SPD und Russland
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 3. Mai 2022
Alle Fehler schon immer richtig gemacht
Gorbi hatte es gesagt : Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Politiker eben !!
Eine Kolumne von Samira El Ouassil
Gerade werden die negativen Folgen zahlreicher Entscheidungen der SPD in Bezug auf Russland sichtbar. Doch deren Spitzenleute nehmen keine Kritik an, sondern üben sich im politischen Rückwärtszählen.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Bewerbungsgespräch. Ihre potenzielle zukünftige Chefin hält Ihren Lebenslauf in der Hand. »Aha, hier haben Sie also eine Weiterbildung gemacht, dann zwei Jahre im Ausland – und dann…«, sie fährt mit dem Finger die tabellarische Auflistung Ihrer beruflichen Stationen ab, »…und dann hatten Sie über einige Jahre regelmäßig Kontakt mit einem Kriegsverbrecher – also wie wir heute wissen – sowie mit einigen seiner Geschäftspartner im In- und Ausland. Rosneft… Gazprom… Hm, also, nicht, dass es mich etwas angehen würde, aber Sie müssen wissen: Ehrlichkeit ist uns in unserem Unternehmen besonders wichtig. Könnten Sie mir daher bitte kurz erklären, wie es dazu kam?«
Vermutlich waren die wenigsten von uns schon mal in dieser konkreten Situation. Aber sollte Ihnen das irgendwann einmal passieren, dann bleiben Ihnen im Grunde nicht viele Möglichkeiten: Sie können diesen ärgerlichen Teil Ihrer Karriere verleugnen; oder aber ihn selbstbewusst bestätigen; oder ihn nach allen Regeln der rhetorischen Kunst schönreden. Wie das funktionieren soll? Nun, gegenwärtig sollten Sie das Verhalten prominenter Akteure der SPD studieren, um zu lernen, wie man die Tücken im Lebenslauf und ihre gegenwärtigen Konsequenzen schnell frisiert und an das Assessment-Center der öffentlichen Kritik anpasst, um den Job zu behalten.
Nein, es geht hier nicht um ein Anstacheln einer ähnlichen Causa wie im Falle des Lebenslaufs von Annalena Baerbock. Denn was die SPD momentan fabriziert, betrifft die Leben vieler Menschen und politischer Akteure.
Man stellt die Torpfosten in der Vergangenheit um, sodass das Eigentor der Gegenwart wie ein vergeigter Elfmeter wirkt.
Sicherlich haben Sie mitbekommen, dass unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Fehler in seiner Russland-/Ukrainepolitik eingestanden hat. Danach blieb jedoch eine weitere Auseinandersetzung und Aufarbeitung dieser misslungenen außenpolitischen Einschätzungen aus, weshalb man der ukrainischen Regierung ihre Irritation nicht ganz übel nehmen konnte. Welche Konsequenzen folgen aus dieser Politik? Wie konnte es dazu kommen? Was sind die Learnings aus der eigenen professionellen Vita?
Leere Köpfe der Politik
Sigmar Gabriel wiederum versuchte, seinem Parteikollegen beizuspringen und vergab in einem großen Plädoyer im SPIEGEL öffentliche Fleißpunkte für Steinmeiers Curriculum, das ihm zufolge belege, dass er doch sehr viel, wenn nicht sogar fast alles, sehr richtig gemacht habe.
Gabriel erklärt, dass der heutige Bundespräsident mit Angela Merkel »mehr als alle anderen in Europa dafür getan hat, die Ukraine zu unterstützen«. Mit einer großen historischen Geste schiebt er auch der Ukraine eine gewisse Mitschuld am Krieg zu und erklärt, dass die Minsker Verträge zur Schaffung einer Waffenruhe in der Ostukraine nie wirklich eingehalten wurden; was ja eben nicht nur an Steinmeier oder an den Patronatsstaaten Deutschland und Frankreich läge:
»Die politischen Vertreter der Ukraine haben nie so etwas wie >Ownership< für die Minsker Abkommen entwickelt, was wiederum die russische Führung ihrerseits nutzte, um sich ihrer Verantwortung für die Umsetzung der Abkommen zu entziehen.«
In dem Moment, wo die Verantwortung auch bei der Ukraine gesucht und festgestellt wird, dass alles bereits 2014 nicht so funktioniert hätte, wie Gabriel es nun rückblickend für richtig erachtet, rechtfertigt er damit auch Deutschlands jetzige Ukrainepolitik. Auch so optimiert man seine politische Selbsterzählung, man stellt die Torpfosten in der Vergangenheit um, sodass das Eigentor der Gegenwart wie ein vergeigter Elfmeter wirkt. Man schafft rückwirkend eine neue Kontinuität, durch welche die Geschichte aus der Zukunft in die Vergangenheit fließt.
Gegenwärtig werden die negativen Konsequenzen zahlreicher solcher sozialdemokratischen Entscheidungen sichtbar, weshalb sie auch jetzt umso mehr kritisiert werden müssen. Dabei ist es natürlich bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar, weshalb Entscheider wie Steinmeier und Gabriel, Manuela Schwesig oder Gerhard Schröder retroaktiv ihr Handeln narrativieren, um nicht inkompetent dazustehen. Zugleich offenbart sich eine alte strukturelle Zögerlichkeit der SPD sowie der Regierung, die von den Verantwortlichen in der Flucht nach vorn als kollektive Entschlossenheit umetikettiert wird. Denn man habe ja stets alles »in Abstimmung mit den Partnern« gemacht, weil man sich keine Alleingänge vorwerfen lassen wolle – was einfach inhaltlich schon damals nicht zutraf, Stichwort: Nord Stream 2.
Das von Olaf Scholz heraufbeschworene Szenario eines deutschen »Alleingangs« ist ein perfektes Vehikel, um eine unterlassene Handlung auch im Nachhinein als strategisch kluges Manöver zu erzählen. Diese Zurückhaltung, die angeblich von staatsmännischer Führungsfähigkeit zeugt, betont er immer wieder, nicht zuletzt in seiner Ansprache letzten Dienstag. Nur wird es durch die Wiederholung nicht zutreffender.
Wie Steinmeier, der meinte, »da habe ich mich, wie andere auch, geirrt«, erinnert auch Scholz gern an die Idee einer verteilten Verantwortung, um sich selbst eine moralische Absolution für seine Entscheidungen zu verleihen. Denn wenn viele es machen oder gemacht haben, dann kann der Fehler ja nicht so drastisch sein wie behauptet beziehungsweise eine Entscheidung für oder gegen etwas nicht ganz so arg falsch sein:
»Direkt zu Beginn des Krieges haben wir entschlossen gehandelt, und zwar mit beispiellosen Sanktionen und mit der Entscheidung, erstmals in größerem Umfang Waffen in dieses Kriegsgebiet zu liefern. Viele in Europa sind diesem, unserem Schritt gefolgt.«
Na ja, wie definiert man viele? Großbritannien, Belgien, Polen, Estland hatten vor Deutschland Waffen geliefert. Entspringt also diese jetzt behauptete Vorreiterrolle, die einerseits selbstlegitimierend, andererseits mahnend präsentiert wird, einer besonders durchdachten Selbstwahrnehmung, einem überzeugten Handeln fern der Öffentlichkeit – oder handelt es sich doch eher um eine rhetorische Verklärung?
Der Bingo-Satz mit dem Stichwort »Alleingänge« – das auch der Generalsekretär Kevin Kühnert dieser Tage aufgriff, um die Rückwärtsrolle der Regierung in Sachen Waffen zu begründen – ist inhaltlich einfach nicht zutreffend: »Das alles geschieht eng abgestimmt mit den Partnern hier in Europa und auf der anderen Seite des Atlantiks. Deutsche Alleingänge wären falsch.«
Nun. Die Nato war zu langfristigen Waffenlieferungen an die Ukraine bereit, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am 8. April der BBC 4: »Die Alliierten sind bereit, mehr und auch modernere und schwerere Waffen zu liefern.«
Woher kommt also die dominierende öffentliche (falsche?) Wahrnehmung, dass hier vonseiten der SPD entweder nicht gehandelt oder nur schlecht kommuniziert wird – oder beides?
Politisches Retcon
Im Bereich des fiktionalen Erzählens gibt es im Englischen den Begriff »retcon« beziehungsweise »retroactive continuity«, auf Deutsch: »Rückwirkende Kontinuität«. Als literarisches Mittel ist damit eine bewusste nachträgliche Veränderung einer erzählerischen Kontinuität gemeint, damit diese besser in eine Gesamterzählung passt und damit scheinbar widersprüchliche Ereignisse wieder sinnvoll, schlüssig, logisch verbunden werden. Solch eine Revision vergangener Handlungsstränge können Autoren aus verschiedenen Gründen vornehmen: um eine Fortsetzung des eigenen literarischen Schaffens zu ermöglichen; um negative Kritik aufzunehmen und glattzubügeln; um eine Neuinterpretation des eigenen erzählerischen Kosmos zu erlauben; um falsche Annahmen der Vergangenheit zu beseitigen; oder um sich dem gegenwärtigen Zeitgeist anzupassen.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
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