte, zauderte, bis der unvermeidliche zionistische Gegenangriff in Fahrt kam und seinen Bemühungen – und seinem Leben – ein Ende setzte.

DER GEGENWÄRTIGE Kampf um die Siedlungen ist ein integraler Teil dieses Prozesses.

Das Hauptziel der Siedler ist es, einen palästinensischen Staat unmöglich zu machen. Alle israelischen Regierungen haben sie – offen oder geheim – unterstützt. Sie sind natürlich nach dem Internationalem Recht illegal, viele von ihnen sind sogar nach israelischem Gesetz illegal: Man nennt sie verschieden: „illegal“ , „unrechtmäßig“, „unerlaubt“ usw.

Israels erhabener Oberster Gerichtshof hat angeordnet, mehrere von ihnen zu entfernen, und er erlebt, dass seine Entscheidungen von der Regierung ignoriert werden.

Die Siedler behaupten, dass nicht eine einzige Siedlung ohne geheimes Einverständnis der Regierung errichtet wurde. Und tatsächlich sind die unrechtmäßigen Siedlungen sofort mit Wasserleitungen, dem Stromnetz und speziellen neuen Straßen verbunden worden, und die Armee eilte hin, um sie zu verteidigen – tatsächlich sind die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) schon seit langem die Siedlungsverteidigungskräfte (SDF) geworden. Anwälte und Rechtsverdreher sind massenweise damit beschäftigt , riesige Flächen palästinensisches Land zu enteignen. Eine berühmte Anwältin entdeckte ein vergessenes ottomanisches Gesetz, das besagt, wenn man vom Rande eines Dorfes schreit, dann gehört all das Land dem Sultan, wo man dieses Schreien nicht mehr hört. Da der israelische Staat der Erbe der jordanischen Regierung sei, die der Erbe es Sultan sei, gehöre dieses Land der israelischen Regierung, die es den Siedlern weitergibt.(Das ist kein Witz.)

Während der israelisch-palästinensische Konflikt zu ruhen scheint und „nichts geschieht“, ist er mit aller Kraft auf dem einzigen Schlachtfeld , das wichtig ist, im Gange: im Siedlungsunternehmen. Alles andere ist marginal, wie die erschreckende Aussicht eines israelischen Angriffs auf den Iran. Wie ich schon oft gesagt habe, wird dieser nicht geschehen. Er ist ein Teil der Bemühungen, die Aufmerksamkeit von der Zwei-Staaten-Lösung abzulenken, der einzigen friedlichen Lösung, die es gibt.

WOHIN FÜHRT die Negation des palästinensischen Staates?

Logischerweise kann sie nur zu einem Apartheidstaat im ganzen Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan führen. Auf die Dauer wird dies unhaltbar sein und zu einem „bi-nationalen“ Staat mit arabischer Mehrheit führen, der völlig inakzeptabel für fast alle israelischen Juden sein würde. Was bleibt also?

Die einzig denkbare Lösung würde ein Transfer aller Araber auf die andere Seite des Jordan sein. In einigen ultrarechten Kreisen wird darüber offen geredet. Der jordanische König hat schon eine Heidenangst davor.

Ein Bevölkerungstransfer geschah schon 1948. Es gibt noch immer ein Streitgespräch, ob dieser absichtlich geschah. Im ersten Teil des Krieges war er eindeutig eine militärische Notwendigkeit ( und wurde von beiden Seiten praktiziert) . Später wurde er absichtlich durchgeführt. Aber der Hauptpunkt ist, dass es den Flüchtlingen aus über 400 Dörfern nicht erlaubt wurde, zurückzukehren, als die Feindseligkeiten vorüber waren. Im Gegenteil: die Bevölkerung einiger Dörfer wurde sogar noch später vertrieben und auch diese Dörfer zerstört. Jeder handelte nach der unsichtbaren Direktive der Hauptbestrebung, eine Anweisung, die so tief ins kollektive Bewusstsein gedrungen war, dass keine speziellen Order mehr nötig waren.

Aber 1948 ist schon lange vorbei. Die Welt hat sich verändert. Was vom tapferen und kleinen nach-Holocaust Israel toleriert wurde, wird morgen vom mächtigen, arroganten Israel nicht toleriert werden. Heute ist es ein Hirngespinst – ähnlich Träumen der anderen Seite, in denen Israel irgendwie von der Landkarte verschwinden würde.

Dies bedeutet, dass ethnische Säuberung – die einzige Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung – unmöglich ist. Das Hauptbestreben ist in eine Sackgasse geraten.

ES IST oft gesagt worden, der israelisch-palästinensische Konflikt sei ein Zusammenprall zwischen einer unaufhaltbaren Kraft und einem unbeweglichen Objekt. Dies wird unser Leben und das der nächsten Generationen dominieren.

Wenn wir nicht etwas tun, das fast unmöglich aussieht: das Hauptbestreben ändern d.h. die historische Richtung unseres Staates. Ein Ersatz dafür wäre ein neues nationales Ziel: Friede und Koexistenz, Versöhnung zwischen dem Staat Israel und dem Staat Palästina.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Der neue Protest

Erstellt von Redaktion am 27. Mai 2012

Der neue Protest

Autor Uri Avnery

DER RABIN-PLATZ in Tel Aviv hat viele Demonstrationen gesehen, aber keine war wie die am letzten Samstag.

Sie hat nichts mit dem Ereignis zu tun, das ihm den Namen gab: Die riesige Rallye für Frieden , an deren Ende die Ermordung Yitzhak Rabins war. Diese Rallye war in jeder Hinsicht anders.

Es war ein fröhliches Ereignis. Dutzende von NGOs, viele von ihnen klein, einige von ihnen etwas größer, jede mit einer anderen Agenda, kamen zusammen, um den sozialen Protest des letzten Jahres wieder aufzunehmen. Aber es war keineswegs eine Fortsetzung des „israelischen Frühlings“ des letzten Jahres.

Der Aufstand des letzten Jahres war ganz ungeplant. Eine junge Frau, Daphni Leef, konnte ihre Miete nicht zahlen und stellte ein kleines Zelt auf den Rothshild-Boulevard, ein fünf- Minuten-Spaziergang vom Rabin-Platz entfernt. Sie hatte offensichtlich den richtigen Ton getroffen, weil innerhalb von Tagen Hunderte von Zelten auf dem Boulevard und überall im Land aufgebaut wurden. Er endete in einer sehr großen Demonstration, die „der Marsch der halben Million“ genannt wurde, der zur Bildung einer Regierungskommission führte, die eine Liste von Anregungen erstellte, um die soziale Ungerechtigkeit zu mildern. Nur ein kleiner Teil von ihnen wurde realisiert.

Das ganze Unternehmen nannte sich „unpolitisch“; es wies Politiker jeder Art zurück und weigerte sich resolut, sich mit einem nationalen Problem, wie z.B. Frieden ( was ist das denn?), Besatzung, Siedlungen und Ähnlichem zu befassen.

Alle Entscheidungen wurden von einer anonymen Führung, die sich um Daphni gruppierte, getroffen. Einige Namen wurden bekannt, andere nicht. Die Massen, die sich ihnen anschlossen, waren mit ihren Vorschlägen einverstanden.

NUN NICHT MEHR. Die neue Initiative dieses Jahres hat offensichtlich keine Führung. Es gab keine zentrale Tribüne, keinen Hauptsprecher. Sie ähnelt dem Londoner Hyde Park Corner, wo jeder auf einen Stuhl klettern und sein oder ihr Evangelium predigen kann. Jede Gruppe hat ihren eigenen Stand, wo ihre Flugblätter ausgehängt waren, jede hatte ihren eigenen Namen, ihre eigene Agenda, ihre eigenen Redner und ihre eigenen „Guides“ (da wir sie nicht Führer nennen sollten).

Da der Platz groß ist und die Zuhörerschaft auf einige Tausend kam, funktionierte es. Viele verschiedene – und einige widersprüchliche – Versionen sozialer Gerechtigkeit wurden befürwortet: von einer Gruppe, die sich „Revolution der Liebe“ nannte (jeder sollte jeden lieben) bis zu einer Gruppe von Anarchisten (alle Regierungen sind schlecht, auch Wahlen sind schlecht).

Sie stimmten nur in einem Punkt überein: sie waren alle „unpolitisch“, alle schraken vor den Tabuthemen (s. oben) zurück.

Gideon Levy nannte die Szene „chaotisch“ und wurde unmittelbar von den Protestierenden

angegriffen, die ihm vorwarfen, dass ihm das Verständnis fehlt, (wahrscheinlich sei er zu alt, um dies zu verstehen). Chaos sei wunderbar. Chaos sei wirkliche Demokratie. Es gebe dem Volk seine Stimme zurück. Es gibt dort keine Führer, die den Protest stehlen und ihn für eigene Zwecke und Egos ausnützen würden. Es ist die Art und Weise, wie sich die neue Generation selbst ausdrückt.

ALL DIES erinnert mich an eine glückliche Periode – an die 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als noch fast niemand dieser Demonstranten geboren war oder gar „in der Planungsphase“ war (wie Israelis es gerne ausdrücken).

Zu jener Zeit war Paris von einer Leidenschaft für soziale und politische Demonstrationen ergriffen. Es gab keine gemeinsame Ideologie, keine einigende Vision einer neuen Sozialordnung. Im Odeon-Theater ging Tag für Tag eine endlose und ununterbrochene Debatte weiter , während außerhalb Demonstranten Pflastersteine auf die Polizisten warfen, die sie mit bleiernen Säumen ihrer Mäntel schlugen. Jeder war begeistert; es war klar, eine neue Epoche der menschlichen Geschichte hatte begonnen.

Claude Lanzmann, der Sekretär von Jean-Paul Sartre und Liebhaber von Simone de Beauvoir und der später bei dem Monumentalfilm „Shoa“ Regie führte, beschrieb mir die Atmosphäre so: „Die Studenten verbrannten die Autos auf den Straßen. An den Abenden parkte ich meinen Wagen an entfernten Plätzen. Aber eines Tages sagte ich zu mir: Was zum Teufel brauch ich einen Wagen? Lasst sie ihn verbrennen!“

Aber während die Linke redete, sammelte die Rechte ihre Kräfte unter Charles de Gaulle, eine Million Rechte marschierte auf den Champs Elisées. Der Protest verlief im Sande und ließ nur ein vages Verlangen nach einer besseren Welt zurück.

Der Protest war nicht auf Paris beschränkt. Sein Geist infizierte viele andere Städte und Länder. Im unteren Manhattan herrschte die Jugend unangefochten. Provokative Poster wurden in den Straßen des „Village“ verkauft, junge Männer und Frauen trugen humorvolle Abzeichen an ihrer Brust.

Im Großen und Ganzen hatte die vage Bewegung vage Ergebnisse. Ohne eine konkrete Agenda gibt es auch keine konkreten Ergebnisse. De Gaulle stürzte einige Zeit später aus anderen Gründen. In den USA wählte das Volk Richard Nixon. Im öffentlichen Bewusstsein änderte sich manches, aber nach all dem revolutionären Gerede gab es keine Revolution.

BEI DER Samstagsrallye ging die junge Daphni Leef und ihre Kameraden kaum bemerkt durch die Menge wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Nach nur einem Jahr schien es, als ob eine neue Generation die neue Generation vom Vorjahr übernehmen würde.

Es ging nicht darum, dass sie nicht in der Lage waren, sich um eine gemeinsame Agende zu einigen – es ging eher darum, dass sie nicht den Vorteil sahen oder gar die Notwendigkeit, eine gemeinsame Agenda, eine gemeinsame Organisation, eine gemeinsame Führung zu haben. All dies sind in ihren Augen schlechte Dinge, Attribute des alten, korrupten, diskreditierten Regimes. Weg mit ihnen!

Ich bin nicht ganz sicher, was ich darüber denken soll.

Einerseits mag ich es sehr. Neue Energien werden frei. Eine junge Generation, die egoistisch, apathisch und keineswegs gleichgültig schien, zeigt plötzlich, dass sie sich Sorgen macht.

Seit Jahren habe ich meine Hoffnung ausgedrückt, dass die jungem Leute etwas Neues schaffen – mit einem neuen Wortschatz, neuen Definitionen, neuen Slogans, neuen Führern, die sich total von den heutigen Parteistrukturen und Regierungskoalitionen trennten – einem Neubeginn. Der Beginn der zweiten israelischen Republik.

Also sollte ich glücklich sein, während ich auf einen wahr werdenden Traum schaue.

Und tatsächlich bin ich glücklich über diese neue Entwicklung. Israel benötigt notwendige soziale Reformen. Die Kluft zwischen sehr Reichen und sehr Armen ist unerträglich. Eine breite neue Sozialbewegung, auch mit großen Verschiedenheiten ist eine gute Sache.

Soziale Gerechtigkeit ist eine linke Forderung und ist es immer gewesen. Eine Demonstration, die schreit: „Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit“ ist links, auch wenn sie dieses Stigma meidet.

Aber die hartnäckige Weigerung, die politische Arena zu betreten und keine politische Agenda zu erklären, ist schlecht. Das könnte bedeuten, dass alles im Sande verläuft, genau wie die Bemühungen des letzten Jahres.

Wenn die Demonstranten darauf bestehen, sie seien unpolitisch – was verstehen sie darunter ? Wenn das bedeutet, sie identifizieren sich selbst nicht mit einer bestehenden politischen Partei, dann kann ich nur applaudieren. Wenn es nur ein taktischer Trick ist, um Leute aus allen bestehenden Lagern anzuziehen, applaudiere ich auch. Aber wenn es eine ernsthafte Entscheidung ist, die politische Schlacht den anderen zu überlassen, muss ich es verurteilen.

Soziale Gerechtigkeit ist ein klares politisches Ziel. Es bedeutet u.a. das Geld von einer Sache wegzunehmen und es sozialen Zwecken zukommen zu lassen. In Israel bedeutet es unvermeidlich, das Geld sowohl vom riesigen Militärbudget zu nehmen, als auch von den Siedlungen, von der Unterstützung, die als Bestechung an die Orthodoxen gezahlt wird und von den parasitären Magnaten.

Wo kann dies geschehen? Nur in der Knesset. Um dorthin zu kommen, ist eine politische Partei nötig. Also muss man politisch sein. Punkt.

Ein unpolitischer Protest, der die brennenden Fragen unserer nationalen Existenz vermeidet, ist etwas, das nichts mit der Realität zu tun hat.

Letztes Jahr verglich ich den sozialen Protest mit einer Meuterei an Bord der Titanic. Man könnte dies noch erweitern. Man stelle sich das wunderbare Schiff auf seiner Jungfernfahrt mit all den lebendigen Aktivitäten an Bord vor. Die Band bittet darum, alle altmodische Musik von Mozart und Schubert wegzulassen und durch harte Rockmusik zu ersetzen. Anarchisten verlangen, dass der Kapitän entlassen wird und wählen jeden Tag einen neuen Kapitän. Andere verlangen, die Schiffsübungen zu streichen – eine lächerliche Übung auf einem „unsinkbaren“ Schiff – und stattdessen sportliche Übungen anzubieten. Auch sollte der skandalöse Unterschied zwischen der ersten Klasse und den andern Passagieren gestrichen werden etc.

Alles gute Forderungen.

Aber irgendwo auf dem Weg lauert ein Eisberg.

Israel steuert auf einen Eisberg zu, auf einen größeren als einer von denen, die auf dem Weg der Titanic schwammen. Er ist nicht verborgen. Alle seine Teile sind von weitem sichtbar. Und wir segeln geradewegs mit Volldampf auf ihn zu. Wenn wir den Kurs nicht ändern, wird sich der Staat Israel selbst zerstören – er wird sich erst in ein Apartheidstaats-Monster vom Mittelmeer bis zum Jordan verwandeln und später vielleicht in einen binationalen Staat mit arabischer Mehrheit vom Jordan bis zum Mittelmeer. Bedeutet das, dass wir unsern Kampf für soziale Gerechtigkeit aufgeben müssen? Gewiss nicht. Der Kampf für soziale Solidarität, für bessere Erziehung, für verbesserte medizinische Dienste, für die Armen und Behinderten muss jeden Tag, jede Stunde, weitergehen .

Bedeutet das auch, dass dieser Kampf ein Teil des weiteren Kampfes sein muss – politisch und ideologisch – für die Zukunft Israels, für das Ende der Besatzung, für Frieden.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Operette in fünf Akten

Erstellt von Redaktion am 20. Mai 2012

Operette in fünf Akten

Autor Uri Avnery

DER ZAUBERMEISTER hat noch ein Kaninchen aus dem Zylinder gezogen. Ein sehr lebendiges Kaninchen.

Er hat jeden verblüfft, einschließlich den Führer aller Parteien, die politischen Topexperten und seine eigenen Kabinettsminister.

Er hat auch gezeigt, dass sich in der Politik – buchstäblich – alles über Nacht ändern kann.

Um 2 Uhr nachts war die Knesset sehr damit beschäftigt, die letzten Korrekturen an einem Gesetz zu machen, um sich selbst aufzulösen – and damit die Hälfte ihrer Mitglieder in die politische Vergesslichkeit zu schicken..

Um 3 Uhr nachts gab es eine riesige neue Regierungskoalition. Keine Wahlen. Vielen Dank.

Eine Operette in 5 Akten.

ERSTER AKT: alles ist still. Allgemeine Meinungsumfragen zeigen, dass Binjamin Netanjahu die absolute Kontrolle hat. Seine Popularität nähert sich 50%, kein anderer nähert sich auch nur den 20% .

Die größte Partei in der Knesset, Kadima, sinkt bei den Umfragen von 28 Sitzen auf elf; alle Anzeichen deuten daraufhin, dass sie weiter sinken wird. Ihr neuer Führer, der frühere Stabschef Shaul Mofaz hat sogar noch weniger Chancen als Kandidat für den Ministerpräsidentenposten..

Netanjahu konnte sich auf dem Dach seiner Luxusvilla sonnen und gelassen in die Zukunft schauen.

ZWEITER AKT: Plötzlich verdunkeln Wolken den Himmel.

Der Oberste Gerichtshof, der von einem neuen Präsidenten– von den Siedlern und der extremen Rechten bevorzugt – geleitet wird, trifft eine Entscheidung: ein neuer Ortsteil der Bet- El-Siedlung muss innerhalb von zwei Wochen demoliert werden. Kein Wenn und Aber, dies ist eine entgültige Entscheidung. Auch eine andere Siedlung, Migron, muss innerhalb von zwei Monaten geräumt werden.

Netanjahu sieht sich verschiedenen verheerenden Möglichkeiten gegenüber: den Gerichtsbeschluss auszuführen, was seine Koalition auseinander brechen lassen würde; ein neues Gesetz zu erlassen, das das Gericht umgehen würde und nicht verfassungsgemäß wäre; oder das Gericht einfach zu ignorieren, was das Ende der Demokratie markieren würde – der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ .

Wie im Buch Hiob folgt eine Katastrophe der anderen. Die Frist des zeitlich begrenzten Gesetzes, das orthodoxe Yeshiva-Studenten vom Militärdienst befreit – etwa 7000 in diesem Jahr – ist abgelaufen, und eine überwältigende Mehrheit im Lande verlangt seine Aufhebung vollständig. Das würde unvermeidbar die Koalition zerbrechen

Und dann geschieht etwas Erstaunliches. Netanjahu kommt zur Eröffnungsversammlung der neuen Likud-Konferenz. Diese Konferenz ist traditionell eine stürmische und chaotische Szene, die der in der römischen Arena in alten Zeiten ähnelt. Netanjahu ist ein Meister dieser Versammlungen. Auch dieses Mal wird er herzlich empfangen und erzählt dem Volk live im Fernsehen von den fabelhaften Errungenschaften seiner dreijährigen Regierungszeit. Dann stellt er den Antrag zum Vorsitzenden der Konferenz gewählt zu werden, was ihm die Kontrolle über die Kandidatenliste der nächsten Wahlen geben würde.

Dann geschieht das wirklich Unglaubliche. Die Hälfte der Mitglieder springt auf und beginnt gegen ihn zu schreien. Wie Nicolae Ceausescu bei einer denkwürdigen Gelegenheit, starrt Netanjahu seine Untergebenen verständnislos an.

Es scheint, als ob bei der letzten Registrierungsaktion des Likud die Siedler sich gemeinsam darum bemüht hätten, die Partei mit den eigenen Leuten aufzufüllen. Diese haben nicht die Absicht jemals den Likud zu wählen ( sie stimmen für die noch extremere Rechte), sondern sie wollten Netanjahu erpressen. Da sie früh gekommen sind, füllen sie die viel zu kleine Halle, in der die Konferenz stattfindet. Da sie alle eine Kippa tragen, sind sie leicht zu erkennen.

Sie schreien und verlangen die Wahl des Vorsitzenden durch eine geheime Abstimmung. Netanjahu gibt auf und die Konferenz wird verschoben.

Nach dieser öffentlichen Demütigung, schwört Netanjahu Rache.

DRITTER AKT: Aus heiterem Himmel verkündet Netanjahu seine Entscheidung, die Knesset aufzulösen und ruft zu einer schnellen allgemeinen Wahl auf.

Alle sind platt. Es sind noch anderthalb Jahre vor dem Ende der legislativen Amtszeit. In einem Umschwung voller Komik sind es die Oppositionsführer, die gegen die Wahl sind, aber Netanjahu ist entschieden.

Die Aussichten sind trostlos: ein Sieg Netanjahus, der einem Erdrutsch gleich kommt, ist unvermeidlich. Es gibt keinen anerkennenswerten Kandidaten, der für das Amt des Ministerpräsidenten in Frage kommt. Kadima ist dabei, fast ganz zu verschwinden. Kleine erwartete Gewinne für Labour sind unbedeutend. Bei den Umfragen bewegt sich Yair Lapids neue Partei – mit Namen „Es gibt eine Zukunft“ – bei etwa 10 %. In der nächsten Knesset wird es keine effektive Opposition geben.

Was die Linke betrifft, so sieht es wie eine vollkommene Katastrophe aus – weitere vier Jahre mit der rechts-orthodoxen-Siedler-Koalition.

VIERTER AKT: beneidet von allen, eines Erdrutschsieges sicher, ist Netanjahu in düsterer Stimmung.

Er ist verpflichtet, mitten in der Wahlkampagne Siedlungen aufzulösen. In seiner eigenen Partei gewinnt die extreme, von Siedlern angeführte Rechte an Stärke und gefährdet so seine Ambitionen, die Partei in die Mitte zu führen. Die Zeitbombe der orthodoxen Drückeberger, die in der Armee Dienst tun sollen, kann jeden Moment explodieren.

Und dann kommt wie ein Blitz die fantastische Idee, die allen den Teppich unter den Füßen wegziehen wird und eine ganz neue politische Landschaft entstehen lässt.

Irgendwo liegen da 28 ungenutzte Kadima-Knessetmitglieder herum, die von einem gierigen Exgeneral angeführt werden. Alle sehen sich politischer Vergessenheit gegenüber. Die können für fast nichts gekauft werden – man gibt ihnen noch anderthalb Jahre politisches Leben; das genügt.

Und siehe da, während eine Gruppe Likudnicks noch in einem Knesset-Komitee daran arbeiten, einem Gesetz zur Auflösung der Knesset den letzten Schliff zu geben, unterzeichnet eine andere Gruppe von Likudnicks ein Abkommen mit Kadima. Die vergrößerte Koalition umfasst 75% der Knesset. Keiner aus der bestehenden Koalition geht und 28 neue Mitglieder schließen sich ihr an, das lässt die Opposition mit nur 26 Mitgliedern zurück ( 8 Labour, 3 Meretz, 7 aus arabischen Parteien, 4 Kommunisten, 4 Nationale Front).

FÜNFTER AKT: Dies verändert das Bild vollkommen. Der extrem rechte Flügel außerhalb und innerhalb des Likud haben ihre Vetomacht verloren, ebenso die religiösen Parteien. Yair Lapid, die viel versprechende leuchtende Fackel (das ist die Bedeutung seines Namens) ist dabei, ausgelöscht zu werden, bevor sie wirklich gebrannt hat.

Während der nächsten anderthalb Jahre kann Netanjahu tun, was immer er will: den einen gegen den anderen ausspielen, also nach Wunsch manövrieren . Die linke Opposition ist sogar ohnmächtiger als zuvor, falls das möglich ist. König Bibi herrscht absolut.

(Vorläufiges) Ende.

IM ERSTEN AUGENBLICK fürchteten einige, dass die ganze Übung gegen den Iran gerichtet sei.

Regierungen der nationalen Einheit werden im allgemeinen in Kriegszeiten aufgestellt. Großbritannien tat dies 1939, Israel 1967. Aber wie fast alle Generäle und Exgeneräle hat Mofaz den Angriff auf den Iran eindeutig zurückgewiesen. Nun, er wechselt ja seine Meinungen häufiger als seine Socken.

Die Gelegenheit ist da. Eine überwältigende Knessetmehrheit wird jede Entscheidung Netanjahus unterstützen. Barak Obama wird in der Mitte seiner entscheidenden Kampagne für eine Wiederwahl nicht wagen, zu protestieren. Die Republikaner werden Netanjahu durch dick und dünn folgen.

(Dies ist eine etablierte strategische Voraussetzung in Israel. Viele waghalsige israelische Initiativen sind auf den Vorabend von US-Wahlen gelegt. Der Staat ist 1948 gegründet worden, als Harry Truman um sein politisches Leben kämpfte. Der Sinaikrieg fand 1956 statt, als Dwight D. Eisenhower in der Mitte seiner Wiederwahlkampagne steckte. Dieser Trick schlug übrigens fehl – Eisenhower war wütend und benötigte keine jüdischen Stimmen und Geld. Er trieb Israel aus seinen neu erworbenen Gebieten.)

Doch kann mit ziemlicher Sicherheit gesagt werden, dass Netanjahus Schritt nichts mit dem Iran zu tun hat – obwohl sein Antiheld im Iran geboren ist. Mofaz mag nicht wie ein General aussehen, sondern eher wie ein Händler im Bazar und verhält sich wie so einer.

Amerikanische Parteipolitiker – jeder Seite – mögen unverantwortlich klingen, aber wenn vitale US-Sicherheitsinteressen auf dem Spiel stehen, dann wirkt sich ihr Reden nicht in Aktionen aus. Selbst auf der Höhe einer Wahlkampagne wird Amerika Israel nicht erlauben, es in eine weltweite Katastrophe zu stürzen.

Netanjahu hört sich in diesen Tagen immer mehr wie ein Mann an, der sich mit dieser Realität abfindet. Kein Krieg in Sicht. Während der ganzen Operette wird der Iran kaum erwähnt. Keine rauchende Waffe im ersten Akt.

DIE MEISTEN Experten und Politiker auf der Linken verurteilten den Netanjahu-Mofaz-Pakt als etwas Verabscheuungswürdiges. „Ein stinkender Trick“ war einer der moderateren Ausdrücke.

Ich bin kein Partner dieses Aufschreis. Stinkende Tricks bestimmen das übliche Handeln der Politiker, und dieser ist nicht schmutziger als viele andere.

Im Großen und Ganzen ist die erweiterte Regierung moderater und weniger der Erpressung durch Siedler und Orthodoxe ausgesetzt als die kleinere war. Faschistische Gesetze haben weniger Chancen, verabschiedet zu werden. Die Position des Obersten Gerichtshofes ist weniger gefährdet. Was den November betrifft, kann ein wiedergewählter Obama wirklichen Druck für Frieden ausüben.

Aber die Hauptsache ist, dass die Wahlen verschoben wurden. Es hängt jetzt von den Friedenspartisanen und denen, die um soziale Gerechtigkeit kämpfen, ab, die gewonnene Zeit zu nützen, um eine wirkliche politische Kraft aufzubauen, die für ein Test bereit ist. Nachdem man einer fast sicheren Wahlkatastrophe in die Augen gesehen hat, müssen sie jetzt zusammen stehen und sich selbst für den Kampf vorbereiten. Es gibt eine Chance – sie sollte nicht vergeudet werden.

UND FALLS es jemanden gibt, der das Libretto zur Operette komponiert – kann er oder sie es gerne tun.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Ein Putsch gegen den Krieg

Erstellt von Redaktion am 13. Mai 2012

Ein Putsch gegen den Krieg

Autor Uri Avnery

GENERÄLE UND Geheimpolizeichefs tun sich zusammen, um die Politiker anzugreifen.

In einigen Ländern verhaften sie den Präsidenten, besetzen die Regierungsbüros, Fernsehstationen und annullieren die Verfassung. Sie veröffentlichen dann das Kommunique Nr.1 und erklären die dringende Notwendigkeit, die Nation vorm Verderben zu retten und versprechen Demokratie, Wahlen etc.

In andern Ländern machen sie es im Geheimen. Sie informieren nur die gewählten Führer, dass, falls sie nicht Abstand von ihrer verheerenden Politik nähmen, die Offiziere ihre Ansichten öffentlich machen und ihre Absetzung veranlassen.

Solche Offiziere werden gewöhnlich eine „Junta“ genannt. Ein spanisches Wort für Komitee, das von südamerikanischen Generälen benützt wurde. Ihre Methode wird gewöhnlich ein „Putsch“ genannt, ein deutsch-schweizerisches Wort für einen plötzlichen Schlag. (Ja, die Schweiz hatte tatsächlich vor etwa 170 Jahren Revolten).

Was fast alle diese Schläge gemeinsam haben, ist, dass ihre Anstifter auf einer Demagogie des Krieges gedeihen. Die Politiker werden unweigerlich des Defätismus’ angeklagt, des Versagens, die nationale Ehre zu verteidigen, und anderes mehr.

Nicht in Israel. In unserm Lande sehen wir jetzt eine Art verbalen Aufstand gegen gewählte Politiker durch eine große Gruppe jetziger und früherer Armeegeneräle, Chefs der Geheimdienste. Alle verurteilen die Drohung der Regierung, einen Krieg gegen den Iran zu beginnen, und einige von ihnen verurteilen das Versäumnis der Regierung, mit den Palästinensern Friedensverhandlungen zu führen.

Nur in Israel.

ES BEGANN mit dem unwahrscheinlichsten Kandidaten für solch eine Rebellion: mit Ex-Mossadchef Meir Dagan.

Acht Jahre lang, länger als die meisten seiner Vorgänger, hat Dagan den Mossad, Israels ausländischen Nachrichtendienst geführt, vergleichbar mit dem britischen MI6. („Mossad“ bedeutet „Institut“. Der offizielle Name ist „ Das Institut für Nachrichtendienst und Sonderoperationen“.)

Keiner warf Dagan je Pazifismus vor. Während seiner Dienstzeit führte der Mossad viele Anschläge durch, mehrere gegen iranische Wissenschaftler als auch Internetangriffe. Als Protégé von Ariel Scharon wurde er als Anhänger der aggressivsten Politik angesehen.

Und jetzt, nachdem er in den Ruhestand getreten ist, spricht er mit schärfsten Ausdrücken gegen die Pläne der Regierung: einen Angriff auf Irans nukleare Einrichtungen. Mit deutlichen Worten sagte er: „Dies ist die dümmste Idee, die ich je in meinem Leben gehört habe.“

Diese Woche hat ihn der kürzlich in den Ruhestand getretene Chef des Shin Bet noch in den Schatten gestellt (Shin Bet und Shabak sind verschiedene Möglichkeiten, die Initialen des offiziell hebräischen Namens „General-Sicherheitsdienst auszusprechen.) Er ist ein Äquivalent zum britischen M15, befasst sich aber vor allem mit den Palästinensern in Israel und den besetzten Gebieten.

Sechs Jahre lang war Yuval Diskin der schweigende Chef des schweigenden Dienstes. Sein geschorener Kopf konnte beim Betreten und Verlassen der Treffen des Sicherheits-kommittees gesehen werden. Er wird als der Vater der „gezielten Tötungen“ angesehen, und sein Geheimdienst ist weithin wegen beträchtlichem Foltergebrauchs angeklagt worden. Keiner hat ihn je dafür angeklagt, dass er mit den Arabern sanft umgehe.

Und nun hat er seine Meinung gesagt. Er wählte einen sehr ungewöhnlichen Treffpunkt – einen Stammtisch mit etwa zwei Dutzend Pensionären in einem Cafe einer Kleinstadt.

Nach Diskin – und wer würde es besser wissen? – wird Israel jetzt von zwei inkompetenten Politikern mit messianischen Illusionen und wenig Verständnis für die Realität geführt. Ihr Plan, den Iran anzugreifen, führt zu einer weltweiten Katastrophe. Nicht nur wird es misslingen, die Produktion einer iranischen Atombombe zu verhindern, eher das Gegenteil: der Iran wird mit seinen Bemühungen schneller vorangehen und dieses Mal mit der Unterstützung der Weltgemeinschaft.

Er geht noch weiter als Dagan; er erklärte, der einzige Faktor, der die Friedensverhandlungen mit den Palästinensern verhindere, sei Netanjahu selbst. Israel kann mit Mahmoud Abbas Frieden machen. Er verpasst diese historische Gelegenheit und bringt damit eine Katastrophe über Israel.

Als Chef des Shin Bet war Diskin die Nummer eins der offiziellen Regierungsexperten die Palästinenser betreffend. Seine Agentur empfing und sammelte alle Beweise, Spionageberichte, Verhörergebnisse und Informationen, die von Lauschgeräten gesammelt werden.

Um keine Zweifel an seiner Aussage zuzulassen, erklärte Diskin, er kenne Netanjahu und Barak aus der Nähe, vertraue ihnen nicht und denke, dass sie nicht geeignet seien, eine Nation während einer Krise zu führen. Er sagte auch, dass sie das Volk bewusst täuschen würden. Er vergaß auch nicht, zu erwähnen, dass sie in äußerstem Luxus lebten.

Jeder, der dachte, diese Ankläger wären einsame Stimmen und der ganze Chor vergangener und jetziger Sicherheitschefs würde sich erheben und sie einstimmig verurteilen, wurde enttäuscht. Einer nach dem anderen dieser Experten wurde von den Medien zitiert, dass sie mit den beiden im Wesentlichen übereinstimmten, wenn auch nicht mit ihrem Stil. Kein einziger hinterfragte ihre Behauptungen oder leugnete, was sie sagten.

Der augenblickliche Stabschef und die Chefs von Mossad und Shin Bet machten bekannt, dass sie die Ansichten der beiden über den Iran teilten. Fast alle ihre Vorgänger, einschließlich aller Militärstabschefs aus der letzten Zeit, sagten den Medien, auch sie stimmten mit ihnen überein. Plötzlich gab es eine gemeinsame Front von erfahrenen Sicherheitsführern gegen einen Krieg mit dem Iran.

DER GEGENANGRIFF ließ nicht auf sich warten. Die ganze Batterie von Politikern und Medienschreiberlingen wurde aktiv.

Sie taten das, was Israelis meistens tun: wenn sie ernsthaften Problemen oder ernsthaften Argumenten gegenüberstehen, befassen sie sich nicht mit der Sache selbst, sondern picken einige nebensächliche Details heraus und diskutieren endlos über sie.

So gut wie keiner versuchte, die Behauptungen der Offiziere zu widerlegen, weder in Bezug auf den vorgeschlagenen Angriff auf den Iran noch in Bezug auf das Palästinenserproblem. Sie konzentrierten sich auf die Sprecher, nicht auf das, was sie gesagt hatten.

Beide, Dagan und Diskin, seien verbittert, weil ihre Dienstzeit nicht verlängert worden sei. Sie fühlen sich gedemütigt, reagieren ihren persönlichen Frust ab und sprechen aus reiner Boshaftigkeit und Rachsucht, wurde behauptet.

Wenn sie dem Ministerpräsidenten nicht trauten, warum standen sie nicht auf und kündigten, während sie im Amt waren? Warum sprachen sie nicht vorher? Wenn dies eine Sache über Leben und Tod ist, warum warteten sie?

Als andere Möglichkeit: Warum haben sie nicht weitergeschwiegen? Wo ist ihr Gefühl für Verantwortung? Warum helfen sie dem Feind? Warum sprechen sie nicht hinter verschlossenen Türen?

Es wurde hinzugefügt, Diskin habe keine Ahnung vom Iran. Dieser sei nicht in seinem Verantwortungsbereich gelegen. Dagan wisse zwar über den Iran Bescheid, aber nur begrenzt. Nur Netanjahu und Barak würden alle Fakten und das ganze Spektrum von Möglichkeiten und Risiken kennen.

Quellen mit großer „Nähe zum Büro des Ministerpräsidenten“ hatten noch eine andere Erklärung: Dagan und Diskin als auch ihre Vorgänger seien schlicht dumm gewesen. Dagans und Diskins Behauptung, Netanjahu und Barak seien nicht rational (und vielleicht psychisch nicht ganz ausgeglichen) zusammen genommen mit der Behauptung, die Sicherheitschefs seien dumm, bedeutet, dass unsere nationale Sicherheit ganz von einer Gruppe irrationaler und/oder törichter Führer abhänge – und das soll seit Jahren der Fall sein.

Ein erschreckender Gedanke: was, wenn alles, was sie über einander sagen, stimmt?

DER MANN, von seinen Sicherheitsberatern angeklagt, behauptet, er habe messianische Tendenzen, wurde diese Woche von einem persönlichen Schicksalsschlag getroffen.

Sein Vater Ben-Zion Netanjahu starb im Alter von 102 Jahren. Er hatte bis zum Lebensende einen klaren Kopf. Beim öffentlichen Begräbnis hielt Benjamin die Abschiedrede. Wie erwartet werden konnte, war es eine kitschige Rede. Der Sohn sprach über seinen toten Vater in der 2. Person –( „Du lehrtest mich“… „Du formtest meinen Charakter“ etc. ) – eine vulgäre Praxis, die ich besonders geschmacklos finde.

Zweifellos hatte der Vater einen sehr großen Einfluss auf seinen Sohn. Er war Historiker, dessen ganzes intellektuelles Leben auf ein Thema konzentriert war: die spanische Inquisition – ein traumatisches Kapitel der jüdischen Geschichte, vergleichbar mit dem Holocaust.

Ben-Zion Netanjahu war ein extremer Rechter, von der Idee besessen, die Juden könnten jeden Moment ausgelöscht werden, und deshalb könne man keinem Nicht-Juden trauen . Er verachtete Menahem Begin und betrachtete ihn als einen gutmütigen Troddel; er schloss sich nie seiner Partei an. Seine intellektuelle Einstellung war durch ein persönliches Trauma bestärkt: sein ältester Sohn Joni, Kommandeur der spektakulären Rettungsaktion in Entebbe, war der einzige Soldat, der bei dieser Operation fiel.

Es scheint, dass er von seinem zweiten Sohn keine so hohe Meinung hatte. Er bemerkte einmal öffentlich, dass Benjamin als Ministerpräsident ungeeignet sei, aber ein guter Außenminister sein könne – ein unheimlich genaues Urteil, wenn man den Job des Außenministers als Marketing sieht.

Das Heim, in dem „Bibi“ aufwuchs, war kein sehr glückliches. Der Vater war eine sehr verbitterte Person. Als Historiker war er nie von der akademischen Welt in Jerusalem akzeptiert worden , die seine Theorien ablehnte (Besonders was die Maranen betraf: die Maranen waren Juden, die lieber zum Christentum übergetreten waren, als Spanien zu verlassen) Netanjahu behauptete, dass die Inquisition die Maranen nicht verfolgte, weil sie im Geheimen ihre jüdische Religion ausübten, sondern aus reinem Antisemitismus. Dies war ein Angriff auf einen der wichtigsten jüdischen Mythen: dass diese Juden ihrem Glauben treu geblieben seien und dafür ihr Leben auf dem Scheiterhaufen geopfert hätten.) Nachdem er keinen Lehrstuhl in Jerusalem erhielt, wanderte der Vater in die USA aus, wo Benjamin aufwuchs und den Namen Benjamin Gitai annahm. Der Vater vergab dem israelischen Establishment nie.

Der Mythos des großen Historikers, der an seiner großen Aufgabe saß, war eine tägliche Realität zu Hause in Amerika und später in Jerusalem. Die drei Söhne mussten zu Hause auf Zehenspitzen gehen und durften keinen Lärm machen, der den großen Mann stören könnte; sie durften auch keine Freunde mit nach Hause bringen.

All dies formte den Charakter und das Weltbild von „Bibi“ – das Gespenst drohender nationaler Vernichtung, das Vorbild des leidenschaftlich rechtsgerichteten Vaters und den Schatten des älteren vom Vater viel mehr bewunderten Bruders. Wenn Benjamin jetzt endlos über den kommenden zweiten Holocaust spricht und seine historische Aufgabe, ihn zu verhindern, sei, so ist dies nicht nur ein Trick, um die Aufmerksamkeit vom Palästinenserproblem abzulenken oder um sein politisches Überleben zu sichern. Er dürfte – eine erschreckender Gedanke – tatsächlich daran glauben.

Das Bild, das auftaucht, ist genau dasselbe, wie es Yuval Diskin malte: ein vom Holocaust besessener Phantast ohne Kontakt zur Realität, keinem Nicht-Juden trauend, versucht er in die Fußstapfen eines starrköpfigen, extremistischen Vaters zu treten – insgesamt eine gefährliche Person, um eine Nation durch eine wirkliche Krise zu führen.

Doch dies ist der Mann, der nach den Meinungsumfragen dabei ist, in vier Monaten die nächsten Wahlen zu gewinnen.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Dumm, gemein und brutal!

Erstellt von Redaktion am 6. Mai 2012

Dumm, gemein und brutal!

Autor Uri Avnery

“MIT BLUT und Schweiß / wird sich eine Rasse für uns erheben / stolz, großzügig und brutal…“ So schrieb Vladimir (Ze’ev) Jabotinsky, der Gründer des extremen rechten Zionismus, der auch ein Schriftsteller und Dichter war. Die heutigen Likudführer sehen ihn als ihren Gründungsvater an, so wie Stalin Karl Marx als den seinen ansah.

Das Wort „brutal“ fällt auf, weil es unglaubwürdig erscheint, dass Jabotinsky wirklich dieses Wort meinte. Sein Hebräisch war nicht sehr gut, und er meinte wahrscheinlich etwas wie „hart“.

Falls Jabotinsky den heutigen Likud sähe, würde er schaudern. Er war eine Mischung von extremem Nationalismus, Liberalismus und Humanismus des 19.Jahrhunderts.

Paradoxerweise ist Brutalität der einzige der drei Wesenszüge, der in unserm Leben heute auffällig ist, besonders in den besetzten palästinensischen Gebieten. Es gibt dort nichts, auf das man stolz sein könnte – und Großzügigkeit ist etwas, das zu den verachteten Linken gehört.

DIE TÄGLICHE Routinebrutalität, die in den besetzten Gebieten herrscht, wurde in dieser Woche auf Video aufgenommen. Ein scharfer Blitz in der Dunkelheit.

Es geschah auf der Straße 90, einer Schnellstraße, die am Jordan entlang Jericho mit Beth Shean verbindet. Es ist die Hauptstraße im Jordantal, das unsere Regierung in irgend einer Weise annektieren will. Diese Straße ist allein dem israelischen Verkehr vorbehalten und für Palästinenser gesperrt.

(Es gibt dazu einen palästinensischen Witz. Während der Nach-Oslo-Verhandlungen bestand das israelische Team darauf, diese Straße zu behalten. Der palästinensische Chefunterhändler, der gerade aus Tunis zurückgekommen war, wandte sich an seine Kollegen und rief aus: „Was – zum Teufel – wenn wir 89 andere Straßen bekommen haben, warum sollten wir auf dieser einen bestehen?“)

Eine Gruppe junger internationaler pro-palästinensischer Aktivisten entschied, gegen die Schließung dieser Straße zu demonstrieren. Sie luden ihre palästinensischen Freunde zu einer fröhlichen Fahrradtour auf dieser Straße ein . Sie wurden von einer israelischen Armee-Einheit angehalten. Einige Minuten standen sie sich gegenüber, die Fahrradfahrer, einige mit der arabischen Keffije über den Schultern und die Soldaten mit ihren Waffen.

In solchen Situationen ist die Armee dahingehend gedrillt, dass sie die Polizei rufen soll, die für solche Fälle trainiert ist und die die Mittel hat, um eine Menge mit nicht-tödlichen Mitteln aus einander zu treiben. Aber der Kommandeur der Armeee-Einheit entschied anders.

Was dann geschah, wurde auf einem Videoclip von einem der Demonstranten aufgenommen. Es ist total klar, eindeutig und unmissverständlich.

Der Offizier, ein Oberstleutnant, steht einem blonden jungen Mann, einem Dänen, gegenüber, der nur zusieht, nichts sagt und nichts tut. Um die beiden stehen Demonstranten und Soldaten. Kein Anzeichen von irgendwelcher Gewalt .

Plötzlich hob der Offizier sein Gewehr, hielt es horizontal, mit einer Hand am Kolben mit der andern am Lauf und schlug mit dem vorspringenden Stahlmagazin mit voller Kraft den jungen Dänen direkt ins Gesicht . Das Opfer fiel rückwärts auf den Boden. Der Offizier grinste befriedigt.

AM ABEND zeigte das israelische Fernsehen den Filmausschnitt. Bis jetzt hat fast jeder Israeli dies hundert Male gesehen. Und je öfter man dies sieht, um so mehr ist man geschockt. Die schiere Brutalität des völlig unprovozierten Aktes lässt einen zurückschrecken.

Für Veteranen von Demonstrationen in den besetzten Gebieten war dieser Vorfall nichts Neues. Viele haben unter solcher Brutalität in verschiedenen Formen gelitten.

Was bei diesem Fall ungewöhnlich war, war, dass er photographiert wurde. Und nicht einmal durch eine versteckte Kamera. Es gab eine Menge Kameras rund herum. Nicht nur die der Demonstranten, sondern auch die der Armeephotographen.

Der Offizier muss sich dessen bewusst gewesen sein. Es war ihm aber völlig egal.

Die unerwünschte Veröffentlichung verursachte einen nationalen Aufschrei. Offensichtlich war es nicht die Tat als solche, die das Militär und die politische Führung aufregte, sondern die Publicity, die damit verbunden war. Gerade nach der ruhmreichen Verteidigung des Tel Aviver Flughafens durch 700 Polizisten und Polizistinnen gegen die schreckliche Invasion von etwa 60 internationalen Menschenrechtsaktivisten war solch eine zusätzliche Veröffentlichung auf keinen Fall erwünscht.

Der Armeestabschef verurteilte den Offizier und suspendierte ihn sofort. Alle ranghohen Offiziere folgten seinem Beispiel, der Ministerpräsident äußerte sich auch dazu. Wie ja bekannt ist, ist unsere Armee „die moralischste auf der Welt“, was also hier geschah, war die unverzeihliche Tat eines einzelnen Schurkenoffiziers. Es wird eine gründliche Untersuchung geben etc. etc.

DER HELD dieser Affäre ist der Oberstleutnant Shalom Eisner (ein deutscher Name der wie „eiserner Mann“ klingt.)

Weit davon entfernt, eine Ausnahme zu sein, scheint er der Inbegriff des Armeeoffiziers zu sein, ja, tatsächlich der Inbegriff eines Israeli.

Das erste, was ein Fernsehzuschauer bemerkte, war die Kippa auf seinem Kopf. „ Ach natürlich“, murmelten viele zu sich selbst. Seit Jahrzehnten infiltriert die national-religiöse Bewegung systematisch das Offiziers-Corps der bewaffneten Kräfte, indem sie mit Offizierskursen beginnt und langsam mit dem Ziel hochklettert, einer von ihnen möge Stabschef werden. Jetzt sind schon Kippa tragende Oberstleutnants normal – wie es Kibbuzniks am Anfang unserer Armee waren. Zu dem Zeitpunkt des Vorfalls war Eisner ein stellvertretender Brigadekommandeur.

Die national-religiöse Bewegung, zu der der Kern der Siedler gehört, war auch die Heimat von Yigal Amir, dem Mörder von Yitzhak Rabin, und von Baruch Goldstein, dem Massenmörder in der Moschee in Hebron (1994).

Eine der Stützen dieser Bewegung ist die Jeshiva Merkaz Harav („Zentrum des Rabbi“), wo Eisners Vater ein prominenter Rabbiner war. Während Ariel Sharons Evakuierung der Siedler aus dem Gazastreifens war Eisner jr. unter den Protestierenden. Im letzten Jahr wurde Eisner an genau derselben Stelle auf der Straße 90 photographiert, wie er sich mit extrem rechten Demonstranten verbrüdert, die auch dort auf Fahrrädern protestierten.

Er nahm den offiziellen Tadel nicht an. Mit beispielloser Unverschämtheit griff er den Stabschef, den Kommandeur der Zentralfront und seinen Divisionskommandeur an. Er winkte mit seiner verbundenen Hand, um zu beweisen, dass er zuerst angegriffen worden sei und in Selbstverteidigung gehandelt habe. Er zeigte sogar die Bestätigung eines Arztes, dass einer seiner Finger gebrochen sei.

Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Zunächst wäre die Art und Weise, wie er auf dem Video sein Gewehr hielt, mit einem gebrochenen Finger unmöglich gewesen. Zweitens zeigt das Video, dass sein Handeln nicht die Reaktion auf irgend eine Gewalt war. Drittens gab es mehrere Armeephotographen rund herum, die jedes Detail aufnahmen (um als Beweis zu dienen, wenn die Demonstranten zur Anklage vor ein Militärgericht gebracht werden.) Wenn irgend ein Gewaltakt stattgefunden hätte, wäre er von der Armee noch am selben Tag vorgeführt worden. Viertens, schlug Eisner in ähnlicher Weise zwei Demonstrantinnen ins Gesicht und einem Demonstranten auf den Rücken – leider ohne Kamera.

Er bestand hartnäckig darauf, dass er genau das Richtige getan habe. Schließlich habe er die Demo abgebrochen, nicht wahr?

Aber er war nicht ganz ohne Reue. Er gab öffentlich zu, dass er einen Fehler gemacht haben könnte, als er in Gegenwart der Kameras so handelte. Darin stimmten die Armee und viele Kommentatoren aus vollem Herzen überein: sie kritisierten nicht seine Brutalität, sondern seine Dummheit.

ALS INDIVIDUUM ist Eisner nicht sehr interessant. Wenn dumme Leute erst gar nicht vom Militär einberufen würden, wohin würden wir dann kommen?

Das Problem ist, dass Eisner keine Ausnahme ist, sondern ein Vertreter einer Norm. Es gibt ein paar ausgezeichnete Leute in der Armee, aber Eisner verkörpert viele Offiziere, die aus dem militärischen Schmelztopf kommen.

Und nicht nur in der Armee. Um Jabotinsky zu paraphrasieren: unser Bildungssystem produziert „ eine Rasse / dumm und gemein und brutal“. Wie könnte dies nach 60 Jahren nicht nachlassender Indoktrination und 45 Jahren Besatzung anders sein? Jede Besatzung, jede Unterdrückung eines anderen Volkes, korrumpiert den Besatzer und macht den Unterdrücker dumm.

Während ich noch ein Teenager war, arbeitete ich als Angestellter bei einem an der Oxforduniversität studierten jüdisch-britischen Anwalt; viele seiner Klienten waren Mitglieder der britischen Kolonialverwaltung. Ich fand sie meistens freundlich, intelligent und höflich, mit einem angenehmen Sinn für Humor. Doch die britische Verwaltung handelte mit einem erstaunlichen Mangel an Intelligenz.

In jener Zeit war ich Mitglied des Irgun, deren Ziel es war, die Briten aus dem Land zu vertreiben. In meiner Wohnung war ein kleines Lager von Pistolen, die dazu dienten, sie umzubringen.

Das war ein Leben zwischen zwei Welten. Ich fragte mich ständig: wie können diese netten Engländer sich so dumm verhalten?

Meine Schlussfolgerung ist die, dass keine Kolonialherren sich intelligent verhalten können. Die koloniale Situation selbst zwingt sie, gegen ihre eigene bessere Natur und ihr besseres Urteil zu handeln.

Während der ersten Jahre der israelischen Besatzung wurde sie weithin als „fortschrittlich“ und „liberal“ gepriesen. Der damalige Verteidigungsminister Moshe Dayan gab die Order, die Palästinenser so großzügig wie möglich zu behandeln. Er ließ sie mit dem Feind Handel treiben und nach Belieben die feindlichen Radiosender hören. In einer Geste ohne Präzedenzfall hielt er die Brücken zwischen der besetzten Westbank und Jordanien, einem Feindesland, offen. (Ich scherzte damals, Dayan habe nie ein Buch gelesen und wisse deshalb nicht, dass dies unmöglich sei).

Hinter seiner Politik steckte kein Wohlwollen – nur die Überzeugung, dass, falls den Arabern erlaubt würde, ihr tägliches Leben in Frieden zu führen, sie keinen Aufstand machen würden, sondern sich mit einer ewigen Besatzung abfinden. Dies funktionierte tatsächlich mehr oder weniger 20 Jahre lang. Bis eine neue Generation die erste Intifada anfing und die Besatzung – nun, dumm und gemein und brutal wurde – zusammen mit den verantwortlichen Offizieren.

VOR ZWEI Tagen beging Israel den jährlichen Holocaust-Gedenktag. Dazu würde ich gern Albert Einstein, einen Juden und Zionisten zitieren:

„Sollten wir unfähig sein, einen Weg zu ehrenhafter Zusammenarbeit zu finden und einen ehrlichen Pakt mit den Arabern zu schließen, dann haben wir absolut nichts während der zwei tausend Jahre Leiden gelernt und verdienen all das, was auf uns zukommen wird“.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Günter der Schreckliche

Erstellt von Redaktion am 29. April 2012

Günter der Schreckliche

Autor Uri Avnery

Stoppt mich, wenn ich diesen Witz schon einmal erzählt habe:

Irgendwo fand in den USA eine Demonstration statt. Die Polizei kam und schlug gnadenlos auf die Demonstranten ein.

„Schlag mich nicht,“ schrie einer, „ich bin ein Anti-Kommunist!“

Das ist mir völlig egal, zu welcher Art von Kommunisten du gehörst,“ antwortete ein Polizist und hob seinen Schlagstock.

ALS ICH das erste Mal diesen Witz erzählte, war es vor einer deutschen Gruppe, die die Knesset besuchte und sich mit in Deutschland Geborenen traf, also auch mit mir.

Sie strengten sich besonders an, Israel zu loben, sie lobten alles, was wir getan hatten, verurteilten die geringste Kritik, so harmlos sie auch gewesen sein mochte. Es wurde geradezu peinlich, da einige von uns in der Knesset sehr kritisch gegenüber der Regierungspolitik in den besetzten Gebieten standen.

Für mich ist diese extreme Art von Philosemitismus nur eine verborgene Art von Antisemitismus: beide haben im Wesentlichen einen Glauben gemeinsam: Juden – und deshalb auch Israel – sind etwas Besonderes, die nicht mit denselben Standards gemessen werden dürfen wie andere.

Was ist ein Antisemit ? Jemand der einen Juden hasst, nur weil er Jude ist. Er hasst ihn nicht für das, was er als Mensch ist, sondern für seinen Ursprung. Ein Jude mag er gut oder böse sein, freundlich oder widerwärtig, reich oder arm – allein dafür, dass er jüdisch ist, muss er gehasst werden.

Das stimmt natürlich für jede Art von Vorurteilen, einschließlich Sexismus, Islamophobie, Chauvinismus und was es sonst noch gibt.

Die Deutschen pflegen ein bisschen gründlicher zu sein als andere . Der Terminus „Antisemitismus“ wurde von einem Deutschen (ein paar Jahre vor dem Terminus „Zionismus“ und „Feminismus“) erfunden, und Antisemitismus war die offizielle Ideologie der Deutschen während der Nazijahre. Jetzt ist die offizielle deutsche Ideologie Philosemitismus, der ins andere Extrem geht.

Ein anderes Naziwort war „Sonderbehandlung“. Es war ein Euphemismus für etwas Entsetzliches: das Töten von Gefangenen. Aber „Sonderbehandlung“ kann auch das Gegenteil bedeuten: indem man Leute und Länder besonders freundlich behandelt, nicht weil sie das und das tun, sondern weil sie – sagen wir mal – jüdisch sind.

Das mag ich nicht, selbst wenn ich auf der Empfängerseite stehe. Ich möchte gelobt werden, wenn ich etwas Gutes getan habe. Ich bin aber auch bereit, beschimpft zu werden, wenn ich etwas Schlechtes getan habe. Ich möchte nicht gelobt (oder beschimpft) werden, nur weil ich zufällig als Jude geboren wurde.

DAS BRINGT uns natürlich zu Günter Grass.

Ich traf ihn nur einmal, als wir beide zu einer Konferenz des Deutschen Penclubs in Berlin eingeladen waren. Während einer Pause trafen wir uns in einem guten Restaurant. Ich sagte ihm ganz ehrlich, dass ich seine Bücher sehr liebe, besonders den Anti-Nazi-Roman „Die Blechtrommel“ und dass ich seine spätere politische Aktivität sehr schätze. Das war alles.

Ich traf ihn nicht während einer seiner vielen Besuche in Israel. Bei wenigstens einem befreundete er sich mit einer bekannten Schriftstellerin.

Jetzt hat Grass das Undenkbare gemacht: er hat offen den Staat Israel angegriffen – und er, ein Deutscher !!!

Die Reaktion kam automatisch: Er wurde sofort als Antisemit gebrandmarkt, nicht als gewöhnlicher, sondern als verkappter Nazi, der leicht als Kumpan von Adolf Eichmann gedient haben könnte! Dies wurde durch die Tatsache erhärtet, dass er mit 17, nahe dem Ende des 2. Weltkrieges noch zur Waffen-SS rekrutiert wurde wie zig Tausende andere und dann – merkwürdig genug – es jahrelang verschwiegen hat. So ist es also.

Israelische und deutsche Politiker und Kommentatoren konkurrierten mit einander, den Schriftsteller zu verfluchen, wobei die Deutschen die Israelis leicht übertrumpfen. Obgleich unser Innenminister Eli Yishai hier die Meisterschaft errungen hat, indem er Grass zur persona non grata erklärt und ihm verboten hat, Israel (mindestens) für alle Ewigkeit nicht mehr zu betreten.

Yishai ist ein mittelmäßiger Politiker, der niemals eine Zeile geschrieben hat, die es wert war, sich zu merken. Er ist der Führer der orthodoxen Shas-Partei der nie zu diesem Amt gewählt wurde, sondern als Handlanger des Parteidiktators Rabbi Ovadia Yossef fungiert. Der mächtige Staatskontrolleur hat ihn vor kurzem totale Inkompetenz im Zusammenhang mit dem riesigen Brand auf dem Carmel vorgeworfen, so dass seine Karriere in Gefahr war. Günter Grass kam also genau zur rechten Zeit, um Yishais Haut zu retten.

WAS HAT Grass tatsächlich gesagt? In einem 69 Zeilen langen Prosagedicht – tatsächlich Polemik in Gestalt eines Gedichts – mit dem Titel „Was gesagt werden muss“ greift Grass Israels Politik an, die sich mit der (noch nicht vorhandenen iranischen) Atombombe befasst.

Der heftige Gegenangriff zielte fast vollständig darauf ab, dass ein Deutscher kein Recht habe, Israel zu kritisieren – unter keinen Umständen.

Ignorieren wir dieses Argument und schauen uns das Gedicht selbst an, nicht unbedingt als literarisches Meisterwerk.

Grass’ Grundthema ist, dass Israel schon ein „nukleares Potential“ hat, und es deshalb Heuchelei sei, den Iran anzuklagen, dass er vielleicht auch eine Bombe erlangen wolle. Insbesondere klagt er die deutsche Regierung an, Israel mit noch einem U-Boot zu versorgen.

Betrachten wir das rational: machen seine Argumente denn Sinn?

Grass nimmt an, dass Israel einen präventiven „Erstschlag“ gegen den Iran plant, bei dem das iranische Volk „ausgelöscht“ werden kann. Diese Möglichkeit macht nur Sinn, falls Grass annimmt, dass der israelische „Erstschlag“ ein Angriff mit Atombomben sei. Denn tatsächlich gehört der Terminus „Erstschlag“ allein ins Lexikon des Atomkrieges.

Es ist in diesem Kontext, dass er die deutsche Regierung verurteilt, Israel noch ein (das 6.) U-Boot zu geben, das die Fähigkeit hat, Atombomben abzufeuern. Solche Unterseeboote sind dafür bestimmt, einen „Zweitschlag“ durchzuführen, falls die Nation von einem „Erstschlag“ getroffen würde. Es ist eine Waffe der Abschreckung.

Er beklagt die Tatsache, dass keiner in Deutschland (und in der westlichen Welt überhaupt) Israels Besitz von nuklearen Waffen zu erwähnen wagt und dass es praktisch verboten ist, in diesem Kontext „jenes andere Land mit Namen zu nennen“.

Er behauptet dann, dass die „Atommacht“ Israel den „ohnehin brüchigen Weltfrieden gefährdet“.

Um diese Gefahr abzuwenden, schlägt er vor, das „israelische atomare Potential und Irans Atomanlagen “ unter unbehinderter und permanenter internationaler Kontrolle zu stellen – mit dem Einverständnis beider Regierungen.

Am Ende erwähnt er auch die Palästinenser. Nur auf diese Weise könnten den Israelis und Palästinensern und allen andern Bewohnern, der „vom Wahn okkupierten Region“, geholfen werden.

NUN, ICH fiel nicht vom Stuhl, als ich dies las. Das Gedicht kann und muss kritisiert werden, aber es gibt nichts, das ernste Verurteilung verlangt.

Wie ich schon vorher sagte, ich denke nicht, dass sich die Deutschen der Kritik Israels enthalten sollten. Es gibt nichts, das den Staat Israel de-legitimiert, im Gegenteil: er erklärt seine Solidarität mit Israel. Er erwähnt ausdrücklich den Holocaust als ein ureigenes Verbrechen, das ohne Vergleich ist. Er benennt auch die Iraner als „ein Volk, das von einem Großmaul unterdrückt wird.“

Aber Grass sagte, er vermutet , dass Israel bei einem „Präventivschlag das iranische Volk auslöschen könnte“; das ist weit übertrieben.

Ich habe schon mehrfach erwähnt, dass das israelische und amerikanische Geschwätz über einen israelischen Angriff bestenfalls Teil eines von den US geführten psychologischen Krieges sei, um die iranischen Führer zum Aufgeben ihrer (vermuteten) Nuklearambitionen zu bringen. Es ist für Israel total unmöglich, den Iran ohne ausdrückliches, vorheriges amerikanisches Einverständnis anzugreifen und es ist für Amerika total unmöglich, anzugreifen, – oder Israel zu erlauben, den Iran anzugreifen wegen der katastrophalen Konsequenzen: ein Kollaps der Weltwirtschaft und ein langer und teurer Krieg.

Nehmen wir um der Argumente willen an, dass die israelische Regierung tatsächlich entscheidet, Irans nukleare Installationen anzugreifen: dies würde nicht das iranische Volk oder einen Teil davon „auslöschen“. Nur Wahnsinnige würden nukleare Bomben für diesen Zweck benützen. Die israelischen Führer sind – was immer man von ihnen denken mag – nicht wahnsinnig.

Selbst wenn Israel taktische nukleare Bomben mit begrenzter Kraft und begrenztem Radius hätte (oder von den USA erhalten würde, wäre die Reaktion der Welt auf ihre Anwendung katastrophal. )

Übrigens ist es nicht ihre eigene Wahl, dass die israelischen Regierungen eine Politik nuklearer Nicht-Transparenz hat. Wenn sie könnten, würden unsere Führer über unsere nukleare Macht von den Dächern posaunen . Es sind die USA, die auf Unklarheit bestanden, um nicht gezwungen zu sein, etwas zu tun.

Grass’ Behauptung, dass Israel den „Weltfrieden“ gefährde, ist deshalb auch etwas übertrieben.

Was Grass’ praktischen Vorschlag betrifft, beide, die israelischen und iranischen Nuklearinstallationen unter internationale Kontrolle zu setzen – das verdient, meiner Meinung nach, ernsthafte Überlegung. Wenn unsere beiden Länder den nuklearen Status Quo einfrieren würden, wäre das gar keine schlechte Idee.

Doch am Ende bräuchten wir eine nuklearfreie Region als Teil eines allgemeinen regionalen Friedens, der Israel, Palästina, die arabische Länder, die Türkei und den Iran einschließt.

Was Günter Grass persönlich betrifft, würde ich froh sein, ihn wieder zu treffen, dieses Mal zu einem guten Essen in Tel Aviv.

(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.)

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Gieße aus Deinen Zorn

Erstellt von Redaktion am 22. April 2012

Gieße aus Deinen Zorn

Autor Uri Avnery

ICH SCHREIBE dies am Freitagabend, am Vorabend von Pessach. In diesem Augenblick sind in der ganzen Welt Millionen von Juden um den Familientisch versammelt, begehen den Sederabend und lesen laut aus demselben Buch: der Haggadah, die die Geschichte des Exodus aus Ägypten erzählt.

Die Auswirkungen dieses Buches auf das jüdische Leben sind immens. Jeder Jude nimmt an dieser Zeremonie von frühester Kindheit an teil und spielt bei dem Ritual eine aktive Rolle. Wo immer ein jüdischer Mann oder eine jüdische Frau im späteren Leben hingeht, nehmen sie in der Erinnerung an die Wärme des Zusammenseins der Familie, die zauberhafte Atmosphäre mit – und die offene und unterschwellige Botschaft, die der Text vermittelt.

Wer auch immer das Seder- („Ordnung“) Ritual vor vielen Jahrhunderten erfunden hat, war ein Genie. Alle menschlichen Sinne sind beteiligt: sehen, hören, schmecken, riechen. Es schließt das Essen eines vorgeschriebenen Mahles ein, das Trinken von vier Gläsern Wein, das Berühren von verschiedenen vorgeschriebenen symbolischen Dingen, das Spielen eines Spiels mit den Kindern (das Suchen nach einem versteckten Stück Matze) Es endet mit dem gemeinsamen Singen mehrerer religiöser Lieder. Die angesammelte Wirkung ist fast magisch.

Mehr als jeder andere jüdische Text formt die Haggadah bewusst – oder eher unbewusst – die Gesinnung heute wie in der Vergangenheit, beeinflusst unser kollektives Verhalten und die nationale Politik Israels.

Es gibt viele verschiedene Wege, dieses Buch zu betrachten.

ALS LITERATUR: als literarisches Werk ist die Haggadah ziemlich miserabel. Dem Text fehlt die Schönheit, er ist voller Wiederholungen, Plattitüden und Banalitäten.

Dies mag Verwunderung auslösen. Die hebräische Bibel – die Bibel auf hebräisch – ist ein Werk von einzigartiger Schönheit, an vielen Stellen ist seine Schönheit berauschend. Die Spitzen westlicher Kultur – Homer, Shakespeare, Goethe, Tolstoi – kommen ihr nicht einmal nahe. Selbst die späteren jüdischen religiösen Texte – Mishna, Talmud usw. – auch wenn sie nicht so erbaulich sind, enthalten Passagen von literarischem Wert. Die Haggadah hat keinen. Es ist ein Text der rein für Indoktrination gedacht ist.

ALS GESCHICHTE ist sie nichts wert. Obwohl sie vorgibt, Geschichte zu erzählen. Die Haggadah hat nichts mit realer Geschichte zu tun.

Es kann nicht mehr der geringste Zweifel daran bestehen, dass der Exodus sich nie ereignet hat. Weder der Exodus noch die Wanderung durch die Wüste, auch nicht die Eroberung von Kanaan.

Die Ägypter waren besessene Chronisten. Zig Tausende von Täfelchen sind schon entziffert worden. Es würde für ein Geschehen wie den Exodus unmöglich gewesen sein, über ihn nicht lang und breit zu berichten. Nicht wenn 600 000 Menschen wegziehen, wie die Bibel erzählt, oder 60 000 oder sogar nur 6000. Besonders wenn während der Flucht ein ganzes ägyptischen Armee-Kontingent, einschließlich Streitwagen, ertrinkt.

Dasselbe gilt für die Eroberung Kanaans. Nachdem es einmal von Kanaan erobert wurde, hatten die Ägypter akute Sicherheitsbefürchtungen, was dieses Nachbarland betraf . Sie beschäftigen jetzt eine Menge Spione, Reisende, Kaufleute und andere, die eng den Ereignissen im benachbarten Kanaan in jeder einzelnen seiner Städte und zu allen Zeiten folgten. Eine Invasion in Kanaan, selbst eine kleine, hätte man berichtet. Abgesehen von den regelmäßigen kleinen Einfällen durch Beduinenstämme, wurde nichts berichtet.

Außerdem existierten die in der Bibel erwähnten Städte zu jener Zeit noch gar nicht, als das Geschehen angeblich passiert ist. Sie existierten allerdings später, als die Bibel geschrieben wurde – im 1. und 2. Jahrhundert v. Chr.

Es ist nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass nach hundert Jahren fieberhafter archäologischer Suche durch fromme christliche und zionistische Zeloten nicht eine Scherbe als konkreter Beweis für die Eroberung Kanaans gefunden worden ist (auch nichts davon, dass ein Königtum Sauls, Davids oder Salomos je existierten).

Aber ist das wirklich wichtig? Überhaupt nicht!

Die Passahgeschichte leitet ihre immense Macht nicht von der angeblich historischen Geschichte ab. Es ist ein Mythos, der die menschliche Vorstellung fesselt, ein Mythos, der die Grundlage einer großen Religion ist, ein Mythos, der bis auf den heutigen Tag das Verhalten der Menschen bestimmt. Ohne die Exodus-Geschichte gäbe es wohl den Staat Israel von heute nicht – und gewiss nicht in Palästina .

DER RUHM: Man kann die Exodusgeschichte als ein leuchtendes Beispiel für alles, was gut und inspirierend in den Annalen der Menschheit ist, lesen.

Hier ist die Geschichte eines kleinen machtlosen Volkes, das sich gegen einen brutalen Tyrannen erhebt, seine Fesseln abwirft, eine neue Heimat gewinnt und dabei einen revolutionären neuen Moralcodex schafft.

So betrachtet, ist der Exodus ein Sieg des menschlichen Geist, eine Inspiration für alle unterdrückten Völker. Und tatsächlich hat er viele Male in der Vergangenheit diesem Zweck gedient. Die Pilgerväter, die Gründer der amerikanischen Nation, wurden davon inspiriert und so waren es auch viele andere Rebellionen im Laufe der Geschichte.

DIE ANDERE SEITE : wenn man sorgfältig den biblischen Text liest, ohne religiöse Scheuklappen, dann geben uns einige Aspekte Nahrung für andere Gedanken.

Nehmen wir die zehn Plagen. Warum wurde das ganze ägyptische Volk für die Untaten eines Tyrannen, des Pharao, bestraft? Warum verhängte Gott wie ein göttlicher Sicherheitsrat so grausame Sanktionen, verunreinigte ihr Wasser mit Blut, zerstörte ihren Lebensunterhalt mit Hagel und Heuschrecken? Und noch grausamer: wie konnte ein gnädiger Gott seine Engel senden, um jedes erst geborene ägyptische Kind zu töten?

Beim Verlassen Ägyptens waren die Israeliten ermutigt, Besitz ihrer Nachbarn zu stehlen.

Es ist ziemlich seltsam, dass der biblische Geschichtenschreiber, der sicher tief religiös war, dieses Detail nicht vergaß. Und dies nur wenige Wochen bevor den Israeliten die Zehn Gebote von Gott persönlich gegeben wurden, einschließlich des Gebotes: „Du sollst nicht stehlen!“

Keiner scheint sich je viele Gedanken über die ethische Seite der Eroberung Kanaans gemacht zu haben. Gott versprach den Kindern Israels ein Land, dass die Heimat anderer Völker war. ER sagte ihnen, diese andern Völker zu töten, ja ausdrücklich befahl er ihnen, Völkermord zu begehen. Aus irgendeinem Grund nahm er das Volk der Amalekiter heraus und befahl den Israeliten, sie alle zusammen, zu vernichten. Später wurde der ruhmreiche König Saul von Gottes Propheten entthront, weil er Gnade gezeigt und nicht alle seine amalekitischen Kriegsgefangenen, Männer, Frauen und Kinder umgebracht hatte.

Natürlich wurden diese Texte von Leuten vor langer Zeit geschrieben, als die Moral der Individuen und Nationen anders war, und so auch die Regeln des Krieges. Aber die Haggadah wird – heute wie früher – unkritisch aufgesagt, ohne Überlegungen über diese schrecklichen Aspekte. Besonders in religiösen Schulen in Israel wird das Gebot, einen Völkermord gegen die nicht-jüdische Bevölkerung Palästinas zu begehen, von vielen Lehrern und Schülern ganz buchstäblich genommen.

INDOKTRINIERUNG: Dies ist der wirkliche Punkt dieser Reflektionen.

Da gibt es zwei Sätze in der Haggadah, die immer noch eine tiefe Wirkung auf die Gegenwart haben.

Einer der zentralen Gedanken, auf den fast alle Juden ihre historische Ansicht gründen: „In jeder Generation erheben sie sich gegen uns, um uns zu zerstören.“

Dies gilt nicht für eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort. Es wird als eine ewige Wahrheit angesehen, die für alle Orte und Zeiten gilt. „Sie“ ist die ganze Welt, alle Nicht-Juden überall. Die Kinder hören dies am Sederabend auf dem Schoß ihres Vaters, lange bevor sie lesen und schreiben können, und von da an hören sie es oder rezitieren sie es jedes Jahr – jahrzehntelang. Es drückt die ganze bewusste und unbewusste Überzeugung fast aller Juden aus, ob in Los Angeles, Kalifornien oder in Lod in Israel. Es lenkt sicherlich die Politik des Staates Israel.

Der zweite Satz, der den ersten ergänzt, ist ein Schrei zu Gott: „Gieße deinen Zorn über die Völker, die dich nicht kennen …denn sie haben Jakob verschlungen und sein Haus verwüstet! Möge Dein lodernder Zorn sie ereilen! Verfolge sie unter den Himmeln des Herrn…“

Das Wort „Nationen“ hat in diesem Zusammenhang eine doppelte Bedeutung. Das hebräische Wort ist „Goyim“, ein alter hebräischer Ausdruck für „Völker“. Selbst die Israeliten wurden als „Heilige Goyim“ bezeichnet. Aber während der Jahrhunderte erhielt das Wort eine andere Bedeutung und meint alle Nicht-Juden, und zwar in abfälliger Weise. ( Wie in einem jiddischen Lied: „Oy,Oy,Oy, betrunken ist ein Goy!“)

Um diesen Text richtig zu verstehen, erinnere man sich daran, dass es als ein Schrei aus der Tiefe des Herzens eines wehrlosen, verfolgten Volkes kam, das keine Mittel hatte , sich bei seinen Folterern zu rächen. Um ihre Gemüter zum fröhlichen Sederabend zu erheben, mussten sie ihr Vertrauen auf Gott setzen und zu IHM schreien, Er möge an ihrer Stelle Rache nehmen.

(Während des Seder-Rituals steht die Tür immer offen. Offiziell bedeutet sie, dass der Prophet Elia eintreten kann, sollte er wunderbarerweise von den Toten auferstehen. Tatsächlich sollte aber es den Goyim erlauben, hereinzusehen, um die antisemitische Verleumdung zu widerlegen, dass Juden ihr ungesäuertes Pessachbrot mit dem Blut gekidnappter christlicher Kinder backen.

DIE LEKTION: In der Diaspora war dies Verlangen nach Rache verständlich und harmlos. Aber die Gründung des Staates Israel hat die Situation vollkommen verändert. In Israel sind die Juden weit davon entfernt, wehrlos zu sein. Wir müssen uns nicht auf Gott verlassen, dass er die realen oder eingebildeten Untaten, die uns in der Vergangenheit und Gegenwart angetan wurden, räche. Wir können jetzt unsern Zorn selbst ausgießen über unsere Nachbarn, die Palästinenser, und die andern Araber , auf unsere Minderheiten, auf unsere Opfer.

Das ist die wirkliche Gefahr der Haggadah, wie ich sie sehe. Sie wurde von und für hilflose Juden geschrieben, die in ständiger Angst lebten. Es hob ihre Gemütsverfassung einmal im Jahr, wenn sie sich für den Augenblick sicher fühlten, beschützt von ihrem Gott, umgeben von der Familie.

Aus diesem Kontext herausgenommen und in einer neuen, völlig anderen Situation angewandt, kann es uns auf einen bösen Kurs bringen. Wenn wir uns sagen, dass jeder darauf aus ist, uns zu zerstören – gestern und bestimmt morgen, betrachten wir den übertriebenen Bombast eines iranischen Großmauls als lebendigen Beweis der Gültigkeit der alten Maxime. Sie sind darauf aus, uns zu töten. Also müssen wir – entsprechend der alten jüdischen Anordnung – sie zuerst töten, bevor sie uns töten.

An diesem Sederabend lasst uns also den edlen, inspirierenden Teil der Haggadah betrachten, den Teil über die Sklaven, die sich gegen den Tyrannen erheben und ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen – und nicht den Teil, indem es um das Ausgießen des Zorns geht.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Der neue Mandela

Erstellt von Redaktion am 15. April 2012

     Der neue Mandela

Autor Uri Avnery

MARWAN BARGHOUTI hat seine Meinung geäußert. Nach langem Schweigen sandte er eine Botschaft aus dem Gefängnis.

Für israelische Ohren klingt diese Botschaft nicht angenehm. Aber für die Palästinenser und für die Araber im Allgemeinen ist sie logisch.

Seine Botschaft könnte nun das neue Programm der palästinensischen Befreiungsbewegung werden.

ICH TRAF Marwan zuerst während der Glanzzeit des Nach-Oslo-Optimismus’. Er war als Führer einer neuen palästinensischen Generation aufgetaucht, der einheimischen jungen Aktivisten, Männer und Frauen, die während der 1. Intifada reif geworden waren.

Er ist ein Mann von kleiner Statur und großer Persönlichkeit. Als ich ihn traf, war er schon ein Führer der Tansim („Organisation“), der Jugendgruppe der Fatahbewegung.

Unser Gesprächsthema damals war die Organisation von Demonstrationen und anderer gewaltfreier Aktionen, die sich auf enge Kooperation zwischen den palästinensischen und israelischen Friedensgruppen gründeten. Das Ziel war Frieden zwischen Israel und einem neuen Staat Palästina.

Als der Oslo-Prozess mit der Ermordung von Yitzhak Rabin und Yasser Arafat starb, wurden Marwan und seine Organisation zu Zielen auf einander folgender israelischer Führer – Ariel Sharon, Binjamin Netanjahu und Ehud Barak – die entschieden, der Zwei-Staaten-Agenda ein Ende zu bereiten. In der brutalen „Defensive-Shield“-Operation (angefangen vom damaligen Verteidigungsminister Shaul Mofaz, jetzt der neue Führer der Kadima-Partei) wurde die palästinensische Behörde angegriffen, ihre Ministerien zerstört und viele ihrer Aktivisten verhaftet.

Marwan Barghouti wurde unter Anklage gestellt. Es wurde behauptet, er sei als Führer der Tansim verantwortlich für mehrere „terroristische“ Angriffe in Israel. Seine Gerichtsverhandlung war eine Farce und erinnerte mehr an eine römische Gladiatoren-Arena als an eine Gerichtsverhandlung. Der Saal war voll brüllender Rechter, die sich selbst als „Opfer des Terrorismus“ darstellten. Mitglieder von Gush Shalom protestierten gegen diese Verhandlung innerhalb des Gerichtsgebäudes, wurden aber nicht in die Nähe des Angeklagten gelassen.

Marwan wurde zu fünfmal lebenslänglich verurteilt. Das Bild von ihm mit den über seinem Kopf erhobenen gefesselten Händen wurde zu einer palästinensischen Nationalikone. Als ich seine Familie in Ramallah besuchte, hing dieses Bild im Wohnzimmer.

IM GEFÄNGNIS wurde Marwan Barghouti sofort als Führer aller Fatahgefangenen anerkannt. Er wird auch von den Hamasaktivisten respektiert. Die gefangenen Führer von Fatah und Hamas veröffentlichten mehrere Statements, die die Palästinenser zur Einigkeit und Versöhnung aufriefen. Diese wurden außerhalb des Gefängnisses weit verbreitet und mit Bewunderung und Respekt empfangen.

(Mitglieder aus der Großfamilie Barghouti spielen übrigens bei palästinensischen Angelegenheiten eine größere Rolle. Sie gehören zum ganzen Spektrum: von moderat bis extrem. Einer von ihnen ist Dr. Mustafa Barghouti, ein Arzt, der eine moderate palästinensische Partei mit vielen Kontakten ins Ausland leitet und den ich regelmäßig bei Demonstrationen in Bilin oder anderswo traf. Einmal scherzte ich, dass wir immer weinen, wenn wir uns begegnen – wegen des Tränengases. Die Familie hat ihre Wurzeln in einer Gruppe von Dörfern nördlich von Jerusalem.)

HEUTE WIRD Marwan Barghouti als zukünftiger Führer von Fatah und als Präsident der Palästinensischen Behörde nach Mahmoud Abbas angesehen. Er ist einer der sehr wenigen Persönlichkeiten, der alle Palästinenser, Fatah wie auch Hamas, vereinigen könnte.

Nach der Gefangennahme des israelischen Soldaten Gilad Shalit, als der Gefangenen-austausch diskutiert wurde, setzte Hamas Marwan Bargouti an die erste Stelle der Liste der palästinensischen Gefangenen, deren Entlassung gefordert wurde. Dies war eine sehr ungewöhnliche Geste, da Marwan zu der rivalisierenden – und geschmähten – Fraktion gehörte.

Die israelische Regierung strich Marwan sofort von der Liste und blieb unnachgiebig. Als Shalit schließlich entlassen wurde, blieb Marwan im Gefängnis. Offensichtlich wurde er als gefährlicher angesehen als Hunderte von Hamas-Terroristen mit „Blut an ihren Händen“.

Warum?

Zyniker würden sagen: weil er Frieden wünscht. Weil er an der Zwei-Staaten-Lösung festhält.

Weil er das palästinensische Volk zu diesem Zwecke einigen könnte. Alles gute Gründe dafür, dass Netanjahu ihn im Gefängnis festhält.

WAS SAGTE Marwan seinem Volk in dieser Woche?

Klar, seine Haltung ist verhärtet. So hat sich vermutlich auch die Haltung des palästinen-sischen Volkes im Ganzen verhärtet.

Er ruft zu einer 3. Intifada auf, einem gewaltlosen Massenaufstand im Geist des arabischen Frühlings.

Sein Manifest ist eine klare Ablehnung der Politik von Mahmoud Abbas, der eine eingeschränkte, aber sehr bedeutende Zusammenarbeit mit den israelischen Besatzungs-behörden pflegt. Marwan ruft zu einem völligen Bruch aller Arten von Zusammenarbeit auf, sei es auf wirtschaftlichen, militärischen oder anderen Gebieten.

Ein Hauptpunkt dieser Zusammenarbeit ist die tägliche Kollaboration der von Amerikanern ausgebildeten palästinensischen Sicherheitsdienste mit den israelischen Besatzungskräften.

Diese Vereinbarung hat gewalttätige palästinensische Angriffe in den besetzten Gebieten und in Israel selbst wirksam gestoppt. Dies garantiert praktisch die Sicherheit der wachsenden israelischen Siedlungen in der Westbank.

Marwan ruft auch zu einem totalen Boykott Israels, israelischer Institutionen und Produkte in den palästinensischen Gebieten und in aller Welt auf. Die israelischen Produkte sollten in den Läden der Westbank verschwinden, palästinensische Produkte sollten gefördert werden.

Gleichzeitig befürwortet Marwan ein offizielles Ende der Scharlatanerie, die „Friedensverhandlungen“ heißt. Dieser Terminus wird übrigens in Israel nicht mehr gehört. Zunächst wurde er durch „Friedensprozess“ ersetzt, dann durch „politischer Prozess“ und zuletzt durch „politische Sache“. Das einfache Wort „Frieden“ ist unter den Rechten und den meisten Linken zu einem Tabu-Wort geworden. Es ist politisches Gift.

Marwan schlägt vor, das Nicht-Vorhanden-sein von Friedensverhandlungen offiziell zu machen. Keine internationalen Gespräche über die „Wiederbelebung des Friedensprozesses“, kein Herumhasten lächerlicher Leute wie Tony Blair, keine nichtssagenden Ankündigungen von Hillary Clinton und Catherine Ashton, keine leeren Erklärungen des „Quartetts“. Da die israelische Regierung klar die Zwei-Staaten-Lösung aufgegeben hat – falls sie sie wirklich jemals akzeptiert hat – den Vorwand aber aufrecht erhält, fügt diese Heuchelei dem palästinensischen Kampf nur Schaden zu.

Anstelle dieser Heuchelei schlägt Marwan vor, die Schlacht in der UNO zu erneuern. Zunächst noch einmal den Sicherheitsrat anzurufen, um Palästina als einen Mitgliedsstaat anzuerkennen und so die USA herauszufordern, ihr einsames Veto praktisch offen gegen die ganze Welt zu setzen. Nach der erwarteten Zurückweisung des palästinensischen Antrages durch die UN -Vollversammlung als Ergebnis des Veto, wo die große Mehrheit zugunsten Palästinas stimmen würde. Obwohl dies nicht verpflichtend ist, würde dies demonstrieren, dass die Freiheit Palästinas die überwältigende Unterstützung der Familie der Nationen hätte und so Israel (und die USA) sogar noch mehr isolieren würde.

Parallel zu diesem Aktionskurs besteht Marwan auf palästinensischer Einheit und nützt seine beträchtliche moralische Kraft aus, um Fatah und Hamas unter Druck zu setzen.

ZUSAMMENFASSEND hat Marwan Barghouti alle Hoffnung aufgegeben, die palästinen-sische Freiheit durch Zusammenarbeit mit Israel zu erreichen oder selbst mit Israels Oppositionskräften. Die israelische Friedensbewegung wird nicht mehr erwähnt. „Normalisierung“ ist zu einem Schimpfwort geworden.

All diese Ideen sind nicht neu. Aber wenn dies vom palästinensischen Gefangenen Nr. 1 kommt, dem wichtigsten Kandidaten für die Nachfolge von Mahmoud Abbas, dem Helden der palästinensischen Massen, so bedeutet dies ein Wandel zu einem militanteren Kurs, in der Substanz und im Ton.

Marwan bleibt friedensorientiert – wie er es bei einem der seltenen Auftritte vor Gericht kürzlich deutlich gemacht hat: er rief den israelischen Journalisten zu, dass er weiter die Zwei-Staaten-Lösung unterstütze. Er bleibe auch bei gewaltloser Aktion, nachdem er zu der Schlussfolgerung gekommen sei, dass die gewalttätigen Angriffe der vergangenen Jahre der palästinensischen Sache nur geschadet habe, statt sie zu fördern.

Er möchte zu einem Stopp des allmählichen und unfreiwilligen Abgleitens der palästinensischen Behörde in eine Vichy-artige Kollaboration aufrufen, während die Ausdehnung des israelischen Siedlungsunternehmens ungestört weitergeht.

NICHT ZUFÄLLIG veröffentlichte Marwan sein Manifest am Vorabend des „Tags des Bodens“, dem weltweiten Tag des Protestes gegen die Besatzung.

Der „Tag des Bodens“ ist der Jahrestag eines Ereignisses, das 1976 als Protest gegen die Entscheidung der israelischen Regierung stattfand, große arabische Ländereien in Galiläa und andern Teilen Israels zu enteignen. Die israelische Armee und Polizei schossen auf die Demonstranten und töteten sechs von ihnen. (Am Tag danach legten zwei meiner Freunde und ich Kränze auf die Gräber der Opfer – eine Handlung, die mir einen Ausbruch von Hass und Diffamierung von israelischer Seite einbrachte, wie ich es selten erfahren habe. )

Der Tag des Bodens war ein Wendepunkt für Israels arabische Bürger, und später wurde es ein Symbol für alle Araber überall. In diesem Jahr drohte die Netanjahu-Regierung, auf jeden zu schießen, der sich nur unsern Grenzen nähert. Es könnte ein Auslöser für die 3. Intifada sein, die von Marwan verlangt wird.

Seit einiger Zeit ist die Welt gegenüber Palästina selbstzufrieden geworden. Alles scheint ruhig. Netanyahu ist es gelungen, die Aufmerksamkeit der Welt von Palästina auf den Iran zu lenken. Aber in diesem Land steht nichts still. Während es so aussieht, als geschähe nichts, wachsen die Siedlungen unaufhörlich. Und so wächst der Groll der Palästinenser, die dies mit eigenen Augen sehen.

Marwan Bargouthis Manifest drückt das beinah einmütige Gefühl der Palästinenser in der Westbank und anderswo aus. Wie Nelson Mandela in der Apartheid Südafrika kann der Mann im Gefängnis bedeutender sein als die Führer außerhalb.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Das Ghetto im Inneren

Erstellt von Redaktion am 8. April 2012

Das  Ghetto im Inneren

Autor Uri Avnery

 RASSISTISCHE HASS verbrechen sind besonders hässlich.

Wenn die Opfer auch noch Kinder sind, sind sie sogar noch hässlicher.

Wenn sie von einem Araber gegen jüdische Kinder begangen werden, sind sie auch unglaublich dumm.

Genau das wurde diese Woche wieder demonstriert.

FALLS TATSÄCHLICH ein arabischer Al-Qaida-Sympathisant schuldig ist, in Toulouse drei jüdische Kinder und einen Erwachsenen erschossen zu haben, nachdem er drei nicht-weiße französische Soldaten in der Nähe erschossen hat, verursachte er nicht nur große Trauer in deren Familien, sondern auch großen Schaden dem palästinensischen Volk, dessen Sache er zu unterstützen behauptete.

Der weltweite Schock fand seinen Ausdruck in einer Demonstration der Solidarität mit der französischen jüdischen Gemeinde und indirekt auch mit dem Staat Israel.

Der französische Außenminister flog nach Jerusalem, wo die jüdischen Opfer beerdigt wurden. Präsident Nicolas Sarkozy – mitten im Kampf um seine politische Existenz – erschien überall, wo ein wenig politisches Kapital aus dieser Tragödie gezogen werden konnte. Benjamin Netanjahu war noch schamloser.

Gerade als an vielen Orten der Boykottaufruf gegen Israel gehört wurde, erinnerte dieser Akt die Welt an die verheerenden Spuren des Antisemitismus. Man muss schon sehr mutig sein, in dieser Zeit den Boykott des „jüdischen Staates“ zu verlangen. Für Befürworter Israels ist es leicht, an den Nazi-Schlachtruf „Kauft nicht bei Juden!“ zu erinnern.

In letzter Zeit hat Benjamin Netanjahu in jeder Rede, die er hält und in der er zu einem Angriff des Iran aufruft, den Holocaust erwähnt. Er prophezeit einen zweiten Holocaust, wenn nicht Irans Atomanlagen in tausend Stücke zerschlagen werden. Dies wird innerhalb Israels als zynische Ausbeutung des Holocaust kritisiert, aber in der Stimmung, die durch die Gräueltat in Toulouse geschaffen wurde, ist diese Kritik zum Schweigen gekommen.

EINIGE MÖGEN denken, diese Reaktionen seien Überreaktionen . Schließlich wurde die Gräueltat von einem einzelnen 24jährigen Verwirrten begangen. Die Opfer waren nicht nur Juden, sondern auch Muslime. Ist diese Reaktion nicht jenseits aller Proportionen? Ist diese Reaktion nicht völlig unverhältnismäßig?

Diejenigen, die so reden, verstehen den Hintergrund der jüdischen Reaktion nicht.

Yeshayahu Leibowich, ein gläubiger Jude, sagte vor Jahren, dass die jüdische Religion praktisch vor 200 Jahren gestorben sei und dass das einzige, was alle Juden vereint, jetzt der Holocaust sei. Da steckt viel Wahrheit dahinter, aber der Holocaust muss in seinem Kontext verstanden werden – als der Höhepunkt Jahrhunderte langer Verfolgung.

Fast jedes jüdische Kind in aller Welt wächst mit dem Narrativ der jüdischen Opferrolle auf. „In jeder Generation stehen sie auf, um uns zu vernichten,“ sagt der heilige Text, der in jeder jüdischen Familie in aller Welt am Passahabend gelesen wird. „Sie“ sind – selbstverständlich – die „Goyim“, alle Goyim (Nichtjuden).

Nach unserem allgemein angenommenen Narrativ sind Juden überall und immer mit wenigen Ausnahmen verfolgt worden. Juden mussten überall und zu jeder Zeit damit rechnen, angegriffen zu werden. Es ist eine sich fortsetzende Geschichte von Massakern, Massenvertreibungen, vom Hinschlachten durch die Kreuzfahrer, von der spanischen Inquisition, der russischen und ukrainischen Pogrome. Der Holocaust war nur ein Glied in jener Kette und wahrscheinlich nicht das letzte.

Die jüdische Geschichte, die Geschichte der Opferrolle, beginnt nicht erst mit dem europäisch-christlichen Judenhass, sondern geht zurück zur (mythischen) Geschichte der israelitischen Sklaverei in Ägypten, der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Babylonier und noch einmal durch die Römer. Vor ein paar Wochen wurde das fröhliche Fest Purim gefeiert in Erinnerung an die biblische (und mythische) Geschichte des Planes, alle Juden in Persien, dem heutigen Iran, zu vernichten, was durch eine hübsche und skrupellose junge Frau mit Namen Esther verhindert wurde. (Am Ende waren es die Juden, die alle ihre Feinde töteten, Frauen und Kinder eingeschlossen.)

Das Narrativ von der nicht enden wollenden Opferrolle ist so tief im Bewusstsein und Unterbewusstsein eines jeden Juden, dass der kleinste Vorfall eine Orgie von Selbstmitleid auslöst, die ganz unverhältnismäßig erscheint. Jeder Jude weiß, dass wir gegen eine feindselige Welt zusammen stehen müssen, dass der Angriff auf einen Juden ein Angriff gegen alle ist, dass ein Pogrom im entfernten Kishinev die Juden in England sich erheben lässt, dass ein Angriff auf Juden in Toulouse die Juden in Israel sich erheben lässt.

Dem Mörder von Toulouse ist es mit seiner scheußlichen Tat gelungen, das französische – ja, das Weltjudentum – noch enger an den Staat Israel zu binden.

Schon in den letzten Jahren sind die Verbindungen noch enger geworden. Ein großer Teil der französischen Juden sind Immigranten aus Nordafrika, die statt nach Israel nach Frankreich gingen und deshalb leidenschaftlichere israelische Nationalisten als die meisten Israelis sind. Sie investieren Geld und kaufen Häuser in Israel. Im August hört man an Tel Avivs Strand mehr Französisch als Hebräisch. Jetzt könnten sich viele entscheiden, auf immer nach Israel zu kommen.

Wie jede antisemitische Tat trägt auch diese zur Stärkung Israels bei und besonders zur Stärke der israelischen anti-arabischen Rechten.

ICH BIN davon überzeugt, dass der palästinensische Ministerpräsident Salam Fayad es ganz ernst meinte, als er die Gräueltat verurteilte und besonders die Erklärung des Mörders: dass er den Tod der Kinder in Gaza rächen wolle. Keiner solle den Namen Palästinas äußern, wenn solch eine gemeine Tat ausgeführt wird, sagte Fayad.

Ich wurde an meinen Freund Issam Sartawi erinnert, den palästinensischen „Terroristen“, der ein großartiger Friedensaktivist und deshalb ermordet wurde. Er erzählte mir einmal, dass ein französischer antisemitischer Führer in sein Büro in Paris kam und ihm ein Bündnis anbot. „Ich warf ihn raus,“ sagte er mir, „ich weiß, dass die Antisemiten die größten Feinde des palästinensischen Volkes sind“.

Wie schon viele Male darauf hingewiesen wurde, ist der moderne Zionismus die Stieftochter des modernen europäischen Antisemitismus’. In der Tat wurde der Name „Zionismus“ nur ein paar Jahre, nachdem der Terminus „Antisemitismus“ von einem deutschen Ideologen geprägt wurde, erfunden.

Ohne Antisemitismus, der Europa von den „Schwarzen Hundertschaften“ im zaristischen Russland bis zur Dreyfus-Affäre im republikanischen Frankreich verschlang, würden die Juden sich nach Zion sicher weitere 2000 Jahre gesehnt haben. Es war Antisemitismus mit der Drohung kommender schrecklicher Dinge, die sie wegtrieb, und schenkten der Idee Glauben, dass Juden einen eigenen Staat haben müssen, wo sie Herren ihres eigenen Schicksals sein würden.

Die ursprünglichen Zionisten beabsichtigten nicht, einen Staat zu bauen, der eine Art Generalstab für das Weltjudentum sein würde. Tatsächlich dachten sie, dass es dann kein Weltjudentum mehr gebe. Nach ihrer Vision würden alle Juden sich in Palästina versammeln und die jüdische Diaspora würde verschwinden. Das war es, was Theodor Herzl schrieb und was David Ben Gurion und Vladimir Jabotinsky glaubten.

Wenn es so gekommen wäre, dann hätte es keine antisemitischen Morde in Toulouse gegeben, denn dann hätte es in Toulouse keine Juden mehr gegeben.

Ben Gurion war kaum zu bändigen, den amerikanisch jüdischen Zionisten zu sagen, was er von ihnen hielt. Er verachtete sie zu tiefst. Ein Zionist – so glaubte er – hat nichts anderes zu tun, als in Zion zu sein. Wenn er Benjamin Netanjahu gelauscht hätte, wie er bei der AIPAC-Konferenz den Tausenden jüdischer „Führer“ geschmeichelt hat, dann wäre ihm schlecht geworden. Und man kann es verstehen, weil diese Juden, die klatschten und wie Verrückte von ihren Sitzen auf und absprangen und Netanjahu anstachelten, einen verheerenden Krieg gegen den Iran zu beginnen, in ihre gemütlichen Heime und zu ihren lukrativen Beschäftigungen in Amerika zurückgingen.

Ihre englisch sprechenden Kinder besuchen Colleges und träumen von zukünftigen Reichtümern, während ihre Altersgenossen in Israel zur Armee gehen und sich Sorgen darüber machen, was mit ihren wehrlosen Familien geschieht, wenn der versprochene Krieg mit dem Iran Wirklichkeit würde. Dabei soll einem nicht schlecht werden?

ÜBRIGENS PRODUZIERTE die Symbiose amerikanischer Politiker und zionistischer Lobby in dieser Woche wieder eine seltsame Kuriosität. Der US-Kongress erließ einstimmig ein Gesetz, das es Israelis erleichtert, auf immer nach Amerika einzuwandern. Das einzige, was wir jetzt tun müssen, ist ein kleines Geschäft in Amerika kaufen – sagen wir mal einen kleinen Delikatessladen in einer Ecke von Brooklyn, für den halben Preis einer Wohnung in Jerusalem – um automatisch ein amerikanischer Einwohner zu werden und schließlich ein Staatsbürger.

Kann man sich eine anti-zionistischere Tat vorstellen als diesen Plan, um Israel zu entvölkern?

Alles aus Liebe zu Israel und den jüdischen Stimmen.

Die israelischen Medien applaudierten natürlich über diesen erstaunlichen neuen Beweis amerikanischer Freundschaft für Israel.

Hier haben wir also einen mörderischen Anti-Semiten in Toulouse, der die Juden nach Israel treibt und einen feigen zionistischen US-Kongress, der die Israelis verführt, zurück ins „Exil“ zu gehen.

ALS ISRAEL gegründet wurde, dachten wir, dies wäre das Ende der jüdischen Opferrolle und besonders der Mentalität der jüdischen Opferrolle.

Hier waren wir, Hebräer einer neuen Art, fähig, uns selbst zu verteidigen mit all den Instrumenten der Macht eines souveränen Staates.

Heulsusen-Opferrolle gehörte zur verachteten und verabscheuten Diaspora, zu den zerstreuten und den wehrlosen jüdischen Gemeinden.

Aber die Opferrolle ist zurückgekommen, als politischer Allzweck-Trick und als psychische Haltung. Die iranischen Atombomben, die wirklichen oder eingebildeten, geben ihr einen großen Auftrieb. Solange Israel sich in einem Angstzustand befindet, wird die Zweite-Holocaust-Mentalität ihren Griff nicht lösen.

Von Tag zu Tag wird Israel jüdischer und weniger israelisch. Wie gesagt worden ist: es ist leichter die Juden aus dem Ghetto herauszuholen, als das Ghetto aus den Juden. Besonders bei einem ständigen Krieg.

Am Ende kommen wir also zur selben Schlussfolgerung wie bei allen anderen Problemen : Frieden ist die Antwort.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)

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Das lachende Biest

Erstellt von Redaktion am 25. März 2012

Das lachende Biest

Autor Uri Avnery

WENN ICH dem Ruf meines Herzens folgte, würde ich an unsere Regierung appellieren, die israelische Armee nach Syrien zu senden, die Assad-Gang aus Damaskus zu vertreiben, das Land der syrischen Opposition oder der UN zu übergeben und nach Hause zurückzukehren.

Das wäre noch nicht einmal schwer.

Damaskus ist nur einige Dutzend Kilometer von den Stellungen der israelischen Armee auf den Golanhöhen entfernt.

Die syrische Armee ist damit beschäftigt, gegen ihr eigenes Volk zu kämpfen. Wenn sie dies ändern und statt dessen gegen uns kämpfte, würden die Rebellen in Damaskus hineinrauschen und den Job selbst beenden.

So oder so, das Monster wäre verschwunden.

Wäre das nicht wunderbar?

Ja, das wäre es, aber leider ist es alles in allem eine verrückte Idee.

Weil der Hass des syrischen Volkes, einschließlich der Rebellen, auf uns sogar noch größer ist als der Hass auf Bashar.

Wenn israelische Soldaten die Grenze überquerten, würden die Syrier sich geschlossen hinter ihre Armee stellen und die Revolte beenden.

Für die gesamte arabische Welt ist Israel ein Anhänger des Teufels. Sogar die arabischen Länder, die wie Saudi Arabien die Freie Syrische Armee unterstützen, müssten es sich zweimal überlegen. Israels Unterstützung ist für jede arabische Gruppe, mag sie progressiv oder patriotisch sein, ein Todeskuss.

Aus diesem Grund wäre sogar eine verbale Unterstützung fatal. Einige Menschen sähen gerne, dass die israelische Regierung an den Präsidenten, Barack Obama, und/oder die UN appellieren würde, sich einzumischen. Dies würde (jedoch) falsch aufgefasst werden. Es würde Bashar und seinen Spießgesellen dazu verhelfen, die Rebellen als amerikanische Agenten und zionistische Handlanger zu brandmarken.

Was also kann Israel tun, um dem leidenden Volk nebenan zu helfen?

Nichts! Absolut gar nichts!

Weder eine militärische Intervention, noch diplomatische Bemühungen, noch nicht einmal eine Geste der Solidarität.

STATTDESSEN sollten wir über die Gründe nachdenken, weshalb wir uns in dieser bedauerlichen Situation befinden.

Es gab eine Zeit, in der die Menschen der arabischen Welt Israel zwar nicht mochten, doch trotzdem das, was Israel sagte, glaubten. Selbst, wenn ihnen die Äußerungen der israelischen Armee zuwider waren, glaubten sie diese. Diese Tage sind längst vorbei.

Wenn die israelische Armee verkünden würde, dass sie in Syrien einmarschierte, um es von seinem Diktator zu befreien, und sie sich danach sofort wieder zurückzöge, würde das Volk (nur) lachen. Israel? Rückzug? Israel drang im Jahre 1982 in den Libanon ein, um „bis zu 40 Kilometer von der Grenze ein Gebiet von palästinensischen Terroristen zu befreien“, und brauchte 18 Jahre, um es wieder zu verlassen – und das (auch) nur, nachdem es einen heftigen Guerilla-Krieg verloren hat. Israel besetzte im Jahre 1967 die Golanhöhen und hat seitdem keinerlei Absicht gezeigt, diese jemals wieder zu verlassen.

Wenn Israel irgendetwas bezüglich der syrischen Lage unternähme – gleichgültig was – würde sich die gesamte Welt fragen: „ Was waren diese Israelis bis heute? Was sind ihre Hintergedanken?“

Wer wäre so naiv, zu erwarten, dass ein Land, das einen Avigdor Lieberman als Außen- und einen Ehud Barak als Verteidigungsminister hat – ganz zu schweigen von Binyamin Netanyahu – irgendetwas Selbstloses täte.

Also, vergessen wir das Ganze.

Doch, wie kann ich hier untätig dasitzen, während sich weniger als 300 Kilometer von meinem Haus entfernt – näher als Eilat – schreckliche Dinge ereignen?

Dies ist nicht nur eine Frage für einen Israeli. Es ist eine Frage, die sich jeder Mensch in der ganzen Welt stellen sollte.

Ob Israeli oder Norweger, Brasilianer oder Pakistani, wir – die Bürger dieser Welt – sitzen vor den Fernsehbildschirmen und sehen voller Schrecken die Bilder, die aus Homs kommen, und fragen uns mit wachsender Verzweiflung: „Sind wir vollkommen ohnmächtig? Ist die Welt gänzlich ohnmächtig?“

Vor 70 Jahren beschuldigten wir die Welt, keinen Finger gekrümmt zu haben, als Millionen Juden, Roma und andere von Einsatzgruppen und in Gaskammern ermordet wurden. Aber das war inmitten eines schrecklichen Weltkrieges, als der Westen und die Sowjetunion der unbarmherzigen Nazi-Militärmaschinerie, die von einem der größten Tyrannen der Geschichte angeführt wurde, ausgesetzt war.

Und dennoch – auch heute werden wir mit einem Westentaschen-Diktator eines kleinen Landes konfrontiert, der sein eigenes Volk massakriert. Sind wir wieder einmal unfähig, dies zu unterbinden?

Das übersteigt noch die schrecklichen Ereignisse in Syrien.

Die Hilflosigkeit der Weltgemeinschaft, euphemistisch „die Familie der Nationen“ genannt – dass sie in solch einer Situation nichts unternehmen kann, schreit bis zum Himmel.

Die schlichte Wahrheit ist, dass das internationale politische System, zu Beginn des dritten Millenniums, im Zeitalter der wirtschaftlichen Globalisierung und des weltweiten Netzes der direkten Kommunikation, immer noch Jahrhunderte hinterherhinkt.

Nach dem schrecklichen Ersten Weltkrieg wurde die Liga der Nationen geschaffen. Aber die Anmaßung der Sieger und ihre Rachsucht gegenüber den Besiegten ließen sie eine falsche Struktur schaffen, die bereits bei der ersten Bewährungsprobe scheiterte.

Nach dem noch schrecklicheren Zweiten Weltkrieg versuchten die Sieger bedeutend realistischer zu sein. Aber die Struktur, die sie schufen – die UNO (Organisation der Vereinigten Staaten) – enthält andere Fehler. Die syrische Krise zeigt sie im grellsten Licht.

Das schlimmste Charakteristikum der UNO ist das Veto. Regelmäßig verdammt es die Organisation zu völliger Ohnmacht.

Es ist umsonst, Russland und China des unverfrorenen Zynismus zu beschuldigen. Sie unterscheiden sich nicht von anderen Großmächten. Die USA haben das Veto viel öfter eingesetzt, vor allem, um Israel zu schützen. Russland und China dienen ihren vermeintlichen kurzfristigen Interessen, zur Hölle mit den Opfern. Schrecklich, verabscheuungswürdig, aber alltäglich. Die Geschichte ist voller Beispiele. Das Münchner Abkommen und der Hitler-Stalin-Pakt kommen einem sofort ins Gedächtnis.

Aber dient das schreckliche russische Veto gegen eine zahnlose Resolution im Sicherheitsrat tatsächlich irgendwelchen realen russischen Interessen? Ich meine, dass es Moskau besser wissen sollte. Seine Waffenverkäufe an Syrien sind nur ein geringer Faktor, ebenso die russische Marinebasis in Tarsis. Es erscheint mir eher wie ein bedingter Reflex. Wenn etwas von den USA unterstützt wird, dann muss es schlecht sein. Letzten Endes war Ivan Petrovich Pavlov ein Russe.

Bedeutender ist vielleicht die russische oder chinesische Furcht vor einem neuen Präzedenzfall einer ausländischen Einmischung in innere Angelegenheiten, wie Gemetzel, Tyrannei und Mini-Genozid.

Aber auf lange Sicht kann es nicht im Interesse von Russland liegen, sich hinter einer Mauer von Zynismus zu verbarrikadieren. Ein „ehrbarer Respekt vor der Menschheit“, wie es Thomas Jefferson formuliert hat, scheint viel moderner zu sein als Stalins „Wie viele Divisionen hat der Papst?“

Übrigens, es wäre auch für Israel gut, sich an Jeffersons Regel zu halten.

Bashar Al-Assad lehrt uns, dass eine völlige Überarbeitung der UN-Charta (dringend) erforderlich ist. Mit dem Veto muss begonnen werden.

Die Teilung der Macht, die es darstellt, ist lächerlich veraltet. Warum China und nicht Indien? Warum Frankreich und nicht Deutschland?

Aber das ist nur ein unwesentlicher Punkt. Der wesentliche Punkt ist, dass es für eine Macht – oder sogar für sieben Mächte –unerträglich ist, den Willen der Menschheit zu blockieren. Heutzutage ist die UNO ein wahrhaftes „Vetostan“.

Wenn das Veto nicht völlig abgeschafft werden kann – was es (eigentlich) sollte – muss ein Mechanismus gefunden werden, um es auf eine vernünftige Art einzuschränken. Zum Beispiel sollte eine 75%-ige Mehrheit in der Generalversammlung oder ein einstimmiger Beschluss aller an dem Veto nicht beteiligten Sicherheitsratsmitglieder, das Veto überstimmen können.

In einem solchen Fall sollte die UNO unter einer neuen Art des Generalsekretärs, fähig sein, das Militär der Mitgliedsstaaten aufzufordern, den Verbrechen gegen die Menschheit überall ein Ende zu bereiten und somit das Eingreifen von Organisationen wie der NATO überflüssig zu machen.

In Syrien sind keine großen Streitkräfte erforderlich. Ägyptische und türkische Truppen sollten zusammen mit der Freien Syrischen Armee ausreichend sein.

HAFEZ AL-ASSAD, der langjährige syrische Diktator, bestimmte seinen Sohn Bashar zum Erben, nachdem sein älterer Sohn bei einem Absturz ums Leben gekommen war.

Der gütig erscheinende Augenarzt wurde mit Erleichterung aufgenommen. Er schien der geeignete Modernisierer zu sein, mit progressiven, vielleicht sogar demokratischen Ideen. Nun beweist er uns, dass in allen Diktatoren ein verstecktes Monster lauert.

„Assad“ bedeutet „Löwe“. Aber Bashar ist kein Löwe. Er gleicht eher einer Hyäne – einem Tier, das auf Jiddisch „das lachende Biest“ genannt wird.

Nichts ist hier geblieben, worüber man lachen könnte.

Seine Zeit ist um“ …

(dt. Inga Gelsdort, vom Verfasser autorisiert)

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Du sollst nicht töten..

Erstellt von Redaktion am 11. März 2012

auch nicht Dich selbst

Autor Uri Avnery

NACH DER Gründung Israels erschien Gott dem David Ben Gurion und sagte zu ihm: „Du hast für mein auserwähltes Volk in meinem Heiligen Land einen Staat geschaffen.  Du verdienst eine große Belohnung. Sag mir, was du wünschst – und ich werde es gewähren“.

Ben Gurion antwortete: „Allmächtiger Gott, ich möchte, dass jede Person in Israel weise sein soll, ehrlich und ein Mitglied der Laborpartei.“

„Mein Lieber“, sagte Gott, „ das ist sogar für mich, den Allmächtigen, zu viel. Aber ich  gewähre, dass jeder Israeli zwei von den drei Eigenschaften  verkörpern soll.  Seitdem ist ein weiser Israeli, der ein Mitglied der Laborpartei ist,  nicht ehrlich. Wenn  ein ehrlicher Israeli ein Mitglied von Labor ist, dann ist er nicht weise. Wenn er weise und ehrlich ist, ist er kein Mitglied von Labor“.

DIESER SCHERZ war in den 50er Jahren allgemein bekannt. Nach 1967 trat  ein  anderer weniger lustiger Scherz an seine Stelle.

Er lautet: Viele Israelis bitten Gott um einen Staat, der jüdisch und demokratisch sein soll und der das ganze Land zwischen dem Mittelmeer und  dem Jordan einschließt. Das ist selbst für den Allmächtigen zu viel. Also bestimmte er, dass jeder Israeli zwei von den drei Möglichkeiten wählen muss: zwischen einem Staat der jüdisch und demokratisch ist, aber nur in einem Teil des Landes, oder einen Staat im ganzen Land, der jüdisch ist, aber nicht demokratisch, oder einen Staat im ganzen Land, der demokratisch ist, aber nicht jüdisch. Dem möchte ich noch eine vierte Möglichkeit hinzufügen: Ein jüdischer und demokratischer Staat im ganzen Land, aber erst wenn alle Araber vertrieben sind – etwa 5,5 Millionen zu jetzigen Zeit , die sich aber rasch vermehren.

Dies ist die Wahl, mit der wir uns heute wie vor fast 45 Jahren befassen müssen. Sie ist nur klarer geworden.

Für jede vorhersehbare Zukunft kann die vierte Alternative ausgeschlossen werden. Die Umstände, die 1948 zur Vertreibung von mehr als der Hälfte des palästinensischen Volkes aus dem Gebiet führte, das Israel wurde, waren einmalig, und  es ist unwahrscheinlich, dass sie sich in den nächsten Jahrzehnten wiederholen. Wir müssen uns also mit der gegenwärtigen demographischen Realität abfinden.

Die gegenwärtige Regierung ist entschlossen, jeden Frieden zu verhindern, der uns zwingen würde, einen Teil der besetzten Gebiete (22% des Palästina von vor 1948)  aufzugeben. Es gibt niemanden, der sie dazu zwingen würde.

Was bleibt?

Ein Staat im ganzen Land, der entweder undemokratisch oder  nicht jüdisch wäre.

Wie die Dinge stehen, wird die erste Möglichkeit realisiert werden oder realisiert sich von selbst. Da ist keine bewusste Entscheidung nötig, da diese Situation de facto schon besteht.

Dies bedeutet, um das populäre Schlagwort zu benützen: ein Apartheidstaat. In diesem liegt  jedes Machtinstrument in den Händen der jüdisch-israelischen Mehrheit (etwa 6,5 Millionen), mit begrenzten Rechten für die 1,5 Mill. Palästinenser, die israelische Staatsbürgerschaft besitzen. Die Palästinenser in der besetzten Westbank, in Ost-Jerusalem und im Gazastreifen, etwa 4 Millionen, haben gar keine Rechte – weder national , noch menschlich  oder zivil.

Der gegenwärtige Zustand der „temporären“ Besatzung kann  für immer dauern und ist deshalb ideal für diesen Zweck. Doch eine zukünftige israelische Regierung, eine noch nationalistischere könnte die offizielle Situation durch Annexion der Gebiete an Israel verändern. Das würde praktisch keinen Unterschied machen.
Wie viele Israelis es sehen, könnte diese Situation auf immer so bleiben. Der offizielle Slogan heißt: „Wir haben keinen Partner für Frieden.“

Aber kann das wirklich dauern? Die palästinensische Bevölkerung im Lande wächst rasant. Es wird nicht lange dauern, bis sie die Mehrheit bilden wird. Die Idealisten, die für die „Ein-Staaten-Lösung“ sind, glauben, der Apartheidstaat  verwandle sich langsam in einen „Staat für alle seine Bürger“.

Falls nach weiteren Jahrzehnten der Unterdrückung,  mit Bürgerkrieg, Brutalitäten und anderen Plagen sich dies verwirklichen würde, dann würde es sich schnell in einen palästinensischen Staat mit einer jüdischen Minderheit verwandeln, wie die Weißen im heutigen Südafrika. Es würde eine Negation des ganzen zionistischen Unternehmens sein, dessen Hauptzweck es war, einen Ort in der Welt zu haben, wo Juden eine Mehrheit sind. Die meisten jüdischen Israelis würden wahrscheinlich emigrieren.

Für einen Israeli wäre dies ein nationaler Selbstmord. Doch wäre es die unvermeidbare Folge, wenn der Staat seinen Kurs wie bisher fährt.

WENN EINE Person sich selbst töten will, wie es ihr Recht ist, hat sie viele Möglichkeiten, dies zu tun: vergiften, erschießen, aufhängen, vom Dach springen etc.. Als Staat hat Israel auch mehrere Optionen.

Abgesehen von der tickenden Bombe, (die „Ein-Staat-Lösung“)  hat Israel auch eine interne tickende Bombe, die sogar gefährlicher sein mag. Wie die erste Option, so ist auch die zweite  schon auf dem Weg. Wenn die erste Option wenigstens teilweise von äußeren Faktoren abhängt, ist die zweite ganz und gar hausgemacht.

Als Israel entstand, waren die orthodoxen Juden eine kleine Minderheit. Da Ben Gurion sie für seine Koalition benötigte, gewährte er ihnen einige Privilegien, die ihm  nicht zu teuer erschienen. Die Orthodoxen bekamen ihr eigenes vom Staat finanziertes Bildungssystem, und sie  waren vom Militärdienst befreit.

Etwa 60 Jahre später haben diese Privilegien gigantische Dimensionen angenommen. Um die im Holocaust verlorenen Leben  zu ersetzen und um die jüdische Bevölkerung zu vergrößern, ermutigte die israelische Regierung durch großzügiges Kindergeld das natürliche Wachstum. Da die Religiösen aller Schattierungen sich schneller vermehrten als die anderen Israelis (außer den muslimischen Arabern in Israel), ist ihr Teil der Bevölkerung sprunghaft  angestiegen.

Die orthodoxen  Familien haben gewöhnlich 8-10 Kinder. Diese gehen alle in religiöse Schulen, wo sie ausschließlich religiöse Texte lernen und keinerlei  nützliche Fertigkeiten, die man in Berufen einer modernen Gesellschaft benötigt. Sie brauchen sie nicht, da sie überhaupt nicht arbeiten, sondern ihr ganzes Leben dem Studium des Talmud widmen. Sie müssen ihre Studien der toten Texte nicht unterbrechen, weil sie auch  keinen Militärdienst machen müssen.

Wenn dies  in den frühen Tagen des Staates auch  nur Randerscheinungen waren, führen sie jetzt zu einer rapiden nationalen Notsituation. Von Anfang an haben sich fast alle Regierungskoalitionen auf die religiösen Parteien verlassen, weil keine Partei je die Mehrheit in der Knesset gewonnen hat. Fast alle Regierungsparteien mussten ihre religiösen Partner  mit wachsenden Subventionen für Kinder und Erwachsene bestechen und ermutigten so das Wachstum einer Bevölkerung, die weder Militärdienst macht noch Arbeit verrichtet.

Die Abwesenheit der Orthodoxen in der Arbeitswelt hat ernst zu nehmende Auswirkungen auf die Wirtschaft, was von  internationalen Finanzinstituten  bestätigt wird. Ihre Abwesenheit in der Armee – wie auch die Abwesenheit der arabischen Bevölkerung, die aus verständlichen Gründen nicht eingezogen wird – bedeutet, dass bald fast die halbe männliche Bevölkerung nicht als Soldat dient. Dies zwingt alle anderen drei volle Jahre zu dienen und dann noch viele Jahre  Reservedienst zu leisten.

Sehr bald werden  fünfzig Prozent  aller Erstklässler in Israel  aus orthodoxen Familien kommen. Ihr Leben wird ohne Arbeit, ohne Steuern zu zahlen und ohne Militärdienst verlaufen – all dies wird von den Steuern der kleiner werdenden Anzahl von Nicht-Orthodoxen finanziert.

Vor kurzem verlangten die Säkularen nach einer  wachsenden Unruhe zwischen Religiösen und Nicht-Religiösen in Bet-Shemesh – 25km westlich von Jerusalem –  die Stadt  solle geteilt werden, in eine orthodoxe Stadt und eine säkulare. Der Innenminister – selbst ein Führer einer Orthodoxen Partei – hat dies rundweg abgelehnt. Er erklärte offen: da die Orthodoxen  weder arbeiten noch Gemeindesteuern zahlen, können sie auch  eine eigene Stadt nicht erhalten. Sie benötigen die Säkularen zum Arbeiten und Zahlen.

Diese groteske Situation besteht im ganzen Staat. Man kann sich ausrechnen, wann das ganze Gebäude zusammenbricht. Internationale Finanzinstitute wie auch israelische Experten sagen eine Katastrophe voraus. Doch unser politisches System macht eine Veränderung unmöglich. Die Position der religiösen Parteien ist  einfach zu stark.

Das ist eine andere  Methode des Selbstmordes.

EIN DRITTER Weg ist weniger dramatisch. Israel wird schnell zu einem Staat, in dem normale Leute  nicht mehr leben wollen.

In seinem monumentalen Werk über die Kreuzfahrer vertrat der verstorbene britische Historiker Steven Runciman die Auffassung, dass der Kreuzfahrerstaat nicht durch eine militärische Niederlage zusammenbrach, sondern weil zu viele seiner Bewohner zusammenpackten und nach Europa zurückgingen. Obwohl viele von ihnen zur 4.  oder sogar 8. Generation der Kreuzfahrer gehörten, hatte der Kreuzfahrerstaat für sie seine Attraktion verloren. Der Zustand  eines ständigen Krieges und die innere Stagnation trieb sie weg. Der Staat brach zusammen, da immer mehr weggingen als sich ihnen anschlossen.

Die Kreuzfahrer hatten das Empfinden, dass sie mehr zur Christenheit gehörten als zum lokalen Königtum von Jerusalem. Heute glauben  selbst viele Israelis,  sie seien vor allem Juden, die zu einem weltweiten Volk gehören, und die nur in zweiter Linie sich als Israelis fühlen.

Das macht die Auswanderung leichter.

Ein Staat ohne Demokratie, ohne Gleichheit, der sich selbst  zu einem endlosen Krieg verurteilt hat, der von religiösen Fanatikern dominiert wird, in dem eine Kluft zwischen  bitter Armen und einer handvoll von unglaublich Reichen von Jahr zu Jahr breiter wird  – solch ein Staat wird  für intelligente junge Leute immer weniger  attraktiv erscheinen, die leicht woanders ein besseres Leben finden  und trotzdem die jüdische Identität bewahren können.

Auch dies ist ein nationaler Selbstmord.

ICH BIN von Natur aus kein Prophet  von Pessimismus. Ganz im Gegenteil.

Wir können all diese Gefahren leicht abwenden. Aber zunächst müssen wir sie erkennen und sehen, wohin sie uns führen.

Ich bin davon überzeugt, dass die israelische Nation  den Willen zum Überleben hat. Aber um zu überleben, muss sie aus ihrer apathischen Benommenheit aufwachen und den Kurs ändern – sich dem Frieden zuwenden, der sich auf die Zwei-Staaten-Lösung gründet, den Staat und die Religion  von einander trennen und eine neue  soziale Ordnung aufbauen.

In der jüdischen Religion ist Selbstmord eine Sünde. Es wäre Ironie, wenn zukünftige Historiker schlussfolgern müssten,  der „jüdische Staat“ habe Selbstmord begangen.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser  autorisiert)

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Hurra für Ägypten

Erstellt von Redaktion am 19. Februar 2012

Hurra für Ägypten

Autor Uri Avnery

DAS UNMÖGLICHE ist geschehen. Das ägyptische Parlament, demokratisch von einem freien Volk gewählt, hat sich zu seiner 1. Sitzung zusammen gefunden.

Für mich war das ein wunderbares, freudiges Ereignis.

Für viele Israelis war dies ein beunruhigender, ein bedrohlicher Anblick.

ICH KANN nicht anders, als mich darüber freuen, wenn ein unterdrücktes Volk sich erhebt und seine Freiheit und seine menschliche Würde gewinnt. Und zwar nicht durch die Intervention ausländischer Kräfte, sondern durch seine eigene Standhaftigkeit und seinen Mut. Und nicht durch Schießen und Blutvergießen, sondern durch die pure Macht der Gewaltlosigkeit.

Wann und wo immer dies geschieht, muss dies das Herz jeder anständigen Person rund um den Globus erfreuen.

Verglichen mit den meisten anderen Revolutionen verlief der augenblickliche ägyptische Aufstand ohne Blutvergießen. Die Zahl der Opfer beläuft sich auf Dutzende , nicht auf Tausende. Der gegenwärtige Kampf in Syrien fordert alle zwei oder drei Tage diese Zahl der Opfer, so auch der erfolgreiche Aufstand im Libyien, dem sehr durch ausländische Militärintervention geholfen wurde.

Eine Revolution reflektiert den Charakter ihres Volkes. Ich hatte immer eine besondere Liebe für die Ägypter, weil sie – im Allgemeinen – nicht aggressiv und gewalttätig sind. Sie sind außerordentlich geduldig und humorvoll. Man kann dies in Tausenden von Jahren in seiner aufgezeichneten Geschichte nachlesen und im täglichen Leben auf der Straße sehen.

Deshalb war diese Revolution so überraschend. Von allen Völkern dieses Planeten sind die Ägypter unter denen, von denen man am wenigsten eine Revolution erwartete. Doch sie kam.

DAS PARLAMENT kam nach 60 Jahren Militärherrschaft zusammen, die auch nach einer unblutigen Revolution begann. Selbst der verachtete König Faruk, der an jenem Tag im Juli 1952 gestürzt wurde, wurde nicht verletzt. Er wurde in seine luxuriöse Jacht verfrachtet und nach Monte Carlo geschickt, um dort den Rest seines Lebens mit Glückspiel zu verbringen.

Der wirkliche Führer der Revolution war Gamal Abd-al-Nasser. Ich traf ihn mehrere Male während des 48er-Krieges – auch wenn wir nicht richtig einander vorgestellt wurden. Dies war alles während nächtlicher Gefechte. Erst nach dem Krieg konnte ich die Ereignisse rekonstruieren. Er wurde in einer Schlacht verwundet, für die meine Kompanie mit dem Ehrennamen „Simsons Füchse“ ausgezeichnet wurde, während ich fünf Monate später von Soldaten unter seinem Kommando verletzt wurde.

Ich traf ihn natürlich nie persönlich, aber ein guter Freund von mir traf ihn tatsächlich. Während der Schlacht im umzingelten Faluja-Gebiet einigte man sich auf eine Feuerpause, um die Toten und Verletzten zwischen den Linien herauszuholen. Die Ägypter sandten Major Abd-al-Nasser, unsere Seite sandte den im Jemen geborenen Offizier, den wir Rotkopf nannten, weil er fast ganz schwarz war. Die beiden feindlichen Offiziere liebten einander sehr, und als die ägyptische Revolution ausbrach, sagte Rotkopf zu mir – lange vor anderen – dass Abd-al-Nassar der Mann sei, den man beobachten müsse.

(Ich kann mich nicht zurückhalten und muss etwas ausdrücken, was mich ärgert. In westlichen Filmen und Büchern haben Araber oft als ersten Namen Abdul. Solch einen Namen gibt es gar nicht. „Abdul“ heißt eigentlich Abd-al- , was „Diener von“ bedeutet, und dem folgt unweigerlich einer von Allahs 99 Attributen. Abd-al-Nasser z.B. bedeutet “Diener von (Allah) dem Siegreichen”.

„Nasser“, wie ihn die meisten Leute abgekürzt nannten, war kein geborener Diktator. Später erzählte er, dass er, nachdem er die Revolution in Gang gebracht hatte, nicht wusste, was er als nächstes tun sollte. Er begann damit, eine zivile Regierung zu ernennen, war aber entsetzt von der Inkompetenz und Korruption der Politiker. Deshalb nahm die Armee die Dinge in die eigenen Hände und wurde bald zu einer Militärdiktatur, die bis letztes Jahr andauerte und immer mehr entartete.

Man muss Nassers Bericht nicht wörtlich nehmen, aber es ist klar: jetzt wie damals tendiert eine „zeitweilige“ Militärherrschaft, zu einer dauernden Diktatur zu werden. Die Ägypter wissen das aus bitterer Erfahrung, und deshalb werden sie jetzt sehr ungeduldig.

Ich erinnere mich an ein spannendes Gespräch zwischen zwei führenden arabischen Intellektuellen vor etwa 45 Jahren. Wir waren in London auf dem Wege zu einer Konferenz zusammen in einem Taxi. Der eine war der bewundernswerte Mohamed Sid Ahmad, ein aristokratischer ägyptischer Marxist, der andere war Alawi, ein mutiger, linker, marokkanischer Oppositionsführer. Der Ägypter sagte, in der augenblicklichen arabischen Welt könne kein nationales Ziel ohne eine starke autokratische Führung erreicht werden. Alawi erwiderte scharf, nichts Lohnendes könne erreicht werden, bevor nicht eine Demokratie errichtet wird. Ich denke, diese Diskussion ist jetzt beendet.

ALS WINSTON Churchill bekanntermaßen sagte: „Die Demokratie ist die schlimmste Regierungsform, außer all den anderen Formen, die versucht worden sind.“ Das Üble bei der Demokratie ist, dass freie Wahlen nicht immer in der Weise enden, wie man sie gern hätte.

Die vor kurzem durchgeführte ägyptische Wahl wurde von den „Islamisten“ gewonnen. Die tumultartige erste Sitzung, die vom Hauch der Freiheit gefördert wurde, wurde von Vertretern mit „religiösen“ Bärten beherrscht. Gewählte Mitglieder der Muslimbruderschaft und den noch extremeren Salafisten (Anhänger der Salafiyeh, einer sunnitischen Sekte, die behauptet, den Lehren der ersten drei muslimischen Generationen zu folgen) bildeten die Mehrheit. Die Israelis und die Islamophoben im Westen, für die alle Muslime gleich sind, sind entsetzt.

Offen gesagt, liebe ich keine religiösen Parteien, egal welcher Färbung – jüdisch, muslimisch, christlich oder was es sonst noch gibt. Eine echte Demokratie verlangt die völlige Trennung von Staat und Religion – in der Praxis wie in der Theorie.

Ich würde nicht für Politiker stimmen, die religiösen Fundamentalismus als Leiter für ihre Karriere benützen – ob es amerikanische Präsidentschaftskandidaten sind, israelische Siedler oder arabische Demagogen. Selbst wenn sie ehrlich wären, würde ich gegen sie stimmen. Aber wenn solche Leute frei gewählt werden, muss man sie akzeptieren. Ich würde mir sicherlich nicht durch den Erfolg der Islamisten die Freude über den historischen Sieg des arabischen Frühlings nehmen lassen.

So wie es jetzt aussieht, werden Islamisten verschiedener Schattierungen in allen neuen arabischen Parlamenten einflussreich sein; das wird die Frucht arabischer Demokratie sein- von Marokko bis zum Irak, von Syrien bis Oman. Israel wird keine „Villa im Dschungel“ sein, sondern eine jüdische Insel in einem muslimischen Meer.

Die Insel und das Meer sind keine natürlichen Feinde. Im Gegenteil – sie ergänzen einander.

Die Inselbewohner fischen im Meer, die Insel schützt die jungen Fische.

ES GIBT keinen Grund für Juden und Muslime, nicht friedlich zusammen zu leben und zu kooperieren. Sie haben es so viele Male im Laufe der Geschichte getan, und dies waren für beide gute Zeiten.

In jeder Religion gibt es Widersprüche. In der hebräischen Bibel gibt es z.B. die inspirierenden Kapitel der Propheten und die abscheulichen Aufrufe zum Genozid im Buch Josua. Im neuen Testament ist die wunderbare Bergpredigt und die widerliche ( und offensichtlich falsche und später eingefügte) Beschreibung der nach der Kreuzigung Jesu schreienden Juden, die den Antisemitismus und unzähliges Leiden verursacht hat. Im Koran sind verschiedene anstößige Passagen über die Juden, aber viel wichtiger ist das bewundernswerte Gebot, die „Völker des Buches“, Juden und Christen, zu schützen.

Es ist jetzt Sache der Gläubigen jeder Religion, aus ihren heiligen Texten die Passagen herauszupicken, nach denen sie leben wollen. Einmal sah ich ein Nazibuch aus Hunderten von Zitaten aus dem Talmud zusammengesetzt. Ich war sicher, dass sie alle falsch waren und war zutiefst erschrocken, als mir ein freundlicher Rabbiner versicherte, dass sie alle authentisch seien, nur aus dem Zusammenhang gerissen.

JUDEN UND Muslime können friedlich zusammen leben und taten es , auch die Israelis und die Ägypter.

Nur ein Kapitel: im November 1944 ermordeten zwei Mitglieder der vorstaatlichen Untergrundorganisation Lehi ( auch als „Sternbande“ bekannt) Lord Moyne, den britischen Staatsminister für den Nahen Osten in Kairo. Sie wurden gefangen genommen, und ihre Gerichtsverhandlung vor einem ägyptischen Gericht wurde zu einer antibritischen Demonstration. Junge ägyptische Patrioten füllten den Raum und bemühten sich nicht, ihre Bewunderung für die Angeklagten zu verbergen. Einer der beiden (der mir bekannt war) revanchierte sich mit einer stürmischen Rede, in der er den Zionismus verwarf und sich selbst als einen Freiheitskämpfer definierte, um die ganze Region vom britischen Imperialismus zu befreien.

Als Israel nicht lange danach gegründet wurde, schlugen einige von uns vor, der neue Staat möge diese und andere Taten dazu benützen, um uns als den ersten semitischen Staat darzustellen, der sich selbst von fremder Herrschaft befreit hat. In diesem Sinne hießen wir 1952 die Abd-al-Nasser-Revolution willkommen. Aber 1956 griff Israel in geheimer Absprache mit Frankreich und Großbritannien Ägypten an und wurde deshalb als ein Außenposten der westlichen Kolonisation gebrandmarkt.

NACH ANWAR SADATS historischem Besuch in Jerusalem war ich einer der ersten vier Israelis, die in Kairo ankamen. Wochenlang waren wir die Helden der Stadt, die von allen gefeiert wurden. Begeisterung für Frieden mit Israel schuf eine Karnevalsstimmung. Erst später, als den Ägyptern klar wurde, dass Israel keineswegs die Absicht habe, den Palästinensern ihre Freiheit zuzugestehen, verschwand diese.

Jetzt ist es an der Zeit, diese Stimmung wieder zu beleben. Es könnte getan werden, wenn wir entschlossen unser Gesicht dem Arabischen Frühling und dem zuwenden würden, was jetzt im Winter geschieht.

Dies lässt wieder eine der grundsätzlichsten Fragen Israels stellen: Wollen wir ein Teil dieser Region sein oder ein Außenposten des Westens? Sind die Araber unsere natürlichen Verbündeten oder unsere Feinde? Wird die neue arabische Demokratie unsere Sympathie und Bewunderung wecken, oder wird sie uns erschrecken?

Dies führt zur tiefsten Frage: Ist Israel nur ein Ableger des Weltjudentums, oder ist es eine neue Nation, die in dieser Region entstanden ist und einen integralen Teil davon darstellt?

Für mich ist die Antwort klar; und deshalb grüße ich das ägyptische Volk und sein neues Parlament : meine Gratulation!

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)

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Die Blockbrecher

Erstellt von Redaktion am 12. Februar 2012

Die Blockbrecher

Autor Uri Avnery

“ISRAEL HAT keine Außenpolitik, es hat nur eine Innenpolitik,” bemerkte Henry Kissinger einmal.

Dies hat vielleicht für jedes Land mehr oder weniger gegolten– seitdem es die Demokratie gibt. Doch in Israel scheint dies noch mehr zuzutreffen. (Ironischerweise könnte fast gesagt werden, dass die US keine Außenpolitik hat, nur eine israelische Innenpolitik .)

Um unsere Außenpolitik zu verstehen, müssen wir in den Spiegel schauen. Wer sind wir?

Wie sieht unsere Gesellschaft aus?

IN EINEM klassischen Sketch, der jedem Israeli bekannt ist, standen zwei Araber am Ufer des Mittelmeers und sahen ein Boot voll russisch-jüdischer Pioniere auf sie zu rudern. „Mag euer Haus zerstört werden!“ fluchten sie.

Als Nächstes standen wieder zwei Gestalten, dieses Mal russisch-jüdische Pioniere, an derselben Stelle und verfluchten auf russisch ein Boot voll jemenitischer Immigranten.

Als Nächstes standen zwei Jemeniten dort und verfluchten die deutsch-jüdischen Flüchtlinge, die vor den Nazis geflohen waren. Dann verfluchten die deutschen Juden die Ankunft der Marokkaner. Das war dann nach dem ersten Erscheinen die letzte Szene. Heute kann man noch zwei Marokkaner hinzufügen, die die Immigranten aus der Sowjetrussland verfluchten, dann verfluchten die Russen die letzten Ankömmlinge: die äthiopischen Juden.

Dies mag auch für jedes andere Einwandererland gelten, für die USA bis Australien. Jede Einwanderungswelle wird mit Verachtung, ja, sogar mit offener Feindseligkeit von denen, die früher kamen, begrüßt. Als ich in den frühen 30er-Jahren noch ein Kind war, hörte ich häufig, wie Leute meinen Eltern nachriefen: „Geht zurück zu Hitler!“

Doch immer herrschte der Mythos vom „Schmelztiegel“. Alle Immigranten würden in den selben Topf geworfen und von ihren „fremden“ Zügen gereinigt und tauchten als einheitliche neue Nation wieder auf – ohne die Spuren fremden Ursprungs.

DIESER MYTHOS starb vor einigen Jahrzehnten. Israel ist jetzt eine Art Föderation verschieden großer demographisch-kultureller Blöcke, die unser soziales und politisches Leben bestimmen.

Wer sind sie? Es gibt (1.) die alten Ashkenasim (Juden europäischen Ursprungs); (2.) die orientalischen (oder sephardischen) Juden; (3.) die religiösen ( teils ashkenasischen, teils sephardischen) Juden; (4.) die russischen Emigranten aus all den Ländern der früheren Sowjetunion; und (5.) die palästinensischen arabischen Bürger, die schon immer hier waren..

Dies ist natürlich eine schematische Darstellung. Keiner der Blöcke ist völlig homogen. Jeder Block besteht aus mehreren Unterblöcken, einige Blöcke überlappen sich. Dann gibt es Mischehen. Aber im Großen und Ganzen stimmt das Bild. Das Geschlecht spielt bei dieser Teilung keine Rolle.

Die politische Szene reflektiert fast genau diese Einteilung. Die Laborpartei war auf ihrem Höhepunkt das Hauptinstrument der ashkenasischen Macht. Ihre Reste zusammen mit Kadima und Meretz sind noch immer Ashkenasim. Avigdor Liebermans Israel-Beitenu-Partei besteht hauptsächlich aus Russen. Es gibt drei oder vier religiöse Parteien. Dann gibt es zwei exklusiv arabische Parteien und die kommunistische Partei, die auch hauptsächlich arabisch ist. Die Likudvertreter vertreten den Hauptteil der Orientalen, auch wenn fast alle seine Führer Ashkenasim sind.

Die Beziehungen zwischen den Blöcken sind oft strapaziös. Gerade jetzt ist das Land in einem Aufruhr, weil in Kiryat Malachi eine südliche Stadt mit hauptsächlich orientalischen Einwohnern, die Hausbesitzer eine Verpflichtung unterschrieben haben, nach der sie keine Wohnung an Äthiopier verkaufen dürfen, während der Rabbiner von Safed, einer nördlichen Stadt von hauptsächlich orthodoxen Juden, seiner Gemeinde verboten hat, Wohnungen an Araber zu vermieten.

Aber abgesehen von der Kluft zwischen Juden und Arabern, besteht das Hauptproblem aus dem Groll zwischen den Orientalen, den Russen und den Religiösen gegen das, was sie die „ashkenasische-Elite“ nennen.

DA SIE die ersten waren, die ankamen, lange vor der Errichtung des Staates, kontrollierten die Ashkenasim den größten Teil des Machtzentrums – den sozialen, den wirtschaftlichen und den kulturellen Teil. Im Allgemeinen gehören sie zu dem wohlhabenderen Teil der Gesellschaft, während die Orientalen, die Orthodoxen, die Russen und die Araber gewöhnlich zur unteren Schicht gehören.

Die Orientalen hegen einen tiefen Groll gegen die Ashkenazim. Sie glauben – nicht ganz zu Unrecht – dass sie vom ersten Tag an in diesem Land gedemütigt und diskriminiert worden seien und noch werden, obwohl schon eine ganze Anzahl von ihnen die Spitze wirtschaftlicher und politischer Positionen erreicht hat.

Neulich verursachte ein Topmanager von einem der führendsten Finanzinstitute einen Skandal, als er die „Weißen“ (d.h. die Ashkenazim) anklagte, alle Banken, Gerichte und die Medien zu beherrschen. Er wurde prompt entlassen, was einen neuen Skandal auslöste.

Der Likud kam 1977 an die Macht, indem er die Laborpartei entthronte. Mit kurzen Unterbrechungen ist er seitdem an der Macht. Doch glauben die meisten Likudmitglieder noch immer, dass die Ashkenasim Israel beherrschen und sie weit hinter sich ließen. Jetzt, 34 Jahre später, wird die dunkle Woge der antidemokratischen neuen Gesetze von Likud- Vertretern durch den Slogan gerechtfertigt: „Wir müssen anfangen zu regieren!“

Die Szene erinnert mich an ein Baugelände, das von einem Holzzaun umgeben ist. Der schlaue Bauherr ließ ein paar Lücken im Zaun, so dass neugierige Passanten durchschauen können. In unserer Gesellschaft fühlen sich alle anderen Blöcke wie Passanten, die voller Neid durch die Lücken auf die ashkenasische„Elite“ schauen: den Obersten Gerichtshof, die Medien, die Menschenrechtsorganisationen und besonders das Friedenslager. Diese werden alle „Linke“ genannt, ein Wort, das seltsamer Weise mit der „Elite“ identifiziert wird.

WIE IST das Wort „Frieden“ zu einem Synonym der herrschenden und vorherrschenden Ashkenasim geworden?

Das ist eine der größten Tragödien in unserem Land geworden.

Juden haben viele Jahrhunderte in der muslimischen Welt gelebt. Sie machten dort nicht die schrecklichen Erfahrungen des christlichen Antisemitismus’ in Europa durch. Muslimisch-jüdische Feindseligkeit begann erst vor einem Jahrhundert mit der Ankunft des Zionismus – aus offensichtlichen Gründen.

Als die Juden aus muslimischen Ländern begannen, en masse in Israel einzuwandern, waren sie durchdrungen von der arabischen Kultur. Aber hier wurden sie von einer Gesellschaft empfangen, die alles Arabische total verachtete. Ihre arabische Kultur war angeblich „primitiv“, während wirkliche Kultur europäisch war. Außerdem wurden sie mit den „mörderischen“ Muslimen identifiziert. Deshalb wurden die Immigranten gezwungen, ihre eigene Kultur und ihre eigenen Traditionen, ihren Akzent, ihre Erinnerungen, ihre Musik über Bord zu werfen. Um zu zeigen, dass sie durch und durch israelisch geworden waren, mussten sie auch die Araber hassen.

Es ist natürlich ein weltweites Phänomen, dass in multinationalen Länden die unterdrückteste Klasse der dominanten Nation auch der radikalste nationalistischste Feind der Minderheiten ist. Zur oberen Bevölkerungsschicht zu gehören, ist oft die einzige Quelle des Stolzes, die ihnen gelassen wurde. Die Folge davon ist oft der unversöhnliche Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit.

Dies ist einer der Gründe, warum die Orientalen vom Likud angezogen wurden, für den die Ablehnung des Friedens und der Hass auf die Araber oberste Tugenden sind. Nachdem er auch Jahre lang in der Opposition gewesen war, wurde der Likud als der angesehen, der die „Außenstehenden“ vertrat und die bekämpfte, die „drinnen“ waren. Dies ist noch immer der Fall.

Der Fall der „Russen“ ist anders. Sie wuchsen in einer Gesellschaft auf, die die Demokratie verachtete und starke Führer bewunderte. Die „Weißen“, Russen und Ukrainer, verachteten und hassten die „dunklen“ Völker des Südens – die Armenier, Georgier, Tataren, Usbeken und ähnliche. ( Ich erfand einmal die Formel: Bolschewismus – Marxismus = Faschismus.)

Als die russischen Juden sich uns anschlossen, brachten sie einen starken Nationalismus mit sich, ein völliges Desinteresse für Demokratie und einen automatischen Hass gegen die Araber. Sie können nicht verstehen, warum wir ihnen überhaupt zu bleiben erlauben. Als in dieser Woche ein weibliches Mitglied der Knesset aus Petersburg ein Glas Wasser auf den Kopf eines arabischen Mitglieds von der Laborpartei schüttete, war niemand sehr überrascht. (Irgend jemand witzelte: „Ein guter Araber ist ein nasser Araber“) Für Liebermans Anhänger ist „Frieden“ ein schmutziges Wort, ebenso das Wort „Demokratie“.

Für religiöse Leute aller Schattierungen – von den Ultra-Orthodoxen bis zu den national-religiösen Siedlern gibt es da überhaupt kein Problem. Von der Wiege an lernen sie, dass Juden das auserwählte Volk sind; dass der Allmächtige uns persönlich dieses Land versprochen hat; dass die Gojim – einschließlich den Arabern – nur minderwertige Menschen seien.

Es mag ganz zu Recht gesagt werden, dass ich hier verallgemeinere. Das tue ich, um die Sache zu vereinfachen. Es gibt tatsächlich Orientalen, besonders in der jungen Generation, die von dem Ultra-Nationalismus des Likud abgestoßen werden und noch mehr vom Neo-Liberalismus des Binjamin Netanjahu (Shimon Peres nannte ihn mal „schweinischen Kapitalismus“), da dieser im direkten Widerspruch zu den Grundinteressen ihrer Gemeinschaft steht. Es gibt auch eine Menge anständiger, liberaler, friedliebender religiöser Leute (Yeshayahu Leibowitz kommt mir in den Sinn). Viele Russen verlassen nach und nach ihr selbst geschaffenes Ghetto. Aber dies sind kleine Minderheiten in ihren Gemeinden. Der Großteil dieser drei Blöcke – orientalisch, russisch und religiös – sind in ihrer Gegnerschaft zum Frieden vereinigt und bestenfalls gleichgültig gegenüber der Demokratie.

All diese zusammen bilden den rechten Flügel, eine Anti-Friedens-Koalition, die jetzt Israel regiert. Das Problem ist nicht nur eine Frage der Politik. Es liegt viel tiefer und ist entmutigender.

EINIGE LEUTE klagen uns, die demokratische Friedenskoalition, an, das Problem nicht früh genug erkannt und nicht genug getan zu haben, um Mitglieder der verschiedenen Blöcke zu den Idealen von Frieden und Demokratie herangezogen zu haben.

Ich muss zugeben, dass dem so ist und dass ich Anteil an der Schuld habe, obwohl ich darauf hinweisen möchte, dass ich von Anfang an versuchte, die Verbindung herzustellen. Ich bat meine Freunde, wir müssten uns besonders um die orientalische Gemeinschaft bemühen und sie an das ruhmreiche muslimisch-jüdische „goldene Zeitalter“ in Spanien erinnern und auch an den sehr großen gegenseitigen Einfluss der jüdischen und muslimischen Wissenschaftler, Dichter und religiösen Denker in allen Jahrhunderten.

Vor ein paar Tagen wurde ich eingeladen, vor dem Lehrkörper und den Studenten der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva einen Vortrag zu halten. Ich beschrieb die Situation mehr oder weniger in derselben Weise. Die erste Frage aus der großen Zuhörerschaft, die aus Juden – Orientalen und Ashkenasim – und Arabern, besonders aus Beduinen, bestand: „Welche Hoffnung gibt es noch? Wie können die Friedenskräfte gewinnen?“

Ich sagte ihnen, ich setze mein Vertrauen in die neue Generation. Die große soziale Protestbewegung im letzten Sommer, die ganz plötzlich ausbrach und Hunderttausende erfasste, zeigte, dass hier so etwas geschehen kann. Die Bewegung vereinte Ashkenasim und Orientalen. Überall im Lande wuchsen Zeltstädte auf, in Tel Aviv und in Beer Sheva.

Unser erster Job wäre, die Barrieren zwischen den Blöcken zu brechen, die Realität zu ändern, eine neue israelische Gesellschaft zu schaffen. Wir benötigen Blockbrecher.

Es stimmt, dies ist ein sehr, sehr schwerer Job. Aber ich bin davon überzeugt, er könnte getan werden.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)

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Zu den Küsten von Tripolis

Erstellt von Redaktion am 1. September 2011

Zu den Küsten von Tripolis

Autor Uri Avnery

OBWOHL UNS die Bibel sagt „Freue dich nicht über den Fall deines Feindes“ (Sprüche 24), konnte ich nicht anders, als mich freuen.

Muammar al-Gaddafi war der Feind jeder anständigen Person in der Welt. Er war einer der schlimmsten Tyrannen in jüngster Vergangenheit.

Diese Tatsache war verborgen hinter einer Fassade von Clownerie. Er liebte es, sich selbst als Philosoph darzustellen (s. das „Grüne Buch“), als visionärem Staatsmann (Israelis und Palästinenser müssen sich zum Staat Isratin vereinen), selbst als unreifem Teenager (seine unzähligen Uniformen und Kostüme). Aber hauptsächlich war er ein erbarmungsloser Diktator, umgeben von korrupten Verwandten und Freunden, die den großen Reichtum Libyens verschwendeten.

Das war für jeden offensichtlich, der sehen wollte. Leider gab es nicht wenige, die ihre Augen verschlossen hielten.

ALS ICH meine Unterstützung für die internationale Intervention zum Ausdruck brachte, erwartete ich, von wohlmeinenden Leuten angegriffen zu werden. Ich wurde nicht enttäuscht.

Wie konnte ich nur? Wie konnte ich die amerikanischen Imperialisten und die grässliche NATO unterstützen? War mir denn nicht klar, dass es nur ums Öl ging?

Ich war nicht überrascht. Ich habe dies schon einmal erlebt. Als die Nato begann, das serbische Gebiet zu bombardieren, um den Verbrechen des Slobodan Milosevic im Kosovo ein Ende zu bereiten, wandten sich viele meiner politischen Freunde gegen mich.

War mir denn nicht klar, dass dies alles nur eine imperialistische Verschwörung war? Dass die hinterhältigen Amerikaner Jugoslawien (oder Serbien) nur auseinander reißen wollten? Dass die Nato eine böse Organisation war? Dass Milosevic, auch wenn er ein paar Fehler haben mag, eine progressive Menschlichkeit vertrat?

Dies wurde gesagt, als die grausamen Akte des Massenmordes in Bosnien für jeden offensichtlich waren, als Milosevic schon als kaltblütiges Monster bloßgestellt war. Ariel Sharon bewunderte ihn.

Wie können also anständige, wohlmeinende Linke, Menschen mit makelloser humanistischer Vorgeschichte, solch eine Person umarmen? Meine einzige Erklärung war, dass ihr Hass auf die USA und die NATO so stark, so leidenschaftlich war, dass jeder, der von ihnen angegriffen wurde, gewiss ein Wohltäter der Menschheit sein muss und alle Anklagen gegen sie reine Erfindungen waren. Sogar Pol-Pot.

Nun geschah es noch einmal. Ich wurde bombardiert mit Mails von wohlmeinenden Leuten, die Gaddafi für alle seine guten Taten lobten. Man hat den Eindruck bekommen können, dass er ein zweiter Nelson Mandela, wenn nicht gar ein zweiter Mahatma Gandhi war.

Während die Rebellen sich schon durch seine große ummauerte Anlage kämpfen, lobte ihn der sozialistische Führer Venezuelas Hugo Chavez als wahres Modell aufrichtiger Menschlichkeit, ein Mann, der es wagt, sich gegen die amerikanischen Aggressoren zu stellen.

Nun, tut mir leid, da mache ich nicht mit. Ich habe diese irrationale Abscheu vor blutigen Diktatoren, vor völkermörderischen Massenmördern, vor Führern , die gegen ihr eigenes Volk Krieg führen. Und bei meinem fortgeschrittenen Alter ist es schwierig, sich zu ändern.

Ich bin bereit, sogar den Teufel zu unterstützen, wenn es nötig ist, diese Art Grausamkeit zu beenden. Ich würde nicht einmal nach seinen genauen Motiven fragen. Was immer man auch über die USA und/oder die NATO denken mag – wenn sie einen Milosevic oder einen Gaddafi entwaffnen, dann haben sie meinen Segen.

WIE GROSS ist die Rolle der NATO bei der Niederlage des libyschen Diktators?

Die Rebellen hätten Tripolis nicht erreicht, gewiss nicht bis heute, wenn sie nicht die NATO-Unterstützung aus der Luft gehabt hätten. Libyen ist eine große Wüste. Die Offensive war auf eine lange Straße angewiesen. Ohne die technische Beherrschung der Luft, würden die Rebellen massakriert worden sein. Jeder, der während des 2.Weltkrieges lebte und den Feldzügen Rommels und Montgomery folgte, weiß dies.

Ich vermute, dass die Rebellen auch Waffen und Rat erhalten haben, der ihre Offensive erleichterte.

Aber ich bin gegen die gönnerhafte Behauptung, dass dies alles ein Sieg der NATO war. Es ist die alte kolonialistische Haltung in neuer Gestalt. Natürlich konnten diese armen, primitiven Araber nicht alles ohne den Weißen Mann machen.

Aber Kriege werden nicht mit Waffen gewonnen, sie werden von Menschen gewonnen. „Mit Stiefeln auf dem Boden“, wie die Amerikaner dies nennen. Selbst mit all der Hilfe, die die libyschen Rebellen erhielten, so unorganisiert und schlecht bewaffnet sie waren, so haben sie doch einen erstaunlichen Sieg errungen. Dies wäre so nicht ohne wirkliche revolutionäre Leidenschaft, ohne Tapferkeit und Entschlossenheit geschehen. Es ist ein libyscher Sieg, kein englischer oder französischer.

Dies ist von den internationalen Medien heruntergespielt worden. Ich habe keine einzige echte Kampf-Reportage gesehen (und ich weiß, wie das aussieht). Journalisten haben sich nicht mit Ruhm bekleckert. Sie zeigten exemplarische Feigheit, blieben in sicherem Abstand von der Front, sogar während des Falles von Tripolis. Im Fernsehen sahen sie mit ihren großen Helmen lächerlich aus, als sie von barhäuptigen Kämpfern umgeben waren.

Was herüber kam, war endloser Jubel über den Sieg, der scheinbar vom Himmel gefallen war. Aber das waren Heldentaten, die vom Volk begangen worden waren – ja von einem arabischen Volk.

Dies ist für unsere israelischen „Militärkorrespondenten“ und unsere „Experten von arabischen Angelegenheiten“ besonders ärgerlich. Daran gewöhnt, „die Araber“ zu verachten oder zu hassen, schrieben sie dem Sieg der Nato zu. Es scheint, dass das Volk von Libyen eine kleinere Rolle gespielt hat, wenn überhaupt eine.

Nun plappern sie endlos über die „Stämme“, die Demokratie und eine ordentliche Regierung in Libyen unmöglich machen werden. Libyen sei kein wirkliches Land. Es war ,bevor es eine italienische Kolonie wurde, nie ein geeintes Volk. So etwas wie ein libysches Volk gibt es gar nicht. (Man erinnere sich, was die Franzosen über die Algerier und Golda Meir über die Palästinenser sagten).

Nun, dafür, dass ein Volk nicht existiert, kämpften die Libyer sehr gut. Und was die „Stämme“ angeht – wie kommt es, dass es nur in Afrika und Asien Stämme gibt, niemals unter Europäern? Warum nicht ein walisischer Stamm oder ein bayrischer Stamm?

(Als ich 1986 vor dem Friedensvertrag Jordanien besuchte, wurde ich von einem sehr zivilisierten, hochrangigen jordanischen Beamten eingeladen. Nach einer interessanten Unterhaltung beim Mittagessen überraschte er mich, als er erwähnte, er würde zu einem bestimmten Stamm gehören. Am nächsten Tag, als ich mit einem Pferd nach Petra ritt, fragte mich der Reiter neben mir mit leiser Stimme, ob ich „zum Stamm“ gehören würde. Ich brauchte eine Zeitlang, bis ich verstand, dass er mich fragte, ob ich Jude sei. Es scheint, dass amerikanische Juden über sich selbst in dieser Weise sprechen.)

Die „Stämme“ von Libyen würden in Europa „ethnische Gruppen“ genannt und in Israel „Kommunen“. Der Terminus „Stamm“ hat eine herablassende Assoziation. Wir sollten diesen Ausdruck nicht mehr benützen.

ALL JENE, die die Intervention der NATO verdammen, sollten auf eine einfache Frage antworten: Wer hätte denn sonst diesen Job getan?

Die Menschheit des 21. Jahrhunderts kann keine Akte von Genoziden und Massenmorden tolerieren, egal, wo sie geschehen. Sie können nicht zusehen, wenn Diktatoren ihr eigenes Volk abschlachten. Die Doktrin des „Nicht-Eingreifens“ in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten“ gehört in die Vergangenheit. Wir Juden, die wir die Menschheit angeklagt haben, untätig abseits gestanden zu haben, während Millionen Juden, einschließlich deutscher Bürger, von der legitimen deutschen Regierung vernichtet wurden, schulden der Welt gewiss eine Antwort.

Ich habe einige Male erwähnt, dass ich für eine Art effektiver Weltregierung sei und erwarte, dass es sie am Ende dieses Jahrhunderts gibt. Dies würde eine demokratisch gewählte Welt-Exekutive einschließen, die auch militärische Kräfte zu ihrer Verfügung hat, die eingreifen können, wenn ein Weltparlament dies entscheidet.

Damit dies geschieht, müssen die Vereinigten Nationen vollkommen umorganisiert werden. Die Veto-Macht muss verschwinden. Es ist unerträglich, dass die US mit einem Veto die Aufnahme Palästinas als Mitgliedstaat verhindern oder dass Russland und China mit einem Veto eine Intervention in Syrien verhindern kann.

Gewiss sollten die Stimmen der Großmächte wie die der USA und Chinas gewichtiger sein als – sagen wir mal – Luxemburg oder die Fidschi-Inseln, aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit in der Vollversammlung sollte die Macht haben, Washington, Moskau und Peking zu überstimmen.

Das mag Zukunftsmusik sein oder, wie andere sagen, ein Hirngespinst. Was die Gegenwart betrifft, so leben wir in einer sehr unvollkommenen Welt und müssen mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln auskommen. Die NATO ist leider eines davon. Die EU ist ein anderes, obwohl in diesem Fall das arme, ewig von schlechtem Gewissen geschlagene Deutschland sie gelähmt hat. Wenn Russland oder China sich ihr anschließen würden, wäre dies gut.

Dies ist kein fernes Problem. Gaddafi ist am Ende, aber Bashar al-Assad ist es nicht. Er schlachtet sein Volk ab, während Sie dies lesen, und die Welt sieht hilflos zu.

Gibt es Freiwillige, die bereit sind zu intervenieren?

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

Quelle: Mit ausdrücklicher Freigabe durch Uri Avnery an DL

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Rachel

Erstellt von Redaktion am 9. Juni 2011

Rachel

Rachel Avnery

von Uri Avnery. Uris Frau Rachel ist verstorben.

ICH HATTE das unverdiente Glück, 58 Jahre lang mit Rachel Avnery zusammen zu leben. Am Samstag, den 21. Mai nahm ich Abschied von ihr. Sie war im Tode genau so wunderbar, wie sie es im Leben war. Ich konnte meine Augen nicht von ihr wenden.

Ich schreibe dies, um mir zu helfen, das Unannehmbare anzunehmen. Ich bitte um Nachsicht.

WENN EIN Mensch mit einem Wort gekennzeichnet werden könnte, dann war es bei ihr: Empathie.

Sie hatte eine unheimliche Fähigkeit, die Gefühle anderer nachzuempfinden. Ein Segen und ein Fluch. Wenn jemand unglücklich war, so war sie es auch. Keiner konnte seine innersten Gefühle vor ihr verbergen.

Ihre Empathie berührte jeden, den sie traf. Sogar noch in den letzten Monaten. Ihre Pflegerinnen erzählten ihr bald ihre Lebensgeschichten.

Einmal gingen wir uns einen Film ansehen, der in einer kleinen slowakischen Stadt während des Holocaust spielte. Eine einsame, alte Frau verstand nicht, was geschah, als Juden zusammengetrieben wurden, um in die Todeslager deportiert zu werden, Nachbarn mussten ihr helfen, zum Sammelpunkt zu kommen.

Wir kamen spät und fanden im Dunkeln noch Plätze. Als das Licht am Ende anging, stand Menachem Begin direkt vor uns auf. Seine rot geweinten Augen trafen sich mit Rachels Augen. Seine Umgebung vergessend, ging Begin direkt auf sie zu, nahm ihren Kopf in seine Hände und küsste sie auf die Stirn.

IN VIELERLEI Hinsicht ergänzten wir einander. Ich neige zu abstraktem Denken, sie zu emotionaler Intelligenz. Ihre Weisheit schöpfte sie aus dem Leben. Ich bin introvertiert; sie ging auf die Menschen zu, obwohl sie ihre Privatsphäre schätzte. Ich bin ein Optimist; sie war eine Pessimistin. In jeder Situation sah ich positive Chancen; sie sah die Gefahren. Ich stand jeden Morgen fröhlich auf, bereit für die Abenteuer eines neuen Tages; sie stand spät auf mit dem Gefühl, dass der Tag nicht gut sein würde.

Unser persönlicher Hintergrund war sehr ähnlich: in Deutschland in jüdisch-bürgerliche, intellektuelle Familien geboren, die an Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit glaubten, verbunden mit einem tiefen Pflichtbewusstsein. Rachel hatte all dies in Hülle und Fülle. Sie hatte einen fast fanatischen Gerechtigkeitssinn.

Die ersten Wörter die Rachel je sprach, nachdem ihre Familie vor der Gestapo nach Capri geflohen war, waren „Mare schön“ italienisch für Meer, schön auf deutsch.

Sie hat niemals Deutsch lesen oder schreiben gelernt, hat die Sprache aber perfekt von ihren Eltern sprechen gelernt – sie korrigierte sogar meine grammatikalischen Fehler im Deutschen.

Rachel fehlte – leider – die preußische Pünktlichkeit. Das war eine ständige Quelle für Auseinandersetzungen zwischen uns. Ich fühle mich physisch unwohl, wenn ich nicht pünktlich bin. Rachel war immer, aber auch immer, zu spät.

DREIMAL TRAF ich sie zum ersten Mal.

1945 gründete ich eine Gruppe, um die Idee einer neuen hebräischen Nation zu propagieren, die ein Bestandteil der semitischen Region ist, wie die arabische Nation. Da wir zu arm waren, um ein Büro zu mieten, trafen wir uns in den Wohnungen von Mitgliedern.

Bei solch einem Treffen kam ein 14jähriges Mädchen herein, um zuzuhören. Sie war die Tochter des Vermieters. Ich bemerkte nebenbei, dass sie sehr hübsch ist.

Fünf Jahre später traf ich sie wieder, als ich eine bekannte Zeitschrift herausgab, mit der ich alles verändern wollte, einschließlich Werbung: Mädchen anstelle des damals gewöhnlich langweiligen Textes.

Wir brauchten für eine Anzeige ein hübsches Mädchen. Aber es gab keine professionellen Models im neuen Staat. Einer meiner Mitarbeiter hatte eine Theatergruppe. Er stellte mich einem Mitglied dieser Gruppe mit Namen „Rachel“ vor.

Wir machten ein paar Fotos am Strand, und ich nahm sie auf meinem Motorrad mit nach Hause. Wir fielen in den Sand und lachten nur.

Beim dritten Mal war es im selben experimentellen Theater. Dort erschien sie wieder, und irgendwann versuchte sie, mein Alter zu erraten und versprach für jedes falsch geschätzte Jahr einen Kuss. Sie tippte auf fünf Jahre zu jung und wir machten einen Termin aus, um das Versprechen zu erfüllen.

Wir verabredeten uns von Zeit zu Zeit. Einmal sollte ich sie um Mitternacht in einem Cafe treffen. Als ich nicht ankam, ging sie, um mich zu suchen. Sie fand eine Menge Leute vor meinem Büro. Es wurde ihr gesagt, ich sei im Krankenhaus. Einige Soldaten hätten mich angegriffen und mir alle Finger gebrochen.

Ich war hilflos. Rachel bot sich an, mir für einige Tage zu helfen. Sie dauerten 58 Jahre.

Wir fanden, dass wir zusammenleben könnten. Da wir religiöse Hochzeiten verachteten (zivile Hochzeiten gibt es in Israel nicht), lebten wir fünf Jahre in „wilder Ehe“. Dann wurde ihr Vater schwerkrank. Um ihn zu beruhigen, heirateten wir in Eile in der privaten Wohnung eines Rabbiners. Wir liehen uns die Zeugen einer andern Hochzeit aus und den Ring von der Frau des Rabbiners.

Es war das erste und letzte Mal, dass wir einen Ring trugen.

58 JAHRE LANG las sie vor der Veröffentlichung jedes Wort, das ich schrieb. Das war nicht einfach. Rachel hatte strenge Prinzipien und hielt sich an sie. Einige meiner Seiten waren voll roter Korrekturen. Zuweilen hatten wir ernste Diskussionen, aber am Ende gab einer nach – gewöhnlich ich. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen wir uns nicht einig werden konnten, schrieb ich, was ich wollte (und bedauerte es mehr als einmal).

Sie strich alle persönlichen Angriffe aus, die sie als ungerecht empfand. Auch Übertreibungen.

Jede logische Schwäche – sie fand jeden Widerspruch, der mir entgangen war. Sie verbesserte mein Hebräisch. Aber meistens fügte sie das Zauberwort „fast“ hinzu.

Ich neigte zum Verallgemeinern. „Alle Israelis wissen…“, „Politiker sind zynisch…“ – Sie veränderte dies in „Fast alle Israelis …“,“ die meisten Politiker sind …“ Wir scherzten, dass sie meine Artikel mit „fast“ bestreute, wie ein Koch Salz über die Suppe streut.

Sie schrieb nie selbst einen Artikel. Noch gab sie Interviews. Auf solche Fragen hin antwortete sie: „Wofür habe ich denn einen Sprecher geheiratet?“

IHR WIRKLICHES Talent lag wo anders. Sie war die perfekte Lehrerin, eine Berufung, die sie 28 Jahre lang ausübte.

Dazu kam es fast durch Zufall: als sie in der Armee diente und einen Lehrkurs absolvierte.

Bevor der Kurs zu Ende war, wurde sie praktisch von einem Grundschulleiter gekidnappt. Lange, bevor sie ihre Lehrprüfung abgeschlossen hatte, war sie eine Legende. Eltern mit Verbindungen ließen ihre Beziehungen spielen, um ihre Kinder in ihre Klasse zu bekommen. Es gab einen Witz, dass Mütter ihre Schwangerschaft so planten, dass das Kind dann sechs Jahre alt sein würde, wenn Rachel wieder in der ersten Klasse unterrichtete. (Sie war nur einverstanden, die erste und zweite Klasse zu unterrichten – als letzte Chance, den Charakter eines Kindes zu formen.)

Ihre Schüler schlossen Kinder von berühmten Künstlern und Literaten ein. Vor kurzem rief uns ein Mann mittleren Alters auf der Straße zu: „Lehrerin Rachel, ich war ihr Schüler in der ersten Klasse, ich verdanke Ihnen alles!“

Wie machte sie das? Indem sie die Kinder wie Menschen behandelte und bei ihnen die Selbstachtung entwickelte. Wenn ein Junge nicht lesen konnte, gab sie ihm den Auftrag, für Ordnung im Klassenzimmer zu sorgen. Wenn ein Mädchen von hübscheren Klassenkameradinnen zurückgewiesen wurde, war sie in einem Spiel die gute Fee. Sie war glücklich, wenn sie sah, dass die Kinder wie Blumen in der Sonne aufblühten. Sie verbrachte Stunden damit, rückständigen Eltern zu erklären, was ihre Kinder benötigten.

Während der Schulferien sehnten sich ihre Kinder in die Schule zurück.

ES WAR ihr Ziel, ihren Schülern menschliche Werte einzuflößen.

Da gab es die Geschichte von Abraham und dem Begräbnisplatz für Sarah. Ephron, der Hittiter weigerte sich, Geld anzunehmen. Abraham aber bestand darauf zu bezahlen. Nach einem langen und wunderbaren Wortwechsel bringt Ephron dies zu Ende und sagt: „Dieses Land ist 400 Silberschekel wert. Was ist das aber zwischen mir und dir?“ (Genesis 23) Rachel erzählte den Kindern, dass dies heute noch so bei den Beduinen sei, wenn sie Geschäfte abschließen; es führt zu einem Handel auf zivilisierte Weise.

Nach dem Unterricht fragte Rachel die Lehrerin der Parallelklasse, wie sie diese Episode ihren Schülern erklärte. „Ich sagte ihnen, dass dies eine typisch arabische Heuchelei sei. Sie werden alle als Lügner geboren. Wenn er Geld wollte, warum sagte er es dann nicht gleich?“

Ich möchte denken, dass alle Kinder in Rachels Klassen – oder fast alle – bessere Menschen geworden sind.

Ich verfolgte ihre pädagogischen Experimente, und sie meine journalistischen und politischen Abenteuer. Grundsätzlich versuchten wir dasselbe: sie erzog Individuen, ich die Allgemeinheit.

NACH 28 JAHREN hatte Rachel das Gefühl, dass sie nicht mehr so wirken konnte, wie sie wollte. Sie glaubte, ein Lehrer solle nicht weitermachen, wenn sein Eifer nachgelassen habe.

Der letzte Anstoß kam, als ich 1982 die Frontlinie im belagerten Beirut überquert hatte und mich mit Yasser Arafat traf. Es war eine Weltsensation. Mit mir waren zwei junge Frauen meines Redaktionsstabes, eine Korrespondentin und eine Fotografin. Rachel fühlte sich bei einem der aufregendsten Ereignisse meines Lebens ausgeschlossen und entschied sich, die Richtung zu ändern.

Ohne es mir zu sagen, nahm sie an einem Fotokurs teil. Wochen später legte man mir Fotos für eine Reportage vor. Ich wählte die besten aus – und es stellte sich heraus, dass das die Ihrigen waren. Das Geheimnis war gelüftet. Sie wurde eine begeisterte Fotografin mit einem bemerkenswerten kreativen Talent – immer auf die Menschen konzentriert.

ALS ANFANG 1993 Yitzhak Rabin 215 islamische Aktivisten über die Libanongrenze deportierte, wurden gegenüber seinem Büro Protestzelte aufgestellt. Wir zelteten dort 45 Wintertage und -nächte. Rachel, die einzige Frau, war die ganze Zeit dabei. Es entstand eine wunderbare Freundschaft zwischen ihr und dem extremsten islamischen Sheikh Raed Salah. Er hatte große Achtung vor ihr. Sie scherzten miteinander.

In diesen Zelten gründeten wir Gush Shalom. Für sie war die Ungerechtigkeit, die man den Palästinensern antat, unerträglich.

Sie war die Fotografin all unserer Veranstaltungen. Sie machte Bilder von Hunderten unserer Demonstrationen, lief rund herum, machte Schnappschüsse von vorne und hinten, manchmal in Wolken von Tränengas – obwohl ihr Arzt sie davor warnte. Zweimal brach sie in der brennenden Sonne zusammen, während wir schwieriges Terrain überquerten, um gegen die Mauer zu protestieren.

Als Gush Shalom einen Finanzmanager benötigte, meldete sie sich freiwillig. Obwohl es ganz gegen ihre Natur war, wurde sie eine peinlich genaue Verwalterin mit preußischem Pflichtbewusstsein und arbeitete am Küchentisch bis spät in die Nacht. Sie bevorzugte aber ihre inoffizielle Funktion – den menschlichen Kontakt mit den Aktivisten zu halten, ihren Problemen zuzuhören. Sie war die Seele der Bewegung.

SIE KONNTE auch sehr aggressiv sein. Sie war weit davon entfernt, ein blauäugiger Weltverbesserer zu sein, so verabscheute sie Lügner, Heuchler und Leute, die Übles taten.

Sie mochte Ariel Sharon nicht, auch nicht während der Jahre, als wir einander besuchten und über den 1973er Krieg sprachen.

Lili Sharon liebte sie und Arik auch. Es gibt ein Foto von ihm, wo er sie mit seiner Lieblingsspeise fütterte ( Essen war für sie unwichtig) Rachel ließ mich nie jemanden dies Foto zeigen. Nach dem Libanonkrieg brachen wir die Verbindung ab.

Einmal bemerkte mich Dov Weissglas, Sharons Vertrauter, in einem Restaurant, kam zu mir, um mir die Hand zu reichen. Rachel mochte ihn gar nicht, wegen seiner gehässigen Bemerkungen über die Palästinenser. Rachel ließ seine Hand in der Luft. Peinlich.

Wenn sie Menschen liebte, zeigte sie es. Sie mochte Yassir Arafat,und er liebte sie. Wir besuchten ihn mehrmals in Tunis und später in Palästina. Und er behandelte sie mit äußerster Höflichkeit, erlaubte ihr, ihn nach Belieben zu fotografieren, überschüttete sie mit Geschenken. Einmal schenkte er ihr eine Halskette und bestand darauf, sie ihr selbst umzulegen. Doch mit seinen schlechten Augen fummelte er lange Zeit herum. Es war ein wunderbarer Anblick. Aber sein offizieller Fotograf reagierte nicht. Rachel war wütend.

Als wir als menschliches Schutzschild für den in seinem Ramallahsitz belagerten Arafat dienten, küsste er sie auf die Stirn und führte sie an der Hand zum Ausgang.

NUR WENIGE Leute wussten, dass sie eine unheilbare Krankheit – Hepatits C – hatte. Diese lag wie ein schlafender Leopard an ihrer Türschwelle. Sie wusste, dass er jede Minute aufwachen und sie verschlingen konnte.

Die ungeklärte Infektion wurde vor mehr als 20 Jahren entdeckt. Jeder Arzttermin hätte ein Todesurteil sein können. Vor fünf Monaten brach sie zusammen. Es gab vorher viele Anzeichen, die ich ignorierte, die sie aber klar sah.

Während dieser fünf Monate verbrachte ich jede Minute mit ihr. Jeder einzelne Tag war ein Geschenk für mich, obwohl sie immer tiefer sank. Wir wussten es beide, gaben aber vor, es sei alles in Ordnung.

Sie hatte keine Schmerzen, aber immer größere Schwierigkeiten zu essen, sich zu erinnern und gegen das Ende auch zu sprechen. Es war herzzerreißend, zu sehen, wie sie um Worte kämpfte. Zwei Tage lang lag sie im Koma und dann schlief sie, ohne das Bewusstsein wieder zu erlangen, ohne Schmerzen ein.

Sie bestand darauf, dass nichts getan wird, um ihr Leben künstlich zu verlängern. Es war ein schrecklicher Augenblick, als ich die Ärzte bat, mit allen Bemühungen aufzuhören und sie sterben zu lassen.

Auf ihren Wunsch hin wurde ihr Körper – gegen die jüdische Tradition – eingeäschert. Ihre Asche wurde an Tel Avivs Küste im Meer verstreut – gegenüber dem Fenster, wo sie so oft zum Meer hinausgeschaut hatte. So die Worte von William Wordsworth, den sie liebte und oft zitierte:

But she is in her grave,

and ohthe difference to me.”

EINMAL, in einem Moment der Schwäche, der von einem Filmemacher ausgenützt wurde, beklagte sie sich, dass ich nie gesagt hätte, „Ich liebe dich“. Das stimmt. Ich finde diese drei Wörter unverbesserlich banal, vom Hollywood-Kitsch entwertet. Sicher entsprechen sie nicht meinen Gefühlen ihr gegenüber – sie war ein Teil von mir geworden.

Als sie das Bewusstsein verlor, flüsterte ich: „Ich liebe dich“. Ich weiß nicht, ob sie es noch hörte.

Nachdem sie gestorben war, saß ich noch eine Stunde lang und betrachtete ihr Gesicht. Sie war wunderschön.

Ein deutscher Freund sandte mir ein deutsches Sprichwort, das ich merkwürdig tröstlich finde:

„Seid nicht traurig, dass sie von uns ging,

 freut euch, dass wir so lange mit ihr zusammenleben durften.“

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs., vom Verfasser autorisiert)

Übernommen mit der Genehmigung von Uri Avnery

IE

Im Namen von DL und allen Lesern sprechen wir unsere Anteilnahme aus.

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Die Zwerge

Erstellt von Redaktion am 21. März 2011

Die Zwerge

Autor Uri Avnery

Jerusalem ist voll brillanter neuer Ideen. Die besten Köpfe unseres politischen Establishments schlagen sich mit dem Problem herum, das die anhaltende arabische Revolution geschaffen hat, die die Landschaft rund um uns neu gestaltet.

Hier ist die letzte Ernte unglaublich origineller Ideen.

Der Verteidigungsminister Ehud Barak hat angekündigt, dass er dabei ist, von den US eine weitere Subvention von 20 Milliarden zu erbitten für mehr Kampfflugzeuge, die technisch auf dem neuesten Stand sind, Raketenboote, ein Unterseeboot, Truppentransporter und anderes.

Ministerpräsident Binyamin Netanyahu ließ ein Photo machen, bei dem er von Soldatinnen umgeben ist – wie Muammar Qaddafi in den guten alten Zeiten – wie er über den Jordan blickt und verkündet, dass die israelische Armee niemals das Jordantal verlassen würde. Nach ihm ist dieser besetzte Streifen Land Israels vitale „Sicherheitsgrenze“.

Dieser Slogan ist so alt wie die Besetzung selbst. Es war ein Teil des berühmten Allon-Planes, der es darauf abgesehen hatte, die Westbank mit israelischem Gebiet zu umgeben. Zufällig war der Vater des Planes Yigal Allon auch ein Führer der Kibbuz-Bewegung, und das Jordantal war für ihn ein ideales Gebiet für neue Kibuzzim – es ist flach, gut bewässert und war gering besiedelt.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Als Allon legendärer Kommandeur im Krieg von 1948 war, träumte er noch nicht einmal von Raketen. Heute erreichen die von jenseits des Jordan abgefeuerten Raketen leicht mein Haus in Tel Aviv. Wenn Netanyahu erklärt, dass wir das Jordantal benötigen, um die Araber daran zu hindern, Raketen auf die Westbank zu schmuggeln, scheint er, ein wenig hinter seiner Zeit zurück geblieben zu sein.

Wenn die Politiker tapfer der neuen Welt entgegensehen, bleibt die Armee nicht zurück. In der letzten Woche verkündeten mehrere Divisionskommandeure, dass sie sich für einen gewaltfreien Massenaufstand in der Westbank im Tahrir-Stil vorbereitet hätten. Die Soldaten werden trainiert, Mittel zur Aufstandsbekämpfung sind vorrätig. Unsere glorreiche Armee ist für noch einen kolonialen Polizeijob vorbereitet.

Um die geistige Kraft der Führung zu stärken, hat Netanyahu jetzt einen Mann mit scharfem Intellekt mobilisiert: er ernannte General Yaacov Amidror zum Chef des Nationalen Sicherheitsrats. Amidror, der höchstrangige Kipa-tragende Offizier in der Armee, hat nie seine ultra-ultra-nationalistischen Ansichten, einschließlich seiner totalen Opposition gegen einen palästinensischen Staat und Frieden im allgemeinen verheimlicht. Er ist übrigens der Offizier, der kürzlich beifällig bemerkte, dass einige Armeen den Soldaten, die sich nicht am Angriff beteiligen, „ eine Kugel in den Kopf jagen.“

Es passt sehr gut, dass Netanyahu in dieser Woche die Nationale Front Partei eingeladen hat, die offen faschistische Elemente einschließt, sich seiner Regierung anzuschließen. Sie weigerte sich, weil Netanyahu ihnen nicht extrem genug ist.

Mittlerweile versuchen ein Dutzend Spitzenpolitiker von Avigdor Lieberman abwärts zum Scheitern verurteilte Pläne für „Interimsabkommen“ neu zu beleben – alte Handelswaren, die in den Regalen verstauben, da es keine Käufer für sie gibt.

Alles in allem politische Zwerge, die mit einer neuen revolutionären Realität konfrontiert werden, die sie nicht verstehen und mit der sie nicht fertig werden. ( Ich will damit keine Zwergwüchsigen beleidigen, die natürlich so intelligent wie alle anderen sind.)

Mit diesem Haufen von Führern ist es fast utopisch, zu fragen, was wir tun könnten oder tun sollten, um uns auf die neue geopolitische Realität einzustellen.

Nehmen wir an, dass die arabische Welt oder große Teile von ihr auf dem Weg zur Demokratie und zu sozialem Fortschritt sind – wie wird sich dies auf unsere Zukunft auswirken?

Könnten wir zu solch progressiven Gesellschaften Brücken schlagen? Könnten wir sie davon überzeugen, uns als legitimen Teil der Region zu akzeptieren? Könnten wir an der politischen und wirtschaftlichen Entstehung einer neuen geopolitischen Realität eines „neuen Nahen Ostens“ teilnehmen?

Ich bin davon überzeugt, dass wir es können. Die absolute, unveränderliche Voraussetzung jedoch ist, dass wir mit dem palästinensischen Volk Frieden schließen.

Es ist die unerschütterliche – und sich selbst erfüllende – Verurteilung des ganzen israelischen Establishments, dass dies unmöglich ist. Sie haben völlig Recht – solange sie im Amt sind, ist es unmöglich. Mit einer anderen Führung aber, würden sich die Dinge ändern?

Wenn beide Seiten – und dies hängt sehr von Israel der unvergleichlich stärkeren Seite ab – wirklich Frieden wollen, ist der Frieden in Reichweite? Alle Bedingungen liegen klar auf dem Tisch. Sie sind endlos diskutiert worden. Die Kompromisse sind klar bezeichnet worden. Es würde nicht länger als ein paar Wochen dauern, um die Details auszuarbeiten. Die Grenzen, Jerusalem, die Siedlungen, die Flüchtlinge, das Wasser, die Sicherheit – wir kennen inzwischen die Lösungen. (Ich und andere habe sie schon mehrere Male aufgezählt). Was nun allein noch fehlt, ist der politische Wille.

Ein Friedensabkommen – von der PLO unterzeichnet, in einem Referendum vom palästinensischen Volk ratifiziert, von der Hamas angenommen – würde die Haltung der arabischen Völker gegenüber Israel radikal verändern.

Dies ist keine formelle Angelegenheit – es ginge zum Kern des nationalen Bewusstseins. Keine der anhaltenden Aufstände in verschiedenen arabischen Ländern ist von Natur aus anti-israelisch. Nirgendwo schreien die Massen nach einem Krieg. Die Idee eines Krieges widerspräche wirklich ihren grundsätzlichen Hoffnungen: sozialer Fortschritt, Freiheit, ein Standard, der ein Leben in Würde erlaubt.

Doch, solange die Besatzung der palästinensischen Gebiete anhält, weisen die arabischen Massen eine Versöhnung mit Israel ab. Egal welche Gefühle jedes spezielle arabische Land gegenüber den Palästinensern hat – alle Araber fühlen sich zu tiefst verpflichtet, bei der Befreiung ihrer arabischen Landsleute mitzuhelfen. Wie ein ägyptischer Führer einmal zu mir sagte: „Sie sind unsere armen Verwandten und unsere Tradition erlaubt es nicht, einen armen Verwandten im Stich zu lassen. Es ist eine Sache der Ehre.“

Deshalb wird Israel bei jeder freien Wahl in arabischen Ländern eine Rolle spielen, und jede Partei wird sich verpflichtet fühlen, Israel zu verurteilen.

Ein Argument gegen den Frieden ist, dass die Hamas ihn nie akzeptieren wird – so wird es in unserer offiziellen Propaganda endlos wiederholt. Das Schreckgespenst der islamistischen Bewegungen, das in anderen Ländern demokratische Wahlen gewinnt – wie die Hamas in Palästina – wird als tödliche Gefahr an die Wand gemalt.

Man sollte sich daran erinnern, dass die Hamas tatsächlich von Israel geschaffen wurde.

Während der ersten Jahrzehnte der Besatzung haben die Militärgouverneure jede Art palästinensischer politischer Tätigkeit verboten, selbst jene, die sich für Frieden mit Israel aussprach. Aktivisten kamen ins Gefängnis. Es gab nur eine Ausnahme: die Islamisten. Es war nicht nur unmöglich, sie daran zu hindern, sich in der Moschee zu versammeln – dem einzigen öffentlichen Raum, der offen gelassen wurde. Die militärischen Gouverneure wurden sogar angewiesen, die islamischen Organisationen zu ermutigen – als Gegenkraft gegen die PLO, die als Hauptfeind angesehen wurde. Die PLO war und blieb nicht religiös – mit vielen Christen, die in ihr eine bedeutende Rolle gespielt haben.

Das war natürlich eine dumme Idee, typisch für die politische Kurzsichtigkeit unserer politischen und militärischen Führer, soweit es arabische Angelegenheiten betraf. Beim Ausbruch der 1. Intifada konstituierte sich auch die islamische Bewegung als Hamas („Islamistische Widerstandbewegung“), die den Kampf aufnahm.

Das Auftauchen der Hisbollah war auch eine Folge israelischer Aktionen. Als Israel 1982 in den Libanon einfiel, um den PLO-Ministaat im Süden des Landes zu zerstören, schuf es dort ein Vakuum, das bald mit der neu gegründeten schiitischen „Partei Gottes“, der Hisbollah, aufgefüllt war.

Beide – die Hamas und die Hisbollah – streben in ihren Ländern nach der Macht, das ist ihr Hauptziel. Für beide bedeutet der Kampf gegen Israel mehr ein Mittel als ein Ziel. Wenn einmal Frieden erreicht ist, werden sich ihre Energien auf den Kampf nach Macht in ihren Ländern konzentrieren.

Wird die Hamas Frieden akzeptieren? Sie hat es indirekt so erklärt: wenn die palästinensische Behörde Frieden machen und das Friedensabkommen durch ein palästinensisches Referendum ratifiziert würde, dann würde die Hamas es als Ausdruck des Volkswillen akzeptieren. Dasselbe gilt für alle islamischen Bewegungen in den verschiedenen arabischen Länden – mit Ausnahme von al-Qaida und ähnlichen, die keine nationale politischen Parteien eines Landes sind, sondern internationale verschwörerische Organisationen.

Mit einem von den Palästinensern frei akzeptierten Friedensvertrag als die Erfüllung ihrer nationalen Bestrebungen würde jede Intervention durch andere arabischen Länder überflüssig, wenn nicht ausgesprochen lächerlich machen. Die Hisbollah, die Muslimbruderschaft und ähnliche national religiöse Organisationen werden ihre Bemühungen darauf konzentrieren, innerhalb neuer demokratischer Strukturen Macht zu erlangen.

Wenn dieses Hindernis beseitigt ist, wird Israel von den arabischen Massen als das beurteilt, was es in jener Zeit sein wird. Wir werden die historische Chance haben, an der Neugestaltung der ganzen Region teilzunehmen. Unsere Taten werden sprechen.

Vor mehr als 50 Jahren machte der damalige Kronprinz von Marokko Moulai Hassan, der spätere König Hassan II. einen historischen Vorschlag: Man sollte Israel einladen, sich der Arabischen Liga anzuschließen. Zur damaligen Zeit erschien die Idee absonderlich und wurde bald wieder vergessen . (Abgesehen vom König selbst, der mich daran erinnerte, als er mich 1981 im Geheimen empfing.)

Mit einer neuen arabischen Welt in Aussicht nimmt diese utopische Idee heute plötzlich realistische Züge an. Ja, nach einem Frieden mit dem freien und souveränen Staat Palästina, einem Vollmitglied der UNO, einer reformierten regionalen Struktur, einschließlich Israel, vielleicht mit der Türkei und zu gegebener Zeit auch mit dem Iran, wird sie in den Bereich der Wirklichkeit rücken.

Eine Region mit offenen Grenzen mit blühender Handels- und Wirtschaftskooperation von Marrakesch bis Mosul, von Haifa bis Aden innerhalb von ein oder zwei Generationen – ja, das ist eine der Möglichkeiten, die sich bei den augenblicklichen erdbebenartigen Ereignissen auftun.

Solch eine Entwicklung würde natürlich einen totalen Wandel bei unsern grundlegenden Konzepten erforderlich machen, von denen einige so alt sind wie der Zionismus selbst und vielleicht noch älter.

Es wird nicht geschehen, so lange unser politisches und intellektuelles Leben von Leuten wie Netanyahu, Lieberman, Barak, Eli Yishai, Shimon Peres und ihresgleichen beherrscht wird. Die politische Bühne muss von diesem ganzen Schwung von Zwergen gereinigt werden.

Kann das geschehen? Wird dies geschehen? „Realisten“ werden den Kopf schütteln, wie sie es taten, bevor die Deutschen ihre Mauer einrissen, bevor Boris Yeltsin auf jenen Panzer kletterte, bevor die Amerikaner einen afro-amerikanischen Präsidenten wählten, dessen mittlerer Name Hussein ist.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

Quelle: Uri Avnery

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Die falsche Seite

Erstellt von Redaktion am 12. März 2011

Die falsche Seite

Autor Uri Avnery

Von allen erinnerungswerten Sätzen, die von Barack Obama in den letzten zwei Jahren geäußert wurden, ist mir einer aus seiner historischen Rede, die er in Kairo zu Beginn seiner Amtszeit gehalten hat, mehr als jeder andere im Gedächtnis geblieben. Er warnte die Nationen davor, sich „auf die falsche Seite der Geschichte“ zu stellen.

Es scheint, dass die arabischen Nationen diesem Ratschlag mehr Beachtung geschenkt haben, als er erwartet hatte. In den letzten Wochen sprangen sie von der falschen auf die richtige Seite der Geschichte. Und was für ein Sprung das war!

Unsere Regierung bewegt sich jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Sie ist entschlossen, so wie es scheint, sich so weit wie möglich von der richtigen Seite zu entfernen.

Wir sind in einer Sackgasse. Und es liegt in der Natur der Sackgasse, dass man, je tiefer man dort hineingerät, umso weiter zurückgehen muss, wenn die Zeit kommt.

Diese Woche fand ein faszinierendes Telefongespräch statt. An einem Ende war Benjamin Netanyahu, an dem anderen die deutsche Bundeskanzlerin.

In den vergangen Zeiten sprachen die Weltführer grundsätzlich nicht direkt miteinander. Bismarck nahm nicht das Telefon, um mit Napoleon III. zu sprechen. Er hatte routinierte Diplomaten gesandt, die genau wussten, wie man Kanten glättet und wie man mit sanfter Stimme ein Ultimatum überbringt.

Netanyahu rief an, um Angela Merkel wegen Deutschlands Votum zugunsten der Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Verurteilung der Siedlungen zurechtzuweisen – der Resolution, die durch das skandalöse Veto der USA verhindert wurde. Ob unser Premierminister den Holocaust erwähnt hat, weiß ich nicht, aber mit Sicherheit brachte er seinen Ärger zum Ausdruck, dass Deutschland es gewagt habe, gegen den „jüdischen Staat“ zu stimmen.

Über die Antwort war er schockiert. An Stelle einer reuevollen Frau Merkel, die sich unterwürfig entschuldigt, hörte sein Ohr die Vorwürfe einer Schullehrerin, die ihm klipp und klar ihre Meinung sagte. Sie sagte ihm, dass er all seine Versprechen gebrochen hätte und dass keiner der Weltführer auch nur einem einzigen seiner Worte von nun an Glauben schenken werde. Sie verlangte von ihm, dass er mit den Palästinensern Frieden schließe.

Wenn jemand wie Netanyahu als „sprachlos“ gelten könnte, wäre dies in diesem Moment geschehen. Zu Netanyahus Glück kann ihm so etwas jedoch einfach nie passieren.

Dieses Gespräch ist ein Symptom eines fortschreitenden Prozesses – der langsamen, aber ständigen Verschlechterung von Israels internationalem Ansehen.

In Israel nennt man das „Delegitimatsia“. Man sieht darin eine unheimliche, weltweite Verschwörung, eher analog den ‚Protokollen der Weisen von Zion’. Ganz klar, es steht mit nichts im Zusammenhang, was wir tun – da ja all unsere Taten so rein wie Gold sind. Die einleuchtende Folgerung daraus: Israels Feinde in der ganzen Welt – einschließlich ihrer Fünften Kolonne in Israel selbst – planen insgeheim die Zerstörung Israel mit Hilfe aller Boykottarten.

Unsere Führer wissen, wie man diesen geplanten Anschlag verhindern kann –nämlich, indem Gesetze erlassen werden. Jeder, der den Feinden Israels Listen von Unternehmen, die in den Siedlungen ansässig sind, liefert, wird bestraft. Jeder, der zu einem Boykott gegen Israel oder die Siedlungen aufruft, ist – in den Augen der Gesetzesmacher ein und dasselbe – er muss astronomische Strafgelder und Entschädigungen zahlen, Millionen Dollar. Und wenn all das noch nicht hilft, dann werden die Feinde des Regimes ins Gefängnis gesteckt, so wie es bereits Jonathan Pollak, einem Demonstranten für Frieden, ergangen ist.

Aber es hat den Anschein, unsere Führer verlassen sich nicht einzig und allein auf diese Maßnahmen . Deshalb entschied unser stellvertretender Außenminister, Danny Ayalon (erinnern Sie sich?, das Genie, das den türkischen Botschafter demütigen wollte, indem er ihn auf einen niedrigen Stuhl platzierte), entschied, nach noch radikaleren Mitteln zu greifen: Alle israelischen Botschafter werden nun zu einem historischen Treffen mit unserem Urvater Abraham zur Höhle von Machpela in Hebron gesandt, der gemäß dem jüdischen Glauben dort beerdigt ist (Archäologen denken, dass es ein muslimischer Scheich ist, der dort liegt.)

Im Ernst, unsere Führer sehen nun aus wie der Junge in der Legende, der seinen Finger in den Deich steckt, um das Wasser aufzuhalten, obwohl in unserem Falle der gesamte Deich bereits bröckelt.

Ja, Israels Ansehen in der Welt sinkt tatsächlich ständig weiter, aber nicht aufgrund eines weltweit geplanten Anschlags, bei dem sich „Antisemiten“ und „selbsthassende Juden“ vereinen.

Unser Ansehen sinkt, weil wir auf der falschen Seite der Geschichte stehen.

Israel hat seit Jahrzehnten ein Besatzungsregime aufrecht erhalten. Es fährt damit fort, ein anderes Volk zu beherrschen und zu demütigen. Ideologisch und praktisch lebt es in der mentalen Welt des 19. Jahrhunderts, wohingegen der Rest der Welt zum Leben im 21. Jahrhundert startet. Israels Politik ist schlicht und einfach anachronistisch.

Das 21. Jahrhundert wird das Zusammenkommen der Nationen sehen. Es wird den Beginn einer Weltordnung sehen, und ich habe keinerlei Zweifel, dass dieser Gedanke realisiert werden wird.

Dies ist keine Vision von blauäugigen Idealisten. Es ist eine bedeutende Notwendigkeit für die Menschenrasse und all ihre Völker und Nationen. Die Welt ist mit Problemen konfrontiert, die kein Einzelstaat oder keine Staatengruppe selbst lösen kann. Die globale Erwärmung, die die gesamte Existenz der menschlichen Spezies bedroht, ist naturgemäß ein Weltproblem. Die kürzliche Wirtschaftskrise hat gezeigt, der Zusammenbruch der Wirtschaft eines Landes kann sich wie ein Lauffeuer über die gesamte Welt verbreiten . Das Internet hat eine weltweite Gemeinschaft aufgebaut, mit deren Hilfe Gedanken leicht von Land zu Land verbreitet werden können, so wie wir es gerade in der arabischen Welt sehen können.

Internationale Institutionen, die einst nur Spott ernteten, sind im Begriff, eine effektive Gerichtsbarkeit zu erlangen. Der Internationale Gerichtshof hat an Einfluss gewonnen. Das Völkerrecht, das in der Vergangenheit hauptsächlich eine abstrakte Idee war, entwickelt sich langsam zu einem echten Weltrecht. Bedeutende und mächtige Länder wie Deutschland und Frankreich geben einen Großteil ihrer Souveränität zugunsten der Europäischen Union ab. Die regionale und weltweite Kooperation zwischen den Nationen wird zu einer politischen Notwendigkeit.

Konzepte wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte, sind nicht nur moralische Werte – in der Welt von heute werden sie zu wesentlichen Notwendigkeiten, zur Basis einer neuen Weltordnung.

All diese Prozesse gehen unerträglich langsam voran, geradezu in geologischem Tempo. Aber die Richtung ist unmissverständlich und kann nicht wieder umgekehrt werden. Was immer auch Barack Obamas Handlungen – oder das Ausbleiben dieser – bewirkten, seiner Intuition in Bezug auf die Richtung kann man vertrauen.

Das ist die „richtige Seite der Geschichte“. Aber unser Land verschließt davor seine Augen. Wahrhaftig übertrifft es die meiste internationale Industrie und Hochtechnologie und arbeitet mit Erfolg an der Ausdehnung seiner wirtschaftliche Beziehungen zu den entferntesten Punkten der Welt. Aber es verschmäht die internationale öffentliche Meinung, die UNO und das internationale Recht. Es hält an einer Art des Nationalismus’ fest, die zur Zeit der französischen Revolution „modern“ war, als der „Nationalstaat“ das höchste Ideal war. Selbstverständlich ist der Nationalismus nicht tot und hat sogar heute noch einen bedeutenden Platz in dem Bewusstsein der Völker. Aber dabei handelt es sich um eine völlig neue Form von Nationalismus, den Nationalismus des 21. Jahrhundert, der nicht im Widerspruch zum Internationalismus steht, sondern im Gegenteil, der einen Baustein im Bauwerk der internationalen Struktur darstellt.

Die arabischen Nationen sind plötzlich aus einem Jahrhunderte langen Schlummer aufgewacht und kämpfen nun, um die anderen Nationen einzuholen. Die anachronistischen Tyrannen, die sie unten hielten, ihre Fähigkeiten verschwendeten und ihnen Muster vergangener Zeiten aufzwangen, gibt es nicht mehr.

Es ist schwer erkennbar, wohin diese Aufstände, die die Region von Marokko bis Oman und von Syrien bis zum Jemen erfasst haben, gehen werden. Es fällt schwer. etwas vorherzusagen, besonders die Zukunft.

2011 mag für die arabische Welt das sein, was 1848 für Europa war. Damals, als das französische Volk sich erhob, breiteten sich die Wellen der Revolution über einen Großteil der Fläche des Kontinents aus. Es scheint, dass ich nicht der einzige bin, der jetzt an dieses Beispiel erinnert wird. Viel kann daraus gelernt werden und nicht alles ist positiv. In Frankreich beseitigte der Aufstand ein korruptes Regime, aber er ebnete den Weg für den Aufstieg von Napoleon III., den ersten der modernen Diktatoren Europas. In Deutschland, damals in Dutzende Königreiche und Fürstentümer zersplittert, waren die Machthaber verängstigt und versprachen so demokratische Reformen. Aber während die Debatten der Juristen und Politiker in Frankfurt über die Zukunft des Grundgesetzes weiter und weiter gingen, versammelten die Könige ihre Armeen, vernichteten die Demokraten und starteten eine neue Ära der Unterdrückung. (Der Fehlschlag der Frankfurter Versammlung kommt zum Ausdruck in dem unsterblichen deutschen Vers: “ Dreimal hundert Professoren! Vaterland, du bist verloren!“)

Die Revolutionen von 1848 hinterließen ein Vermächtnis von Enttäuschung und Verzweiflung. Aber sie waren nicht umsonst. Die noblen Ideen, die in diesen stürmischen Monaten entstanden sind, sind nicht „gestorben“, zukünftige Generationen strebten danach, sie in allen Ländern des Kontinents zu realisieren. Die jetzige Fahne von Deutschland entstand in jenen Tagen.

Die arabischen Revolutionen mögen auch in Misserfolg und Enttäuschung enden. Sie mögen neue Diktaturen entstehen lassen. Hier und da mögen anachronistische religiöse Regime aufkommen. Jedes arabische Land ist anders als die anderen, und in jedem werden sich die Entwicklungen den Bedingungen vor Ort unterordnen. Aber was sich gestern in Tunesien und Ägypten ereignet hat, was sich heute in Libyen und im Jemen abspielt und was morgen in Saudi Arabien und Syrien geschieht, wird das Profil der arabischen Länder über einen langen Zeitraum prägen. Sie werden eine vollkommen neue Rolle auf der Weltbühne spielen.

Israel wird von den Siedlern beherrscht, die geistig den Kreuzfahrern des 12. Jahrhunderts gleichen. Fundamentalistische religiöse Parteien, die sich nicht allzu sehr von ihren iranischen Kontrahenten unterscheiden, spielen eine bedeutende Rolle in unserem Staat. Die politische und wirtschaftliche Elite ist von Korruption durchdrungen. Unsere Demokratie, auf die wir so stolz waren, ist in Todesgefahr.

Einige Menschen argumentieren, dass all dieses geschieht, weil „Netanyahu keine politische Linie hat“. Nonsens! Er hat eine klare Politik: Israel als Garnisonsstaat aufrecht zu erhalten, um die Siedlungen auszudehnen, um die Gründung eines echten Palästinenserstaates zu verhindern und ohne Frieden in einem Staat des ewigen Konfliktes weiterzumachen.

Gerade jetzt hat man durchsickern lassen, dass Netanyahu eine historische Rede halten wird – eine weitere – sehr bald. Nicht in der Knesset, deren Bedeutung beinahe gleich Null ist, sondern in einem wirklich bedeutenden Forum: der AIPAC, der Pro-Israel-Lobby in Washington.

Dort wird er seinen Friedensplan offen legen, von dem ebenfalls Einzelheiten durchgesickert sind. Ein wundervoller Plan, mit nur einem geringen Fehler: Er hat nichts mit Frieden zu tun.

Er schlägt vor, einen Palästinenserstaat in „provisorischen Grenzen“ zu errichten. (bei uns ist nichts beständiger als das „Provisorische“). Er wird aus der Hälfte der Westbank bestehen. (Die andere Hälfte, einschließlich Ost-Jerusalem, wird vermutlich mit Siedlungen bedeckt werden). Für die Diskussion über die Kernthemen – wie Grenzen, Jerusalem, Flüchtlinge usw. – wird es einen Zeitplan geben. (In Oslo wurde ein Zeitplan von fünf Jahren festgesetzt. Er lief 1999 aus, zu einer Zeit, wo die Verhandlungen noch nicht einmal begonnen hatten.) Bis die Palästinenser Israel als einen Staat des jüdischen Volkes anerkennen und seine „Sicherheitserfordernisse“ akzeptieren, werden keinerlei Verhandlungen beginnen. (mit anderen Worten: Nie!)

Wenn die Palästinenser solch einen Plan akzeptieren, müssen sie (nach den Worten des Verteidigungsministers der USA in einem anderen Kontext) „ihre Köpfe untersuchen lassen“. Aber natürlich wendet sich Netanyahu nicht an die Palästinenser. Sein Plan ist ein primitiver Marketingversuch. (Immerhin war er in der Vergangenheit ein Marketing-Agent für Möbel). Das Ziel ist, die internationale Kampagne der „Delegitimatsia“ zu stoppen.

Ehud Barak hatte auch diese Woche etwas zu sagen. In einem langen TV-Interview, das fast völlig aus politischen Geschwafel bestand, machte er eine wichtige Anmerkung: die arabischen Aufstände verschaffen Israel neue Möglichkeiten. Welche Möglichkeiten? Sie ahnen es: größere Mengen amerikanischer Waffen zu erhalten. Waffen und Amerika über alles!

Und in der Tat, der einzige Faktor, der diese Politik ermöglicht, ist die beispiellose Beziehung zwischen Israel und den USA. Aber das arabische Aufwachen wird mittel- und langfristig die israelisch-arabische Bilanz der Macht verändern – psychologisch, politisch und wirtschaftlich und letzten Endes auch militärisch. Zeitgleich wird die Weltbilanz der Macht sich ebenso verändern. Neue Mächte entstehen, alte Mächte verlieren nach und nach ihren Einfluss. Dies wird kein einmaliges dramatisches Geschehen sein, sondern ein langsamer und stetiger Prozess.

So bewegt sich die Geschichte. Jeder, der sich selbst auf die falsche Seite stellt, wird den Preis dafür zahlen.

(dt. Inga Gelsdorf)

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Post aus Jerusalem

Erstellt von Redaktion am 10. Oktober 2010

Reuven Moskovitz

– Hotel Leonardo Inn, Nr.721, Postfach 3686 , 96100 Jerusalem, Tel. 00972 2 653 51 03, vardamos@hotmail.com

Liebe Freundinnen und Freunde!

Mag sein, dass meine Eitelkeit mich zu der Vermutung treibt, dass manche meiner Freunde sich fragen, warum ich mich nicht melde. Mit großer Zufriedenheit kann ich feststellen, dass ich in guter Gesundheit bin, kein Auto hat mich erwischt, auch keinen Herzinfarkt habe ich erlitten.

Es stimmt, dass ich diesen Brief schreibe mit einem einigermaßen gebrochenen Herzen. Bei meinem 80. Geburtstag bekam ich von der Malerin Thea Bohmer eine Aquarell „Reuven, ein Rufer in der Wüste“.  Ich habe mich immer als ein Rufer in einer großen Gewaltwüste an eine kleine Oase der Friedfertigen gewendet. Ich hoffe, dass ich mich irre, wenn ich den Eindruck habe, dass diese Oase von Hunderten Freunden am Schrumpfen ist. Es kann aber auch mit meiner kindlichen Annahme zu tun haben, dass alle Bekannten auch meine Freunde oder Gleichgesinnten sind. Was mich anbelangt, muss ich gestehen, dass auch die „Sintflut“ von Informationen, die meine Meinung bestätigen, zu meiner Schreibzurückhaltung beigetragen hat.

Was meinen gegenwärtigen Zustand anbelangt, kann ich nur betonen, dass meine Mahnungen und Befürchtungen nicht nur bestätigt, sondern im rasanten Ausmaß noch übertroffen wurden. Mit Erich Fried kann ich behaupten, dass es nicht darauf ankommt, wann die israelische Politik und die Regierenden zu Verbrechern geworden sind. Es kommt jedoch darauf an, dass diese Politik in der Gegenwart mehr und mehr verbrecherisch wird. Ich habe gegen die Unterdrückung, Einsperrung und Benachteiligung der unter Besatzung lebenden palästinensischen Bevölkerung unablässig aufgeschrien. Heute wird Israel regiert von einer nationalistischen, rassistischen und klerikalen Koalition, die nicht nur die Palästinenser im Visier hat, sondern die israelische Demokratie. Das oberste Gericht steht unter einem dauernden Angriff. Unter ähnlichem Angriff stehen auch Teile der israelischen Palästinenser.

Zum Beispiel streikte in Berlin Firas Maraghy, ein Jerusalemer Palästinenser 41 Tage lang. Er protestierte gegen den Versuch, seiner Tochter und seine Frau das Recht eines Jerusalemer Wohnsitzes zu verweigern. Inzwischen gab es ein Angebot seitens der israelischen Botschaft zur „Lösung des Problems“. Ein vorsichtiges Zeichen, dass andauernde Proteste und Solidarität – leider auch unter menschenunwürdigen Bedingungen für Firas Maraghy – eine positive Wendung nehmen können.

Ein anderes Beispiel: In Jerusalem steht ein ganzes Viertel – Sheich Jarach – unter der Bedrohung evakuiert zu werden, mehrere Familien wurden von ihren Wohnungen vertrieben und leben in Zelten. Das Wort „Judaisierung“ mag manche sensible und gut meinende Deutschen empören. Das aber ist genau die Absicht des rassistischen Bürgermeisters von Jerusalem.

Dutzende Häuser in Silwan – unmittelbares Nachbarviertel der Klagemauer –  zum Beispiel stehen unter der Bedrohung, als illegal gebaute Häuser zerstört zu werden. Wer aber kann legal in Silwan bauen, wenn niemand die Genehmigung erhält, selbst auf dem eigenen Grundstück zu bauen? Wie kann man diese nur sehr wenige von vielen Beispielen anders als mit dem Wort „Judaisierung“ bezeichnen?

Nicht nur die in Israel wohnenden Palästinensern und Beduinen werden verfolgt. Inzwischen werden auch israelische Juden boykottiert, die sich kritisch gegenüber der  israelischen Politik äußern. Zum Beispiel werden zu Zeit Künstler verleumdet, die sich weigern in der jüdischen Siedlung in Westbank, Ariel, aufzutreten. Sie wollen damit  ein Zeichen setzen gegen die Normalisierung jüdischer Besatzung in der Westbank. Theaterspielhäuser und Ticketverkäufer werden aufgerufen diese Künstler mit allen Mitteln zu boykottieren.

Ursprünglich wollte ich nicht darüber schreiben. Doch Wut und Empörung drängen mich dazu, die zu einem Zorn der Hoffnungslosigkeit zu werden drohen. Es mag der Spruch stimmen, dass die Hoffnung zuletzt stirbt. Im gegenwärtigen Zustand und vorausgesetzt, dass keine radikale Wende kommt, ist meine Hoffnung fast tot.

Nicht gestorben ist meine Bereitschaft,  bis zu meinem letzten Atemzug gegen diesen unsäglichen Zustand zu protestieren.

Nun möchte ich kurz ein paar persönliche Anliegen erörtern:

Im Gegensatz zu der Lage in Israel/Palästina geht es mir und meine Familie mehr als gut. Ich werde bald 82 Jahre alt und in diesem Jahr haben wir den 80. Geburtstag meiner Frau Varda gefeiert. Viele Freunde und Bekannten kennen sie – viele haben genossen ihre Gastfreundschaft und ihre künstlerischen Begabungen und ich habe ihre endlose Geduld und Unterstützung erlebt. Anlässlich ihres 80. Geburtstags haben meine Kinder und ich Varda mit der Ausgabe eines Buches, mit einer kleinen Auswahl ihrer Bilder und Gedichte, überrascht. Nun wird hiervon eine deutsch/hebräische Version gedruckt. Es ist mir ein Bedürfnis, unsere Freunde und Bekannten zu bitten, ihr als Zeichen der Anerkennung bei der Vorstellung des Buches persönlich zu begegnen. Ausnahmsweise bemühe ich mich für diese Veranstaltungen nicht zu improvisieren, sondern vorzeitig Termine festzulegen. Manche unserer Aufenthalte sind jetzt schon bekannt. In diesem Zeitrahmen werden die Buchvorstellungen stattfinden. Bitte merkt Euch diese Zeiten schon mal vor:

13.11.2010: Berlin, Niemöller Haus, Pacelliallee 61, 16 h – 20 h
16.11.2010: Berlin, Haus der Kirche, Goethestr. 27 – 30, (am Karl-August Platz) 18 h – 21 h
(ab 17 h Empfang mit der Möglichkeit zum Anschauen einiger Bilder von Varda)
18.11.2010: Stuttgart, Kulturzentrum Merlin, 19:30h
19.11.2010: Hamburg, Cafe Quo Vadis, Grendelallee 95 (im Grendelviertel)
21.11.2010: München, Club Voltaire, Matinee, Frauenhoferstr. 9  – München, 11h
29.11.2010: Gevelsberg
Genauere Angaben zu den Terminen in Gevelsberg werden die Interessierten dort von den Organisatoren erhalten können.
In der Hoffnung, möglichst vielen Freunden und Bekannten zu begegnen, verbleibe ich in tiefer und dankbarer Verbundenheit,
Euer Reuven
Berlin, September 2010
p.s. Ich werde über meine Erfahrungen auf dem jüdischen Schiff nach Gaza in den nächsten Wochen berichten, aber nur noch per e-mail verschicken.

IE

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Grafikquelle : Landeszentrale für Politische Bildung des SaarlandesLandeszentrale für Politische Bildung des Saarlandes

Alex Deutsch, die eintätowierte KZ-Nummer auf seinem linken Unterarm vorzeigend

Alex Deutsch, seine eintätowierte KZ-Nummer auf dem Arm vorzeigend (Ort: Gedenkstätte „Gestapo-Lager Neue Bremm“, Saarbrücken)

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Eine Fantasie

Erstellt von Redaktion am 14. Mai 2010

Eine Fantasie

von Uri Avnery

In den 86 Jahren meines Lebens haben sich unzählige nicht voraus zu sehende Dinge ereignet, und unzählige Dinge, die man erwartete, haben sich nicht ereignet. Das Schicksal von Nationen wird von unerwarteten Faktoren gesteuert. Sie werden von Menschen gestaltet, die von Natur unberechenbar sind.

Wer sah 1929 voraus, dass Adolf Hitler in Deutschland an die Macht kommen würde? Wer sah 1941 voraus, dass die Rote Armee die unbesiegbare Wehrmacht stoppen würde? Wer sah 1939 den Holocaust voraus? Wer sah 1945 die Schaffung des Staates Israel voraus? Wer sah 1989 den Kollaps der Sowjetunion voraus? Wer sah einen Tag vor dem Fall der Berliner Mauer diesen voraus? Wer sah die Khomeini-Revolution voraus? Wer sah die Wahl eines schwarzen US-Präsidenten voraus?

Natürlich kann man keine Pläne für das Unerwartete schmieden. Aber man muss damit rechnen. Es ist irrational, das Irrationale nicht zu berücksichtigen.

ICH BEWUNDERE Professor John Mearsheimer. Seine strenge Logik. Seine klare Darstellung. Sein selten moralischer Mut.

Ich fühlte mich sehr geehrt, ihn und seinen Kollegen Professor Stephen Walt in Tel Aviv als Gäste zu haben, nachdem ihr Buch über die Israellobby in den USA Furore provozierte.

Und ich stimme nicht mit seinen Schlussfolgerungen überein.

VOR EIN paar Tagen hielt Prof. Mearsheimer einen eindrucksvollen Vortrag in Washington DC. Er bestand aus einer tiefgründigen Analyse der Überlebenschancen für Israel. Jeder Israeli, der über die Zukunft seines Staates nachdenkt, sollte sich mit dieser Analyse aus einander setzen.

Der Professor selbst fasst seine Schlussfolgerungen wie folgt zusammen:

„Im Gegensatz zu den Wünschen der Obama-Regierung und der meisten Amerikaner – einschließlich vieler amerikanischer Juden – wird Israel den Palästinensern nicht erlauben, einen eigenen lebensfähigen Staat in Gaza und der Westbank zu haben. Bedauerlicherweise ist die Zwei-Staaten-Lösung jetzt eine Fantasie. Stattdessen werden diese Gebiete in ein „Groß-Israel“ integriert, der ein Apartheidstaat sein wird, der große Ähnlichkeit mit dem von Weißen regierten Süd-Afrika haben wird. Trotz alledem wird ein jüdischer Apartheidstaat politisch auf Dauer nicht lebensfähig sein. Am Ende wird es ein demokratischer bi-nationaler Staat werden, dessen Politik von seinen palästinensischen Bürgern dominiert werden wird. Mit anderen Worten: er wird aufhören, ein jüdischer Staat zu sein, was das Ende des zionistischen Traumes sein wird.“

WARUM GLAUBT der Professor, dass die Zwei-Staaten-Lösung eine Fantasie geworden ist? Weil seiner Meinung nach die meisten Israelis nicht bereit sind, für die Erfüllung dieser Lösung die nötigen Opfer zu bringen. Die 480 000 Siedler in der Westbank und in Ost-Jerusalem haben eine gewaltige Macht. Viele von ihnen werden mit Waffengewalt Widerstand gegen jede Art Lösung leisten. Binyamin Netanyahu ist nicht bereit, einen palästinensischen Staat zu akzeptieren. Die israelische Öffentlichkeit ist scharf nach rechts gerückt. Es gibt in Israel jetzt keine wirksame pro-Frieden-Partei. Es ist kein Führer von Rang in Sicht, der in der Lage wäre, die Siedler aus den Siedlungen zu entfernen. Und das Wichtigste: „Der Kern der Überzeugung des Zionismus ist gegenüber einem palästinensischen Staat zu tiefst feindselig“.

Von Barack Obama wird keine Rettung kommen. Die ungeheuer mächtige pro-Israel-Lobby wird jeden Versuch, Druck auf Israel auszuüben, zunichte machen. Obama hat schon vor Netanyahu kapituliert, und so wird er es auch in Zukunft tun.

Der Professor verbirgt seine Meinung nicht, dass die Zwei-Staatenlösung bei weitem die beste wäre. Aber er glaubt, dass diese tot sei. Großisrael, das über all die Gebiete zwischen Mittelmeer und dem Jordan herrscht, besteht schon. Es ist ein Apartheidstaat, der sich immer mehr konsolidiert und immer brutaler werden wird – bis er kollabiert.

DIES IST eine erschreckende Prognose. Sie ist auch sehr logisch. Wenn die gegenwärtige Entwicklung in gerader Linie weitergeht, wird genau dies geschehen.

Aber ich glaube nicht an gerade Linien. In der Natur gibt es kaum gerade Linien, und es gibt im Leben der Nationen und Staaten auch keine geraden Linien.

In den 86 Jahren meines Lebens haben sich unzählige nicht voraus zu sehende Dinge ereignet, und unzählige Dinge, die man erwartete, haben sich nicht ereignet. Das Schicksal von Nationen wird von unerwarteten Faktoren gesteuert. Sie werden von Menschen gestaltet, die von Natur unberechenbar sind.

Wer sah 1929 voraus, dass Adolf Hitler in Deutschland an die Macht kommen würde? Wer sah 1941 voraus, dass die Rote Armee die unbesiegbare Wehrmacht stoppen würde? Wer sah 1939 den Holocaust voraus? Wer sah 1945 die Schaffung des Staates Israel voraus? Wer sah 1989 den Kollaps der Sowjetunion voraus? Wer sah einen Tag vor dem Fall der Berliner Mauer diesen voraus? Wer sah die Khomeini-Revolution voraus? Wer sah die Wahl eines schwarzen US-Präsidenten voraus?

Natürlich kann man keine Pläne für das Unerwartete schmieden. Aber man muss damit rechnen. Es ist irrational, das Irrationale nicht zu berücksichtigen.

Ich akzeptiere das Urteil des Professors nicht, dass „die meisten Israelis dagegen wären, Opfer zu bringen, die nötig sein würden, um einen lebensfähigen palästinensischen Staat zu schaffen.“ Als ein in Israel lebender und kämpfender Israeli bin ich davon überzeugt, dass die Mehrheit der Israelis bereit ist, die nötigen Bedingungen zu akzeptieren, die allen wohl bekannt sind: ein palästinensischer Staat mit seiner Hauptstadt in Ost-Jerusalem, den Grenzen von 1967 mit kleinem Landtausch, eine beiderseits annehmbare Lösung der Flüchtlingsfrage.

Das wirkliche Problem ist, dass die meisten Israelis nicht glauben, dass überhaupt Frieden möglich ist. Viele Jahre voller Propaganda haben sie davon überzeugt, dass „wir keinen Partner für den Frieden haben“. Ereignisse vor Ort (durch israelische Augen gesehen) haben sie in dieser Ansicht bestätigt. Wenn diese Einschätzung aufgelöst wird, dann ist alles möglich.

Hier könnte Präsident Obama eine große Rolle spielen. Ich glaube, dass dies seine wirkliche Aufgabe ist: zu beweisen, dass dies möglich ist. Dass es einen Partner gibt. Dass es eine Garantie für Israels Sicherheit gibt. Und – jawohl – dass die Alternative erschreckend ist.

KÖNNEN DIE Siedlungen entfernt werden? Wird es je eine israelische Regierung geben, die den Mut hat, dies zu tun? Wo ist der Führer, der diese Herkulesaufgabe auf sich nehmen wird?

Der Professor hat Recht, dass er jetzt „keinen in der israelischen Politik sieht, der dazu in der Lage wäre“. Und dass es „keine größere Friedenspartei oder Bewegung gibt“.

Doch die Geschichte zeigt, dass außergewöhnliche Führer oft dann erscheinen, wenn sie gebraucht werden. Ich habe in meinem Leben einen gescheiterten und allgemein verachteten Politiker mit Namen Winston Churchill gesehen, der ein nationaler Held wurde. Und einen reaktionären General mit Namen Charles de Gaulle, der Algerien befreite. Und einen grauen kommunistischen Apparatschik mit Namen Mikhail Gorbachov, der ein riesiges Reich ohne Blutvergießen demontierte. Und die Wahl eines Burschen mit Namen Barack Obama.

Ich habe auch einen brutalen General mit Namen Ariel Sharon gesehen, der Vater der Siedlungen, der eine Reihe Siedlungen zerstörte. Seine Absichten mögen fragwürdig gewesen sein, aber die Fakten können nicht abgestritten werden: er forderte die Siedlerbewegung heraus – die Professor Mearsheimer als furchtbare Bedrohung beschreibt – und gewann leicht. Angesichts der totalen Opposition der Siedler und ihrer Verbündeten evakuierte er etwa zwanzig Siedlungen im Gazastreifen und auf der Westbank. Keine einzige Militäreinheit meuterte. Keine einzige Person wurde getötet oder schwer verletzt.

Gewiss, da gibt es einen quantitativen und qualitativen Unterschied zwischen Sharons „Trennung“ und der uns bevorstehenden Aufgabe. Aber es ist ein großer Fehler, die Siedler als einen monolithischen Block anzusehen. Es sind verschiedene Gruppierungen – die Bewohner der Ost-Jerusalemer Vororte ähneln nicht den Westbanksiedlern, den Käufern billiger Wohnungen in Ariel und Maale Adumim und diese nicht den Zeloten von Yitzhar und Tapuach, die Orthodoxen in Modiin-Illit und Immanuel gleichen nicht denen der Hügeljugend.

Wenn ein Friedensabkommen erreicht wird, wird es notwendig sein, die Evakuierung mit Entschlossenheit durchzuführen, aber auch mit Finesse. Für die Bewohner der Vororte Ost-Jerusalems wird eine Lösung im Rahmen der Abkommen über Jerusalem gefunden werden. Eine große Anzahl Siedler in der Nähe der Grünen Linie wird bleiben, wo sie sind – im Rahmen eines fairen Austauschs von Land. Ein anderer Teil wird nach Israel zurückkehren, wenn sie wissen, dass Wohnungen für sie im Tel Aviver Großraum zur Verfügung stehen. Für einige von ihnen wird es vielleicht eine Möglichkeit geben, mit der Palästinensischen Regierung eine Übereinstimmung zu finden. Am Ende wird der harte Kern der messianischen Siedler nicht leicht aufgeben. Sie könnten Waffen benützen. Aber ein starker Führer wird den Test bestehen, wenn die große Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit das Friedensabkommen unterstützen wird.

DIE ZWEI-STAATEN-Lösung ist nicht die beste Lösung. Es ist die einzige Lösung.

Die Alternative ist nicht ein demokratischer säkularer bi-nationaler Staat, weil so ein Staat nicht entstehen wird. Keines der beiden Völker will ihn.

Wie der Professor richtig behauptet, solange es keinen Frieden gibt, wird Israel vom Meer bis zum Fluss, herrschen. Die gegenwärtige Situation wird schlimmer werden: der souveräne Staat Israel wird an den besetzten Gebieten festhalten.

Außer einer winzigen Gruppe von Träumern, die man in einem mittelgroßen Raum versammeln könnte, gibt es keine Israelis, die davon träumen, in einem bi-nationalen Staat zu leben, in dem die Araber die Mehrheit darstellen. Wenn solch ein Staat entstünde, würden die israelischen Juden auswandern. Aber es ist viel plausibler, dass das Gegenteil passiert: die Palästinenser werden lange davor auswandern.

Ethnische Säuberung muss nicht in Form einer dramatischen Vertreibung geschehen wie 1948. Es kann im Stillen stattfinden als schleichender Prozess, wenn immer mehr Palästinenser einfach aufgeben. Das ist der große Traum der Siedler und ihrer Partner: das Leben der Palästinenser so unerträglich zu machen, dass sie ihre Familien nehmen und gehen.

So oder so, das Leben in diesem Land wird zur Hölle werden. Nicht für ein Jahr, sondern viele Jahre lang. Beide Seiten werden gewalttätig werden. Die Idee eines palästinensischen „gewaltfreien Widerstandes“ ist ein Hirngespinst. Die Hoffnung des Professors, dass im mutmaßlichen bi-nationalen Staat die Palästinenser die Juden nicht so behandeln werden, wie die Juden sie jetzt behandeln, ist von den Juden selbst widerlegt worden – die Verfolgung, die sie Jahrhunderte lang durchlitten haben, hat sie nicht dagegen geimpft, selbst Täter zu werden.

IN DER Analyse des Professors gibt es eine Lücke: er erklärt nicht, wie der gewalttätige israelische Apartheidstaat sich in einen bi-nationalen Staat entwickeln wird. Seiner Meinung nach wird dies „schließlich“ nach einigen Jahren kommen. Nach wie vielen ? Und warum?

OK, es wird Druck geben. Die Weltöffentlichkeit wird sich gegen Israel wenden. Die Juden in der Diaspora werden sich distanzieren. Aber wie wird dies alles einen bi-nationalen Staat hervorbringen?

Jeder Vergleich mit Südafrika ist einfach falsch. Es gibt keine Ähnlichkeit zwischen der Situation, die dort vorherrschte, und der Situation, die hier besteht oder in Zukunft bestehen wird. Abgesehen von einigen Methoden der Verfolgung, all die Umstände, in allen Bereichen sind sehr anders.

Um nur eines zu erwähnen: das Apartheidregime wurde schließlich nicht durch internationalen Druck zu Fall gebracht, sondern durch die massiven und lähmenden Streiks der schwarzen arbeitenden Kräfte. In diesem Land tun die Besatzungsbehörden alles, um die Palästinenser vom Arbeiten in Israel abzuhalten.

Schließlich ist es eine Sache der Logik: wenn es internationalem Druck nicht gelingt, die Israelis zu überzeugen, die Zwei-Staaten-Lösung anzunehmen, die ihrer nationalen Entität nicht schadet, wie will sie sie zwingen, alles aufzugeben – ihren Staat, ihre Identität, ihre Kultur, ihre Wirtschaft, alles, was sie mit riesiger Anstrengung in 120 Jahren aufgebaut haben ?

Ist es nicht viel überzeugender zu vermuten, dass Israel, lange bevor der Staat unter dem internationalen Druck zusammenbricht, die Zwei-Staaten-Lösung annehmen wird?

Ich stimme mit dem Professor völlig überein: Das Haupthindernis zum Frieden ist geistiger Natur. Was dringend nötig ist, ist eine tiefgründige Chance von Bewusstseinsveränderung, bevor die israelische Öffentlichkeit dahin gebracht werden kann, die Realität zu erkennen und den Frieden zu akzeptieren mit allem, was damit verbunden ist.

Das ist die Hauptaufgabe des israelischen Friedenslagers: die grundlegenden Wahrnehmungen der Öffentlichkeit zu ändern. Ich bin sicher, dass dies möglich ist. Wir sind schon einen langen Weg gegangen von den Zeiten, in denen es hieß : „Es gibt keine Palästinenser!“ und „Jerusalem, vereint in alle Ewigkeit“ Professor Mearsheimers Analyse mag zu diesem Prozess beitragen.

Ein Apartheidstaat oder ein bi-nationaler Staat? Weder noch. Sondern der freie Staat Palästina, Seite an Seite mit dem freien Staat Israel in der gemeinsamen Heimat .

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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