Streit über EU-Taxonomie
Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 25. Dezember 2021
Kernkraft ist nachhaltig – nachhaltig unversicherbar
Eine Kolumne von Christian Stöcker
Frankreich und diverse Staaten Osteuropas wollen Atomenergie für »nachhaltig« erklären lassen, Deutschland soll dafür womöglich ein Klimasiegel für Erdgas bekommen. Was soll das?
Man kann Atomkraft aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und dabei ergeben sich auch verblüffend unterschiedliche Bilder. Mal ist sie völlig sicher und harmlos. Und mal sind die Risiken so groß, dass es absolut unverantwortlich wäre, weiter Kernkraftwerke zu betreiben.
Das sogenannte Joint Research Centre (JRC) beispielsweise, der wissenschaftliche Dienst der Europäischen Kommission, kam in einem eigens angeforderten Bericht zu der Frage, ob Atomenergie gefährlich ist oder nicht, zu folgendem Schluss: »Alle potenziell schädlichen Auswirkungen der unterschiedlichen Phasen im Lebenszyklus nuklearer Energiegewinnung auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt können verhindert oder vermieden werden.« Vorausgesetzt, so der Bericht, dass sich alle Beteiligten an strikte Sicherheitsregeln halten.
Die sogenannte Group of Experts, festgeschrieben im europäischen Nuklearabkommen Euratom, stimmte dieser Einschätzung zu: Der JRC-Bericht beruhe auf dem aktuellen Forschungsstand. Allerdings sei »weitere Forschung notwendig«, unter anderem, um »die Sicherheit zu verbessern und Risiken zu reduzieren«.
Wer verschmutzt, bezahlt?
Lediglich die Vertreterin des deutschen Bundesumweltministeriums, das bekanntlich auch für Reaktorsicherheit zuständig ist, gab eine abweichende Meinung zu Protokoll: Die Aufgabenstellung der Expertengruppe sei zu eng gefasst gewesen, wichtige Prinzipien wie, »wer verschmutzt, bezahlt«, und das Prinzip, zukünftigen Generationen keine unangemessenen Belastungen aufzubürden, seien nicht berücksichtigt worden.
Aus der Perspektive der meisten von der EU-Kommission befragten Fachleute ist Kernenergie nach aktuellem Stand aber eine sichere Sache, die das Kriterium »keinen bedeutsamen Schaden anrichten« erfüllt. Dieses »do no significant harm«-Kriterium ist in der aktuellen Debatte zentral. Es gilt der EU auch als eine Art konzeptionelle Untergrenze für das, was noch »nachhaltig« genannt werden darf.
72 Milliarden Euro Versicherungskosten pro Jahr
Völlig anders als für die Expertenteams der EU sieht dieses Thema offensichtlich aus der Perspektive der Branche aus, deren Geschäftsmodell auf der möglichst exakten Einschätzung von Risiken basiert. In Deutschland zum Beispiel sind Atomkraftwerke haftpflichtversichert, aber die Versicherungssumme ist bei einigen Hundert Millionen Euro gedeckelt. Bei einem GAU könnten die Schäden aber mal schnell tausendmal so hoch ausfallen.
Zitat aus einem zehn Jahre alten Artikel aus dem »Manager Magazin«: »›Die Kernenergie ist aber letztlich nicht versicherbar‹, sagte der Versicherungsexperte Markus Rosenbaum am Mittwoch in Berlin. Wollte eine Versicherung für ein AKW ausreichende Prämien innerhalb von 50 Jahren, beispielsweise der Restlaufzeit eines Meilers, aufbauen, müsse sie pro Jahr 72 Milliarden Euro für die Haftpflicht verlangen.«
72 Milliarden Euro Versicherungskosten pro Jahr, das ist teuer. Wie kann es dann sein, dass die Atomkraft in Deutschland weiterhin Fans hat, in anderen Ländern noch viel mehr?
Ganz einfach: Die Kernenergie hat eines gemeinsam mit der Kohlebranche: Die Schäden, die ihr Geschäftsmodell verursacht, und die Risiken, die es birgt, werden vergesellschaftet. Für die – statistisch betrachtet nach aktuellem Stand tatsächlich ziemlich kleinen, aber eben im Schadensfall katastrophalen – Risiken haftet im Zweifelsfall der Staat. Also wir alle.
Am Ende zahlen immer die gleichen Leute
Für die Entsorgung von strahlendem nuklearem Müll gilt das Gleiche: Ein Endlager für Atommüll gibt es in Deutschland bislang bekanntlich nicht, das weltweit erste entsteht gerade in Finnland. Was ein deutsches Endlager kosten wird, ist weitgehend unklar, ziemlich klar aber ist: Es wird höllisch teuer. Das Geld, das die AKW-Betreiber für die Zwischen- und Endlagerung zurückgelegt haben, wird bei Weitem nicht reichen. Am Ende zahlen immer die gleichen Leute: die Steuerzahler. Genauer: Nicht die Konzerne, die am Atomstrom verdienen, sondern die künftigen Generationen, die auch unter der Klimakrise, dem Rentensystem und anderen in die Zukunft verlagerten Problemen am meisten leiden werden.
Probleme in die Zukunft verlagert
Die Parallelen zu den Unternehmen, die mit fossilen Brennstoffen ihr Geld verdienen, sind nicht zu übersehen. Vergesellschaftung negativer Externalitäten soweit das Auge reicht. Offen bleibt die Frage, wie etwas als »nachhaltig« eingestuft werden kann, das einmal mehr gravierende Probleme nicht löst, sondern in die Zukunft verlagert.
Quelle : Spiegel-online weiterlesen
*********************************************************
Grafikquellen :
Oben — Kernkraftwerk Cruas
Yelkrokoyade – Eigenes Werk
Cruas nuclear power plant (France)
- CC BY-SA 3.0
- File:Centrale nucléaire de Cruas-Meysse.jpg
- Erstellt: 2. Juli 2012, 11:32:08 (gemäß Exif-Daten)
***************************
Unten — Christian Stöcker (2017)
re:publica – YouTube: re:publica 2017 – Etwas Empirie: Was wir wirklich über Filterblasen, Fake-News … – Archivierte Versionen ansehen/speichern auf archive.org und archive.today
- CC BY-SA 3.0 de
- File:Christian Stöcker – re-publica 2017.jpg
- Erstellt: 17. Mai 2017
Erstellt am Samstag 25. Dezember 2021 um 12:12 und abgelegt unter Energiepolitik, Europa, Positionen, Umwelt. Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed. Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.