Staaten im Wandel
Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 13. Juni 2020
Für eine starke Polizei!
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Nach dem Tod von George Floyd wird viel über Rassismus und Polizeigewalt diskutiert. Auch und gerade Deutschland braucht diese Debatte – und eine starke, aber hart demokratisch kontrollierte Polizei.
Eine liberale Demokratie braucht eine starke Polizei. Nur eine starke Polizei ist in der Lage, ein in die Demokratie eingebautes Dauerproblem abzufedern: die unerhörte Langsamkeit und Zähigkeit eines funktionierenden, demokratischen Rechtsstaates. Immer wieder dauert es Jahre, manchmal Jahrzehnte, bis neuen Herausforderungen gesetzlich angemessen begegnet werden kann. Oder bis lieb gemeinte, aber im Alltag dysfunktionale Gesetze angepasst werden können. In der Zwischenzeit erfordert die Bekämpfung von Kriminalität eine flexible und starke Polizei.
Diesem ersten Absatz würden wahrscheinlich die Law-and-Order-Fraktion und sogar SPD-Innenminister zustimmen. Wobei ich unsicher bin, ob man SPD-Innenminister überhaupt als SPD-Innenminister bezeichnen darf oder ob es sich inzwischen um eine justiziable Beleidigung handelt. Der entscheidende Unterschied aber liegt in der Definition von „stark“. Für mich ist eine starke Polizei zwar eine besser und präziser handlungsfähige, aber viel radikaler nach demokratischen Prinzipien kontrollierte Polizei.
Meiner Überzeugung nach wandelt sich die liberale Demokratie im 21. Jahrhundert so umfassend, dass alle Teile des Staates betroffen sind, besonders die Exekutive wie Regierung und Sicherheitsbehörden. Für die Keimzelle dieses Wandels halte ich Transparenz und Vernetzung. Digitalisierung und Internet machen sichtbar, was zuvor verborgen war. Wie man am Video des rassistischen Mordes an George Floyd sieht, kann echte Veränderung durch die Verbreitung einer quasidokumentarischen Aufnahme entstehen.
Es geht auch um Deutschland
Will Smith hat einmal lapidar festgestellt: „Rassismus wird nicht schlimmer, sondern inzwischen gefilmt.“ Er fasst den Unterschied durch die Digitalisierung zusammen, den man zuvor als weiße Person leicht übersehen konnte: Was man selbst nicht mitbekommt und nicht dokumentiert wird, besteht allenfalls aus Hörensagen. Nichts lässt sich leichter ignorieren. Die Allgegenwart von Smartphones, kombiniert mit der Verbreitungskraft sozialer Medien hat aus jenem Hörensagen nun ein Filmensehen gemacht.
Das Bild aber, das durch die Verbreitung von Polizeigewalt-Videos auch aus Deutschland entsteht, ist teilweise monströs. Selbst erklärte Freunde der Polizei sind verstört, verstummen oder üben sich in Ignoranz. Natürlich verbreiten sich schlimme und spektakuläre Inhalte schneller und weiter, was eine Verzerrung des öffentlichen Bildes der Polizei zur Folge haben kann. Trotzdem ist unstrittig, dass es zu viele gewalttätige Polizeiübergriffe gibt und dass bisher kein ausreichend gut funktionierendes Instrument zur Kontrolle angewendet wurde. In den USA nicht, aber gerade auch in Deutschland nicht.
Dafür braucht es nur eine einzige Statistik als Beweis. Angenommen, Sie werden von einem Nachbarn geohrfeigt und zeigen ihn an. Aber der Nachbar ohrfeigt Sie wieder. Und wieder. Und wieder. Jedes Mal zeigen Sie ihn an, nie passiert etwas. Nach der wievielten unsanktionierten Ohrfeige hätten Sie Ihren Glauben an den Rechtsstaat verloren? Nach der dritten, der zehnten, der hundertsechsundachtzigsten?
Verurteilt wird Ihr Nachbar erst nach der fünfhundertsten (!) angezeigten Ohrfeige.
Diese Absurdität ist leider keine Fantasie, sondern ein zugegeben vereinfachter Vergleich mit der bitteren Realität. Kriminologen der Ruhr-Universität Bochum haben 2019 die erste systematische Forschung zu rechtswidriger Polizeigewalt in Deutschland veröffentlicht. Dabei kommen auf rund 3400 Fälle nur sieben Verurteilungen. Anwältinnen der Opfer von Polizeigewalt berichten sogar, dass sie von Anzeigen abraten: Die Polizeibeamten würden nicht selten mit einer Gegenanzeige reagieren, der im Zweifel vom Gericht eher Glauben geschenkt wird.
Bloß nicht alles abstreiten
Etwas ist systemisch falsch, und es ist höchste Zeit, darauf politisch umfassend zu reagieren, auch zum Wohl des redlichen Teils der Polizei selbst. Die falscheste Reaktion wäre, alles abzustreiten – erst recht, wenn immer mehr Videodokumente verbreitet werden, die das Problem illustrieren.
SPD-Chefin Saskia Esken sagte in einem Interview, auch in Deutschland gebe es „latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte“. Sie fügte hinzu, dass die große Mehrheit der Polizeibediensteten solchen Tendenzen aber sehr kritisch gegenüberstehe und dass jene Mehrheit unter dem daraus entstehenden potenziellen Vertrauensverlust leide.
Insbesondere Konservative und Liberale haben heftig protestiert und Esken einen „Generalverdacht“ vorgeworfen. Dabei entschied Esken sich für die wohl sanfteste und vorsichtigste Beschreibung einiger Auswüchse deutscher Sicherheitsbehörden, die man sich denken kann. „Es gibt“ heißt nicht „alle immer“.
- In Deutschland hat der NSU morden können, auch weil die Polizei vorschnell annahm, die migrantischen Opfer seien in irgendwas Kriminelles verwickelt.
- In Deutschland sind Dutzende rechtsextreme Polizisten allein in Hessen aufgeflogen.
- In Deutschland ist Oury Jalloh gefesselt in einer Polizeizelle in Dessau verbrannt, und echte Aufklärung findet nicht statt.
„Latenter Rassismus“ ist für diese und Hunderte andere Geschehnisse eine freundliche, eher beschönigende Deutung.
Dass Esken trotzdem so lautstarken Widerspruch bekam, von FDP-Politikerin Beer bis zum Linken-Politiker Bartsch, liegt einerseits am absichtlichen Missverstehen-Wollen. Andererseits wird hier ein falsches Bild von Rassismus sichtbar.
Quelle : Spiegel >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Ein Portrait zum Gedenken an George Floyd im Mauerpark in Berlin von einem Straßenkünstler, Mai 2020.
Singlespeedfahrer – Eigenes Werk
Wandbild, das das Portrait von George Floyd im Mauerpark in Berlin zeigt. Links neben dem Portrait wurde der Schriftzug „I can’t Breathe“ hinzugefügt, auf der rechten Seite die drei Hashtags #GeorgeFloyd, #Icantbreathe und #Sayhisname. Das Wandbild wurde von Eme Street Art (facebook-Name) / Eme Free Thinker (Signatur) am 29. Mai 2020 fertiggestellt.
- CC0
- File:Wandbild Portrait George Floyd von Eme Street Art im Mauerpark (Berlin).jpg
- Erstellt: 31. Mai 2020
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Unten — Sascha Lobo; 10 Jahre Wikipedia; Party am 15.01.2011 in Berlin.…
André Krüger, http://boschblog.de/ – Supplied by author
- CC BY-SA 3.0Hinweise zur Weiternutzung
- File:Wp10 20110115 IMG 9974.jpg
- Erstellt: 15. Januar 2011
Erstellt am Samstag 13. Juni 2020 um 11:41 und abgelegt unter Feuilleton, Medien, Positionen. Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed. Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.