Sozialpsychologie in Grün
Erstellt von Redaktion am Dienstag 27. Juli 2021
Der unvermeidliche Weg in eine grüne Zukunft
Ein Essay von Stefan Schultz
Deutschland wird nachhaltiger und gleicher – egal, ob die Grünen bald (mit)regieren oder nicht. Denn Gesellschaft und Wirtschaft stehen auf der Schwelle zu einer neuen Entwicklungsstufe.
Der Münchner Energieversorger Polarstern verkauft nicht nur Ökostrom, er wirtschaftet auch nach der sogenannten Gemeinwohlökonomie: einem recht neuen volkswirtschaftlichen Modell, das nach strengen Kriterien den sozialen Wert von Unternehmen misst. Zum Beispiel den Grad an Diversität und Mitbestimmung, an gerechter Lohnverteilung oder an Fairness gegenüber den Menschen und Firmen in der eigenen Lieferkette.
Das Unternehmen steht für den vielleicht größten sozioökonomischen Trend unserer Zeit: Deutschland hat sich auf den Weg in eine grünere und gleichere Zukunft gemacht. Egal, ob Annalena Baerbocks Grüne demnächst (mit)regieren oder nicht.
Angesichts von Querdenkerprotesten, Dieselaffären und einer kafkaesken Windradbürokratie mag das nicht immer so aussehen. Doch abseits solcher Probleme und abseits des ritualisierten Gemeckers ist gerade viel Aufbruchsstimmung zu spüren. Die Coronakrise hat, neben Angst, Trauer und Frust, auch einen Zauber des Neuanfangs entfacht. Eine neue Lust, Probleme zu lösen. Einen Schub kreative Energie.
Das mag daran liegen, dass sich gerade von ganz allein so vieles ändert. Dass wir der Angst vor Veränderung kaum ausweichen können – und deshalb notgedrungen unsere Zukunft gestalten. Oder daran, dass die Krise alte Gewiss- und Gewohnheiten auflöst und so Platz für Neues schafft.
So oder so ist in den vergangenen 16 Monaten viel passiert, wirtschaftlich wie gesellschaftlich. Und die Richtung der Veränderung scheint fast immer dieselbe zu sein.
Die Republik wird, erstens, an vielen Stellen nachhaltiger. Autokonzerne veranstalten ein Wettrennen, wer als erster den Verbrennungsmotor abschafft. Der Stahlgigant Thyssenkrupp will bis 2025 einen der weltweit ersten CO2-freien Hochöfen bauen. Bio- und Naturkostgeschäfte verzeichnen bis zu 60 Prozent mehr Nachfrage.
Auch das Rechtssystem, der zentrale Rahmen unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens, ergrünt. Ende April zwang das Bundesverfassungsgericht die Regierung zu ambitionierterer Klimapolitik. Der Staat verschärfte darauf die Vorgaben, wie viel CO₂ jeder Wirtschaftssektor noch ausstoßen darf. Seit Juni regelt ein Gesetz den Umbau von Erdgas- zu Wasserstoffleitungen. Fast zeitgleich erließ die Stadt Berlin eine Fotovoltaikpflicht für Neubauten und künftige Gebäudesanierungen.
Der zweite große Gesellschaftstrend ist die Gleichstellung von immer mehr Gesellschaftsgruppen. Seit März sind medizinisch unnötige geschlechtsangleichende Operationen an intersexuellen Kindern verboten. Im Juni wurde eine erste zaghafte Frauenquote für Vorstände großer Unternehmen verabschiedet. Die Privatwirtschaft beschäftigt sich mehr mit Diversität, Inklusion und neuen Eigentümerkonzepten.
Das Konzept der Gleichstellung dehnt sich zudem auf neue Sphären aus. Ab 2023 können große deutsche Unternehmen auch für Kinder- oder Zwangsarbeit in anderen Ländern belangt werden, wenn solche Verbrechen in ihren internationalen Lieferketten nachgewiesen werden. Auch Tiere werden in Deutschland immer besser geschützt. Wir denken nicht mehr nur anthropozentrisch, sondern zusehends auch ökozentrisch.
Nachhaltigkeit und Gleichheit: Millionen kleine und große Veränderungen lassen sich gerade auf diese zwei Prinzipien reduzieren. Als würden wir von zwei unsichtbaren Magneten angezogen. In der Systemtheorie gibt es dazu das Konzept des Attraktors. Es bezeichnet ein höheres Ordnungsprinzip, das so anziehend ist, dass sich ganze Systeme darauf zubewegen und sich dabei teils grundlegend verändern.
Nachhaltigkeit und Gleichheit scheinen zentrale Attraktoren unserer Zeit zu sein. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Demokratien, zu einem gewissen Maß auch auf globaler Ebene. Warum aber zieht es uns so stark in diese Richtung?
Es gibt eine Theorie, die das zu erklären versucht. Sie nennt sich Spiral Dynamics und wurde 1996 von den Management- und Politberatern Don Beck und Christopher Cowan publiziert. Grundlagen sind entwicklungspsychologische Stufenmodelle sowie anthropologische und historische Studien.
In der Psychologie gibt es einen ganzen Forschungszweig, der die Entwicklung eines jeden Menschen in grundlegende, deterministische Entwicklungsstufen einteilt. Natürlich befindet sich kein Ich komplett nur auf einer Stufe; es erstreckt sich oft eher über vier bis fünf. Auf einer aber hat es seinen Schwerpunkt. Und dieser hat großen Einfluss darauf, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir denken und wie wir mit anderen Lebewesen umgehen.
Grundvoraussetzung für psychologische Entwicklung ist laut Forschern wie Jean Piaget, Jane Loevinger, Lawrence Kohlberg oder Robert Kegan die Kognition – also die Fähigkeit, unsere Innen- und Außenwelt immer differenzierter wahrzunehmen und gleichzeitig einzelne Elemente in immer komplexeren Zusammenhängen zu sehen.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Auftaktkundgebung der FridaysForFuture Demonstration am 25. Januar 2019 in Berlin.