Unter den zahlreichen Personengruppen, welche durch Sammel- oder Tätigkeitsbeschreibung der öffentlichen Verachtung anempfohlen werden, nehmen – neben den „Rasern“ – die „Gaffer“ einen Ehrenplatz ein. „Gaffen“ ist, wie man sich vielleicht erinnert, eine schon in die Jahre gekommene Beschreibung von Verhaltensweisen, die dem Menschen und seiner biologischen wie sozialen Natur eigentlich überaus nahe stehen, ja geradezu eingeboren sind, aber durch das dem Begriff implizite Mitdenken verächtlicher Umstände und Motive aus einem aufmerksamen, neugierigen, empathisch-interessierten Bürger einen hirnlos starrenden Idioten machen. Der Gaffer steht uns, kaum dass sein Name ausgesprochen ist, fertig vor Augen: mit weit geöffnetem Mund, aufgerissenen Augen, unfähig, den Impuls bewusstloser Schaulust, auf was auch immer, in sozial akzeptable Formen und Bahnen zu lenken, überwältigt von der Sensationalität seines Augenblicks. Eines ist klar: Der Gaffer ist allemal der Andere. Weitergehen, hier gibt’s nichts zu sehen!
Zuletzt ist dem Gaffer das Körperteil des mobiltelefonischen Fotoapparats gewachsen. Mit seiner Hilfe zeigt er seitdem der ganzen „sozialen“ Media-Welt, wie spannend sie ist und wie nah er selbst der Spannung war. Schon vor längerer Zeit hat der Strafgesetzgeber auf die veränderte oder verändert wahrgenommene Lage beim Gaffen, Beobachten und Betrachten reagiert: Im Jahr 2004 wurde als § 201a StGB eine Strafvorschrift gegen die „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen“ eingeführt. Im Jahr 2015 wurde die Vorschrift neu gefasst und erweitert. Danach ist nun – unter anderem – mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht, wer
- „von einer anderen Person, die sich in einer Wohnung oder in einem gegen Einblick besonders geschützten Raum befindet, unbefugt eine Bildaufnahme herstellt oder überträgt und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt…
- eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt…
- eine Bildaufnahme, die die Nacktheit einer anderen Person unter achtzehn Jahren zum Gegenstand hat, herstellt oder anbietet oder sich oder einer dritten Person gegen Entgelt verschafft.“
Strafbar ist auch das Verbreiten solcher Bildaufnahmen. Statistisch spielt die Vorschrift nur eine geringe Rolle, obwohl ihre Einführung damals als dringlich angesehen wurde. Verurteilungen gibt es kaum.
In letzter Zeit hat sich die Ansicht verbreitet, dieser strafrechtliche Schutz reiche nicht aus. Neue Gesetzesvorschläge zielen daher darauf ab, auch eine solche Bildaufnahme zu bestrafen, „die in grob anstößiger Weise eine verstorbene Person zur Schau stellt“. Damit soll das Fotografieren von Unfall- oder Straftatopfern verfolgt werden. Zur Illustration der Gesetzesinitiativen werden gern Filmaufnahmen von Unfallorten gezeigt, an denen Schlangen von Kraftfahrzeugen vorbeifahren, aus denen Video- und Fotoaufnahmen des Geschehens gemacht werden. Dass dabei regelmäßig Aufnahmen entstehen, die Tote (Opfer) in „grob anstößiger Weise zu Schau stellen“, kann bezweifelt werden. Die meisten der fotografierenden und filmenden „Gaffer“ wollen auch nicht unbedingt „verstorbene Personen“ aufnehmen, sondern einfach eine dramatische Situation, um sich und anderen zu zeigen, dass sie wirklich Augenzeuge eines sensationellen Geschehens waren. Hierin liegt ersichtlich eine perverse Verkehrung des (vorgeblichen) Motivs: Es geht tatsächlich nicht um die Personen der Betroffenen, nicht um menschliches Interesse oder Mitleid, sondern um die fotografierende Person: um ihre Selbstdarstellung oder Selbstdokumentation als Teilnehmer, in welch erbärmlicher Rolle auch immer. Es ist der Versuch, sich zum Teil eines „wichtigen“ Geschehens zu machen, die banale Tatsache der eigenen (zufälligen) Anwesenheit in eine Position aktiver Mitgestaltung zu verdrehen und umzudeuten.
Szene zwei: Ein Rausch von Bildern
Szenenwechsel: Dschungelshow. Reality TV. „BILD war dabei“. Opfer von vorn, von hinten, von der Seite. Sieger und Verlierer. Weinende, Trauernde, Fassungslose. Zeugen, die gefragt werden: „Was macht das mit Ihnen?“ oder „Wie entsetzt waren Sie?“ Traumatisierungs-Shows. Harvey Weinsteins Opfer, einst und jetzt. Menschen, die intellektuell, moralisch und emotional erkennbar nicht in der Lage sind, die eigene Erniedrigung zu erkennen oder abzuwehren. Vorführung von Depravierten, Verlorenen, Beschuldigten, Ratlosen. „Wo waren Sie, als sie von dem Unfall hörten?“ „Was haben Sie gedacht?“, „Wie haben Sie sich gefühlt?“. Unbewegt, so lesen wir, nahm der Angeklagte das Urteil entgegen; für die Mutter seines Opfers hatte er kein Wort und keinen Blick.
So viele Bilder, so viele sinnlose, unverbundene Geschichten, Projektionen, Fantasien. Die ganze Welt ein Rausch von hochauflösenden Bildern, immer größer, immer schneller getaktet. Keine Kameraeinstellung länger als drei Sekunden, kein Statement länger als 30 Sekunden. Hier kommt Gundula mit neuen Opferzahlen! Und hier noch einige Bilder vom Ort der Katastrophe! Liebe Zuschauer, wir zeigen Ihnen die folgenden Bilder nach intensiver Diskussion in der Redaktion und meinen, dass wir dies unserem Dokumentationsauftrag schuldig sind. Den Beamten bot sich am Unfallort ein grausiges Bild. Die Helfer wurden psychologisch betreut. Zahllose Menschen legten noch in der Nacht Blumen nieder. Gestern fand der vorläufig schlimmste Anschlag statt. Der Platz war mit zerfetzten Leibern übersät. Neue Horrortat! Unser Reporter live vom Ort des Geschehens: Wie haben Sie das Unbeschreibliche erlebt, Walter? Wie fassungslos sind die Menschen?
Quelle Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Schaulustige beobachten das Niederbrennen der alten Raiffeisen-Halle an der Bahnstrecke Mainz–Ludwigshafen in Osthofen