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Sterben für kein Land?

Erstellt von Redaktion am Sonntag 19. Februar 2023

Wer ist bereit, für den Donbas selber zu sterben, wer?

2014-04-15. Протесты в Донецке 001.jpg

Quelle      :        INFOsperber CH.

Marc Chesney /   

Das Recht auf Verteidigung versus das Recht auf Leben. Der Krieg ist eine Wette mit dem Einsatz von Millionen Menschenleben.

upg. Grosse Medien informieren viel über Argumente, die dafür sprechen, der Ukraine zu ermöglichen, sämtliche von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern. Deshalb lässt Infosperber zur Meinungsbildung ergänzend Stimmen zu Wort kommen, von denen man in grossen Medien wenig liest und hört. Heute den Zürcher Finanzprofessor Marc Chesney,

Keine der vorgeblich demokratischen Regierungen fragt ihre Bürger, ob sie bereit wären, sich für den Donbas oder die Krim eventuell zu opfern. Deshalb sollten sich alle ganz persönlich diese Frage stellen. Wer im Namen des Rechts auf Selbstverteidigung, das jedem Land zusteht, auf Krieg drängt, sollte sich überlegen, welche Folgen dieser Krieg für sie selber, ihre Familien und ihr privates Umfeld haben könnte.

Wer sein Recht auf Leben und Achtung als unabdingbar einstuft, sollte seine Stimme erheben. Ohne dass es weder bei uns noch in der Ukraine eine demokratische Aussprache darüber gegeben hätte, befinden wir uns jetzt auf einem gefährlichen, ja apokalyptischen Kurs.

Ein paar Dutzend Einzelpersonen, kriegerische Minister, Generäle, Waffenproduzenten und Financiers stecken ihre Köpfe hinter verschlossenen Türen in Ramstein, Davos oder anderswo zusammen und beschliessen, eine Wette darüber einzugehen, wie Vladimir Putin auf die kürzlich beschlossenen Lieferungen von Kampfpanzern – und womöglich auf künftige Lieferungen von Kampfflugzeugen – an die Ukraine reagieren wird. Der Einsatz der Wette ist das Leben von Millionen, ja Milliarden Menschen.

Einige «akkreditierte Kommentatoren» wetten, dass er rational agieren werde, andere (manchmal die gleichen, bloss zu einem späteren Zeitpunkt) räumen ein, dass seine Reaktion nur schwer vorhersehbar sei. Politische «Verantwortungsträger» wie Emmanuel Macron betonen, die Lieferung von schweren Waffen mache ihr Land nicht zur Kriegspartei, andere, dass sie sich de facto bereits im Krieg gegen Russland befänden. So sagte Annalena Baerbock, Grünenpolitikerin und deutsche Aussenministerin kürzlich: «Wir führen einen Krieg gegen Russland».

Bundeskanzler Scholz wiederum hat zur Lieferung von Leopard-2-Panzern und generell von schweren Waffensystemen an die Ukraine erklärt, dass «niemand genau sagen kann, was eine gute oder schlechte Entscheidung ist».

Kurzum, es herrscht heilloses Durcheinander.Offensichtlich haben diejenigen, die mit dem Leben ihrer Bevölkerung Poker spielen, keinen Durchblick. Dann sollten sie besser davon absehen, solche schwerwiegenden Entscheidungen zu treffen. Sie heizen damit das Kriegsgeschehen an, erst recht angesichts der Tatsache, dass die genannten Panzer mit panzerbrechenden Langstrecken-Sprengköpfen aus abgereichertem Uran bestückt werden können. Sollten diese abgefeuert werden, käme das für Russland dem Einsatz von schmutzigen Atombomben gleich.

Falls die NATO keine solche Geschosse liefert, ist es wahrscheinlich, dass die ukrainische Regierung versucht, sie sich auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen und auf Kommandozentralen oder Ortschaften auf russischem Staatsgebiet abzufeuern.

Solche Entscheide der Führenden der westlichen Welt sind verantwortungslos und verstossen gegen den gesunden Menschenverstand. Oft sind es radikale Ideologen, die die Erinnerung an das vom Zweiten Weltkrieg bewirkte Leid nicht weiter berührt. Sie haben Zugang zu geräumigen Atomschutzbunkern. Die Gefahren und das Leiden, das der aktuelle Konflikt insbesondere für die vor Ort verbliebenen Ukrainer bedeutet, lässt sie gleichgültig.

Sie sehen strategische und finanzielle Chancen – Frieden steht nicht auf ihrer Tagesordnung.

Für eine Handvoll Panzer mehr

Eine Regierung sucht die andere zu überbieten. In einem ersten Schritt sagen Dänemark, die baltischen Staaten und Spanien zu, einige Exemplare des Leopard 2 zu liefern, Deutschland und Polen je 14. Wer bietet mehr bei dieser internationalen, von der NATO orchestrierten Versteigerung? Bald schon wird es um die Lieferung von Kampfjets gehen!

Wie ist es denn um die Legitimität von Regierungen bestellt, die solche folgenschweren Entschlüsse ohne jegliche demokratische Konsultation fassen und dabei ihrer Bevölkerung nicht einmal einen minimalen Schutz garantieren können?

In der Schweiz machen kantonale und Bundesbehörden – anders als während den Jahrzehnten des Kalten Kriegs ­– keine öffentlichen Angaben zum Bevölkerungsschutz und Bereitschaft von angemessen ausgestatteten Schutzbunkern. Dieser Mangel an Vorbereitung ist inakzeptabel.

Das Scheitern eines ausbeuterischen Systems

Die fehlende demokratische Legitimation für die Eskalation in der Ukraine und der fehlende minimale Schutz der Bevölkerung sind ein Bruch des Gesellschaftsvertrags, der im Übrigen schon vor langem vollzogen wurde. Alle wichtige Warnsignale stehen auf Rot: Konflikt in Europa mit Gefahr einer nuklearen Eskalation, Erderwärmung, Verlust der Artenvielfalt, extreme soziale Ungerechtigkeiten usw. Es ist das grundlegende Scheitern eines ausbeuterischen Systems, das die Menschen nur als Produktionsfaktoren ansieht, welche in Kriegszeiten ungefragt zu Zerstörungsfaktoren werden und deren eigene Vernichtung dabei in Kauf genommen wird. In diesem System verkommen die Beziehungen der Menschen untereinander und auch ihr Verhältnis zur Natur zur Ware. Es ist an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen, bevor dieses System uns in seinen Zusammenbruch mitreisst. Um es mit den Worten von Jean Jaurès kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs zu sagen: «Der Kapitalismus birgt in sich den Krieg wie die Wolke das Gewitter.»

Diese kriegstreiberischen Tendenzen stossen selten auf offene Ablehnung. Prekarität und Dauerberieselung durch die Medien machen Menschen gefügig und teilnahmslos. Eine ständige Flut völlig unerheblicher Schlagzeilen und Nachrichten – der Rücktritt von Roger Federer, die Fussball-Weltmeisterschaft, die Enthüllungen von Messi und Mbappé, der Tod der englischen Königin, die frühen Memoiren von Prinz Harry – lenken die Aufmerksamkeit ab und tragen zur allgemeinen Gehirnwäsche bei.

In fast allen Medienkanälen dominiert martialische Propaganda. Wie kann man nur einen Augenblick lang rechtfertigen, für einen ukrainischen oder eben russischen Donbas die Existenz ganzer Bevölkerungen aufs Spiel zu setzen?

Der sogenannte gerechte Krieg ist nur ein Krieg und nichts anderes als das, ein unerträglicher Konflikt, der enorme Gefahren für die Menschheit birgt. Wer auf beiden Seiten des Kugelhagels dagegen aufstehen und für das Leben eintreten will, dem sei an das Diktum erinnert: «Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.»

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Dieser Artikel erschien am 31.01.2023 in «Le Temps». Bearbeitung der deutschen Fassung durch Infosperber.

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Grafikquellen        :

Oben      —     Protests in Donetsk   (Donbas )

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